Architektur und Geometrie: Zur Historizität formaler Ordnungssysteme [1. Aufl.] 9783839420027

Architekturen können geometrisch beschrieben werden. Doch inwieweit wirken geometrische Grundmuster - als formale Ordnun

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Architektur und Geometrie: Zur Historizität formaler Ordnungssysteme [1. Aufl.]
 9783839420027

Table of contents :
Inhalt
0. Einfache Systeme
1. Die Rasterung der Welt
1.1 Die Geometrisierung des Raums
1.1.1 Vitruv und/oder der platonisch-pythagoreische Idealismus. Kosmische Ordnung und Konvention
1.1.2 Leon Battista Alberti, der Vitruvianismus und die Systeme humanistischer Ordnung
1.2 Die Mathematisierung des Raums
1.2.1 Die Vermessung von Gott und der Welt
1.2.2 Die Perspektive und das Problem der Unendlichkeit
1.3 Die Objektivierung des Raums
1.3.1 Die Verdrängung des Subjekts. Kartesische Lagebeschreibungen
1.3.2 Die Zumutungen der Aufklärung
2. Der Raum ohne Eigenschaften
2.1 Der funktionale Einschnitt. Jean-Nicolas-Louis Durand
2.1.1 Linearität und Voraussetzungslosigkeit
2.1.2 Quantifizierbarkeit
2.1.3 Material und Entmaterialisierung
2.1.4 Zusammengesetztheit. Entwurfslehre und -methodik
2.1.5 Komposition und Raster
2.2 System, Systemfehler und deren Harmonisierung
2.2.1 Durand und Klenze. Das Problem der Eliminierung der Zeit
2.2.2 Durand und Palladio. Das Problem der Eliminierung des Ortes
3. Strategien des Umgangs mit nicht mehr konsistenten Systemen
3.1 Ernst Neuferts BEL und BOL
3.1.1 Rationalisierung und Standardisierung im Projekt der historischen Avantgarden zur Rettung der Welt
3.1.2 Rasterstrukturen. Das funktionierende Raster bei Neufert
3.2 Le Corbusier. Das nicht funktionelle Raster des Funktionalismus
3.3 Der Modulor. Das Parallelereignis von Metaphysik und Funktionalismus
3.4 Peter Eisenman. Das Spiel mit der Ordnung
Zusammenfassung
Literatur
Abbildungen

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Ekkehard Drach Architektur und Geometrie

Architekturen | Band 11

Ekkehard Drach (Dr.-Ing.) arbeitet am Institut für Architekturtheorie und Baugeschichte der Universität Innsbruck. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorie, Praxis und Geschichte architektonischen Entwerfens.

Ekkehard Drach

Architektur und Geometrie Zur Historizität formaler Ordnungssysteme

Die Publikation wurde gefördert vom Vizerektorat für Forschung, der Fakultät für Architektur und dem Institut für Architekturtheorie und Baugeschichte der Universität Innsbruck. Das vorliegende Buch ist die inhaltlich unveränderte Fassung der Promotionsschrift »Die Historizität formaler Ordnungssysteme«, die 2010 an der HCU Hamburg eingereicht wurde. Für die Unterstützung in Hamburg, Innsbruck, Nürnberg und Graz möchte ich mich herzlich bedanken. Mein ganz besonderer Dank gilt hier Prof. Ullrich Schwarz, Prof. Paul von Naredi-Rainer, Simone Drach und Doris Hallama.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Simone Drach Satz: Ekkehard Drach Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2002-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

0.

Einfache Systeme | 7

1.

Die Rasterung der Welt | 11

1.1 Die Geometrisierung des Raums | 11 1.1.1 Vitruv und/oder der platonisch-pythagoreische Idealismus. Kosmische Ordnung und Konvention | 17 1.1.2 Leon Battista Alberti, der Vitruvianismus und die Systeme humanistischer Ordnung | 29 1.2 Die Mathematisierung des Raums | 39 1.2.1 Die Vermessung von Gott und der Welt | 39 1.2.2 Die Perspektive und das Problem der Unendlichkeit | 51 1.3 Die Objektivierung des Raums | 68 1.3.1 Die Verdrängung des Subjekts. Kartesische Lagebeschreibungen | 68 1.3.2 Die Zumutungen der Aufklärung | 75 2.

Der Raum ohne Eigenschaften | 87

2.1 Der funktionale Einschnitt. Jean-Nicolas-Louis Durand | 87 2.1.1 Linearität und Voraussetzungslosigkeit | 90 2.1.2 Quantifizierbarkeit | 94 2.1.3 Material und Entmaterialisierung | 100 2.1.4 Zusammengesetztheit. Entwurfslehre und -methodik | 110 2.1.5 Komposition und Raster | 115 2.2 System, Systemfehler und deren Harmonisierung | 126 2.2.1 Durand und Klenze. Das Problem der Eliminierung der Zeit | 126 2.2.2 Durand und Palladio. Das Problem der Eliminierung des Ortes | 153

3.

Strategien des Umgangs mit nicht mehr konsistenten Systemen | 169 3.1 Ernst Neuferts BEL und BOL | 169

3.1.1 Rationalisierung und Standardisierung im Projekt der historischen Avantgarden zur Rettung der Welt | 169 3.1.2 Rasterstrukturen. Das funktionierende Raster bei Neufert | 196 3.2 Le Corbusier. Das nicht funktionelle Raster des Funktionalismus | 222 3.3 Der Modulor. Das Parallelereignis von Metaphysik und Funktionalismus | 248 3.4 Peter Eisenman. Das Spiel mit der Ordnung | 277 Zusammenfassung | 301 Literatur | 305 Abbildungen | 317

0.

Einfache Systeme

Architektur kann vieles sein. Die folgende Arbeit greift aus dem Feld der Möglichkeiten, sich mit ihr auseinanderzusetzen, die Aspekte heraus, die ihre Form betreffen. Untersucht werden soll, wie Architektur – neben ihrer inhaltlichen Bestimmung, ihrer Funktion und Bedeutung und ihren konstruktiven Rahmenbedingungen – konkrete Gestalt annimmt. Dabei geht es weniger um das formale Erscheinen von Architektur. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage nach deren formaler Verfasstheit. Besonderes Interesse gilt hierbei den geometrischen Strukturen, Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten, die die Formbildung betreiben. Als Arbeitshypothese wird behauptet, dass diese Strukturen, Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten impliziter Bestandteil von Architektur sind. Unabhängig von ihren materiellen Eigenschaften und den Implikationen sinnlicher Wahrnehmung kann Architektur immer auch geometrisch beschrieben werden. Egal wie stabil oder flüchtig, regelmäßig, einfach oder kompliziert ihre Form ist, hat sie doch immer spezifische geometrische Charakteristika. Unter dieser Voraussetzung ist es möglich, architektonische Form innerhalb geometrischer Operationen und Verhältnisse zu erklären. Gleichzeitig wirkt diese Affinität zwischen architektonischer Form und geometrischer Bildung auch auf die Erzeugung architektonischer Form zurück. Es ist gebräuchliche Praxis, Architekturen – bewusst oder unbewusst – in geometrischen Prozeduren bzw. mit deren Hilfe zu generieren. Um operativ handlungsfähig zu sein, ist es sowohl für die Entstehung von Form, als auch für deren Beschreibung notwendig, Regeln und Handlungsanweisungen zu erstellen, bzw. sich bestehender zu bedienen. Form kann dann aus deren Befolgung, aber auch aus deren Missachtung entstehen. Ebenso ist ein Regelsatz als Kriterienkatalog erforderlich, um Form über-

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haupt erst beschreiben zu können. Man könnte in diesem Zusammenhang dann von formalen Ordnungssystemen sprechen. Diese sind zunächst rein selbstbezüglich. Architektur dagegen ist immer, sowohl als Konzept als auch als Zeichnung oder als Gebautes, in einen wie auch immer gearteten sozialen – d. h. außerarchitektonischen – Zusammenhang eingebunden. Sie ist Erzeugnis kultureller Produktion bzw. Ergebnis funktionaler Notwendigkeiten und funktionaler Zwänge. Damit können Architektur und zwangsläufig auch die architektonische Form nicht beliebig sein, sie sind konventionell bestimmt. Innerhalb eines Systems von kulturellen Vereinbarungen wird Architektur lesbar, übernimmt Bedeutungen und stellt diese auch dar. In ihrer kulturellen Bindung sind Lesbarkeiten, Bedeutungszuschreibungen und Bedeutungsmitteilungen zeitgebunden und wandelbar. Geometrie als vordergründig nichtkonventionelles System erscheint im Gegenzug dazu stabil und innerhalb ihrer internen Gesetzmäßigkeiten absolut objektiv, wobei Geometrie zunächst keine über die Grenzen ihrer Disziplin hinausgehenden Bedeutungen hat. Jedoch, indem ihre vorgeblich objektiven Gesetzmäßigkeiten auf architektonische Zusammenhänge übertragen werden, gewinnt Geometrie im architektonischen Kontext durchaus Bedeutung. Auch Architektur kann mit deren Hilfe jenseits der Unwägbarkeit gesellschaftlicher Vereinbarungen, sich verändernder Kontexte und Zeiten objektiv erscheinen. Es finden – und das ist der eigentliche Punkt des Interesses dieser Arbeit – Bedeutungsüberlagerungen und -übertragungen bzw. -verschiebungen zwischen formalem System und Architektur statt. Damit kann Geometrie in bestimmten Situationen Architektur konstituierend sein. Zumindest wird sie dafür gehalten oder als solches propagiert, wobei geometrische Operationen dann immer zu mehr werden, als sie eigentlich sind. Sie werden innerhalb eines kulturellen Kontextes diskutiert und mit gesellschaftlichen bzw. ethischen Werten verknüpft und aufgeladen. Somit dienen sie letztendlich dazu, Welt zu konstruieren. Umgekehrt wirken diese Bedeutungsakkumulationen auf die Ordnungen der formalen Systeme selbst zurück. Diese können in ihrer geometrischen Eigengesetzlichkeit nicht mehr unhinterfragt bleiben, sondern sind kontextabhängig. Sie können nicht mehr allein als Invarianten verstanden werden, sie werden verhandelbar. Weiter lässt sich – um zum Titel der Arbeit zu kommen – behaupten, dass das Verhältnis von formaler Ordnung, deren architektonischem Vollzug und der zugeschriebenen Bedeutung kein stabiles ist. Während die Geometrie in ihren Strukturen und Gesetzmäßigkeiten immer gleich bleibt,

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ändern sich die Stellung, der Zweck und die Funktion, die sie bezüglich der Architektur einnimmt: Geometrische Strukturen und Gesetzmäßigkeiten können bloßes operatives Hilfsmittel sein, das der Positionierung architektonischer Elemente dient. Dieses operative Moment kann jedoch auch Einfluss darauf gewinnen, wie Architektur verstanden wird. Schließlich kann dieser Einfluss so weit gehen, dass die Eigenschaften der formalen Ordnung im regelästhetischen Sinn auf die architektonische Form übertragen werden, um diese als verständlich erscheinen zu lassen bzw. als bedeutsam zu legitimieren. Ziel der Arbeit ist, auf diese Verflechtungen von Form, Formproduktion und Bedeutung hinzuweisen, sie zu entwirren und der Analyse von Architektur zugänglich zu machen. Das Vorgehen ist chronologisch, wobei jedoch keine abgeschlossene Geschichte erzählt werden soll. Ganz im Gegenteil soll die Abfolge isolierter, als wesentlich erachteter Ordnungsstrategien – bzw. deren paralleles Bestehen – in ihren Brüchen, Diskontinuitäten und Widersprüchlichkeiten erfasst werden. Untersucht werden dabei immer zwei Ebenen: die architekturtheoretischen Positionen, die in ausformulierter Form das Verhältnis zwischen Architektur, deren Begründung und formaler Ordnung beschreiben bzw. festlegen, und die den jeweiligen theoretischen Aussagen zuordenbaren konkreten Architekturen, d. h. die Art und Weise, wie formale Konzepte realisiert wurden. Die Untersuchung begnügt sich aus methodischen Gründen ausdrücklich mit dem Blick auf die europäische Architektur und Architekturgeschichte (auch die Beschäftigung mit Eisenman im letzten Kapitel verfolgt dessen auf Europa gerichtete Analyse) und das Raster, um so exemplarisch die unstetigen Verhältnisse, Verquickungen und das Konfliktpotential architektonischer Formbildung nachvollziehbar zu machen. Für die Wahl des Rasters als Untersuchungsgegenstand spricht seine Verfügbarkeit: Es ist im zeitlichen Verlauf kontinuierlich anzutreffen, mit ihm lässt sich die gesamte Untersuchungsbreite abdecken und es ist scheinbar ein einfaches System.

1.

Die Rasterung der Welt »Als griechische Philosophen und Geometer vor zweieinhalbtausend Jahren damit begannen, das Universum mathematisch zu vermessen, standen sie unter dem Eindruck einer starken formalen Intuition: dass alle Dinge letztlich sich im Kreise drehen. Ihr Interesse am Weltganzen entzündete sich an der leichten Konstruierbarkeit und der symmetrischen Perfektion der Kugelgestalt. Für sie war die einfache Form zugleich die integerste, vollständigste und schönste.« (Peter Sloterdijk)1

1.1 Die Geometrisierung des Raums Beginnen könnte man mit der »dorischen Ordnung«. Diese Mustervorgabe wird in der Regel angeführt, um in die Problematik einer Architektur, die sich einem formalen Ordnungssystem unterwirft, einzuführen. Die Aufgabenstellung hierzu könnte lauten: Innerhalb eines regelmäßig geteilten Feldes sollen gleiche Teile dem Modul der Feldteilung folgend angeordnet werden. Die Aufgabe scheint einfach zu sein und auch das Gebäude, in dem sie gelöst werden soll, der antike dorische Tempel, scheint ein ebenfalls einfaches architektonisches Gebilde zu sein, das wesentlich durch seinen 1

Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals, Frankfurt 2005, S. 30

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klaren Aufbau konstituiert ist. Im Zentrum steht eine kubische Raumschachtel, bestehend aus dem abgeschlossenen Einraum der Cella, an den eine Vor- und Rückhalle angeschlossen sein können. Die geschlossenen Wandflächen, lediglich an den Stirnseiten offen, unterstreichen die geometrische Absicht des Ganzen. Dieser eher monolithische Kern ist von einem offenen Säulenkranz umgeben, der längsrechteckigen Ringhalle. Sie setzt sich aus jeweils gleichen Säulen zusammen, die Anordnung der Säulen ist regelmäßig.

Abb. 1: Schema der dorischen Ordnung in der ursprünglich griechischen Figuration und nach den Anweisungen Vitruvs

An diesen zwei Vorgaben, der Verwendung gleicher Teile und deren Anordnung innerhalb eines regelmäßigen geometrischen Feldes, lässt sich die Absicht nach Ordnung, hier der dorischen, festmachen. Ein weiteres Indiz dieses Ordnen-Wollens findet sich in der Wiederholung der Ordnung der Säulenstellungen in der Abfolge von Triglyphen und Metopen im darüber auf dem Architrav liegenden Fries, wobei die Triglyphen ihre Position jeweils von der Säulenachse bzw. der Mittelachse zwischen zwei Säulen beziehen. Die Triglyphen ließen sich so auch als Markierungen der Säu-

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lenachsen deuten. Die Metopen als eigenständige Elemente füllen den Raum zwischen zwei Triglyphen aus. Mit Beharrlichkeit wird an diesen Elementen festgehalten. Ihre Form und Anordnung konstituieren das, was später als »dorische Ordnung« bezeichnet wird. Deren Ursprünge liegen irgendwo in den Anfängen griechischen Tempelbauens. Ab dem 5. Jahrhundert kann das System als kanonisiert betrachtet werden. Mit mehr oder weniger geringfügigen Anpassungen durchläuft dieses dann sämtliche antiken wie neuzeitlichen Klassizismen, was erstaunlich ist, da die dorische Ordnung mit einem inhärenten formalen Problem behaftet ist: Die Elemente haben zum einen eine konkrete, materiell fassbare und – wie gesagt – festgelegte Form, zum anderen verweisen sie auf ein geometrisches Programm mit hohem Abstraktionsgrad. Sie sind durch die Prinzipien der Regelmäßigkeit und Ordnung bestimmt und bilden diese Ordnungsprinzipien gleichzeitig ab, machen sie sichtbar und damit lesbar. Nur, die Konsistenz von ideeller Ordnung und deren materieller Abbildung ist nicht durchzuhalten. Das System scheitert an den Ecken. Sobald der Architrav, in Abhängigkeit von der Säule, auf der er mittig liegt, breiter wird als die Triglyphe – und das genau geschieht in der Phase, in der der dorische Tempel seine kanonische Form erlangt – geraten zwei formale Prinzipien in Widerspruch: Die Forderung nach axialer Ausrichtung der Triglyphen an den Säulen und die Forderung nach Unversehrtheit der Teile können nicht ohne weiteres vereint werden. Triglyphe und Metope sind jeweils nur als ganze und unteilbare Elemente denkbar. Das bedeutet, dass der Fries an beiden Seiten der Ecke nur jeweils mit einer ganzen Triglyphe abgeschlossen werden kann. Diese Ecktriglyphe ist dann allerdings aus der Achse der unter ihr stehenden Säule geschoben, was auch deutlich zu sehen ist. Hierin formuliert die dorische Ordnung ein Problem, den so genannten »dorischen Eckkonflikt«. Das Problem ist ebenso zwangsläufig wie geometrisch unlösbar. Natürlich hätte man auf die Darstellung von Triglyphen und Metopen verzichten können, der Konflikt wäre dann nicht mehr sichtbar gewesen. Eine andere Möglichkeit wäre gewesen, die Elemente zu verändern. Eine Verbreiterung der Triglyphen auf das Maß von Architrav und Säule oder eine Anpassung der beiden auf Triglyphenbreite hätte den Konflikt vermieden. Dies geschieht nicht, am überlieferten Formenkanon wird vielmehr festgehalten. Lediglich die Ecksäule wird nach innen verschoben, was zur »dorischen Eckkontraktion« führt. Eine zeitgenössische Beschreibung dazu ist nicht

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überliefert, weshalb wir nicht wissen, ob die griechischen Architekten und Architekturkritiker ein Problem in der Eckkontraktion sahen. Die einzige überlieferte antike Quelle, die sich ausgiebig mit Architektur beschäftigt und auch die dorische Ordnung beschreibt, stammt erst aus dem ausgehenden ersten Jahrhundert v. Chr. In seinen »De architectura libri decem« beschreibt Vitruv die dorische Ordnung als problematisch: »Einige Architekten alter Zeit haben die Meinung geäußert, man dürfe keine Tempel in dorischem Stil errichten, weil sich bei ihnen Symmetrien ergäben, die voller Fehler und unharmonisch sind. So lehnte Arkesios (den dorischen Stil) ab, ebenfalls Pytheos, nicht minder Hermogenes. Denn als letzterer schon den Marmorvorrat zum Bau eines dorischen Tempels zugerichtet hatte, änderte er ihn und baute aus demselben Marmorvorrat den Tempel Pater Liber in ionischem Stil.«2

Diese sowohl formal als auch historisch begründete desaströse Beurteilung, wonach die dorische Ordnung schlichtweg unbrauchbar erscheint, relativiert Vitruv im nächsten Satz: »Jedoch [tat er das] nicht, weil das Aussehen oder der Stil unschön oder die Form unedel wäre, sondern weil bei der Ausführung der Triglyphen und der Einteilung der Flächen unter dem Gesims die Einteilung mit Schwierigkeiten verknüpft und unsymmetrisch ist.«3 Im Folgenden beschreibt Vitruv, worin das Schwierige und Fehlerhafte besteht, nämlich in der Divergenz von Säulenraster und Kantenausrichtung der letzten Triglyphe, womit er einen inhärenten Systemfehler ausmacht.4 Sein Kriterium des Fehlerhaften ist der mangelhafte Axialbezug.

2

Vitruv: Zehn Bücher über Architektur/De architectura libri decem, Curt Fensterbusch (Hg.), Darmstadt 51996, IV. Buch, III. Kapitel, S. 181

3

Ebd.

4

»Die Triglyphen müssen nämlich senkrecht über den mittleren Vierteldurchmessern der Säulen angebracht werden, und die Metopen, die zwischen den Triglyphen entstehen, müssen gleich breit wie hoch sein. Es werden aber im Gegensatz dazu Triglyphen über den Ecksäulen an den äußeren Ecken angebracht und nicht über den mittleren Vierteldurchmessern der Säulen. So laufen die Metopen, die den Ecktriglyphen zunächst liegen, nicht quadratisch aus, sondern um die halbe Triglyphenbreite länger. Die aber, die die Metopen gleich groß machen wollen, verengen die letzten Säulenzwischenräume um eine halbe Trigly-

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Betrachtet man den dorischen Tempel als wesentlich axial bestimmtes, gerastertes Gebilde, was Vitruv zu tun scheint, lässt sich das Problem der Ecke lösen. Vitruv entwickelt ein entsprechendes Modell, seine Anweisungen dazu erscheinen präzis: Demnach ist die Front eines Tempels, je nach Tempeltypus, bei viersäuligen Tempeln (tetrastylos) in 27 Teile und bei sechssäuligen Tempeln (hexastylos) in 42 Teile5 zu gliedern. Man erhält eine modulare Teilung, bei der der einzelne Teil das Grundmodul vorgibt und aus der sich nun sämtliche Elemente und deren Maße konstruieren lassen. Das bedeutet, die Elemente sind nicht direkt in proportionalen Verhältnissen zueinander bestimmt, sondern indirekt von einem unterlegten modularen Achsraster. Das ist wesentlich. Vitruv betrachtet das Modul als abstrakte Recheneinheit, die von ihrer anschaulichen Bindung an die Elemente gelöst ist. Dies zeigt sich wiederum an der Ecke: »Ferner müssen an den äußersten Ecken Halbmetopen6 von der Breite eines halben Grundmaßes eingefügt sein. So wird es möglich sein, alle Fehler der Metopen, der Säulenzwischenräume und der unteren Gesimsseite zu vermeiden, weil die Unterteilungen gleichmäßig gemacht sind.«7 Die einzelnen Elemente werden nicht mehr als unteilbare und ganze, sondern als frei verfügbare verstanden. Metopen können nun auch geteilt werden, womit sie ihren Charakter als eigenständige Elemente verlieren und zu bloßen Leerstellen zwischen den axial bestimmten Triglyphen werden. Der damit einhergehende Bedeutungsverlust der Metopen verweist auf einen generellen Verlust an Bedeu-

phenbreite. Das aber ist, ob es nun durch die Verlängerung der Metopen oder durch die Verengung der Säulenzwischenräume erreicht wird, fehlerhaft.« Ebd. 5

Vgl. ebd., IV. Buch, III. Kapitel, S. 183; davon abweichend gibt August Rode in seiner Übersetzung 28 bzw. 44 Teile an. Wobei Rode selbst anmerkt, dass eine schlüssige Konstruktion mit diesen Vorgaben nicht möglich ist. Vitruv: Baukunst (De architectura), August Rode (Hg.), Band 1, Basel 1995 [zuerst: Leipzig 1796], IV. Buch, III. Kapitel, S. 167

6

Versucht man, die Ecksituation nach Vitruvs Anweisung zu zeichnen, bereitet die Halbmetope Probleme. Fensterbusch weist darauf hin, dass diese Angabe unmöglich richtig sein kann. Aber auch wenn die Angabe einer halben Metope nicht exakt zutrifft, sondern deutlich weniger angenommen werden muss, so ist doch die Aussage, ab jetzt überhaupt geteilte Metopen als denkbar zuzulassen, bemerkenswert.

7

Vitruv: De architectura, Fensterbusch (Hg.), IV. Buch, III. Kapitel, S. 183 ff.

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tung der ursprünglichen Ordnung. Im axial-konstruktiven Sinn war dorisches Bauen offensichtlich sperrig, wurde jedoch trotzdem von den antiken Griechen in Form feststehender Formelemente kanonisiert. Konstruktiv sinnlos, verweist es auf einen früheren Bedeutungszusammenhang, auch wenn dieser letztlich im Dunkel des Vorgeschichtlichen bleibt. In seiner Handlungsanweisung geht Vitruv auf den Verlust des Symbolischen nicht ein. Für ihn steht das rein Operative im Vordergrund, ein nun axial gedachtes und abstraktes Modulsystem. Innerhalb dieses Systems lassen sich sämtliche Teile exakt und eindeutig beschreiben. Die Ordnung des Modulrasters weist dabei jedem Teil Größe und Position zu, auch das wiederum eindeutig. Vitruv reflektiert hier ein serielles, von Effizienz geprägtes Verständnis von Architektur – das des römischen Ingenieurbaus. Die Anordnung gleicher, modular bestimmter Teile in einem regelmäßigen modularen Gitter bedeutet hier beliebige Reproduzierbarkeit innerhalb eines beliebig ausdehnbaren Ordnungssystems. Im Unterschied dazu scheinen diese Kriterien für die antiken Griechen nicht relevant gewesen zu sein. So ist die Anordnung der Säulen in deren Tempeln zwar deutlich als regelmäßig zu erkennen, ein durchgängiges axiales System ist aber keineswegs vorhanden. Der zentrale Baukörper der Cella schwimmt frei innerhalb der Säulenstellungen. Charakteristische Punkte wie Endpunkte, Kanten, Anten etc. scheinen keine Einbindung in das System der umgebenden Säulenachsen anzustreben. Ihre Achsen, will man solche konstruieren, laufen ins Leere. Überhaupt sind die Säulenstellungen als axiales System im Sinne eines Rasters nicht sonderlich brauchbar, da infolge der Eckkontraktion kein einheitliches Maß durchzuhalten ist. Der griechische Tempel scheint anders zu funktionieren, was nicht bedeutet, dass er in seinem Maß- und Proportionsgefüge beliebig wäre. Nur, im Gegensatz zum abstrakten, von Vitruv unterlegten Rastersystem beschreibt das Maßsystem des griechischen Tempels die konkrete Beziehung zwischen konkreten Elementen. Nicht ein formund positionsbestimmendes Achssystem ordnet die Elemente, sondern Maß und Zahl sind den Teilen wie dem Ganzen inhärent gedacht. Das Beziehungsgeflecht der Teile innerhalb des griechischen Tempels ist komplexer. Während Vitruvs Bestrebungen nach Einfachheit davon geprägt waren, die Elemente zum Zweck der leichten Reproduktion zu vereinheitlichen und dies auch in Form serieller Anordnung auf einem gleichförmigen, universell verfügbaren Raster anzuwenden, unterliegt die Ordnung des griechischen Tempels nicht dem Zweck der rationellen Produktion. Sehr wohl

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aber verfolgt sie eine rationale Beschreibung von Form und von Bedeutung. Das ist etwas vollständig anderes als Vitruv in seinen Konstruktionsanweisungen vermittelt. Interessanterweise berichtet Vitruv jedoch auch davon, was antikes Bauen bedeutet haben könnte. Er tut dies im Verweis auf eine zurückliegende Tradition, deren Autorität nachwirkt, die er aber nur noch retrospektiv beschreiben kann. 1.1.1 Vitruv und/oder der platonisch-pythagoreische Idealismus. Kosmische Ordnung und Konvention Vitruv definiert Architektur als Erfüllung der viel zitierten Kategorien »firmitas«, »utilitas« und »venustas«8, wobei die Inhalte der ersten beiden klar und präzise benannt werden können, da es sich letztendlich um technische bzw. organisatorische Anweisungen handelt. Firmitas (Festigkeit) fordert Dauerhaftigkeit ein. Es wird die Frage nach der sinnvollen Konstruktion und Materialwahl gestellt und im Rahmen der zeitgenössischen Baupraxis auch beantwortet. Ebenso sind die Kriterien, die die utilitas (Zweckmäßigkeit) eines Gebäudes ausmachen, anschaulich und leicht vermittelbar. Diese beiden Kategorien – nach heutigen Begriffen würde man von Baukonstruktion und Gebäudelehre sprechen – machen quantitativ den wesentlichen Teil der zehn Bücher aus. Interessanter für die Betrachtung formaler Systeme und die Suche nach Aussagen zu deren Bedeutung ist der dritte Begriff der venustas und mit ihm die Frage nach dem, was Schönheit ausmacht. Diese liegt nach Vitruv vor, »wenn das Bauwerk ein angenehmes und gefälliges Aussehen hat und die Symmetrie der Glieder die richtigen Berechnungen der Symmetrien hat.«9 Hier zeigt sich, dass diese Kategorie schwerer zu fassen ist. Angenehmes und Gefälliges unterliegt subjektivem Empfinden und Wahrnehmen, während Symmetrie als weitere Voraussetzung für Schönheit durch Berechenbarkeit als objektiv vorgestellt wird. In einem Satz, in unmittelbarer Nähe und ohne einen Widerspruch auszumachen, nennt Vitruv zwei sich eigentlich ausschließende Begründungssys-

8

»[...], ut habeatur ratio firmitatis, utilitatis, venustatis.« (daß auf Festigkeit, Zweckmäßigkeit und Anmut Rücksicht genommen wird.) Ebd., I. Buch, III. Kapitel, S. 44 f. Virtuv erwähnt diese drei Begriffe, denen die Vitruvrezeption später so große Bedeutung zumessen wird, eher beiläufig.

9

Ebd., I. Buch, III. Kapitel, S. 45

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teme, ein wahrnehmungsästhetisches, das sich jeweils in der Beziehung zwischen Betrachter und Objekt aktualisiert, und ein regelästhetisches, in dem feststehende Ordnungssätze nachvollzogen werden. Zunächst soll das Modell näher betrachtet werden, das es erlaubt, Symmetrie als Kriterium für Schönheit heranzuziehen. Der von Vitruv verwendete Begriff der »symmetria« ist wesentlich weiter gefasst als der im heutigen Sprachgebrauch übliche. Er beschreibt generell das »richtige«, das »angemessene Verhältnis«.10 Die Möglichkeit, überhaupt von »richtig« und »angemessen« zu sprechen, gründet in der Vorstellung eines geordneten Weltganzen. Dieses muss nicht begründet werden, sondern wird als gegeben vorausgesetzt. Das dieser Vorstellung zugrunde liegende Prinzip ist das der »Harmonie«, was so viel bedeutet »wie Anpassung, Verbindung, Verknüpfung, Vereinigung von verschiedenartigen oder entgegengesetzten Dingen zu einer geordneten Ganzheit«.11 Harmonie beschreibt einen widerspruchsfreien Kosmos, in dem jedes Ding die ihm zustehende Größe, Proportion und Position zugewiesen bekommt: Alle Teile passen hinein, nichts bleibt übrig und nichts kann in diesem abgeschlossenen System verlorengehen. Die solchermaßen geordnete Welt ist endlich, die sie konstituierende Idee aber zeitlos und zeitlos gültig.12 Hier noch allgemein gefasst, konkretisiert sich in der Nachfolge des Pythagoras die Vorstellung eines ordnungsgebundenen harmonischen Weltganzen. »Harmonie war in ihren [der Pythagoreer] Augen nicht nur eine wertvolle, schöne und nützliche, sondern auch eine objektiv begründete, die objektive Eigenschaft der Dinge schlechthin.«13 Diese Eigenschaft bzw. der Harmonieapparat insgesamt wird fassbar, indem Ordnung als die Ordnung mathematischer Gesetzmäßigkeit verstanden wird. »Die sogenannten Pythagoräer [...] glaubten, die Prinzipien der Mathematik seien auch die Prinzipien allen Seins. Und da nun in allen übrigen Beziehungen die ganze Natur durch Zahlen nachgebildet zu sein schien, die Zahlen aber die erste Sache der

10 Paul von Naredi-Rainer: Architektur und Harmonie. Zahl, Maß und Proportion in der abendländischen Baukunst, Köln 21984, S. 15 11 Ebd., S. 11 12 Vgl. Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum, Stuttgart/Berlin/Köln 92000, S. 29 ff. 13 Naredi-Rainer: Architektur und Harmonie, S. 12 f.

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ganzen Natur waren, nahmen sie an, die Elemente der Zahlen seien die Elemente aller Dinge, und der ganze Himmel sei Harmonie und Zahl.«14

Es wird vorausgesetzt, dass es eine höhere Ordnung gibt, die allumfassend ist und somit alle Bereiche des Seins bestimmt, wodurch die Konsistenz des Ganzen gesichert ist. Der Kosmos offenbart sich als Ordnungszusammenhang. So kann die Welt in ihrer materiellen Existenz, die Erscheinung der Dinge und deren Zusammenhang, sowie die Tatsache, dass es überhaupt einen Zusammenhang gibt, erklärt werden. Sowohl das Verhältnis der Dinge untereinander als auch das Beruhen der Dinge selbst auf mathematischen Gesetzmäßigkeiten lässt sich als Zahl und Verhältnis von Zahlen ausdrücken. Dabei wird aber Zahl nicht als abstrakte, operativ verfügbare Einheit verstanden, die beliebig addiert, subtrahiert, gereiht oder geteilt werden könnte. Zwar immateriell, hat doch jede Zahl eine exakte Größe und konkrete Form, d. h. der Zahl selbst immanente Eigenschaften, die ihren spezifischen Charakter ausmachen und ihr Bedeutung verleihen. Zahlen haben ein Eigenleben und beschreiben einen Wert an sich. Sie sind weder beliebig, noch sind sie wahllos kombinierbar oder in willkürliche Verhältnisse und Proportionen zu setzen, sondern in den Gesetzen der Harmonie festgelegt. Harmonie beschreibt einen absoluten Wert, der den Dingen die ihnen zustehende Form und ihnen Sinn gibt, kurz – die Welt konstituiert. Damit ist eine Idealkonfiguration von Welt denkbar, nach der die Welt in Ordnung ist, auch wenn oder gerade weil die sinnlich wahrnehmbare materielle Welt nur als ein unvollkommenes Abbild der übergeordneten ursprünglichen Idee von Welt verstanden wird. Ersetzt man Zahl durch Idee, was hier durchaus legitim ist, da beide gewissermaßen einen Urgrund beschreiben, lässt sich die pythagoreische Idealkonstruktion im Sinne eines nun platonischen Idealismus weiterführen. Sämtliche Dinge sind vorerst als Idee existent. Sie begründet deren eigentliches Sein. In ihrer Existenz als Idee sind die Dinge jenseits subjektiver Erfahrung als Objekte begründet, wobei die Gesetzmäßigkeit wesentlich ist, die hervorbringend hinter den Dingen steht. So sind die allgültigen Gesetze der Harmonie einerseits Voraussetzung, quasi der Entstehungsmechanismus, im Gefüge der Dinge, andererseits können diese Harmonie und die hinter ihr stehenden Gesetze auch das wahre Wesen der Dinge und deren

14 Aristoteles: Metaphysik, A5, 985 b23, zitiert nach: Ebd., S. 13

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Zusammenhang darstellen. Die Produktion von Welt und die Reproduktion in der Beschreibung von Welt fallen in der Harmonielehre in eins und sichern die Unversehrtheit des Objekts gegenüber den Unwägbarkeiten ihres Erscheinens, der Subjektivität des Wahrnehmens, der Konvention, der Relativität des Standpunktes und dem Zeitpunkt und der Dauer der Betrachtung. Die Dinge sind, sie erscheinen nicht nur. Was bedeutet das für die Architektur? Wenn alles in idealer Ordnung begründet ist, trifft dies natürlich auch für Kunst und Architektur zu. Die ideale Ordnung bestimmt deren Erscheinen oder materielle Realisation, nicht umgekehrt. In seiner Teilhabe am Plan idealer Ordnung, dem in seiner Allgültigkeit sowieso nicht zu entgehen ist, ist auch dem Bauen ein universeller und universell gültiger Maßstab gegeben. Es gibt absolute Bewertungskriterien, wie »das Schöne an sich«. Gebunden an Maß, Zahl und deren Relation in proportionalen Verhältnissen gemäß harmonikaler Ordnung ist es unvergänglich, unveränderlich gültig, wahr und damit auch schön. Schön wird hier weniger im ästhetischen Sinne gesehen, als vielmehr in Verbindung mit »dem Guten an sich« als das sittlich Gute schlechthin. Im Gegensatz dazu würde das Hässliche das bezeichnen, was sich der gegebenen Ordnung verschließt. Aufgabe von Kunst und Architektur wäre, dieses Schöne, Richtige und Gute – die Begriffe werden hier synonym verwendet –, d. h. das eigentliche Sein, die wirkliche Wirklichkeit, zu reflektieren. Kunst im Sinne auf Beobachtung beruhender, mit und innerhalb der Welt der Erscheinungen agierender visueller Praxis dürfte das schwerlich leisten können. Platon wertet solchermaßen mimetische Künste als bestenfalls überflüssig.15 Wenn die sichtbare Welt lediglich als Abbild des in der Idee angelegten Urbildes verstanden wird, erscheint wiederum ein Abbilden des Abbildes irrelevant. Schon das materiell Sichtbar- und Greifbarwerden ist zwangsläufig von einem gewissen Verlust begleitet. Es ist immer nur jeweils eine notwendigerweise unvollkommene Realisierung der Idee an sich möglich, während im Urbild die Dinge entsprechend ihrer inhärenten Ordnung universell, ganz und ewig sind. Die Betrachtung der materiellen Welt sowie deren illusorische Nachahmung verstellen eher den Blick darauf, wie die Dinge wirklich sind. Auch Schönheit könnte so nicht gewonnen werden. Architektur dagegen setzt in der Wirklichkeitshierarchie viel höher an.

15 Vgl. im Folgenden: Erwin Panofsky: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Berlin 21960 [zuerst: 1924], S. 3

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Da Architektur als das Operieren mit Maß und Zahl verstanden wird und dieses Vorgehen die zugrunde liegende ideelle Ordnung spiegelt, kann Architektur durchaus Welt schaffen. Platon zählt die Architektur zu den hervorbringenden Künsten. Bleibt das Problem, wie die Architekten dieser ideellen Ordnung habhaft werden. Vitruv gibt einen Hinweis. Im III. Buch, I. Kapitel schreibt er: ͩKein Tempel kann ohne Symmetrie und Proportion eine vernünftige Formgebung haben, wenn seine Glieder nicht in einem bestimmten Verhältnis zu einander stehen, wie die Glieder eines wohlgeformten Menschen.«16 Symmetrie und Proportion sind Eigenschaften besagter Ordnung, bzw. sie sind diese Ordnung, wobei Symmetrie (symmetria) im Sinne Vitruvs mehr meint als spiegelbildliche Gleichheit der Teile. Gemeint ist ein Proportionsgesetz, das das Einzelne mit dem Ganzen auf der Basis eines zugrunde liegenden Maßes in harmonische Beziehung setzt.17 Vitruv wählt die Gegenüberstellung von Ordnung und menschlicher Gestalt nicht zufällig. Es handelt sich vielmehr um eine der Schlüsselstellen des Architekturtraktates. Wenn, wie behauptet, alles unter- und zueinander in sinnvoller Beziehung steht, was man von einer sinnvollen Schöpfung erwarten können müsste, und alles – Mikro- und Makrokosmos – gemäß harmonischer Ordnung sowohl in Maß, Zahl und Proportion begründet ist als auch durch diese ausgedrückt werden kann, dann müssten Maß, Zahl und Proportion auch in jedem Teil zu finden sein, auch und gerade im Anthropomorphen. Das ist der Kunstgriff, um der ganzen Weltharmoniemaschinerie habhaft zu werden. Angesichts der Proportionen des menschlichen Körpers, nicht seiner Materialität, wird die Ordnung, die hinter (oder eher vor) allem steht, verfügbar. Nun kann Vitruv behaupten, dass ein Tempel, der als Haus für die Götter als prominenteste Bauaufgabe gilt und daher eine möglichst getreue Umsetzung der Idee in die materielle Welt verlangt, sich an der Idealgestalt eines idealen Menschen zu orientieren hat. Damit gewinnt die folgende Beschreibung der Proportionen des menschlichen Körpers normative Bedeu-

16 Vitruv: De architectura, Fensterbusch (Hg.), III. Buch, I. Kapitel, S. 137 17 »Symmetria ferner ist der sich aus den Gliedern des Bauwerks selbst ergebende Einklang und die auf einem berechneten Teil (modulus) beruhende Wechselbeziehung der einzelnen Teile für sich gesondert zur Gestalt des Bauwerks als Ganzem.« Ebd., I. Buch, II. Kapitel, S. 39

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tung. Kein Individuum wird beschrieben, sondern eine objektiv gültige Konzeption:

Abb. 2: Mann in Quadrat und Kreis nach Vitruv von Francesco di Giorgio Martini (1480/90) und Leonardo da Vinci (1485/90)

»Den Körper des Menschen hat nämlich die Natur so geformt, daß das Gesicht vom Kinn bis zum oberen Ende der Stirn und dem untersten Rande des Haarschopfes 1/10 beträgt, die Handfläche von der Handwurzel bis zur Spitze des Mittelfingers ebensoviel, der Kopf vom Kinn bis zum höchsten Punkt des Scheitels 1/8, von dem oberen Ende der Brust mit dem untersten Ende des Nackens bis zu dem untersten Haaransatz 1/6, von der Mitte der Brust bis zum höchsten Scheitelpunkt 1/4. Vom unteren Teil des Kinns aber bis zu den Nasenlöchern ist der dritte Teil der Länge des Gesichts selbst, ebensoviel die Nase von den Nasenlöchern bis zur Mitte der Linien der Augenbrauen. Von dieser Linie bis zum Haaransatz wird die Stirn gebildet, ebenfalls 1/3. Der Fuß aber ist 1/6 der Körperhöhe, der Vorderarm 1/4, die Brust ebenfalls 1/4. Auch die übrigen Glieder haben ihre eigenen Proportionen der Symmetrie, durch deren Beachtung auch die berühmten Maler und Bildhauer großen und unbegrenzten Ruhm erlangt haben. [...] Ferner ist natürlicherweise der Mittelpunkt des Körpers der Nabel. Liegt nämlich ein Mensch mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken, und setzt man die Zirkelspitze an der Stelle des Nabels ein und schlägt einen Kreis, dann werden von dem Kreis die Fingerspitzen beider Hände und die Zehenspitzen berührt. Ebenso wie sich am Körper ein Kreis ergibt, wird sich auch die Figur des Quadrats an ihm finden. Wenn man nämlich von den Fußsohlen

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bis zum Scheitel Maß nimmt und wendet dieses Maß auf die ausgestreckten Hände an, so wird sich die gleiche Breite und Höhe ergeben, wie bei Flächen, die nach dem Winkelmaß quadratisch angelegt sind.«18

Diese kurze Textstelle ist – wenn auch als konkrete Anleitung nicht besonders ergiebig – in ihrer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Architektur nicht zu unterschätzen. Vitruv erstellt einen Kanon der menschlichen Gestalt, der sich aber nicht auf die Rekonstruktion und Reproduktion menschlicher Abbilder beschränkt, sondern zum allgemeinen Prinzip erklärt wird. »Wenn also die Natur den menschlichen Körper so zusammengesetzt hat, daß seine Glieder in den Proportionen seiner Gesamtgestalt entsprechen, scheinen die Alten mit gutem Recht bestimmt zu haben, daß auch bei der Ausführung von Bauwerken diese ein genaues symmetrisches Maßverhältnis der einzelnen Glieder zur Gesamterscheinung haben.«19

Umgekehrt kann nun diese Mensch-Gebäude-Analogie herangezogen werden, um sich der Identität von Mikro- und Makrokosmos, der Gültigkeit objektiver Gesetze und der Sinnhaftigkeit der Welt überhaupt zu versichern. Architektur gewinnt Konsistenz, in ihrer formalen Ausgestaltung sind die Bedingungen des Entstehens von Form und deren Bedeutung deckungsgleich. In der Nachfolge Vitruvs wird der sogenannte Vitruvianismus immer wieder das Bild des Menschen in Quadrat und Kreis bemühen, während Vitruv selbst diese pythagoreisch-platonische Konzeption weit weniger entschieden verfolgt. Vitruv beschwört noch kurz die Verbindlichkeit einer im Anthropomorphen zu findenden der Zahl inhärenten Ordnung. »Ebenso hat man die Maßberechnungen, die bei allen Bauwerken notwendig zu sein scheinen, von den Gliedern des Körpers entlehnt, wie Finger [Zoll], Palm [Handfläche], Fuß, Elle, und sie haben diese Maße auf eine ›vollkommene‹ Zahl, die die Griechen ›teleon‹ nennen, verteilt. Als vollkommene Zahl aber haben die Alten die Zahl 10 bestimmt, denn sie ist an den Händen durch die Zahl der Finger gefunden. Wenn aber auf Grund der Finger an beiden Händen 10 von Natur aus vollkommen

18 Ebd., III. Buch, I. Kapitel, S. 137 ff. 19 Ebd., III. Buch, I. Kapitel, S. 139

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ist, so glaubte auch Platon, diese Zahl sei deshalb vollkommen, weil die Zehnheit aus Einheiten [1+ 2+ 3+ 4= 10] hervorgeht, die die Griechen ›Monaden‹ nennen.«20

Zahlen sind hier wiederum keine bloßen Recheneinheiten, sondern werden verstanden als eigenständige Wesenheiten, »die ein vorweltliches Sein im göttlichen Denken haben«21 und daher zwangsläufig Träger von Sinn sind. Sie offenbaren eine Eigengesetzlichkeit, der sich die pythagoreische Tradition, fasziniert von deren geometrischer Anschaulichkeit22, nicht entziehen konnte. Vitruv nennt in Folge noch weitere vollkommene Zahlen und Zahlenverhältnisse, die immer dadurch charakterisiert sind, dass sie sich in anschaulich greifbarer Form mit mathematisch Absolutem verknüpfen, wodurch sie wesentlich erscheinen. In Deckungsgleichheit damit wäre regelgerechtes Bauen möglich. Architektur und ihre Ordnung wären in diesem absoluten Bezugssystem zeitlos, objektiv und ausreichend legitimiert. Allerdings, Vitruv verfolgt diese Argumentation nicht weiter, so als wäre sie doch nicht mehr ausreichend, sondern lediglich Überlieferung einer älteren Bautradition. Jenseits des Absoluten haben bei Vitruv auch das subjektiv Schöne der Erscheinung, ebenso wie gesellschaftliche Übereinkünfte und Überlieferung in Form von Konventionen ihre Berechtigung. Alle drei Begriffe sind jedoch in der Forderung nach überzeitlicher Beständigkeit recht fragwürdig. Im I. Buch, II. Kapitel nennt Vitruv neben der ideellübersubjektiven »symmetria« auch »eurythmia« und »decor« als eigenständige Kriterien, die den ästhetischen Wert eines Bauwerks bestimmen.23 20 Ebd. 21 Naredi-Rainer: Architektur und Harmonie, S. 34 22 So begründet sich die Idealität der Zahl 10 in ihrer geometrischen Konfiguration als gleichseitiges Dreieck, das aus der fortlaufenden Addition der ersten vier Zahlen (1 + 2 + 3 + 4) gebildet wird (Tetraktys). ° ° ° ° ° ° ° ° ° °

Siehe zur Verschränkung von arithmetischem und geometrischem Zahlenver-

ständnis auch: Julius Stenzel: Zahl und Gestalt bei Platon und Aristoteles, Darmstadt 31959, S. 25 ff. 23 Siehe hierzu auch: Georg Germann: Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, Darmstadt 1980, S. 28: »Aus zum Teil verstreuten Stellen und nicht ohne Gewaltsamkeit und Auslassungen habe ich Vitruvs Kategorien in ein Sys-

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»Eurythmia ist das anmutige Aussehen und der in der Zusammensetzung der Glieder symmetrische Anblick. Sie wird erzielt, wenn die Glieder des Bauwerks in zusammenstimmendem Verhältnis von Höhe zur Breite und von Breite zur Länge stehen, überhaupt alle Teile der ihnen zukommenden Symmetrie entsprechen.«24 Wiederum wird der proportional harmonische Zusammenhang des Einzelnen zum Ganzen bedacht, nur allerdings im Verweis auf visuelle Praktiken. Wichtig sind die beiden Wörter »species« (Aussehen) und »aspectus« (Anblick), die einen Betrachter voraussetzen und erst durch diesen Sinn erhalten.25 Das hat weitreichende Folgen für das Verständnis dessen, was und wie Architektur sein sollte. Es relativiert die Setzung einer idealen, abstrakten geometrischen Ordnung, die bis dahin als eigentliches und wirkliches Sein der Dinge vorgestellt wurde. Neben die Harmonie des Plans tritt die Frage nach dessen harmonischem Aussehen. In den Augen eines wahrnehmenden Subjekts stellt sich die Frage nach »richtig sein« und »richtig erscheinen«. Beides muss nicht deckungsgleich sein. Daher bedarf die Regelkonformität der Ordnung von Fall zu Fall visueller Korrekturen. Entsprechend lässt Vitruv den Auflistungen der korrekten Maße und Verhältnisse bestimmter Bauaufgaben Anweisungen des Ausgleichs folgen. So ist beispielsweise der Säulendurchmesser verschiedener Tempel in Abhängigkeit zur Achsweite anzupassen, »weil die Luft infolge der Breite der Säulenzwischenräume für das Auge die Dicke der Säulenschäfte verzehrt und vermindert. [...] Auch muß man die Ecksäulen um den fünfzigsten Teil ihres Durchmessers dicker machen, weil sie ringsum von Luft beschnitten werden und dem Beschauer zu schlank erscheinen. Also muß die optische Täuschung durch Berechnung künstlich ausgeglichen werden.«26 Gerechnet wird nicht mehr nur innerhalb der Logik pythagoreisch-platonischer Abstraktion. Daneben steht nun ebenfalls die Forderung nach Berechnung27 notwendiger Korrekturen in deren greifbarem Erschei-

tem gebracht: [...] ›Venustas‹ – an einer Stelle sagt Vitruv sogar ›probata venustas‹ (bewährte Anmut) – ruht auf drei Pfeilern: ›symmetria‹, ›eurythmia‹ und ›decor‹.« 24 Vitruv: De architectura, Fensterbusch (Hg.), I. Buch, II. Kapitel, S. 39 25 Siehe hierzu auch: Germann: Architekturtheorie, S. 21 26 Vitruv: De architectura, Fensterbusch (Hg.), III. Buch, III. Kapitel, S. 151 27 Fensterbusch übersetzt die Textstelle: »Ergo quod oculis fallit, ratiocinatione est exaequandum« wörtlich im engeren Sinn mit »durch Berechnung künstlich aus-

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nen. Die Vergewisserung von Objektivität durch mathematische Operationen verlagert sich vom Ideellen ins Konkrete. Die Idealität einer gültigen Ordnung, die einfach ist, ohne sich um die Unwägbarkeiten ihrer Erscheinungen bzw. ihrer möglichen Realisierungen kümmern zu müssen, ist dahin. Das formale System, auf das sich architektonische Form stützt, muss ab jetzt immer argumentiert werden. Zu erkennen ist das bereits in den Textstellen, in denen Vitruv kanonische Anweisungen zu Maßen, Zahlen und Proportionen gibt. Er tut dies nicht im Vertrauen auf deren metaphysische Wahrheit, sondern präsentiert sie als tradierte Regelsätze. Legitimiert sind diese durch Überlieferung. Vitruv beruft sich darauf, »die Alten« hätten dies so und so getan. Sind darüber hinausgehende Begründungen notwendig, liegen sie im Anschaulichen, Verständlichen und Offensichtlichen der Alltagspraxis. Damit sind absolute Positionen veränderbar. Bei der Beschreibung der Arten der Tempel (III. Buch, III. Kapitel) beispielsweise berichtet er von einer Erfindung. Das bedeutet, dass Architektur in diesem Fall nicht mehr verstanden wird als die Realisierung einer Ordnung, die schon immer da war, sondern als deren Rekonfiguration: »Diese Symmetrien aber hat Hermogenes festgelegt, der auch als erster den achtsäuligen Tempel – die Anlage des Pseudodipteros – erfunden hat. Denn aus der symmetrischen Anlage des Dipterostempels entfernte er die inneren Reihen der 34 Säulen und ersparte damit Kosten und Arbeit. In der Mitte (wo die 34 Säulen gestanden hatten) legte er in hervorragender Weise einen verbreiterten Umgang rings um die Cella an, verminderte in keiner Weise das schöne Aussehen, sondern wahrte, ohne daß man das Überflüssige vermißt, durch die Einteilung des ganzen Bauwerks seine große Wirkung.«28

Die Symmetrie, die regelhafte Anlage, bleibt gewahrt, nur der eigentliche Wert der Erfindung wird, noch relativiert durch die Vorgabe fehlerfreien Aussehens, an deren Effizienz, dem Verhältnis von Arbeit und Kosten zum Nutzen, festgemacht. Überdies erweist sich die Erfindung in der Verbreite-

geglichen werden«, Rode dagegen freier mit »daher denn um so viel, als das Auge getäuscht wird, die Kunst ersetzen mußs.« Vitruv: De architectura, Rode (Hg.), Band 1, III. Buch, II. Kapitel, S. 130 28 Vitruv: De architectura, Fensterbusch (Hg.), III. Buch, III. Kapitel, S. 149

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rung des Umgangs als bequemer nutzbar.29 Kosten lassen sich berechnen und Art und Umfang der Nutzung eruieren, eine Beschreibung ästhetischer Qualitäten jedoch bleibt vage. Um trotzdem zu Aussagen zu kommen, wie Architektur »richtig« zu machen ist, werden Fragen der Formgebung nun auch funktional begründet. Das ist neu. Die Form wird nicht mehr überzeitlich hergeleitet, sondern realisiert sich im jeweils Notwendigen, zeitlich Bedingten. Sie wird verhandelbar. Ähnlich verhält es sich mit der letzten Kategorie, mit der Vitruv Schönheit definiert, dem decor. Der Begriff meint mehr als lediglich Ausschmückung. Vitruv schreibt: »Decor ist das fehlerfreie Aussehen eines Bauwerks, das aus anerkannten Teilen mit Geschmack geformt ist.«30 Fraglich bleibt, was mit »anerkannten Teilen« und »Geschmack« gemeint ist. Rode übersetzt diese Textstelle etwas anders: »Schicklichkeit wird das untadelhafte Aussehen eines Gebäudes genannt, wann jeder Theil desselben hinlänglich Autorität für sich hat.«31 Das deutet auf die Forderung hin, dass jedes Teil notwendig ist und Bedeutung hat. Im nächsten Satz präzisiert Vitruv: »Decor wird durch Befolgung von Satzung, die die Griechen Thematismos nennen, oder durch Befolgung von Gewohnheit oder durch Anpassung an die Natur erreicht.«32 Anpassung an die Natur meint hier die Beachtung des der Bauaufgabe Angemessenen, im funktionalen Sinn von Effizienz, Nutzen und Bequemlichkeit. Mit Satzung (statio) und Gewohnheit (consuetudine) führt Vitruv eine dezidiert konventionelle Argumentation ein, die auf Vereinbarungen beruht. Verhandelt wird die Angemessenheit, die Bedeutung von Architektur in Bezug auf ihr formales Erscheinen. Demnach muss bei sakralen Bauaufgaben auf die den einer Gottheit zugeschriebenen Eigenschaften und deren Entsprechung im architektonischen Stil geachtet werden. Ebenso ist im Profanen die Beachtung von Stilgerechtigkeit wichtig. Stil wird hier in dem Sinn verstanden, dass bestimmte Formen, die mit bestimmten Inhalten verbunden wurden, durch Gewohnheit zu

29 Vitruv führt hierzu ein ganz profanes Beispiel an: »[...] ferner damit, wenn die Wassermenge eines Platzregens eine große Anzahl von Menschen überrascht und anschneidet, diese sich im Gebäude und um die Cella herum mit ihrem breiten Umgang zwanglos aufhalten kann.« Ebd. 30 Ebd., I. Buch, II. Kapitel, S. 39 31 Vitruv: De architectura, Rode (Hg.), Band 1, I. Buch, II. Kapitel, S. 27 32 Vitruv: De architectura, Fensterbusch (Hg.), I. Buch, II. Kapitel, S. 39

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feststehenden semantischen Einheiten werden. Das bedeutet nicht, dass das System stabil ist. Form und Bedeutungszuschreibung unterliegen semantischer Verschiebung und müssen immer wieder aktualisiert werden. Was angemessen und schicklich ist und wie es wahrgenommen wird, ist folglich abhängig von sozialen Praktiken und unterliegt der Interpretation im gesellschaftlichen Kontext. Die Praxis architektonischer Formfindung ist nun kompliziert. Nicht mehr allein die geometrische Ableitbarkeit kosmischer Ordnung bestimmt Architektur quasi als Naturgesetz, sondern auch das subjektive Moment der Wahrnehmung, die emotionale Wirkung, ist Teil von Architektur. Ebenso muss deren Abhängigkeit von gesellschaftlichen bzw. kulturellen Vereinbarungen beachtet werden. Insbesondere mit dem Begriff des Schicklichen ist ein Terminus aus dem Bereich des Ethischen in die Architekturpraxis eingeführt.33 Infolgedessen wird sich das individuelle Handeln des Architekten vor diesem Hintergrund verantworten müssen. Vitruv belässt es bei der Zusammenstellung von – wenn auch partiell sich widersprechenden – Grundsätzen, Regeln und Beschreibungen und stellt eine Terminologie zur Verfügung, auf die in der Nachfolge gerne zurückgegriffen wird. Interesse, das Konfliktpotential im Nebeneinander von absoluten und relativen Begründungsmomenten weiter zu thematisieren, lassen seine zehn Bücher nicht erkennen. Auch in der weiteren Rezensionsgeschichte bleibt dieser Konflikt unbearbeitet. Sowohl die Theorie der Spätantike als auch die des Mittelalters führt den Strang platonischer Ideenlehre weiter. Vor dem Hintergrund einer nun christlichen Welterklärung bleibt das System harmonischer Ordnung in der Identität von Mikro- und Makrokosmos aktuell. Die Vorstellung eines in Maß, Zahl und Proportion bestimmten eigentlichen Seins wird mit Gewinn auf den christlichen Schöpfungsmythos übertragen und weiter ausgebaut und gewinnt theologische Legitimation. Dahingehend wird Vitruv gelesen. Entsprechende Stellen, die Auskunft über die Art, die Beschaffenheit und die Bedingungen von Harmonie geben, sollen die Gültigkeit gegebener Ordnung illustrieren. Von Relevanz ist die Wirklichkeit im Ideellen. Dagegen bleibt – folgerichtig – das Interesse an den Problemen der materiellen Umsetzung von Gebautem und dessen Erscheinen gering.

33 Vgl. Germann: Architekturtheorie, S. 23

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1.1.2 Leon Battista Alberti, der Vitruvianismus und die Systeme humanistischer Ordnung Das Bedürfnis einer umfassenden Darstellung des Bauens zeigt sich erst wieder mit einem Ernstnehmen der materiellen Umwelt und einem neuerlich notwendigen Ausloten des Verhältnisses des Einzelnen zum Ganzen. War die Frage nach Ordnung im christlichen Weltbild ein Erkenntnisproblem, das in der Gleichsetzung von Ordnung mit der Wirklichkeit der Welt der Ideen die Schöpfung selbst erkennt, stellt sich nun die Frage, wie diese Ordnung umzusetzen sei. Unter diesem Aspekt könnte man Leon Battista Albertis »Zehn Bücher über die Baukunst« betrachten, in denen rund 500 Jahre nach Vitruvs »Zehn Büchern über Architektur« erneut Theoriebildung der baulichen Praxis betrieben wird. Wie vorher bei Vitruv lässt sich auch hier wieder die Frage nach dem Verhältnis von normativer Gesetzmäßigkeit, Konvention und emotionaler Wirkung stellen. Wenn auch Alberti das Problem nicht explizit benennt, sucht er doch, diese disparaten Begründungsmuster in einem gemeinsamen Rahmen zusammenzuführen. Dies geschieht im Formalen in der durchgängigen Argumentation seiner zehn Bücher, deren Aufbau weit systematischer ist als bei Vitruv, der nach Alberti nicht nur »von der Zeit mitgenommen und verstümmelt« überliefert wurde, sondern auch »so ungebildet schrieb, daß ihn die Lateiner für einen Griechen, die Griechen hingegen für einen Lateiner hielten. Die Sache selbst zeigt bei näherer Betrachtung, daß es weder Latein noch Griechisch ist, so daß es gleich wäre, er hätte es überhaupt nicht geschrieben, als daß er es so schrieb, daß wir’s nicht verstehen können.«34 Alberti stellt sich dagegen als humanistisch gebildet vor, was er zweifellos auch ist.35 Kenntnis und Pflege der antiken Literatur und Sprache werden bei ihm als Basis jeglicher Wissenschaftlichkeit verstanden. So wäre zumindest Albertis Ungehaltenheit über Vitruvs Stil zu erklären. Auch hat sich Alberti gegenüber der überlieferten Autorität zu behaupten und stellt seine eigene Leistung heraus: Diese bestehe darin, den Wissensschatz antiker Architektur wieder zugänglich gemacht zu haben.

34 Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst (De re aedificatoria), Max Theuer (Hg.), Darmstadt 1991 [zuerst 1912], S. 289 f. 35 Siehe zum biographischen Hintergrund: Anthony Grafton: Leon Battista Alberti, Berlin 2002

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Im Grunde beschränken sich die literarischen Quellen, die er anführt, jedoch im Wesentlichen auf die Bücher Vitruvs, die er um Zitatstellen klassischer Autoren ergänzt. Angesichts der dürftigen Quellenlage gilt im Zweifelsfall sein Interesse den baulichen Hinterlassenschaften selbst. »Es blieben also als Tatzeugen für die Vergangenheit die Tempel und Theater, von denen man wie von den besten Lehrmeistern vieles lernen konnte: und diese sah ich in unseren Tagen nicht ohne Tränen zerstören.«36 Alberti beschreibt seine Arbeit als mühsam. Er betont, es sei schwer, »so vielerlei Sachen, so ungleiche und so zerstreute, so von Gebrauch und Kenntnis der Schriftsteller verschiedene in eins zu sammeln und auf würdige Weise zu prüfen, in richtiger Folge zu ordnen, in wohlgesetzter Rede zu behandeln und in bestimmter Absicht zu erläutern.«37 Das ist mehr als die bloße Sammlung überlieferter Wissensbestände. Gerade in der sinnvollen und sinngebenden Zusammenstellung, im Herstellen kausaler Zusammenhänge, entwickelt sich eine umfassende Architekturtheorie. Diese kann im humanistischen Rahmen als wissenschaftlich gelten und folgt einer durchgängigen Argumentation: Das I. Buch führt in die Methodik ein und stellt die grundlegenden Elemente vor, die im Folgenden auf der Grundlage der vitruvianischen Begriffe firmitas (im II. Buch »Über die Baustoffe« und im III. Buch »Über das Bauen«), utilitas (im IV. Buch »Über Anlagen allgemeiner Art« und im V. Buch »Über Bauwerke besonderer Art«) und venustas (im VI. Buch »Über den Schmuck«, im VII. Buch »Über den Schmuck der Sakralbauten«, im VIII. Buch »Über den Schmuck der öffentlichen Profanbauten« und im IX. Buch »Über die Profanbauten«) diskutiert werden.38 Beurteilungskriterium ist der jeweils sinnvolle Einsatz brauchbarer Mittel. Dazu schreibt Alberti im ersten Buch: »Sie [die architektonischen Elemente] sollen jedes einzelne ihrem bestimmten Zwecke genau angepaßt und besonders gesund sein; in bezug auf Dauerhaftigkeit und Unvergänglichkeit vollkommen und solid, ja bis zu gewissem Grade ewig; in bezug

36 Alberti: De re aedificatoria, Theuer (Hg.), S. 290 37 Ebd., S. 290 f. 38 Das X. Buch mit dem Titel »Über die Wiederherstellung der Bauwerke« stellt einen Ergänzungsband dar und ist der beschriebenen Systematik lediglich angehängt.

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auf Schönheit und Anmut schmuck und wohlgefällig und in allen Teilen sozusagen festlich geschmückt sein.«39

Der Analyse der Problemstellung, bzw. der Frage nach dem jeweiligen Zweck, – sei er nun ein baukonstruktiver, gebäudeorganisatorischer oder ästhetischer – folgt die Lösung in der Auswahl geeigneter Maßnahmen. Was auf den ersten Blick utilitaristisch klingen könnte, ist in ein humanistisches Wertesystem eingebunden. Die Kriterien stehen nicht isoliert, sondern müssen immer im Gesamtzusammenhang gelöst werden. Teillösungen sind unzureichend, da »der Notwendigkeit gerecht zu werden [...] leicht [ist] und eine Kleinigkeit, aber für Bequemlichkeit gesorgt zu haben, ist undankbar, sobald die Uneleganz des Werkes beleidigt.«40 Und in dem Sinn, dass Architektur immer als Ganzes gedacht werden muss, kann Alberti als Zielvorstellung für firmitas, utilitas und insbesondere venustas formulieren, »daß die Schönheit eine bestimmte gesetzmäßige Übereinstimmung aller Teile, was immer für einer Sache, sei, die darin besteht, daß man weder etwas hinzufügen noch hinwegnehmen oder verändern könne, ohne sie weniger gefällig zu machen.«41 Das ist eine der Schlüsselstellen bei Alberti. Nur, wer entscheidet, was dazugehört, was notwendig und was schon überflüssig ist, – und nach welchen Kriterien wird entschieden? Im Fall des Bauens hat letztendlich der Architekt zu entscheiden, d. h. die Dinge sind nicht einfach gegeben, sondern es besteht die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit, eine Wahl zu treffen hinsichtlich der Form, der geometrischen Konfiguration und des dieser zugrunde liegenden formalen Systems. Als Relativ, um überhaupt Entscheidungen treffen zu können, führt Alberti den Begriff der Angemessenheit als übergeordnetes, Form, Bedeutung und Wirkung verbindendes Kriterium ein. Es ist zu fragen: was wird gebaut, für wen und wo, mit welchen Mitteln und Aufwand, für welchen Zweck?42 Die Anweisungen zum »richtigen« Bauen differieren, ob in ländlicher Umgebung oder in der Stadt gebaut werden soll.43 Weiterhin wird unterschieden,

39 Ebd., S. 22 40 Ebd., S. 292 41 Ebd., S. 293 42 Vgl. ebd., S. 73 f. 43 Vgl. ebd., S. 471

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ob es sich bei der Stadt um eine für einen Tyrannen handelt oder um eine mit einer bürgerlichen Verfassung.44 Ebenso haben Bauten von öffentlichem Interesse eine andere Wertigkeit als Gebäude für Privatpersonen, bei denen wiederum Stand, Ansehen und Vermögen zu berücksichtigen sind. »Denn daß man die Sakralbauten, und besonders die öffentlichen, so prächtig als möglich ausstatte, das trachtet man mit aller Kunst und allem Fleiße zu erreichen, denn für die Himmlischen werden diese gebaut; die profanen aber nur für Menschen. Daher gebührt sichs, daß den würdigeren die minder würdigen nachstehen.«45

Folglich ist die Aufgabe der Architektur, ein Gesellschaftsmodell oder alternativ angebotene Gesellschaftsmodelle mit formalen Mitteln nachzuzeichnen, wobei die Frage nach dem »richtigen Bauen« mit der nach dem »richtigen Handeln« verknüpft ist. Die Verantwortung des Architekten ist damit immer auch eine gesamtgesellschaftliche und die Entscheidung für gewählte Formen ist eine moralische. Entsprechend fordert Alberti am Ende des neunten Buchs als Qualifikation für den Architekturberuf nicht nur »hohen Geist, unermüdlichen Fleiß, höchste Gelehrsamkeit und größte Erfahrung«46 ein, sondern ebenso »Menschlichkeit, Gefälligkeit, Bescheidenheit und Redlichkeit«47 als Voraussetzung integren Handelns. Wie hat die Form dann konkret auszusehen, die jeweils nicht nur im moralischen Sinn nicht beliebig sein kann, sondern auch im Formalen gebunden ist? Bei aller Rücksichtnahme auf kontextuelle Relationen sind die Vorstellungen Albertis bezüglich des formalen Rahmes recht eindeutig. Ohne dies näher auszuführen, wird eine präexistente geometrische Ordnung als Grundlage allen Planens vorausgesetzt. Relativierungsversuchen, die darin bestehen dass »manche [dies infrage stellen] und sagen, es sei eine haltlose und wage Meinung, die wir von der Schönheit und der ganzen Baukunst hätten: Je nach dem Geschmack des Einzelnen sei die Form des Bauwerkes verschieden und veränderlich und durch keinerlei künstlerische Vorschriften einzuschränken«, erteilt Alberti eine klare Absage. »Das ist der gewöhnliche Fehler der Unwissenheit, die behauptet, was sie nicht

44 Vgl. ebd., S. 219 ff. 45 Ebd., S. 411 46 Ebd., S. 515 47 Ebd., S. 516

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kennt, existiere auch nicht.«48 Für Alberti existiert eine formgebende geometrische Ordnung und folgerichtig beginnt das I. Buch, I. Kapitel: »Ich will beginnen über die Risse der Bauwerke zu schreiben [...]. Bedeutung und Zweck der Risse ist, den richtigen und klaren Weg zu zeigen, die Linien und Winkel aneinanderzupassen und zu verbinden, in welchen die Erscheinung des Bauwerkes inbegriffen und eingeschlossen ist.«49 Die Zeichnung wird begriffen als das Instrument, das das Gebäude wesentlich bestimmt. In ihrer Nähe zur Abstraktion geometrischer Ordnung hat sie noch am ehesten an der Wirklichkeit der Welt der Ideen teil. Zumindest kann der folgende Hinweis im platonischen Sinn50 gelesen werden, was Wittkower51 tut. Alberti schreibt, dass »ein Gebäude eine Art Körper sei, der wie andere Körper aus Linien und der Materie besteht. Die ersteren werden vom Geiste hervorgebracht, die letztere aber gewinnen wir aus der Natur. Für jene müssen wir Verstand und Erwägung, für diese die Zubereitung und die Auswahl anwenden.«52 Dabei wird der Primat der Zeichnung hervorgehoben. Die Risse sind nicht an die Materie gebunden.53 »Man kann also die Formen ganz allein nach Belieben vorzeichnen ohne Rücksicht auf das Material. [...] Daraus ergibt sich, daß ein Riß eine bestimmte bestehende Zeichnung ist, die, im Geiste konzipiert, mittels Linien und Winkel aufgetragen wurde, ausgeführt von einem an Herz und Geist gebildeten Menschen.«54 Weiter kommt es »besonders auf den Zusammenhang und das Maß der Linien untereinander an [...], woraus vor allem die Wirkung der Schönheit hervorgeht.«55 In der Untersuchung einer unterstellten Vorliebe Albertis für

48 Ebd., S. 294 49 Ebd., S. 19 50 Zu den Vorbehalten der neueren Forschung gegenüber einer platonischen Interpretation Albertis siehe: Brian Vickers: Humanismus und Kunsttheorie in der Renaissance, in: Kurt W. Forster/Hubert Locher (Hg.): Theorie der Praxis. Leon Battista Alberti als Humanist und Theoretiker der bildenden Künste, Berlin 1999 51 Rudolf Wittkower: Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus, München 21990 [zuerst: 1949], insbesondere Teil 1 52 Alberti: De re aedificatoria, Theuer (Hg.), S. 14 53 Vgl. ebd., S. 19 54 Ebd., S. 20 55 Ebd., S. 14

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den Zentralbau extrahiert Wittkower eine Architekturtheorie, die im Glauben an eine regelhafte geometrische Grundlegung architektonischer Form gründet. Indizien dazu findet er in den immer wieder in den Text eingeflochtenen Anweisungen zur Konstruktion der konkreten Form. Allein die Tatsache, dass es sich um Konstruktionen handelt, ist schon bemerkenswert. Zudem sind es immer einfache, elementare Formen und Formprinzipien, die Alberti vorschreibt, insbesondere – und am deutlichsten – wiederum im Tempelbau als der vornehmsten Bauaufgabe. Tempel sind demnach entweder rund oder viereckig. Zu den runden Formen werden auch diejenigen gezählt, deren Grundfläche mit einem Kreis zu umschreiben ist, womit regelmäßige Polygone, wie Quadrat, Sechs-, Acht-, Zehn- und Zwölfecke, mit eingeschlossen sind. Die viereckigen Formen sind in ganzzahligen Seitenverhältnissen von 1 : 2, 2 : 3 oder 3 : 4 bestimmt.56 Die Geometrie »erscheint absolut, unveränderlich, unerschütterlich und ganz durchsichtig«,57 in Kreis und Rechteck wesentlich bestimmt. Mit Teilungen von eins bis zwölf ist das notwendige Feld abgesteckt. Abweichungen von dieser elementaren Ordnung, insbesondere Abweichungen vom rechten Winkel, werden als »Mißgestalt«58 interpretiert. Alberti gewinnt die Sicherheit zu diesen Behauptungen zum einen aus der Autorität überlieferter antiker Tradition. Hinweise, wie »unsere Vorfahren achteten auf« oder »die Alten nahmen an, dass«, erscheinen als Legitimation. Zum anderen nimmt er sie aus der Annahme, dass die Natur der Dinge von sich aus so sei: »Denn die Natur strebt nach absoluter Vollkommenheit, sie ist die göttliche Lehrerin aller Dinge.«59 So lassen sich Geometrien begründen, was folgendes Beispiel zeigt: »Daß sich die Natur vor allem am Runden erfreut, geht schon aus den Gebilden hervor, die sie selbst zeugt, hervorbringt und schafft. Der Erdball, die Gestirne, die Bäume, die Tiere, deren Nester, und was soll ich sonst noch aufzählen, das alles

56 Vgl. ebd., S. 353 57 Wittkower: Grundlagen, S. 15 58 »Bei viereckigen Grundflächen wird der Fehler der Mißgestalt dann am größten sein, wenn nicht alle Winkel rechte sind.« Alberti: De re aedificatoria, Theuer (Hg.), S. 353 59 Leon Battista Alberti: I primi tre libri della famiglia, zitiert in: Wittkower: Grundlagen, S. 13

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wollte sie rund haben; daß sich die Natur auch an Sechseckigem erfreue, sehen wir gleichfalls.«60

Es folgen Beispiele und Belege für weitere elementare Geometrien. Dabei werden tradierte Überlieferung und feststehende Tatsachen von Natur wegen nicht als Gegensatz formuliert. Vielmehr verweisen beide auf ihren Ursprung im pythagoreisch-platonischen Idealismus, einer in Maß und Zahl konstituierten, wie auch durch Maß und Zahl beschreibbaren Welt. Unter dieser Prämisse machen Angaben absoluter Geometrien Sinn. Ebenso wird der moralische Impetus des jeweils Angemessenen befriedigt. Damit lässt sich die – bereits zitierte – zentrale Definition von Schönheit weiter konkretisieren, wonach Schönheit – sie bedeutet jetzt die in jedem Sinn richtige Ausführung von Architektur – »eine bestimmte gesetzmäßige Übereinstimmung aller Teile [...] sei, die darin besteht, daß man weder etwas hinzufügen noch hinwegnehmen oder verändern könne, ohne sie weniger gefällig zu machen«61 Die »bestimmte gesetzmäßige« Übereinstimmung wird zu einer »Art Übereinstimmung und ein Zusammenklang der Teile zu einem Ganzen, das nach einer bestimmten Zahl, einer besonderen Beziehung und Anordnung ausgeführt wurde, wie es das Ebenmaß, das heißt das vollkommenste und oberste Naturgesetz fordert.«62 Hier – bei Alberti nun ausgedrückt durch den Begriff der »concinnitas« (Ebenmaß) – ist sie wieder, die Konzeption eines harmonischen Zusammenhangs zwischen Einzelnem und Ganzen, wonach das Universum nach ewigen mathematischen Satzungen geordnet und die Welt nach allgültigen schönen Maßverhältnissen geschaffen sei.63 Da diese universal sind, lässt sich auch alles in Beziehung setzen. Die Identität von Mikro- und Makrokosmos sichert einen Gesamtorganismus, in dem das eine mit dem anderen erklärt und bestimmt werden kann. Das bedeutet für das Bauen, dass »wie beim Tier Kopf, Fuß und jedes andere Glied zu den übrigen Gliedern und zum ganzen übrigen Körper in Beziehung steht, so sind auch bei einem Bauwerke und insbesondere bei einem Tempel alle Teile so zu gestalten, daß sie untereinander alle in Beziehung stehen, so daß man mit jedem beliebigen einzelnen Teile allein alle

60 Alberti: De re aedificatoria, Theuer (Hg.), S. 353 61 Ebd., S. 293 62 Ebd., S. 492 63 Vgl. Wittkower: Grundlagen, S. 24

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anderen genau messen kann.«64 Die Körperanalogie ist von Vitruv her bekannt und die Idee, der metaphysischen Ordnung, deren Maßen, Verhältnissen und Zahlen, d. h. dem konkreten formalen Apparat, mittels des greifbaren menschlichen Körpers habhaft zu werden, liegt nahe. Das vitruvianische Bild des Menschen in Kreis und Quadrat drängt sich auf, das in Folge als das Leitbild humanistischen Denkens und Bauens schlechthin gesehen werden kann. Mit diesem Bild ließe sich alles erklären: Der Mensch ist der Geometrie eingeschrieben, wie umgekehrt auch Kreis und Quadrat, vom Körper bestimmt, diesen umschreiben. Beide Lesarten sind richtig, da – und das manifestiert das Bild – die Welt eine harmonisch bestimmte ist. Die Konsistenz des Ganzen, die Identität von Weltproduktion wie Reproduktion, ist gewährleistet durch die Vorstellung, dass eben letztendlich alles aus Zahl, Maß und Proportion entsteht wie sich umgekehrt in jeglicher materiellen Realisierung die Ursprungsordnung erkennen lässt. So ist es ganz selbstverständlich, dass der wohlproportionierte Mensch, als Aktualisierung gültiger Ordnung, die Geometrien passgenau ausfüllt. Er könnte gar nicht anders. Die Entsprechung von Bildungsgesetz und Abbild ließe sich mit jedwedem Ding oder Tier darstellen. Dürer wird später den Plan fassen, eine Proportionslehre des Pferdes zu schreiben,65 aber gerade im Bild des Menschen, den der christliche Mythos ins Zentrum der Schöpfung stellt, »belebt die Renaissance neu die mathematische Anschauung der Griechen von Gott und der Welt und, bestärkt durch den christlichen Glauben, daß der Mensch als Ebenbild Gottes die Harmonien des Weltalls verkörpere, erhob sie das vitruvianische, dem Kreis und Quadrat eingeschriebene Menschenbild zum Symbol mathematischer Sympathie zwischen Mikrokosmus und Makrokosmus.«66 Erstaunlich ist, dass Alberti diese zentrale Figur regelästhetischen Denkens nicht in sein Architekturtraktat übernimmt.67 Doch an anderer Stelle, in seinem Buch »De statua«, hat Alberti bereits wesentliche Aussagen zur

64 Alberti: De re aedificatoria, Theuer (Hg.), S. 357 f. 65 Vgl. Peter Strieder: Dürer, Königstein im Taunus 1981, S. 174 66 Wittkower: Grundlagen, S. 21 67 Vgl. Marcus Frings: Mensch und Maß. Anthropomorphe Elemente in der Architekturtheorie des Quattrocento, Weimar 1998, S. 118 ff. Frings arbeitet deutlich die eigenständige, von Vitruv verschiedene Argumentation Albertis heraus.

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Regelhaftigkeit des menschlichen Körpers vorweggenommen.68 Hier finden sich weitere Hinweise auf ein Interesse an den Möglichkeiten bzw. der Notwendigkeit regelhaften Konstruierens. Eine regelhafte Verfasstheit der Welt wird vorausgesetzt, deren Ordnungsprinzipien die Natur bestimmen. »Genau so hat eben dieselbe Natur etwas Greif- und Anwendbares zur Verfügung gestellt, dank dessen man über ein Maß und über zuverlässige und gültige Mittel verfügt, mit deren Hilfe man mühelos, sobald man den Plan dazu fasst, vollkommen passend und vollkommen maßgerecht das vollkommene Gelingen in der betreffenden Kunstausübung zu erreichen vermag.«69

Kunst, ganz allgemein, erhielte damit eine objektive Basis, jenseits künstlerischer Willkür und subjektiver Beliebigkeit. Es gilt nur noch, die Unwägbarkeiten der Erscheinung sowie das Zeitgebundene und Veränderliche der Körperbildung zu durchdringen und das, was gleichsam in den Körpern liegt, ihrem Wesen zutiefst eigen ist und deshalb nie verschwindet,70 zu isolieren. In diesem Sinn aktualisiert Alberti den vitruvschen Kanon. Er vermisst den menschlichen Körper und er tut dies detaillierter als Vitruv, – nach eigenen Angaben in vergleichender Messung, wobei er »sehr viele Körper, die bei den Sachverständigen als besonders schön galten, ausgesucht und von jedem einzelnen die ihm eigenen Maße abgelesen«71 habe. Abweichungen nach oben wie nach unten wurden ausgeschieden und als Ergebnis die Mittelwerte übernommen. Seine Ergebnisse bestätigen die Ausgangsthese, wonach alle Welt Zahl ist. Alle relevanten Maße lassen sich in ganzen natürlichen Zahlen und ganzzahligen Brüchen ausdrücken. Dies alles spielt sich innerhalb eines Maßsystems ab, das auf den Zahlen 6 und 10 beruht.72 Es handelt sich hierbei in der pythagoreischen Tradition und vitruvschen Überlieferung um »vollkommene Zahlen«.73 Damit ist ge-

68 Bätschmann datiert De statua auf 1435, Theuer den Beginn der Arbeiten an De architectura auf Mitte des 15. Jahrhunderts 69 Leon Battista Alberti: Das Standbild/De statua, Oskar Bätschmann/Christoph Schäublin (Hg.), Darmstadt 2000, S. 147 70 Vgl. ebd., S. 147 71 Ebd., S. 169 72 Vgl. Oskar Bätschmann: Einleitung. Proportionen, in: ebd., S. 52 73 Vitruv: De architectura, Fensterbusch (Hg.), III. Buch, I. Kapitel, S. 139 ff.

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währleistet, dass jegliche Messwerte immer auch bedeutungsvolle Zahlen sind. Der abstrakte quantitative Wert der mathematischen Entität »Zahl« ist immer noch gebunden an ein Verständnis von Zahl als mythischem Gegenstand mit jeweils individueller Wesenheit und charakteristischen Eigenschaften,74 d. h. die Maße, Zahlen und Verhältnisse evozieren einen Sinnzusammenhang. Hier schließt sich der Kreis: Die Ausgangsthese, dass die Essenz von Welt in einem überschaubaren Zahlenapparat begründet ist, wird bestätigt, indem man die Welt vermisst. Überall lassen sich harmonische Verhältnisse, bedeutsame Zahlen und elementare geometrische Grundkörper finden – in der Natur, in der Musik, im Kosmos. Das Faszinierende ist die Einfachheit des Systems. In überschaubaren mathematischen und geometrischen Operationen ist die Welt verständlich und in der Entsprechung von Zahl und Geometrie anschaulich. Es beeindruckt die leichte Konstruierbarkeit. Ist die Ordnung einmal erkannt, lassen sich immer wieder sinnvolle Konstellationen generieren. Systemimmanente Eigenschaften, wie proportionale Teilungen, Reihungen, Muster, etc., setzen sich fort, tauchen an erwarteten oder auch unerwarteten Stellen wieder auf und legen damit die Vermutung nahe, dass die Welt wirklich nach diesen Prinzipien funktioniert. Die Gültigkeit harmonikaler Ordnung ist evident. Die Welt ist in Ordnung. Nach Alberti liegt der Schlüssel zur Schönheit in der angemessenen Auswahl und Anordnung. Nichtgeordnetes wäre demnach unschön, würde der Ordnung der Dinge zuwiderlaufen und wäre folglich nicht im Sinne einer sinnvollen Schöpfung, sondern entgegen aller Natur. Eine eigenständige Berechtigung im Ordnungsdiskurs hat die Unordnung, das Unharmonische, nicht, es wäre lediglich ein Fehler, somit hässlich und falsch, was nur auf Unkenntnis oder Ignoranz beruhen kann, beides für die Architekturausübung inakzeptable Haltungen. Umgekehrt begründet die Kenntnis und regelkonforme Anwendung kosmischer Harmonie das Paradigma, wonach die einfachste, mathematisch und geometrisch verständliche Form immer auch die integerste ist, d. h. gut auch im moralischen Sinn.

74 Vgl. zum Verständnis und zur Bedeutung von Zahl: Naredi-Rainer: Architektur und Harmonie, S. 33 ff.

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1.2 Die Mathematisierung des Raums 1.2.1 Die Vermessung von Gott und der Welt Jeder halbwegs seriöse Künstler hat von nun ab diesen Verquickungen von Form und kosmischer Harmonie Rechnung zu tragen, bzw. hat er – positiv formuliert – die Möglichkeit, sein Tun in Bezug auf eine als verbindlich angenommene Ordnung zu reflektieren. War es die Aufgabe des Quattrocento, die Notwendigkeit und Sinnfälligkeit von Ordnungsbezügen festzustellen, kann die Generation nach Alberti zu deren praktischer Anwendung übergehen. Aufgabe ist nun die Ausformulierung eines verbindlichen Kanons. Es gilt, die Ausführungen Albertis weiter zu einem feststehenden Regelwerk auszubauen und im Sinne einer Regelästhetik zu verdichten. Architekten wie Sebastiano Serlio (1475-1554), Vignola (1507-1573), Andrea Palladio (1508-1580) u. a. werden dies in Folge in ihren Architekturtraktaten tun. Referenzpunkt ist dabei immer die Antike, deren Zeugnisse, sowohl die bildnerischer als auch die textlicher Art, als vorbildhaft im Umgang mit – und dem Wissen um – Ordnung erachtet werden. Die im Raum stehende Forderung nach Einfachheit, Schlüssigkeit und Regelhaftigkeit wird gefunden und im daraus sich etablierenden so genannten Vitruvianismus bestätigt bzw. festgeschrieben. In diesem Sinne sind auch, als dessen Signet, die zahlreichen Vitruvillustrationen zu verstehen, die in immer neuen Varianten den in Quadrat und Kreis eingeschriebenen Menschen darstellen, – von Francesco di Giorgio Martini bis zur wohl prägnantesten Darstellung bei Leonardo da Vinci. Jedoch kann man bei der Beschäftigung mit Vitruv zu ganz anderen Ergebnissen kommen. Auch Albrecht Dürer ist bestrebt, sein bildnerisches Werk theoretisch zu fundieren bzw. der Kunst ganz allgemein eine objektive Basis zu geben. Ganz im Sinne seiner Zeit versucht auch er, diese Basis aus der antiken Überlieferung zu gewinnen. Mittlerweile ist die Kenntnis antiker Quellen unumgänglich, will man als Künstler bestehen, als Künstler im modernen humanistischen Verständnis, als einer, der die Welt zu verstehen versucht und dieses Wissen jenseits der tradierten Bahnen handwerklicher Berufsausübung reflektiert. Dürer verfügt neben einer soliden Ausbildung als Maler über enge Kontakte zu humanistischen Kreisen, ist über die aktuelle Diskussion unterrichtet und hat im Verlauf von zwei Italienreisen die Möglichkeit, den Ausgangsort des Humanismus in eigener Anschauung

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kennen zu lernen. Damit ist Dürer prädestiniert zum vorbildlichen Renaissancekünstler zu werden, was er auch anstrebt. Als Künstler wie Kunsttheoretiker sucht er den Anschluss an die Reihe antiker Autoritäten, als deren legitimer Nachfolger er sich vorstellt: »Item vor vill hundert jorn sind etlich gros meister gewest, do fan Plinius schreibt, als der Apelles, Prothtogines, Phidias, Praxidiles, Politeklus, Parchasios vnd dy anderen. Der etlich haben künstliche pücher beschriben van der molerey, aber leider, leider, sy sind verloren. Dan sy sind vns verporgen vnd manglen jrer grossen sinreihkeit.«75

Ganz deutlich zeigt sich hier das Zusammengehören von künstlerischem Ingenium – das virtuose Können der aufgelisteten Künstler hat schon die Antike in diversen Künstlerlegenden im Bildungsgut eines jeden Lateinschülers kanonisiert – und dem Schreiben über Kunst. Die Notwendigkeit einer theoretischen Basis ist erkannt, und wenn diese mutmaßlichen Regelwerke nicht mehr – bzw. nur fragmentarisch76 – greifbar sind, gilt es nun, deren Inhalte zu rekonstruieren bzw. neu zu erfinden. »Dieweil aber solche pücher durch leng der zeyt ganz verloren sind worden, so kan mir keiner pilligkeit verwisen werden, ob ich, wie auch die alten gehton haben, mein meinung und erfindung schrifftlich auslasse geen, damit auch anderen verstendigen dergleichen zuthun ursach gegeben werd, und unser nachkommen haben, das sy meren und pesseren mögen, damit die kunst der malerey mit der zeyt wider zu ier volkommenheit reichen unnd kommen mög.«77

Was überliefert ist und worauf Dürer auch Zugriff hat, das sind Vitruvs zehn Bücher über die Architektur, womit der Bezug zur Architektur in diesem Kapitel wieder hergestellt wäre. Näher beschäftigt hat Dürer sich mit dem kurzen Abschnitt zur menschlichen Gestalt, der besagten Schlüsselstelle des humanistischen Ordnungsbegriffs. Dürers Vitruvrezeption ist ab

75 Albrecht Dürer: Das Lehrbuch der Malerei, in: Ders.: Schriftlicher Nachlaß, Hans Rupprich (Hg.), Band 2, Berlin 1966, S. 100 76 Vgl. ebd., Anmerkung 11-13, S. 102 77 Albrecht Dürer: Vier Bücher von menschlicher Proportion, Nürnberg 1528, Reprint: Nördlingen 1996, I. Buch, S. Aiir

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ca. 1500 nachweisbar78 und mündet nach immer neuen Umarbeitungen in die 1528 posthum erscheinenden »Vier Bücher von menschlicher Proportion«. Auch Dürer ist bestrebt, einen verbindlichen Kanon freizulegen, dessen Existenz ja vorausgesetzt wird. Doch anders als die eingängigen Vitruvillustrationen wendet Dürer die Proportionsregeln im Aktzeichnen konsequent an, prüft die menschliche Gestalt an den Idealvorgaben und misst letztendlich nach. Dieses Messen wird zur Obsession und je genauer er misst, desto widersprüchlicher werden die Ergebnisse. In diesem Zusammenhang ist Dürers lapidares Bekenntnis, er wisse nicht, was Schönheit sei, mehr als Bescheidenheit. Es drückt die Erkenntnis aus, dass die Welt doch komplizierter zu sein scheint. Es folgt die Beschreibung eines groß angelegten Scheiterns:

Abb. 3: Albrecht Dürer, Mann in Kreis und Quadrat (um 1508)

Am Beginn seiner theoretischen Ausführungen kann Dürer noch ganz hoffnungsvoll Vitruv zitieren. In seinen Entwürfen zu einem »Lehrbuch der Malerei« (ab 1508) schreibt er zum Kapitel über das Maß der menschlichen Gestalt: »Vitrufius der alt pawmeister, den dy Römer zw grossem gpew prawcht haben, spricht: Wer do bawen woll, der soll sich verrichten awff der geschicklikeit des menschen [der soll sich einrichten auf das dem Menschen Angemessene, auf die Beschaffenheit der menschlichen Gestalt], wan aws im würt vunden gar verporgne heimlikeit der mos [der Proportio-

78 Vgl. Dürer: Nachlaß, Rupprich (Hg.), Band 2, S. 7 ff.; Ilse Hammerschmied: Albrecht Dürers kunsttheoretische Schriften, Wien 2007, S. 54

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nen].«79 Hier wird die Überzeugung ausgesprochen, dass sich in der Entschlüsselung der menschlichen Proportion der humanistische Harmonieapparat – die »gar verporgne heimlikeit der mos« – als Ganzes erschließt. Das ist der Traum eines jeden Humanisten. Es folgt die besagte Vitruvstelle zur menschlichen Gestalt, ergänzt um zwei Skizzen, – einen Mann im Kreis und einen Mann im Quadrat. Doch Dürer belässt es nicht beim Zitat, sondern führt weiter aus: »Dorum hab jch jm noch gedocht vnd find, das man dy menschlichen bild awff das genewest soll messen. Dan aws der selben villen mag man woll etlich hübsche ding zw samen jn eins verfügen. Dan durch dy mos, so dy recht geprawcht würt, mag ein jtlich ding künstlich gemacht werden.«80 Damit ist die Methode des weiteren Vorgehens gegeben. Es handelt sich um eine über die Angaben Vitruvs hinausgehende, vergleichende Messung. Vergleichend insofern, als Dürer nicht davon ausgeht und nicht davon ausgehen kann, dass in jedem beliebigen, real existierenden Körper die angenommene ideale Proportion in gleichem Maß und gleicher Vollkommenheit realisiert ist, »dan es lebt kein mensch awff ertrich, der alle schön an jn hab, er möcht albeg noch vill schöner sein«.81 Zu offensichtlich ist die Unvollkommenheit der Menschen. Ebenso ist nicht jeder Mensch prädestiniert, idealtypische Gestalt zu verkörpern. Wie schon von Alberti beschrieben, gilt es, eine Auswahl zu treffen, eine Auswahl von Körpern, die allgemein als schön erachtet werden, und im Vergleich dieser Körper wiederum die anmutigsten Teile herauszugreifen, um so die idealtypische Gestalt zu rekonstruieren. Dürers Vorgehen ist im aktuellen Kunstdiskurs abgesichert, jedoch weniger als Methode im technischen Sinn, als vielmehr darin, dass Dürer wie vor ihm Alberti humanistisches Bildungsgut zitiert. Beide beziehen sich auf eine von Plinius d. Ä (Naturkunde 35,64) bzw. Cicero (De inventione 2,1) überlieferte Künstlerlegende, »wonach der Maler Zeuxis aus den schönsten Partien verschiedener Jungfrauen ein vollendetes Bild weiblicher Schönheit zusammengesetzt hatte.«82 Teilen, Messen, Vergleichen

79 Dürer: Lehrbuch der Malerei, S. 163; Anmerkungen: Albrecht Dürer: Schriften und Briefe, Ernst Ullmann (Hg.), Leipzig 1993, S. 289 80 Dürer: Lehrbuch der Malerei, S. 105 81 Ebd., S. 120 82 Ulrich Pfisterer (Hg.): Die Kunstliteratur der italienischen Renaissance. Eine Geschichte in Quellen, Stuttgart 2002, S. 62

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und Zusammensetzen erscheint so nicht als mechanisches Tun, sondern als Aktualisierung des Wissensschatzes einer als vorbildhaft angesehenen Überlieferung. Dürer wertet so, indem er zeigt, dass auch er den Bildungskanon kennt, nicht nur sein Tun auf, auch die Rolle des Künstlers, der es den Alten gleichtut, lässt sich so besser würdigen. So schreibt Melanchton über Dürer: »Apelles cum Venerem depingeret, curavit sibi triginta pulcherrimas virgines eligi, quas intueretur. Similiter fecit Durerus, honestus vir, pictor Norimbergensis, cui gratificatae sunt honestissimae matronae et virgines.«83 Dabei ist unwichtig, dass Melanchton den Maler Zeuxis durch einen anderen – den ebenso angesehenen Maler Apelles – ersetzt. Wichtig ist allein die Legitimation, die Dürer in der Gleichsetzung mit der anerkannten Autorität gewinnt.

Abb. 4: Albrecht Dürer, weiblicher Akt W 412 (Rückseite) und W 411 (Vorderseite) mit angehefteter Notiz

Parallel zu den Bemühungen, idealtypische Gestalt und die Methode, wie diese zu gewinnen ist, textlich festzuhalten, sucht Dürer hierin auch zeichnerisch Klarheit zu erlangen. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine

83 »Als Apelles Venus malte, sorgte er dafür, dass man ihm 30 wunderschöne Mädchen auswählte, damit er sie sich ansah. Ähnlich machte es Dürer, ein Ehrenmann, Maler aus Nürnberg, dem die angesehensten Damen und Fräulein sich gefällig zeigten.« Philipp Melanchton über Dürer, in: Dürer: Nachlaß, Rupprich (Hg.), Band 1, S. 327

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Serie von männlichen und weiblichen Aktstudien (ca. 1500 bis 1507), an denen Dürer den Zusammenhang von Konstruktion und Streben nach einer Kanonisierung der menschlichen Gestalt vorführt.84 Auf den Vorderseiten der Blätter zeigt Dürer jeweils eine Aktfigur mit eingezeichnetem geometrischen Gerüst, mit Konstruktionslinien und -punkten und spiegelbildlich durchgepaust zeigt er auf der Rückseite die gleiche Figur in Reinzeichnung. Die Rückseiten sind präzis ausgeführt. Durch Schraffur wird Räumlichkeit angedeutet und die Silhouette der Figuren wird durch Schwärzung des Hintergrunds hervorgehoben. Die Konstruktionszeichnung der Vorderseite dagegen reduziert die Figur auf wesentliche Konturlinien, wobei die Konstruktionen klar herausgearbeitet sind. In der Gegenüberstellung von formalem Erscheinen und Konstruktion der Körper zeigt die Art der Darstellung deutlich didaktischen Charakter. Neben der Darstellung von Konstruktion und Erscheinung eines Körpers auf der jeweiligen Vorder- und Rückseite eines Zeichnungsblattes findet sich an einem Blatt – dem weiblichen Akt W 411/411 – ein Beschreibungstext angeheftet.85 Dürer macht darin konkrete Angaben zur Konstruktion der Figur und den proportionalen Verhältnissen des menschlichen Körpers. Bemerkenswert sind hierbei zwei Dinge: Dürer zitiert einerseits den vitruvschen Kanon,86 um ihn dann jedoch im nächsten Absatz durch eigene,87 dazu im Widerspruch stehende Proportionsvorschriften, nach denen die Figur auch wirklich gezeichnet ist, zu ergänzen. Damit reißt Dürer schon am Beginn seiner Auseinandersetzung mit dem vitruvschen Kanon einen Konflikt an, der sich in Folge weiter zuspitzen wird. Die beobachtete und gemessene Welt entspricht nicht dem Idealbild. Dabei hätten ausdrückliche Korrekturen dieses Idealbildes weitreichende Folgen: Die Autorität

84 Vgl. hier und im Folgenden: Hammerschmied: Dürers Schriften, S. 56 ff. 85 Es handelt sich bei der angehefteten Notiz um die Handschrift 5218 fol. 199a1, transkribiert in: Dürer: Nachlaß, Rupprich (Hg.), Band 2, 1966, S. 42 ff. 86 In der fraglichen Textstelle wird die Länge des Kopfes mit 1/8 der gesamten Körperlänge L, das Gesichtsfeld mit 1/10 L festgelegt. Das Gesicht wiederum wird in drei gleiche Teile geteilt. Dürer gibt hier wörtlich die Vorschriften Vitruvs wieder. 87 Unvermittelt wird im nächsten Satz, dazu im offensichtlichen Widerspruch stehend, die Länge des Kopfes mit 7 1/2 L und das Gesichtsfeld mit 9 1/2 L beschrieben.

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der Überlieferung und damit der zeitlose Charakter, die überzeitliche Gültigkeit universeller Harmonie im Ganzen, wäre in Frage gestellt. Dürer wird diesen Widerspruch jedoch nie explizit benennen. Er zitiert Vitruv und gibt damit zu erkennen, dass ihm der autorisierte Harmonieapparat bekannt ist. Gleichzeitig setzt er seine eigenen, durch Beobachtung, Messung und Vergleich gewonnenen und verifizierten Proportionsstudien kommentarlos daneben. Die Figuren in den Zeichnungen sind geometrisch konstruiert, bzw. wird deren Konstruiertheit mittels geometrischer Einzeichnungen, Linien, Achsen, Schnittpunkten, Kreisen, Kreisbögen und deren Verschneidungen zumindest vermittelt. Im zugehörigen Text findet sich dagegen die Beschreibung einer arithmetischen Maßbestimmung. Das Verhältnis zwischen Körpergröße und Körperteilen wird in ganzzahligen Verhältnissen bzw. Brüchen beschrieben. Dies könnte zum einen als Referenz an Vitruv gedeutet werden. Auch dort wird ein Proportionssystem in ganzen Zahlen und deren Verhältnisse in Brüchen ausgedrückt. Auf einfache Weise erschließen sich so in der abstrakten mathematischen Betrachtung der Welt deren universelle Grundlegungen. Zum anderen könnte das zunehmende Interesse an arithmetischen Operationen als Indiz einer konzeptionellen Überwindung tradierter handwerklicher Formermittlung in geometrischen Prozeduren verstanden werden. In jedem Fall gibt Dürer jedoch in weiterer Folge die Darstellung geometrisch generierter Menschengestalt zugunsten einer arithmetischen Bearbeitung auf. Beides, das konkrete, am Objekt direkt eruierte Maß und die abstrakte Beschreibung der Maßverhältnisse in Zahlenverhältnissen, eröffnet eine neue Ebene von Objektivität, eine messende und vergleichende. Hier geht Dürer weiter als Alberti, der damit zufrieden ist, im Gemessenen das jeweils partiell Schöne herauszugreifen, vermittelnd einzugreifen und die so bereinigten Messwerte zu einem Idealbild zusammenzusetzen. Immer vorausgesetzt, dass es das Schöne gibt, dass man das Schöne an sich erkennen und benennen könnte, um es zum Ausgangspunkt seiner Messungen zu machen. Methodisch ist Albertis Ansatz unsauber, da ja lediglich das als schön bestätigt wird, was zuvor als solches festgelegt wurde. Ein so gewonnenes Harmoniesystem gültiger Schönheit würde letztendlich doch wieder auf Konvention beruhen. Ein objektiver Nachweis proportionaler Schönheit müsste dagegen voraussetzungslos sein, womit die Möglichkeit einer Vorauswahl schöner Körper entfällt: Es sind alle Körper in all ihrer Vielfalt zu vermessen. Und Dürer misst! Je mehr und je genauer er dies tut, desto weniger gelingt es ihm, die Ergebnisse in

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ein System einfacher, verständlicher und anwendbarer Harmonielehre umzusetzen. Was nach einer annähernd drei Jahrzehnte dauernden Auseinandersetzung bleibt, ist das Kompendium der vier Bücher von menschlicher Proportion. Für Panofsky bezeichnen sie »einen vorher und nachher nicht wieder erreichten Höhepunkt der Proportionslehre; sie bezeichnen aber auch bereits den Beginn ihres Niedergangs. Schon für Dürer selbst war die Proportionsforschung in bedenklichem Grad Selbstzweck geworden: sie hatte bei ihrer Akribie und Kompliziertheit die Grenze künstlerischer Anwendbarkeit immer weiter überschritten und schließlich den Zusammenhang mit der Praxis so gut wie völlig verloren.«88 Zumindest hat sich der Gegenstand des Interesses verschoben: Beschrieben wird nicht mehr ein idealer Körper, Vitruvs prototypischer Mann in Quadrat und Kreis, sondern bereits verschiedene Proportionstypen. Ein Bezug zu der im Humanismus verbreiteten und beliebten Lehre von den verschiedenen Temperamenten und zugehörigen Idealtypen wird von Dürer gelegentlich angedeutet.89 Wichtig ist der Schritt von einem absoluten Ideal zu mehreren möglichen. Auch ist die Untersuchung nicht mehr auf den männlichen Körper beschränkt.90 Dürer untersucht jeweils parallel die Proportionen von Männern und Frauen. Er differenziert noch weiter: Im ersten Buch der Proportionslehre untersucht Dürer zunächst zehn menschliche Körper. In fünf Abstufungen werden – beginnend mit einer als »dick/stark« bezeichneten Figur bis hin zu einer als »dünn/lang« bezeichneten Figur – jeweils ein Mann und eine Frau abgebildet. Im zweiten Buch folgen nach einem alternativen Maßbezugssystem weitere acht Feinabstufungen der Gestalt von Mann und Frau. Es handelt

88 Erwin Panofsky: Die Entwicklung der Proportionslehre als Abbild der Stilentwicklung (1921), in: Ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1992, S. 193 89 »Also ist durch die maß von aussen allerley geschlecht der menschen anzuzeygen, welche feurig, luftig, wässrig oder yrdischer Natur sind.« Dürer: Proportion, III. Buch, S. Tiiir. Dürer beschreibt hier im »großen ästhetischen Exkurs« die klassischen vier Temperamente: Choleriker, Sanguiniker, Phlegmatiker, Melancholiker. Jedoch alleine schon von der Anzahl her passen diese nicht zu den gezeichneten Beispielen im I. und II. Buch. Auch formal können sie keinen konkreten Zeichnungen zugeordnet werden. 90 Der kanonisierte Körper war seit Polyklet immer der männliche.

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sich nun offensichtlich nicht mehr um Idealtypen. Inwieweit man überhaupt noch von Typen sprechen kann sei vorerst dahingestellt. Ebenso lässt sich schwer eruieren, ob Dürer wirklich repräsentative statistische Erhebungen durchführte oder auf Erfahrungen seiner malerischen bzw. zeichnerischen Praxis zurückgriff.91 Bemerkenswert ist in jedem Fall die Art der Darstellung, der streng formalisierte Aufbau der Arbeit.

Abb. 5: Albrecht Dürer, die erste weibliche Figur im II. Buch (Vier Bücher von menschlicher Proportion, 1528)

Die verschiedenen Formen menschlicher Gestalt werden vergleichend nebeneinander gestellt. Die Darstellung folgt dabei – im zweiten Buch noch deutlicher als im ersten – einem strikten Schema, wobei sowohl Text als auch Zeichnung standardisiert sind. Jeder Gestalttyp wird in einem tabellarischen Textblock beschrieben, dem die zeichnerische Darstellung jeweils als Seitenansicht von rechts und als Frontal- und Rückenansicht zugeordnet ist. Konturlinien bezeichnen in der auf das Wesentliche reduzierten Zeichnung signifikante Punkte. Der besseren Übersicht wegen ist der rechte Arm abgetrennt und daneben gestellt, womit die Zeichnung zur Schnittzeichnung wird. Die menschliche Gestalt ist vermaßt und die Messpunkte sind verbal bezeichnet, womit die direkte Beziehung zur Texttabelle hergestellt ist, in der Messpunkte und zugehörige Zahlenwerte vergleichbar aufgelistet sind. Wir haben es somit mit einer im eigentlichen Sinn technischen Zeich-

91 Siehe hierzu: Berthold Hinz: Maß und Messen. Dürers Zahlenwerk zur menschlichen Proportion, in: Dürer und die Mathematik, Nürnberg 2009 (DürerForschungen Band 2), S. 125 ff.

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nung zu tun. Das Bild des Menschen wandelt sich vom Spiegelbild universeller Schöpfung, eines im Mittelpunk stehenden, handlungsmächtigen Subjekts, zum technisch verfügbaren Objekt, reduziert auf abstrakte Zahlen. Diese Zahlen werden rein quantitativ betrachtet, herausgelöst aus jeglichen pythagoreischen Sinnkonstruktionen. Die Bedeutung dieser Zahlen bleibt vage, sie erschließt sich nur im Zusammenhang der Untersuchungsmethode. Diese ist im naturwissenschaftlichen Sinn modern. Sie stützt sich auf Daten, die rational und objektiv gewonnen und verifiziert werden. Das bedeutet, auch wenn es schmerzlich ist, den Abschied von metaphysisch naturgegebener oder historischer, auf Überlieferung beruhender Legitimation. Dürer legt die Methode seiner Untersuchung dar. Eine Beschreibung ihrer Parameter ist vorangestellt, Methode und Ergebnis sind nachvollziehbar. Natürlich kann das Ergebnis keine Aussagen mehr hervorbringen, die über das in der Untersuchungsmethode Angelegte hinausgehen, da universale Aussagen nicht mehr getroffen werden können. Bei einer vergleichenden Methode können lediglich reale Verteilungen, aber keine Sinnzusammenhänge mehr aufgezeigt werden. Es bleiben, um auf die ursprüngliche Fragestellung nach der idealen menschlichen Gestalt zurückzukommen, nur demoskopische Aussagen nach Mehrheitsentscheidung, wie sie bereits im Entwurf zu einem Lehrbuch der Malerei formuliert wurden: »Idoch will jch hy dy schonheit vür mich nemen: was zw den menschlichen tzeiten van dem meinsten teill schön geacht würt, des soll wir vns fleissen zw machen.«92 Darüber hinaus bleibt, anhand struktureller Plausibilitäten die Bandbreite der Unterschiedlichkeit menschlicher Gestalt und deren Grenzen zu eruieren. Wurde im I. und II. Buch in immerhin 26 Beispielen das Feld gemessener Gestalt ausgebreitet, scheint Dürer »selbst damit noch nicht zufrieden, [vielmehr] hat er Mittel und Wege angezeigt, diese vielen Variationen noch weiter zu vermannigfaltigen.«93 Im III. Buch zeigt Dürer, wie mittels geometrischer Prozeduren die vorgestellten Gestalttypen weiter verformt werden können. Im kontinuierlichen Verlauf lässt sich das Verhältnis von Höhen- und Breitenausdehnungen verändern. Ebenso werden diskontinuierliche Verzerrungen angeboten, die Körper werden partiell gestaucht oder gezogen. Die Variation der Erschei-

92 Dürer: Lehrbuch der Malerei, S. 100. In der Proportionslehre selbst kommt Dürer zu diesem Schluss nicht. 93 Panofsky: Proportionslehre, S. 217

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nungsformen menschlicher Gestalt erscheint tatsächlich unbegrenzt. Unbegrenzt in dem Sinn, dass es nicht mehr nur tatsächlich messbare Körper gibt.

Abb. 6: Albrecht Dürer, proportionale Verzerrungen im III. Buch (Vier Bücher von menschlicher Proportion, 1528)

Abb. 7: Albrecht Dürer, diskontinuierliche Verformungen im III. Buch (Vier Bücher von menschlicher Proportion, 1528)

Das Feld menschlicher Gestalt ist um mögliche Körper erweitert, die im geometrischen Verfahren potenziell enthalten sind und fallweise aktualisiert werden können. Die Frage, welche Figur erzeugt werden kann – und soll – und welche Proportionen diese hat, wird innerhalb geometrischer Gesetzmäßigkeiten verhandelt. Das schließt allerdings ein, dass, durchaus methodengerecht, in der systematischen Anwendung eines exakt beschreibbaren und nachvollziehbaren geometrischen Verfahrens zum »nicht mehr

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Schönen« zu gelangen ist. Auch eine als hässlich empfundene Gestalt kann mit den Mitteln der Mathematik nach ihren Proportionsgesetzen untersucht werden. »Doch hüt sich ein yedlicher das er nichtz vnmüglichs mach das die natur nit leyden kün, es wer dann sach das einer traumwerck wolt machen, inn solchem mag einer allerley creatur vndereinander mischen.«94 Allerdings, es ist überhaupt nicht mehr einfach zu beantworten, was nach der Natur noch möglich bzw. schon unmöglich ist. Es bleibt dem künstlerischen Geschick überlassen, dies herauszufinden. Dürers viel zitierter Satz aus dem sogenannten »großen ästhetischen Exkurs« am Ende des III. Buches lässt sich als Resümee lesen: »Dann warhafftig steckt die kunst inn der natur, wer sie herauß kan reyssenn, der hat sie, vberkumbstu sie, so wirdet sie dir vil fels nemen indeinem werck, vnd durch die Geometria magstu deins wercks vil beweyssen, was wir aber nit beweyssen künnen das musen wir bey gutter meynung vnd der menschen vrteyl bleyben lassen, doch thut die erfarung vil in disen dingen.«95

Die Natur offenbart sich nicht einfach. Geometrische Verfahren sind nützlich, aber im Zweifelsfall bleiben nur Konvention und subjektives Urteil. Die Versuche einer »rationalen Vergesetzlichung«, wie Panofsky schreibt, führen letztlich zum künstlerischen »Ingenium« als letzter Instanz. Folglich würde das Verhältnis von Gesetz und Wirklichkeit, Regel und Genie, Objekt und Subjekt als problematisch empfunden werden müssen.96 Damit müsste sich die Aufgabenstellung ändern. Die verlockende Vorstellung eines einfachen Harmoniesystems, das alles umschließt, enthält und hervorbringt, steht im Gegensatz zu Erfahrung und Praxis. Zwischen den beiden Realitätskonstruktionen lassen sich Widersprüche ausmachen, aber Widersprüche sind in einem idealen System natürlich nicht vorgesehen. Vielmehr, da ja von einer sinnvollen Schöpfung auszugehen ist, sollten Unstimmigkeiten eigentlich ausgeschlossen sein. Das würde bedeuten, die ideale Schöpfung ist entweder nicht ideal oder die real erfassbare Welt der Dinge ist bloße Täuschung und damit für weitere Betrachtungen irrelevant. Da beide Thesen nicht akzeptabel waren, man jedoch auf keine der beiden

94 Dürer: Proportion, III. Buch, S. Tv 95 Ebd., III. Buch, S. Tiiiv 96 Vgl. Panofsky: Idea, S. 69

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Realitätskonstruktionen verzichten wollte und konnte, musste man mit deren Diskrepanz umgehen. Man benötigte Verfahren, Idealkonstruktion und subjektive Welterfahrung formal zu fassen. So könnte die Begeisterung für die Perspektive erklärt werden. Es folgt der zweite Versuch humanistischer Weltdeutung. 1.2.2 Die Perspektive und das Problem der Unendlichkeit Im Vordergrund steht nun nicht mehr die Suche nach einem spekulativen Idealbild, sondern eine Positionsbestimmung des Subjekts in der Welt der Dinge. Da es aufgrund besagter zutage getretener Widersprüche nicht mehr ausreicht, die Dinge damit zu erklären, dass sie aufgrund einer idealen Ordnung einfach da sind, verschiebt sich die Aufmerksamkeit und notgedrungen gewinnt neben der Welt der Ideen auch die real greifbare Dingwelt an Relevanz. Die Folgen sind weit reichend: Form, Lage und Beziehung müssen neu verhandelt werden. Das Ganze wie das Einzelne, nun eben nicht mehr in der Einheit kosmischer Harmonie geborgen, sondern getrennt in Subjekt und Objekt, können nur noch relativ zueinander betrachtet werden. Bezugspunkt ist das betrachtende Individuum. Mangels Alternativen rückt es ins Zentrum der Betrachtung. Es wird zum Subjekt der es umgebenden Dinge, d. h. deren Lagebeziehung ist nun wesentlich von diesem Subjekt abhängig. Dabei ist das Verhältnis zwischen den Subjekten und den Dingen in seiner Abhängigkeit vom Standpunkt des Betrachters prekär. Durch Bewegung und zeitliche Abfolge ist es instabil, wobei der Subjektivität individueller Wahrnehmung ebenso zu misstrauen ist wie den Erscheinungen der Dinge. Das ist zu viel Unverbindlichkeit in einem nach Universalität und Rationalität strebenden Zeitalter. Mit der Perspektive entwickelt die Renaissance in Folge ein Instrumentarium, um zumindest die Relativität der Subjekt-Objekt-Beziehung zu stabilisieren und diese nach Regeln beschreiben zu können. Die theoretischen Voraussetzungen perspektivischer Weltkonstruktion waren bereits vorformuliert. Seit Euklid sind die mathematisch-geometrischen Grundlegungen optischer Gesetze verfügbar, jedoch bestand bis dahin kein Bedarf an deren praktischer Anwendung in Perspektivprojektionen. Das ist jetzt anders: Mit der Perspektive steht ein System zur Verfügung, innerhalb dessen sowohl die Konfiguration der Dinge im Raum, wie deren visuelle Erscheinung kontrolliert werden können. Damit ist ein Mechanismus gefunden, das Einzelne mit dem Ganzen, zumindest

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auf formaler Ebene, in Beziehung zu setzen. Die zugrundeliegende Methode ist exakt, reproduzierbar und universell: Ausgangspunkt ist das betrachtende Individuum, genauer dessen Auge. In der Absicht, den gesamten Prozess des Sehens zu objektivieren, wird das Feld des Visuellen, die physio-psychologische Konditionierung der Wahrnehmung und deren Ausbildung und Einbindung innerhalb sozialer Praktiken auf ein geometrisches Verfahren reduziert. Ganz im Sinne Euklids hat man sich das Sehen als die Verbindung des gesehenen Objekts und des sehenden Auges mittels Sehstrahlen vorzustellen. Bemerkenswert ist die stillschweigende Beschränkung auf ein einäugiges Sehen, bei dem das Auge als Punkt betrachtet wird, was für die folgende Konstruktion völlig ausreichend bzw. überhaupt deren Voraussetzung ist. Alles potenziell Sehbare ist in charakteristische Punkte aufzulösen. Diese lassen sich nun in geraden Linien – den Sehstrahlen – mit dem Auge verbinden. Man erhält eine »Sehpyramide« mit dem Auge als Zentrum, in dem alle Linien zusammenlaufen bzw. je nach Betrachtungsweise von diesem ausgehen.

Abb. 8: Perspektivkonstruktion, Subjekt – Bildebene – Objekt

Der Schnitt durch diese Sehpyramide liefert ein projektives Bild der vom Subjekt in räumlichem Zusammenhang gesehenen Dinge. Dieses Schnittbild wird als kongruent zum im Auge wahrgenommenen Bild verstanden, womit der Sehvorgang vom unzugänglichen Augeninneren in eine greifbare und zugängliche Ebene verlagert ist. Lage und Form der Dinge sind mittels Sehstrahlen in Relation zu einem – zumindest für die Dauer der Konstruktion – stabilen Punkt gebracht. Diese Relation ist geometrisch exakt zu beschreiben. Die räumliche Konfiguration der Dinge kann mittels einer Schnittebene, die zur Bildebene wird, in ein projektives, d. h. perspektivisches Bild überführt werden. Umgekehrt lässt die Relation der Punkte auf der Bildebene zum Auge die Rekonstruktion des gesamten Raumzusam-

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menhangs zu. Damit kann in einem Bild objektiv Wirklichkeit dargestellt werden.

Abb. 9: Masaccio, Trinita Fresko, Santa Maria Novella, Florenz (1425/28)

Beliebtes Beispiel, das zu zeigen, ist Masaccios Trinita Fresko in Santa Maria Novella in Florenz. Es ist nicht das erste Bild, das dem Phänomen perspektivischer Projektion genüge tut, neu ist aber die Konstruktion eines perspektivischen Raums. Die gesamte Malerei bezieht sich auf einen idealen Betrachter, auf dessen Auge, von dem ausgehend sich bis zu den dargestellten Architekturen der besagte Sehkegel aufspannt. Zieht man eine Linie, die vom Auge ausgehend lotrecht auf die Bildebene trifft, bezeichnet deren Schnittpunkt auf der Bildebene den »zentralen Punkt«. Die diesen auf der Bildebene horizontal schneidende Linie ist der so genannte »Horizont«. Parallelen treffen sich in der Projektion auf der Bildebene in einem gemeinsamen Schnittpunkt, ihrem »Fluchtpunkt«. Gleiche Größen erscheinen in der Tiefenprojektion auf der Bildebene von vorne nach hinten zunehmend verkürzt. Der von Masaccio gezeichnete Raum, der zwischen Betrachter und den gesehenen Objekten liegt, ist nach den Regeln der Perspektive ein-

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deutig.97 Dabei spielt es keine Rolle, dass er eine Situation beschreibt, die es so gar nicht gibt. Es gibt keine Kapelle, aber man kann sie sehen, und was noch wichtiger ist, räumlich rekonstruieren. Jede Position ist präzis festgelegt. Der Betrachter hat ebenso wie die Bildebene, wie jedes einzelne Architekturglied und die Figuren der Trinita selbst seinen fixen Platz. Alles ist geordnet und diese Ordnung ist wirklichkeitskonstituierend. Dabei erleichtern einige Sonderfälle die Konstruktion perspektivischer Bilder wesentlich. Liegen Parallelen auf einer horizontalen Ebene, so liegt deren Fluchtpunkt immer auf dem Horizont. Stehen diese Parallelen außerdem senkrecht zur Bildebene, liegt deren Fluchtpunkt im zentralen Punkt. Diese Ausnahme zeichnet sich durch zweierlei aus: Die Idee des perspektivischen Raums kommt am prägnantesten zum Ausdruck und sie ist leicht zu konstruieren. Dabei ist die Perspektivkonstruktion umso einfacher zu handhaben, aber auch umso eindringlicher, je mehr sich die eingeschriebenen Konfigurationen dem Orthogonalen annähern. Der perspektivische Raum ist von sich aus nicht rechtwinkliger oder mehr gerastert als irgendeine andere Raumkonzeption. Trotzdem wird er in der ersten Begeisterung als modular und zentral dargestellt. Panofsky macht dies an einem beiläufigen und scheinbar beliebigen Bildmotiv fest: »Das schachbrettartige Fliesenmuster [...] läuft jetzt tatsächlich unter den Figuren hin und wird damit zum Index für die Raumwerte, und zwar sowohl für die der Einzelkörper, als für die der Intervalle: wir können diese wie jene – und damit auch das Ausmaß jeder Bewegung – durch die Anzahl der Bodenquadrate geradezu zahlenmäßig ausdrücken, und man sagt nicht zuviel, wenn man behauptet, daß ein in diesem Sinne verwendetes Fliesenmuster (ein von nun an mit einem erst von hier aus ganz verständlichen Fanatismus wiederholtes und abgewandeltes Bildmotiv) gleichsam das erste Beispiel eines Koordinatensystems darstellt, das den modernen ›Systemraum‹ in einer künstlerisch konkreten Sphäre veranschaulicht.«98

97 Diese Aussage trifft nur auf den oberen Bildteil zu. Aufgrund der Nähe von Betrachter und Bild würde eine gemeinsame Projektionsebene des Raums »hinter« der Wand, auf die gemalt wurde, und dem Altartisch »vor« der Wand zu Verzerrungen führen. 98 Erwin Panofsky: Die Perspektive als »symbolische Form« (1927), in: Ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1992, S. 117

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Es tritt eine ganz eigentümliche Verknüpfung von perspektivischem Raumkonzept und Rasterstrukturen zutage. Deren Ursachen liegen irgendwo zwischen der Praxis perspektivischen Sehens und der Konstruktion perspektivischer Projektion, welche natürlich nicht gänzlich unabhängig voneinander gesehen werden können. Dabei entstanden bereits vor der theoretischen Grundlegung perspektivischer Projektion in einem fein abgestimmten Instrumentarium aus Augpunkt, Fluchtpunkt, Zentralstrahl, Horizont, etc. Bilder, die zunehmend wie perspektivisch konstruierte Bilder aussahen. Zunehmend heißt, dass in ursprünglich aperspektivische Darstellungen Elemente einfließen, die die Blickbeziehung des Malers/Betrachters zum gesehenen Bild reflektieren. Die Darstellung visueller Praxis ändert sich folglich. Interessant ist nun zu untersuchen, wie und woran sich dies festmachen lässt. Rein aperspektivische Bilder lassen die Frage nach einem konkreten Standpunkt eines Betrachters, wie auch die tiefenräumliche Konzeption des Bildaufbaus unberührt. Nachvollziehbare Räumlichkeit ist nicht Thema der Bilddarstellung. Sobald jedoch Elemente räumlicher Organisation im Bild auftauchen, stellen sich Fragen nach der Art räumlichen Sehens und dem Problem der Darstellung. Beides, Sehen und Bild, sollte zur Deckung kommen, zumindest so ähnlich sein, dass das eine im anderen wiedererkennbar ist. Eine Möglichkeit, die dies brauchbar leistet, ist die Konvention perspektivischer Projektion. Sie ist zwar nicht an das Sehen geometrischer, klar strukturierter Körper gebunden, die damit adäquat zur Darstellung gebracht werden können, funktioniert jedoch mit diesen besser. In klarer Geometrie zeigt die Perspektive sich besonders schön und wesentliche Merkmale perspektivischer Wahrnehmung, wie beispielsweise das Konvergieren paralleler Linien, lassen sich am ehesten an einem Körper mit parallelen Kanten beobachten. Ist dann das Prinzip erkannt, erscheint perspektivisches Sehen ganz natürlich und selbstverständlich. Sehen, Gesehenes und dessen Darstellung werden einander innerhalb eines konsistenten Systems ähnlich. Die Transferleistung, Körper, die materiell drei Dimensionen ausfüllen, als Projektion zu sehen, und umgekehrt, in der Projektion den realen Körper zu erkennen, fällt uns nicht schwer. Den zu erwartenden Konflikt zwischen der »wahren« Form (Länge, Breite, Höhe) und deren projektiver Erscheinung übergeht die visuelle Praxis, wobei allerdings diese Differenz erst ein »richtiges« Erkennen des gesehenen Raums möglich macht. Damit der ganze Projektivapparat funktioniert, muss man erst wissen, oder zumindest glau-

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ben zu wissen, wie ein Körper morphologisch beschaffen ist, welche »wahre« Ausdehnung und Form er hat. Erst dann ist ein projektives Bild korrekt lesbar. So lässt sich z. B. das Bild eines Würfels mit konvergierenden Linien erst dann räumlich richtig und eindeutig lesen, wenn vorausgesetzt werden kann, dass es sich bei dem dargestellten Körper tatsächlich um einen Würfel mit paarweise parallelen Kanten handelt. Die frühen Versuche perspektivischer Darstellung bemühen sich um Eindeutigkeit. Sie bedient sich dabei geometrischer Elemente, die bekannt, prägnant und somit zuordenbar und erkennbar sind. Das dazu brauchbare geometrische Vokabular ist folglich eingeschränkt. Hier sind sie wieder, die einfachen Grundkörper Quadrat und Kreis und die orthogonalen Systeme. Ganz ähnliche Formen und Strukturen finden sich in den Konstruktionen, die das Phänomen Perspektive analytisch herzuleiten versuchen. Namentlich mit Albertis in »De pictura« beschriebenen »costruzione legitima«,99 Piero della Francescas »De prospectiva pingendi«100 sowie Brunelleschis Spiegelexperiment101 liegen wissenschaftliche Anleitungen zur Perspektive vor, die mit verständlichen Geometrien arbeiten.

Abb. 10: Schematische Darstellung der costruzione legitima 99

Wobei Alberti diese allerdings noch nicht als solche benennt.

100 Siehe zur Entwicklung und Problematik der Perspektive: Hubert Damisch: Der Ursprung der Perspektive, Zürich 2010, S. 77 ff. und Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, München 2002 101 Nach der Überlieferung hat Brunelleschi am Domvorplatz in Florenz erstmals die Ähnlichkeit von perspektivischer Bildkonstruktion und visuell wahrgenommenem Bild experimentell nachgewiesen. Er blickte von einem definierten Standpunkt aus auf ein Objekt mit definierter Geometrie, bzw. im Wechsel dazu durch einen Spiegel auf ein vom selben Ort aus nach perspektivischer Konstruktion gemaltes Bild. Beide, das gemalte/konstruierte Bild und der Blick auf das reale Objekt, erscheinen identisch.

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»1435, oder annähernd zu diesem Zeitpunkt, beschrieb Alberti in seiner Schrift ›Über die Malerei‹ die Perspektive als eine leicht zu handhabende, praktische Methode. Das stimmte auch, und sie hatte unerhörten Erfolg. Eine Linie – ›der Fürst der Strahlen‹ genannt – gebietet auf ihrer Bahn über alles andere. Sie geht, parallel zur Grundlinie, vom Auge des Beobachters aus. An ihr ist die Bildfläche aufgehängt und wird lotrecht in der Mitte von ihr durchdrungen. Albertis Beispiel zeigt die perspektivische Konstruktion eines quadratischen, hinter der Bildfläche gelegenen Fußbodenmusters. Die Fliesen sind mit ihren Linien auf die Bildfläche und durch diese auf den ›Fürsten der Strahlen‹ bezogen. Der Durchdringungspunkt fällt mit dem Punkt zusammen, an dem auch die verkürzten, dem Horizont zustrebenden Linien des Bodenmusters zusammenlaufen. Es ist der ›Fürst der Strahlen‹, nicht die Perspektive, von dem hier die organisierende Kraft ausgeht, da er es ist, der die rechteckigen Bestandteile des Bildes frontal, symmetrisch und axial ausrichtet. Wenn man diese Methode anwendet, ist es leicht, ein Bild mit diesen Eigenschaften herzustellen, und schwer, es auf andere Weise zu tun.«102

Beschrieben ist hier ein Sonderfall, die zentrierte Ausrichtung des Blicks eines zentral stehenden Betrachters auf ein ebenso zentriert ausgerichtetes Gegenüber. Alberti beschreibt reine Geometrie. Das Bestechende an Albertis Methode103 ist deren Einfachheit. Sie kommt mit einer Zeichnung unter Zuhilfenahme einer Ansichtsskizze aus. In dieser sind die Position des Betrachters sowie deren Abstand zu den gesehenen Objekten, hier dem konstruktiven Gitterraster, festgelegt. Eine imaginäre Schnittebene, die Bildfläche, legt den Bildausschnitt fest. Da bekannt ist, dass parallele Linien sich in einem Fluchtpunkt treffen, lassen sich die Linien des Konstruktionsrasters mit dem zentralen Punkt verbinden. Die Lage des zentralen Punktes ist bekannt durch den Schnittpunkt des Zentralstrahls, des »Fürst der Strahlen«, mit der Bildfläche. Die Ausgangspunkte der Fluchtlinien lassen sich in wahrer Länge am Rand der Bildfläche ablesen. Von den horizontalen Gitterlinien weiß man, dass sie Horizontalen sind, da sie parallel zur Bildfläche liegen. Ihre Höhenpositionen können in der Hilfszeichnung aus den Schnittpunkten der Sehstrahlen mit der Bildebene abgelesen werden. Kontrolliert werden kann das Ganze mittels einer quer durch die Rasterfelder

102 Robin Evans: Sehen durch Papier, in: Arch+ 137 (Juni 1997), S. 27 103 Vgl. Leon Battista Alberti: Die Malkunst/De pictura, Oskar Bätschmann/ Christoph Schäublin (Hg.), Darmstadt 2000, S. 194 ff.

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gezogenen Diagonale. In einem so gerasterten Raum lassen sich nun relativ einfach weitere, auch komplexere Geometrien entwickeln, oder aber organische Körper, die selbst nicht durch perspektivische Projektion determiniert sind, in diesen einschreiben. Auch die menschliche Gestalt kann in all ihrem Raumgreifen erfasst und mittels dieser Hilfskonstruktion wiederum im Raum platziert werden. Bei Bedarf lässt sich das Raster ja mühelos feiner einstellen. Unterschwellig – wenn auch erst als Hilfskonstruktion – etabliert sich ein rechtwinkliges, modulares Raster als Ordnung des Raums. Und das, die Effizienz des am Zentralstrahl ausgerichteten Orthogonalen, bleibt insbesondere für die Architektur nicht folgenlos: »Der monokulare Blick des Subjekts in der Architektur ermöglichte die Darstellung aller Projektionen des Raumes auf einer einzigen planimetrischen Ebene. Es ist deshalb auch nicht überraschend, daß die Perspektive, durch ihre Fähigkeit, die Wahrnehmung von räumlicher Tiefe auf einer zweidimensionalen Fläche zu definieren und darzustellen, in der Architektur ein bereitwilliges Anwendungsfeld fand. Und es wundert ebensowenig, daß sich die Architektur sehr schnell dieser einäugigen, rationalen Sehweise anpaßte – mit ihrem eigenen Körper. Der Raum wurde, welcher Stil auch immer vorherrschte, als verstehbares Konstrukt geschaffen, welches um räumliche Elemente wie Achsen, Plätze, Symmetrien, etc. angeordent wurde.«104

War das Raster in der Perspektivkonstruktion eben noch ein Hilfsmittel, um Architekturen und anderes im Perspektivraum zu verorten, lässt sich nun umgekehrt beobachten, dass die Architektur dem Raster so ähnlich wird, dass die Eigenheiten orthogonaler Raumbeschreibung konstituierend für das Entstehen von Gebautem werden. Es ist einfach zu naheliegend, Bauteile parallel zur Bildfläche bzw. parallel zu deren senkrechter Schnittfläche auszurichten. »Fünf Minuten an einem Zeichenbrett können jeden, der mit der Technik nicht vertraut ist, davon überzeugen, daß es sich so und nicht anders verhält. Die Werkzeuge, die ihm zur Verfügung stehen, werden ihn dazu führen, Frontalaufnahmen verschie-

104 Peter Eisenman: Visions’ Unfolding. Architektur im Zeitalter der elektronischen Medien (1992), in: Ders.: Aura und Exzeß. Zur Überwindung der Metaphysik der Architektur, Ullrich Schwarz (Hg.), Wien 1995, S. 206

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dener Schachtelseiten herzustellen, sobald er den leisesten Schimmer hat, was er da tut.«105

Abb. 11: Antonio da Sangallo d. Ä., Madonna di San Biagio, Montepulciano (1518-1574)

Die Konvention, Architektur in Grundriss, Frontalansicht und Seitenansicht (bzw. Schnitt) darzustellen, kann, indem diese sich parallel zu den Flächen ausrichten, auf die sie projiziert werden sollen, nun tatsächlich das in ihr enthaltende Potenzial entfalten. Wandflächen und Papierflächen lassen sich idealerweise als kongruent auffassen. Folglich stehen die Wände ebenso senkrecht zueinander wie die drei Rissebenen der Zeichnung. Innerhalb dieses Systems sind das Bild des Gebäudes, der Entwurf, die zentralperspektivische Raumkonstruktion und das gebaute – oder zu bauende – Objekt weitgehend identisch. Ergebnis ist im Idealfall eine Schachtel, die mithilfe und innerhalb einer Schachtel konstruiert wurde. Das wäre die ökonomischste, aber auch die folgerichtige Art, zentralperspektivisch motivierte Architektur herzustellen. Diese Form von Architekturkonzeption lässt sich konsequent weiterdenken: Nimmt man die Bedeutung, die Albertis Konstruktion dem Zentralstrahl zuweist, ernst, erscheint eine frontale Ausrichtung des Gebäudes sowie die Entsprechung der Teile dies- und jenseits der durch ihn gegebe-

105 Evans: Sehen durch Papier, S. 32. Die folgenden Aussagen beziehen sich ebenfalls auf diesen Artikel.

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nen Achse, d. h. die symmetrische Anlage des Gebäudes, unumgänglich. Weiter gibt diese Achse die Position eines überaus brauchbaren Schnitts an, der umso aussagekräftiger ist, je symmetrischer der Aufbau insgesamt ist. Daraus ließe sich eine Architektur ableiten, die im reziproken Verhältnis von Grundriss, Aufriss und Schnitt umfassend und ausreichend beschrieben ist. Kriterien wären Einfachheit, Klarheit und räumliche Konsistenz. Diese Art von Architektur ist überzeugend. In der Identität mit ihrem Perspektivraum erscheint sie ganz natürlich, jenseits jeglichen Zwangs nach Begründung. Und doch ist sie, wie gezeigt, an etwas gebunden, nämlich an die Methode der Konstruktion. Die Selbstverständlichkeit, wie sich aus der Konstruktion eines Raumkonzepts Architektur entwickeln lässt und umgekehrt diese Architektur dieses Raumkonzept im Rückgriff bestätigt, lässt vergessen, dass nicht der Raum an sich orthogonal gerastert ist, sondern das Raster nur eine ihn beschreibende Hilfskonstruktion darstellt. Ebenso ist die Bedeutung, die die Hilfskonstruktion Raster selbst innerhalb des beschriebenen Modells perspektivischer Raumkonstruktion einnimmt, veränderlich. Die Rasterung in Albertis costruzione legitima ist nicht das konstituierende Moment seiner Perspektivkonzeption. Diese ist vielmehr bestimmt durch die vom Zentralstrahl ausgehende Parallelsetzung von Subjekt, Bildebene und Objekt. Der gerasterte Fußboden ist lediglich der Apparat, der die einfache Lokalisierung der Dinge im Raum und – ebenso einfach – deren Projektion auf eine Bildebene ermöglicht.

Abb. 12: Albrecht Dürer, Perspektivtisch (Unterweisung der Messung, 1538)

Springt man eine Generation weiter zu Dürer und betrachtet, wie er perspektivische Projektion erklärt, stellt sich die Rolle, die das Raster spielt, anders dar. Besonders schön zu sehen ist das in den Versuchsaufbauten, die

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er in »Unterweisung der Messung« zeigt. 106 Die Frage, inwieweit es sich bei den gezeigten Apparaturen um wirkliche Maschinen für den praktischen Gebrauch handelt, ist hier nicht wichtig. Interessant ist vielmehr, wie sie die Übertragung von Gesehenem in dessen Darstellung begreiflich machen: Ein Fluchtpunkt oder ein Zentralstrahl, wie im Verfahren Albertis notwendig, muss nicht gesucht werden. Dürer erwähnt in seiner Anleitung perspektivischer Projektion107 den Sonderfall zentralperspektivischer Projektion überhaupt nicht. Untersucht wird der allgemeine Fall. So gibt es in der Illustration eines einen weiblichen Akt zeichnenden Malers nur Sehstrahlen euklidischer Optik, mit denen der Maler die Figur des Modells abtastet, einen Obelisken, der das Auge fixiert, und als Bildebene einen Gitterrahmen. Die Rasterung des Rahmens erlaubt eine direkte Übertragung der visuell ertasteten Punkte auf ein ebenso gerastertes Papier.

Abb. 13: Albrecht Dürer, Perspektivtisch (Unterweisung der Messung, 1525)

Dieses Vorgehen lässt sich weiter mechanisieren. Im Beispiel der perspektivischen Projektion einer Laute kommt Dürer ohne betrachtendes Subjekt aus. Das Auge des Betrachters ist ersetzt durch einen Haken in der Wand,

106 Die folgenden Perspektivkonstruktionen Dürers scheinen zwar von ihrem Ansatz her von Albertis »Velum« (Fadengitter) abhängig, zielen jedoch im Weiteren auf etwas anders ab. Vgl. hierzu: Alberti: De pictura, S. 246 ff. 107 Vgl. Albrecht Dürer: Unterweisung der Messung, Nürnberg 1525, Reprint: Nördlingen 1983, S. Or ff.

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die Sehstrahlen werden zu einer Peilschnur, der Künstler zum Vermesser. Die Übertragung der Gestalt des Objekts in die Projektion geschieht über Daten. Das Objekt wird in eine endliche Zahl von Messpunkten zerlegt, diese mit der Peilschnur abgegriffen und die Schnittpunkte, in denen die Schnur die Bildebene durchdringt, eingemessen. Jeder Punkt ist dabei bestimmt durch die Positionsangabe seiner Koordinaten in einem imaginären Raumgitter. Damit verweist Dürer schon auf ein System, mit dem sich die perspektivische Subjekt-Objekt-Konstitution von Raum überwinden lässt. Wichtig ist hier jedoch zunächst, dass Raum und Sehen objektiv beschrieben werden können. Die Perspektive und insbesondere die zentralperspektivische Projektion, als eine der wesentlichen Erfindungen der Renaissance, ist in der Lage, das Verhältnis Subjekt-Objekt rational zu beschreiben. Die Welt der Dinge im Verhältnis zu einem wahrnehmenden Betrachter ist einigermaßen stabilisiert, eine vermittelnde Bildebene ermöglicht die Konsistenz von Bildproduktion und Weltrekonstruktion. Doch die Rationalität der Konstruktion hat ihre Grenzen. Sowohl vor als auch hinter der Bildfläche öffnen sich Abgründe der Irrationalität. Einer der Gründe, die einer verstandesmäßigen Durchdringung des Phänomens Perspektive entgegenstehen, liegt in einem ihrer konstituierenden Elemente, im Fluchtpunkt selbst. Versucht man, ihn näher zu fassen, scheint er auf etwas zu verweisen, das hinter dem Bild selbst liegt. Damit erscheint im Bild etwas Eigenartiges. Das war natürlich nicht beabsichtigt, sollte doch gerade mit Hilfe der Geometrie, der Königsdisziplin anerkannter Objektivität, Rationalität erzeugt werden. Hatte doch gerade Albertis konstruktives Verfahren, indem es ganz ähnliche Bilder reproduzieren konnte, Brunelleschis visuelle Experimente auf dem Florentiner Domplatz bestätigt. Die von Brunelleschi gesehenen konvergierenden Linien und Verkürzungen konnten auch auf analytischem Weg mittels geometrischer Operationen auf dem Papier nachvollzogen werden. Die Geometrie beglaubigt die visuelle Erfahrung. Dabei ist für deren Ähnlichkeit ihre jeweilige Bezugnahme auf einen Fluchtpunkt entscheidend. Die Erscheinung, dass sich parallele Linien in einem Punkt schneiden und sich der Abstand horizontaler Linien in der Tiefe des Raums scheinbar verkürzt, konnte Brunelleschi natürlich nur erkennen, indem er vertikale und horizontale Linien beobachtete, d. h. das Experiment ist an das Vorhandensein orthogonaler Strukturen gebunden. Ist diese Voraussetzung gegeben, sind die Prinzipien

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perspektivischen Sehens für jedermann leicht erkennbar. Umgekehrt rekonstruierte Alberti ganz ähnliche Räume, indem er Rasterlinien auf einen zentralen Punkt bezog. Nur ist dieser die Wahrnehmung und die Konstruktion bestimmende Punkt, wie gesagt, widersprüchlich. Zwar ist er eindeutig auf der Bildebene lokalisierbar, er ist da. Gleichzeitig ist er aber ein unmöglicher Punkt, denn nach den Definitionen euklidischer Geometrie schneiden sich Parallelen eben in keinem Punkt bzw. in einem Punkt, der im Unendlichen läge. Das ist höchst beunruhigend: Man sieht einen Punkt, den es eigentlich nicht gibt oder geben dürfte, mit anderen Worten einen Punkt, der im Unendlichen verortet ist und nun auf der Leinwand in greifbare Nähe rückt. Weiterhin beunruhigt die eigentümliche Spiegelung, die der Bildkonstruktion eingeschrieben ist: »Der Kegel der Linien, die aus dem albertianischen Auge heraustreten, wird auf der Gegenseite verdoppelt als ein Kegel, der von dem Punkt, von dem sämtliche Fluchtlinien der Architektur ausgehen, auf ihn zurückstrahlt [...]. Etwas sieht mein Sehen.«108 Hinter der Bildebene, auf der Rückseite der Leinwand, dort wo man selbst nicht ist, noch jemals sein könnte, spannt sich ein zweites visuelles System auf, das die Perspektive umdreht, quasi auf den Betrachter zurücksieht. Was so schön einfach, klar und verständlich erschien, hat seine Ursache bzw. sein Ziel in einem Punkt, der weder im realen Raum greifbar ist, noch auf der Bildebene verstanden werden könnte. Gefragt ist nun eine Raumbeschreibung, die ohne diese metaphysischen Implikationen auskommt, die sich hinter dem Fluchtpunkt auftun. Mit Piero della Francescas »altro modo« (anderer Methode) liegt eine solche vor. Piero beschreibt sie im dritten Buch von »De prospectiva pingendi« als alternative Perspektivkonstruktion zunächst für »schwierige Körper«.109 Das hier gezeigte Verfahren unterscheidet sich jedoch grundlegend von den bei ihm in den ersten beiden Büchern behandelten und auch von Alberti beschriebenen Zentralperspektivkonstruktionen. Zwar wurde

108 Norman Bryson: Das Sehen und die Malerei. Die Logik des Blicks, Mün-

chen 2001 [zuerst: Vision and Painting. The Logic of the Gaze, 1983], S. 137 109 Piero della Francesca (Petrus Pictor Burgensis): De prospectiva pingendi. Nach dem Codex der Kgl. Bibliothek zu Parma nebst deutscher Uebersetzung zum erstenmale veröffentlicht, Constantin Winterberg (Hg.), Strassburg 1899, S. CXXV

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Pieros Verfahren von seinen Zeitgenossen als umständlich und unpraktikabel verworfen, aber im Gegensatz zum leicht konstruierbaren Sonderfall der Zentralperspektive formuliert er die Probleme der Perspektive allgemein gültig. Und er beschränkt sich ausschließlich auf das, was sich – im endlichen Bereich – zwischen betrachtendem Subjekt und betrachtetem Objekt abspielt. Demnach lässt sich das, was zur perspektivischen Projektion nötig ist, in fünf Unterabteilungen gliedern: »die erste betrifft das Sehen, nämlich das Auge, die zweite die Form des gesehenen Gegenstandes, die dritte den Abstand vom Auge bis zum gesehenen Objekt, die vierte die Linien, welche von den ausseren Enden des Gegenstands ausgehen und zum Auge gehen, die fünfte betrifft die Grenzebene zwischen Auge und Object, wo man die Dinge abzubilden beabsichtigt.«110 Das sind wieder ganz allgemein formuliert die Elemente, die auch schon Euklids Sehpyramide charakterisiert hatten, ergänzt durch die Einführung einer Schnittebene, der Bildoberfläche. Von einem Fluchtpunkt oder der privilegierten Position eines »Fürsten der Strahlen« ist keine Rede und Piero wird in der Konstruktion auch wirklich gänzlich ohne einen zentralen Punkt auskommen. War bis dahin die Konstruktion wie auch das Erkennen von Perspektive an die Anwesenheit paralleler Linien gebunden, kommt nun eine allgemein gültige Beschreibung des Prinzips Perspektive, das sich als Vermittlung zwischen Objektraum und Subjekt versteht, auch mit deren Abwesenheit zurecht. Verzichtet man auf das Explizit-Werden paralleler Linien, müssen diese auch keinen gemeinsamen Fluchtpunkt mehr beschreiben. Ebenso könnte man sich einen zentralen Punkt zwar denken, der in der Lage von Betrachter und Bildebene bereits festgelegt ist, aber man kann ihn nicht sehen und er wird auch nicht benötigt.111 An die Stelle des Interesses für konvergierende Linien tritt bei Piero die Auflösung der Objekte in Punkte, deren Lage im Verhältnis zueinander, zur Bildebene und zum Betrachter beschrieben wird. Analog zu Dürers Perspektivapparaten aus Unterweisung der Messung, in denen Dürer eigentlich Pieros Methode illustriert, wird die Oberfläche des betrachteten Objekts abgetastet. Dürer verwendet im Beispiel der Vermessung einer Laute die gespannte Schnur, an deren Stelle bei Piero wieder Linien treten, die das Auge mit den betrachteten Objektpunkten verbinden. Aus den Schnittpunk-

110 Ebd., S. LXXXI 111 Vgl. Robin Evans: Pieros Köpfe, in: Arch+ 137 (Juni 1997), S. 38

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ten dieser Linien mit der Bildebene ergibt sich das projektive Bild des Gegenstands. Während Dürers Apparat jedoch direkt im dreidimensionalen Raum agiert und dabei die Projektionspunkte im Rahmendurchgang der Bildebene direkt als x- und y-Koordinaten herausgelesen und auf Papier übertragen werden konnten, beschreibt Piero eine geometrische Prozedur, die alleine mit der Fläche des Zeichenblattes auskommt. Der dreidimensionale Raum wird zweidimensional in Aufsicht und Ansicht betrachtet, wobei die räumlichen Informationen zu Position und Lage der Objektpunkte in Beziehung zu Betrachter und Bildebene jeweils in wahrer Länge erscheinen. Komplizierte Körper, beispielsweise menschliche Köpfe, wie sie Piero am Ende seines dritten Buches in den Tafeln LXIII bis LXXII beschreibt, zerlegt er in eine Reihe von Horizontal- und Vertikalschnitten.

Abb. 14: Piero della Francesca, Dreitafelprojektion mit Figur LXIV und Figur LXVII (De prospectiva pingendi, 1472/92)

Radial werden Messpunkte aufgetragen. Die Genauigkeit der Darstellung hängt von der Anzahl der Schnitte und Messpunkte ab.112 Der Übersichtlichkeit halber nummeriert Piero die Messpunkte fortlaufend, wobei identische Messpunkte in Grund- und Aufriss gleich bezeichnet werden. Jeweils getrennt in Horizontal- und Vertikalebene werden die Markierungspunkte mit dem Augpunkt verbunden. Um nicht jede Verbindungslinie zeichnen zu müssen, empfiehlt Piero, ähnlich wie Dürer es später tun wird: »man befes-

112 Vgl. Piero: Prospectiva, S. CLIX

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tige einen Nagel [an Stelle des Augpunkts], oder willst du lieber eine Nadel mit einem sehr feinen Seidenfaden: gut würde ein Haar vom Rossschweif sein.«113 Die Durchstoßpunkte durch die Bildebene markieren die x- und yKoordinaten der perspektivischen Projektion des Objekts. Die Übertragung der Daten beschreibt Piero in einem etwas umständlichen Verfahren. Im Prinzip ließe es sich auch einfach als eine Art Dreitafelprojektion darstellen. Die so markierten Koordinatenwerte in Grund- und Aufriss können dann mittels Hilfslinien direkt in einem dritten Zeichnungsfeld, der Bildfläche, in einem Punkt zusammengeführt werden. Die Verbindung dieser Punkte ergibt das perspektivische Bild. Da, genau wie in Dürers Illustration, das betrachtete Objekt in einen Satz von Markierungspunkten zerlegt wird, ist dessen Geometrie beliebig. Platonisch einfache und klare Körper, wie Würfel, Quader und Zylinder, lassen sich ebenso zerlegen wie organisch komplexere Formen. In beiden Fällen bleiben Punkte. Das ist der wesentliche Unterschied zu dem von Alberti beschriebenen Verfahren. Dieses ist, wie gezeigt, abhängig von der einfachen, klaren geometrischen Gestalt des abzubildenden Objekts. Am besten geeignet hierzu ist explizit der Würfel mit gleichen Kantenlängen. Ebenso entscheidend ist die Art der Ausrichtung des Objekts zur Bildebene. Diese muss senkrecht oder parallel sein, womit eine orthogonale Struktur vorgegeben ist. Im Idealfall ist das so beschaffene und positionierte Objekt zudem noch axial zum Zentralstrahl ausgerichtet. Innerhalb dieser Vorgaben bleibt das Verfahren anschaulich, die Unversehrtheit des Objekts ist gewahrt. Das bedeutet z. B., dass ein Würfel, dessen charakteristische geometrische Eigenschaften in parallelen und gleichlangen Kanten bestehen, zu einem perspektivisch projizierten Würfel mit konvergierenden und verkürzten Kanten wird. Im Fall Pieros bzw. Dürers kann die projizierte und die zu projizierende geometrische Form weit weniger eindeutig und benennbar sein. Das Objekt wird, wie gesagt, in Punkte zerlegt, wobei es dem Punkt egal ist, ob er Würfel, Laute, Frau, Mann oder was auch immer ist. Er beschreibt lediglich Koordinaten im Raum, die erst im nächsten Schritt wieder zu einem Bild zusammengesetzt werden. Das ist höchst unanschaulich, weshalb Piero nicht ohne Grund vorschlägt, die Messpunkte zu nummerieren, um Objektpunkte, Konstruktionspunkte und Bildpunkte überhaupt erst einander zuordnen zu können. Der Abstraktionsschritt vom Ob-

113 Ebd., S. CXXV

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jekt zu einem das Objekt beschreibenden Datensatz ist damit gemacht. Dank dieses Datensatzes ist es nun möglich, jeden Punkt in beliebiger Lage im Raum, bezogen auf ein Referenzsystem aus Grundriss und Ansicht, exakt zu beschreiben. Dabei sind die Punkte frei verfügbar. Mit ihrer Hilfe kann jede Konfiguration innerhalb des euklidischen Felds erfasst werden und das nicht nur in starren Aufnahmen auf einer vor dem Betrachter aufgespannten und von diesem abhängigen Bildebene, wie es die costruzione legitima vorführt. Datensätze, aus denen sich die Objekte zusammenfügen, lassen sich unabhängig vom Blick eines möglichen Betrachters – vor der Bildebene – verändern. Die Körper können gedreht, verkippt und beliebig modifiziert werden, was Piero auch vorführt. Innerhalb des Zeichnungssystems können die Köpfe, die er als Beispiele komplizierter Körper anführt, in der An- und Aufsichtebene in jede Richtung bewegt werden. Der Kopf selbst, die Relation seiner ihn definierenden Messpunkte, bleibt dabei natürlich erst einmal starr. Nur, der menschliche Körper ist von Natur aus nicht starr, insbesondere wenn er bewegt wird. Die Relation der Punkte zueinander müsste sich eigentlich auch verändern, was Piero auch berücksichtigt:

Abb. 15: Piero della Francesca, Figur LXVIII und Figur LXXII (De prospectiva pingendi, 1472/92)

»Eine winzige Modifikation, die leicht übersehen wird, zeigt an, daß Piero diese in der Technik liegende Beschränkung zu überwinden versuchte. Eine zweite Serie orthographischer Projektionen [Figur LXIII bis Figur LXXII] zeigt den Kopf nach hinten geneigt. Die unteren Ringe mit den Aufsichtspunkten bilden nicht länger ebene Schnitte. Der fünfte Ring fängt an, sich hinter dem Ohr nach außen zu wölben. Der achte, der um den Hals verläuft, ist ein voller Bogen. Da der Kopf nach hinten geneigt ist, dehnt und zieht sich das Fleisch im Nacken und am Hinterkopf zusammen und zieht die Oberflächenpunkte mit sich. Auf diese Weise hebt ein Mann im imagi-

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nären, konstruierten Raum orthographischer Projektion seinen Kopf ähnlich wie in Frankensteins Schöpfung.«114

Wichtig ist nicht nur, dass Piero den Körper, respektive Kopf, nicht in verständliche Geometrien, wie Würfel, Kuben, Prismen, etc., sondern in abstrakte Datenpunkte zerlegt, sondern vor allem, dass die wesentlichen Schritte der Ausrichtung und Modifikation des Datenpaketes jenseits eines Betrachters und unabhängig von dessen Blick und Verständnis stattfinden. Der aktive Part der Bild- und Raumkonstituierung verlagert sich vom Subjekt vor der Bildebene auf die Objektebene dahinter.

1.3 Die Objektivierung des Raums 1.3.1 Die Verdrängung des Subjekts. Kartesische Lagebeschreibungen Auch Dürer beschreibt im vierten Buch seiner Proportionslehre Verfahren, die in eine ganz ähnliche Richtung gehen. Ebenso wie – bzw. in Anlehnung an – Piero isoliert er einzelne Körperteile, insbesondere Köpfe. Diese werden wiederum, ausgehend von Grund- und Aufrissprojektionen, aus ihrer frontalen Ausrichtung gedreht bzw. horizontal gekippt. Im Unterschied zum vorhergehenden Beispiel Pieros zerlegt Dürer in seinen Zeichnungen das untersuchte Objekt jedoch nicht in einzelne Punkte, sondern umschreibt dessen Konturen mit Rechtecken, die durch ein Gitternetz weiter unterteilt werden. Wie schon Pieros Punkte mit Zahlen, sind nun Dürers Gitterachsen mit fortlaufenden Indizes bezeichnet, wodurch es relativ einfach ist, Gitterfelder und damit charakteristische Gesichtsmerkmale von einer Projektion in die nächste zu übertragen. Allerdings bleiben die Gesichter in ihrer Mimik unbewegt, wie auch die vollständigen Körper beim folgenden Versuch, sie in Bewegung zu verformen, in ihrer Gestik steif erscheinen. Panofsky erkennt in diesen etwas unbehilflich und steif erscheinenden Verformungen einen Mangel an anatomischen und physiologischen Kenntnissen.115 Aber

114 Evans: Pieros Köpfe, S. 50 f. 115 Vgl. Panofsky: Proportionslehre, S. 217

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vielleicht könnte man das, was Panofsky als Kritik formuliert, auch als Spur deuten, in deren Verlauf das Verhältnis zwischen Subjekt und der ihm zugehörigen Objektwelt neu austariert wird.

Abb. 16: Albrecht Dürer, Drehung von Körperteilen und Biegung von Körpern, IV. Buch (Vier Bücher von menschlicher Proportion, 1528)

Wie seine weiteren Ausführungen zeigen, belässt es Dürer nicht bei solchermaßen ungelenken Figuren: »Nachfolget wil ich ein wenig weyter sehenn wie ich die bilder krümen, schiben, wenden, winden, strecken und krupffen mög.«116

Abb. 17: Albrecht Dürer, Bewegungsfigur, IV. Buch (Vier Bücher von menschlicher Proportion, 1528)

Dazu setzt er anstelle der Körperglieder rechtwinklige Kuben, – einen für den Kopf, einen für den Rumpf und einen für den Bereich der Beine. In

116 Dürer: Proportion, IV. Buch, S. X6v

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fortlaufenden geometrischen Operationen werden nun die Kuben in sich und zueinander – wie angedeutet – solange verschoben, gedehnt, gestaucht, gedreht, gebogen und verwunden, bis die Körper in ihren Bewegungen tatsächlich geschmeidig erscheinen. Dürer hätte nun relativ einfach Kopf, Rumpf, Arme und Beine in die geometrische Struktur einzeichnen und so Bilder von Menschen generieren können, die in ihrem Bewegungsablauf schon viel natürlicher wirken, als die nur starr projizierten des ersten Verformungsschrittes. Doch die Rückführung der Geometrie in menschliche Gestalt findet nicht statt. Dürer belässt es bei der Darstellung einer Art modifizierter »wireframe box«.

Abb. 18: Albrecht Dürer, Körperschnitte und Projektion geometrischer Teile, IV. Buch (Vier Bücher von menschlicher Proportion, 1528)

Er wird nicht konkreter, sondern zeigt lediglich noch eine Gebrauchsanweisung, wie die geometrische Figur anthropomorph belegt werden könnte. Der menschliche Körper wird hierzu in horizontale Schnitte zerlegt, die Schnittebenen mit einem Gitter kartiert und in entsprechender Verzerrung auf die Oberflächen der räumlich in Position gebrachten Boxen übertragen. Im nächsten Schritt lassen sich innerhalb der Boxen aus den zweidimensional aufgetragenen Körperinformationen beliebig bewegte und verdrehte Körper rekonstruieren. Dürer zeigt diese Operationen exemplarisch für das In-Form-Bringen eines männlichen Brustkorbs, wobei er, wie gesagt, auf die Komplettierung zu einem ganzen Menschen verzichtet.

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Diese Komplettierung erscheint auch als nicht mehr notwendig, will man in Dürers Ausführungen einen Positionswechsel erkennen: Es ist nicht mehr der Blick des Künstlers, der Wirklichkeit konstituierend ist. Die letzten Figurationen, die Dürer zeigt, sind keine Abbilder mehr von Objekten, die er in der Natur sehen kann, sondern – wie schon Pieros Köpfe – Objekte, die erst in der Konstruktion selbst entstehen. Beide, Dürer und Piero, führen vor, wie Dinge innerhalb geometrisch-mechanischer Prozeduren geformt bzw. verformt werden können und wie sie sich in unterschiedlichste Ansichtsebenen projizieren lassen. Dabei ist kein Fluchtpunkt mehr notwendig, sowie es auch keinen Zentralstrahl und keine zwischen Subjekt und Objekt vermittelnde Bildebene mehr gibt. Damit entfällt genau das, was im perspektivischen Raumkonzept die Beziehung zwischen dem Betrachter und den Dingen stabilisiert hatte und die Kontrolle des Subjekts über eine ihm so zugehörige Objektwelt sicherte. Die Aufgabe der Geometrie war dabei, die Welt und deren Erscheinung in Übereinstimmung zu bringen. Indem der Raum zwischen Fluchtlinien organisiert und mit einem Gitternetz überzogen wurde, war es möglich, ausgehend vom Auge des Betrachters, das der Konstruktion als Fixpunkt diente, jeden Punkt hinter der Bildebene sowie jeden Punkt auf der Bildebene in seiner Position exakt zu beschreiben. Dabei ist zu beachten, dass die Geometrien, die Raum und Bild organisierten, in ihrer Abhängigkeit von einem betrachtenden Subjekt immer Hilfskonstruktionen blieben. Das ist nun anders. Die Erzeugung und Darstellung von Dingen findet innerhalb der Geometrie statt. Weder für die Formgenerierung noch für deren Erscheinen ist die Relation zu einem betrachtenden Subjekt von Belang. Entscheidend sind die Eigenschaften und Möglichkeiten, die in der geometrischen Konfiguration selbst liegen. Die geometrischen Körper können sich – wie in dem von Dürer gezeigten Beispiel – der menschlichen Gestalt so weit annähern, dass sie mit anthropomorphen Schnittsequenzen belegt werden können. Ob und wie sie allerdings weiter modifiziert werden, ist nicht mehr eine Frage von anthropomorpher Proportion, Anatomie oder Physiologie, sondern alleine eine der ihnen inhärenten geometrischen Gesetzmäßigkeiten. Die Inhalte der Kartierungen, die in die Rasterteilungen der Geometrie eingetragen werden, sind austauschbar, das zugrundeliegende System bleibt davon unbeeindruckt. Wir haben es mit einem tatsächlich selbstbezüglichen System zu tun. Es wird deutlich: Die Einschreibungen von humanen Körpersequenzen, die Dürer vornimmt, haben nichts mehr mit Vitruvs geometrisiertem Mann zu

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tun. Es gibt keinen Verweis mehr auf ein ideelles Ganzes oder pythagoreisch-platonische Sinnkonstruktionen. Ganz im Gegenteil, durch Geometrisierung ist keine Bedeutsamkeit mehr zu gewinnen. Ebenso ändert sich die Blickrichtung: Der perspektivische Blick eines Subjekts wird durch die Geometrie und durch einen nun geometrischen Blick auf die Welt abgelöst.

Abb. 19: Martin Behaim, Georg Glockendon (Bemalung), Erdglobus (1492/93)

Deutlicher noch als in Dürers Projektionen zeigt sich eine derart neue, objektive bzw. subjektfreie Sicht auf die Dinge in einem sich parallel durchsetzenden Modell von Welt: der Repräsentation der – hier im wörtlichen Sinn verstandenen – Welt im Globus. 1492/93 lässt Martin Behaim den ersten überlieferten und erhaltenen Erdglobus bauen, womit die Erde zum greifbaren Objekt wird. Dadurch dass der Betrachter außerhalb steht, wird die Erde in einer Ansicht vorgeführt, die dem zeitgenössischen Sehen unzugänglich war. Allerdings stellt sich die Erde auch einem modernen extraterrestrisch Reisenden anders dar, als sie von Behaim entworfen wurde: Sie ist in dessen Version deutlich zu klein, die Landmassen sind anders verteilt, Amerika fehlt und weite Bereiche sind lediglich als Terra incognita ausgewiesen. Ungeachtet dieser Einschränkungen handelt es sich um ein brauchbares Modell. Einer der wesentlichen Punkte seines Erfolgs, der hier besonders interessiert, beruht auf dem Umgang dieses Modells mit der Produktion und Reproduktion von Raum. Betrachtet man neben den geografischen Informationen der bemalten Erdkugel, die zunächst im Vordergrund stehen, die ebenfalls aufgemalten geometrischen Markierungen, so zeigt sich, dass nicht nur der Umfang – der Äquator – mit einer Linie bezeichnet

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ist, sondern diese Linie als Band mit einer Abfolge von weißen und dunklen Rechtecken auch noch weiter unterteilt ist. Ein ähnliches, dazu senkrecht stehendes Band findet sich östlich von Japan. Als Halbumfang verbindet es Nord- und Südpol. Beschriftungen lassen die Rechtecksequenzen als Gradeinteilungen lesen, womit sich auf der Kugeloberfläche ein umlaufendes Gitter aus Längen- und Breitengraden aufspannen lässt. Das ist durchaus nicht neu: Die Vorstellung der Erde als Kugel ist bereits aus der Antike bekannt, ebenso wie die Praxis, Landschaften in Raster zu teilen oder in Rasterteilung auf Karten darzustellen. Doch erst im Globenmodell wird dieses geometrisch abstrakte Welterkennen und Welterklären so richtig evident: Jeder Ort auf der Erde ist nun in seiner Lage und Position exakt beschreibbar, in Längen- und Breitengraden ist er eindeutig festgelegt. Das gilt nicht nur für bereits bekannte Orte, auch Gegenden, die von Behaims Informanten noch nicht bereist und vermessen wurden, lassen sich im Koordinatennetz eindeutig bestimmen. Versteht man Kugelgeometrie und Rasterteilung als konstituierend, kann die Erde als bereits vollständig erfasst und konsistent betrachtet werden. Die Geometrie der Feldteilung bleibt konstant, ihre Inhalte können je nach aktuellem Wissensstand bzw. Wissenszuwachs ergänzt, korrigiert oder ausgetauscht werden. So gesehen ist die »Entdeckung« Amerikas auch kein Problem. Die dem Kontinent zustehenden Koordinatenfelder werden lediglich mit Landmassen gefüllt. Das System der gerasterten Kugel erweist sich so als äußerst effizient. Es ist ebenso eindeutig wie präzis. Die Darstellung wie auch das Verständnis der Welt der Dinge sind wesentlich objektiviert. Es ist nicht mehr das perspektivische Subjekt, auf dessen Blick die Erscheinungen der Dinge und Landschaften bezogen sind. Indem die Bildebene, auf die sie projiziert werden, und die Kugeloberfläche, auf der sie tatsächlich liegen, zusammenfallen, finden eben diese Umwelten in der Geometrie des Koordinatennetzes ihren neuen natürlichen Ort. Das bedeutet: Sie sind jenseits der Beschränkungen einer individuellen, singulären Blicksituation, die immer nur von einem spezifischen Standpunkt ausgehen und in einer bestimmten Blickrichtung sowie einem bestimmten Ausschnitt Teilbereiche erkennen kann, global erfasst und synchron verfügbar. Für das betrachtende Subjekt bedeutet dies den Verlust seines privilegierten Standpunkts und seines Status als Erklärer einer auf ihn verpflichteten Dingwelt. Es findet sich nun in seiner Eigenschaft als Erdbewohner ebenfalls auf der Kugeloberfläche verortet wieder. Sind doch Menschen und Dinge, löst man sie in Datensätze

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von Punkten auf, innerhalb eines so gedachten Koordinatenraums gleichermaßen beschreibbar. Jeder dieser Punkte ist durch x-/y-Koordinaten eindeutig und als einmalig ausgewiesen. Es sind unendlich viele Punkte vorstellbar, wobei das Spielfeld in der Projektion des Gitters auf die Kugeloberfläche noch endlich ist. Die Erde ist demnach vollständig erfasst. Allerdings ist ein Raumkonzept, das auf der Einschreibung von Punkten in ein Gitter basiert, in seiner allgemeinen Formulierung als unbegrenzt zu denken. Koordinatenlinien lassen sich unendlich aneinander reihen, im Zweidimensionalen wie im Dreidimensionalen. Die Räume, die Raster und Raumgitter aufspannen, verstehen sich als kontinuierlich ausgedehnt, sie kennen keinen Horizont mehr, der Sichtbares bzw. Greifbares von einem Dahinter abgrenzt. Der Kosmos, in den die Erde eingebettet ist, kann folglich nicht mehr endlich, geborgen und sphärenumschlossen sein, sondern er ist unbegrenzt und offen. Während sich das pythagoreisch-platonische Raumverständnis darauf beschränkt, die Dinge im Raum relational zu beschreiben, liegt dieser nun modernen Raumkonzeption zwar eine regelmäßig messbare Struktur zugrunde, die es erlaubt, jedes Ding in seiner Form und Lage exakt zu erfassen, doch kann diese Bestimmung bei unendlicher Ausgedehntheit nie vollständig sein. Damit ergeben Angaben zu Anfang oder Ende keinen Sinn mehr, weshalb die Erde und andere räumliche Objekte recht unvermittelt im zwar mathematisch Bestimmten, doch Ungreifbaren und Unverständlichen liegen. Die Geometrie bleibt eigenschaftslos, der Raum sowie die darin befindlichen Körper sind soweit homogenisiert, dass Punkte, Koordinaten oder Konstellationen lediglich Daten, jedoch keinen Wert mehr transportieren können. Einfache Sinnkonstruktionen, die der Form und der dahinter stehenden Geometrie nach wie vor metaphysischen Bedeutungsgehalt zuschreiben wollten, sind nicht mehr zu gewinnen. Mehr noch ist die Verbindung zwischen formalem System und dessen Inhalt ganz generell aufgekündigt. Während das formale System als einfache, verständliche und überaus präzise Geometrie sehr klar erscheint und den Raum ebenso strukturiert, sind die Operationen, die dazwischen – quasi im Raum – stattfinden, beliebig. Das System fragt nicht, welche Punkte sich wie im Raum einfinden, wie sie sich gruppieren und was sie bedeuten. Alle beliebigen Punkte lassen sich gleichermaßen einschreiben und werden auch gleich kartiert.

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1.3.2 Die Zumutungen der Aufklärung Ihre Formulierung erfährt diese Krise von Form, formalem System, Inhalt und Bedeutung in der so genannten »Querelle des Anciens et des Modernes« bzw. auf architekturtheoretischem Feld bereits in der vorausgehenden Kontroverse bezüglich der Autorität der Tradition und deren Infragestellung, ausgetragen in den 70/80er Jahren des 17. Jahrhunderts an der französischen Architekturakademie.117 Wesentliche Exponenten des Streits sind François Blondel auf der Seite der »Alten« und Claude Perrault als Vertreter der »Modernen«. Blondel tritt als Verteidiger regelästhetischer Gültigkeiten auf. Seine Welt ist immer noch eine wohlgeordnete, »deren Erscheinungen mit der Kenntnis einer zentralen, abstrakten Formel zu begreifen sind,«118 was zunächst ganz wie die Fortführung der Renaissancetradition scheinen will, die diese Formel – sprich das harmonische Walten von Maß, Zahl und deren Verhältnissen – als wirklichkeitskonstituierend begreift und bezogen auf das Bauen den ästhetischen Wert einer Architektur an dieser festmacht. Ganz in diesem Sinn »[vertritt] Blondel [...] in seinem 1683 veröffentlichten ›Cours d’architecture enseigné dans l’Académie Royal d’Architecture‹ die Ansicht, Proportionen seien in der Natur begründete, unwandelbare Zahlenverhältnisse, ohne die es keine Schönheit geben könne. Perrault behauptet dagegen, die Proportionen würden nur deshalb für schön gehalten, weil man sich daran gewöhnt habe, bestimmte Verhältnisse mit der Vorstellung von Schönheit zu verbinden.«119 Der Gewissheit einer absolut gesetzten, präexistenten formalen Ordnung steht bei Perrault ein Begründungsapparat entgegen, der nur mehr auf Konventionen gestützt ist. Formale Ordnung ist folglich verhandelbar und wandelbar. – Das ist etwas komplett anderes.

117 Siehe dazu allgemein: Hanno Walter Kruft: Geschichte der Architekturtheorie, München 41995, S. 144 ff.; Germann: Architekturtheorie, S. 174 ff.; Antonio Hernandez: Grundzüge einer Ideengeschichte der französischen Architekturtheorie von 1560-1800, Basel 1972, S. 50 ff. 118 Wolfgang Dieter Brönner: Blondel-Perrault. Zur Architekturtheorie des 17. Jahrhunderts in Frankreich, Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 1972, S. 71 119 Ebd., S. 9

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Jedoch ist bei allem Streit um die Herkunft von Proportionsregeln und die unterschiedlichen Auffassungen von deren Verbindlichkeit die zentrale Stellung, die der Proportionsbegriff als Architektur konstituierend einnimmt, sowohl bei Blondel als auch bei Perrault unstrittig. Bemerkenswert ist dabei eine weitere Gemeinsamkeit: Das Reden über Proportion, der Nachweis, worin sie besteht, woran sie festzumachen ist, ihre Wirkungsweise und die Art, wie das Phänomen zu bewerten ist, verlagert sich vom Objekt zum Subjekt. Selbst Blondel, für den ja die Identität von Weltproduktion und Weltreproduktion gemäß vitruvscher symmetria bzw. der concinnitas Albertis quasi als ein den Dingen eingeschriebenes Naturgesetz ungebrochen gilt, argumentiert deren Gültigkeit indirekt aus der Perspektive des Wahrnehmenden. Dabei sind es die Proportionen, die die Schönheit eines Bauwerks ausmachen. Nach Blondels Verständnis – ganz im Einvernehmen mit der Tradition – sind diese Proportionen, die zur Schönheit führen, allgemein gültig. Sie gefallen allen, weil sie universell sind, und umgekehrt sind sie überzeugend, weil sie allen gefallen.120 Die Richtigkeit proportionaler Verhältnisse erschließt sich nicht mehr unmittelbar über das Objekt, das seine Gestalt harmonischer Setzungen verdankt. Vielmehr wird »die Entscheidung darüber, ob Proportionen schön sind oder nicht, [...] nicht direkt an die Klarheit mathematischer Verhältnisse geknüpft, sondern dem Geschmack der betrachtenden Subjektivität, d. h. einem Kollektiv von Kunstkennern überlassen.«121 Grundlage sicherer und beständiger Gesetze ist, was als schön empfunden wird. Geschmacksempfindungen von durch Kennerschaft ausgezeichneten Probanden lassen sich erfragen. Demnach sind übereinstimmende Bewertungen quantifizierbar und aus denjenigen Proportionen, die allen gefallen, lässt sich ein allgemein als schön zu emp-

120 »La beauté produite par les proportions est convaincante parce qu’elle plaist à tous, & que l’on est convaincu que c’est elle qui fait que le batiment plaist.« (Die durch die Proportionen erzeugte Schönheit ist überzeugend, weil sie allen gefällt und weil man überzeugt ist, dass sie es ist, die das Gebäude gefallen lässt.) François Blondel: Cours d’architecture enseigné dans l’Académie Royale d’Architecture, Paris/Amsterdam 21698, Teil 5, V. Buch, XV. Kapitel, Randnotiz S. 764 121 Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit. Über mögliche Voraussetzungen des neueren Kunstbewusstseins in der Architekturtheorie Claude Perraults, München 1972, S. 94

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findender Proportionskanon ermitteln. Dazu werden nun im Rückschluss die zwar durch Mehrheitsentscheid legitimierten, aber doch subjektiven Proportionswahrnehmungen auf mögliche ihnen zugrunde liegende mathematische Gesetzmäßigkeiten hin befragt. »Es handelt sich also um den Versuch einer nachträglichen Rationalisierung einer Geschmacksentscheidung, die von dem betrachtenden Subjekt vorher und unter irrationalen Bedingungen getroffen worden ist.«122 Freilich kommt Blondel, indem er so induktiv einen Satz regelästhetischer Vorgaben gewinnt, zu den gleichen Ergebnissen, wie sie von anerkannten Autoritäten bereits deduktiv im Apriori geometrisch-mathematischer Gesetzmäßigkeiten angelegt waren, nur dass sich eine solchermaßen aus der Beobachtung hergeleitete formale Grundlegung nun jenseits der ungreifbaren Sphäre des Metaphysischen im Sinne eines modernen Wissenschaftsbegriffs nachvollziehen lässt. Durch immer genaueres Beobachten, Messen und Vergleichen ließen sich immer genauere Gesetze mit immer größerer Sicherheit gewinnen. Allerdings bleiben die so durch Induktionsschluss gefundenen Zahlenwerte und proportionalen Verhältnisse beschränkt auf die menschliche Wahrnehmung und das menschliche Schönheitsempfinden. Ein Übereinstimmen von kosmischer Ordnung und ästhetischen Gesetzen lässt sich nicht belegen, auch wenn der Satz von deren Identität von Blondel weiter mitgeführt wird.123 Perrault geht noch einen deutlichen Schritt weiter. Er stellt generell in Frage, dass es überhaupt einen verbindlichen Proportionskanon gibt. »Denn genau wie ein Gesicht mit denselben Proportionen häßlich oder schön sein kann, da die Veränderung, die man in seinen Zügen feststellt – wenn zum Beispiel Lachen die Augen verkleinert und den Mund vergrößert –, dem entspricht, was mit demselben Gesicht geschieht, wenn es weint, dieselbe Veränderung der Proportion kann einmal gefallen, ein andermal unschön sein; andererseits können zwei Gesichter mit verschiedenen Proportionen gleichermaßen schön sein. Man sieht auch in der Architektur, daß Werke mit unterschiedlichen Proportionen eine Anmut besitzen, für die sie von denen, die intelligent sind und Geschmack für Architektur besitzen, gleichermaßen anerkannt werden.«124

122 Ebd., S. 95 123 Vgl. Brönner: Blondel-Perrault, S. 78 124 Claude Perrault: Ordnung der fünf Säulenarten nach der Methode der Alten [zuerst: Ordonnance des cinq espèces de colonnes selon la methode des

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Im Unterschied zu Blondel, der über die Untersuchung dessen, was allen auf qualifizierte Weise gefällt, in Fragen der Proportion zu eindeutigen Ergebnissen gelangt, wird die Wertung dessen, was als schön empfunden wird, bei Perrault weiter ausdifferenziert. Bei dem, was von allen – unstrittig, immer und zeitlos – als schön empfunden wird, spricht er von positiven Schönheiten, den »beautés positives«. Davon unterschieden werden die veränderlichen, auf Konvention und Vereinbarung beruhenden Schönheiten, die »beautés arbitraires«. Gewiss sind lediglich die beautés positives, die »auf überzeugenden Gründen beruhe[n,] [...] durch die die Werke jedermann gefallen müssen, weil es einfach ist, ihren Verdienst und Wert zu erkennen. Von dieser Art sind wertvolles Material, Größe und Pracht eines Bauwerks, Genauigkeit und Sauberkeit der Ausführung sowie die Symmetrie.«125 Symmetrie ist hier im modernen Wortsinn verwendet. Gemeint ist die spiegelbildliche Entsprechung zweier Seiten in Bezug auf eine Symmetrieachse. In Abgrenzung zum überlieferten Symmetriebegriff, der symmetria, die nach wie vor den proportionalen Zusammenhang der einzelnen Teile untereinander sowie das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen definiert und die Perrault als »schwer zu erkennen« beschreibt, erscheint diese »andere Proportion«, die spiegelsymmetrische, »ganz offensichtlich«. 126 Was sie für Perrault als positive Schönheit qualifiziert ist ihre Evidenz. In dem, was Perrault zu den positiven Schönheiten zählt, findet er sich durchaus noch im Einvernehmen mit Blondel, der ganz ähnlich von »beautés naturelles« oder »convaincantes« spricht.127 Sie sind unstrittig. Im deutlichen Unterschied zu Blondel gehört jedoch Perrault zu Folge der gesamte Proportionsapparat, der sich an die alte Vorstellung der symmetria bindet, nicht in die Kategorie des Absoluten, Beständigen und Unstrittigen. Perrault rechnet ihn zur zweiten Gruppe der Schönheiten, die er als arbiträre, als beliebige Schönheiten bezeichnet, »weil sie von unserem Willen abhängen, den Dingen eine bestimmte Proportion, Form und Gestalt zu geben. Diese Dinge können auch anders aussehen, ohne dadurch unförmig zu sein, und sie sind

anciens, Paris 1683], Übersetzung des Vorworts von Christiane Landgrebe, in:

Fritz

Neumeyer:

Quellentexte

Berlin/London/New York 2002, S. 137 f. 125 Ebd., S. 141 126 Ebd., S. 142 127 Vgl. Brönner: Blondel-Perrault, S. 79

zur

Architekturtheorie,

München/

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nicht aus jedermann zugänglichen Gründen schön anzusehen, sondern nur durch Gewohnheit.«128 Entgegen der Beweisführung Blondels, der das Empfinden schöner Proportion in zeitlosen Gesetzen der Natur vorgezeichnet sieht, bindet Perrault das Gefallen bestimmter formaler Verhältnisse an Gewohnheit bzw. Gewöhnung. Während das Ziel Blondels ist, die einzigen, richtigen und wahren Proportionen herauszudestillieren, sind Perraults Proportionen in Alternativen denkbar, wandelbar und relativ im zeitlichen und situativen Kontext. Das bedeutet aber noch nicht, dass ein konventionell geleiteter Proportionsfindungsprozess völlig frei und beliebig vonstatten ginge und man sich an alles, nur weil es existent ist, gewöhnen könnte und Wohlgefallen daran finden müsste, – wie Blondel einwirft.129 Perrault präzisiert, er fügt dem oben angeführten Satz, warum Dinge schön anzusehen sind, die Ergänzung bei, formales Bewusstsein werde hergestellt »durch Gewohnheit und durch eine Verbindung, die der Geist zwischen zwei Dingen verschiedener Natur herstellt. Denn durch diese Verbindung kommt es, daß der Geist die Achtung, die er Dingen, deren Wert er kennt, entgegenbringt, auf andere, deren Wert er nicht kennt, überträgt und so unmerklich dazu gebracht wird, dieses gleichermaßen zu schätzen.«130 Neben Gewöhnung ist die Verbindung, die arbiträre Schönheiten mit positiven Schönheiten eingehen, indem die einen – wie Perrault behauptet – ihre Autorität auf die anderen übertragen, für das Empfinden schöner Form verantwortlich. »So ist es gekommen, daß die ersten Werke der Architektur die Fülle des Materials, die Größe, die Pracht und Feinheit der Arbeit, die Symmetrie – also die Gleichheit und genaue Entsprechung, die die einzelnen Teile untereinander haben, weil sie dieselbe Ordnung und dieselbe Lage verbindet –, den gesunden Menschenverstand in den Dingen, die erklärbar sind, und die anderen offenbaren Gründe für die Schönheit in sich vereinen. Sie wirken so schön und wurden so sehr bewundert und geschätzt, daß man zu der Auffassung gelangte, sie müßten den anderen als Vorbild dienen. Und so glaubte man, diesen feststehenden Schönheiten dürfe man nichts hinzufügen und nichts daran ändern, ohne die Schönheit des gesamten Werkes zu beeinträchti-

128 Perrault: Ordnung, S. 142 129 Vgl. Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 27 130 Perrault: Ordnung, S. 142

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gen, und man konnte sich ebensowenig vorstellen, daß die Proportionen dieser Werke ohne schädliche Wirkung geändert werden könnten.«131

Was Perrault hier beschreibt ist nicht zu verstehen als die Legitimation ausgezeichneter Proportionen durch feststehende, positive Schönheitsbegriffe. Es geht ihm nicht darum, diese aus der Sphäre des Arbiträren ins Positive zu transferieren. Es handelt sich lediglich um einen Erklärungsversuch, warum sich bestimmte Proportionsvorstellungen in der Diskussion so lange gehalten haben und warum sie so lange für gültig angesehen wurden. Die Wahl der Proportionen bleibt letztendlich konventionell begründet. Die in Material, Pracht und Größe wohl ausgeführten und die Symmetrie beachtenden proportionalen Verhältnisse »hätten [dabei] durchaus anders sein können, ohne die anderen Schönheiten zu verletzen«.132 Entscheidend für eine ästhetische Wertung sind gerade nicht die zwar rational verifizierbaren und positiven Schönheiten, sondern entscheidend ist das Arbiträre der Proportion. Die Proportionen bleiben arbiträr. Vorgehende Rationalisierungsversuche der vitruvianischen Tradition, symmetria im Anthropomorphen festgeschrieben zu finden bzw. die im Urhüttentopos angelegte Formulierung eines Anfangs als bindendes formales System zu begreifen, erscheinen Perrault wenig vernünftig.133 Was bleibt, ist in Ermangelung zwingender Gründe, die ein Finden von Proportion – quasi in der Natur – rechtfertigen würden, ein Erfinden von Proportion. In letzter Konsequenz würde das bedeuten, es gibt nun einen in seinen Entscheidungen freien und in all seinen

131 Ebd., S. 145 132 Ebd. 133 »Denn gewiß besitzt das Kapitell, der Kopf des Leibes, den die Säule repräsentiert, nichts von der Proportion, die ein Kopf im Verhältnis zum Körper haben muß. Denn je untersetzter ein Körper ist, desto weniger kann der Kopf seine Länge vergrößern; hingegen haben die dicksten Säulen die kleinsten Kapitelle und die grazilsten im Verhältnis zur ganzen Säule die größten. Doch werden Säulen nicht generell für schöner befunden, je mehr sie den Baumstämmen ähneln, die den ersten Hütten, die Menschen bauten, als Pfeiler dienten, weil man allgemein gerne Säulen sieht, die in der Mitte dicker sind, was bei Baumstämmen nie der Fall ist, da diese sich nach oben hin verjüngen.« Ebd., S. 143

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subjektiven Wertungen nicht reglementierbaren Autor, der zwar konventionell gebunden ist, aber doch individuell zu entscheiden hat, was er als schön empfindet. So zumindest lässt sich Perraults Version erster proportionaler Kanonbildungen deuten, denn »die, die diese Proportionen als erste erfunden haben, waren von keiner anderen Regel als ihrer Phantasie geleitet, und in dem Maße, wie diese Phantasie sich veränderte, wurden neue Proportionen eingeführt, die auch wieder Gefallen fanden«.134 Weder induktiv, noch im Rückbezug auf eine Tradition oder auf vernünftige, allen einsichtige Gründe oder Notwendigkeiten sind proportionale Festlegungen und Ableitungen von Regeln zu gewinnen, die der Autorität eines deduktiv gesetzten, dabei metaphysisch gebundenen und letztlich fraglosen Modells gleichkommen bzw. dieses ersetzen könnten. Dieses Modell ist nun mit Perraults Infragestellungen dahin. »Folglich gibt es in der Architektur eigentlich keine an sich wahren Proportionen.«135 Würde man die Argumentation Perraults konsequent weiterdenken, wäre nun jede Proportion und jede formale Anordnung möglich. Dabei könnten auch Fragen der Geschmacksbildung und ästhetischen Wertung keine Anordnung ausschließen und es gäbe keinen Grund, eine der anderen vorzuziehen. Der Proportionsbegriff als Architektur konstituierendes Moment wäre dann allerdings obsolet, da die Bestimmung und Differenzierung von Verhältnissen, wenn es keine bedeutsamen Unterschiede mehr gibt, keinen Sinn mehr ergeben würde. So weit geht Perrault nicht, er relativiert. Wenn es für ihn auch keine wahren Proportionen gibt, so gibt es doch zumindest wahrscheinliche. Eine vorbildliche Architektur beruht demnach auf einfachen, leicht messbaren, leicht zu merkenden und leicht zu teilenden Zahlen. Vernünftigerweise muss das auch die Vorgabe derjenigen gewesen sein, die die ersten Proportionen erfunden haben, an die wir uns gewöhnt haben und die Perrault als klassisches Bildungsgut immer noch als vorbildlich gelten lässt. Abweichungen im archäologischen Befund, komplizierte, uneinheitliche und undurchschaubare proportionale Verschränkungen, sind durch Nachlässigkeit und Unkenntnis der ausführenden Bauarbeiter verschuldet.136 Im Rekurs auf Abstraktion und Einfachheit, der die als wahrscheinlich angenommenen

134 Ebd., S. 144 135 Ebd., S. 146 136 Vgl. Ebd., S. 151 f.

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Proportionen bestimmt, ist Perrault letztendlich gar nicht so weit von seinem Gegenspieler Blondel entfernt.137 Nur trennt Perrault ganz im Gegensatz zu den Begründungsmodellen, die Blondel zu seinen Regelvorgaben führen, nun deutlich die Mechanismen proportionaler Regelerzeugung von der Möglichkeit, Welt zu erklären. Ganz explizit kritisiert er ein Anknüpfen-Wollen an eine mathematisch-geometrische Praxis, wie es die platonisch-pythagoreische bzw. in deren Nachfolge die christlich-humanistische Tradition vorgibt. »So lächerlich es sein mag, der extreme Respekt der Architekten vor der Antike, den sie mit den meisten gemeinsam haben, die die Wissenschaften lehren und der Meinung sind, daß heute nichts mit den Werken der Antike Vergleichbares entsteht, hat seinen Ursprung in dem aufrichtigen Respekt, den man heiligen Dingen schuldet. Jeder weiß, daß die Barbarei der vergangenen Jahrhunderte in dem grausamen Krieg, den sie gegen die Wissenschaften geführt hat, in dem sie sie alle vernichtete und nur die Theologie verschonte, dazu führte, daß das Wenige, das von der Literatur übrigblieb, in den Klöstern Zuflucht suchte. Der Geist war gezwungen, an diesen Orten nach der Substanz des gesamten Wissens über Antike und Natur zu forschen, und übte sich in der Kunst des Denkens. Doch diese Kunst, die in ihrer Art für jede Wissenschaft richtig ist, war so lange Zeit nur von Theologen betrieben worden, deren Ansichten sämtlich gefangen und alten Entscheidungen unterworfen sind, daß sie die Gewohnheit verlor, die für ihre Forschung notwendige Freiheit zu gebrauchen; und so konnte man mehrere Jahrhunderte hindurch in den Wissenschaften nicht anders denken als in der Theologie.«138

Hier hakt Perrault ein, er fordert ganz klar »zwischen der Achtung, die man heiligen Dingen schuldet, und der, mit der man nicht heiligen Dingen begegnet, zu unterscheiden. Man darf diese Dinge untersuchen, kritisieren und maßvoll beurteilen, wenn es darum geht, die Wahrheit zu erkennen. Ih-

137 Deutlich wird dies in Aussagen wie: »La pluspart des proportions qui plaisent dans l’Architecture sont entre les six ou huit ou au plus les dix premieres nombres.« (Der Großteil der Proportionen welche in der Architektur gefallen, liegen zwischen der Sechs und Acht oder höchstens innerhalb der ersten 10 Zahlen.) Blondel: Cours d’architecture, Teil 5, V. Buch, XX. Kapitel, Randnotiz S. 786 138 Perrault: Ordnung, S. 149

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re Geheimnisse betrachten wir nicht, da sie zu denselben Kategorien gehören wie jene, die wir in der Religion finden und die wir als unverständlich ansehen, ohne daß wir weiter überrascht wären.«139 Folglich können und sollen Perraults Vorstellungen von einer wahrscheinlichen bzw. vernünftig argumentierten Proportion keine metaphysische Sinnerzeugung mehr leisten. Sein Ruf nach einem begrenzten Satz natürlicher Zahlen zur Bemessung von Architekturen bzw. einfacher ganzzahliger Verhältnisse gründet nicht in der Abbildung oder Nachahmung einer als ideal angenommenen natürlichen Ordnung. Vielmehr kommt er zu diesen Zahlen, da sie auf der Ebene ihrer mathematisch-geometrischen Einfachheit rationalisierbar sind. Ohne subjektiven Bewertungsmaßstäben unterworfen zu sein oder von konventionellen Übereinkünften abhängig zu sein, ist diese mathematisch-geometrische Einfachheit klar und verständlich. Ihre Einfachheit ist evident: Die ersten natürlichen Zahlen sind leicht handhabbar, sie lassen sich leicht merken, zählen, addieren und teilen. Ebenso übersichtlich erscheint ein Hantieren mit den korrespondierenden geometrischen Figuren Quadrat und Kreis, mit gleichmäßigen Reihungen und symmetrischen Teilungen. In ihrer Nachvollziehbarkeit und Prägnanz, ihrer Erkennbarkeit und Wiedererkennbarkeit und ihrer arithmetischen Eingängigkeit erscheint eine solche Praxis vernünftig und rational, da es sich bei diesen Aussagen elementarer Einfachheit offensichtlich um unveränderliche Konstanten handelt. Im architektonischen Entwurf, im Finden und Erfinden von Form, ist so Sicherheit zu gewinnen. Jedoch bedeuten diese Zahlen und geometrischen Operationen jenseits ihrer Praktikabilität, ihrer visuellen und mathematischen Evidenz nichts. Man könnte zwar diese Einfachheit wieder mythisch aufladen und überhöhen, – gerade das hatte Perrault allerdings soeben ausgeschlossen. Ein Anknüpfen an traditionelle Interpretationsmuster lässt sich nicht mehr legitimieren. Die Einfachheit der Form, die wir hier vorgestellt sehen, ist einfach, klar, durchsichtig und verständlich ausschließlich im Sinne der Mathematik bzw. der Geometrie und einer an diese gebundenen Aufmerksamkeit. Einem Verständnis von Architektur, das in deren formalen Produktions- und Reproduktionsmechanismen darüber hinausgehend Bedeutung behauptet, scheint der Boden entzogen.

139 Ebd.

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Was das für die Architektur bedeuten würde, würde man diesen Gedanken konsequent weiter denken, führt Giovanni Battista Piranesi in seiner Rekonstruktion des römischen Marsfeldes vor. Zumindest ließe sich die Arbeit so deuten. Tafuri spricht bezüglich der »Iconografia Campi Martii« als von nicht weniger als der »epische[n] Darstellung einer Schlacht, die die Architektur gegen sich selbst führt.«140

Abb. 20: Giovanni Battista Piranesi, Iconografia Campi Martii (1762)

Was auf den ersten Blick wie eine akribische Bestandsaufnahme archäologischer Befunde erscheint – und dabei in seinem formalen Erscheinen als Agglomeration einfacher, elementarer und klarer Geometrien überaus rational wirkt –, zeigt sich bei näherem Hinsehen als durchaus uneindeutig und beunruhigend. Dabei lässt sich die Situation geographisch recht genau lokalisieren. Durch Angabe von Himmelsrichtungen und durch den Tiberverlauf kann der Plan Piranesis mit anderen Plänen Roms zur Deckung gebracht werden. Ganz anders verhält es sich mit den Architekturen, die Piranesi zu Tage fördert. Auffallend ist dabei – und das ist wichtig –, dass scheinbar übergeordnete geometrische Strukturen ins Auge stechen, noch

140 Manfredo Tafuri: Kapitalismus und Architektur, Nikolaus Kuhnert/Juan Rodriguez-Lores (Hg.), Hamburg/Berlin 1977 [zuerst: Progetto e Utopia, 1973], S. 20

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bevor man darangehen könnte, einzelne Häuser zu identifizieren. Formale Ordnungssysteme wie Achsausrichtungen, Symmetrien, Reihungen und Geometrisierungen in einfachen Grundfiguren dominieren den Plan. Zu erwarten wäre nun eigentlich, dass das Erkennen, Zuordnen und Verstehen der so organisierten Architekturen ebenso einfach, eingängig und präzis vonstatten gehen sollte, wie es die formale Ordnung vorführt. Das tut es nicht. Es zeigt sich ganz im Gegenteil eine erschreckende Diskrepanz. Die Form ist stabil, ihr Inhalt zeigt sich als austauschbar. So zeigt Piranesi innerhalb gleicher Form: »wirkliche[...] Monumente[...], die im antiken Rom existierten. Es gibt Bauwerke, die in Piranesis gegenwärtigem Rom von 1762 auf ihrem angestammten Platz verbleiben. Dann gibt es dort Bauwerke aus der Vergangenheit, die nicht mehr existieren, die aber als Spuren oder Ruinen gegenwärtig sind. Zusätzlich sind einige Bauwerke der Vergangenheit, die nicht mehr existieren, von ihren tatsächlichen Standorten in der Vergangenheit an einen neuen Ort auf dem Plan versetzt worden. Und schließlich erfindet Piranesi Gebäude, die zu keiner Zeit jemals existiert haben, ob in der Vergangenheit oder Gegenwart. Diese erfundenen Gebäude sehen aus wie echte Gebäude, selbst wenn man sie aus der Nähe betrachtet.«141 Die Erfahrung von Campo Martio zeigt, dass eine Ordnung, basierend auf der Einheit von Ort, Zeit und Form, nicht mehr verbindlich ist. Weder wirkliche und als vorbildlich angesehene Architekturen noch die formale Überlieferung – und daran gebunden die Vorstellung der Natürlichkeit formaler Gesetze – erweisen sich als stabil. Der Plan erscheint konsistent, ohne es wirklich zu sein. Die Dinge, ihre Form und ihre Erscheinung existieren unabhängig voneinander und bedürfen der Erklärung, wobei ein Rückgriff auf formale Ordnungsprinzipien in der Deutung keine Hilfestellung mehr bieten kann. Nicht nur der Verweis auf eine höhere Ordnung der Geometrie ist dahin, ganz generell sind Eigenschaften der Form nicht mehr auf die Bedeutung des Inhalts übertragbar.

141 Peter Eisenman: Ins Leere geschrieben, Wien 2005, S. 14

2.

Der Raum ohne Eigenschaften »›Ich habe meine Bauten kalkuliert, gründlich. Ich habe auf diesem Stück Papier beinahe zweimal so viele Wohnungen wie in Ihrem ursprünglichen Projekt, plus Ladenstraßen, Schulen, Kindergärten, Poliklinik, Gemeindezentrum, Garagen. Und errichtet für das gleiche Geld.‹ ›Das ist ein Traum. [...] Aber die werden das nie akzeptieren.‹ ›Und warum nicht?‹ ›Weil es vernünftig ist.‹« (Stefan Heym)1

2.1 Der funktionale Einschnitt. Jean-Nicolas-Louis Durand Dieses Explizitwerden des Konfliktpotenzials im Verhältnis von Form und Inhalt war natürlich keine Grundlage, auf der man weiterarbeiten wollte. Um ihre eigene Selbstzerstörung zu vermeiden, verzichtet die Architektur auf ihren Anspruch, die Welt zu erklären und abbilden zu können.2 Zumindest täte sie dieses, wenn es nach Jean-Nicolas-Louis Durand ginge. Die Frage, inwieweit Architektur universalen Gesetzmäßigkeiten folgt, ob es diese überhaupt gibt und ob mittels derer relevante Aussagen möglich sind, 1

Stefan Heym: Die Architekten, München 2002, S. 201

2

Vgl. Tafuri: Architektur, S. 18

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tritt in den Hintergrund. Das Interesse an metaphysischen Fragestellungen bezüglich des Seins und seiner Repräsentation in der Architektur wird ersetzt durch die erheblich weniger spekulative Frage, was Architektur kann. Hinterfragt werden nun der Gebrauch, die Brauchbarkeit und die Zweckmäßigkeit von Gebäuden, d. h. es werden rein utilitaristische Kriterien argumentiert. Architektur bedeutet nicht mehr, – sie funktioniert. Das ist ein Bruch: Die Architektur sucht ihre Bestätigung nicht mehr in dem Wert, der in ihr selbst – in unserem Fall in der Verstrickung von Form, Geometrie und Bedeutung – liegt, sondern sie sucht diese Bestätigung nun in Bereichen außerhalb der Architektur – im Sozialen sowie im persönlichen und im gesellschaftlichen Nutzen. Dabei ist der Verweis auf die außerordentliche Nützlichkeit der Architektur für die Gesellschaft nicht neu. Er ist schon bei Vitruv zu finden, der die Architektur in einem Atemzug neben der Sprache als konstituierend für das Entstehen von Zivilisation, Kultur und Gesellschaft nennt.3 Ebenso versäumt auch Alberti nicht, im Vorwort zu De re aedificatoria auf die »Notwendigkeit und Nützlichkeit der Baukunst« hinzuweisen.4 Neu ist allerdings die Art und Weise, wie Durand den Be-

3

»Als also infolge der Entdeckung des Feuers zunächst bei den Menschen ein Zusammenlauf, ein Zusammenschluß und ein Zusammenleben entstanden war und mehr Menschen an einer Stelle zusammenkamen [...], begannen in dieser Gemeinschaft die einen, aus Laub Hütten zu bauen, andere, am Fuß von Bergen Höhlen zu graben; einige ahmten auch die Nester der Schwalben nach und stellten aus Lehm und Reisig Behausungen her, um dort unterzuschlüpfen. Dann beobachteten sie die Behausungen der anderen, fügten durch eigenes Nachdenken Neuerungen hinzu und schufen so von Tag zu Tag bessere Arten von Hütten. Da aber die Menschen von Natur zur Nachahmung geneigt und gelehrig waren, zeigten sie, stolz auf ihre Erfindungen, täglich der eine dem anderen, wie sie ihre Bauten durchführten. So übten sie im Wetteifer ihre Erfindungskraft und wurden von Tag zu Tag zu Menschen mit besserem Urteil.« Vitruv: De architectura, Fensterbusch (Hg.), II. Buch, I. Kapitel, S. 79 ff.

4

»Es gab Leute, die sagten, daß das Wasser oder das Feuer die Anfänge boten, auf Grund derer sich die menschliche Gesellschaft bildete. Wenn ich aber die Nützlichkeit und Notwendigkeit von Decke und Wand betrachte, so werde ich natürlich davon überzeugt sein, daß diese in viel höherem Grade dazu beigetragen haben, die Menschen zu vereinigen und zusammenzuhalten. Doch wir bedürfen eines Architekten nicht nur deshalb, weil er uns eine sichere und will-

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griff der Nützlichkeit einsetzt. Bis dahin ging es, wenn einmal von Nutzen und Nützlichkeit im architekturtheoretischen Zusammenhang die Rede war, letztendlich immer noch darum, das eher Handwerkliche architektonischer Tätigkeit in eine intellektuellere Ebene zu transferieren. Architektonisches Raum- und Schutzschaffen wurde als Grundvoraussetzung jeglicher gesellschaftlichen und geistigen Entwicklung vorgestellt, um in weiterer Folge ein Naheverhältnis von Architektur und Kunst bzw. Wissenschaften zu konstruieren. Somit wurde auch von der Seite des Gebrauchs eine Verbindung zur Sphäre höherer Ordnung hergestellt. Die Integrität von Architektur als Teil eines regelhaften Ganzen blieb gewahrt. Anders verhält es sich bei Durand. Er ersetzt das metaphysische Projekt durch ein utilitaristisches. Gebrauch und Nutzen von Gebäuden werden nicht mehr verstanden als Teil und in Abhängigkeit von einem übergeordneten Begründungszusammenhang, sondern sind ganz einfach der eigentliche und ausschließliche Inhalt von Architektur. Während der Begriff Architektur recht unbestimmt ist, ist die Vorstellung des Begriffs Gebrauch konkret. Bedürfnisse können eruiert und beschrieben werden, sowie auch Kriterien zu deren Befriedigung erstellt werden können, die dann folgerichtig in sinnvoller Weise baulich umzusetzen sind. Funktioniert das Gebaute, hat Architektur ihren Zweck erfüllt und ist gute Architektur. Der Prozess ist linear, als kausale Abfolge nachvollziehbar, und die Ergebnisse können objektiv bewertet werden. Wird Architektur so verstanden, ist sie auch lehrbar – in Form eines verbindlichen und präzis abzugrenzenden Curriculums. Durand, Schüler Étienne-Louis Boullées an der »Académie Royale d’Architecture« und von 1795 bis 1830 Professor für Architektur an der 1794 neu gegründeten »École Polytechnique«5, verfasst diese neue Architekturlehre. Ab 1802-

kommene Zuflucht gegen Sonnenbrand, Kälte und Schneesturm bereitet, obwohl auch dies keineswegs die geringste Wohltat ist, sondern auch, weil er für das öffentliche und das private Wohl vieles erfunden hat, das ohne Zweifel überaus nützlich und für die Bedürfnisse des Lebens immer von neuem äußerst angemessen ist.« Alberti: De re aedificatoria, Theuer (Hg.), S. 10 5

Gegründet als »École Centrale des Travaux Public«. Die Benennung in »École Polytechnique« erfolgt erst 1795. Vgl. biographische Angaben zu Durand: Kruft: Architekturtheorie, S. 310; Werner Szambien: Jean-Nicolas-Louis Durand 1760-1834. De l’imitation á la norme. Paris 1984, S. 15 ff.

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1805 liegen seine Vorlesungen in erster Auflage als »Précis des leçons d’architecture données à l’École Polytechnique« in schriftlicher Form vor. Seine Lehre etabliert sich. Ab diesem Zeitpunkt kann keine Architektur mehr ohne den Hintergrund Durands gelesen werden. Auch wenn schon innerhalb der Schülergeneration die Sturheit, Penibilität und Phantasielosigkeit seiner Lehre ins Lächerliche gezogen wurde und deren Einfluss, Bedeutung und Relevanz bestritten wurde, ja sogar in Vergessenheit gebracht werden sollte, ist deren Einfluss auf die weitere Architekturentwicklung nicht zu unterschätzen, sondern weit bis ins 20. Jahrhundert und – wie zu befürchten ist – auch darüber hinaus wirksam. Im Précis entwickelt Durand eine streng rationale, funktional argumentierte Architekturtheorie, die er systematisch als Entwurfslehre vermittelt. Die hier vorgenommene Koppelung einer theoretischen Erörterung dessen, was Architektur sein könnte oder sollte, mit einem Architekturkurs, d. h. mit der Vermittlung konkreter Handlungsanweisungen, ist nicht neu. Neu ist jedoch die Stringenz, mit der dies vorgetragen wird. Der Radikalität einer auf Nützlichkeit ausgerichteten Architekturkonzeption entspricht eine effiziente Vermittlung von Lehrinhalten: Der lineare, didaktisch nachvollziehbare Aufbau sichert die Verständlichkeit, wie auch Text begleitende Tafeln jeweils am Ende der drei Bücher nicht unwesentlich zur schnellen und Ressourcen schonenden Aufnahme der Lehrinhalte beitragen. 2.1.1 Linearität und Voraussetzungslosigkeit Durands Kurs ist systematisch aufgebaut. Wie er selbst schreibt, lehrt er »vom Einfachen zum Zusammengesetzten überzugehen, vom Bekannten zum Unbekannten: ein Begriff bereitet stets auf den nachfolgenden vor, und dieser erinnert hinwieder an den ihm vorhergegangenen.«6 Allem, was dem zuwiderläuft, wird eine klare Absage erteilt. Er misstraut jenen schöpferischen Impulsen, die das Primat der Methodengerechtigkeit untergraben könnten. Diese Haltung versteht er selbst als Vernünftigkeit –, denn »im Uebrigen kann die Vernunft des Genies entbehren, während dieses, von je-

6

Jean-Nicolas-Louis Durand: Abriß der Vorlesungen über Baukunst gehalten an der königlichen polytechnischen Schule zu Paris, Band 2, Karlsruhe/Freiburg 1831, [zuerst: Précis des leçons d’architecture données à l’École Polytechnique, Paris 1802-1805], S. III

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ner nicht geleitet und erleuchtet, nur Fehltritte machen wird.«7 Dabei wird, in der Abwehr von Planlosigkeit, die Repetition überlieferter Regelsätze aus den Traditionsbeständen der Architektur als nicht zielführend erkannt. Durand propagiert eine voraussetzungslose, wissenschaftliche Methode. Formfindung basiert auf der Analyse konkreter aktueller Problemstellungen und realisiert sich in deren möglichst effizienter Lösung. Dem steht ein Bestand an architektonischem Vokabular gegenüber, der sich an tradierten Modellen, deren Vorbildcharakter bis dahin als verbindlich betrachtet wurde, orientiert. Ihre Legitimation beziehen diese Modelle aus der festen Einbindung in metaphysische Systeme und der Rückprojektion auf eine Vergangenheit, die noch ganz ursprünglich diese natürliche Ordnung offenbart. Ziel einer so verstandenen Architektur konnte nur die Rekonstruktion des Alten und die möglichst authentische Nachahmung sein. – Um eine vorurteilslose Problemlösung, die dem Prinzip der Nachahmung schon fertiger formaler und konzeptioneller Lösungen entgegensteht, durchzusetzen, wird Durand zuerst die Irrelevanz tradierter Begrifflichkeit darlegen. Die Verbindlichkeit eines vorkonventionellen Proportionssystems, in dem Maß und Zahl noch unangefochten Welt konstituierend wie rekonstruierend wirkten, findet Durand bereits schwer erschüttert vor. Einem trotz allem immer noch wirksamen Vitruvianismus scheint die Basis entzogen. Polemisch fragt Durand, indem er auf die Beschwörungen eines fraglosen Zusammenhangs von Mensch, Zahl und Bauwerk, insbesondere in der Analogie von Mensch und Säule, anspielt: »Welche Vergleichung läßt sich anstellen zwischen dem Körper des Menschen, dessen Breite in jeder verschiedenen Höhe eine andere ist, und zwischen einer Art von Zylinder, dessen Durchmesser überall derselbe ist? Welche Ähnlichkeit kann unter diesen beiden Dingen statt finden, auch wenn man bei beiden dieselbe Base und dieselbe Höhe annimmt.«8

Damit lässt Durand eine anthropomorph begründete Architektur nicht gerade vernünftig erscheinen. Parallel dazu verwirft er jegliche Rettungsversuche, die sich befleißigen, eine Bindung an klassisches Formrepertoire aufrecht zu erhalten. Exemplarisch führt er dies am Beispiel und in Abgren-

7

Ebd.

8

Durand: Précis 1831, Band 1, S. 9

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zung von den damals recht populären Thesen Marc-Antoine Laugiers vor. Konkret kritisiert er dessen »Essai sur l’architecture« (1753). Darin versucht Laugier noch, besagten kanonisierten Formapparat und dessen Regelhaftigkeit mit den rationalen Prinzipien der Aufklärung zu versöhnen, d. h. diesen auf eine natürliche und vernünftige Basis zu stellen. Form und Regeln werden nicht mehr aus einer metaphysischen Ordnung der Dinge heraus begründet, sondern in der Rückführung auf ihren natürlichen Urzustand. Diesen Ursprung und damit gleichsam ein Modell aller relevanten Architektur findet Laugier in der so genannten »Urhütte«. Die Form selbst, deren Aussehen und Organisation, bleibt vom Wechsel der Argumentation – weg von kosmologischen, hin zu natürlichen Begründungszusammenhängen – unberührt.

Abb. 21: Marc-Antoine Laugier, die Urhütte, Titelblatt und Detail (Essai sur l’architecture, 21755)

Das Modell Urhütte ist die scheinbar einfachste Art, ein Haus zu errichten: Vier im Rechteck vorgefundene Baumstämme markieren die Ecken, die sich mit vier Astbalken verbinden lassen. An den Längsseiten gegeneinander gestellte Äste ergeben ein Satteldach. Laugier übernimmt Idee und Form der Urhütte von Vitruv9. Doch während sie bei Vitruv lediglich den Anfangspunkt architektonischer Entwicklung bezeichnet, hält Laugier die Urhütte für einen Archetyp, der bereits alle gültigen Prinzipien der Formbildung beinhaltet: »Die aufrechten Holzstücke gaben uns die Idee der Säulen; die auf diesen ruhenden horizontalen Stücke gaben uns die Idee des

9

Vgl. Vitruv: De architectura, Fensterbusch (Hg.), II. Buch, I. Kapitel, S. 79 ff.

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Gebälks, und die das Dach bildenden geneigten Stücke geben uns die Idee des Frontons.«10 Sämtliche klassischen Elemente, selbst etwas vertracktere Architekturglieder wie Triglyphen, findet Laugier hier vorgebildet. Ihre Form und Zusammensetzung sind gleichsam in der Natur angelegt, deren »essentielle« Schönheit in ihrer konstruktiven Logik liegt.11 Architektur entspringt den Prinzipien des Lastens, Tragens und Lastabtragens. Auf dieser Annahme kann die Relevanz und Tauglichkeit von Form rational verhandelt werden. Durand übernimmt das Moment logischer Argumentation bzw. verfolgt diese weiter bis zu dem Punkt, an dem sich die Zwangsläufigkeit tradierter Form auflöst, deren Vorbildhaftigkeit er bestreitet. Demnach zieht Laugier die falschen Schlüsse, wenn er seine Architekturglieder aus konstruktiver Notwendigkeit und Stringenz begründet. Spätestens mit den konstruktiv und strukturell problematischen Triglyphen, auf die er natürlich nicht verzichten will, ist Laugiers Argumentation angreifbar. Durand weist auf die Widersprüche von Form und Modell hin: »Wenn daher die Baumeister, welche die Ordnung erfanden, die Hütte nachzuahmen suchten, so haben sie sie sicherlich sehr schlecht nachgeahmt.«12 Das Konzept archetypischer Formprägung wird somit verworfen. Darüber hinaus greift Laugiers Ansatz konstruktiver Logik zu kurz. Konstruktive Evidenz kann nicht Selbstzweck sein. Durand erweitert den Funktionsbegriff des konstruktiv Tektonischen hin zum Verständnis einer sinnvollen Konstruktion des Ganzen. Sinn, Zweck und Ursprung von Architektur können allein die Sicherung und Befriedigung elementarer Bedürfnisse sein. Begründet ist die Architektur ausschließlich darin, dass sie »dem Menschen die unmittelbarsten, die größten und die zahlreichsten Vortheile gewährt; der Mensch verdankt ihr seine Erhaltung, die Gesellschaft ihr Daseyn, und alle Künste ihre Entstehung und ihre Entwicklung; ohne sie wäre das Menschengeschlecht, preisgegeben aller Strenge der Natur, einzig beschäftigt sich gegen Bedürfniß, Gefahren und Schmerz zu schützen, vielleicht gänzlich von der Oberfläche der Erde verschwunden.«13 Die Aufgaben der Architektur sind ele-

10 Durand: Précis 1831, Band 1, S. 9. Durand übernimmt die Passage wörtlich aus Laugiers Essai sur l’architecture. 11 Vgl. Kruft: Architekturtheorie, S. 170 f. 12 Durand: Précis 1831, Band 1, S. 9 13 Ebd., S. 2

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mentarer Natur, sie sind den Gesellschaft konstituierenden Grundprinzipien der Nützlichkeit wie der Faulheit verpflichtet. Demnach war die Motivation der Menschen immer, »aus den aufgeführten Gebäuden den größten Vortheil zu ziehen, und folglich dieselben auf die am allerwenigst mühsame Art zu bauen, und später, als das Geld der Lohn für die Arbeit geworden, auf die am wenigsten kostspielige Art. Sonach sind Zweckmäßigkeit und Sparsamkeit die Mittel, welche die Baukunst natürlicher Weise anwenden, und die Quellen, worin sie ihre Prinzipien schöpfen muß, die einzigen, die uns bei dem Studium und der Ausübung dieser Kunst zum Führer dienen können.«14 Beides wird in der Konzeption der Urhütte nicht beachtet, weder die Stringenz einer effektiven Konstruktion noch die der Zweckerfüllung. Die Urhütte bietet in ihrer Skelettiertheit weder verlässlichen Schutz vor Sonne, Wind, Regen und Kälte noch Schutz vor der »Wuth der wilden Thiere«15, was allein die elementarsten Aufgaben eines Hauses wären. Daher ist sie im Sinne Durands kein brauchbares Modell und keine gute Architektur. Durand löst die Bewertung von Architektur von der formalen Ebene ab. Überhaupt wird eine architektonische Schöpfung auf der Basis ästhetischer, wenn nicht sogar regelästhetischer Vorgaben abgelehnt. Alles, was nicht unmittelbar von Nutzen ist, – und darunter fällt auch das überlieferte Formvokabular, ist diskreditiert als bloßes Dekor, hier im Sinne des lediglich Applizierten und damit Überflüssigen verstanden. Die Weite und Bedeutungstiefe des vitruvschen Dekorbegriffs ist so verstellt. Für die Gesamterscheinung des Gebäudes ist dieses Überflüssige nicht von Belang, eigentlich schädlich. Albertis Satz, wonach die Qualität eines Gebäudes darin bestehe, dass nichts hinzugefügt noch weggenommen werden könne,16 erhält so eine, – auch wenn diese nicht im Sinne Albertis wäre – ganz neue Bedeutung. Architektur lässt sich jetzt beschreiben als das Verhältnis von Aufwand und Nutzen. 2.1.2 Quantifizierbarkeit Das Verhältnis von Aufwand und Nutzen lässt sich mathematisch als Bruch darstellen. Architektur bzw. deren Qualität kann mit einem Zahlenwert be-

14 Ebd., S. 3 15 Ebd., S. 11 16 Vgl. Alberti: De re aedificatoria, Theuer (Hg.), S. 293

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schrieben werden, sie ist das Ergebnis einer Division. Durand demonstriert eine solche quantitative Beurteilung von Architektur und die Möglichkeiten, die eine solche Bewertung für die Architektur nach sich zieht, an einem Beispiel: Auf der ersten, die Vorlesung begleitenden Bildtafel stellt er das Panthéon-Français einmal so dar, wie es gebaut wurde, und einmal so, wie es nach seiner Meinung besser gebaut worden wäre.

Abb. 22: Jean-Nicolas-Louis Durand, Tafel 1 / I. Teil (Précis, 1819)

Die Wahl des Beispiels ist natürlich nicht beliebig. Es handelt sich um eine der bedeutendsten Baumaßnahmen ihrer Zeit, die ab 1757 als Kirche Sainte Geneviève von Jacques-Germain Soufflot geplant, ab 1764 gebaut und nach der Revolution schließlich als Panthéon fertig gestellt wurde. Das Gebäude ist folglich längst vorhanden, als Durand seinen Gegenentwurf präsentiert, der entsprechend keinen Einfluss mehr auf die bauliche Realität nehmen konnte. Wichtig ist jedoch, dass Soufflots Bau im Architekturdiskurs für eine ganz bestimmte Position steht: »Mit Sainte-Geneviève kam Soufflot Laugiers Ideal eines klassischen Bauwerks von äußerster Stilreinheit [...] ziemlich nahe.«17 Dieser Ansatz ist nicht der Durands, weshalb er Handlungsbedarf erkennt.

17 John Summerson: Die Architektur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1987, S. 59

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In der Gegenüberstellung auf der Bildtafel sieht man im oberen Bildteil die tatsächliche Ausführung, im unteren den Gegenentwurf. Dargestellt sind jeweils Grundriss, Schnitt und Ansicht, – im gleichen Maßstab und in ihrer horizontalen Ausrichtung jeweils direkt vergleichbar. Perspektivische Projektionen, die das räumliche Erscheinen der Bauwerke vermitteln könnten, kommen nicht zur Darstellung. In der in den Textteil der Vorlesungen eingebetteten Beschreibung des gezeigten Beispiels klärt Durand – wie zu erwarten – zunächst funktionelle Aspekte. Er nennt den beiden Projekten gemeinsam zugrunde liegenden Zweck der Bauaufgabe. Dieser ist, da es sich um eine Kirche handelt, die Religionsausübung. Rein physisch sind die Voraussetzungen zu schaffen, »die Menge daselbst zu versammeln«, aber auch ebenso eine dem Ereignis adäquate Stimmung bereitzustellen. »Größe und Pracht sind hiezu die geeigneten Mittel.«18 Das emotionale Erleben wird demnach wie das Bereitstellen von Platz als Funktion erkannt und wird als solche bewertet werden können. Es folgt die Erhebung von Daten. Man könnte die von Durand aufgelisteten Werte folgendermaßen in tabellarische Form bringen:

Grundfläche:

Soufflots Projekt:

Durands Projekt:

As = 3672m2

Ad = 4292 m2

Umfang der Mauern:

Us = 612 m

Ud = 248 m

Anzahl der Säulen:

Ss = 206

Sd = 112

Kosten:

ca. 18 Mio.

Bei Soufflot erscheint, wie Durand anmerkt, aufgrund der gewählten Kreuzform das Innere der Kirche kleiner als es tatsächlich ist. Der Raum als Ganzes kann nicht visuell wirksam werden, da sich »beim Eintritte kaum die Hälfte davon überblicken läßt.«19 Ebenso schränkt die Abtrennung der Haupt-, Seiten-, und Nebenschiffe durch Säulen eine effiziente Nutzung der Grundfläche als Ganzes ein. Zudem sind die Säulen immer wieder durch Mauern verdeckt oder verdecken sich gegenseitig. Für Durand heißt das, dass weder die Funktion der Raumnutzung noch die der prächtigen und großartigen Erscheinung adäquat gelöst ist. Anders bewertet er seinen eigenen Entwurf: Bei ihm ist der gesamte Innenraum vollständig

18 Durand: Précis 1831, Band 1, S. 14 19 Ebd.

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nutzbar, wobei »dessen kleinster Theil auch nicht dem Auge durch irgend etwas entzogen worden wäre.«20 Das Gleiche gilt für das Äußere. Die Wertung erfolgt mit mathematischer Präzision: Durand vergleicht Aufwand und Nutzen, wobei man in deren Quotient21 den Wert des Gebauten bestimmen könnte. Der Aufwand ist dabei ablesbar in der Masse (Dicke x U) der Mauern und der Anzahl der Säulen (S). Als Nutzen zählt die tatsächliche und scheinbare Größe der Grundfläche (A). Dabei meint tatsächliche Größe die Bereitstellung eines bestimmten Quadratmeteranteils pro Besucher. Unter scheinbare Größe wird, als Maß der emotionalen Erlebbarkeit des Raumes, der Umfang des visuell Aufnehmbaren verstanden. In Nenner wie Zähler hat das Projekt von Durand die besseren Werte und er kann den Schluss ziehen, »daß man [bei höherer architektonischer Qualität], mit der Summe, die das erste kostete, zwei Gebäude hätte aufführen können, nicht wie das vorhandene, sondern wie das dafür vorgeschlagene, oder ein einziges Gebäude, welches das doppelte von diesem selbst gewesen wäre.«22 Diese Form der ökonomischen Bewertung ist neu in der Architektur. Nicht, dass in früheren architekturtheoretischen Anleitungen zum Bauen Kosten kein Thema gewesen wären, nur deren Wichtung war eine andere. Ein Gebäude konnte durchaus unökonomisch sein, wenn die Bedeutung der Bauaufgabe eine Ausführung in edlen – und somit teuren – Materialien erforderte. Die Höhe der Kosten erschien dann adäquat zu dessen Gewichtigkeit. Kriterium war die Angemessenheit und auf der Ebene der Baupraxis wurde schlicht auf einen verantwortungsvollen Umgang mit einem gegebenen Etat hingewiesen.23 Bei Durand wird die Frage nach der Ökonomie einer Bauaufgabe nun jedoch zum Form generierenden Moment bzw. schlechte Ökonomie zum Grund, eine Form abzulehnen. Das ist im Kern

20 Ebd., S. 15 21 Um Missverständnissen vorzubeugen: Durand argumentiert quantitativ, er geht selbst jedoch nicht so weit, tatsächlich mathematische Formeln anzugeben. 22 Durand: Précis 1831, Band 1, S. 15 23 Günther Fischer findet diese Forderung bereits bei Vitruv formuliert. Er interpretiert den Begriff der »distributio« in diesem Sinn. Siehe hierzu: Günther Fischer: Vitruv NEU oder Was ist Architektur?, Basel 2009 (Bauwelt Fundamente 141), S. 126 ff. Auch in der Nachfolge Vitruvs fehlen Hinweise auf ökonomisches Handeln nicht. Zu nennen wäre z. B. Alberti: De re aedificatoria, Theuer (Hg.), S. 67 ff.

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bereits die Argumentation der sich ankündigenden industriellen Revolution mit allen damit verbundenen Implikationen, die das 19. und 20. Jahrhundert bestimmen werden und deren Anwendung auf die Architektur nicht singulär bleiben wird.

Abb. 23: Karl Friedrich Schinkel, Skizze gekuppelter Säulen (1827), Fehler der Architektur (Das architektonische Lehrbuch, um 1827)

Ein schönes Beispiel hierzu findet sich in Karl Friedrich Schinkels Lehrbuchprojekt.24 Auch er, als Repräsentant der Durand nachfolgenden Generation, greift auf ökonomische Begründungen in der Formfindung bzw. in

24 Siehe hierzu auch: Julius Posener: Vorlesungen zur Geschichte der neuen Architektur V, in: Arch+ 69/70 (1983), S. 55

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der Bewertung architektonischer Form zurück. Er tut dies jedoch nicht explizit wie Durand, eigentlich findet sich nur ein kurzer Hinweis in einer einzelnen Bildunterschrift. Schinkel notiert in einer vorbereitenden Skizze für die Bildtafeln über »die Fehler der Architektur« zum Beispiel doppelter Säulenstellungen: »Gekuppelte Säulen, eine Säule an dieser Stelle thut dieselben Dienste. Also Verschwendung.«25 Demnach ist es ein Fehler, Doppelsäulen anzuordnen, wenn man stattdessen eine größere, dabei aber trotzdem billigere Säule verwenden könnte. Auch könnte man bei gleichen Kosten eine Säule aus besserem Material aufstellen, man erhielte dann eine schönere Säule. Schinkel zählt noch weitere Fehler, also schlechte Lösungen, auf, die seiner Vorstellung architektonischer Sinnhaftigkeit widersprechen. Er zeichnet sie, aber nur im Fall schlechter Ökonomie ist er in der Lage, den Fehler auch sprachlich präzis zu benennen.26 Das singuläre Beispiel Schinkels zeigt, wie einfach und eingängig sich architektonische Wertvorstellungen ökonomisch argumentieren lassen. Das Verfahren ließe sich auf die Spitze treiben, was Le Corbusier im nächsten Beispiel auch tut.

Abb. 24: Le Corbusier, herkömmliches Steinhaus und Haus aus Stahlbeton oder Stahl (1929)

Es geht um nicht weniger als die Durchsetzung des Neuen Bauens. Le Corbusier bezieht Stellung, er zeigt sich von seiner funktionalistischen Seite und kürzt die Diskussion der 20er Jahre um das Flachdach, die im Grunde

25 Goerd Peschken: Karl Friedrich Schinkel. Das architektonische Lehrbuch, München/Berlin 2001, S. 97 26 Vgl. Joost Meuwissen: Zur Architektur des Wohnens. Karlsruher Vorlesungen 1992/93, Karlsruhe 1995, S. 111 f.

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die Auseinandersetzung zwischen Reaktion und Avantgarde spiegelt, insofern ab, als er das Problem auf eine Gewinn- und Verlustrechnung folgender Form reduziert: »Herkömmliches Steinhaus Terrain bebaut, zugedeckt, verloren: etwa 40% des Stadtgebiets = VERLUST 40% Innenhöfe: etwa 30% Straßenverkehr: etwa 30% Haus aus Stahlbeton oder Stahl [*] Für Stadtverkehr und Häuser verfügbare Fläche .............................

100%

Auf dem Dach gewonnene Fläche ....................................................

40%

Gesamtgewinn

140%

DIFFERENZ: 180%, gewonnen für den Verkehr.«27 [*gemeint ist Le Corbusiers Vorstellung eines Hauses mit freiem Grundriss, auf Stützen vom Boden abgehoben und mit Dachgarten]

Zurück zu Durand. In Ablehnung von symbolischer Form, Konvention und kultureller Überlieferung als Gegenstand der Architekturgestaltung wird eine unbrauchbar erscheinende tradierte Terminologie durch ein »abstraktes und klassifikatorisches Vokabular«28 ersetzt. Nun kann Durand darangehen zu erklären, wie man systematisch und richtig entwirft. 2.1.3 Material und Entmaterialisierung In seinem Lehrbuch beginnt Durand nicht sehr originell. Der I. Abschnitt, I. Teil des Précis handelt von den Materialien und ihren Eigenschaften. Darin folgt Durand vitruvianischer Tradition. Auch Vitruv beginnt, nachdem er im ersten Buch die Rahmenbedingungen dessen, was Architektur sei, abge-

27 Le Corbusier: Feststellungen zu Architektur und Städtebau, Braunschweig 21987 (Bauwelt Fundamente 12), S. 51 28 Werner Szambien: Die Standardisierung der architektonischen Kompositionsverfahren bei J. N. L. Durand, in: Daidalos 35 (1990), S. 42

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steckt hat, mit der Beschreibung »zum Bauen von Häusern geeigneter Baustoffe [...] wie sie von der Schöpferkraft der Natur hervorgebracht zu sein scheinen.«29 Es erscheint ganz natürlich, ein Buch über das Bauen mit den Materialien zu beginnen, aus denen dann Schritt für Schritt Häuser entstehen. Vitruv sortiert und beschreibt in jeweils einem eigenen Kapitel30 die ihm bekannten Materialien nach deren physikalischen und chemischen Eigenschaften, ihrem Vorkommen sowie deren sinnvollem bautechnischen Einsatz. Dieses Schema findet sich in Folge auch bei Alberti. Es wird weitgehend in De re aedificatoria übernommen und dabei lediglich auf den aktuellen Wissensstand gebracht. Bei Durand verhält es sich nun jedoch anders. Er beginnt zwar ebenfalls mit der Frage nach den Baumaterialien, stellt diese jedoch anders. Er unterscheidet nicht konkrete Materialien. Diese und deren spezifische Eigenschaften werden erst im angehängten Fußnotenteil behandelt.31 Stattdessen sortiert Durand die Materialien zunächst nach rein ökonomischen Kriterien. Dabei schlägt er drei Klassen von Baustoffen vor: • • •

Die teuren Materialien, »jene, welche hart, langwierig und mühsam zu bearbeiten, und darum sehr theuer sind« Die günstigen Materialien, »jene, welche weicher, leichter zu bearbeiten, und auch wohlfeiler sind« »Endlich jene, welche eigentlich nur zur Verbindung der anderen Materialien dienen«32

29 Vgl. Vitruv: De architectura, Fensterbusch (Hg.), II. Buch, I. Kapitel, S. 85 30 III. Kapitel »Über die Ziegel«, IV. Kapitel »Vom Sande«, V. Kapitel »Vom Kalk«, VI. Kapitel »Über Puteolanerde«, VII. Kapitel »Von den Steinbrüchen«, VIII. Kapitel »Die Arten des Mauerwerks«, IX. Kapitel »Vom Bauholz«, X. Kapitel »Die Obermeer- und die Untermeertanne« 31 Vgl. Durand: Précis 1831, Band 1, S. 65 ff. Am Ende des ersten Bandes erfolgt die Sortierung nach Materialien: Bei den Steinen unterscheidet Durand Marmore, harte Steine und weiche Steine. Innerhalb dieser Gliederung folgt die Aufzählung der Steinarten, deren Vorkommen, Eigenschaften und Verwendbarkeit. Entsprechend folgen Hölzer und Holzarten sowie Verbindungsstoffe wie Kalk, Zement, Mörtel, Eisen, etc. 32 Ebd., S. 23

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Das ist neu und bemerkenswert. Diese Einteilung bleibt für die Architektur nicht folgenlos, zumal Durand zuvor anmerkt: »Die verschiedenen Elemente der Gebäude werden aus verschiedenen Materialien konstruiert, deren Formen und Verhältnisse folglich verschieden sind.«33 Es ist der Einfluss des Materials bzw. der Materialwahl, die das Aussehen von Architektur bestimmt, nicht eine ikonographische oder historisch-mythologische Herleitung. Man könnte folgern, das Material an sich, schließe schon die potentielle Form eines später daraus zu errichtenden Gebäudes ein. In diesem Sinn könnte die Stelle interpretiert werden, in der Durand von den Materialien spricht, die »sich durch die Dimension oder durch die Form oder durch die Farbe von einander untersch[ei]den, und [ausführt] daß, wenn man sie [die Materialien] zweckmäßig anwendet, sie von selber beitragen müssen, den Gebäuden, so wie den verschiedenen Theilen eines jeden Gebäudes, die Wirkung, die Mannichfaltigkeit und den Karakter zu geben, welcher ihnen zukommt.«34 Wesentlich ist dabei der Passus über die zweckmäßige Anwendung. Durand versteht diese vor allem ökonomisch, auch wenn das nicht sofort deutlich wird, wenn er einfordert, das Material so zu verwenden, wie es seiner physikalischen und morphologischen Natur und den sich daraus ergebenden sinnvollen Konstruktionen entspricht. Kriterium der Beurteilung wäre dann zunächst die Frage nach der Materialgerechtigkeit, wie sie an Hand des Beispiels »alter offener Dachstühle« von Durand im I. Teil, II. Abschnitt »Anwendung der Materialien bei der Konstruktion der verschiedenen Elemente von Gebäuden« gestellt und beantwortet wird: »Man machte ehemals alle Decken mit sichtbarer Holzkonstruktion, und überklebte nur die Zwischenstücke. Von dieser Art macht man kaum noch bei unbedeutenden Gebäuden eine Anwendung. Seitdem sich die Ideen von architektonischer Verzierung verbreitet haben, betrachtet man das Offenliegen der Holzstücke, welche eine Decke ausmachen und welche die Festigkeit derselben bezeugen, als unedel. Man verkleidet sie lieber mit Gips-Plafonds, welche, während sie die Kosten vermehren, die Decken versticken, so daß sie oft kurze Zeit nach ihrer Verfertigung schon wieder neu gemacht werden müssen, um größern Uebeln auszuweichen. Und doch, welch ein Unterschied ist nicht zwischen dem eintönigen, kalten und abstoßenden Anblicke einer Gipsdecke und dem so beruhigenden, so anziehenden und so mann-

33 Ebd. 34 Durand: Précis 1831, Band 2, S. VI

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ichfaltigen Aussehen jener majestätischen alten Plafonds, woran die Träger und die, die Gefache bildenden Bodenbalken mit größter Sorgfalt gearbeitet, und gegen Feuchtigkeit und Ungeziefer durch Anbringung der schönsten Farben gesichert waren! Man darf nur die noch in einigen alten Schlössern vorhandenen getäfelten Decken mit unsern modernen Plafonds vergleichen, um zu sehen, wie sehr man sich in diesem Stücke, indem man der Schönheit nachlief, wirklich von ihr entfernte.«35

Was richtig ist und was falsch, erscheint offensichtlich. Die alte Art zu bauen36 entspricht der inneren Logik des verwendeten Materials. Durand verweist auf die materialtypische Konstruktion, er spricht von »Trägern« und »Gefachen«. Diese liegen offen, wodurch sie von Luft umspült, dauerhaft trocken und haltbar sind. Sie sind zudem sorgfältig gearbeitet und mit schützenden Farben überzogen. Dieser Art zu bauen wird die ungesunde, kurzlebige und eigentlich widersinnige »moderne« Konstruktion gegenübergestellt, die darüber hinaus auch ästhetisch mangelhaft erscheint. Durand nennt sie »eintönig«, »kalt« und »von abstoßendem Anblick«. Interessant ist, dass er hier seine Ablehnung nicht nur technisch mit objektiven Unzulänglichkeiten begründet, sondern darüber hinaus das subjektive Moment der Wirkung auf die Sinneseindrücke ins Spiel bringt. Durand beschreibt Empfindungen, die ein wahrnehmendes Gegenüber zur Architektur voraussetzen. Entsprechend zeigt das Gegenmodell einer materialgerechten Ausführung nicht nur ihre konstruktive Richtigkeit an, sondern sie bietet auch kleine sensuelle Sensationen. Die nun positiv konnotierten visuellen, haptischen und taktilen Qualitäten des Materials binden wiederum das Subjekt in seiner körperlichen Existenz ein. Erst in der Wahrnehmungssituation werden sie wirksam. Die beruhigende, anziehende und überraschende Wirkung einer so begründeten Architektur findet im Hier und Jetzt in der Aktualisierung konkreter Situationen statt. Das wäre eine komplett andere Art, Architektur zu denken. Doch eine solche Interpretation erscheint voreilig. Durands Ansatz ist noch radikaler. Wie sich im Folgenden noch verstärkt zeigen wird, ist Durand an einer möglichst allgemeinen Formulierung von Architektur interessiert, nicht an

35 Durand: Précis 1831, Band 1, S. 28 36 Durand ist nicht an einer historischen Aufarbeitung der Architektur interessiert. Wichtiger ist ihm der Hinweis auf unbedeutende, vernakuläre Gebäude, d. h. Gebäude des Gebrauchs, nicht der Repräsentation.

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einer spezifischen. Es geht ihm nicht um das Besondere, nicht um spezifische Situationen, nicht um die Betrachtung eines konkreten Augenblicks mit allen Problemen und Missverständnissen, die dabei entstehen könnten. Er zielt auch nicht auf eine Problematisierung von Architektur ab, sondern darauf, einen Weg aufzuzeigen, wie Probleme gelöst werden können. Es handelt sich bei dem Précis ja um ein Lehrbuch, das Studierende in die Lage versetzen soll, jenseits subjektiver Empfindungen eindeutige und rational begründete Lösungen zu entwickeln. Der Hinweis auf die Kosten, der auch im angeführten Beispiel der offenen Dachstühle nicht fehlen darf, könnte andeuten, worauf Durand hinaus will. Nach Durands Argumentation ist eine Architektur, die innerhalb der Logik des Materials agiert, konstruktiv und ästhetisch korrekt, wobei eine ästhetische Beurteilung im Speziellen gar nicht mehr nötig ist, da Durand die Frage nach der Schönheit bereits mit der Frage nach den Kosten synchronisiert hat. Die richtige Lösung ist immer auch die günstigste. Es bedarf nur noch der passenden Auswahl.

Abb. 25: Jean-Nicolas-Louis Durand, Tafel 3 / I. Teil (Précis, 1819)

In den Bildtafeln 3 und 4 im ersten Buchteil stellt Durand Konstruktionen dar. Die erste der beiden Tafeln zeigt die Konstruktion eines Hauses im Grundriss, in verschiedenen Ansichten und im Teilschnitt. Im Zentrum

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steht ein einfacher Skelettbau. Die Bildunterschrift nennt Mauern, Holzwände, Säulen, Stürze, etc., d. h. die wesentlichen vertikalen Konstruktionsglieder. Dagegen listet die nächste Tafel horizontale Konstruktionen auf. In vertikalen Spalten sieht man Böden, Gewölbe und Dächer, alternativ in verschiedenen Materialien ausgeführt. Der Aufbau ist jeweils deutlich sichtbar. Gezeigt werden die für Konstruktion und Materialwahl charakteristischen Ansichten als Horizontal- und/oder Vertikalschnitt, wobei nur das im jeweiligen System unbedingt Notwendige dargestellt wird, dieses jedoch präzis. Details, wie Steinschnitt bzw. Ziegelanordnung oder Balkenlage, lassen direkt die Art der Herstellung wie auch das Tragverhalten, das statische System, erkennen. Verschiedene Schnitttiefen in einer Zeichnung, beispielsweise in der des Gewölbes unten links, die parallel die Ebenen der Wölbungsschale, der Schüttung und der Aussteifungsrippen zeigt, verdeutlichen dies. Hier zeigt sich wie in allen Zeichnungen, dass der Zusammenhang von Material und der konkreten Form, in der die Konstruktion letztendlich erscheint, nicht beliebig ist.

Abb. 26: Jean-Nicolas-Louis Durand, Tafel 4 / I. Teil (Précis, 1819)

Die Möglichkeiten des Materials führen zu spezifischen Ausführungen: stabförmige Holzbalken zu Skelettkonstruktionen, Ziegel zu Mauerschichtungen und -schalen, Steinschnitt zu Wölbformen. Mischformen, Hybride

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und Bastarde,37 sind nicht vorgesehen. Die hinsichtlich Material, Konstruktion und Form abgestimmten Einheiten sind elementar und eindeutig. Jede für sich folgt den Prinzipien materialgerechten Bauens, wie es am Beispiel offener Dachstühle »in Schlössern« und »unbedeutenden Gebäuden« eingefordert wurde. Dabei stellen alle Möglichkeiten jeweils völlig brauchbare Lösungen für gleiche Problemstellungen dar. Man kann eine Decke oder ein Dach gleichermaßen als Konstruktion mit Holzbalken, als Ziegelbogen oder als Steingewölbe ausführen. Alle diese Ausführungen sind zunächst gleichwertig, sie stehen gleichberechtigt nebeneinander. In diesem Sinn könnte man Tafel 3 lesen: Das dargestellte Gebäude kann alternativ in Natursteinmauerwerk, Ziegelbauweise oder Holzständerbauweise errichtet werden. Die Organisation des Grundrisses, die Fensterteilung, die Gebäudeform und deren Abmessungen bleiben gleich, auch wenn sich die materielle Ausführung ändert. Die Fassaden zeigen wieder deutlich ihr Entstehen und Tragverhalten. Aber bis auf die verschiedene Konstruktion und geringfügige materialspezifische Modifikationen, wie Fenster- und Eckeinfassungen, gewölbte Fenster oder Portikusvariationen, sind sie doch so ähnlich, dass jede von ihnen eine glaubhafte und auch sinnvolle Lösung zum gegebenen Grundriss darstellt. Die Form der Darstellung oder die Anordnung auf der Tafel lässt keine Präferenz Durands erkennen. Durand gibt auch keinen Hinweis mehr auf die Wirkung, die eine bestimmte Art der Ausführung mit sich bringt, im Sinne eines bestimmten Charakters, der Aussagen über Besonderheiten der Nutzung oder des Bewohners zulässt. Die einzige Aussage, die sich herauslesen lässt, ist eine ökonomische. Die Entscheidung, welches Material letztendlich gewählt werden soll, ist – auch so könnte man Tafel 3 deuten – nach dessen Verfügbarkeit zu treffen. Je nach der konkreten örtlichen Situation kann dies Haustein, Bruchstein, Ziegel oder Holz sein. Von diesen Materialien sollte man dann das jeweils günstigste nehmen.

37 Gemeint ist eine Baupraxis, in der Holz zu Marmor wird und dieser zu Gips. Der Gips wiederum wird zu Stuck, welcher wie Marmor aussieht. Ebenso abgelehnt werden Anstrengungen, flache Decken so auszuführen, dass sie als Gewölbe erscheinen, und Ausmalungen von Wölbungen, in denen diese offener Himmel sein wollen, etc. Dabei handelt es sich allesamt um Bauverfahren und Gestaltungen, die bis in die Zeit Durands und darüber hinaus durchaus allgegenwärtig waren.

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Gewissermaßen paradox ist nun, wie eine von Durand eingeforderte Praxis materialgerechten Bauens dessen Entmaterialisierung bewirkt. Auch wenn Durand, ausgehend von der konkreten materiellen Beschaffenheit gewählter Baumaterialien, von diesen ganz spezifische konstruktive Möglichkeiten ableitet, vollzieht sich der eigentliche Entwurfsprozess erstaunlich unabhängig von Materialvorgabe und Materialwahl. Die Belange der Funktionserfüllung, die Organisation des Hauses, dessen funktionelle Disposition sowie Raum- und Flächenaufteilungen, bleiben von Konstruktion und Material unberührt. Der gewählte Typus ändert sich nicht. Neben der Frage nach der Verfügbarkeit bestimmter Materialien, die sich dann in eine funktional entwickelte Struktur einpassen lassen, kann die Wahl von Materialien jedoch auch als Ausgangsmoment der Entwicklung baulicher Strukturen herangezogen werden. Abzuwägen sind einerseits der Aufwand – die Verwendung von teuren und haltbaren, aber arbeitsintensiven Materialien oder günstigen, jedoch weniger haltbaren – und andererseits die an die Bauaufgabe gestellten Anforderungen. Demnach wäre ein Privatgebäude anders zu behandeln als ein öffentliches. Im ersten Fall steht das natürlich beschränkte Budget im Vordergrund. Durand argumentiert wieder konstruktiv-ökonomisch, wenn er dies am Beispiel der für diesen Fall zu konzipierenden Tragkonstruktionen ausführt: Demnach macht man hier eine Stütze »natürlicherweise aus dem Material, was am wenigsten theuer ist«, und »um ihre Anzahl [die der Stützen] zu verringern, wird man sie so weit als möglich auseinander stellen.«38 Zu beachten ist dabei Durands Definition, wonach günstiges Material gleich weniger tragfähiges Material ist. »Man wird deßhalb jene Stützen sehr kurz machen, um ihre Kraft zu verstärken, und aus demselben Grunde macht man sie vielleicht viereckig, anstatt ihnen eine runde Form zu geben.«39 Das Beispiel zeigt, dass eine durchgängige ökonomische Argumentation in der Lage ist, die innere Struktur eines Gebäudes, dessen Stützraster – und Durand denkt, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, an Raster – und dessen Längen-, Tiefenund Höhenentwicklung festzulegen. Ökonomie bedeutet neben der baulichen bzw. funktionellen Optimierung eines gegebenen Budgets ebenso das Abwägen der Nutzungsdauer eines zu errichtenden Gebäudes im Verhältnis zu dessen Errichtungsaufwand. Damit ist die Frage der Nachhaltigkeit

38 Durand: Précis 1831, Band 1, S. 34 39 Ebd.

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Thema. Nach Durand wird man im Gegensatz zu privaten Bauaufgaben »umgekehrt [...] bei öffentlichen Gebäuden [...] und wo die Dauerhaftigkeit nicht nur aus allgemeinen Schicklichkeitsgründen geboten wird, sondern auch aus Sparsamkeit, weil es keine Ersparniß ist dergleichen Gebäude wieder aufzuführen, jene Materialien anwenden, welche am meisten Widerstand leisten.«40 Folgerichtig werden sich daraus eine andere Form, andere Abmessungen und andere Breiten-, Tiefen- und Höhenverhältnisse ergeben. Ganz so eindeutig, wie hier ausgeführt, sind die Anweisungen Durands allerdings nicht, da »zwischen diesen beiden Klassen von Gebäuden [den öffentlichen und den privaten], es eine Menge anderer gäbe, bei denen es natürlich wäre, beide Gattungen von Materialien [die teuren und die günstigen] zumal anzuwenden.«41 Die Kombinationsmöglichkeiten der Klassen untereinander und in Zwischenbereichen folgen natürlich weiterhin der Prämisse ökonomischer Optimierung. Die Überlegung, dass nicht alle Teile eines Gebäudes gleichermaßen beansprucht sind, ermöglicht die Trennung in tragende und nur füllende Bauteile. Folglich sind »die harten Materialien bei den Theilen anzuwenden, welche Gerippe bilden, als bei den Ecken der Gebäude, bei den Thür- Fenster- und Bogenpfeilern, bei den senkrechten Verstärkungen, welche die Anfänge der Gewölbe oder die Auflager der Hauptbalken tragen, bei Verstärkungen, welche man da anbringt, wo Haupt- und Scheidemauern zusammenstoßen bei den verschiedenen freistehenden Stützen, dann noch bei den horizontalen Verstärkungen, welche, indem sie alle Theile verbinden, deren Dauer verbürgen.«42 Die restlichen Teile können, da keine besonderen Anforderungen an sie gestellt werden, gut in günstigen Materialien ausgeführt werden. Dies ist nicht nur vernünftig, es sieht auch vernünftig aus. Durands Vorgehen erweist sich somit als gestaltprägend und er ist zufrieden damit, »daß aus dieser Anordnung der Materialien eine Masse mannichfaltiger architektonischer Verziehrungen entstehe, welche alle geeignet sind, Augen und Gemüth gleichmäßig zu befriedigen.«43 Wie schon erwähnt, geht es Durand nicht um den situativen Eindruck auf Augen und Gemüt. Die konkrete Wahrnehmungssituation ist kein Parameter des Entwurfs. Vielmehr ist die ästhetisch befriedigende Ge-

40 Ebd., S. 35 41 Durand: Précis 1831, Band 2, S. VI 42 Ebd. 43 Ebd., S. VII

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stalt das zwangsläufige Ergebnis eines objektivierten und reproduzierbaren Entwerfens.

Abb. 27: Das Abhängigkeitsverhältnis von Stützen, Achsen und Raster

Auch hier kann man eine im Ergebnis entmaterialisierte, abstrakte Betrachtungsweise herauslesen. Durand betont, es sei notwendig, die Materialwahl in Abstimmung mit den jeweiligen Nutzungen zu treffen, um bestimmte Stützweiten festzulegen. Konkret spricht er von punktueller Lastabtragung in Form von Stützen und horizontaler Lastabtragung zwischen den Stützen. Um flächig wirksam und somit auch funktional als Nutzfläche verwertbar zu werden, ist es zwangsläufig notwendig, sich diese Struktur von Stützen mit definiertem Abstand zueinander in zwei Richtungen ausgedehnt zu denken. Man erhält Längs- und Querachsen, es entsteht das Bild eines Rasters. Das bedeutet, dass sich ein Gebäude jetzt in seiner Struktur als Raster, d. h. abstrakt geometrisch, beschreiben lässt, auch wenn Durand an den Anfang seiner Überlegungen Fragen der Materialwahl stellt. Die materielle Realisierung des Gebäudes ist nur noch ein konstruktives Problem, das – wie gezeigt – alternativ, je nach Verfügbarkeit des Materials gelöst werden kann. Grundsätzliche Entscheidungen der Organisation werden unabhängig davon getroffen. In die gleiche Richtung führen Überlegungen, ein Bauwerk nicht als homogenes monolithisch Ganzes zu verstehen, sondern Möglichkeiten zu dessen konstruktiver Trennung in Teile anzubieten. Wie bereits beschrieben lassen sich Teile, die konstruktiv wirksam sind und daher materiell hochwertig auszuführen sind, von Teilen unterscheiden, die lediglich ausfüllende Funktion haben und an deren materiellem Vollzug dann entsprechend gespart werden kann. Dieses Verständnis von Teilen und Teilen dazwischen befördert ein Denken in Achsen, bei dem das Ge-

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bäude folglich als abstrakt geometrische Struktur verstanden wird. Materialien sind lediglich detailprägend und innerhalb der Gesamtstruktur immer austauschbar. 2.1.4 Zusammengesetztheit. Entwurfslehre und -methodik Diese Auffassung von Architektur als etwas Zusammengesetztes ist ganz wesentlich. Nicht nur konstruktiv lassen sich bestimmte Bauteile mit bestimmten Aufgaben isolieren, die dann jeweils einzeln gelöst werden können. Durand macht dieses Prinzip zur Grundlage seines Lehrbuches. Er zerlegt die Komplexität des Bauens in Teilprobleme. Erst so ist er überhaupt in der Lage, Architektur in Form eines überschaubaren Curriculums lehrbar zu machen. Der Studierende erfährt Schritt für Schritt, wie sich Architektur – beginnend mit dem Einfachen, hin zu immer vielschichtigeren Einheiten – zusammensetzt. Das Behandelte und somit Bekannte leitet jeweils zum vorerst noch Unbekannten über. »Ein Begriff bereitet stets auf den nachfolgenden vor, und dieser erinnert hinwieder an den ihm vorhergegangenen.«44 Nicht nur die Architektur selbst, das Gebaute, verpflichtet Durand auf das Primat des Ökonomischen. Auch seine Architekturlehre und – wie zu sehen sein wird – seine Methode des Entwerfens sind effizient. Widersprüchliches ist eliminiert, Kompliziertes vereinfacht und, um methodische Umwege zu umgehen, ist das Vorgehen linear und hierarchisch. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis des Précis zeigt dies deutlich: Band 1 I. Teil:

Elemente der Gebäude. Von den Baumaterialien, von ihrer Verwendung, von den Formen und Verhältnissen

I.

Abschnitt:Eigenschaften der Materialien

II. Abschnitt:Anwendung der Materialien bei der Konstruktion der verschiedenen Gebäude-Elemente III. Abschnitt:Formen und Verhältnisse der verschiedenen Gebäudeelemente

44 Ebd., S. III

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II. Teil:

Erfindung. Verbindung der Elemente der Gebäude. – Bildung der Theile der Gebäude. – Ganze Gebäude. – Gang, welcher bei Erfindung irgend eines Projektes zu befolgen ist. – Geist, in welchem alle Bauprojekte gedacht werden müssen

I.

Abschnitt:Verbindung der Elemente der Gebäude

II. Abschnitt:Bildung der Theile der Gebäude III. Abschnitt:Ganze Gebäude45 Band 2 III. Teil: Prüfung der hauptsächlichsten Gattungen von Gebäuden I.

Abschnitt:Von den hauptsächlichsten Theilen der Städte. Von den Theilen der Städte, welche zur Kommunikation der übrigen dienen

II. Abschnitt:Von den öffentlichen Gebäuden III. Abschnitt:Von den Privatgebäuden46

Bis hin zur Stadt, die sich wiederum aus Teilen, den öffentlichen und den privaten Gebäuden, zusammensetzt, wird alles geradlinig und folgerichtig erklärt. Jeder Schritt, vom Elementaren zum zusammengesetzt Komplizierten, folgt der didaktischen Absicht der Einfachheit und Verständlichkeit. In umgekehrter Reihenfolge lässt sich diese Entwurfslehre als Entwurfsmethodik lesen.47 Mit ihr ist jede Bauaufgabe methodisch handhabbar: Je nach seiner Notwendigkeit ist Teil für Teil zu entwickeln. Dabei müssen die Teile nicht erst neu erfunden werden, sie sind bereits architektonisch vorgezeichnet. Der entwerfende Architekt kann auf die systematische Beschreibung der Gebäudeelemente und Gebäudeteile zurückgreifen, wie sie im Précis aufgeführt und insbesondere im Tafelwerk bildlich dargestellt sind.

45 Vgl. Durand: Précis 1831, Band 1, S. 79 ff. 46 Vgl. Durand: Précis 1831, Band 2, S. 51 f. 47 »Die verschiedenen Elemente unter sich verbinden, sodann zu den verschiedenen Theilen der Gebäude übergehen, und von diesen Theilen zum Ganzen; dies ist der Weg, dem man folgen muß, wenn man erfinden lernen will; allein wenn man wirklich erfindet, muß man mit dem Ganzen beginnen, mit den Theilen fortfahren, und bei den Einzelheiten endigen.« Durand: Précis 1831, Band 1, S. 59

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Abb. 28: Jean-Nicolas-Louis Durand, Tafel 1 / II. Teil (Précis, 1819)

Nach den Tafeln im ersten Teil, die zeigen, wie Säulen, Wände, Öffnungen, Decken, etc. aussehen, bieten die Tafeln des zweiten Teils eine Zusammenstellung von Möglichkeiten der Horizontal- wie Vertikalverbindung besagter Elemente sowie einen Katalog der wesentlichen Gebäudeteile. Durand unterscheidet Vorhallen, Eingangshallen, Treppen, Säle, Galerien, Höfe, etc. Dabei werden jeweils Varianten von Lösungen angeboten, jedoch nicht im Sinne fertiger Vorlagen, wie das die Musterbücher des 16. und 17. Jahrhunderts taten. Auch wäre es voreilig, von Typen zu sprechen. Was Durand anbietet, scheint rückblickend wenig Verbindliches zu haben. Durands Aufzählungen der Elemente, der Bauteile und der Gebäudetypologien im zweiten Band erscheinen zwangsläufig unvollständig und seine Auswahl begrenzt. Trotzdem, was Durand leistet, sind erste Ansätze einer Klassifizierung. Seine Arbeit ist zu vergleichen mit den zeitgenössischen Bemühungen in den Biowissenschaften,48 die Fülle der Lebewesen zu unterscheiden, diese in Säugetiere, Vögel, Reptilien, Amphibien etc. zu sortieren, um

48 Vgl. Antoine Picon: From »Poetry of Art« to Method. The Theory of JeanNicolas-Louis Durand, in: Jean-Nicolas-Louis Durand: Précis of the Lecture on Architecture, Antoine Picon (Hg.), Los Angeles 2000, S. 45 ff.

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Abb. 29: Jean-Nicolas-Louis Durand, Tafel 10 / II. Teil (Précis, 1819)

sie weiter hierarchisch nach Arten und in Untergruppen aufzugliedern. Durand zeigt entsprechend – unterschieden nach öffentlichen und privaten Bauaufgaben – typologische Gruppen, verschiedene Bauteile und Elemente. Dabei geht es weniger darum, architektonische Form im evolutionären Sinn herzuleiten,49 als vielmehr in sinnvoller Gliederung eine Sammlung von logisch hergeleiteten und nachvollziehbaren Formulierungen zu bieten. Die Ergebnisse dieser Listen sind vergleichbar. Sie sind vergleichbar gemacht durch Abbildungen im jeweils gleichen Maßstab und seriell gleicher Darstellung. Noch deutlicher zu sehen ist Durands Absicht, typologische Übersichten zu bieten, in dem dem Précis vorausgehenden Tafelwerk »Recueil et parallèle des édifices de tout genre anciens et modernes«. Durand bietet darin eine Zusammenstellung sämtlicher bekannter und als wichtig eingestufter Bauwerke. Er ordnet diese Bauwerke ausschließlich nach typologischen Gesichtspunkten. Gebäude gleicher funktionaler Bestimmung werden unabhängig von Orts-, Zeit- und Stildifferenzen nebeneinander gestellt. Zu Klassen sortiert, werden Tafeln mit Sakralgebäuden, Rathäusern, Gerichts-

49 Vgl. zu vordarwinistischen Klassifikationen: Julia Voss: Darwins Bilder, Frankfurt 2007

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gebäuden, Bibliotheken, Sportstätten, etc. vorgestellt. Auch hier bestimmt die Forderung nach Vergleichbarkeit die Art der Darstellung: Jedes Bauwerk ist möglichst in einem charakteristischen Grundriss und einer zugeordneten Frontalansicht abgebildet.

Abb. 30: Jean-Nicolas-Louis Durand, Triumphbögen und Tore, Tafel 21 (Recueil, 1801/02)

Wenn notwendig, wird die Darstellung durch wesentliche orthogonale Schnitte ergänzt. Alle Grundrisse sind im gleichen Maßstab gezeichnet, die Ansichten bzw. die Schnitte, der Anschaulichkeit halber, doppelt so groß. Darüber hinaus sind die verschiedenen Gebäude nicht nur gleichmaßstäblich, sondern unabhängig von stilistischen Eigenheiten auch gleich gezeichnet: Geschnittene Teile sind geschwärzt und die Ansichten als nüchterne Strichgraphik ausgeführt. Die Illustration verfolgt, indem sie sich diesen Schematisierungen unterwirft, eine Klassifikation nach Typen gemäß

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deren allgemeiner Charakteristika. Spezielle Charakteristika ursprünglich ganz unterschiedlicher Architekturen werden zugunsten der Systemkonformität unterdrückt. Dabei ist das System natürlich das System Durands. Die Gebäude sind dahingehend idealisiert, dass sie im System aufgehen, d. h. sie sind so weit wie möglich orthogonal, symmetrisch und regelmäßig. Es handelt sich hier nicht um Bauaufnahmen. Systemabweichungen der tatsächlichen Gebäude werden in der Darstellung beiläufig korrigiert. Indem so die Spuren, die Hinweise auf den Kontext des Entstehens eines Bauwerks und seiner kulturellen Bedingtheit geben könnten, getilgt sind, ist eine ahistorische Betrachtung von Architektur möglich. Gleichberechtigt stehen Beispiele nebeneinander. Klassifiziert und geordnet nach Funktionen, bilden sie einen Katalog möglicher Lösungen eines Problems, einer an ein Bauwerk gestellten Aufgabe. Nun kann der nächste Schritt erfolgen. 2.1.5 Komposition und Raster Nachdem Durand nun Architektur in eine Summe von Teilproblemen und Teilen aufgeschlüsselt hat, geht es im Folgenden darum, wie diese sich wieder zu einem Ganzen zusammensetzen lassen. Entsprechend dem Anforderungsprofil ist zu entscheiden, welche Teile in welcher Anzahl zu wählen sind. Offen ist dann nur noch die konkrete Anordnung der Teile. »Je nach der Bestimmung des Gebäudes« ist zu entscheiden, ob die Nutzung »einen oder mehrere Baukörper« erfordert, diese »vereinigt oder getrennt« anzuordnen sind und der oder die Körper dann »massiv oder durch Höfe zu gliedern« sind. Außerdem muss geklärt werden, ob das Gebäude »öffentlich zugänglich«, »abgesondert, monofunktional« oder aus »verschiedenen Teilen mit verschiedener Nutzung« zusammengesetzt sein soll, und entsprechend die Teile »homogen oder heterogen« zu behandeln sind. Nach dieser grundsätzlichen Beschreibung eines Rahmens folgt dessen strukturelle Gliederung: die Klärung der Hierarchie von »Haupt- und Nebenteilen«, die Festlegung von deren jeweiliger »Anzahl, Größe und Lage zueinander« sowie die Angabe der »Anzahl der Geschosse«, gemeinsam oder getrennt nach Bauteilen.50 Ohne dass Durand es explizit beschreibt, ließe sich aus diesen Fragestellungen ein Funktionsdiagramm erstellen. Durand aber spricht lediglich von einer »flüchtigen Skizze«, die die »ge-

50 Vgl. Durand: Précis 1831, Band 1, S. 59 f.

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fassten Ideen fixiert«.51 Allerdings, ein Diagramm oder eine flüchtige Skizze funktionaler Abhängigkeiten bildet noch keine architektonische Form. Wie zu erwarten, kann bei Durand der Schritt vom Schema zur Form kein beliebiger sein. Man könnte behaupten, dass analog zur Sprache, die aus Zeichen und Wörtern bestehenden, auch die Anordnung architektonischer Elemente und Teile einem feststehenden Regelsatz unterliegt. Die Syntax, die Durand anbietet, ist denkbar einfach, sie beschränkt sich auf die Modifikationen, die sich aus der Addition, Multiplikation und Teilung der Grundformen Quadrat und Kreis ergeben. Ganz ähnliche formale Vorgaben sind auch bei Alberti zu finden, werden in der humanistischen Tradition gepflegt und lassen sich bis hin zu Vitruv zurückverfolgen. Während jedoch dort das geometrische System metaphysisch begründet wird, argumentiert Durand ausschließlich ökonomisch. Dass ein formales Ordnungssystem, das auf der Geometrie des Quadrats und des Kreises basiert, das wirtschaftlichste ist, beweist er an der Geometrie des Quadrats selbst: Er führt aus, dass ein Quadrat – bei gleicher Fläche – weniger Umfang hat als ein Rechteck. Noch günstiger ist das Verhältnis von Fläche und Umfang bei den runden Formen. Diese Erkenntnis verallgemeinert Durand sofort, um daraus eine allgemeine Vorschrift zu formulieren: »[Da] in der Absicht auf Symmetrie, Regelmäßigkeit und Einfachheit die Form des Quadrates über der Form des Rechteckes steht, und unter jener des Kreises, so ist leicht daraus zu folgern, daß ein Gebäude um so weniger kostspielig seyn wird, je symmetrischer, regelmäßiger und je einfacher es ist. [...] Dies sind die allgemeinen Prinzipien, welche überall und zu allen Zeiten, wenn es sich um die Aufführung von Gebäuden handelte, die vernünftigen Menschen leiten mußten; und dies sind in der That auch die Gundsätze, nach denen jene antiken Gebäude erdacht sind, welche am allgemeinsten und mit dem größten Recht bewundert werden; wovon man sich in der Folge überzeugen wird.«52

Ob das von Durand im Folgenden propagierte System wirklich mit antiken Systemen identisch ist, wird noch zu untersuchen sein. Durand behauptet jedenfalls Gültigkeit jenseits zeitlicher, konventioneller und kultureller Ab-

51 Vgl. ebd., S. 60 52 Ebd., S. 4

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hängigkeiten. Ein Zuwiderhandeln dagegen wäre gegen die Natur des Menschen, der ja als vernunftbegabtes Wesen vorausgesetzt wird. Damit erscheint Durands Ansatz ausreichend legitimiert.

Abb. 31: Jean-Nicolas-Louis Durand, Tafel 20 / II. Teil (Précis, 1821)

Auf Tafel 20 / II. Teil führt Durand die Möglichkeiten syntaktischer Variation vor. Es handelt sich dabei um das systematischste und schematischste Blatt im ganzen Tafelwerk, dargestellt sind nur Geometrien. Ein direkter Bezug zur Architektur fehlt noch, woraus man schließen könnte, dass hier tatsächlich das der architektonischen Komposition zugrundeliegende Schema ausgebreitet wird. In neun Spalten und acht Zeilen entwickelt Durand – der üblichen Leserichtung, von links nach rechts und von oben nach unten folgend – ausgehend vom Quadrat (Zeile 1, Spalte 1) bzw. dem Kreis (Zeile 1, Spalte 7) das ganze Spektrum möglicher Konfiguration, das sich aus der Teilung, Reihung und Addition der Grundformen ergibt. Sind in der obersten Zeile jeweils wesentliche Teilungen vorgestellt, entwickeln sich diese in der Spaltentiefe zu zunehmend komplexen Gebilden, bis hin zur Extraktion daraus ableitbarer Achssysteme. Das ist alles, was Durand zur formalen Grundlegung zeigt, wobei selbst diese Tafel nicht in allen Ausgaben erscheint. Alternativ stellt Durand eine

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Abb. 32: Jean-Nicolas-Louis Durand, Tafel 20 / II. Teil (Précis, 1819)

Tafel mit gleicher Nummerierung vor, die bereits einen direkten Bezug zwischen syntaktischem System und dessen Anwendung in Bauwerksbeispielen zeigt. Während Variationen in der Tafelgestaltung bei verschiedenen Ausgaben durchgängig zu beobachten sind, ohne dass dabei wesentliche Inhalte verändert werden, weil gleiche oder entsprechende Bildbeispiele lediglich in ihrer Auswahl und Reihenfolge getauscht werden, weichen hier die Aussagen wesentlich voneinander ab. Im einen Fall zeigt sich das Beharren auf einer rein abstrakten Darstellung, im anderen Fall wird versucht, die geometrische Konzeption und Bauwerksbeispiele in einem gemeinsamen Rahmen zusammenzuführen. Die rein geometrischen Schemata treten nur noch als erklärende Zufügungen auf und beschränken sich in ihrer Variabilität auf die für Durand wesentlichen Kombinationen. Erstaunlicherweise ist diese Tafel auch die einzige mit dreidimensionalen Darstellungen von Gebäuden. Eine weitere Tafel mit syntaktischen Schemata findet sich im Ergänzungsband »La partie graphique« auf Tafel 3. Die hier vorgestellten Möglichkeiten der Quadrat- und Kreisteilung sind jedoch nicht neu, sondern bereits aus Tafel 20 bekannt. Auch im Textteil teilt Durand nicht sehr viel zu diesen für die Komposition eminent wichtigen Vorgängen mit. Lediglich

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Abb. 33: Jean-Nicolas-Louis Durand, Tafel 3 (Partie graphique, 1819)

im II. Teil, der »von der Erfindung im Allgemeinen« handelt, empfiehlt er im III. Abschnitt zu »ganzen Gebäuden«: »Das Erste, was man zu thun hat, um Leichtigkeit im Erfinden zu erlangen, ist sich mannichfach in den verschiedenen Theilungen des Quadrats zu üben, so wie in den vornehmsten Verbindungen der Axen der Gebäude, wovon etliche auf der zwanzigsten Tafel vorgestellt sind.« Jedoch schon im nächsten Satz leitet Durand zur konkreten architektonischen Anwendung über. »Das Zweite besteht darin, die verschiedenen Grundrisse zu verwirklichen, wovon diese Verbindungen die allgemeine Disposition geben, indem man die verschiedenen Theile der Gebäude auf ihren Axen zusammenstellt.«53 Der erste Punkt regelt die zulässigen geometrischen Operationen, der zweite deren Anwendung. In der konkreten baulichen Übertragung heißt dies: Da »die Mauern, die Säulen, die Thüren, die Fenster u. f. w. auf gemeinsame Axen gestellt werden müßen, sowohl nach der Länge als nach der Tiefe eines Gebäudes, [geht] daraus [hervor], daß die aus diesen verschiedenen Elementen bestehenden Gemächer gleichfalls gemeinsame Axen haben müßen.«54 Das formale System ist absolut gedacht, jegliche Teile haben sich diesem einzufügen. Das

53 Ebd., S. 59 54 Durand: Précis 1831, Band 2, S. XIV

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setzt aber voraus, dass sie sich dem System auch einfügen können, d. h. dass alle Teile, da Architektur ja als Zusammengesetztes verstanden wird, systemkonform sein müssen. Es sind nur solche Teile zulässig, die bereits für sich dem Regelsatz des formalen Systems folgen. So sind beispielsweise nur gerade, unverkröpfte Mauern denkbar, die auf direktem Weg zwei Punkte verbinden. Ebenso sind nur gleichförmige und symmetrische Säulen und Pfeiler zulässig, die sich axial positionieren lassen. Ausgeschlossen werden Freiformen oder grundsätzlich asymmetrische Formen, die sich einer axialen Beschreibung verweigern. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, lässt sich leicht innerhalb des Systems arbeiten. Es sind nur noch die Achsen einzurichten.

Abb. 34: Jean-Nicolas-Louis Durand, Tafel 21 / II. Teil (Précis, 1819)

Durand beschreibt diesen Vorgang objektbezogen. Illustriert wird dies auf Tafel 21 / II. Teil. Je nach Bauaufgabe und deren Organisationsschema sind Hauptachsen festzulegen. In hierarchischer Abfolge sind weitere Achsen und Nebenachsen für die wesentlichen Räume und für zusätzlich notwendige, jedoch untergeordnete Räume zu ergänzen. Weiter sind diese Achsen, je nach Bedarf, in Zwischenachsen zu unterteilen, die die Lage der Elemente, der Mauern, Pfeiler, Säulen, etc., fixieren. Halbiert man deren Jochweite, erhält man die Zwischenachsen für Öffnungen wie Fenster, Türen und Ar-

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kaden. Gleichzeitig müssen alle Achsen, sowohl Haupt- und Nebenachsen als auch Zwischenachsen, zueinander parallel bzw. rechtwinkelig stehen und der Abstand aller Achsen voneinander muss gleich sein.55 Das, was Durand hier etwas umständlich über aufeinander bezogene Achsen schreibt, ist in seinem Ergebnis ein Raster. An dieser Stelle tut sich jedoch ein bisher wenig beachteter Widerspruch in seiner Methodenbeschreibung auf. Auf der einen Seite steht die eben beschriebene Herangehensweise, die den Entwurf als sukzessives Anordnen von Achsen in einem ansonsten noch freien Feld versteht. Dagegen geht Durand an anderer Stelle, bevor er mit dem Entwurf überhaupt beginnt, von einem schon existierenden Raster aus. Im zuerst beschriebenen Fall entstehen Achsen in Abhängigkeit von einem zu entwickelnden Gebäude. Sie sind somit spezifisch, es entsteht ein individuelles Muster. Lediglich das offensichtliche Bemühen Durands um Gleichförmigkeit führt dazu, dass die Achsausrichtungen als gleichförmiges Gitter erscheinen. Aber dieses Resultat ist kein zwangsläufiges, das formale System ist prinzipiell noch offen. Achsmodulationen wären innerhalb dieses Systems durchaus denkbar, weist doch eine funktional begründete Differenzierung in diverse Haupt-, Neben- und Zwischenachsen mit ihren verschiedenen Wertigkeiten schon in die Richtung, dies auch formal auszudrücken. Die als verschieden erkennbaren Achsen wären dann als Bedeutungsträger lesbar, wobei Durand diese Möglichkeit der Differenzierung allerdings nie nutzt. Im anderen Fall zeigt Durand, ohne im Text darauf einzugehen, Architekturen und Teile von Architekturen, die einem schon bestehenden Raster eingeschrieben sind. Insbesondere finden sich in den Grundrissbeispielen im II. Teil nahezu nur solche Darstellungen, wobei in den Variationen, die auf und aus dem Gitter heraus entwickelt werden, deutlich abzulesen ist, dass zuerst das Raster da war, was in seiner Konsequenz etwas ganz anderes ist, als das schrittweise Konstruieren von differenzierten Achsen. Das Apriori des Rasters ist im Eigentlichen die Voraussetzung, die erst die variable Anordnung standardisierter Architekturglieder zulässt. Das Raster bleibt immer, überall und unbegrenzt gleich, – unabhängig von der konkreten Lösung. Lediglich die Maschenweite, die Modulgröße, ist an die Bauaufgabe anzupassen. Ein derart verstandenes Raster kennt keine Haupt-, Neben- und Zwischenachsen und kann somit von sich aus auch keine Be-

55 Vgl. Durand: Précis 1831, Band 1, S. 50 und S. 60 ff.

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deutungsdifferenzierungen ausdrücken. Was jedoch ausgedrückt werden kann, ist die Egalität des Rasters. Wir haben es nun mit einem sehr strengen und gleichzeitig sehr einfachen System zu tun. Erfindung von Gebäuden, d. h. Entwerfen, bedeutet nun, ausgewählte Elemente auf einem rasterförmigen Feld zu verteilen. Das ist es, was die eigentliche Methode Durands – er selbst spricht von Komposition – ausmacht. Deren wesentliche Bedingungen, sowohl die Achsausrichtung selbst wie auch die Syntax der Anordnung, sind im Raster bereits determiniert.

Abb. 35: Komposition von Elementen im Raster

Damit lässt sich jedes Teil, das achskonform ist, – und nur solche Teile sind zulässig – beliebig in jedem Gitterfeld, respektive auf jedem Gitterschnittpunkt, platzieren. Auf diese Weise entstehen immer formal sinnvolle Lösungen, der Regelsatz von Quadratreihung und -teilung bleibt stets gewahrt. Darüber hinaus sind keine weiteren Überlegungen nötig bzw. auch nicht möglich. Das ist überaus einfach, effizient und günstig.

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Abb. 36: Komposition eines Gebäudes aus Teilen von Gebäuden

Die strikte Anwendung eines Rasters bewirkt zwar nicht unbedingt eine Kostenreduzierung bei der Gebäudeerrichtung, wie Durand immer behauptet, jedoch ganz gewiss eine Ökonomisierung des Entwurfsprozesses. Hier liegt die eigentliche Bedeutung von Durands Methode. Die formale Ordnung unterstützt ein serielles Arbeiten. Funktional benötigte Flächen lassen sich modular auf die erforderlichen Größen addieren und verschiedene

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Raumzuschnitte innerhalb der Rasterstruktur problemfrei erzeugen und auch ebenso konfliktfrei verbinden. Entworfen wird ausschließlich im Zweidimensionalen, wobei das Verhältnis von Funktion und Form im Grundriss verhandelt wird. Ist der Grundriss geklärt, lässt sich der Schnitt aufgrund notwendiger Höhen einfach ergänzen. Die Ansichten ergeben sich dann von selbst. »Bei Zeiten gewöhnt, vor Allem den Grundriß zu entwerfen, daraus den Durchschnitt entstehen sehen, einen Aufriß nur als die Projektion eines schon ganz erfundenen Gebäudes zu betrachten, werden sie [die Schüler] nicht Gefahr laufen, es wie jene Personen zu machen, welche, da sie in der Architektur nur Verzierung erblicken, ein Projekt mit der Facade anfangen, und dann, so gut sie können, Grundriß und Durchschnitt an den Aufriß anzupassen, eine Erfindungsart, die gemacht ist, nicht nur den Zweck der Architektur zu verfehlen, sondern auch denjenigen, welchen sich der Architekt vorsetzt, wenn er zu verzieren sucht.«56

Wieder zeigt sich ganz deutlich Durands Desinteresse an individuellem Ausdruck und sein Misstrauen gegenüber der visuellen Erscheinung. Demgegenüber betreibt er eine Verwissenschaftlichung des architektonischen Formungsprozesses. Das ganze Verfahren wird entmaterialisiert und abstrakt vollzogen. Am Anfang stehen zwar noch bestimmte Bedürfnisse, die jedoch sehr schnell in der Beschreibung als Funktionen der Nutzung verallgemeinert werden. Handelnde Subjekte sind nicht vorgesehen, sie werden zu Nutzern, die lediglich als Parameter der Nutzung in Erscheinung treten. Das ermöglicht, den Wert von Architektur quantitativ zu fassen. Bestimmend ist das nun messbare Verhältnis von Aufwand und Nutzen. Die wahre Schönheit ergibt sich von selbst aus der Natur der Bauaufgabe, wobei das Zweckmäßige, das konstruktiv Sinnvolle und die materialgerechte Ausführung zu beachten sind. Durand unterscheidet zwar noch verschiedene Materialien und ebenso werden zugehörige Konstruktionen präzis benannt und nach Konstruktionsarten differenziert. Bezüglich des Entwurfs werden Material und Konstruktion jedoch austauschbar sowie sämtliche Dinge zu beliebig kombinierbaren Elementen zerlegt werden, womit sie ins System integrierbar sind und letztendlich im System aufgehen. Raster und Rasterkompatibilität ermöglichen ein effizientes Entwurfsprozedere, wobei ein

56 Ebd., S. 50

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begrenzter Satz an Elementen sich innerhalb des Systems nach den Regeln formaler Komposition beliebig reproduzieren lässt. Die theoretisch grenzenlosen Möglichkeiten der Kombination scheinen Durand ausreichend, um jedes Problem, auch in formaler Hinsicht, angemessen zu lösen, da man im Raster »alle elementaren Verbindungen anwenden könne, und folglich durch diese Art von Mehrverbindung eine Menge besonderer und mannichfacher Grundrisse erhalte.« Ergänzt um Schnitt und Aufriss bedeutet das, »daß endlich, indem man jeglichen von diesen Verbindungen alle möglichen Vertikalverbindungen anpaßt, daraus eine unzählbare Menge architektonischer Kompositionen entstehe.«57 So erzeugte Architekturen bewegen sich innerhalb des Rahmens funktionalistischer Ästhetik, wobei diese in ihrer Methodengerechtigkeit rational abgesichert ist. Darüber hinauszugehen wäre Durand suspekt. Betont er doch in diesem Zusammenhang, »wie wenig es folglich nöthig ist, nach Abwechslung zu haschen«.58 Allerdings könnte man einwenden, die Möglichkeiten der Variation innerhalb seiner Kompositionen seien beschränkt. Durands Kombinatorik kann zwar ins Unendliche betrieben werden, jedoch bleibt sie immer systemimmanent. Indem Durand den Zeichensatz, die Anzahl der architektonischen Formen, reduziert, diese geometrisiert und parallel dazu die Zeichnung vereinfacht, um dann beide deckungsgleich in einen nun mathematisierten und homogenisierten Raum einzufügen, reproduziert er lediglich Rastergeometrien im Raster. Das Ganze bleibt selbstbezüglich und selbstgenerierend. Werner Szambien spricht von einer »der seltsamsten ›Einbahnstraßen‹ in der Architekturgeschichte«.59 Zu ergänzen wäre – um im Bild zu bleiben –, dass es sich dabei jedoch um eine in Folge viel befahrene handelt. So langweilig und ungeliebt Durand im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts erscheint, das von ihm propagierte, rationale wie rationelle Entwerfen wird zum Paradigma der Moderne. Irritierend ist dabei – und auch das ist auf Durand zurückzuführen –, dass diese strenge Entwurfsmethode, die in ihrer Systemimmanenz eigentlich keine Bedeutung jenseits ihrer Systemgrenzen transportiert und die im ursprünglichen Sinn eigenschaftslos ist, herangezogen wird, um dennoch Aussagen zu treffen. Eine rational gesteuerte und überprüfbare Erzeugung

57 Durand: Précis 1831, Band 2, S. XV 58 Durand: Précis 1831, Band 1, S. 52 59 Szambien, Kompositionsverfahren, S. 42

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von architektonischer Form wird mit Rationalität im Allgemeinen gleichgesetzt. Das Raster gewinnt symbolische Bedeutung. Es ist nicht nur Mittel, um utilitaristische Zusammenhänge herzustellen, sondern kann selbst auch als Zeichen einer rationalen Weltsicht gelesen werden. Exemplarisch soll in den nächsten zwei Kapiteln dem an diesen Wandel gekoppelten Konfliktpotenzial nachgespürt werden.

2.2 System, Systemfehler und deren Harmonisierung 2.2.1 Durand und Klenze. Das Problem der Eliminierung der Zeit Durands System formaler Ordnung funktioniert. Er selbst sieht sich in Einklang mit den »allgemeinen Prinzipien, welche überall und zu allen Zeiten, wenn es sich um die Aufführung von Gebäuden handelte, die vernünftigen Menschen leiten mußten; und dies sind in der That auch die Grundsätze, nach denen jene antiken Gebäude erdacht sind, welche am allgemeinsten und mit dem größten Recht bewundert werden.«60 Wichtig ist, dass es Durand, obwohl er die Antike anführt, nicht darum geht, nach dem Verlust metaphysischer Ordnung mit Hilfe der vermeintlichen oder wirklichen Idealität des griechischen Formenkanons wieder ein verbindliches Modell aufzubauen. Es handelt sich bei seiner Methode nicht um einen Rückgriff auf als vorbildlich anerkannte Formen zur Rekonstruktion der Gegenwart im Sinne eines Klassizismus, wie ihn beispielsweise Winckelmann propagiert. Auch lehnt sich Durand nicht an Laugiers entwicklungsgeschichtliche Manifestationen klassischen Vokabulars an. Durand hat sich dazu in der Einleitung zum ersten Band des Précis ausgiebig geäußert. Er argumentiert gänzlich unhistorisch. Die anerkannte Wertschätzung antiker Architektur nutzt er, um auch an diesem Beispiel zu zeigen, dass gute Architektur ihre Grundlage immer in Zweckmäßigkeit und Ökonomie hat. Das bedeutet, dass nicht die Formen an sich vorbildlich sind, sondern die Form sich aus den an sie gestellten Aufgaben ergibt. Aufgabe der Architektur ist immer

60 Durand: Précis 1831, Band 1, S. 4

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die gewissenhafte und systematische Funktionserfüllung. Genau das findet Durand in der antiken Architektur ganz in seinem Sinn verwirklicht. Die Ordnung, die er sieht, beschränkt sich auf das funktional und konstruktiv Notwendige, geordnet auf effiziente Weise im Raster. Dem entspricht der klassizistische Blick auf antike Architektur, wie er sich im 18. Jahrhundert herausbildet, in dem die Forderung nach nur Wesentlichem sich mit Tendenzen zum Regelhaften verbindet. Ganz deutlich findet sich eine solchermaßen konzentrierende Reduktion in Winckelmanns Diktum von der »edlen Einfalt« und »stillen Größe« wieder. Durch diese Brille scheint die antike Architektur wie geschaffen für Durands Theorie. Und doch, wendet man sein strenges Kompositionsverfahren an, um die herausragenden Exponate antiker Baukultur zu erklären, wird die Theorie inkonsistent. Ein konsequenter Gebrauch des Rasters lässt sich nicht durchhalten. Dabei funktioniert die Zerlegung in Elemente und Teile noch gut, ebenso deren modulare Reihung, insbesondere bei den Architekturen, die Durand und seine Zeitgenossen im Kopf hatten, wenn sie an antikes Bauen dachten. Jedoch am Problem der Ecke, das schon Vitruv erkannte, würde auch Durand scheitern. Die Rasterstruktur und die Baustruktur der antiken Elemente, insbesondere die Säulen und die in der Triglyphenreihung angezeigte Struktur, können nicht übereinstimmen. Dies trifft zwar nur bei dorischen Bauwerken zu, ist aber trotzdem wesentlich, da zum einen die meisten der als beispielhaft angesehenen Architekturen, speziell der klassischen griechischen Tempel, dorisch sind, und zum anderen stellt bereits ein Fall von Unstimmigkeit eine als universell gedachte Entwurfstheorie in Frage. Während Vitruv das Problem noch in seinem Sinne lösen konnte, indem er einfach Rasterachsen, Elementachsen und Triglyphenachsen synchronisierte, ohne auf die Fehlstellen zu achten, die dabei an den Endpunkten entstehen, kann Durand die Widerständigkeit des historischen Bestandes gegenüber solchen vereinfachenden Zurechtrückungen nicht mehr übergehen. Durand und dem Fachpublikum seiner Zeit ist das genaue Aussehen antiker Architektur, nicht nur der römischen, sondern nun auch der griechischen, bekannt. Wenn sie es auch nicht aus eigener Anschauung kennen, so doch aus verlässlichen, auf Bauaufnahmen beruhenden Zeichnungen, die nun vorliegen und in weit verbreiteten Stichwerken zugänglich sind.61 Die wissen-

61 Insbesondere für den im Folgenden behandelte Parthenon in Athen: Julien David Le Roy: Les Ruines des plus beaux monuments de la Grece, Paris/

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schaftlich motivierte Kenntnis des genauen Aussehens erscheint zur damaligen Zeit wichtig, wie sich in umfänglichen archäologischen Unternehmungen und bauhistorischen Studien zeigt. Durand selbst legt mit Recueil et parallèle des édifices de tout genre anciens et modernes ein Kompendium vor, das versucht, sämtliche bekannten und als wesentlich betrachteten Bauwerke, auch ausdrücklich die antiken, präzis darzustellen. Der auf Rom fokussierte Blick der Renaissance hat sich auf die gesamte Antike ausgeweitet, räumlich wie zeitlich. Man unterscheidet römische und griechische Architektur, deren Entwicklungsphasen und deren differenzierten Umgang mit dem Komplex von Ordnung und Ordnungssystemen. Im speziellen Fall der dorischen Ordnung, auf die sich die Untersuchung konzentriert, lassen sich nun die freie Interpretation römischer Architektur, die einmal einem strengen Achsraster, ganz so wie es Vitruv beschreibt, dann aber wieder dem griechischen Vorbild folgt, und die griechische Ursprungsform, die grundsätzlich Triglyphen in die Ecken setzt, unterscheiden. Diese unterschiedlichen Interpretationen müssen Durand bekannt sein. Sein Problem ist nun die Auflösung des Widerspruchs, der sich zwischen den real existierenden Hinterlassenschaften klassischen Bauens und seiner als universell angelegten Kompositionsmethode auftut. Durand begegnet dem Problem mit zwei Strategien. Er versucht aufzuzeigen, dass innerhalb der klassisch tradierten Ordnungen auch ein konfliktfreies Bauen – d. h. ohne Darstellung der problematischen Triglyphen – möglich wäre. Dafür sucht er nach Beispielen und findet diese auch. Denn obwohl »die Triglyphen, welche zu nichts dienen, und welche nichts gleich sehen, wenigstens nichts verständigem, fast immer an griechisch- oder römisch-dorischen Gebäuden angetroffen werden, [lassen] sich doch unter den Gebäuden dieser Gattung mehrere Beispiele finden, wo die Triglyphen weggelassen sind, wie die Kapelle der Agraulos zu Athen, die Bäder des Paulus Ämilius und das Colissäum zu Rom [und] das Amphitheater zu Nimes [zeigen].«62 Näher geht er auf diese Beispiele nicht ein. Was er anführt sind Ausnahmen und angesichts der evidenten Eckprobleme der Mehrheit schon kodifizierter klassischer Bauten erscheint eine solche Argumentation nicht sonderlich tragfähig. Daher bestreitet Durand überhaupt die Autorität kano-

Amsterdam 1758, II. Teil, Tafel 7-9; James Stuart/Nicholas Revett: The Antiquities of Athens, Band 2, London 1787, Tafel 4-15 62 Durand: Précis 1831, Band 2, S. X

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nischer Ordnung bzw. bezweifelt dass die nach wie vor als vorbildhaft angesehenen Griechen tatsächlich nach Ordnungen unterschieden haben.63 Er behauptet, dass die Griechen »in dem, was wir Säulenordnungen nennen, nichts erblickten als Stützen und gestützte Theile, lauter nützliche Dinge, die sie nicht in der Nachahmung von irgend etwas proportionirten, sondern nach den ewigen Gesetzen der Zweckmäßigkeit.«64 Im Grunde sagt Durand hier, dass es gar keine dorische Ordnung gegeben habe. Es gab nur nützliche und konstruktiv sinnvolle Verbindungen. Das bedeutet im Weiteren, »daß das Studium und die Vergleichung der mannichfachen antiken Details uns doch nützlich seyn würde, weil es uns diejenigen von ihnen kennen lehrte, die man annehmen, verwerfen, oder blos dulden dürfe; daß es hiezu weiter nichts bedürfe, als das Antike mit den Augen des Verstandes zu studiren, anstatt, wie es nur zu oft geschieht, diesen durch die Autorität der Antike zu ersticken.«65 Die eigentliche griechische Architektur, deren wirklicher Kern, folgt natürlich universellen, zeitlosen und zeitlos gültigen Regeln und zwar denen, die auch Durand erkannt hat. Tauchen aber offensichtliche Probleme im Formalen auf, die diese Regeln in Frage stellen, wird einfach erklärt, dass solche Problemstellen nicht mehr Teil der eigentlichen Konzeption sind. In Bezug auf unsere problematischen Triglyphen bedeutet das, dass »wir Grund genug haben, sie [die Triglyphen] für immer verschwinden zu machen, ohne dadurch unsere Gewohnheiten zu verletzen, noch die Ehrfurcht, welche uns die Antike mit Recht einflößt.«66 Damit lässt sich entwerfen. Deutlich ist dies an einem älteren Projekt Durands nachzuvollziehen, einem gemeinsamen Entwurf mit Jean-Thomas Thibault für einen »Tempel der Gleichheit« von 1794. Es handelt sich offensichtlich um ein programmatisches Monument der französischen Revolution, wie allein seine Widmung schon deutlich macht. Inschriften auf Architrav und Pfeilern vermitteln dann auf direktem Weg, was ausgesagt werden soll, unterstützt durch eindeutig lesbaren Figurenschmuck. Lesbar ist zudem auch die gewählte architektonische Form: Es handelt sich, soweit

63 Vgl. ebd. 64 Ebd., S. VIII 65 Ebd., S. IX 66 Ebd., S. X

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Abb. 37: Jean-Nicolas-Louis Durand und Jean-Thomas Thibault, Entwurf für einen Tempel der Gleichheit (1794)

aus der Frontansicht der Zeichnung zu erkennen ist, um einen Ringhallentempel auf einem Sockel mit axial ausgerichteter, eingeschnittener Freitreppe.67 Der Typus des Tempels, ein an der Frontseite sechs Säulen zählender Peripteros, und dessen struktureller Aufbau folgen – wenn auch die Säulen durch Pfeiler ersetzt wurden – griechischen Vorbildern, der Sockelaufbau römischen. Beide Referenzen entsprechen in ihrer Monumentalität der Würde und Bedeutung des zu vermittelnden Inhalts, wobei die Konnotation eindeutig ist. Im Rückgriff auf Formen griechischer bzw. römischer Architektur, die als solche erkennbar sind, lässt sich auf deren als vorbildhaft geltende demokratische Staatsverfassungen verweisen. Neben dieser Lesbarkeit des Gebäudes auf zeichenhafter Ebene, folgt auch seine formale Ausbildung konsequent dem Gleichheitsgrundsatz, was das hier eigentlich Interessante ist. Alle Elemente, insbesondere die Säulen – bzw. hier bezeichnenderweise Pfeiler und Balken – folgen einem einheitlichen, regelmäßigen Raster und sind selbst jeweils gleich und gleichförmig

67 Dass es sich tatsächlich um einen Ringhallentempel mit 6 x 14 Achsen handelt, zeigt Werner Szambien in der Planzusammenstellung im Anhang von: Szambien: Durand, S. 240

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Abb. 38: Leo von Klenze, Kopie nach Jean-Nicolas-Louis Durand und Jean-Thomas Thibault (1803)

positioniert. Es gibt keine Sonderstellungen in den Ecken, keine Ausnahmen oder Privilegierungen, jede Lage ist gleichwertig. An dieser Stelle würde Colin Rowes Satz über Gitterstrukturen passen, wonach »das horizontale und vertikale System von Koordinaten, die das Raster aufstellt, [...] kaum den geringsten Unterschied in der Form seiner Elemente [erlaubt]. Es beharrt darauf, dass die meisten Elemente des Gebäudes annähernd gleich zu sein haben; und wo die staccato-hafte Ordnung des Rasters sich auf solche Weise in hohem Maße demokratisch erweist – wie ließen sich da jene fast nicht wahrnehmbaren Abstufungen einführen, die die Teile des Gebäudes hierarchisierten?«68 Der viel befürchtete Eckkonflikt, eine Eckkontraktion und Triglyphenverwirrung, bleibt aus, obwohl man das Ganze doch deutlich als einen in dorischer Tradition stehenden Tempel identifizieren kann, als antiken Tempel im eigentlichen Sinn, der nur aus »lauter nützlichen Dingen« besteht: aus Säulen bzw. Pfeilern, die tragen, aus Balken, die lasten, und aus Wänden, die umhüllen. Unnützer und widersinniger Zierrat entfällt, an seine Stelle tritt lesbarer Text. Damit haben wir es nicht mit einem Nachbau, d. h. mit historisch verorteter Architektur, zu tun, sondern

68 Colin Rowe: Neoklassizismus und moderne Architektur II (1973), in: Ders.: Die Mathematik der idealen Villa, Basel 1998, S. 148

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mit einer Demonstration von Nutzen und Effizienz. Diese Prinzipien werden als naturgesetzliche, damit zeitlose, zeitlos gültige und universelle Basis jeglicher Architektur verstanden, wie sie Durand dann in seinem Précis ausführt. Dies ist wesentlich. Eine so verstandene Architektur erscheint für ein Monument der Revolution nicht unangebracht. Auch die Revolution bezieht sich auf eine als ursprünglich und allgemein gültig verstandene Verfasstheit gesellschaftlicher Ordnung. Die unveräußerlichen Rechtsgrundsätze von Gleichheit, Freiheit und Solidarität gelten ebenso wie der Grundsatz der Nützlichkeit in der Architektur als in der Natur selbst begründet. Sie entsprechen der natürlichen Ordnung der Dinge. Durand folgt dieser Ordnung und kann sie auch darstellen. Schwieriger gestaltet sich dies bei seinen Schülern. Am Beispiel des Walhalla-Projekts Leo von Klenzes sollen die Probleme aufgezeigt werden, die eine Verschiebung der politischen Zielsetzungen und damit der kulturellen Präferenzen in Bezug zum formalen Rahmen und dessen formaler Lesbarkeit aufwerfen. Die Idee zu diesem nationalen Tempelunterfangen bahnt sich um 1809 an. 1814 lässt dann der Bauherr Kronprinz Ludwig, der spätere Ludwig I. von Bayern, von der Akademie der Bildenden Künste in München einen Wettbewerb dazu ausschreiben. Klenze nimmt daran teil, ist im Wettbewerb jedoch nicht erfolgreich. Dennoch plant er im Auftrag Ludwigs ab 1819 kontinuierlich am Projekt. Die Grundsteinlegung erfolgt 1830 nach Klenzes Plänen, die Fertigstellung ist 1842.69

69 Vgl. zur Planungsgeschichte: Leo von Klenze: Memorabilien, Staatsbibliothek München; Sonja Hildebrand: Werkverzeichnis Leo von Klenze, in: Winfried Nerdinger (Hg.): Leo von Klenze. Architekt zwischen Kunst und Hof, München 2000, S. 294 ff.; Winfried Nerdinger (Hg.): Klassizismus in Bayern, Schwaben und Franken. Architekturzeichnungen 1775-1825, München 1980, S. 327 ff.; Adrian von Buttlar: Leo von Klenze. Leben – Werk – Vision, München 1999, S. 141 ff. – Die Planungsvorgaben des Bauherrn sind zu Klenzes Verdruss sprunghaft wechselnde – vom Peripteros zum Tholos, zu kompositen Zentralbauagglomerationen und wieder zum Ringhallentempel zurück. Wobei hier das ursprüngliche Konzept eines Ringhallentempels, das sich letztendlich durchsetzt, von Interesse ist.

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Zwei Punkte sprechen, neben der typologischen Gleichartigkeit, für die Legitimität eines Vergleichs zwischen dem Projekt Durands für einen Tempel der Gleichheit und Klenzes Nationaltempel: Es besteht eine direkte Beziehung zwischen Leo von Klenze und Durand, denn Klenze bezeichnet sich selbst als Durandschüler. Das war er zwar nicht im strengen Sinn, da er kein reguläres Studium an der École Polytechnique bei Durand absolviert hatte, wie er selbst später glauben machen will. Lediglich ein mehrmonatiger Parisaufenthalt 1803 bot ihm die Möglichkeit eines näheren Kennenlernens der neuen Entwurfspraktiken. Ob er Durand persönlich begegnet ist, bleibt ungeklärt. Jedoch hatte er Zugang zu Zeichnungen Durands, die er, der damaligen Lehrpraxis folgend, sorgfältig kopierte und als Vorlage für Entwurfsübungen nach Durands Konventionen verwendete.70 Doch auch wenn er sich das durandsche Repertoire nur autodidaktisch aneignete, bestimmt dessen Verständnis von Architektur und insbesondere dessen Entwurfsmethodik der Komposition im Raster in seltener Deutlichkeit Klenzes gesamtes Werk. Weiterhin wird der Vergleich zwischen den Tempelprojekten Durands und Klenzes dadurch begünstigt, dass Klenze Durands Entwurf für einen Tempel der Gleichheit kannte. Der Entwurf ist eine der Vorlagen, die Klenze in Paris kopiert hatte.71 Auffallend sind zunächst die Unterschiede zwischen den beiden Projekten. Während Durand alles idealtypisch so konzipiert und darstellt, wie er es später in seinen Précis theoretisch ausführen wird, ist Klenze im Entwurf des Walhallatempels durch bauherrliche Vorgabe an das historische Beispiel des Parthenon »im reinsten griechischen Styl« gebunden. Auch die jeweiligen Programme bzw. die politischen Absichten der beiden Projekte könnten gegensätzlicher nicht sein. Bei dem einen Projekt handelt es sich um einen Tempel der Würdigung und Kundgabe revolutionärer Errungenschaften. Auf der anderen Seite steht ein dezidiert antirevolutionäres, monarchisch beauftragtes Projekt der Restauration, das sich zum Zwecke nationaler Selbstfindung in historischer Rückschau vermeintlich eigener Tu-

70 Vgl. zu Ausbildung und Parisaufenthalt: Buttlar: Klenze, S. 27 ff.; Winfried Nerdinger: Das Hellenische mit dem Neuen verknüpft. Der Architekt Leo von Klenze als neuer Palladio, in: Ders. (Hg.): Klenze, S. 10 ff. 71 Vgl. Hildebrand: Werkverzeichnis, S. 200 ff.; siehe auch: Klaus Jan Philipp: Um 1800. Architekturtheorie und Architekturkritik in Deutschland zwischen 1790 und 1818, Stuttgart/London 1997, S. 171 f.

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genden und einer vermeintlich eigenen Geschichte versichert. Dabei erscheint im Fall von Durands Tempel der Gleichheit die Wahl der formalen Mittel dem Zweck und Inhalt der Bauaufgabe offensichtlich angemessen und eingängig plausibel. Ein real existierender griechischer Tempel als formales Vorbild zur Darstellung nationaler, nun deutscher Gesinnung ist dies erst einmal nicht. Die dahinter stehende Konstruktion ist verworrener: Zum einen ist die Verpflichtung auf eine historische Vorlage politisch motiviert. Ludwig I. äußert sich dazu dezidiert, wenn er schreibt, »daß die Historie ein spezifisches Gegengewicht wider revolutionäre Neuerung und wider ungeduldiges Experimentieren sei – wer seinen Sinn ernst und würdig auf die Vergangenheit richte, sei nicht zu fürchten in der Gegenwart.«72 Eine solche Haltung ist zumindest im Sinne der Machterhaltung nachvollziehbar. Zum anderen stand mit dem griechischen Tempelbau, insbesondere dem Parthenon, ein Vorbild zu Verfügung, dessen ästhetische Autorität unbestritten war und das folgerichtig die einzig denkbare und der Wichtigkeit und Würde der Bauaufgabe angemessene Referenz sein konnte. Als Beleg einer derartigen Kunstauffassung mag der etwas verknappte Ausspruch Ludwig I. gegenüber seinem Kunstagenten Johann Martin von Wagner bezüglich des Ausbaus der Antikensammlung dienen: »Wenn nicht vom Parthenon, kaufe ich es nicht.«73 Es trifft sich hier ein hierarchisches Verständnis von Herrschaft mit einem hierarchischen Verständnis von Kunst, das ganz im Sinne seiner Zeit die griechische Klassik als Ausdruck höchster künstlerischer Vollendung begreift. Doch noch ein weiterer Grund liegt vor, warum ein Rückgriff auf reinstes Griechentum so wichtig war. Die zur Ausschreibungszeit der Walhalla gängige École-des-Beaux-Arts-Spielart des Klassizismus war, da sie als napoleonische Staatsarchitektur fungierte und auch als solche wahrgenommen wurde, im Kontext nationalen, antinapoleonischen Befreiungsstrebens, mit dem Ludwig I. – damals noch Kronprinz – sympathisierte, problematisch. Das Insistieren auf Authentizität, die man im griechischen Original zu finden glaubte, kann als Reaktion auf ebendiesen französisch dominierten Klassizismus verstanden werden, der griechische und römische Antike ebenso wie deren Fortführungen in der Renaissance, angereichert mit Durands Rationalismus, zu einem Stil subsumiert. Ludwigs Hellenenbe-

72 Ludwig I. zitiert in: Nerdinger: Das Hellenische, S. 15 73 Ebd., S.16

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geisterung und eine darauf gegründete Architektursprache erscheinen soweit für seine Zwecke politisch opportun. Dies konkretisiert sich im »begeisternde[n] Kunsterlebnis Paestums«74, dessen griechische Tempel soweit erhalten und erreichbar waren, dass er sie in eigener Anschauung kennen lernen konnte. Blieb nur noch, eine direkte Verbindung zwischen eigenem kulturellen Erbe und dem antiken Griechenland herzustellen, um das »rein Hellenische« als neuen Nationalstil legitimieren zu können. Klenze wird diese Verbindung in seiner Untersuchung »Versuch einer Wiederherstellung des toskanischen Tempels nach seinen historischen und technischen Analogien« 1821 nachliefern. In der vergleichenden Gegenüberstellung von vernakulärer alpenländischer Architektur mit etruskischen bzw. auch attischen Architekturformen findet er Übereinstimmungen. Diese Gemeinsamkeiten sind Anlass, um in einer heute doch befremdlichen historischen Konstruktion, die auf dem Boden rassistisch motivierter Argumentationsketten Wanderungsbewegungen imaginiert, die die mediterrane und die »nordische« Kultur auf einen gemeinsamen Ursprung zurückzuführen,75 der irgendwo zwischen vorarchaischem Griechenland und Indien seinen Ausgangspunkt findet. Nach dieser Argumentation könnte dann die Blüte von Kunst und Architektur in der griechischen Klassik, insbesondere der

74 Adrian von Buttlar: Es gibt nur eine Baukunst?, in: Winfried Nerdinger (Hg.): Romantik und Restauration. Architektur in Bayern zur Zeit Ludwigs I. 18251848, München 1987, S. 108 75 Er folgert, dass wir »an das Daseyn eines und desselben Urstammes hellenischer und germanischer Völker, nicht mehr zweifeln dürfen.« Und er betont dessen Kulturleistung, indem er herausstellt, dass »aller ältesten Religion Poesie und Kriegs-Wissenschaft Anfang sich in thrakischen Sagen concentrirt: und haben wir dabey die oben erwähnten Analogien Tuskiens mit dem Norden und namentlich mit Rhätien im Auge, so möchte es erlaubt seyn, zu schließsen: daßs es der aus Thrakien die Donauufer und Berge nach Westen hinauf sich verbreitende Völkerstamm sey, welcher theils durch Illyrien, theils über die rhätischen Alpenpässe starke Zweige nach Italien hinabtrieb, und diesem Lande die erste Bevölkerung, Civilisation, Religion und Kunstanfänge brachte.« Leo von Klenze: Versuch einer Wiederherstellung des toskanischen Tempels nach seinen historischen und technischen Analogien, München 1821, S. 33 ff. Siehe zum Problem einer rassistischen und in Ansätzen antisemitischen Argumentation bei Klenze auch: Buttlar: Klenze, S. 313 ff.

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Parthenon selbst, als gemeinsames Erbe gelten, wobei die Rekonstruktion des etruskischen Tempels als ursprüngliches Muster den Schlüssel für diese Überlegung liefert. Das zugrundeliegende Programm ist offensichtlich. Dessen architektonische Lösung ist jedoch schwierig. Klenze als selbst ernannter Durandschüler, der sich entwurfstechnisch auf der Höhe der Zeit befindet, steht zuerst vor dem Problem, die rationalen Entwurfs- und Produktionsvorgaben Durands mit der skizzierten Ideologie des griechischen Tempels – und diese wiederum mit dem real existierenden griechischen Tempel – in Einklang zu bringen. Dabei handelt es sich jedoch um ein Unterfangen, das so einfach nicht funktionieren kann, da die komplexe Geometrie des griechischen – insbesondere des dorischen – Tempels nicht mit der seriellen Rastergeometrie Durands harmoniert. Die Möglichkeit einer Neudefinition und Weiterentwicklung dessen, was die Grundlegungen einer nach wie vor als vorbildlich angesehenen Antike ausmacht, so wie sie Durand bei seinem Tempelentwurf der Gleichheit praktiziert und in den Précis beschreibt, ist Klenze aufgrund der restaurativen Vorgaben seines Auftraggebers versagt. Dieser hatte sich explizit gegen »revolutionäre Neuerungen« und gegen »ungeduldiges Experimentieren« ausgesprochen. Nur, Restauration hin oder her, seit Durand gibt es Rationalisierungsbestrebungen in Form systematischer Quantifizierung nach in Ökonomie und Naturwissenschaft angewandten Mustern, die dabei sind, alle Bereiche des Lebens zu erfassen. Das komplett zu vernachlässigen würde bedeuten, den historischen griechischen Tempel, der sich diesen Mustern noch verweigert, der Irrationalität preiszugeben. Klenzes erster, noch naiver Versuch, diesen Unvereinbarkeiten zu begegnen, entzieht sich im Walhalla-Wettbewerbsbeitrag von 1815 noch der Konfrontation: »Klenze [zeigt sich] in der strengen Rasterung, die eine halbe Eckmetope in Kauf nimmt, als treuer Schüler Durands. Beim ausgeführten Bau verzichtet Klenze auf ein solches Vorgehen zugunsten einer historisch korrekten Lösung des dorischen Eckkonfliktes.«76 Allerdings lohnt es, dem genauer nachzuspüren, was zwischen anfänglicher Aufgabenverweigerung und letztendlicher Vorgabenerfüllung liegt.

76 Hildebrand: Werkverzeichnis, S. 253

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Abb. 39: Leo von Klenze, Walhalla, Ansicht und Schnitt (1815) mit Systemstudie des modularen Aufbaus: Hauptachsen, Grundmodul, Steinschnitt und Triglyphen

Im Entwurf von 1815 hantiert Klenze noch mit allerhand einzelnen Elementen, die zwar allesamt dem klassischen Vokabular entstammen, in der vorliegenden Zusammensetzung aber an keinem antiken Gebäude vorkommen. Die Kombination von dorischen Säulen und Triglyphenfries mit angeschnittener Eckmetope kennen wir aus der Beschreibung Vitruvs, auch wenn die Römer keine solchen Peripteraltempel bauten. Üblich war bei den Römern vielmehr die Errichtung von Podiumstempeln mit eindeutiger Frontausrichtung. Hielten sie sich jedoch stärker an griechische Vorbilder und deuteten Ringhallen an, bekamen die Säulen zumindest Basen. Umgekehrt ist dagegen im griechischen Tempelbau, dem Klenzes Entwurf in seinem Gesamtaufbau weitgehend folgt, ein Triglyphenfries vitruvianischer Ordnung nicht denkbar. Weiter ist aus der Antike die Praxis, Räume mit kassettierten Tonnengewölben zu überdecken, bekannt, allerdings nicht im Zusammenhang von Cella und Ringhallentempel. Der Zusammenhalt der Teile ist bei Klenze nur dank des zugrundeliegenden Gittersystems gewährleistet, das alle Teile integriert, die systemkonform, d. h. modular, sind – und das sind alle Teile, die er verwendet, bis ins letzte Detail. Selbst die Fugenteilung der Mauersteine und auch die Lagerfugen der Säulentrommeln folgen diesem System. Wir erkennen hier natürlich den Einfluss Durands, wobei die Kleinteiligkeit der Modulteilung auch stark an Vitruvs

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Anweisung zur Gliederung dorischer Ordnungen erinnert. In beiden Fällen steht der operative Aspekt der Modulteilung zum Zweck der ordentlichen, gleichmäßigen Anordnung im Vordergrund. Das Ganze ist stimmig in Bezug auf die gewählte Methode der Komposition im Raster, auch wenn es dem humanistisch geschulten Blick etwas unbeholfen erscheint. Interessant ist, dass das Akkumulative zwar kompositorisch strukturierter, aber historisch disparater Motive nach dem Ruf zur historischen, rein hellenischen Ordnung nicht verschwindet, sondern lediglich Verschiebungen stattfinden.

Abb. 40: Leo von Klenze, Walhalla, Ansicht (1821)

Beim Entwurf von 1821 sehen wir dann bereits eine deutlich »griechischere« Tempelfront mit Eckkontraktion der beiden äußeren Achsen, ganz so wie wir es vom historischen Vorbild kennen. Im Inneren dagegen ist Klenze frei. Die Cella ist nach wie vor tonnengewölbt. Auffällig ist, dass die systemische Unterscheidung von innen und außen schon ganz zaghaft im Projekt von 1815 angedeutet wurde. Obwohl ein gemeinsames Grundmodul für innen und außen durchgängig vorhanden war, variierte die Anzahl der Modulteile des Steinschnitts im Wechsel von der Außen- zur Innenseite der Cellamauer. Was jedoch 1815 nur eine Akzentuierung war, wird 1821 wesentlich. Die notwendigerweise geforderte Eckkontraktion steht im Widerspruch zu den Prinzipien des Rasters. Zumindest im Äußeren, darauf wird Wert gelegt, muss das Bild des griechischen Tempels gewahrt werden, wodurch eine regelmäßige Modul- bzw. Rasterteilung unmöglich gemacht

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wird. Umso wichtiger wird damit nun unter dem Aspekt ordentlicher, rationaler Entwurfspraxis das Innere. Auf einer Innenraumperspektive zum Entwurf von 1821 erkennt man deutlich durandsche Entwurfsmuster: Der Fußboden gibt das Raster vor, nach dem sich alle Elemente, wie Säulen, Pfeiler, Bögen, Wände, Kassetten, etc. ausrichten. Darüber hinaus gliedert sich der Raum in drei quadratische Segmente, akzentuiert, geteilt oder verbunden durch Säulen und Bogenstellungen, ganz so wie man es aus den Mustern des Précis kennt.

Abb. 41: Leo von Klenze, Walhalla, Innenraumperspektive (1821)

Im Lauf der weiteren Planung wird aus dem Tonnengewölbe ein offener Dachstuhl, die freistehenden Säulen werden zu Mauerpfeilern und anstelle der Wölbungszone erscheinen Korenpaare, ohne dass sich strukturell etwas ändern würde. Die Logik des Rasters erlaubt ein Austauschen und Verschieben der einzelnen Elemente. Damit scheint das Gebäude konzeptionell in zwei Teile zu zerfallen, in ein historisch verbürgtes Äußeres in retrospektiver Nachahmung und ein sich rationalisierter Entwurfstechniken bedienendes Inneres. Entsprechend wurde Klenzes Leistung bewertet. Hatte sich Klenze in seinen anderen Werken, insbesondere der zeitlich parallelen Planung der Glyptothek, »im Ringen gegen die [...] Nachahmungsideen Ludwigs weitgehend durchgesetzt, so unterlag er – was überraschen wird – in seinem be-

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kanntesten Monument: der Walhalla.«77 Da deren Innenraum eine genuin durandsche Neuschöpfung darstellt, kann sich die Niederlage nur auf die Außenansicht beziehen. Hier könnte man genauer untersuchen, wie vollständig diese Niederlage war. Zu fragen ist, wie weit ein rational geschulter und rational entwerfender Architekt die Irrationalität des griechischen Tempels ertragen kann? Dazu soll ein Bereich näher untersucht werden, der bisher außer Acht gelassen wurde: der Bereich zwischen innen und außen, die eigentliche Ringhalle. Obwohl auch diese weitgehend von dem disparaten Verhältnis von Säulenbzw. Achsstellungen bestimmt ist, findet Klenze hier wesentlichen Spielraum und Potenzial, den griechischen Tempel zu ordnen und zu disziplinieren. Wobei gesagt werden muss, dass sich das griechische Vorbild gegen jegliche modulare Rasterstrukturierung sträubt. Probleme ergeben sich nicht nur in den Eckkontraktionen der äußeren Säulenstellungen. Ebenso sind die sechs dem Kernbau vorgestellten Säulenachsen nicht mit der anders geteilten achtachsigen Front zu synchronisieren, da der Kernbau selbst völlig unabhängig vom äußeren Säulenkranz steht. Das System der griechischen Tempelordnung ist viel komplizierter, als das damals vorherrschende Bild des Klassischen – als das Einfache, Klare und Verständliche – suggeriert. Wie weit sich die Vorstellung von »edler Einfalt, stiller Größe« festgesetzt hat, wird klar, wenn man Le Corbusiers – damals noch Charles Edouard Jeannerets – Skizze vom Parthenon von 1911 betrachtet. Auf seiner Studienreise sieht er das berühmte Gebäude zum ersten Mal im Original und ist überrascht. Unter die Skizze des Deckenspiegels der Ringhalle notiert er: »keine Übereinstimmung zwischen den Ecksäulen und jenen der zweiten Einfriedung. die Deckenarbeiten stehen in keinem Zusammenhang mit der Platzierung der Säulen; zum Beispiel ist hier die Kassettendecke typisch. überall herrscht eine irritierende Asymmetrie.«78

77 Buttlar: Baukunst?, S. 109 78 Jean Louis Cohen/Tim Benton: Le Corbusier. Le Grand, Berlin 2008, Anhang: Dokumente, deutsche Übersetzung zu S. 58

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Abb. 42: Le Corbusier, Parthenon, Skizzenblatt (1911)

Der junge Le Corbusier hat etwas anderes erwartet – offensichtlich mehr Ordnung. Deren Fehlen macht er an der Achsdivergenz von äußerem Säulenkranz und innerer Säulenstellung der Vorhalle sowie dem Nichtübereinstimmen der von den Säulenstellungen vermeintlich vorgegebenen axialen Ausrichtung mit der Gliederung der Deckenfelder fest. Hier zeigt sich das gleiche Problem, das auch Klenze bei seinem Walhalla-Projekt hatte. Klenze versuchte, Ordnung zu schaffen: Mit der Unterschiedlichkeit der Achsen musste er sich weitgehend abfinden, da sie durch die Geometrie des Vorbilds gegeben war. Den Deckenspiegel der Ringhalle

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Abb. 43: Walhalla, Decke des Säulenumgangs

jedoch konnte er bearbeiten. Hier stellte er axiale Bezüge her, die es so eigentlich nicht gibt. Die Ecksäule der Vorhalle führt er so weit an den äußeren Säulenkranz heran, bis er die die Ringhalle überspannenden Steinbalken in Achsbezug zu beiden, zur äußeren wie inneren Säulenstellung, bringen kann. Die Steinbalken lassen sich nun einmal auf die Mittelachse der Außensäule und einmal auf die Außenkante des Gebälks der Innensäule beziehen. Auch wenn dies kein axiales System im durandschen Sinne sein kann, ist ein Fluchten von Achsen und Kanten hergestellt. Die ursprünglich verschieden breiten Umgänge der Längs- wie Frontseiten sind angeglichen, was sich deutlich in einem nun quadratischen Deckenfeld in den Ecken zeigt. Weiterhin ist der Achsabstand der inneren Säulenstellung vor dem Kernbau, im Gegensatz zum ursprünglich progressiven des Parthenon, vereinheitlicht, was auch als Vorbereitung und Übergang zum Innenraum gelesen werden könnte, in dem sich dann ja problemlos ein ideales Gitter realisieren ließ. Auch wenn im Vergleich dazu im Säulenumgang die durch die Steinbalken angezeigten Achsen die Mittelpunkte der Säulen der inneren und äußeren Reihe nur näherungsweise treffen können, sieht das Ganze doch wesentlich geordneter aus, als in dem von Le Corbusier gezeichneten Vorbild. Die regelmäßige Aufteilung der Kassetten zwischen den Steinbalken – wenn auch unterschieden in 6-teilige Regel- und 4-teilige Eckfelder – komplettiert die-

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Abb. 44: Säulenstellungen Walhalla und Parthenon (schraffiert)

ses Bild der Regelhaftigkeit. Das vielleicht erstaunlichste Ergebnis von Klenzes Authentitäts- und Ordnungsversuchen ist die Domestizierung des griechischen Tempels. Alles Irrationale und Sperrige wird in ein Bild von Ordnung eingewoben, das einfach und leicht verständlich aussieht. Im Gegensatz zu Durand, der axiale Ordnung als entwurfsgenerierendes Mittel versteht und auch in aller Konsequenz so anwendet, ist sie bei Klenze bloße Überredung. Polemisch könnte man auch Schinkels Lehrblatt 2a, das er für die »Technische Deputation für Gewerbe« als Vorbild für Fabrikanten und Handwerker zeichnete und das das Eingangsbauwerk zum Tempel von Eleusis darstellt, als ähnlich suggestiv beschreiben. Auf dem Lehrblatt wird ein vorbildlich ordentliches Gebäude vorgestellt. Interessant ist im untersuchten Zusammenhang wieder das Verhältnis von Achsen und Ordnung und – im Anschluss an Klenzes Walhalla-Lösung – speziell die Lage von Triglyphen und Balken. Unter diesem Aspekt erscheint die Wahl des Beispiels bemerkenswert, da Schinkel die Ausnahme aussucht, um ein Prinzip zu beschreiben. Das Besondere der Propyläen in Eleusis ist, dass hier die Balkenlage tatsächlich in der Ebene des Metopen-Triglyphenfrieses liegt. Das ist bei allen anderen überlieferten Bauten nicht der Fall. Dort liegen Triglyphen und Balken nicht in einer Ebene und sind – wie schon am Parthenon gezeigt – nicht einmal axial aufeinander bezogen. Ein tradiertes

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Abb. 45: Karl Friedrich Schinkel, die Propyläen in Eleusis (um 1823)

Verständnis des dorischen Tempelbauens, das sämtliche Elemente der dorischen Ordnung in einem ursprünglichen Holzbau vorgeprägt sieht, würde jedoch genau dies einfordern. Demnach wären die Triglyphen ursprünglich Abdeckungen der hölzernen Balkenköpfe, die deren offene Schnittkanten vor der Witterung schützen. Die Metopen wären Füllung und Abschluss zwischen den Balkenlagen.79 Das würde auch konstruktiv Sinn ergeben, da die Form und deren konstruktive Zusammenhänge verständlich wären und das Beharren auf diesen Formvorgaben als konstruktive Logik im Sinne eines rationalen, der Vernunft verpflichteten Entwerfens auch argumentiert werden könnte. Wie man sich dies prototypisch vorzustellen hat, zeigt die nächste Abbildung, eine Rekonstruktion der Balkenlage griechischer Tempel nach Schinkel, der sich hier wiederum auf seinen Lehrer Aloys Hirt bezieht. Man sieht auf Schinkels Zeichnungen Säulen, darauf aufliegend einen umlaufenden Ringbalken, den Architrav, und darüber den Metopen-TriglyphenFries mit Balkenlage. Abgedeckt wird das Ganze durch einen freitragenden,

79 Vgl. Auguste Choisy: Histoire de l’architecture, Paris 1899. Choisy fasst die zu Allgemeingut gewordene Auffassung in verbindliche Darstellungen.

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Abb. 46: Aloys Hirt, Rekonstruktion des griechischen Tempels (1809), Karl Friedrich Schinkel, Gebälkkonstruktion griechischer Tempel

Abb. 47: tektonisches Schema horizontaler, vertikaler und flächiger Lastabtragung

die gesamte Breite überspannenden Dachstuhl. Jedes Teil hat dabei seine konstruktive Aufgabe und diese Aufgabe ist eindeutig: Säulen stehen senkrecht und tragen vertikale Lasten ab. Der Architravbalken liegt horizontal und überspannt als lineares Element die Spannweiten zwischen den Säulen. Tektonisch folgerichtig erscheint die Balkenlage als Gitter, das zweiachsig gespannt die Lasten der Decke horizontal verteilt und auf dem Architravbalken zum Liegen bringt. Die Zeichnung zeigt deutlich zwei Forderungen: Die erste Forderung besteht in der Unterscheidung verschiedener in einem

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Abb. 48: Leo von Klenze, Tafel 1 (Versuch einer Wiederherstellung des toskanischen Tempels, 1821)

Gebäude auftretender Lastfälle vertikaler, horizontaler, linearer und flächiger Lastabtragung. Die Form der Teile entspricht der Art der Lastabtragung, was als zweite Forderung gelesen werden kann. Demnach müssen die Form und Fügung der Teile den Kräfteverlauf, die konstruktive Logik des Gebäudes, auch darstellen können. Bemerkenswert ist daran, dass die Konstruktion nicht mehr nur da zu sein hat, lediglich als notwendige Voraussetzung für das Nichteinstürzen eines Gebäudes, sondern dass sie im tektonischen Sinn zeichenhaft wirksam wird. Ganz Ähnliches zeigt Klenze in seinem »Versuch einer Wiederherstellung des toskanischen Tempels nach seinen historischen und technischen Analogien«. Auch hier wird eine noch ganz ursprüngliche, in ihrer tektonischen Stringenz aber als prototypisch zu verstehende Konstruktion vorgestellt, die, wie Klenze dann ausführt, als Urbild aller wesentlichen Architekturen anzusehen ist. Auf zwei dem Textband angefügten Tafeln stellt er das auch zeichnerisch dar. Die erste Tafel zeigt, zentral angeordnet, einen Grundriss und – noch ganz dem durandschen Planschema folgend – in doppelt so großem Maßstab einen von vorne gesehenen Querschnitt durch die Vorhalle. Seitlich angeordnet sind Details. Auf dem zweiten Blatt sieht man eine Perspektive. Der Blick aus Augenhöhe zielt zentral auf das Gebäude.

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Abb. 49: Leo von Klenze, Tafel 2 (Versuch einer Wiederherstellung des toskanischen Tempels, 1821)

Die Art der Präsentation wirkt objektiv und umfassend. Wieder erscheint die Konstruktion elementar und auf Wesentliches reduziert, wie auch jedes Teil in seiner Form und Fügung seinen konstruktiven Zweck preisgibt. Säulen tragen vertikale Lasten, Balken horizontale und ein Gitterrost verteilt zweiachsig gespannt die Last der Decke. Das Bemühen um tektonische Klarheit dritt deutlich zutage. Das Modell zeigt auch recht anschaulich die Ursprünge des klassischen Formrepertoires in zimmermannsgemäßen Holzverbindungen, die selbstverständlich einer Rasterteilung als strukturgenerierendem Moment folgen. Das Raster wird deutlich durch in den Grundriss projizierte Systemlinien, wie auch materiell in der Balkenlage der Decke fassbar. Die umlaufend sichtbaren Balkenköpfe folgen natürlich ebenfalls dieser Ordnung. Konstruktion und Darstellung der Konstruktion scheinen identisch. Dabei sind Konstruktion und Darstellung der Konstruktion durchaus zweierlei. Sie können sogar in Widerspruch geraten. Die tradierten, ursprünglich Holzkonstruktionen nachzeichnenden Elemente des Dorischen stimmen spätestens seit ihrer Übertragung in Steinarchitektur nicht mehr mit der nun dem neuen Material entsprechenden Konstruktion überein. Daraus folgen bekanntermaßen Rasteranomalien und Ebenenverschiebungen

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zwischen ehemals zueinander gehörigen Teilen, wie Balken und Triglyphen. Eigentlich scheitert schon das prototypische Modell. Schon hier steht eine logisch nachvollziehbare, einfache und elementare Konstruktion, die selbstverständlich der Regelmäßigkeit einer repetitiven Ordnung folgt, der Darstellung dieser Konstruktion und der Darstellung der Ordnung entgegen. Der Ort des Scheiterns ist, wie man in den Zeichnungen sieht, die Decke. Eine gerasterte Balkenlage ist zwar aus Gründen tektonischer Stringenz verständlich, konstruktiv ist die Verschneidung stabförmiger Elemente, sprich Balken, allerdings widersinnig. Der Kreuzungspunkt in einer Ebene verlangt eine Schwächung der Balken je zur Hälfte, um sie aneinander vorbei bzw. einen durch den anderen zu führen. Dieser Punkt wird aber nicht explizit gezeigt. Bezeichnenderweise legt Klenze im oben abgebildeten Beispiel den die Konstruktion zeigenden Schnitt so, dass die Durchdringung zweier eigentlich in gleicher Ebene liegender Balken nicht zu sehen ist. Im perspektivischen Schaubild ist die Rasterung dann wieder deutlich zu erkennen. Diese konstruktive Ineffizienz wird, wie bereits bei Hirt und Schinkel,80 zunächst in Kauf genommen, braucht man doch zweiachsig gespannte Balken in einer Lage, um einen umlaufenden Triglyphenfries, d. h. eine kontinuierliche Reihe von Balkenköpfen, erklären zu können. Verständlich und nachvollziehbar soll eine tradierte Form erklärt werden, selbst um den Preis konstruktiver Widersprüchlichkeit. Durands Reaktion auf formalen Traditionsballast ist bekannt, einfach und eindeutig. Im Fall von Widerspruch und Ineffizienz ist das Vorbild falsch gewählt. Verbindlich sind allein die immerwährenden Gesetze der Ökonomie. Ganz so schnell lässt sich das tektonische Modell jedoch nicht aufgeben, kommt man noch einmal auf Schinkels Eleusis Blatt zurück. Schinkel argumentiert weit weniger ahistorisch als Durand und legt in die Ebene der Darstellung, des Zeichenhaften, mehr Bedeutung, wie er in je-

80 Schinkel ist sich dieses Problems durchaus bewusst. Im didaktischen Programm seines Lehrbuches löst er sich, gerade wenn er elementare Konstruktionen aus elementaren Körpern vorführt, ganz in der Nachfolge seines Lehrers Friedrich Gilly von einer allzu wörtlichen Übertragung des griechischen Vorbildes und entwirft tektonisch einwandfreie Muster. Er trennt hier die Lagen der Deckenträger in horizontaler Schichtung in Längs- und Querträger. Jedoch verzichtet er hier wiederum, auf Divergenzen zum historischen Vorbild hinzuweisen.

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nem folgenschweren und viel zitierten Satz festhält: »Jede vollkommen ausgeführte Architecturfigur des Werkes muß jedesmal eine kurze Anzeige erhalten: daß sie auf eine vorher entwickelte reine Konstruction gegründet ist, damit das Ganze Zusammenhang bekomme.«81 Während die reine Konstruktion bei Durand im Raster angelegt ist und ausreichend durch dieses repräsentiert werden kann, bedarf es jetzt eines weiteren semantischen Hinweises. Einfachheit, Regelmäßigkeit und die Reinheit der Konstruktion sind auch ausdrücklich zu benennen. Schinkel bedient sich bestehender Zeichen, – eben jener des Klassischen, die in ihrer geschichtlichen und kulturellen Tiefe mit Bedeutung aufgeladen sind und exakt die geforderte Einfachheit, Regelmäßigkeit und Reinheit der Konstruktion ausdrücken. Neben dem operativen Aspekt der Zweckerfüllung einer Konstruktion und deren Darbietung, die Auskunft über die Art des Gemachtseins gibt, ist auch der semantische Wert überlieferter Zeichen zu wahren. Im Fall des Lehrblattes zu Eleusis stellt Schinkel die Vernünftigkeit des Konstruierens mit Steinen, vertikalen Steinsäulen und Steinbalken dar. Klassische Formensprache beherrscht das Blatt, dorisches Zeichensystem und Steinschnitt gehen zusammen. Dabei werden deren tektonische Qualitäten offensichtlich und die Herkunft aus dem Holzbau bleibt zu erkennen. Das Dach und die Konstruktion sind teilweise abgedeckt. Man sieht regelmäßige Reihungen von Steinbalken, deren Achsabstände gleich sind. Dabei sind die Hauptbalken in der gleichen Ebene und synchron zu den Triglyphenköpfen positioniert, die Nebenträger liegen orthogonal gedreht auf den Hauptträgern auf. Die überbrückenden Deckenplatten passen sich in gleicher Modulteilung in den Abstand zwischen den Nebenträgern ein. Sowohl konstruktiv als auch ideell erscheint die Forderung nach Einfachheit und Klarheit erfüllt, wobei weder die tektonische Fügung noch das Bild klassischer Idealität offensichtliche Ungereimtheiten vertragen würde. Diese

81 Karl Friedrich Schinkel: Notiz in Heft IV, Blatt 14, zitiert nach: Peschken: Lehrbuch, S. 82. Diese Anleitung zum Lehrbuchprojekt, mit textlichen Hinweisen für didaktische Klarheit zu sorgen, ließe sich auch auf das Gebaute selbst übertragen. Peschken schreibt im Anschluss dazu: »Das Gebäude soll vor allem den Ausdruck seines statischen Bestehens auf der Stirn tragen. Der Betrachtende soll die Zweckmäßigkeit der Anordnung und die Dauerhaftigkeit des Werkes verstehen und fühlen, [...]. Ein in diesem Sinn gestalteter Entwurf ist tektonisch.« Ebd., S. 82

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schleichen sich jedoch im rechten Bildrand ein. Hier können an der Längsseite Balken und Triglyphen keine Einheit mehr eingehen. Diese Einheit ist den Frontseiten vorbehalten. Ebenso springen die Ebenen der Deckenplatten. Während die Deckenplatten der Eingangsseite ganz organisch an ihren Rändern in die Formsteine des Geisons übergehen, liegen sie auf der Rückseite eine halbe Ebene tiefer. Beides jedoch, die Inkongruenz von Triglyphen und Balkenraster wie auch der Ebenensprung eigentlich gleicher Teile, tritt nicht in Erscheinung. Das didaktische Abdecken der Konstruktion spart genau jene Bereiche aus, an denen diese Konflikte auftreten würden. Hierin liegt die Überredung, die Simulation einer Ordnung, die ordentlicher – d. h. regelmäßiger und einfacher – aussieht, als sie es in Wirklichkeit ist. Positiv ausgedrückt kann man auch von einer Strategie sprechen, die Frage, was Architektur ist, wie sie zu machen und darzustellen ist, zu beantworten, ohne – und das ist das Entscheidende – einen Bruch mit der Tradition, vor allem der formalen, herbeizuführen. Man könnte Klenzes Walhalla-Projekt in dem Sinn interpretieren, dass seine eigentliche Leistung nicht darin liegt, ein Problem zu lösen, sondern darin, einen Konflikt nicht zu formulieren. Klenze umgeht damit die Radikalität und Nüchternheit eines Durands. Betrachtet man Klenzes Walhalla von dieser Seite, ist sie auch mehr als nur eine Nachahmung von etwas schon Bestehendem, wie sie als Kopie eines griechischen Tempels zumeist gesehen wird. Auch ist sie mehr als ein strukturell unvollkommenes Gebilde, wie es die strengen Maßstäbe Durands bewerten würden. Was Klenze tut ist ambivalent. Er formuliert eine architektonische Wirklichkeit, die sich ganz in Übereinstimmung mit Durand dem Paradigma utilitaristischer Effizienz und einer rational konstruktiven Erklärung architektonischer Zusammenhänge unterwirft. Gleichzeitig aber, ganz im Widerspruch zu Durands kalkulatorisch abstrakter Formgenese, bemüht er sich ebenso darum die Ebene ideell aufgeladener konventioneller Zeichen nicht zu vernachlässigen. Im Inneren lässt sich Durands Entwurfsraster problemlos einsetzen. Traditionelle Stilelemente können, da es kein konkretes, verbindliches Vorbild gibt, flexibel variiert werden, was über die Entwurfsentwicklung zu verfolgen ist. Bei gleicher Grundrissdisposition realisiert sich das Bauwerk einmal mit gewölbter Kassettendecke, einmal mit kassettiertem offenen Dachstuhl. Entsprechend werden Säulen zu Pfeilervorlagen, Pilastern oder Karyatiden, d. h. die Elemente sind bei gleich bleibender Struktur austauschbar. Man kann folglich von einer modernen Entwurfsmethodik im

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Sinne Durands sprechen. Sogar technische Innovationen wie Oberlichtkonstruktionen aus Glas und Eisen lassen sich, solange sie rasterkonform sind, einfügen. Ebenso eindeutig ist – für sich genommen – die Situation der äußeren Ansicht. Hier haben wir es mit einem dem historischen Vorbild weitgehend ähnlichen, wenn auch purifizierten Nachbau zu tun, der der Forderung nach reinstem Hellenentum nachkommt und Bedürfnisse der geschichtlichen Verortung ebenso wie restaurative Tendenzen befriedigt. Konflikte des imaginierten Rasters mit der überlieferten Substanz werden zugunsten historischer Authentizität zurückgestellt. In der Zone des Dazwischen findet das eigentlich Interessante statt: Ohne wirklich historisch verbürgt zu sein, wird ein Bild von Klassik erzeugt, das klassischer ist als das antike Vorbild. Während dort Irrationales, Kompliziertes und Ungeordnetes gleichberechtigt neben Verständlichem, Einfachem und Geordnetem steht, werden diese Tendenzen der Unordnung hier unterdrückt. Ohne wirklich regelmäßig zu sein, wird ein Erscheinen von Regelmäßigkeit simuliert. Das Mittel, um dies zu erreichen, ist ein Ausrichten der Balkenlage auf die Form eines Rasters, das zwischen den eigentlich divergenten Säulenachsen vermittelnd eingeschrieben ist. Ohne die Säulenstellungen kontrollieren zu können bzw. deren effiziente und rationale Verteilung zu gewährleisten, was Durands Anliegen gewesen wäre, operiert Klenze hier lediglich mit dem Bild eines Rasters, was aber ausreicht, um ein Bild von Ordnung entstehen zu lassen. Weiter evoziert ein Zusammenführen der Balken auf einer Ebene und deren zweiachsige Ausrichtung über die zwei Spannrichtungen zu einem Gitterrost den Eindruck tektonischer Stringenz. Wie schon in der Rekonstruktion des toskanischen Tempels vorgeführt, lässt ein derartiges Auslegen von Gittern die Verbindung von Balken und Triglyphen als konstruktiv bedeutsam erscheinen. Allerdings geschieht dies, ohne dass eben wirklich eine Rasterstruktur oder eine wirklich sinnvolle bzw. mögliche Konstruktion vorhanden ist. Erstaunlich ist, dass beide Ebenen – sowohl die Ebene der rationalen Erklärung konstruktiver Zusammenhänge und der rationellen Produktion von Architektur als auch die Ebene traditioneller Zeichensysteme – nicht als dialektisches Paar verstanden werden, dessen Gegensätzlichkeit aufgelöst werden müsste. Ort der Synthese hätte die Zwischenzone der Ringhalle sein können. Die besagten Widersprüche werden dort jedoch keinesfalls als solche formuliert, sondern vielmehr als Gleiches dargestellt. Dahinter steht die Vorstellung, dass die Rationalität konstruktiver Ordnung und Logik tra-

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dierte, im Rückgriff quasi metaphysische Ordnungszusammenhänge legitimiert und umgekehrt. So kann sich Klenze, nachdem er seinen etruskischen Tempel – und damit auch die wesentlichen Prinzipien ordentlichen Bauens – rekonstruiert hat, in seiner zugehörigen programmatischen Schrift wünschen: »Möchte doch auch bey uns die schöne Zeit wiederkehren, wo, wie im klassischen Alterthum ein allgemein feststehender Begriff höchster Zweckmäßigkeit und Charakteristick, den Typus des Göttlichen, Heroischen und Menschlichen, Pathos und Ethos in den Formen der Architektur feststelle und erkennen lehrte! Wo nach diesem Gesetze die Grenzen des Rechten und Schicklichen scharf sich abschnitten und bestimmten, so daß sie zu überschreiten Verbrechen, und sie überschreiten zu dürfen, göttergleiches Vorrecht war. Nur eine solche Zeit verdient streng genommen den Namen einer kunstgemäßen, nur eine solche Kunst den Namen einer Architektur. Suchen wir also nur dieses Ziel zu erreichen! die Strenge gegen die Regeln und gegen uns selbst begleite stets unser Streben, und weit entfernt sie unter irgend einem Vorwande zu umgehen, wollen wir im Gegentheile stets den Grundsatz vor Augen haben, daß die wahre Kraft des schöpferischen Geistes erst dann sich beurkundet, wenn sie auch in den Schranken, die die Gesetze des Schönen und Schicklichen um sie ziehen, mit Freyheit und lebendigem Anstande sich zu bewegen vermag!«82

Dabei sind die Regeln, die hier göttlichen Rang erhalten, höchst rationaler Provenienz. Vitruv, die einzige verfügbare Quelle zur Rekonstruktion eines so geordneten Altertums, liest Klenze dann auch erstaunlich »durandhaft«: »Uns dünkt, daß es hier sowohl im rechten Verständniß des Textes begründet, als das einzige Mittel sey, um für alle Fälle eine feste und gleiche Norm zu gewinnen, wenn man die Achsen der Säulen, Anten, Pilaster und Wände, stets auf die von Vitruv bezeichneten Theilungspunkte zutreffen ließe. Dieses ist sowohl im Sinne des Alterthums, als architektonisch richtig.«83

82 Klenze: Wiederherstellung des toskanischen Tempels, S. 84 83 Ebd., S. 52

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2.2.2 Durand und Palladio. Das Problem der Eliminierung des Ortes

Abb. 50: Jean-Nicolas-Louis Durand: Maison d’italie par Palladio, Detail aus Tafel 49 (Recueil, 1801/02)

In der Diskussion um Durands rationalisiertes Arbeiten mit Elementen, Rasterstrukturen und deren formalen Implikationen drängt sich auch der Vergleich mit Andrea Palladio geradezu auf. Auch wenn Durand immer wieder betont, dass er stilistische Anleihen bei historischen Lösungen für obsolet hält, nehmen die Arbeiten Palladios bei ihm doch eine gesonderte Stellung ein. Neben den allgemein mit »bei den Alten« bezeichneten Hinterlassenschaften der Antike wird einzig Palladio von Durand noch namentlich genannt und in Zusammenhang gebracht mit Prinzipien, die er als vorbildhaft erkennt und für Wert hält, weiterverfolgt zu werden. Im Vorwort zum zweiten Band des Précis bemerkt Durand dazu, dass »aus jenen einfachen und natürlichen Verbindungen, welche die Alten, welche Palladio anwendeten, [die] hervorgebrachte Wirkung, groß, mannichfaltig und wohlthuend ist«.84 Neben dieser offen ausgesprochenen Wertschätzung im Text ist der Einfluss Palladios aber vor allem im Tafelwerk präsent. Bereits

84 Durand: Précis 1831, Band 2, S. XIII

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im Recueil erhalten die Arbeiten Palladios exklusiv, neben all den anderen als wesentlich ausgesuchten Gebäuden der Vergangenheit und Gegenwart, drei eigene Tafelseiten. Noch umfänglicher ist die Präsenz Palladios im Précis. So kann das linke Gebäudebeispiel auf Tafel 1 / II. Teil des Précis als offensichtliches Zitat einer rasterunterlegten Villa Rotonda gelesen werden.

Abb. 51: Jean-Nicolas-Louis Durand, Tafel 1 / II. Teil (Précis, 1821)

Wichtiger jedoch als das Explizitwerden ist die unterschwellige formale Vorprägung durch das palladianische Modell, die sämtliche gezeigten Beispiele des Précis von »den Elementen«, über »die Teile«, bis zur Darstellung »ganzer Gebäude« durchzieht. Obwohl Durand generell formale Vorbilder ablehnt, liegt hier ein solches vor. Dazu kommt es allerdings weder grundlos noch zufällig. Ähnlich wie in Palladios »Quattro libri« geht es auch im Précis darum, »dass gleichsam grammatikalisch und in jedem Fall auf – spezifisch architektonischen – Einzelheiten aufgebaut eine Elementarlehre der Architektur gebildet werden soll.«85 Die in beiden Fällen ange-

85 Werner Oechslin: Palladianismus. Andrea Palladio – Kontinuität von Werk und Wirkung, Zürich 2008, S. 94. Oechslin verweist hier ausdrücklich auf das gemeinsame Anliegen Palladios wie Durands.

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strebte Systematisierung gründet in einer entschieden betriebenen Geometrisierung architektonischer Sachverhalte und deren konsequenter Darstellung innerhalb der gegenbezüglichen Darstellungskonventionen von Grundriss, Schnitt und Ansicht. Wie Durand verzichtete auch schon Palladio auf visuelle Attraktionen perspektivischer Darstellungen, freilich ohne dies als didaktisches Programm zu benennen. Darüber hinaus verliert die geometrische Abstraktion bei Durand und Palladio nie ihren architektonischen Bezug, wird nie reine Geometrie. Oechslin spricht von einer »Symbolsprache der architektonischen Figur, die zwar auf der abstrakten und verlässlichen Geometrie fusst, aber auch bildähnliche Elemente oder Zeichen aufweist wie einen Kreis für einen Säulengrundriss und zudem Materie (Mauerdicke) durch Schraffierung symbolisch kenntlich macht. Palladio perfektioniert in den Quattro Libri diese Methode und gibt den Holzschnitten auch noch die Vermaßungen hinzu, sodass der geometrischen die arithmetische Information beigestellt wird und ihre wissenschaftliche Verlässlichkeit insgesamt erhöht erscheint. Damit wurde für lange Zeit ein gültiger, weil zweckmässiger Standard in der Wiedergabe der Architektur erreicht.«86 Insofern verdankt Durand Palladio viel. Palladio stellt eine operativ einsetzbare Sprache zur Verfügung, die man bereits unter den Aspekten, die dann bei Durand so überaus wichtig werden, lesen könnte. Operativ ist Palladios Sprache insofern, als sich parallel zur Darstellung das Verständnis dessen, was Architektur sein könnte, präzisiert. Der Systematisierung der Darstellung geht eine generelle Systematisierung voraus. Palladio beginnt seine Quattro libri mit einer Beschreibung der Materialien und deren Verwendung. Er entwickelt folgerichtig aus den Fundamenten Wände und Säulen und beschreibt deren Ordnungen, um über Fußböden und Decken zu den Dächern zu kommen. Im zweiten Buch beschäftigt er sich mit dem Haus und seinen Teilen, im dritten mit den öffentlichen Gebäuden und im vierten mit den Tempeln, der würdigsten Bauaufgabe und Bauform. Auf allen Ebenen, der einzelner Teile sowie der ganzer Gebäude, ist ein Interesse für typologisches Ordnen und Zuordnen und typologische Verallgemeinerung spürbar. Für die weitere Argumentation ist hier Folgendes jedoch noch wichtiger: Palladio agiert mit einem begrenzten Satz architektonischer Elemente, der quasi grammatikalisch, nach syntaktischen Regeln, immer

86 Ebd., S. 77

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Abb. 52: Andrea Palladio, dorische Ordnung (Quattro libri, 1570) und deren Übertragung in eine 3-Tafelprojektion

wieder neu kombiniert, variiert und verändert werden kann. Die Prinzipien derartiger Reproduktion – Durand wird später von Komposition sprechen – sind weitgehend bereits in der Art der Darstellung angelegt. Die konsequente Zuordnung von Grundrissdarstellung und zugehörigem Schnitt bzw. Aufriss in gleichem Maßstab und deren aufeinander bezogene Ausrichtung ermöglichen es, jeden Punkt und jedes Teil unmittelbar in seiner räumlichen Disposition in der xy- und xz-Ebene aufzufinden. Ohne Horizontal- und Vertikalprojektion explizit als solche zu benennen, nutzt Palladio in der ausschnitthaften Überlagerung beider die Möglichkeiten eines so aufgespannten kartesischen Feldes als Referenzebene. Das hat Folgen für die Architektur. Damit ist nicht nur jeder Punkt eindeutig räumlich festgelegt. Eine solche Systematik der Darstellung begünstigt auch eine symmetrische und repetitive Struktur. So werden gleiche Teile oder Elemente, die wiederkehren, nur einmal exemplarisch vorgestellt und wo dies möglich ist, werden sie, deren spiegelsymmetrische Eigenschaften nutzend, auch nur zur Hälfte gezeigt. Gleichzeitig werden im Umkehrschluss vorrangig solche Elemente erzeugt, die ebendiese Eigenschaften haben. Dieses Verfahren lässt sich auf ganze Gebäude anwenden. Auch hier kommt die Variation bekannter Teile zur Anwendung. Basis ist immer ein symmetrisches System, das durch seine Ausrichtung auf ein kartesisches Referenzsystem bestimmt ist, das sich in den Haupt- und oft auch in den Querachsen zeigt, die dann sowohl als Achsen der Schnitte wie auch als Symmetrieachsen fungieren. Die Mittel der Darstellung bedingen die Wahl der architektonischen Elemente, deren Zuordnung untereinander und letztendlich die

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Abb. 53: Andrea Palladio, Kombination und Überlagerung von Ansicht und Horizontal- bzw. Vertikalschnitten (Quattro libri, 1570)

Art der Architektur überhaupt. Im Ergebnis erscheint dieses Vorgehen sowohl syntaktisch als auch innerhalb der Konvention der Darstellung überaus überzeugend, selbstverständlich und unkompliziert. Durand wird dieses Verfahren – sowohl im Hinblick auf die Zeichnung als auch im Hinblick auf deren bauliche Realisierung – ökonomisch argumentieren. Palladio tut dies nicht, auch wenn er die Möglichkeiten ökonomischer Darstellung ausschöpft. Bei aller beschriebenen Gemeinsamkeit zwischen Durand und Palladio stellt sich die Frage, wie weit eine Interpretation der Praxis Palladios im Sinne des Effizienzgedankens tragfähig ist. Es muss ferner grundsätzlich hinterfragt werden, ob es überhaupt zulässig ist, Palladio ein Streben nach geometrischer Einfachheit zu unterstellen, das zum Ziel hat, allgemeine, verallgemeinerte und allgemein gültige Lösungen anzubieten. Bei Durand ist dies unstrittig. Optimierung und Ökonomie stehen im Vordergrund. Die Mittel der Formalisierung und der formalisierten Darstellung sowie die daraus hervorgehende Baupraxis zielen ja gerade darauf ab, unabhängig von konkreten Realitäten allgemeine und überall einsetzbare Lösungen entwickeln zu können. Grundvoraussetzung ist dabei die angenommene Identität von Welt – in Form der Abstraktion eines kartesischen Feldes – und einer Architektur im Raster. Architektur wird folglich verstanden als Komposition eines bekannten Satzes von Elementen. Auswahl und Anordnung erfolgen nach funktionaler Notwendigkeit, wobei die Synchronisierung im Raster die verlustfreie und effiziente Überführung der Planung in die bauliche Realität ermöglicht. Im Folgenden soll anhand eines Vergleichs konkreter

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Abb. 54: Andrea Palladio, Basilika in Vicenza (Quattro libri, 1570)

Beispiele im Detail die oben aufgeworfene Frage geklärt werden, inwiefern die Methoden und Zielsetzungen Durands noch mit denen Palladios übereinstimmen bzw. ob die Fragestellungen Durands überhaupt jemals die Palladios waren. Gut vergleichen lassen sich Palladios Loggienumbauung des Palazzo della Ragione, der sogenannten Basilika, in Vicenza und Durands Arkadenentwürfe, die er auf Tafel 4 / II. Teil des Précis vorstellt. Insbesondere Figur 6, die doch große formale Nähe zu Palladios Loggien aufweist, erscheint dabei ergiebig. Bei beiden Beispielen handelt es sich um prominente Bauwerke bzw. Lösungen, die als repräsentativ für das Werk des jeweiligen Architekten gelten können. Mit der Basilika in Vicenza liegt ein Gebäude vor, das nach Palladios eigener Einschätzung »mit den antiken verglichen werden kann und unter den größten und schönsten Bauten, die seit der Antike bis heute errichtet worden sind, genannt wird.«87 Zudem ist es

87 Andrea Palladio: Die vier Bücher zur Architektur (I Quattro libri dell’architettura), Zürich/München 1984, III. Buch, Kapitel 20, S. 259

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Abb. 55: Jean-Nicolas-Louis Durand, Tafel 4 / II. Teil (Précis, 1819)

dasjenige unter seinen Gebäuden, das am deutlichsten seriell-repetitiv und regelmäßig aufgebaut ist und dessen Grundrisskonfiguration einem Gitter sehr nahe kommt. Der Aufriss zeigt die zweigeschossige Aneinanderreihung einer feststehenden Kombination von Elementen, der von Palladio popularisierten Serliana, unten in dorischer, oben in jonischer Ausführung. Durands Beispiel einer zweigeschossigen Loggia wird von ihm exemplarisch als möglicher Standard für das Problem vertikaler Komposition vorgestellt und als solcher in das Tafelwerk des Précis übernommen. Diese Art der Lösung kann generell als charakteristisch für seinen formalen Zugang zu architektonischen Problemen betrachtet werden. Augenfällig sind zunächst die Gemeinsamkeiten beider Architekturen: Dabei ist an erster Stelle die ähnliche Anordnung eines ähnlichen Motivs zu nennen. Wenn auch Palladio noch klassisch und hierarchisch nach Ordnungen unterscheidet, Durand dagegen stilistisch neutralisiert, ist doch die gleiche strukturelle Organisation entsprechender Elemente erkennbar. Zusammengesetzt aus Säulen, Pilastern, Mauerpfeilern, Kreuzgratgewölben, horizontalen Balken und Bögen, folgen diese Elemente jeweils gleichen

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konstruktiven und formalen Absichten. Ihre jeweiligen tektonischen Eigenschaften werden klar herausgearbeitet: Säulen und Pilaster zeigen – in ihrer Doppelstellung der Tiefe der Wand zugeordnet – vertikales Lastabtragen, Bögen verteilen die Last der Wand, horizontales Gebälk wirkt als Balken und rechtwinkelig verschnittene Tonnen überwölben den sich zwischen den Wänden aufspannenden Raum. Gleich ist im Grunde auch der Darstellungsmodus, eine das Wesentliche der Elemente darstellende Strichzeichnung. Dabei sind bei Palladio die hinter der Fassadenebene liegenden Flächen schraffiert, geschnittene Teile sind ebenfalls schraffiert bzw. bei Durand geschwärzt. In beiden Fällen bleiben die Projektionen in Grundund Aufriss unplastisch, zweidimensional. Deutlich sichtbar ist im Grundriss die Struktur sich wiederholender Elemente, jeweils spiegelsymmetrisch nach der Längs- und Querachse ausgerichtet, wobei die Elemente durch Gewölbe verbunden und die Grate der Gewölbe eingezeichnet sind. Die Grate bilden ein Muster diagonaler Linien, die sich über das ganze Gebäude erstrecken, respektive bei Durand, der nur exemplarisch den Eckausschnitt zeigt, sich erstrecken könnten. Allerdings ist dabei auffällig, dass dieses Muster bei Palladios Basilika gar nicht so regelmäßig ist, wie man erwarten könnte. Zwar lässt sich ein orthogonales Raster über den Grundriss legen, das die Hauptachsen der Fassadengliederung mit den Pfeilern der Binnengliederung verbindet, diese ordnet und räumlich fixiert. Die Diagonalen jedoch, die folglich kontinuierlich als gerade Linien parallel von einer Seite des Gebäudes zur anderen laufen sollten, tun dies nicht, sondern knicken in den jeweils äußeren Feldern leicht ab. Diese Anomalie des Musters ist darauf zurückzuführen, dass nur in den Eckfeldern und den Feldern im Gebäudeinneren die Grate in der Winkelhalbierenden unter 45° verlaufen, die Normalfelder der Längs- und Querseiten jedoch gestaucht erscheinen. Es entsteht ein Netz mit verzogenen Enden. Durands Eckausschnitt vertritt dagegen eine Konzeption, die die gewählte Elementkomposition beliebig reproduzieren lässt, ohne dass Modifikationen vorgenommen werden müssten. Das Muster ließe sich beliebig auf die jeweils funktional benötigte Größe ausweiten. In der Stringenz, Effizienz und Fehlerlosigkeit der Komposition eines verständlichen und übersichtlichen Satzes konstruktiv legitimierter Elemente nach einfachen syntaktischen Regeln zeigt sich Durands Lösung als die Richtige. Ändert man jedoch die Blickrichtung, so stellt man fest, dass Durand ein Problem löst, das für Palladio unter Umständen überhaupt keines war.

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Durand erzeugt ein regelmäßiges Muster, Palladio nicht. Die Ursache für Palladios Musteranomalie liegt in seiner besonderen Eckausbildung, in der das jeweils letzte Joch gestaucht ist bzw. zugunsten einer doppelten Pilasterstellung im Eckpfeiler aus seiner Normalachse verschoben wird. Es handelt sich hier um das Problem eines klassischen Eckkonflikts. Allerdings sieht Palladio darin offensichtlich kein Problem. Ganz im Gegenteil, er scheint auf seine Lösung besonders stolz zu sein, da er die Problempunkte noch einmal im Detail vergrößert herauszeichnet. Daher muss man annehmen, dass es Palladio um etwas anderes ging als das Erzeugen und Ausfüllen eines regelmäßigen Feldes, denn dies wäre im besagten Beispiel durchaus möglich gewesen.

Abb. 56: Andrea Palladio, Basilika in Vicenza, Giacomo Sansovino, Libreria Marciana in Venedig (1537-1588)

Ihm lag sogar eine konkrete Lösung, derer er sich hätte bedienen können, vor: Der Neubau der Libreria Marciana in Venedig von Giacomo Sansovino. Mit etwas zeitlichem Vorsprung zu Palladios Basilikaentwürfen war

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Sansovino in Venedig mit einem ganz ähnlichen Problem beschäftigt.88 Sansovinos Bibliothek ist ebenfalls ein Gebäude mit Arkaden in dorischer Ordnung im Erdgeschoss und jonischer, loggienartiger Gliederung im Obergeschoss, wo sich jeweils Säulen und Bogenstellung innerhalb eines Joches überlagern. Bestimmend ist auch hier die regelmäßige Abfolge eines immer wiederkehrenden gleichen Motivs. Die Reihe entwickelt sich längs, entlang der ganzen Fassadenfront, jedoch auch umlaufend über die Ecke hinweg. Die Komplikationen, die sich nun aus der Repetition eines architektonischen Elements in zwei orthogonal zueinander stehenden Richtungen – der Längs- wie der Querseiten – ergeben, werden bei Sansovino Thema des Entwurfs. Er löst das Problem gewissenhaft. Stolz schreibt sein Sohn später: »Vor allem aber ist hier die bei großem Aufwand und Können mit einem Kunstgriff, der von den Alten bei der dorischen Ordnung nie zur Anwendung kam, errichtete Ecke [...] bemerkenswert.«89 Zu fragen ist, worum es sich bei besagtem Kunstgriff handelt. Sansovino nimmt zunächst die Anweisungen Vitruvs wörtlich. Bezüglich des Problems der Achsausrichtung und deren Darstellung greift er auf dessen bekannte Textstelle zur dorischen Ordnung zurück, wo Vitruv im dritten Kapitel des dritten Buchs einfordert, Säulen ausschließlich und grundsätzlich unter die durch Triglyphen bezeichneten Achsen zu stellen und das Reststück, das sich in der Ecke nach der letzten Triglyphe ergibt, mit einer halben Metope zu beenden. Die erste Forderung Vitruvs hatte sich in seiner Nachfolge durchgesetzt, die halbe Eckmetope dagegen erschien als geometrische Unmöglich-

88 Vgl. zum Planungs- und Bauverlauf des Palazzo della Ragione: Guido Beltramini: The Basilica. Vicenza, in: Guido Beltramini/Howard Burns (Hg.): Palladio, London 2008, S. 80 ff.; Lionello Puppi: Andrea Palladio. Das Gesamtwerk, Stuttgart 1994, S.110 ff. Demnach ist Palladio ab 1546 mit Planungen betraut und 1549 werden die Baumaßnahmen nach seiner Planung und in seiner Verantwortung aufgenommen. Neben Aufenthalten in Rom ist Palladio in der Zwischenzeit 1548 in Venedig nachweisbar, womit eine Kenntnis von Sansovinos Lösung angenommen werden kann; zum Planungs- und Bauverlauf der Libreria Marciana siehe: Harmen Thies: Michelangelo. Das Kapitol, München 1982 (Italienische Forschungen; Folge 3, Bd. 11), S. 203 ff. Es wird angenommen, dass die Fertigstellung des im folgenden Zusammenhang wesentlichen Eckjoches 1541 erfolgte. 89 Francesco Sansovino zitiert nach: Thies: Kapitol, S. 209

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keit, da ein im Verhältnis zur Ecksäule zu großer Überstand entstanden wäre, den man als nicht mehr harmonisch empfunden hätte. Diesen Widerspruch löst Sansovino, indem er die Ecksäulen durch Säulenpaare ersetzt und davon jeweils die äußere Säule in einen Pfeiler umwandelt, der so lange verbreitert wird, bis er die Außenkante des Überstandes der halben Metope erreicht. Die Disproportionalität eines so unverhältnismäßig breiten Pfeilers wird dadurch ausgeglichen, dass ihm beidseitig modular stimmige Pilaster appliziert werden, die ihm »Halt und Form verleihen«.90

Abb. 57: Giacomo Sansovino, modulare Teilung von Triglyphenfries und Eckpfeiler (Tr=Triglyphe, Me=Metope, m=Modul)

Damit ist nicht nur das Problem der Fassadengliederung, die Synchronisation der modularen Triglyphenreihe mit der axialen Ordnung, gelöst, auch die Binnengliederung lässt sich in das aufgespannte Achsraster einbinden. Sansovino zeigt dies exemplarisch an den Ecken. Ausgehend von den in die Inneneckwinkel eingestellten Säulen erschließt sich ein aus vier Säulen bestehendes Quadratraster, dessen Achsmaß genau dem der Fassadenachsen entspricht. Damit ist die Möglichkeit serieller Reproduktion gegeben. Auch wenn Sansovino in der baulichen Realisierung dann in den Normaljochen auf diese inneren Säulenstellungen verzichtet, liegt eine brauchbare Lösung vor, um ein Gebäude axial zu erzeugen wie auch diesen Prozess lesbar zu machen und nachvollziehbar vorzustellen.

90 Thies: Kapitol, S. 211; vgl. zur Generierung der Ecke: S. 209 ff., insbesondere Fig. 89-93

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Abb. 58: Möglichkeiten der Ausdehnung bei Sansovino und Durand

Palladio drückt seine Wertschätzung gegenüber diesem Gebäude und seinem Architekten an prominenter Stelle gleich zu Beginn der Quattro libri aus, indem er Sansovino als den nennt, der »als erster die schöne Bauweise bekannt machte, wie man, viele andere schöne Bauten von seiner Hand hintanstellend, in den ›Neuen Prokuratien‹ [Libreria Marciana] sieht, die das reichste und verzierteste Gebäude sind, das seit der Antike errichtet wurde.«91 Dabei erscheint – jenseits des Aspekts des »reich Verzierten«, der Wertschätzung des Dekorums, das für das Verständnis und Selbstverständnis der Architektur des 16. Jahrhunderts immer noch wesentlich bleibt – der Schritt von Sansovinos modularer Geordnetheit zu Durands Komposition im Raster als ein vergleichsweise kleiner. Zumindest könnte man das System Sansovinos in diese Richtung weiterentwickeln. Man könnte es abstrakt als Rasterstruktur – als Bandraster – zeichnen, das je nach Bedarf, bzw. hier je nach der Länge der Platzfront, mit gleichen Elementen aufgefüllt wird. Dabei sind die Ebenen der Fassaden aus der Rasterebene heraus nach außen geschoben und die Eckpfeiler füllen die durch diese Verschiebung entstehenden Leerstellen aus. Betrachtet man die Pfeiler lediglich als Fehlstelle im seriellen Verfahren der Gitterbelegung, d. h. als nicht wesentlich für die Erzeugung der baulichen Gestalt, markieren sie auch nicht unbedingt ein tatsächliches Ende der baulichen Struktur, sondern höchstens ein vorläufiges. Wäre das Grundstück größer oder kleiner oder wäre der Bedarf ein anderer, könnte die Struktur

91 Palladio: Quattro libri, Buch I, Vorwort an die Leser, S. 18

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Abb. 59: Ausdehnung bzw. Nichtausdehnung bei Palladio und Durand

auch anders belegt werden. Das auch im Detail der Ecklösung – dank Sansovinos »Erfindung« – immer rasterkonforme Ordnungssystem lässt derartige Veränderungen widerspruchsfrei zu. Durands Ordnungssysteme schließen Komplikationen sowieso aus, sie lassen sich beliebig in der Fläche ausdehnen. Palladio folgt diesen Ordnungstendenzen nicht. Er tut dies nahezu mutwillig nicht. Während nämlich mit Sansovinos Beispiel eine Lösung vorliegt, die vorbildlich sämtliche Elemente in ein modulares System sich orthogonal schneidender Jochachsen integriert, das sich hierarchisch weiter teilen lässt in ein feineres Gitter, das den Triglyphenachsen folgt, durchbricht Palladio in den Endfeldern die repetitive Ordnung einer sich Joch für Joch wiederholenden Serliana und verlässt hier bewusst die Logik des Rasters. Palladio erzeugt einen Rhythmuswechsel, indem er die Bogenstellung im jeweils letzten Feld näher an den vorletzten Mauerpfeiler heranrückt. Die Abstände der eingestellten Doppelsäulen zum Mauerpfeiler sind dabei im Vergleich zur Normalachse verringert, die letzte Serliana ist gestaucht. Dem wirkt eine doppelte Halb- und Dreiviertelsäulenstellung in den Ecken entgegen, die den Abstand der Bogenstellung zur Außenkante vergrößert. Trotz dieser Verschiebungen bleibt jedoch ein durchgängiges Achsmaß durchaus erhalten, der Abstand von Halbsäule zu Halbsäule bleibt gleich. Nur im Eck wird eine Halbsäule – die erste der Doppelstellung – übersprungen. Wichtig ist nun, dass das visuelle Ereignis von Stauchung und Dehnung zum Gebäudeende hin weder das Ergebnis widriger Umstände ist, wie sie aufgrund von Vorgaben des Bestands – Palladios Arkaden sind immerhin eine Umbauung eines bestehenden Gebäudes – entstehen könnten,

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noch ist der Rhythmuswechsel eine zwangsläufige Unregelmäßigkeit als Folge der gewählten architektonischen bzw. geometrischen Struktur. Denn gerade hier hätten sich geometrische Widerständigkeiten im Übergang zum Bestand leicht kaschieren lassen. Das ist es nicht. Ganz im Gegenteil, Palladio zeigt den Rhythmuswechsel in der idealisierten Plandarstellung der Quattro libri an einem freistehenden Gebäude, ohne angebauten Campanile, angebaute Nachbargebäude und Bestandsreste. Er stellt nicht die reale Situation, sondern eine Musterlösung dar.

Abb. 60: Basilika und Piazza dei Signori, Vicenza

Der detaillierte Vergleich zwischen Palladio und Durand zeigt unterschiedliche Zielsetzungen im strukturellen Vorgehen der beiden. Zugespitzt könnte man sagen: Durand führt ein Modell vor, das alle Möglichkeiten des Wachstums beinhaltet. Bereits die Ecksituation, die er im Précis darstellt, reicht in ihrer Ausschnitthaftigkeit aus, die mögliche Entwicklung des ganzen Gebäudes zu beschreiben. Die Erstellung eines Regelsatzes für die Reproduktion immer wiederkehrender Elemente auf der Basis eines unbegrenzten Rasters ist global wirksam. Die gleichen Regeln könnten potenziell überall je nach Bedarf angewendet werden. Das System ist auf möglichst unbegrenzte Variabilität hin angelegt, da sowohl die Anzahl der Reproduktionen wie die Ausdehnung des Rasters selbst unbeschränkt sind. Komplikationen, die diese Ausdehnbarkeit behindern könnten, wurden vorher ausgeschlossen. Palladio dagegen scheint bewusst mit eben diesen Komplikationen zu arbeiten. Die Dynamik der seriellen Wiederholung wird an den Ecken im Rhythmuswechsel ineinander verschränkter Achsmodifikationen abgebremst und um die Ecken herumgeführt. Anders als Durand

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beschreibt Palladio ein definitives Ende der Gebäudestruktur. Es gibt eine besondere Formulierung der Ecke, sowohl in ihrer architektonischen Ausformung als auch strukturell. Damit ist Palladios Modell, bei aller Spielfreude, einen begrenzten Satz architektonischer Elemente immer neu zu kombinieren und in der Abstraktion syntaktisch-grammatikalischer Regeln Allgemeingültigkeit zu beanspruchen, konkret verortet. Dies erscheint umso bemerkenswerter, als die reale Situation seiner Basilika von der idealisierten der Quattro libri abweicht: Das realisierte Gebäude steht nicht frei. Eine seiner Querseiten schließt vielmehr unmittelbar an ein Bestandsgebäude an, womit Palladios Arkaden nicht nur eine Ummantelung eines bestehenden Gebäudes darstellen, sondern auch noch an ein anderes angebaut sind, was konkret bedeutet, dass nur zwei von vier Ecken wirklich frei stehen und somit als solche in Erscheinung treten können. Die Bedeutung des zu errichtenden bzw. zu ummantelnden Gebäudes fordert aber mehr als etwas, das nur wie ein Zubau erscheint. Schließlich handelt es sich um das Gebäude, das die Bürgerschaft repräsentiert, und nicht zuletzt sind auch die herrschenden Familien bestrebt, sich und der Stadt ein Denkmal zu setzen. Palladio nennt sein Gebäude daher bewusst Basilika und rettet dessen Integrität, indem er ihm eine eigene Struktur gibt: Er tut dies in Form eines Rasters, das sich in seiner Regelmäßigkeit vom Vorherigen und Nebenliegenden absetzt. Weiter begrenzt er diese sich potenziell ausdehnende Struktur und erreicht damit, dass das Gebäude ein Ende findet. Er erfindet im Rhythmuswechsel die Formulierung einer Ecke, die den Gebäudeabschluss markiert, auch da, wo baulich eigentlich – im Übergang zum Bestand – kein Ende vorhanden ist. Somit kann gesagt werden, dass Palladio eine Wirklichkeit erschafft und zeigt, die es im Grunde überhaupt nicht gibt. Dadurch und gerade weil Palladios Struktur im Gegensatz zu der Durands im funktionalen Sinn nicht positiv wirksam ist, löst er die Komplikationen, die sich aus der konkreten Situation und am konkreten Ort ergeben.

3.

Strategien des Umgangs mit nicht mehr konsistenten Systemen »Ich blieb nicht lange bei den einfachen und schlichten Blumen, bei den Blümchen mit den zentrisch symmetrischen, mehrmals wiederholten Blütenblätterelementen. Sie waren für mich allzu einfach. Ich neige dazu, sie als eine kuriose Abweichung des großartigen Meisters der Natur aufzufassen, als eine Art Scherz in Augenblicken der Ermüdung. Mir kam es so vor, als ob Er, ebenso wie ich, von der hinreißenden, manchmal aber auch überflüssigen Beschäftigung mit der Geometrisierung der Welt hundemüde sein mußte.« (Bogdan Bogdanoviü)1

3.1 Ernst Neuferts BEL und BOL 3.1.1 Rationalisierung und Standardisierung im Projekt der historischen Avantgarden zur Rettung der Welt Auch wenn Durand im architekturtheoretischen wie baupraktischen Kontext im Lauf des 19. Jahrhunderts zunehmend weniger genannt wird, setzt

1

Bogdan Bogdanoviü: Der verdammte Baumeister, Wien 1997, S. 185

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sich der von ihm propagierte Begründungszusammenhang von utilitaristischer Motivation und Ökonomie in der Erklärung dessen, was Architektur sein könnte und wie sie zu realisieren wäre, kontinuierlich durch. Natürlich gilt das nicht unbestritten. Divergierende Erklärungsmuster behaupten sich, aber eine Bewertung nach Funktion und Nutzen sowie nach deren rationaler und rationeller Erfüllung scheint dem Phänomen moderner Produktion bzw. einem Leben unter den Bedingungen der Moderne am ehesten gerecht zu werden. Folglich stehen Nützlichkeit und Effizienz im Zentrum der Auseinandersetzung, als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Fortschrittlichen unter den Architekten eine Neuformulierung des Bauens angehen, – freilich ohne Durand direkt zu erwähnen. Propagiert wird eine voraussetzungslose, lediglich am Bedarf und dessen Befriedigung orientierte Architektur. Das ist der immer wiederkehrende Grundtenor. Beispielhaft und sehr klar bringt das das Gründungsmanifest des CIAM, die »Erklärung von La Sarraz« (1928), zum Ausdruck: »[Die Aufgabe der Architekten sei,] sich in Übereinstimmung zu bringen mit den großen Tatsachen der Zeit und den großen Zielen der Gesellschaft, der sie angehören, und ihre Werke danach zu gestalten. Sie lehnen es infolgedessen ab, gestalterische Prinzipien früherer Epochen und vergangener Gesellschaftsstrukturen auf ihre Werke zu übertragen, sondern fordern eine jeweils neue Erfassung einer Bauaufgabe und eine schöpferische Erfüllung aller sachlichen und geistigen Ansprüche an sie.«2

Die Architektur erkennt ihre gesellschaftliche Verantwortung. Im Grunde hatte bereits Durand nichts anderes vertreten, wenn auch die in seinem utilitaristischen Konzept beinhaltete egalitäre und soziale Bindung der Architektur, die Verpflichtung auf einen existenzsichernden, allgemeinen und allgemein gültigen Standard – den Schutz vor Witterung, wilden Tieren, etc. – in der Mechanik seiner Entwurfsmethodik verdeckt wurde. Die Forderungen des neuen Bauens, hier vertreten vom CIAM, sind nun eindeutig. Die »großen Tatsachen der Zeit« und die »großen Ziele der Gesellschaft« konkretisieren sich in der Anerkennung der Phänomene Massenproduktion

2

CIAM. Erklärung von La Sarraz 1928, in: Ulrich Conrads (Hg.): Programme und Manifeste des 20. Jahrhunderts, Basel 2001 (Bauwelt Fundamente 1), S. 103; siehe auch zum 1. Kongress in La Sarraz: Martin Steinmann (Hg.): CIAM. Dokumente 1928-1939, Basel/Stuttgart 1979, S. 11 ff.

NICHT

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und Massenkonsumption innerhalb einer nun nicht mehr als Summe von Individuen, sondern als Masse wahrgenommenen Gesellschaft. Ziel ist die Hebung des architektonischen, infrastrukturellen und städteplanerischen Versorgungsniveaus für alle. Die Aufgaben der Architektur sind folglich kollektive, jenseits individualistischer Einzellösungen. Ziel ist die Nivellierung divergierender Standards zugunsten eines gleichen, allen zugänglichen Mindeststandards, wobei die Mittel, das zu erreichen, die der rationalen und rationellen Produktion sind. Das bedeutet: »1. Das Problem der Architektur im modernen Sinne fordert in erster Linie die intensive Verbindung ihrer Aufgabe mit den Aufgaben der allgemeinen Wirtschaft. 2. Wirtschaftlichkeit ist im technisch-produktiven Sinne zu verstehen und bedeutet den möglichst rationellen Arbeitsaufwand und nicht den möglichst großen Ertrag im geschäftlich-spekulativen Sinne. [...] 4. Die Konsequenzen der ökonomisch wirksamsten Produktion sind Rationalisierung und Standardisierung. Sie sind von entscheidendem Einfluß auf die Arbeit des heutigen Bauens.«3

Eine so gewollte und als notwendig erachtete Einordnung der Architektur in industrielle Produktionsprozesse steht im Widerspruch zu überlieferten ästhetisch oder formal motivierten Entwurfsstrategien. Diese werden als hinderlich angesehen, weshalb in der Folge ästhetisch-formale Überlegungen strikt abzulehnen sind. Ebenso abgelehnt wird das als überholt erkannte Verständnis des Architekten als eines autonomen Autors. Angestrebt ist auch hier die Einordnung in kollektive Produktionszusammenhänge. Nur so erscheint es gewährleistet, die an die Architektur gestellten gesellschaftlichsozialen Aufgaben zu erfüllen. Folgerichtig könnte das Bekenntnis zu fordistischen und tayloristischen Produktionsmethoden der Beurteilungsmaßstab sein, mit dem fortschrittliche Architektur zu bewerten ist. Ganz in diesem Sinn urteilt zumindest Adolf Behne 1923 in »Der moderne Zweckbau« über Walter Gropius’ und Adolf Meyers Fagus-Werke: »Wie sehr das Studium amerikanischer Nutzbauten für Gropius befreiend gewirkt hat, ist in Alfeld deutlich – ebenso deutlich, daß Gropius eine gewisse ästhetische

3

Ebd., S. 103 f.

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Filtrierung amerikanischer Direktheit dennoch vornimmt. Es ist eine distanzierte Feinheit, ja Behutsamkeit zu spüren, die dem ersten Abschnitt dieses wichtigen Baues die bedingungslose innere Einheit beeinträchtigt. Die kühle Vermeidung aller falschen Pathetik ist sehr zu bewundern, aber eine gewisse ästhetische Neigung nimmt dem Ganzen seine letzte Einfachheit. Diese Einfachheit ist beinahe kompliziert zu nennen.«4

Bei aller Vorbildlichkeit von Gropius’ Gebäude ist es die Spur von ästhetischem Eigensinn, die Behne kritisiert. Funktionserfüllung innerhalb wohl kalkulierter Produktionsprozesse ist ausreichend und dem Ziel einer massentauglichen und der Masse dienenden Architektur angemessen. Folglich ist eine diese Architektur kontrollierende und überformende gestalterische Absicht bestenfalls überflüssig, – würde eine solche doch in die Kategorie des Unproduktiven fallen, da innerhalb einer utilitaristisch motivierten Ästhetik gute Gestaltung bereits in der gewissenhaften Durchführung von Funktionsanalyse und Funktionserfüllung angelegt ist. Man könnte von einer Inklusion des Schönen sprechen. Hans Schmidt5 reduziert dies in »ABC – Beiträge zum Bauen« pointiert auf die Frage:

Abb. 61: Hans Schmidt, Warum Schön? (ABC, 1925) 4

Adolf Behne: Der moderne Zweckbau, Frankfurt/Berlin 1964 (Bauweltfundamente 10) [zuerst: 1926], S. 33. Das Buch wurde bereits 1923 geschrieben, die Veröffentlichung erfolgt jedoch erst drei Jahre später.

5

Hans Schmidt ist als Mitglied der Gruppe ABC einer der Akteure, die innerhalb der Diskussion um Ausrichtung und Fundierung des neuen Bauens eine radikale und konsequente Industrialisierung des Bauwesens einfordert. Vgl. zum Einfluss der Gruppe um ABC auf das Neue Bauen: Sima Ingberman: ABC. Internationale konstruktivistische Architektur 1922-1939, Braunschweig/Wiesbaden 1997 (Bauweltfundamente 105)

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Der Wert von Architektur ermittelt sich anhand der Kriterien Nützlichkeit, Produktivität und Effizienz. Die Frage, was als schön gelten darf, wird nicht als Problem der Form gestellt, sondern als Problem der Technik. Damit tritt die Frage nach dem Aussehen zunächst in den Hintergrund. Viel wichtiger ist, die Architektur zum Funktionieren zu bringen. Die Mittel, dies im Sinne moderner Produktionsmethoden zu bewerkstelligen, sind Standardisierung, Typisierung und Normung. Das sind die großen Aufgabenfelder, die sich dem fortschrittlichen Architekten und nun auch der fortschrittlichen Architektin auftun. Anzustreben ist »die einfachste, zweckmäßigste und für die breiteste Verwendung gültige Lösung jeder baulichen Aufgabe vom Konstruktionsdetail bis zum Haustyp. Jede unnötige Variation, jede zufällige Abweichung sind auszuschalten.«6 Dabei werden die Einschränkungen, die infolgedessen das Einlassen auf Standard, Typenentwicklung und Typenverwertung, Norm und serielle Produktion mit sich bringt, durchwegs positiv konnotiert. Hans Schmidt formuliert wiederum paradigmatisch: »So sehr der Begriff des Standards der ästhetischen Willkür der Architekten, gewöhnlich als Phantasie bezeichnet, ein Ende macht und von ihnen ein strenges, diszipliniertes Arbeiten erfordert und so sehr dadurch das standardmäßige Bauen eine gewisse Neutralität und Gleichförmigkeit der Erscheinung zur Folge hat, so wenig ist Standard gleichbedeutend mit Starrheit.«7

Vielmehr geht Schmidt von einer fortschreitenden Verbesserung aufgrund der im laufenden Produktions- und Konsumptionsprozess gemachten Erfahrungen aus. Die »streng disziplinierte Arbeit« erfolgt linear und hierarchisch: Aus der Entwicklung und Optimierung eines begrenzten Satzes an Bauelementen folgt in der nächst höheren Ordnung die Entwicklung und Optimierung von Bauteilen, dann deren sinnvolles und effizientes Zusammensetzen zu Typen, bis hin zu städtebaulichen Agglomerationen. Innerhalb eines gemeinsamen Maßsystems bzw. eines zu entwickelnden Modulsystems lassen sich die Elemente, Teile und Typen addieren bzw. kombi-

6

Hans Schmidt: Standardbau (1931), in: Ders.: Beiträge zur Architektur 1924-

7

Schmidt: Standardbau, S. 85

1964, Bruno Flierl (Hg.), Berlin 1965, S. 84

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Abb. 62: Hans Schmidt, Typengrundrisse (1927) mit Werbeanzeige für Fertigteilelemente (ABC, 1925), Meterraster und möglicher Ausdehnung des Gebäudes

nieren. Normen gewährleisten das Zusammenpassen. Weiterhin sichert die Normierungsarbeit schon Erreichtes: Sie tut dies zum einen im Sinn von Qualitätssicherung, der Festlegung von Standards. Zum anderen bedeutet die Festschreibung schon gemachter Entwicklungsarbeit in Normen Arbeitsersparnis. Damit erweist sich Normierung als Instrument der Funktionserfüllung und Effizienz. Konkret lässt sich die Entwicklung der einzelnen Schritte produktiven Bauentwurfs und produktiven Bauens in Schmidts Beschreibung von Typengrundrissen nachvollziehen: »Typengrundrisse entwickeln sich aus der notwendigen Vorarbeit einer immer erneuten Vereinfachung und Normalisierung der Grundrißelemente. Wir veröffentlichen eine Folge von Grundrissen, die auf diese Normalisierung der Elemente hinarbeiten. Es hat sich gezeigt, daß die Einheit von 1,00 m (vgl. auch die Stuttgarter Häuser von J.J. Oud und M. Stam) das geeignete Grundmaß für diese Normalisierung abgibt: [...] Mit diesen Grundmaßen lassen sich in Einklang bringen die Einheiten für Fassadenplatten, die wirtschaftlichsten Spannweiten für Deckenelemente

NICHT

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Abb. 63: Hans Schmidt, Typengrundrisse (1927) mit Meterraster und möglicher Addition der Einheiten

(3,00 m) und die Normalweiten für Fenstereinheiten und äußere Türen. Auf diesem Wege wird es möglich, die Bodenfläche des Hauses, ausgehend von normalisierten Konstruktionssystemen, mit der Zeit ebenso rationell einzuteilen, wie dies heute im Waggon- und Automobilbau geschieht.«8

Alle wesentlichen Überlegungen und notwendigen Bestandteile eines rationellen Entwurfsansatzes sind in dieser kurzen Beschreibung enthalten. Basis ist auch hier wieder ein einheitliches Maßsystem. Dieses erscheint zumeinen als durchgängiges Raster und ist zum anderen bestimmend für die Abmessungen der Elemente, die in dieses Grundraster eingesetzt werden. Den weiteren Entwurfsprozess könnte man als Komposition im Raster bezeichnen. Der Begriff der Komposition wird in der Terminologie der fortschrittlichen Architektur natürlich vermieden, ist er doch durch die Praxis

8

Hans Schmidt: Typengrundrisse (1927), in: Ders.: Beiträge zur Architektur, S. 38; siehe auch Werkkatalog: Ursula Suter: Hans Schmidt 1893-1972. Architekt in Basel, Moskau, Berlin-Ost, Zürich 1993, S. 170 ff.

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der Beaux-Arts-Tradition, sowie durch Historismus und Eklektizismus diskreditiert. Wie schon bei Durand, geht es auch jetzt darum, innerhalb eines Gitters einfache Grundelemente zu jeweils komplexeren Einheiten zusammenzusetzen, wobei Schmidts Ansatz über den Ansatz von Durand hinausgeht: Die Syntax ist im Vergleich zu Durands lediglich als ökonomisch argumentierten Symmetrie-Spielregeln nun wirklich effizient. Die Anordnung der Elemente ist seriell, sie folgt linearen Fertigungsprozessen der Industrie. Je nach Bedarf werden Elemente addiert. Das System ist so einfach, dass nahezu unbeschränkt Elemente angefügt werden können, ohne die Grundkonzeption dabei verändern zu müssen, d. h. ohne weitere Entwurfsarbeit aufzuwenden. Das gilt für die Addition von Bauteilen und Raumeinheiten, aber auch für die Reihung von Typengrundrissen. Ein weiterer wesentlicher Entwicklungsschritt von Durands Entwurfslehre zu Schmidts Ausführungen findet in der Ausgestaltung des Rasters selbst statt. Durand etabliert das Raster als Grundlage eines jeden Entwurfs. Die von ihm propagierte Komposition im Raster ist als Methode, innerhalb eines Entwurfsprojektes den Zusammenhang der Teile zu organisieren, überall und bei jedem Entwurf gleich anwendbar. Allerdings bleibt das Raster flexibel, es kann sich an die jeweilige Entwurfsaufgabe anpassen. Demnach kann aufgrund unterschiedlicher Achsmaße die Maschenweite des Rasters bei einem öffentlichen Gebäude eine andere sein als bei einem privaten. Sie ist jeweils objektbezogen in der konkreten Situation zu ermitteln.9 Schmidts Raster ist dagegen ein vereinheitlichtes. Ein einheitliches Grundmaß bestimmt die immer gleiche Maschenweite, womit das regelmäßige Spiel von Elementen eine neue Dimension gewinnt. War bei Durand ein begrenzter Satz von Elementen nur mit dem jeweils spezifischen Raster zu synchronisieren, erlaubt ein standardisiertes Raster die Entwicklung eines universellen Elementbaukastens. Die darin enthaltenen Elemente sind für jedes folgende Projekt verfügbar, da ein Grundmaß deren Abmessungen regelt und deren Zusammenpassen in beliebigen Kombinationen gewährleistet. Bleibt noch die Frage nach der Größe des Grundmaßes. Schmidt stimmt die Elementgrößen auf ein Vielfaches von einem Meter ab. Das ist nicht sehr originell, aber er findet diese Modulwahl neben ihrer bereits erwähnten statischen und fertigungstechnischen Tauglichkeit auch in funktioneller Hinsicht bestätigt:

9

Vgl. Durand: Précis 1831, Band 1, S. 34 ff. und S. 61

NICHT

»Breite

Breite

Breite

Bettstelle

brutto

1,00 m

Treppe

brutto

1,00 m

WC

brutto

1,00 m

Schlafkabine

i. L.

2,00 m

Kleinküche

i. L.

2,00 m

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Bad

i. L.

2,00 m

Schlafzimmer

i. L.

3,00 m

Arbeitszimmer

i. L.

3,00 m

Wohnzimmer

i. L.

4,00 m«10

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Der Anfang einer Systematik ist gemacht, wenn auch die Auflistung recht willkürlich das metrische System zu übernehmen scheint. Die Maße stimmen ungefähr mit Erfahrungswerten der Bau- und Wohnpraxis überein, von Optimierung lässt sich dabei jedoch nicht sprechen. Dazu fehlen Daten, denn fundierte Untersuchungen des wirklich notwendigen Platzbedarfs stehen noch aus. Benötigt würden: • • • •

eine Analyse sämtlicher in Architekturen stattfindender Funktionen eine Zusammenstellung der Abmessungen von Konstruktionsteilen die Analyse fertigungstechnisch sinnvoller Größen Angaben zu deren wechselseitigen Abhängigkeiten

Das Interesse an bauproduktiver Grundlagenforschung beschränkt sich in den 20er Jahren nicht ausschließlich auf Architekten und Architektinnen. Es herrscht akute Wohnungsnot, insbesondere im Deutschland der Weimarer Republik. Nachdem Krieg und Kriegswirtschaft den Wohnbau praktisch zum Erliegen brachten, ist inflationsbedingt die Neubaurate auch nach dem Krieg verglichen mit der Vorkriegsproduktion niedrig. Durch den Fehlbetrag der Kriegs- und Nachkriegszeit kommt es zu einer Unterversorgung, die nur sehr zögerlich behoben werden kann. Während die Industrialisierung der Produktion in allen übrigen Bereichen des Massenbedarfs abgeschlossen ist, steht dieser Prozess in der Bauwirtschaft noch aus. Angesichts dieser prekären Lage sehen auch die politischen Handlungsträger die Einführung neuer, rationaler und rationeller Methoden des Bauens als Möglichkeit zur notwendigen Produktivitätssteigerung, um schnell ausreichen-

10 Schmidt: Typengrundrisse, S. 38

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den, leistbaren und sozial verantwortbaren Wohnraum bereitstellen zu können. Ab Mitte der 20er Jahre gibt es schließlich sowohl den politischen Willen als auch einen ausreichenden finanziellen Handlungsspielraum, um von öffentlicher Seite die Rationalisierung des Bauwesens aktiv zu fördern: Dies geschieht zum einen in der Unterstützung und Institutionalisierung von Forschungsinitiativen, die unter Einbindung der fortschrittlichen Architekturschaffenden Möglichkeiten der Standardisierung, Normung und Typung im Bauwesen erarbeiten und verbindlich festlegen. Zum anderen werden groß angelegte experimentelle Versuchsbauten bzw. Siedlungen ausgeschrieben, mit dem Zweck, die Praxistauglichkeit von Typen, Normen und Standards in der Wirklichkeit zu erproben bzw. überhaupt erst empirische Daten als Grundlage für die Entwicklung eben dieser Typen, Normen und Standards zu gewinnen.11 Diese Förderung eines neuen Bauens dauert jedoch nur kurz. Die Weltwirtschaftskrise entzieht ihr schnell die finanzielle Basis und ein Erstarken der extremen Rechten die politische. Außerdem lassen akut steigende Arbeitslosenzahlen Arbeitsbeschaffungsprogramme gegenüber Bemühungen um Effizienz, deren Ziel es ist, menschliche Arbeitskraft durch Maschinen zu ersetzen, als vorrangig erscheinen. Es entstehen zwar zwischen 1927 und 1929 die wesentlichen Architekturen, die für das Neue Bauen schlechthin stehen, doch eine Auswertung des funktionalistischen Experiments und eine darauf gegründete stringente Weiterentwicklung der Architektur kann nicht mehr stattfinden. Hier kommt Ernst Neufert ins Spiel. Neufert ist 1919 einer der ersten drei Studenten, die am neu gegründeten Bauhaus Architektur studieren. Da es zu diesem Zeitpunkt noch keinen organisierten Architekturunterricht gibt, setzt er seine Ausbildung – nach einer Maurerlehre und dem Besuch der Baugewerkeschule in Weimar – im privaten Architekturbüro von Walter Gropius und Adolf Meyer fort. Er kommt somit genau in das Umfeld, das entschieden die Übertragung fordistischer Produktionsmethoden und tayloristischer Arbeitsorganisation auf die Projektierung und Ausführung von

11 Vgl. zu Struktur und Arbeitsweise staatlicher, kommunalpolitischer und genossenschaftlicher Initiativen in der Weimarer Republik: Sigurd Fleckner: Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen, 1927-1931. Entwicklung und Scheitern, Dissertation an der RWTH Aachen 1993

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Architektur einfordert. Neufert arbeitet im Büro Gropius von 1919 bis 1920 und – nach einer Studienreise – von 1921 bis 1924 als Bauleiter, bis er schließlich 1925 Mayer als »Chefarchitekt des Ateliers« ablöst. 1926 verlässt er das Büro, da er eine Professur an der von Otto Bartning neu gegründeten Bauhochschule in Weimar erhält.12 In der Zeit, in der er bei Gropius arbeitet, realisiert das Büro wesentliche Projekte – die Fertigstellung der Faguswerke, das Bauhaus und die Meisterhäuser in Dessau –, die als Leitfossilien funktionalistischen Bauens in der heroischen Phase der klassischen Moderne gelten. Diese zeigen, wie eine nach industriellen Mustern entwickelte Architektur aussehen könnte. Anspruch und Wirklichkeit gehen dabei jedoch auseinander. Die Arbeitsabläufe im Büro sind bei weitem nicht so stringent, zielgerichtet und produktiv, wie sie es dem propagierten Verständnis nach sein sollten. Später notiert Neufert zur Arbeitsweise im Büro Gropius: »Pauspapier wurde rollenweise verskizziert, immer wieder wurden neue Gedanken entwickelt und verändert.«13 Was dem sich immer noch als Autor seiner Werke verstehenden Architekten Spaß macht, das freie Spiel kreativer Einfälle, das immer wieder neu Beginnen und Verwerfen von Konzeptionen, verurteilt Neufert als unproduktiv und unökonomisch. Als ebenso unökonomisch wird eine nicht funktionierende Kommunikation angesehen bzw. das Nichteinhalten von Produktionsabläufen, das Neufert vor allem als Bauleiter irritierte, wenn »von Weimar immer neue Ausführungszeichnungen eintrafen, die die alten überholten, nach denen schon gebaut bzw. angefangen worden war, bis dann die letzte maßgebende Zeichnung eintraf, meistens, wenn ich melden mußte, leider sei alles schon fertig.«14 Aus dieser Erfahrung heraus entwickelt er in seiner Tätigkeit als Hochschullehrer ein Alternativmodell der Architekturproduktion. Ziel der Lehre ist die effiziente Reorganisation von Bürostrukturen nach rationalen und rationellen Gesichtspunkten. Entsprechend ist der Studiengang wie ein

12 Biographische Angaben nach: Fritz Gotthelf: Ernst Neufert. Ein Architekt unserer Zeit, Berlin/Frankfurt/Wien 1960; Gernot Weckherlin: B.au E.ntwurfs L.ehre. Zur Systematisierung des architektonischen Wissens, in: Walter Prigge (Hg.): Ernst Neufert. Normierte Baukultur, Frankfurt/New York 1999 (Edition Bauhaus, Bd. 5), S. 65 ff. 13 Ernst Neufert, zitiert nach: Weckherlin: B. E. L., S. 68 14 Ebd., S. 67

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modellhaftes Büro aufgebaut, das selbst Bauaufträge abwickelt. Im Zentrum der Ausbildung steht nicht mehr die individuelle Entwicklung singulärer, besonders origineller Lösungen im Sinne der Selbstverwirklichung eines Architekturstudierenden bzw. Architekten, der sich als autonomer Autor seines Projekts versteht. Aufgabe ist nicht mehr ein Immer-wieder-vonNeuem-Erfinden und Verwerfen von Entwürfen, sondern die gemeinschaftliche Entwicklung und Fortschreibung von Standards. Standards stellen jedem Entwerfenden und jeder Bauaufgabe eine Grundlage zur Verfügung, auf die aufbauend weitergearbeitet werden kann. Sie sichern eine verlustfreie Kommunikation und ermöglichen eine lineare, zeitlich getaktete Projektentwicklung. Neufert schreibt zu Programm und Ziel der Architekturausbildung:15 »durch fragen der schüler, aus erfahrungen der praxis, aus anfragen der bauenden, aus eigenen gedanken, durch aufbau auf vorhandenem, durch dauerndes verbessern des erreichten gelangt man schließlich zu einem klaren typ der gesamtaufgabe wie der einzelteile, der bleibende bedeutung hat. die werkstätten der bauhochschule arbeiten an dieser gestaltung intensiv mit durch versuchs- und modellarbeit, anfertigung von probestücken usw. von allen so entstandenen arbeiten kann sich jeder schüler kopien anfertigen, um später bei ähnlichen aufgaben diese kopien als experte zu benutzen, die schule selbst stellt aus den laufend entstehenden typenzeichnungen eine sogenannte standardkartei zusammen, die immer durch neue zugänge ergänzt und verbessert wird und als geleistete teilarbeit bei neuen entwürfen benutzt werden kann. alle erfahrungen während der durchführung solcher entwürfe werden in dieser kartei sorgfältig festgehalten. so schafft sich die schule aus der produktiven arbeit einen expertenschatz, auf den nicht nur schüler und lehrer, sondern die ganze bauwelt zurückgreifen kann und der für die studierenden eine wahre fundgrube bedeutet.«16

15 Die konsequente Kleinschreibung wird von Gropius übernommen, auch sie ist rationell begründet: »wir schreiben klein, denn wir sparen damit zeit, außerdem: warum 2 alfabete, wenn eins dasselbe erreicht? warum groß schreiben, wenn man nicht groß sprechen kann.« Zitat aus der Fußzeile im Briefpapier des Bauhauses Dessau 16 Ernst Neufert (zugeschr.): Manuskript zur Architekturausbildung an der Bauhochschule Weimar, zitiert nach: Weckherlin: B. E. L., S. 70

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1930 wird Neufert nach dem Wahlsieg der Nationalsozialisten in Thüringen als Professor an der Bauhochschule entlassen. Sein streng funktionalistisches Konzept, das er als entschiedener Vertreter des neuen Bauens vertritt, passt – zunächst – nicht in das Konzept der neuen Machthaber. Trotz des Verlustes seiner institutionellen Einbindung profiliert sich Neufert weiter als Experte für Rationalisierungsfragen im Bauwesen. Er arbeitet kontinuierlich an einer Systematisierung des architektonischen Expertenwissens unter den Prämissen von Standard und Effizienz. Ergebnis dieses langjährigen Unternehmens ist die »Bauentwurfslehre«, die 1936 erscheint. Das Buch ist umgehend vergriffen, so dass noch im selben Jahr zwei weitere Auflagen erscheinen. Zahlreiche Ausgaben folgen.17 Mit dem allgemeinen Erfolg des Buches wird auch das herrschende Regime auf Neufert aufmerksam. Begegnete es ihm bisher ablehnend – dem Verlust der Professur folgte nach 1933 die Nichtzulassung zur Eintragung in die Reichskulturkammer – ändert sich das 1938. Albert Speer beruft Neufert als »Beauftragten für Typisierung, Normung und Rationalisierung des Berliner Wohnungsbaus unter dem Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt« in seinen Planungsstab.18 Zu fragen ist, woher dieser Gesinnungswandel kam und wie er sich erklären lässt. Das Regime erkennt die Nützlichkeit von Neuferts Ideen für die Durchsetzung seiner Ziele. Obwohl der Nationalsozialismus vorab der kalten Nüchternheit eines aufgeklärten, sich auf industrielle Fertigungsprozesse berufenden Funktionalismus ein erdiges Konzept von scheinbar handwerklich basierter und ideologisch überhöhter »Blut- und Bodenproduktion« entgegenstellt, ist sein Verhältnis zu fortschrittlichen Produktionsbedingungen doch ein ambivalentes. Auf Neufert bezogen heißt das konkret: Er erhält zunächst die Aufgabe, effiziente Lösungen zur Kompensation des Verlustes an Wohnraum zu finden, der durch die repräsentativen Großplanungen Speers für Berlin erzeugt würde. Darüber hinaus eröffnet Neufert die kriegsvorbereitende und die kriegswirtschaftliche Produktion und Konsumtion weitere Felder, sein Fachwissen anzuwenden. Er arbeitet

17 Die Bauentwurfslehre erscheint bis heute kontinuierlich in vorsichtig aktualisierten Neuauflagen. Die 32. Auflage (1984) ist die letzte, die von Ernst Neufert noch selbst herausgegeben wird, die aktuelle ist die 39. Ausgabe (2009). 18 Vgl. Werner Durth: Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 19001970, München 1992, S. 511

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an der Konzeption universell einsetzbarer, schnell und billig – d. h. seriell und industriell – gefertigter Produktionsstätten. Gleichzeitig entwickelt er rationelle Typenwohnungen und normierte Notunterkünfte als Ersatz für kriegsbedingte Zerstörungen: Neufert ist im Sinne des Regimes funktionabel. An dieser Stelle ist zu fragen, inwiefern sich auch Neuferts Position ändert. Das Neue Bauen erschien ja weder in seiner Fremd- noch in seiner Selbstwahrnehmung als politisch neutral. Zu eng war ein Bauen, das sich offen der Industrie und der industriellen Produktion zuwendet und dies auch formell zum Ausdruck bringt, mit egalitären, sozialen, sozialistischen und demokratischen Idealen verknüpft. Entsprechend wurde diese funktionalistische Ästhetik auch politisch gelesen. Es schien daher naheliegend und selbstverständlich, das Bauen in und an einer sozialistischen Gesellschaft in der Sowjetunion weiterzuführen, nachdem das funktionalistische Experimentierfeld der sozialdemokratisch motivierten Wohnbauexperimente mit dem Scheitern der Weimarer Republik wegbrach. Zumindest glaubten dies diejenigen Architekten und Architektinnen, die es mit einer funktional argumentierten Architektur ernst meinten.19 Auch wenn sich deren Hoffnungen spätestens 1934 mit der stalinistischen Wende in der Kulturpolitik zerschlugen, bleibt doch zumindest der Anspruch erhalten, Bauen, Bauproduktion und gesellschaftlichen Auftrag als Einheit zu sehen. In einem Vortrag für den 1. Kongress der sowjetischen Architekten – der dann doch nicht gehalten wurde – mit dem Thema »Die Industrialisierung und die Aufgaben des Architekten« bezeichnet Hans Schmidt als vielleicht radikalster Vertreter noch 1937 »die Industrialisierung als effektivste Form der menschlichen Arbeit«: »Während alle früheren Formen eine beschränkte Produktivität besaßen, eröffnet die Industrialisierung zum erstenmal die Möglichkeit, alle Menschen nach ihren Bedürfnissen zu befriedigen. Die Industrialisierung wird deshalb die grundlegende und

19 Siehe hierzu: Dmitrij Chmel’nickij: Der Kampf um die sowjetische Architektur. Ausländische Architekten in der UdSSR der Stalin-Ära, in: Osteuropa 9 (2005), S. 91 ff. Nach dem Scheitern auch des sowjetischen Projekts gelingt es jedoch kaum mehr, an die in der Weimarer Republik begonnenen Erfolge anzuknüpfen.

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ausschlaggebende Form der menschlichen Arbeit im Zeitalter des Sozialismus und Kommunismus.«20

Das betrifft dann natürlich auch das Feld der Architektur: »Die Industrialisierung wird als fortschrittlicher, die Architektur unmittelbar beeinflussender Faktor betrachtet. Die neuen Baustoffe und Konstruktionen, die rationellen wissenschaftlichen Methoden der Technik, die industriellen Prozesse der Vervielfältigung werden als wichtige Elemente für die Schaffung einer zeitgenössischen Architektur erkannt. [...] Es ist klar, daß die Industrialisierung für uns nicht einfach ein untergeordneter, nur auf das Materielle begrenzter, sondern ebenso ein ideeller, künstlerischer Faktor ist.«21

Ganz deutlich fasst Schmidt noch einmal die Zusammengehörigkeit und die gegenseitige Abhängigkeit der entscheidenden Fragen zusammen: Wer produziert wie und für wen? Dabei ist – und das ist außerordentlich wichtig – die industrielle Produktion nicht nur Mittel, sondern auch Ausdruck eines so verfassten Architektur- wie Gesellschaftskonzepts. Die Haltung Neuferts zu dieser Fragestellung ist eine ganz andere. Neufert war als Bauhausschüler, als Gropiusmitarbeiter und in seiner Lehrtätigkeit in den 20er Jahren ganz offensichtlich Teil des offiziellen ModerneArchitektur-Diskurses, der sich um Rationalisierungsfragen im Bauwesen drehte. Dezidiert kein Interesse konnte Neufert jedoch für die damit einhergehenden politischen Positionierungen aufbringen. Er steht damit ganz im Gegensatz zur vorhergehenden Generation, der eines Gropius’, Mies van der Rohes oder Le Corbusiers, um nur die prominentesten Vertreter zu nennen, die im funktionalistischen Gebaren die Chance sahen, auch mit der Architektur in der Moderne anzukommen. Ihr Ziel war, nach dem Verlust von überlieferten regelästhetischen Normen, den Zumutungen der Aufklärung und der Erfahrung von Entfremdung und Fremdbestimmung zumindest innerhalb des noch möglichen Rahmens Planungshoheit zurückzuerlangen. Dieser Anspruch umfasst sowohl die Kontrolle über Architektur an sich, wie auch den Anspruch, wieder aktiv und wesentlich in den gesell-

20 Hans Schmidt: Die Industrialisierung und die Aufgaben des Architekten (1937), in: Ders.: Beiträge zur Architektur, S. 110 ff. 21 Ebd.

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schaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess eingreifen zu können. Dabei ist es gar nicht so wichtig, ob die neue Architektur wirklich funktional, rational und rationell ist, zeigen sich doch gerade im Widerspruch zwischen ideologischem Anspruch und realisiertem Werk die Schwierigkeiten, unter den Bedingungen der Moderne zu arbeiten. Wichtig ist vor allem, dass eine Ebene gefunden ist, über die Relevanz von Architektur zu reden und innerhalb des Projekts der Moderne affirmativ wirksam zu werden. Bei Neufert dagegen verhält es sich gerade umgekehrt, er nimmt die Aufgabe einer rein objektiv von Produktionsvorgaben und Rationalität bestimmten Architektur ernst, trennt diese aber vom Fortschrittsgedanken einer sozial und politisch verpflichteten Technik: Was bleibt, ist nur Technik. Interessant ist nun folgende Beobachtung: Während das Neue Bauen moderner erscheinen will, als es eigentlich ist, tritt Neufert erstaunlich defensiv auf. Er stellt seine Modernität nicht dar, ganz im Gegenteil. Schon der Titel der Arbeit, mit der er bekannt wird und die bis heute ihren Einfluss nicht eingebüßt hat, ist erstaunlich: »BauEntwurfslehre Grundlagen Normen und Vorschriften über Anlage Bau Gestaltung Raumbedarf Raumbeziehungen. Maße für Gebäude Räume Einrichtungen und Geräte mit dem Menschen als Maß und Ziel«22

Die Formulierungen entsprechen dem, was von einem Standardwerk der funktionalen Effizienz zu erwarten ist. Nur die letzte Zeile im Untertitel spielt auf etwas anderes an. Der Teilsatz »mit dem Menschen als Maß und

22 Ernst Neufert: Bauentwurfslehre, Berlin 31936

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Ziel« erinnert doch zu sehr an regelästhetische Verfahren aus humanistischen Zeiten, als dass er im aktuellen Zusammenhang selbstverständlich erscheinen könnte. Auch spricht Neufert nicht von »den Menschen« oder den »Bedürfnissen der Menschen« als Voraussetzung und Ziel, sondern von »dem Menschen«. Der bestimmte Artikel im Singular beschreibt eine inzwischen längst verlorene Totalität, die im Diskurs der Moderne befremdlich erscheint. Unterstützt wird die Aussage vom Menschen als Maßgebendem noch durch ein kleines Signet, das auf Titel und Buchrücken erscheint. Es zeigt einen aufrecht stehenden Menschen männlichen Geschlechts, der frontal zum Betrachter ausgerichtet ist. Sein rechter Arm liegt am Körper an, der linke ist rechtwinklig ausgestreckt. Zudem ist die Figur mit einem Kreis umschrieben, in den mehrere Kreise eingeschrieben sind. Abschlusslinien an den Fußenden, am Scheitel und den Fingerspitzen deuten ein umschreibendes Quadrat an, dessen obere Kante die Basis eines auf die Spitze gestellten gleichschenkeligen Dreiecks bildet. Bei dieser Darstellung fühlt man sich doch sehr an Vitruvs Mensch in Quadrat und Kreis, insbesondere in der Darstellung Leonardos, erinnert.

Abb. 64: Ernst Neufert, Titelsignet (BEL, 1936)

Noch deutlicher kommt der Verweis auf Vitruv zum Ausdruck im Kapitel »Der Mensch als Maß und Ziel« bzw. im Abschnitt »Der Mensch, das Maß aller Dinge«, mit denen nach einer Vorstellung der Grundnormen das Buch eigentlich beginnt. Die Tafel »Maßverhältnisse des Menschen« zeigt schließlich Neuferts Mensch in Kreis, Quadrat und Dreieck blattfüllend. In Ergänzung zum Signet sind rechts von der Mittelachse horizontale und auch vertikale Linien eingezeichnet, die auf anatomisch mehr oder weniger prägnante Körperpunkte verweisen. Diese Linien lassen sich als Maßhilfslinien identifizieren. Sie schließen am rechten Rand mit einer Maßkette ab. Bemaßt sind sie wechselweise mit »M« und »m«. Die Erklärung, was es

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mit den beiden Buchstaben auf sich hat, erfolgt in der linken unteren Ecke. Neufert zeigt eine der üblichen geometrischen Konstruktionen für ein Verhältnis im »Goldenen Schnitt«. Dabei ist das Steigungsverhältnis der Hypotenuse des Hilfsdreiecks dasselbe wie das Steigungsverhältnis der Schenkel des der Figur eingeschriebenen Dreiecks. Auch dieses Dreieck dient der Erzeugung von Verhältnissen im Goldenen Schnitt bzw. als deren Beleg. Zirkelschläge, die die Operationen des Hilfsdreiecks wiederholen, belegen dies. Dass »M« Major für den größeren Teil und »m« Minor für den kleineren Teil eines Goldenen-Schnitt-Verhältnisses steht, setzt Neufert als Allgemeingut voraus. Es wird nicht näher darauf eingegangen. Erst einige Seiten später folgt unter »Maßverhältnisse« die Erklärung. Die Aussageabsicht ist offensichtlich: Der »Mensch als Maß aller Dinge« befindet sich im Einklang mit geometrischen Verhältnissen.

Abb. 65: Ernst Neufert, Maßverhältnisse des Menschen (BEL, 1936)

Ganz ähnlich stellt das auch der knappe Begleittext dar. Wir erfahren zwar zunächst nichts Näheres über den Goldenen Schnitt, jedoch konstruiert Neufert eine historische Kontinuität im Bemühen um »die Entschleierung

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der menschlichen Maßverhältnisse«23. Er spannt den Bogen von den frühen Anfängen im alten Ägypten über Griechenland und Rom bis in die Renaissance. Namentlich spricht er vom Kanon des Pharaonenreichs, dem der Ptolemäer und dem des Polyklet. Er nennt Alberti, Leonardo und Michelangelo, besondere Erwähnung erfährt Dürer. Die genannte Reihe erscheint so als lineare Folge mit zunehmendem Erkenntnisgewinn. Brüche, Widersprüche und divergierende Fragestellungen sind nicht vorgesehen, sie werden nicht erwähnt. Hier lohnt sich ein genauerer Blick auf die kurze Liste mit Teilungsverhältnissen des menschlichen Körpers, die Neufert außerdem anführt. Er bezieht sich dabei ausdrücklich auf die Proportionsstudien Dürers, dessen Angaben er als »Gemeingut« bezeichnet. Wesentliche Körperteilungen werden in ihrem Verhältnis zur Gesamtkörpergröße in einfachen Brüchen wiedergegeben. Im Einzelnen sind das: 1/2 h (»der ganze Oberkörper von der Spaltung an«), 1/4 h (»Beinlänge v. Knöchel b. Knie u. Länge v. Kinn bis Nabel«), 1/6 h (»Fußlänge«), 1/8 h (»Kopflänge vom Scheitel bis Unterkante Kinn, Abstand der Brustwarzen«), 1/10 h (»Gesichtshöhe u. Breite (einschließlich Ohren), Handlänge bis Handwurzel«), 1/12 h (»Gesichtsbreite in Höhe der Unterkante Nase, Beinbreite (über dem Knöchel)«). Es folgt der Hinweis auf mögliche weitere Unterteilungen bis 1/40 h. Diese Verhältnisbestimmungen erscheinen auf den ersten Blick überzeugend, einfach und praktikabel. Nur von Dürer ist das so nie vorgetragen worden. Im Gegenteil, Dürer war sich immer – obwohl er ja zu anderen Ergebnissen kommen wollte – der Komplexität des Themas bewusst. Im Bemühen um wissenschaftliche Exaktheit überarbeitete er seine Proportionsmodelle immer wieder, weshalb es keinen Kanon nach Dürer geben kann. Dürer kam durch seine Messungen ja gerade zu dem Schluss, dass die Menschen verschieden sind, und er trägt dem in verschiedenen Proportionsmodellen, alternativ für Männer und Frauen, Rechnung. Zudem sind die Brüche, die Dürer angibt, keine einfachen, die sich in den genannten Teilungen von eins bis zwölf erschöpfen, sondern oftmals unhandliche, zusammengesetzte. Damit scheidet Dürer als direkte Quelle für die von Neufert angegebene Liste aus. Übernommen scheinen die Verhältnisse vielmehr von Adolf Zeising, den Neufert als weiteren Autor kanonischer Verbindlichkeit anführt, indem er schreibt: »Im vergangenen Jahrhundert hat vor allem A. Zeising durch seine Untersuchungen der Maßverhältnisse des Menschen

23 Neufert: BEL 1936, S. 23

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auf der Grundlage des Goldenen Schnittes durch genaueste Messungen und Vergleiche große Klarheit geschaffen.«24 Interessant ist nun, wie Zeising mit Dürers Proportionslehre umgeht: In der erklärten Absicht, Wohlproportioniertheit nachzuweisen, verkehrt Zeising die wesentliche Erkenntnis Dürers, dass es gerade nicht möglich sei, eine gesetzmäßige Verbindlichkeit für die ideale Gestalt zu formulieren, sondern vielmehr ganz unterschiedliche Proportionen ohne Wertung nebeneinander gestellt werden müssen, in ihr Gegenteil. Er schließt in seiner Betrachtung Dürers diejenigen Proportionsmodelle, die »offenbar den Charakter der Plumpheit« tragen, ebenso aus, wie die, die »übermässig lang und dünn«25 sind. Relevant sind für Zeising folglich nur die Figuren Dürers, die seinen eigenen Idealvorstellungen nahe kommen. Diese sind grundsätzlich männlich. Darüber hinaus kann noch eine weitere Differenz zwischen Dürer und Zeising festgestellt werden. Dürer misst exakt bzw. er gibt zumindest eine Vielzahl von Maßen an. Diese Maße lassen aber – der menschlichen Gestalt angemessen – kein einfaches System erkennen. Zeising hingegen entfernt alles Widersprüchliche und Komplizierte, bereinigt und ordnet die übrig bleibenden Maße zu verständlichen Reihen und kann somit behaupten, »es spring[e] sofort in die Augen, dass diese Bestimmung ausser dem, dass sie sich bei wirklich wohlgebauten Figuren als zutreffend erweist, auch den Forderungen der Vernunft [...] Genüge leistet.«26 Neufert vereinfacht schließlich das, was er von Zeising übernimmt, noch weiter zu dem, was er selbst »Gemeingut« nennt. Die Erwähnung Zeisings »Neuer Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers, aus einem bisher unerkannt gebliebenen, die ganze Natur und Kunst durchdringenden morphologischen Grundgesetze« durch Neufert ist nun insofern wichtig, als Zeising propagiert, es gebe einen verbindlichen Kanon. Zeising geht von einem ursächlichen Zusammenhang zwischen dem proportionalen Verhalten und dem Wesen der Dinge aus, um im nächsten Schritt daraus auf ein Modell universeller Welterklärung zu

24 Ebd. 25 Adolf Zeising: Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers, aus einem bisher unerkannt gebliebenen, die ganze Natur und Kunst durchdringenden morphologischen Grundgesetze, Leipzig 1854, S. 69 26 Ebd., S. 73

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schließen,27 – ganz so als hätte es Perraults konventionalisierende Einwände nie gegeben. Die Erkenntnis der Moderne, dass ein solches Unterfangen nicht mehr möglich sei, wertet Zeising als grundsätzliches Unvermögen, Zusammenhänge zu erkennen. Neu ist gegenüber einer vormodernen Proportionslehre, dass er diesen Zusammenhang nicht in metaphysischen Setzungen begründet, sondern versucht, ihn mit den Mitteln naturwissenschaftlicher Beobachtungen nachzuweisen. Das gesuchte morphologische Grundgesetz kann Zeising schnell benennen: Er behauptet, es beruhe auf den geometrischen und algebraischen Eigenschaften, die sich aus proportionalen Teilungen nach dem Goldenen Schnitt ableiten lassen. Als Beleg führt Zeising die Formenwelt der gesamten belebten wie unbelebten Natur an. Der Nachweis proportionaler Regelhaftigkeit erfolgt durch Messung. Zeising vermisst alles, beginnend beim Menschen – in seinem natürlichen Vorkommen wie in der Kunst – über Tiere, Pflanzen, Mikroorganismen und kristalline Strukturen, bis hin zu geologischen und geografischen Zusammenhängen. In der Messung sämtlicher organischer wie anorganischer Erscheinungsformen, denen er habhaft werden kann, findet Zeising seine Annahme eines allgültigen Proportionsgesetzes bestätigt. Jedoch sind seine Untersuchungen nicht vorurteilsfrei. Zeising hat eine klare Vorstellung dessen, wonach er sucht. Unliebsame Messergebnisse oder Widersprüchlichkeiten werden von ihm – wie schon am Beispiel Dürers gezeigt wurde – unterdrückt oder manipuliert. Noch beunruhigender als solche fragwürdigen Messoperationen sind jedoch die Schlüsse, die Zeising daraus zieht. Er interpretiert und wertet seine Messungen sowohl evolutionär als auch biologistisch, indem er dem Gemessenen, je mehr es sich seinem idealen Maßstab annähert, eine desto höhere Entwicklungsstufe zubilligt. Bereits in einfachen anorganischen Strukturen angelegt, entfalten sich die Prinzipien des Goldenen Schnitts umfänglich erst im menschlichen Körper. Dieser ist

27 »Ganz besonders aber lässt sich von einer allseitigen Verfolgung des Gesetzes erwarten, dass sie namentlich in die einfache Uranlage des unendlich mannichfaltigen Universums, ›wo Alles sich zum Ganzen webt, Eins in dem Andern wirkt und lebt‹, einen tieferen Einblick eröffnen und den überzeugendsten Beweis dafür liefern werde, wie die weltschöpferische Kraft mit den scheinbar geringfügigsten Mitteln die erhabensten und grossartigsten Wirkungen zu Stande gebracht und aus dem Einen den Uebergang ins unendlich Viele und Verschiedenartige gefunden hat.« Ebd., S. VII

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wiederum umso höherwertiger, je genauer er den behaupteten proportionalen Vorschreibungen folgt. Stärkere Abweichungen vom Ideal dagegen werden als unterentwickelt angesehen.28 Indem er solche Hierarchisierungen anhand wirklicher und vermeintlicher Proportionsmerkmale menschlicher Körper vornimmt, wandelt Zeising die Anthropometrik von einem Instrument der Suche nach dem Kanon »schöner Gestalt« in ein Werkzeug der Festschreibung sexistisch29, chauvinistisch und rassistisch30 motivierter Vorurteile um.

28 »Nicht also schon vollendete und befriedigende Ausprägung des Proportionalgesetzes darf man in den niederen Sphären der Natur erwarten, sondern nur mehr oder minder gelungene Versuche und Anläufe dazu, gleichsam Vorübungen und Studien, denen gegenüber die Menschenschöpfung als das eigentliche Kunstwerk und Meisterstück erscheint. [...] stets aber werden diejenigen Erscheinungen, in denen es sich schon deutlich offenbart, zu den schöneren, dagegen diejenigen, in welchen es noch ganz verhüllt oder bereits wieder zerstört ist, zu den minder schönen oder geradezu hässlichen Erscheinungen gerechnet werden, und es wird sich auf diese Weise herausstellen, dass es neben dem Gesetz der Symmetrie für uns den Maassstab abgiebt, nach welchem wir den ästhetischen Werth oder Unwerth einer Erscheinung in rein-formeller Beziehung bestimmen.« Ebd., S. 322 29 »Diese äusseren, formellen Unterschiede zwischen Mann und Weib hängen auf das Engste und Innigste mit den innern und wesentlichen zusammen. Der Mann ist auch in geistiger Beziehung der natürliche Obertheil, gleichsam Haupt, Stamm und Arm, Schirm und Schutz des Weibes, das Weib hingegen das natürliche Untertheil, Träger und Fuss, Bewegungsorgan und Stütze des Mannes.« Ebd., S. 301. Es folgen weitere derartige Schlüsse bis S. 307. 30 »Vergleichen wir diese Verhältnisse einerseits unter einander, andererseits mit dem Verhältnisse unseres Gesetzes, so finden wir, dass sich in dem Fortschritt von der Kopfeintheilung des geschwänzten Affen bis zu der des Europäers ein förmliches Ringen nach dem Verhältniss unseres Gesetzes ausdrückt, nur dass dem Kalmucken sein Platz vor dem Neger anzuweisen ist.” Zeising konstruiert in weiterer Folge eine Reihe mit Verhältniszuordnungen, wobei das dem Europäer zugewiesene Verhältnis von 1 : 0,611 dem Ideal des Goldenen Schnittes mit 1 : 0,618 natürlich am nächsten kommt. »Es springt also hier auf das Unverkennbarste in die Augen, dass der schaffenden Natur bei ihrem Streben nach

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Spätestens ab hier hat die Kanonsuche ihre Unschuld verloren, wovon Neufert aber unbeeindruckt bleibt.31 Er beharrt in seiner Darstellung auf der Kontinuität kanonischer Gültigkeiten und befindet sich darin im Einklang mit Zeising. Ein möglicher Bruch durch den Eintritt der Moderne wird nicht thematisiert. Auch nimmt der kurze Abriss anthropometrischer Spekulationen im Ganzen nur eine Seite der Bauentwurfslehre ein. Bereits die nächste widmet sich ganz nüchtern, in der charakteristischen Bildsprache Neuferts, funktionalen Aspekten, den »Abmessungen« und dem »Platzbedarf« des Menschen. Figur Nr. 1 ist zwar in Körperbau und Haltung noch weitgehend identisch mit dem Mann in Kreis, Quadrat und Dreieck, die Zahlenwerte der Bemaßung lassen jedoch keine Übereinstimmung mit vorher postulierten Harmoniesystemen erkennen. Im Folgenden geht es nicht mehr um Proportion, sondern nur mehr um benötigte Breiten-, Höhen- und Tiefenausdehnungen in Abhängigkeit von Nutzer und Funktion.

Abb. 66: Ernst Neufert, Körpermaße und Platzbedarf (BEL, 1936)

dem rein-menschlichen Typus das Verhältniss unseres Gesetzes als Ideal vorgeschwebt hat.« Ebd., S. 309 31 Bis in die aktuelle Ausgabe der Bauentwurfslehre wird auf den Hinweis auf Zeising, der »durch seine Untersuchungen der Maßverhältnisse des Menschen auf der Grundlage des Goldenen Schnittes durch genaueste Messungen und Vergleiche große Klarheit« geschaffen habe, nicht verzichtet.

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Ebenso utilitaristisch liest sich die Aufforderung Neuferts, die er seinem Mann in Kreis, Quadrat und Dreieck voranstellt: »Er [der Entwerfende] muß wissen, in welchem Größenverhältnis die Glieder eines wohlgebildeten Menschen zueinander stehen und welchen Raum ein Mensch in verschiedenen Lagen und in Bewegung einnimmt. [...] Er muß wissen, welchen Platz der Mensch zwischen den Möbeln braucht [...], um die an den Möbeln nötigen Handreichungen und Arbeiten bequem vornehmen zu können, ohne dass Raum verschwendet wird. [...] Schließlich muss er wissen, welche kleinsten Abmessungen die Räume haben, in denen er sich täglich bewegt.«32

Dieses Verständnis des Menschen als Funktionsgröße, das je nach angestrebter Tätigkeit regelt, in welchen Abmessungen und in welcher Relation Dinge und Räume zu gestalten sind, entspricht dann auch der Erwartungshaltung an ein Kompendium funktionalistischen Architekturvollzugs, das die Bauentwurfslehre ja ist. Es folgt die penible Auflistung der Maßverhältnisse, Abmessungen und Relationen aller erdenklichen und weniger erdenklichen Dinge, die den Menschen in den unterschiedlichsten Situationen und Verrichtungen seines Alltags umgeben. Abstraktion ist das Mittel, diese Aufgabe zu bewältigen. Auf individuell Besonderes kann dabei nicht eingegangen werden. Vielmehr wird das Allgemeine, das jeweils Typische, im Sinne von Standardbildung herausgearbeitet. Entsprechend spielt »eine Population gesichtsloser Menschen, die sich in Hunderten von Momentaufnahmen mit unerschütterlicher Vernunft an die Arbeit oder zur Ruhe begibt«,33 in fein gezeichneten Mikrodramen alle Eventualitäten des modernen Lebens. Offensichtlich ist der Wunsch nach quantitativer Erfassung. Tagesabläufe werden zu Datensätzen: Man findet beispielsweise den Platzbedarf eines im Bett liegenden, eines duschenden und eines frühstückenden Menschen, die Positionierung von Tisch und Stuhl im Raum, die Darstellung der korrekten Lagebeziehung des Gedecks und die Größe des Frühstückseis, inklusive der Größe der Henne, die das Ei gelegt hat, und der Größe ihres Stalls. Sämtliche Bereiche der Produktion, Konsumtion und Regeneration sind in ihren Raumabmessungen und Raumbeziehungen be-

32 Neufert: BEL 1936, S. 22 33 Wolfgang Voigt: Vitruv der Moderne. Ernst Neufert, in: Prigge (Hg.): Neufert, S. 23 ff.

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schrieben, von einfachen bis hin zu komplexen Gebilden wie Laboratorien und Operationssälen mit zugehörigen Krankenhäusern. Die Rede ist hier längst nicht mehr von »wohlgebildeten Menschen«, sondern von Mindestabmessungen, optimierten Flächen und der Vermeidung von Raumverschwendung. Kanonstudien und Maßverhältnisse im Goldenen Schnitt spielen dabei keine Rolle. Es stellt sich die Frage, warum Neufert überhaupt die in seiner Figur in Kreis, Quadrat und Dreieck konnotierte alte Idee humanistischer Harmonielehren in die Bauentwurfslehre aufnimmt. Insbesondere, wenn er dann keinerlei Gebrauch davon macht. Ein Versehen oder Nachlässigkeit ist dabei auszuschließen. Immer wieder wird auf die sorgfältige Redaktion des Buches hingewiesen, auf dessen planmäßig geordnete, knappe und zusammenhängende Form. Auf diese Präzision und Knappheit ist Neufert besonders stolz. Allein aus Gründen der Arbeitsökonomie kommt es darauf an, mit einem34 komprimierten Buch auszukommen, wäre doch das Lesen und Nachschlagen in mehreren Büchern Ressourcenverschwendung. Nun ist jedoch der Platz in einem Buch und gerade in diesem speziellen Nachschlagewerk begrenzt, weshalb es unwahrscheinlich erscheint, dass Neufert Seiten aufnimmt, die er im Grunde für überflüssig hält. Es könnte sich bei dem Zitat Vitruvs um die Simulation eines Fortbestehens humanistischer Traditionen aus taktischem Kalkül handeln. Die Modernität des Neuen Bauens mit seinen Rationalisierungsvorlieben ist zwar innerhalb eines kleinen fortschrittlichen Kreises etabliert, das Baugeschehen im Ganzen steht ihm aber weiterhin desinteressiert bzw. abwartend bis ablehnend gegenüber, wobei sich die Stimmung ab Ende der 20er Jahre zunehmend in Richtung Ablehnung verschiebt. Der Rückgriff auf den Mann in Kreis, Quadrat und Dreieck wäre folglich als Versuch zu lesen, dem Funktionalismus, den Neufert ganz offensichtlich vertritt, und seiner Normierungsbegeisterung ihre allzu technizistische Härte zu nehmen. Das wäre innerhalb der Moderne eine neue Strategie. Sie stünde ganz im Gegensatz zum Neuen Bauen in seiner heroischen Phase, während der man sich in kalkulatorischer Nüchternheit gefiel und ganz bewusst einen unpoetischen Umgang mit Form propagierte, der als angemessen für die neue

34 »Der besondere Vorteil des Werkes für den Benutzer liegt in der knappen Zusammenfassung des wesentlichen Entwurfs- und Gebäudewissens in einem Buch.« (»einem« ist in Fettdruck hervorgehoben), Neufert: BEL 1936, S. 6

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Wirklichkeit eines Lebens unter den Bedingungen der Moderne erachtet wurde. Entsprechend wurden vormoderne Praktiken, die immer noch vitruvianisches Brauchtum hochhielten und sich humanistisch motivierter Harmoniegesetze versicherten, als nicht mehr gültig angesehen und als unbrauchbar verworfen. Derartige Absetzungsbemühungen werden von Neufert übergangen. Die aktuell verfügbaren Möglichkeiten der Technik werden von ihm zwar genutzt, aber nicht zum Programm erhoben. Ohne es weiter zu kommentieren, stellt er tradierte Harmonielehren – die bei ihm als eine einzige durchgängige Lehre erscheinen – vor Funktionsanalysen und die Beantwortung der Frage, »welchen Raum ein Mensch in verschiedenen Lagen und in Bewegung einnimmt«. Die Beschwörungsversuche idealistischer Traditionsbestände und die Anwendung verfügbarer rationaler wie rationeller Architekturproduktion stehen dabei parallel und unverbunden nebeneinander bzw. sie folgen aufeinander. Neufert thematisiert die offensichtliche Widersprüchlichkeit einer einerseits regelästhetischen und einer andererseits technischen Ordnung in keiner Weise. Ebenso wenig versucht er, beide aufeinander zu beziehen oder eine Synthese zu erreichen. Weder fließt die Lehre von harmonischen Zahlen-, Proportions- und Maßverhältnissen in die Überlegungen zu Effizienz, Mindest- und Minimalflächen ein, noch wird in der Bauentwurfslehre der Versuch unternommen, das regelästhetische System der »schönen, richtigen und guten Proportion« mit technischen, aus dem Gebrauch gewonnenen Zahlen, Maßen und Verhältnissen weiterzuschreiben. Mit der Parallelsetzung des human basierten Proportionskanons und der der Effizienz verpflichteten Anwendung erreicht Neufert allerdings, dass die Methode modernen Entwerfens, die er propagiert, nicht mehr voraussetzungslos erscheint. Indem er die andere, die unmoderne Seite zumindest nennt, wirkt der Bruch, die Zumutungen von Zweckrationalität und der vorgenommene Rationalisierungsprozess, gar nicht mehr so schockierend. Damit hätten die anthropometrischen Argumente, die Neufert liefert, allerdings einen lediglich legitimatorischen Charakter,35 sie wären eine Art Überredung. Immerhin ist Neufert dadurch, dass er sich auf diese Weise der Modernisierungsrhetorik der modernen Architektur, wie

35 Vgl. Gerd Kuhn: Die Spur der Steine. Norm-Ziegel, Oktametersystem und »Maszstab Mensch«, in: Prigge (Hg.): Neufert, S. 336

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auch den Anfeindungen, denen diese ausgesetzt ist, entzieht, frei, sich seinem eigentlichen Interesse, der Rationalisierung und Normung, zu widmen. Man könnte aber in der kleinen Episode humanistischen Entwurfsguts auch mehr als nur strategisches Kalkül erkennen. Neufert trennt die synthetische Einheit von Methode und Darstellung der Methode, die dem neuen Bauen so wichtig war: Ging es doch darum, »Formen zu gestalten, die diese Welt symbolisieren.«36 Das adäquate Mittel, das Leben unter den Bedingungen der Moderne zu seinem Recht kommen zu lassen, liegt im Aufzeigen von dessen Bedingungen selbst. Entwurf und Herstellung eines Gebäudes haben nicht nur nach den Prämissen objektiver Funktionserfüllung und rationaler wie rationeller Produktion etc. zu erfolgen. Diese sind zum Verständnis der neuen Verhältnisse auch ausdrücklich zu zeigen. Ist diese Konsistenz von Produktion und deren Abbild im konkreten Fall nicht durchzuhalten – in Wirklichkeit sind die Gebäude dann wesentlich vielschichtiger und irrationaler konzipiert, als sie vorgeben – wird auf symbolischem Ausdruck beharrt. Dadurch wird das Verlangen nach serieller Produktion zur Maschinenästhetik, der Anspruch auf Funktionserfüllung zum Ausdruck von sachlicher Nüchternheit. Diese sozusagen funktionale Ästhetik macht eine Architektur, die gerne modern wäre, als solche lesbar. Neufert geht diesen Weg der Ästhetisierung nicht. Funktionalität und Produktionsprozesse bleiben, was sie eigentlich sind: Methoden. Funktion ist ein Parameter, der zu erfüllen ist. Der direkteste, einfachste und effektivste Weg, dies zu tun, bestimmt die Art der Produktion. Eine symbolische Aufladung der beiden Begriffe findet nicht statt. Eine über den reinen Gebrauch, die Nützlichkeit hinausgehende Sinnkonstruktion wird nicht innerhalb des Funktions- und Produktionsmodells angeboten, sondern außerhalb, in tradierten Proportions- und Formgenerierungsvorschriften. Damit entsteht die paradoxe Situation, dass eine Architektur, die Modernität darstellt, in ihren Methoden im Grunde nicht modern ist. Wohingegen Neufert, der eine Entwurfs-, Planungs- und Realisierungsmethodik bereitstellt, die wirklich rationell, effektiv, ökonomisch und funktional ist, vermeidet, diese Methode in einen Modernediskurs einzubinden. Er stellt Modernität nicht dar. Diese

36 Walter Gropius zitiert nach: Reyner Banham: Die Revolution der Architektur. Theorie und Gestaltung im Ersten Maschinenzeitalter, Braunschweig/Wiesbaden 1990 [zuerst: Theory and Design in the First Machine Age, 1960] (Bauweltfundamente 89), S. 269

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wechselseitigen Verschränkungen von funktional-rational-rationellem Anspruch und Ausdruck und funktional-rational-rationell Sein finden sich auch im jeweiligen Umgang mit dem formalen System Raster wieder, das in beiden Fällen eine tragende Rolle spielt. 3.1.2 Rasterstrukturen. Das funktionierende Raster bei Neufert In der Bauentwurfslehre, dem Buch, mit dem Neufert sich als Experte in Rationalisierungsfragen etabliert, kommt das Raster überhaupt nicht vor.37 Erstaunlich ist das insofern, als das Raster ja spätestens seit Durand als probates Mittel der rationellen Produktion von Entwürfen eingeführt ist und – was mindestens ebenso wichtig ist – als universelle Koordinationsebene das Zusammenpassen normierter Elemente gewährleistet. Was sich jedoch bereits in der Bauentwurfslehre findet, das sind Ansätze serieller Reihung gleicher standardisierter Teile.

Abb. 67: Ernst Neufert, Fensterformate (BEL, 1936)

So wird beispielsweise im Kapitel Fenster gezeigt, wie die benötigte Größe eines Fensters systematisch durch die Addition gleicher, genormter Glastafeln entwickelt werden kann.38 Bemerkenswert ist dabei, dass die Tafelgrößen bereits mit einem weiteren Element – dem Ziegelformat, aus dem die Mauer gebildet ist, in die das Fenster eingesetzt wird – synchronisiert sind. Das bedeutet, die entsprechende Summierung von Glastafeln passt automatisch in jede mögliche Maueröffnung, da das Ziegelformat selbst das

37 Diese Ausschließlichkeit betrifft die ersten Ausgaben der Bauentwurfslehre vor Herausgabe der Bauordnungslehre. 38 Neufert: BEL 1936, S. 58 ff.

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Grundmaß vorgibt, dessen Vielfache alle weiteren Maße bestimmen. Somit ist dann doch, auch wenn das zugehörige Raster noch nicht gezeigt wird, dessen Maschengröße bereits bestimmt. Neben Überlegungen, wie, von Bauteilen ausgehend, Serialität erzeugt werden kann, finden sich auch Ansätze von regelmäßiger Reihung, die funktional motiviert sind.

Abb. 68: Ernst Neufert, axiale Reihung im Bürobau (BEL, 1936)

Am deutlichsten ist dies im Kapitel Bürobauten zu sehen: Bezüglich ihrer Nutzung und Benutzbarkeit optimierte Raumbelegungen werden hier in ein System von gleichen, sich repetitiv wiederholenden Achsen gestellt, wobei die Achsen im gewählten Beispiel den Fensterachsen entsprechen.39 Die Breite der kleinsten Raumeinheit entspricht einer Achse. Ein jeweils größerer Raumbedarf fügt sich in Achsschritten von jeweils ganzzahligen Vielfachen dieses Grundmoduls in das System ein. Allerdings beschränkt sich Neufert nicht auf ein einziges Grundmodul, sondern stellt variierende Achsreihen mit 1,3 m, 1,55 m und 1,75 m zur Auswahl. Dazu kommt noch, dass diese Achsreihen sich lediglich in eine Richtung – die der Längenausdehnung – erstrecken. In der Gebäudetiefe gibt Neufert mit alternativen 3,00 m, 3,50 m, 4,25 m und 4,75 m nicht achskongruente Maße an. Für die Ausbildung eines Rasters wären dagegen eine sowohl in Längs- wie Querrichtung gleiche Modulteilung notwendig.

39 Ebd., S. 173 ff.

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Weitergehende Schritte zur wirklichen Rasterbildung unternimmt Neufert auf der Grundlage des 1941 veröffentlichten »Oktametersystems« in seinem zweiten wichtigen Buch, der 1943 erschienenen »Bauordnungslehre«. Ganz im Gegensatz zur Bauentwurfslehre erlebte die Bauordnungslehre nur eine Neuauflage (1961). Sie ist jedoch zum Verständnis der Entwurfsmethode Neuferts wesentlich. Denn erst im Zusammenhang mit dem in der Bauordnungslehre vorgestellten universellen Raster kann sich das in der Bauentwurfslehre enthaltene rationalisierende Potenzial entfalten und als Entwurfslehre wirksam werden. Für sich genommen erscheint die Bauentwurfslehre zunächst – wie bereits im Titel angekündigt – lediglich als Sammlung von »Grundlagen, Normen und Vorschriften« insbesondere in Bezug auf »Maße« und »Raumbedarf«. Die angegebenen Zahlenwerte beruhen auf normierten Festlegungen, auf der Abmessung von Gegenständen oder geben in der Praxis gewonnene Erfahrungswerte wieder. Damit liegen zunächst nur Daten vor: die Größenbeschreibungen von Nutzern und Nutzerinnen, Dingen und Räumen. Weiterhin bietet die Bauentwurfslehre Angaben zu Funktionsabläufen und Funktionszusammenhängen – Neufert spricht von »Raumbeziehungen« – in Form von abstrakten Funktionsdiagrammen. Was in der Bauentwurfslehre jedoch fehlt, das sind Anweisungen über die Art und Weise, wie Dinge und Funktionen konkret in räumliche Beziehung gesetzt werden können, d. h. wie daraus Gebäude zu entwickeln sind. Somit kann die Bauentwurfslehre für sich genommen im eigentlichen Sinn nicht als eine Entwurfslehre gelten. In Kombination mit der Bauordnungslehre sieht das nun anders aus. Neufert selbst beschreibt den Schritt von der Bauentwurfslehre zur Bauordnungslehre folgendermaßen: »In der Bauentwurfslehre, habe ich versucht, die wertvolle Arbeit der Baunormenausschüsse in einer gedrängten Form herauszustellen, so wie sie der praktische Gebrauch erfordert. Es galt hier, den Extrakt der auf vielen Normenblättern verteilten Arbeit herauszudestillieren und leicht faßbar darzustellen. Dabei empfand ich tagtäglich den Mangel einer übergeordneten Maßbeziehung der Teile untereinander, die das Erfassen und Zusammenbauen erleichtert hätte.«40

40 Ernst Neufert: Bauordnungslehre, Berlin 11943, S. 10. Dieses eher pragmatisch motivierte Empfinden eines Mangels wird im nächsten Satz noch durch ein Zitat klassischen Bildungsguts mit Bedeutsamkeit aufgeladen: »Man hatte frei nach Goethe: ›Die Teile in der Hand, es fehlte leider nur das geistige Band.‹« Dessen

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In der Bauordnungslehre unternimmt Neufert dann tatsächlich den Versuch, sämtliche baurelevanten Abmessungen auf ein gemeinsames Maßsystem umzuschreiben, – allerdings unter veränderten Voraussetzungen und gegenüber den 20er Jahren verschobenen Zielsetzungen. Albert Speer, der als Herausgeber der Bauordnungslehre fungiert, benennt diese neuen Voraussetzungen und Ziele in seinem Vorwort eindeutig und unmissverständlich: »Der Totale Krieg zwingt zur Konzentration aller Kräfte auch im Bauwesen. Weitgehende Vereinheitlichung zur Einsparung technischer Kräfte und zum Aufbau rationeller Serienfertigung ist die Voraussetzung zu einer Leistungssteigerung, die zur Bewältigung unserer grossen Bauaufgaben erforderlich ist. Bei dieser Neuordnung konnte man ebensowenig von zufällig vorhandenen Abmessungen der Bauteile ausgehen und durch parlamentarisches Verhandeln der beteiligten Herstellergruppen die Normenabmessungen bestimmen, sondern man musste mit fester Hand unter Mitarbeit der Industrie zuerst eine Bauordnung im weitesten Sinne des Wortes aufbauen, die dem Planer, dem Hersteller und den Männern am Bau in gleicher Weise das Arbeiten erleichtert und die Passfähigkeit der Teile untereinander gewährleistet.«41

Die Lösung, der Schritt von der Bauentwurfslehre zur Bauordnungslehre, der hier als so überaus wichtig beschrieben wird, liegt tatsächlich in der Verwendung der simplen Zahl 12,5. Alle Dinge, respektive deren Datensätze, werden aus Vielfachen von 12,5 cm gebildet bzw. lassen sich auf dieses Maß zurückführen. Folglich haben sie eine neue, für das weitere Vorgehen wesentliche Eigenschaft: Sie sind nun immer und schon von sich aus innerhalb eines gemeinsamen Gitters mit Maschenweiten von 12,5 cm rasterkonform. Neufert spricht vom »Baumaßraster« und, da die Maßordnung von der Achtelteilung des Meters ausgeht, vom »Oktametersystem«. Darauf aufbauend werden Grundmodule gebildet: • •

Iba (Industriebaumaß) = 2,5 m (20 x 1/8 m) und Uba (Unterkunftsbaumaß) = Iba/2 = 1,25 m (10 x 1/8 m)

ungeachtet geht es im Folgenden wieder ganz prosaisch um das effiziente Erfassen und Zusammenbauen von Funktionen und Bauteilen, die diese Funktionen bedienen. 41 Albert Speer, Vorwort: Ebd., S. 3

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Deren Vielfache bestimmen wiederum die Achsen des Rasters. Weitere Unterteilungen dazwischen erfolgen in Viertel- und Achtelmeterschritten: • •

Ba (Baumaß) = 25 cm (2 x 1/8 m) und Ba /2 = 12,5 cm (1/8 m)

Diese beiden Festlegungen – die Wahl eines Rasters als universelle Planungsgrundlage und dessen verbindliche Modulteilung, die das Raster erst zu einem universellen macht, – bilden die Basis, auf der Neuferts Bemühungen um eine Systematisierung der Architektur aufbauen. Entsprechend gewichtig ist die Wahl der Zahl 12,5. Es handelt sich zunächst um einen bloßen Zahlenwert, der jedoch zur Grundeinheit sämtlicher Raster – und wiederum in Abhängigkeit davon, zur Grundeinheit aller Normierungsüberlegungen überhaupt wird. In diesem Bedeutungszusammenhang kann die Wahl keine zufällige sein. Als Kriterien der Maßbestimmung lassen sich auflisten: •

• •

Neufert sucht ein Maßsystem, das die unendliche Zahl aller möglichen Maße auf eine endliche und überschaubare Anzahl von Maßzahlen reduziert, mit denen sämtliche am Bau vorkommenden Maße beschrieben werden können. Dieses Maß muss anschaulich und greifbar sein. Man muss es effizient handhaben können.

Das Maß des Meters allein genügt nicht, da es sich der Forderung nach Anschaulichkeit entzieht, – ganz im Gegensatz zu vorgehenden körperbezogenen Maßeinheiten wie Fuß und Zoll. Mit diesen liegen bereits im Alltagsgebrauch verwurzelte, greifbare und in ihrer anthropomorphen Bestimmtheit bewährte und brauchbare Baumaße vor, die zudem im angelsächsischen Raum immer noch in Verwendung sind. Allerdings ist dessen ungeachtet das metrische System bereits im Baubetrieb etabliert. Es zu ignorieren und ungenutzt zu lassen, wäre ineffektiv, weshalb Neufert versucht, eine Synthese zwischen dem metrischen System und alten Maßeinheiten herzustellen, um spezifisch architektonische Aufgaben zu bewältigen. Hierbei ergeben sich einige Probleme: Die vormetrischen Systeme sind nicht dezimal aufgebaut und ihre Maße lassen sich nur umständlich mit Metereinheiten ausdrücken. Trotzdem schreibt Neufert, es sei »insbesonde-

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re für den Architekten von besonderer Bedeutung, wenn er sich innerhalb des nunmehr unumstößlichen metrischen Systems die Vorstellungswelt des alten Fuß- und Zollmaßes rekonstruieren kann«. 42 Neufert löst das Problem, die beiden Systeme in Kongruenz zu bringen, einfach durch Rundung. Da die Maßangaben für Fuß sowieso differieren – die alten europäischen Maßangaben unterscheiden sich untereinander nach Ländern und Städten, wie auch die englische Maßangabe von der amerikanischen abweicht – definiert Neufert einfach ein Mittelmaß mit genau 30 cm. Dieses Mittelmaß entspricht dem englischen Maß einigermaßen und kommt dem amerikanischen Fuß schon sehr nahe. Dabei hat Neufert für eine Maßzahl mit 30 cm Länge noch wenig Verwendung. Teilt man diesen 30 cm Fuß jedoch durch 12 in die nächst kleinere Einheit, erhält man ein Zollmaß von 2,5 cm. Dieses ist zwar in seiner Körperbezogenheit – es entspricht etwa der Daumenbreite – bei Baumaßen nur noch bedingt anschaulich, aber es lässt sich bequem mit dem metrischen System verbinden: »1

Zoll

-

0,025

m

100

Zoll

-

2,50

m

5



-

0,125



150



-

3,75



10



-

0,25



200



-

5,00



20



-

0,5



250



-

6,25



30



-

0,75



300



-

7,50



40



-

1,00



350



-

8,75



50



-

1,25



400



-

10,00



usw.« 43

Auffallend ist die Identität des neufertschen Zolls mit den Grundeinheiten Iba, Uba, Ba und Ba/2. Es ist bloß die Kommastelle zu verschieben. Auch ist die Umrechnungstabelle dezimal und nicht mehr duodezimal (12 Zoll = 1 Fuß) aufgebaut. Neufert suggeriert auf diese Weise, mit seinen Maßzahlen eine »Brücke« zwischen metrischen und anthropomorphen Maßen gefunden zu haben. Indem der Achtelmeter so als »natürlich« vorgestellt wurde, bleibt Neufert noch, die Effizienz eines derart basierten Systems zu belegen, indem er dessen mathematische Leistungsfähigkeit demonstriert. Kriterien hierfür sind die Beschränkung auf einen begrenzten Satz von Zahlen, deren Kom-

42 Neufert: BOL, S. 22 43 Ebd.

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binier- bzw. Teilbarkeit und deren Integrationsfähigkeit in das Dezimalsystem.

Abb. 69: Grafische Darstellung der Teilbarkeit der Zahl 12

Die vormetrischen, auf Körpermaße bezogenen Systeme zeigen in ihrem duodezimalen Aufbau und ihrer Vorliebe für ein Hantieren in Brüchen bereits ein hohes Vermögen, mit wenigen Zahlen sehr feine Unterteilungen auszudrücken. Maßangaben erscheinen als Teile eines Ganzen, wie: 1/2 , 1/3 , 1 /4 , 1/6 , 1/12. In ihrer Beschränkung auf einfache und einfache, zusammengesetzte Brüche bleiben Maßbeschreibungen innerhalb des Systems anschaulich und leicht verständlich. Dezimalsprünge sind dagegen innerhalb eines duodezimalen Rechnens nicht vorgesehen. Neufert nimmt in seiner weiteren Argumentation das Prinzip der proportionalen Teilung eines Ganzen auf, verbindet es aber mit einer dezimalen Staffelung. Verwirklicht sieht er diese Verbindung von proportionalem und dezimalem Aufbau bereits im System der Normungszahlen.44 Normungszahlen (NZ) dienen im Bereich der Technik der Bemessung von Normbauteilen. Als Spezialist für Normungsfragen im Bauwesen mit der Absicht, ein universelles Maßsystem im Bauwesen zu begründen, kann Neufert die Normungszahlen natürlich nicht übergehen. Mit ihnen liegt ein System aus einem begrenzten Satz von Zahlen vor, das den gesamten Bedarf der technischen Normung abdeckt. Normungszahlen ergeben sich durch die 5tel, 10tel, 20tel, 40tel und 80tel Teilung der Ausgangszahl Zehn. Man erhält die Reihen R5, R10, R20, R40 und R80, wobei die Teilung nicht linear, sondern progressiv erfolgt. Größere Zahlenwerte sind gröber, kleinere feiner gestaffelt. Außerdem ist innerhalb der Teilungen das Verhältnis zweier aufeinander folgen-

44 Vgl. DIN 323

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der Zahlenwerte immer gleich,45 weshalb Neufert von »Zweier-Gefügen«46 spricht.

Abb. 70: Normungszahlen, R5 und R10 Reihe. Es entsteht ein progressives Gitter. Zum Vergleich das regelmäßige Raster der 1/8 m Reihe

Werden die Normungszahlen mit zehn multipliziert oder durch zehn dividiert, verschiebt sich lediglich deren Kommastelle. Sie werden in das nächst höhere bzw. niedrigere »Zehner-Gefüge« verschoben, womit sich bei immer gleichen Zahlen unendlich klein- wie großmaßstäbliche Zahlenwerte abdecken lassen.

45 Angestrebt wird ein konstant gleiches Verhältnis. Tatsächlich sind die exakten Werte jedoch zugunsten einer leichteren Handhabung gerundet. 46 »Für die Bedürfnisse der Technik, denen die Normungszahlen (NZ) dienen, interessiert das Zweier-Gefüge insbesondere wegen seiner gleichmäßigen Stufungen, denn in der gesamten Technik besteht das Bedürfnis, die Größenunterschiede untereinander proportional zu halten. Das Verhältnis einer kleineren Größe zu einer großen wünscht man im allgemeinen gleich dem der großen zur noch größeren usw.« Neufert: BOL, S. 27

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Neufert nennt noch die mathematischen Vorzüge, die das System beinhaltet: vor allem, dass es »die Paßfähigkeit der danach bestimmten Abmessungen zueinander weitgehend gewährleistet. So sind: 1. Produkt und Quotient aus beliebig vielen Normungszahlen, wieder Normungszahlen, 2. ganzzahlige Potenzen von Normungszahlen, wieder Normungszahlen und 3. die doppelten und die halben Werte jeder Normungszahl, wieder Normungszahlen.«47

Neufert zeigt sich, indem er die Systematik der Normungszahlen umständlich erklärt, auf dem aktuellen Stand der Normungstechnik, schöpft deren Möglichkeiten allerdings gar nicht aus. Im Übrigen benötigt er für ein angestrebtes Arbeiten im Raster ohnehin ein einfacheres System, weniger ein dividives als ein additives. Er begründet das mit dem »charakteristischen Aufbau der Hochbauten aus vielen gleichen Einzelheiten [, der] eine übergeordnete Berücksichtigung der additiven Reihung für die dafür in Frage kommenden Bauteile«48 erfordert. Eine solche Aneinanderreihung ist innerhalb eines progressiv gestaffelten Systems schwierig. Erst innerhalb eines gleichmaschigen Gitters ist die freie, jedoch passgenaue Verteilung modularer Teile möglich. Übernommen werden daher nur Zahlenwerte, die sich in ein gleichmäßiges Raster einpassen lassen. Mit der Reihe 12,5, 25, 50, 100 geht das sehr gut, wobei auch andere Reihen – beispielsweise ausgehend von 10 – denkbar wären. Wichtig für ein effizientes Arbeiten im Raster ist, dass sich das 1/8 System, da es mit der Zahl 12,5 auf einer Normungszahl basiert, mit dem metrischen dezimalen System in Kongruenz bringen lässt. Das erleichtert das Hantieren mit 1/8 Modulen und dezimalen Angaben, da »in allen Dekaden die gleichen Maße wiederkehren wie in der ersten Dekade. 1,25

2,5

3,75

5,00

6,25

7,5

8,75

10 m

11,25

12,5

13,75

15,00

16,25

17,5

18,75

20 m

21,25

22,5

23,75

25,00

26,25

27,5

28,75

30 m

47 Ebd. 48 Ebd., S. 28

usw.

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Vor jeder Reihenzahl der ersten Dekade kommt also in den höheren Zahlengebilden lediglich die Leitzahl der jeweiligen Dekade.«49 Ein mögliches Rastermaß von 1,20 würde diese Forderung nicht erfüllen, auch wenn dieser Wert 1,20 eine höhere Teilbarkeit aufweist. Teilbarkeit ist ursprünglich zwar eines der Kriterien, mit denen Neuferts kleine Zahlentheorie begann, an deren Ende spielt sie für die Relevanz eines Maßsystems nur noch peripher eine Rolle.50 Letztendlich findet Neufert seine Annahme eines von dem Wert 12,5 ausgehenden Maßsystems immer bestätigt. Dabei bleibt er in seiner Argumentation relativ flexibel. Es geht ihm ja nicht um eine systematische Aufarbeitung arithmetischer Gesetzmäßigkeiten. Im Grunde gleicht Neufert lediglich punktuelle – oder auch nur vermeintliche – Übereinstimmungen mit seinem vorab favorisierten System ab. Die Funktion seines mathematischen Exkurses scheint damit auch eher im Versuch einer nicht konventionellen Legitimation seiner Maßwahl zu liegen, die demnach auch keine Erfindung, sondern eher Findung einer quasi Naturkonstanten ist. Dem gleichen Zweck folgen die Beispielsammlungen aus »historischen Untersuchungen an den Systembauten unserer Altvorderen und des klassischen Altertums«,51 die er in der Bauordnungslehre noch anführt. Immer wieder steht ein signifikantes Auftauchen von 1/8 m Zahlen für die Natürlichkeit des Systems. In jedem Fall – unabhängig von der jeweiligen Begründung – liegt im Ergebnis ein System vor, das primär additiv aufgebaut und einfach ist, und das sich so in seiner Grundstruktur für eine Verwertung als Rasterbasis empfiehlt.

49 Ebd., S. 32 50 In Bezug auf deren Rastertauglichkeit bevorzugt Neufert die Zahl 12,5 gegenüber der Zahl 12 aufgrund der geringeren Teilbarkeit. »Es ist sogar richtiger, wenn die Grundzahl nicht ausgesprochen nach einer weiteren Unterteilung schreit, wie der Wert 120, denn je größer das Einheitsformat ist, desto weniger Teile sind nötig. Die Grundzahl darf deshalb nicht zu weiteren Unterteilungen reizen, sondern umgekehrt die Tendenz nach größeren Einheiten ausstrahlen, wie dies charakteristisch für die Zahl 125 ist, führen doch gerade ihre Verdoppelungen auf 250, 500, 1000 zu unseren einfachen Zahlenbildern.« Ebd. 51 Seine Argumentation bleibt relativ unbeeindruckt von archäologisch verifizierbaren Daten. Namentlich seine Maßanalogien im klassischen griechischen Tempelbau sind nicht haltbar.

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Auf der Grundlage dieses Systems ließe sich das gesamte Baugeschehen reorganisieren.

Abb. 71: Ernst Neufert, Rasterbeziehung der Iba-, Uba-, Ba-Maße (BOL, 1943)

Innerhalb einer verbindlichen Maßordnung sind Standardisierung und Normung – die ja das erklärte Ziel darstellen – erst eigentlich möglich. Durch die Rückführung auf bzw. die Einfügung in gemeinsame Normungsmaße erhalten die in der bisherigen Arbeit gewonnenen Datensätze über den funktionellen Platzbedarf in verschiedenen Situationen sowie die Quantifizierung von Raumbeziehungen den notwendigen Zusammenhang. Wenn sich die Ebenen Funktion und Objekt bzw. deren architektonisches Zusammenspiel in gleiche Moduleinheiten gliedern lassen, ist folglich eine

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Synchronisation zwischen den Ebenen möglich. Spezifische Situationen, Dinge und Raumbeziehungen können so weit verallgemeinert werden, dass sie sich in standardisierte Lösungen integrieren lassen. Ihre Einheitlichkeit sichert dabei die jeweilige Passfähigkeit: Dinge und Räume lassen sich addieren bzw. lässt sich das eine in das andere einfügen. Je nach Notwendigkeit sind Variationen der Anordnung und Einpassung möglich. Handlungen, Dinge und Räume sind somit austauschbar, ohne dass sich das System als Ganzes ändern oder etwas von Grund auf neu erfunden werden müsste. Schließlich erreicht die Forderung nach universeller Passfähigkeit auch den Adressaten, den Nutzer.

Abb. 72: Ernst Neufert, Proportion des menschlichen Körpers in Oktametermaßen (BOL, 1943)

Der Mensch als Maß aller Dinge wird ebenso wie alles andere maßkoordiniert.52 Betrachtet man unter diesem Aspekt den Referenzkörper der Zielpopulation – Neufert spricht 1936 in der Bauentwurfslehre von einem »wohlgebildeten Menschen«,53 1943 in der Bauordnungslehre von »einem männlichen Vertreter unserer Rasse mittlerer Größe«54 – »so ergeben sich

52 Vgl. auch zum Verhältnis von Körpermaßen und Normmaßen: Kuhn: Spur der Steine, S. 351 ff. 53 Neufert: BEL 1936, S. 22 54 Neufert: BOL, S. 35

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fast überall Maße, die durch das Modul 12,5 cm teilbar sind bzw. sich auf durch 12,5 cm teilbare Maße abrunden lassen«. Neufert ist sich der Konstruiertheit dieser Maße durchaus bewusst, wenn er fortfährt: »Da kein Mensch dem anderen genau gleicht, sind solche Rundungen zum besseren Verstehen und Merken der Hauptmaßbeziehungen für den vorliegenden Zweck richtiger als die zufälligen genauen Maße einer Versuchsperson oder das genaue Mittelmaß mehrerer Versuchspersonen.«55 Die »nur« gemessenen Größen und Größenverhältnisse von 1936 sind in das Oktametersystem zu integrieren. Dabei behält der Standardmensch von 1936 zwar auch nach 1943 seine Gesamtgröße von 1,75 m. Diese ist bereits maßkonform. Die Schulterhöhe wird jetzt allerdings mit 1,5 m anstelle von 1,45 m angegeben, die Schulterbreite mit 50 cm statt 44 cm, die Spannweite des Arms mit 75 cm statt 72 cm und die Höhe des sitzenden Menschen mit 1,375 m statt 1,38 m. Alle weiteren Maße lassen sich ebenfalls auf 12,5 cm zurückführen. Hier zeigt sich wiederum, dass der menschliche Körper flexibel ist – auch in seinen Maßen. Der Mann im Oktameterraster sieht in seinen Proportionen immer noch glaubhaft aus, die Maßanpassungen scheinen geglückt. Lediglich die Angabe der Sitzhöhe in Einheiten von 12,5 cm lässt sich schwer mit der menschlichen Anatomie in Einklang bringen. Ein rasterkonformes Maß von 50 cm wäre jedoch unüblich und unbequem. Neufert kaschiert die Inkongruenz mit einer »von bis« Angabe. Er vermaßt 45-50 cm, wobei der Streuungsbereich eher noch ein paar Zentimeter tiefer angesetzt werden müsste. Dann wäre jedoch die Verbindung zum 1/8 m Modul endgültig verloren. Von dieser kleinen Unregelmäßigkeit abgesehen, die auch nicht besonders ins Auge springt, ist der menschliche Körper jetzt im Rahmen der Maßordnung verhandelbar. Das bedeutet in weiterer Folge, dass sich auch die vom Körper ausgehenden Handlungen systemimmanent beschreiben lassen: Neufert kann nun auch Aktionsradien, Griff- und Arbeitshöhen, Distanzen sowie Interaktions- und Abstandsflächen in ein Maßsystem einpassen, das sich wieder auf 12,5 cm zurückführen lässt.56

55 Ebd. 56 Neufert führt diese Folgerung innerhalb der BOL nicht explizit aus. Er verweist jedoch auf entsprechende Zeichnungen zu »Abmessungen und Platzbedarf des Menschen« in der BEL

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1943. Körpermaße und Platzbedarf des Menschen

werden von da ab auch in der BEL im Oktametersystem angegeben.

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Abb. 73: Ernst Neufert, Abmessungen und Platzbedarf (BEL, 1992)

In weiterer Folge müsste sich eine solchermaßen vorgenommene »Umbemessung« des menschlichen Körpers auch auf der nächsten Ebene abzeichnen, der Dimensionierung der Dinge, mit denen sich der Mensch umgibt, sowie der Abstände zwischen diesen Dingen.57 Das betrifft Möbel und Geräte, Funktionsbereiche, die Bemessung von Gangbreiten, Räumen, etc. Im Grunde lässt sich der gesamte Inhalt der Bauentwurfslehre in das in der Bauordnungslehre propagierte Maßsystem integrieren. Damit lässt sich der Produktionsvorgang des Entwerfens wesentlich vereinfachen, da nun sämtliche Problembereiche in zueinander kongruente Teile zerlegt sind. Das betrifft sowohl Immaterielles – wie Funktionen und Funktionsabläufe, Situationen und Handlungen – als auch die Aufgliederung der diesen Funktionen dienenden materiellen Realisierungen in Elementen, Bauteilen und Räumen. Die einzelnen Teile werden in Standardsammlungen festgehalten. Einmal Gefundenes bzw. Erfundenes steht, in eine möglichst allgemeine Erscheinungsform transformiert, zur Wiederverwertung bereit. Die Aufgabe des Entwerfenden wird dadurch auf die richtige Auswahl der notwendigen Teile begrenzt. Das Zusammensetzen dieser Teile innerhalb des Rasters gleicht der Prozedur formaler Komposition, wie sie schon von Durand beschrieben wurde. Lediglich funktionelle Abläufe und Abhängigkeiten sind darüber hinaus zu berücksichtigen. Neufert stellt die Vorzüge eines solchen Entwerfens im Raster am Beispiel der Planung einer Industriehalle heraus: Nach der Untersuchung der Betriebsabläufe und der Zusammenstellung des für die jeweiligen Funktionen notwendigen Platzbedarfs ist ein geeigneter Hallentyp mit entsprechender Konstruktion und Hülle zu wählen und auf die erforderlichen Dimensi-

57 Vgl. Neufert: BOL, S. 35 ff.

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onen abzustimmen. Sämtliche benötigten Einzelteile sind typisiert und deren baukonstruktive und statische Abhängigkeiten bereits in Bauteilbeschreibungen und Leittypen beschrieben. Die Detailausbildung und Fügung der Elemente kann ebenso aus Musterlösungen entnommen werden, wie die statische Dimensionierung bereits standardisiert in modularer Abhängigkeit erfolgt ist.

Abb. 74: Ernst Neufert, Entwurf, Planung und Bemessung nach Industrie-Bau-Norm (BOL, 1943)

Nicht zuletzt sind auch die Kosten von Einzelteilen und Konstruktionen bekannt. »Damit sind alle technischen und wirtschaftlichen Fragen beantwortet. [...] Der Architekt kann also nach schneller Klärung der noch offenen Fragen sofort mit der Zusammenstellung der in Aussicht genommenen Typenhalle nach betriebstechnischen und architektonischen Gesichtspunkten beginnen.«58 Dabei muss – und das ist für das weitere Vorgehen ganz entscheidend – das Architektonische jetzt mit der Komposition im Raster gleichgesetzt werden, wodurch der Planende »in kürzerer Zeit, als er sonst für die Bearbeitung solcher Aufgaben ansetzt, [...] architektonische[] Fragen mit einer Sorgfalt und einem Zeitaufwand bearbeiten [kann], der ihm

58 Ebd., S. 106

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bisher noch nie zur Verfügung stand«.59 Neben der Effizienzsteigerung in der Entwurfs- und Ausführungsplanung soll die Rasterung nun aber auch die einfache und verlustfreie Übertragung des Projekts auf den Bauplatz gewährleisten.

Abb. 75: Ernst Neufert, Quadratnetz, Plan und Bauplatz (BOL, 1943)

Voraussetzung dafür ist die umfassende Rasterkartierung der gesamten Umwelt. Auch hier ist Neufert in seinen Überlegungen gründlich: »Die Gebäudeplacierung erfolgt demnach in Zukunft nach den versteinten, genau vom Feldmesser eingemessenen Hauptachsensteinen und Unterteilungssteinen, von denen die weitere Unterteilung jeweils durch 5 m [2 Iba] Maßlatten so genau, wie selten am Bau üblich, zwangsläufig gefunden wird.«60 Das gleiche Gitter, das über die Zeichnung gelegt ist, würde sich demnach nun auch über der Landschaft wiederfinden. Ebenso wie bereits Nutzer, Nutzungen, Elemente, Bauteile und Gebäudetypen innerhalb eines univer-

59 Ebd. 60 Ebd., S. 118

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sellen Ordnungssystems passfähig gemacht wurden, soll jetzt auch der gesamte Grund und Boden, unabhängig von topographischen und anderen Besonderheiten bzw. Unwägbarkeiten, egalisiert werden. Neufert versteht diese Gitterkartierungen dabei nicht nur als bloße Messhilfen oder Orientierungspunkte im Sinne eines geographischen Koordinatensystems. Damit sein Ordnungssystem wirklich universell wirksam werden kann, geht er ganz konkret von einer Reorganisation der Flurteilung aus: »Schon bei der Aufteilung der Grundstücksgrößen in Aufschließungs- und Bebauungsplänen sind durch IBA teilbare Begrenzungsmaße der Grundstücke festzulegen. Da sich auch die Straßenbreiten, Gehsteigbreiten, Vorgartenbreiten und Bauwiche von den Nachbargrenzen nach Iba-Maßen errechnen, so ergibt sich eine paßfähige Aufteilung der Bebauungspläne und der Grundstücksbebauung wiederum ohne Rest ganz von selbst.«61

Neufert geht es um eine zweifache Arbeitsvereinfachung: Die Identität von Plan und Bauplatz soll gewährleisten, dass Maßnahmen, die in der einen Ebene getroffen werden, auch auf der anderen dasselbe bedeuten. Im Übergang von der Bauplanung zum Bauen selbst sollte so alles Unkalkulierbare ausgeschlossen werden. Zum anderen wird erreicht, dass die Architektur, nachdem der Plan bereits von allem Außergewöhnlichen zugunsten eines umfassenden Standards bereinigt wurde, nun auch in der Landschaft mit keinem Widerstand mehr konfrontiert ist. Im Begleittext zu Abb. 77 verwendet Neufert hierfür das schöne Bild vom Quadratnetz, »das, wie auf dem Ozean, gestattet, sofort eindeutig die Lage der Gebäude und jedweder anderen Anlagen zu bestimmen. Die nach Baumaßen angelegten Gebäude fügen sich zwangsläufig in dieses Rasternetz ein.«62 Eine letzte Vereinfachung des Agierens im Raster liegt schließlich, nach Plan und Bau, in der Kommunikation. Indem Funktionen und Elemente bereits standardisiert, innerhalb eines formalen Systems egalisiert und in zur freien Verfügung stehenden Funktions- und Elementlisten katalogisiert wurden, lässt sich auch das Reden über Projekte rationeller gestalten. Die Funktion, der Funktionsbedarf und die Mittel, die zu deren Befriedigung notwendig sind, sind bereits in Datensätzen beschrieben. Das formale Sys-

61 Ebd., S. 120 f. 62 Ebd., S. 119

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tem des Rasters regelt deren Zusammenhang. In der Verständigung über Architektur fehlen demnach nur noch qualitative Angaben darüber, welche Teile gewählt werden, und vor allem quantitative Angaben, die darüber entscheiden, wie viele dieser Teile jeweils gebraucht werden.

Abb. 76: Ernst Neufert, Architekt und Bauherr (BOL, 1943)

Im Mikrodramen-Diagramm »Architekt und Bauherr« beschreibt Neufert, wie Architektur vor dem Hintergrund eines Rastersystems abstrakt verhandelt wird: Man sieht einen Besprechungstisch, um den herum Menschen sitzen, im Rücken ein Fenster, das den Blick auf ein Fabrikgelände freigibt. Man beschäftigt sich offensichtlich mit industriellem Bauen. An der linken

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Stirnseite des Tisches sitzt der Architekt, vor dem Fenster sein Planungsteam mit Sekretärin. Zu erkennen sind die Architekten an den ausgerollten Plänen, mit deren Hilfe sie ihren Auftraggebern die Planung erklären wollen. Einer der Mitarbeiter hat sich zu diesem Zweck von seinem Platz erhoben. Eigentlich nichts Unübliches. Auffallend ist jedoch, dass keiner der Auftraggeber die Pläne betrachtet. Das ist hier auch gar nicht notwendig, da das für die Besprechung wichtigste Blatt vor dem Architekten liegt. Dieses Blatt ist in der Grafik mit einem Hinweispfeil noch einmal vergrößert dargestellt. Die Bildunterschrift erklärt, was es damit auf sich hat: »An Hand der vergleichenden Tafeln der BOL kann der Architekt bei Unterhaltungen mit seinem Bauherrn über die in Frage stehenden Hallentypen sofort Auskunft geben.«63 Bei den Auskünften, die gegeben werden, handelt es sich um Zahlen. Diskutiert werden Kennwerte. Nicht mehr Zeichnungen und damit die Unwägbarkeiten formaler Befindlichkeiten sind Gegenstand der Unterhaltung, sondern das Einpassen von funktionellen und räumlichen Notwendigkeiten innerhalb eines egalisierten Rastersystems. »Das IbaRaster in den Händen des Betriebsingenieurs, Bauherrn und Architekten bringt [...] schon bei den ersten skizzenhaften Überlegungen auf diesem Netzpapier[] die Raumbedürfnisse in den Rahmen der Iba-Maße, nach denen die Typenhallen bemessen sind.«64 Das spezielle Beispiel des Hallenbaus lässt sich verallgemeinern. Mit einem derart effizienten Werkzeug ausgestattet, kann der rationell arbeitende Architekt darangehen, Architektur im Raster zu entwerfen. Wie diese Architektur aussieht, lässt sich neben den Industriebaubeispielen, die Neufert anführt, gut in seinen Typenentwürfen für Wohnbauten nachvollziehen. Gerade hier zeigt sich auf allen Maßstabsebenen ein Ineinandergreifen von Rasterorganisation und normierten Elementen. Ziel ist wie immer Effizienz. Die allgemeine Lösung ist angestrebt, nicht die individuelle. Der Aufbau von Neuferts Vorgehen ist hierarchisch. Idealerweise ist der Baugrund schon in Rastereinheiten von 2 Iba kartiert. Die städtebauliche Organisation folgt dieser Teilung: Gebäude, die Abstände zwischen den Gebäuden, Freiflächen und Straßen werden in Abhängigkeit von diesen Rastereinheiten angeordnet. Auf den Plänen der Typenhäuser, die Neufert in der Bauordnungslehre veröffentlicht, ist die übergeordnete Gitterstruktur gut erkenn-

63 Ebd., S. 202 64 Ebd.

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bar. Die Bebauung erfolgt natürlich immer parallel zum Gitter, wodurch sich die Gebäude bequem einmessen lassen. Die Abstandsflächen bleiben dabei regelmäßig und die unbebauten Flächen zwischen den Häusern sind formal bis in die stimmige Pflasterung geregelt.

Abb. 77: Ernst Neufert, Typenhäuser (BOL, 1943)

In der Maßstabsebene der Häuser setzt sich dieses Prinzip fort. Sowohl die Gebäudeabmessungen, die ja schon städtebaulich abgesteckt wurden, als auch die Binnenorganisation der Gebäude folgen der Unterteilung eines 1 /8 m Rasters. Das bedeutet, dass sich sowohl die Konstruktionsflächen, die Mauern, als auch die verbleibenden nutzbaren Flächen, die Räume, in ihren Abmessungen wie in ihrer Positionierung innerhalb des Rasters beschreiben lassen. Da die Bauelemente, aus denen das Gebäude gefügt ist, – im vorliegenden Fall handelt es sich um Ziegelsteine – ebenfalls rasterkonform sind, liegen sämtliche Stöße zwischen den Elementen, die Mauerachsen ebenso wie die Begrenzungslinien der Bauteile und die Begrenzungslinien der lichten Raumabmessungen auf Rasterlinien. Damit sind die Bedingungen für ein konfliktfreies Konstruieren innerhalb des Systems gegeben. Gebäude lassen sich somit einfach und schnell planen und bauen. Werden die Rastersprünge eingehalten, ist auch immer die Konstruktion in Form standardisierter Verbindungen bereits gelöst, der Verschnitt von Baumaterial minimiert und die einfachste Art der Verlegung gefunden. Mauerunterbrechungen, Öffnungen und Durchbrüche folgen automatisch der Rasterteilung und die Abmessungen von Fenstern und Türen lassen sich auf eine übersichtliche Anzahl reduzieren, womit sich auch hier Standardisierungen anbieten.

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Abb. 78: Ernst Neufert, Räume, Bauteile, Bauelemente und Rasterachsen (BOL, 1943)

Auf den ersten Blick scheint es, dass Neufert sein Ziel erreicht hat. In der Detailplanung aber wird deutlich, dass es ganz so einfach doch nicht ist. Rohbaukonstruktionen werden in der Regel verkleidet oder verputzt, außerdem sind Bauungenauigkeiten unvermeidlich. Wird diese übliche Praxis akzeptiert – was Neufert als praktisch denkender Architekt tut – muss er zur Kenntnis nehmen, dass zusätzlich zur rasterkonformen Konstruktion jeweils eine zusätzliche Schicht Materialstärke und eine Schicht Toleranzausgleich hinzuzurechnen sind. Das bedeutet, dass die lichten Abmessungen zwischen den Wänden nicht mehr im Rastermaß sind. In weiterer Folge können dann auch der Ausbau und die Möblierung nicht mehr auf der gleichen Maßgrundlage wie die Konstruktion erfolgen, was natürlich auf jeden Fall zu vermeiden ist. Akzeptabel wäre nur ein Ausbauraster, das mit dem Konstruktionsraster identisch ist. Da Neuferts Standardisierungsambitionen umfassend sind, wird das System verfeinert. Die Lösung, die Neufert anstrebt, findet er bereits in der Fügung der kleinsten Bauelemente eingeschlossen: »Putz und Toleranz von zusammen 3 cm an der einen Wandseite + 3 cm an der Gegenwandseite ergibt für beide Seiten zusammen 6 cm oder 1/4 Stein (die Differenz

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Abb. 79: Ernst Neufert, Differenz von Rohbau-, Fertig- und Ausbaumaßen (BOL, 1943)

von 0,0025 m muß hier als Abrundung vernachlässigt werden). Um 1/4 Stein wird aber der Ziegelverband sowieso verbandsbedingt verschoben, so daß die Querwand wieder mit der Längswand im regelrechten Verband steht und trotzdem sich genau so zwischen das Baumaßraster setzt, daß auf beiden Seiten die Raumbegrenzungen mit diesem Raster zusammenfallen.«65

Dieser Ausgleich zwischen den Rasterachsen der Rohbau-, Fertig- und Ausbaumaße ist jedoch noch nicht ausreichend, erreicht würde lediglich eine Verschiebung der Rasterachsen. Zum Funktionieren des Systems müssten noch, wie er drei Seiten später schreibt, die Binnenwände »naturgemäß um diesen 1/4 Stein dünner werden.«66 Neufert braucht also zur Durchsetzung eines universellen Systems weitere Steinformate, was eigentlich im Widerspruch zu seiner Forderung nach Vereinfachung und Vereinheitlichung steht. Auf diesen Widerspruch geht er jedoch nicht näher ein. Ebenso wenig Beachtung erfahren die kleinen Systemfehler (3,25 cm),67 die sich im

65 Ebd., S. 372 66 Ebd., S. 375 67 Vgl. ebd., S. 376, Detail 1

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Übergang der verschiedenen Steinformate zwischen den Konstruktionsmaßen und dem Raster ergeben können. Diese kleinen Unstimmigkeiten, die in Kauf genommen werden, zeigen, worauf es eigentlich ankommt.

Abb. 80: Ernst Neufert, Flächenoptimierungen (BOL, 1943)

Wesentlich für eine Systematisierung der Planung ist die Durchgängigkeit eines immer gleichen und verbindlichen Rasters. Ebenso wie für die topografische und städtebauliche Positionierung und die Konstruktion ist das Raster auch Ausgangspunkt für weitergehende Überlegungen zur Normierung und Standardisierung des Ausbaus, der Möblierung und letztlich der Nutzbarkeit und der Benutzung selbst. Sämtliche Möbel sind systemkonform zu entwickeln und zu produzieren. Unabhängig von der persönlichen Wahl und persönlichen Vorlieben ließen sich so Gebäude optimal ausnutzen, »ohne dass Raum verschwendet wird«. Zu beachten ist lediglich der mindest notwendige Abstand zwischen den Objekten und die Bewegungsradien der Nutzer. Das Rastersystem sichert somit die Passfähigkeit des Einzelnen wie die Konsistenz des Ganzen. Vom gleichen Effizienzgedanken sind dann die Wohnbauentwürfe getragen, die Neufert in der Bauordnungslehre vorstellt. Es handelt sich um Typenvorschläge für einen zukünftigen Wiederaufbau des zu Ende des zweiten Weltkrieges bereits zerstörten Deutschlands. Befremdlich sind aus heutiger Sicht die Staffagefiguren, die Alltagsszenen und Rollenklischees

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des Dritten Reichs nachspielen.68 Davon abgesehen sind die Typenentwürfe modern.

Abb. 81: Ernst Neufert, 4-Raumwohnung mit 81,56m2 (BOL, 1943)

Sie sind funktional in dem Sinn, dass die Funktionen des Wohnens präzis auf den Grundriss übertragen sind. Die einzelnen Funktionen sind dabei sauber getrennt. Es gibt die Küche als den Bereich der Produktion, das Wohn-/Esszimmer als den Bereich der Konsumtion und ein Elternschlaf-

68 In den verschiedenen Typenvarianten treten wahlweise kochende oder heimpflegende Ehefrauen bzw. Säuglinge (Zwillinge) wickelnde Mütter und diese beim Puppenspiel nachahmende Töchter auf. Besonders prägnant sind Hakenkreuzfähnchen schwingende und mit Spielzeugflugzeugen Spielzeugschiffe versenkende Söhne. Der Vater wird dagegen vorzugsweise mit Aktentasche von der Arbeit kommend vorgestellt. Damit ist die idealtypische Familie als Adressatin der Wohnung komplett.

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zimmer und Kinderzimmer für die Regeneration. Jede Funktion ist benennbar und erhält einen eigenen Raum. Diese Räume sind wiederum gleichermaßen in ihren Abmessungen und Flächen wie auch in ihrer Lage zueinander optimiert. So gruppieren sich Küche und Sanitäreinheit um einen gemeinsamen Installationskern, was sich in der Gebäudeerrichtung als wirtschaftlich erweist. Ebenso bedient die Raumkonfiguration einen effizienten Betrieb: Küche und Essbereich stehen in direktem Bezug, ohne dabei Verwirrung in den Betriebsabläufen entstehen zu lassen. »Da die Arbeit der Hausfrau so weit wie möglich eingespart werden muß, ist es notwendig, daß der Küchenteil der Wohnküche in Form einer Küchennische unmittelbar an das Wohnzimmer angrenzt. Damit wird der Weg von der Küche zum Eßtisch denkbar kurz, und andererseits kann die Mutter in der Küche durch die Tür oder die Nischenöffnung das spielende Kind im Wohnzimmer im Auge behalten.«69

Da die Individualräume seriell gereiht sind, lässt sich der Wohnungstyp mühelos erweitern oder verkürzen, ohne dass die Organisation des Typs als Ganzes in Frage gestellt werden muss. Dabei erhält jeder Raum das ihm zustehende Quantum an Luft, Licht und Sonne, – allerdings auch nicht mehr. Zu beachten ist, dass es sich hierbei ausnahmslos um Fragen handelt, die bereits im Rahmen von Rationalisierungsbemühungen des Neuen Bauens in den 20er Jahren gestellt wurden. Darüber hinaus erscheinen Neuferts Typenentwürfe, dem Anspruch eines neuen, modernen Selbstverständnisses des Architekten folgend, autorenlos: Nichts gibt sich als subjektive Vorliebe, stilistischer Eigensinn oder persönliche Erfindung zu erkennen. Neufert betont immer wieder die Objektivität und Planmäßigkeit seiner Herangehensweise. Alle Entscheidungen sind wohl kalkuliert, sachlich langweilig und – was entscheidend ist – sie beruhen auf Daten. Der konkreten baulichen Problemlösung geht jeweils die nüchterne Analyse voraus. Vorgenommen wird eine kritische Bestandsaufnahme des Status quo bzw. eine demoskopische Erhebung von Mieterwünschen, wie Wohnen aussehen sollte. Neufert fasst die Ergebnisse dieser Untersuchungen schließlich in der Broschüre »Der Mieter hat das Wort« zusammen. Unabhängig von der Fra-

69 Ernst Neufert: Der Mieter hat das Wort, Berlin 1942, S. 29, zitiert nach: Durth: Deutsche Architekten, S. 186. Die Zitatstelle zeigt Neuferts Argumentation im Bemühen, rationalisierte Wohnungstypen durchzusetzen.

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ge, wie aussagekräftig und methodisch richtig oder falsch die Ergebnisse seiner Recherche wirklich sind, ist Folgendes entscheidend: Neufert erhält Daten: Daten zu Wohnungsgrößen, zu deren Aufteilung, Ausstattung, Zimmerzahl, Funktionsbelegungen, Lage, Geschossigkeit, Ausrichtung, etc. Diese Daten sind dann lediglich auf das architektonische Raster zu übertragen bzw. in dieses einzupassen, was mit einer Maschenweite von 12,5 cm sehr gut funktioniert. Dieses Funktionieren zeigt Neufert auch in der äußerst präzisen Art der Plandarstellung. Er nutzt die Spiegelsymmetrie zweier identischer Wohnungen, um einmal – in der rechten Wohnung – die wesentlichen Kenndaten zu benennen. Graphisch auf die Umrisslinien der Konstruktionsflächen und die Kennzeichnung der fixen Raumausstattungen reduziert, sind Raumbenennungen, Quadratmeterangaben, lichte Raumbreiten wie Raumtiefen und Achsmaße deutlich lesbar. Dass diese Maßangaben alle rasterkonform sind, versteht sich dabei von selbst. Die linke Wohnung dagegen ist frei von Text und Daten, dafür durchgängig möbliert, mit Texturen belegt und bewohnt. Dieses Wohnen ist dabei keinesfalls beliebig: Die Mikrodramen, die die Bewohner nachspielen, belegen vielmehr gleichermaßen die Optimierung der Raumausnutzung wie die optimierte Benutzbarkeit. Die Detailversessenheit, die bis in die Bestückung des Vorratsschranks reicht, spiegelt dabei die Akribie der Bauentwurfslehre wider, in der bereits Brot und Eier vermaßt wurden. Alles hat seinen angemessenen und abgemessenen Platz. Schließlich ist sogar die Fußbodentextur mehr als lediglich ein Beleg für differenzierte Beläge. Die Kreuzschraffuren in Küche, Flur und Sanitärbereich reproduzieren tatsächlich ebenso wie die Längsschraffur in den restlichen Räumen das Basisraster mit einer Rasterweite von 12,5 cm. Erwartungsgemäß stimmen Nutzung, Möblierung und Konstruktion passgenau mit der Gittervorlage überein. Deutlich ist nun, dass das Raster bei Neufert, ohne dass es am Bauwerk explizit und gestaltprägend auftritt, in allen Planungs- und Realisierungsebenen bestimmend ist. Es ist die Unterlage, die Folie, die funktional und architektonisch befüllt wird. Widersprüche sind nicht vorgesehen.

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3.2 Le Corbusier. Das nicht funktionelle Raster des Funktionalismus Da sich Neuferts Entwurfsansatz in seiner instrumentellen Verwendung des Rasters als höchst funktional erweist, kann er als die logische Fortsetzung dessen angesehen werden, was mit den Rationalisierungsversprechungen des Neuen Bauens seinen Anfang genommen hat. Zu fragen ist nun jedoch, in welchem Verhältnis Funktion und Raster innerhalb des Neuen Bauens wirklich stehen. Um dies – zumindest ansatzweise – zu erhellen, soll Neuferts Funktionalismus dem funktionalistisch begründeten Teil der architektonischen Avantgarde gegenübergestellt werden. Hinzuweisen ist jedoch vorab auf die Problematik des angestrebten Vergleichs: Es ist ein Zeitsprung von gut 12 Jahren zu überbrücken. Ist doch Neuferts System normierter und normierender Rasterung erst mit der Publikation Das Oktametersystem (1941) und der Bauordnungslehre (1943) greifbar und weitgehend ausgereift, wohingegen die Experimente des Neuen Bauens mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch 1929 und dem folgenden politischen Umbruch ein abruptes Ende finden. Verglichen wird die Anfangsphase rationellen Bauens, der auch Neufert als junger Protagonist angehörte, mit Neuferts Weiterentwicklung unter ganz anderen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Vorgaben. Dabei ist von Interesse, welche Inhalte und Zielsetzungen aus den 20er Jahren weiterverfolgt werden bzw. welche nicht. Auf diese Art und Weise soll aufgezeigt werden, welche anderen Entwicklungsmöglichkeiten einer um Modernität bemühten Architektur offen gestanden hätten. Die Auswahl der Vergleichsbeispiele ist dabei selektiv und ganz bewusst auf diejenigen fokussiert, die die These unterstützen, dass die Rationalisierungsbegründungen der Avantgarde im Grunde anders gedacht waren, als die strikten Normierungen, Standardisierungen und Vereinfachungen, die sich mit Neufert letztendlich durchsetzen, vermuten lassen. Als Gegenüber zu Neuferts Typenentwürfen soll zunächst Le Corbusiers und Pierre Jeannerets Beitrag zur Werkbundausstellung 1927 in Stuttgart untersucht werden. Er besteht aus zwei Wohnhäusern in der Experimentalsiedlung »Am Weißenhof«, einem Einfamilienhaus und einem Doppelhaus. Diese beiden Häuser repräsentieren die beiden Grundtypen, die Le Corbusier in seiner – wenn man sie als solche bezeichnen kann – funktionalistischen Phase zum Thema rationelles Wohnen entwickelt hat. Das Einfamilienhaus ist eine realisierte Variante der bereits seit 1920 von Le Cor-

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busier entwickelten »Maison Citrohan«, das Doppelhaus eine späte Realisierung der Prinzipien der »Maison Dom-ino« von 1914/15, Le Corbusiers Prototyp eines im repetitiven Gitternetz geordneten Bauens mit den Grundelementen Stütze und Platte. Um Le Corbusiers Herangehensweise möglichst genau mit der Neuferts zu konfrontieren, soll hier vor allem das Doppelhaus betrachtet werden, das im Katalog zur Ausstellungseröffnung als »Transformables Doppelwohnhaus«70 bezeichnet wird.

Abb. 82: Le Corbusier, Transformables Doppelwohnhaus in der Weißenhofsiedlung, Stuttgart (1927)

Konstruktiv besteht es aus Stützen in regelmäßiger Reihung und Platten, die die Geschossebenen bilden. Im Erdgeschoss stehen die Stützen teilweise frei und die raumabschließenden Fassaden sind eingerückt, so dass sich ein überdeckter Eingangsbereich bildet. Auf dieser Ebene befinden sich neben dem Hauseingang Funktionsräume und ein Zimmer für Hausangestell-

70 Alfred Roth: Zwei Wohnhäuser von Le Corbusier und Pierre Jeanneret, Stuttgart 1927, Reprint: Stuttgart 1977. Alfred Roth, der Verfasser der Broschüre, war als Mitarbeiter Le Corbusiers für die Projektentwicklung und -abwicklung zuständig. Er gibt im Text die Planungsabsichten Le Corbusiers wieder.

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te. Auf der Platte des Obergeschosses sind die eigentlichen Wohnräume untergebracht, erschlossen durch ein wohnungsinternes Treppenhaus, über das man auch die die gesamte Dachfläche einnehmende Dachterrasse erreicht. Erstaunlich ist die Konsequenz, mit der sich die Konzeption rationellen Bauens hier bis ins Raumprogramm hinein – oder vielmehr aus diesem heraus – entwickelt: »Die Problemstellung besteht darin, daß ein und derselbe Raum von bestimmter minimaler Fläche die Funktion des Wohnens bei Tag und bei Nacht erfüllt. Unsere Wirtschaftlichkeit, die bestimmend in all unsere Schaffensbereiche hereinragt, erfordert vom heutigen Architekten Auseinandersetzung mit sämtlichen Möglichkeiten zur Lösung des Wohnproblems. Er muß jeder Lebensauffassung gerecht werden: die Lebensauffassungen sind heute sehr verschieden. Alle unsere Lebensfunktionen lassen sich nach den ihnen zugehörigen Bodenflächen unterscheiden. Die Sparsamkeit des Hausbaues liegt in der Sparsamkeit der Fläche. Die Arbeit des modernen Architekten beginnt mit der rationellen Aufteilung minimaler Hausflächen. Im transformablen Haus macht Le Corbusier den Vorschlag, die Aufteilung nach Flächen und Räumen nicht als bleibende festzulegen, sondern als veränderliche. Er verlangt vom Bewohner, daß er selbst, als Träger der Funktionen, die Aufteilung durch bewegliche Wände nach Gebrauch vornimmt. Die Arbeit, die er dadurch leistet am Abend und am Morgen und sonstwie nach Belieben, kommt zum Teil der Bewertung des eingesparten Raumes gleich. Dazu gibt sich die Möglichkeit der freiesten Raumausnutzung durch Anordnungen, die der Bewohner selbst trifft.«71

Le Corbusier zeigt sich in seinem Beitrag zur Weißenhofsiedlung ganz von seiner funktionalistischen Seite, – funktionalistisch hier im Sinne der diese Jahre insbesondere in Deutschland bestimmenden Diskussion um die Möglichkeiten industrieller Fertigung von Architektur. Dieses Thema ist für Le Corbusier nicht neu. Sowohl in seiner publizistischen als auch in seiner baulichen Tätigkeit beanspruchte er bereits zuvor seinen Anspruch, als Wortführer aufzutreten.72 Und auch in seinen Arbeiten für den CIAM, der der Stuttgarter Ausstellung folgen wird, gibt sich Le Corbusier als nüchter-

71 Ebd., S. 30 72 Siehe auch: Winfried Nerdinger: Standard und Typ. Le Corbusier und Deutschland 1920-1927, in: Stanislaus von Moos (Hg.): L’Esprit Nouveau. Le Corbusier und die Industrie 1920-1925, Berlin 1987, S. 44 ff.

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ner Funktionsdienstleister. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn Le Corbusier die architektonische Gestaltung des Stuttgarter Hauses zunächst funktional erklärt. Der kurze Textausschnitt zur tragenden Entwurfsidee hebt die Wirtschaftlichkeit der Konzeption hervor, wobei Wirtschaftlichkeit – »die bestimmend in all unsere Schaffensbereiche hereinragt« – überhaupt als Architektur determinierender Faktor erkannt wird. Neben den Möglichkeiten konstruktiver und bauwirtschaftlicher Erfindungen als Potenzial für Einsparungen zeigt sich das Bestreben um Ökonomie vor allem auch in der Optimierung des Verhältnisses zwischen dem zur Erfüllung einer Funktion nötigen Platzbedarf und der im Bauwerk bereitgestellten Fläche. Ziel dieser Raum- und Flächenoptimierung ist die Minimierung von Raum und Flächen. Das ist nicht selbstverständlich, aber innerhalb der funktionalistischen Diskussion kann damit eine architektonische Qualität beschrieben werden. Darauf aufbauend, besteht Neuferts Beitrag in der exakten Beschreibung des Platzbedarfs verschiedenster Funktionen. Le Corbusier geht darüber noch hinaus, indem er die bereits optimierten Funktionsflächen weiter zeitlich nach »Funktion des Wohnens bei Tag und bei Nacht« differenziert: Die Betten werden nach dem Vorbild des Eisenbahnschlafwagens tagsüber in Einbauschränken verstaut und im Bedarfsfall herausgezogen. Das restliche Mobiliar ist je nach angestrebter Funktion leicht verschiebbar, wodurch eine Doppelbelegung der Wohnflächen möglich ist. Durch das Herausziehen von Schiebewänden lassen sich zudem Individualräume abtrennen bzw. im umgekehrten Vorgang kollektive Räume zusammenschließen. Das bedeutet, dass Le Corbusier durch Mehrfachbelegungen der gleichen Grundflächen nicht nur eine Flächeneinsparung erreicht, sondern durch die Möglichkeit, Funktionsflächen zusammenzuschließen, gleichzeitig auch eine Großzügigkeit entsteht, da für die gewählten Funktionen potenziell das gesamte Raumangebot zur Verfügung steht. Lediglich Bad, WC und Küche sind in ihrer Nutzung, ihrer Position und in ihrem Raumabschluss fixiert. Ein schmaler Gang – vergleichbar wiederum dem in einem Eisenbahnwagen – stellt die Erreichbarkeit der Räume bei individuell-gemeinschaftlichen Nutzungsverschränkungen sicher. Dabei fordert Le Corbusiers Funktionsanalyse die Nutzer in erheblichem Maß. Die tradierten Vorstellungen bürgerlichen Wohnens sind obsolet, – und damit auch eine Raumaneignung im Verständnis eines Interieurs: »All die individuelle Bedürfnisse und Launen verkörpernden ›Truhen, Beistelltische, Spiegelschränke, Kommoden, Frisiertische, Anrichten, Vitrinen, Schreibtische,

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usw.‹, die in Le Corbusiers Augen ein visuelles Durcheinander in die vollgestopften Räume brachten, wurden ausgemerzt und durch einheitliche Containerelemente ersetzt.«73 Die offenen, nicht determinierten Raumzusammenhänge, die möglicherweise zu funktionalen Verwirrungen der NutzerInnen führen, stehen ganz im Gegensatz zur Bestimmtheit von Neuferts funktionalem Ansatz: Seine Grundrisse weisen jeder Funktion, jedem Möbel und jeder Handlung den ihnen zustehenden Ort zu. Gleichermaßen ist die Funktion eines jeden Raumes benennbar und schon aus der Raumbezeichnung ersichtlich. Es gibt Ess- und Wohnzimmer, Eltern- und Kinderschlafzimmer, etc. Die Begrenzungen der Räume sind definiert und verbindliche Festlegungen in Form von Quadratmetervorgaben für bestimmte Räume sind möglich. Dadurch lassen sich Wohnungsstandards in der Anzahl der Räume, in deren funktionaler Bestimmung und in Quadratmeterangaben beschreiben, die sich innerhalb von Neuferts Gitter leicht in räumliche Realisierungen überführen lassen.

Abb. 83: Funktionsbelegung von Räumen bei Ernst Neufert, funktionelle Überlagerung und Überschneidung von Raumbereichen bei Le Corbusier

73 Arthur Rüegg: Autobiographische Interieurs. Die Wohnungen Le Corbusiers, in: Alexander von Vegesack/Stanislaus von Moos/Arthur Rüegg/Mateo Kries (Hg.): Le Corbusier - The Art of Architecture, Weil am Rhein 2007, S. 119. Rüegg bezieht sich hier generell auf Le Corbusiers Wohnvorstellungen der 20er Jahre. Er zitiert aus: Le Corbusier: Almanach, Paris 1926, S. 145. Die Beschreibung trifft aber insbesondere auf das Stuttgarter Haus zu.

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Bei Le Corbusiers Stuttgarter Haus liegen die Dinge komplizierter. Le Corbusiers Typenentwurf entzieht sich einer auf abstrakten, jedoch exakten Kenndaten basierten normierenden Beschreibung. Auch wenn Le Corbusier mit Vorliebe von Funktionen spricht, bleiben diese in ihrer Verortung doch vage. Außer den Bettschränken und den peripher angeordneten fix installierten Räumen erfolgt die Nutzung frei fluktuierend. Auch müssen z. B. die Raumbezeichnungen der offenen Treppenraumerweiterungen als »Frühstücksraum« oder »Bibliothek« nicht als verbindlich angenommen werden. Le Corbusier selbst wählt die Bezeichnung »Kompensationsraum«: »Am Morgen, wenn die Betten noch nicht geordnet sind, kann daselbst das Frühstück aufgetragen werden. Im Verlauf des Tages kann er als Arbeits- oder Empfangsraum dienen. Es ist sehr reizvoll, von da aus, sich auf die Brüstung lehnend, den ankommenden Gast zu begrüßen.«74 Le Corbusier beschreibt hier Situationen möglicher Aneignung von Raumbereichen. Im Gegensatz zu auf Exaktheit fokussierten funktionalistischen Bemühungen mit dem erklärten Ziel der Quantifizierung von Funktionen und deren Erfassung in Daten sowie der Festschreibung in Standards verbleibt Le Corbusiers Funktionsbegriff im Metaphorischen. Er spricht von »Schlafwagen«, dem »Haus als Werkzeug«, respektive als »Wohnmaschine«, oder bemüht das Bild vom Ozeandampfer – für ihn der Inbegriff funktioneller Optimierung –, dem er formell Motive entlehnt, damit er wie an der Reling »lehnend den ankommenden Gast begrüßen« kann. Hier konkretisiert sich Le Corbusiers Vision des neuen Menschen, der das Neue Bauen bewohnen soll: Der Bewohner bleibt Reisender, er ist eine Art moderner Nomade, der gelöst von Tradition, Ortsverbundenheit und allen konventionellen Bindungen die Bedingungen modernen Lebens angenommen hat. Er zieht mit einem Koffer ein, verstaut dessen Inhalt wie in einem Hotel im Einbauschrank über seinem Bett und wird irgendwann weiterziehen, ohne Spuren hinterlassen zu haben. Während seines Aufenthalts bietet ihm das Haus alle Annehmlichkeiten modernen Lebens: Licht, Luft, Sonne, Hygiene und auf der Dachterrasse einen großartigen Panoramablick. Für Le Corbusier stellt dies ein durchaus hoffnungsvolles Bild einer mit der Moderne versöhnten Gesellschaft dar. Darin liegt die eigentliche Bedeutung dieses Modells, das Modell bleibt und bleiben muss. – Das transformable Doppelhaus wurde nie in der von Le Corbusier vorgeschlagenen

74 Roth: Zwei Wohnhäuser, S. 33

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Form bewohnt.75 Es bleibt Manifest, wobei insbesondere das Stuttgarter Haus sich als bauliche Realisierung der von Le Corbusier seit Anfang des Jahrzehnts vorgetragenen Forderungen lesen lässt. Zu schaffen sind: • • •

»Die geistige Voraussetzung für die Herstellung von Häusern im Serienbau. Die geistige Voraussetzung für das Bewohnen von Serienhäusern. Die geistige Voraussetzung für den Entwurf von Serienhäusern.«76

Le Corbusier fordert gleichermaßen Produzenten, Konsumenten und Architekten. Dies erscheint auch – zumindest vom rationalistischen Standpunkt aus gesehen – vernünftig, wenn er fortfährt: »Wenn man aus seinem Herzen und Geist die starr gewordenen Vorstellungen vom Haus reißt und die Frage von einem kritischen und sachlichen Standpunkt aus ins Auge faßt, kommt man zum Haus als Werkzeug, zum Typenhaus, das erschwinglich ist und unvergleichlich gesünder (auch in moralischer Hinsicht) als das alte Haus; außerdem schön wie die Arbeits-Werkzeuge, die unser Dasein begleiten.«77

Interessant ist nun jedoch, wie sich dieses Statement rigider Funktionsästhetik in seiner räumlichen und materiellen Übertragung vom Text zum Bauwerk nahezu in sein Gegenteil wandelt. Der Beitrag, den das transformable Stuttgarter Doppelhaus von Le Corbusier zur Entwicklung des Neuen Bauens leistet, ist im Grunde weniger seine Vernünftigkeit und Rationalität als vielmehr das nicht ausgeschöpfte Potenzial seiner Unvernünftigkeit. Unterzieht man nämlich Le Corbusiers Haus wirklich einer »kritischen« Prüfung von einem »sachlichen Standpunkt« aus, zeigt sich, dass sich der Anspruch auf Wirtschaftlichkeit, der in Le Corbusiers Projektbeschreibung eine so zentrale Stellung einnimmt, nicht bestätigt. Betrachtet werden im Folgenden quantitativ fassbare Kenndaten, die in reinen Zah-

75 Vgl. zur Nutzungsgeschichte: Georg Adlbert (Hg.): Le Corbusier/Pierre Jeanneret. Doppelhaus in der Weißenhofsiedlung Stuttgart. Die Geschichte einer Instandsetzung, Stuttgart/Zürich 2006 76 Le Corbusier: 1922. Ausblick auf eine Architektur, Braunschweig/Wiesbaden 4

1982 (Bauwelt Fundamente 2) [zuerst: Vers une architecture, 1922], S. 166

77 Ebd., S. 173

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lenwerten das Verhältnis von Aufwand und Nutzen des Gebäudes beschreiben. Um dann tatsächlich zu einer Bewertung kommen zu können, werden sie in Relation zu entsprechenden Vergleichsdaten gesetzt: Konkret soll Le Corbusiers transformables Wohnungsprojekt mit Neuferts Typenentwürfen abgeglichen werden. In beiden Fällen wird vorbildliches Wohnen vorgestellt, für jeweils verschiedene politische und soziologische Systeme, jedoch unter der gemeinsamen Prämisse einer funktional und rationell argumentierten Planung, Herstellung und Nutzung. Verglichen werden sollen nun zuerst Flächenaufwand und Nutzfläche unter Beachtung der speziellen Nutzerbedürfnisse. Die Kenngrößen, um die es geht, sind bei Neufert leicht zu ermitteln. In der Typendarstellung sind sie in der rechten Spiegelwohnung übersichtlich dargestellt. Wesentliche Inhalte der Wohnungskonzeption lassen sich tabellarisch festhalten:

Raumbezeichnung/

Neufert

Le Corbusier

4-Raumwohnung

DH mit 3 Schlafkabinen

Fläche *

Fläche **

6,43 m2

7,2 m2

2

1,1 m2

2

4,5 m2

2

7,15 m

7,2 m2

Wohnen

17,37 m2

41,8 m2

Schlafen

2

Nutzung Vorraum / Gang WC

1,06 m

Bad

4,12 m

Küche - Eltern

16,48 m

- Kinder

10,90 m2

- Kinder

10,55 m2

55,00 m2

9,4 m2

Frühstückszimmer

12,6 m2

Bibliothek

3,6 m2

Treppe ™ Summe *

2

74 m

2

71 m

Neufert gibt im Plan Rohbaumaße an, Putzabzug bleibt unberücksichtigt

** Die Maße beziehen sich auf Planrekonstruktionen, da die ursprüngliche Raumorganisation und Ausstattung zerstört ist. Wenn Rohbau und Ausbau nicht identisch sind, werden Rohbaumaße angegeben.

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Grundfläche *

94 m2

97 m2

Fassade **

20 lm

38 lm

*

Bezeichnet wird die gesamte Fläche, die die Wohnungen einnehmen. Flächenbegrenzung ist die Fassadenaußenkante, die Wohnungstrennwand ist jeweils anteilig zur Hälfte eingerechnet. Aus Gründen der Vergleichbarkeit ist bei Neufert das halbe Treppenhaus mitgerechnet, die Loggia nicht berücksichtigt. Bei Le Corbusier wird nur das Wohngeschoss betrachtet.

** Fassadenlängen werden jeweils ohne die angebauten bzw. anbaubaren Stirnseiten angegeben.

Bei aller Verschiedenheit der Wohnkonzeptionen finden sich doch genügend Anhaltspunkte, die erlauben, von analogen Haushaltsgrößen zu sprechen, womit eine Gegenüberstellung überhaupt erst gerechtfertigt wird. Um zu einigermaßen seriösen Ergebnissen zu kommen, werden dabei nur diejenigen Datensätze gewertet, die im Vergleichsobjekt eine direkte Entsprechung finden. Im Falle Le Corbusiers sind nur die Kenngrößen des Wohngeschosses erfasst. Die Funktionsräume des Erdgeschosses und die Dachterrasse entfallen dagegen, wie auch die Loggia und mögliche Kellerräume bei Neufert in der Gegenüberstellung nicht mitgezählt werden. Die Anzahl der Individualkojen bei Le Corbusier (eine Doppel- und zwei Individualkojen) entspricht der Zahl der Individualräume (ein Elternschlafzimmer und zwei Kinderzimmer) bei Neufert. Gleichfalls lässt die Größe und Art der Ausstattung von Küche, Bad und WC auf ähnliche Standards schließen. Unterschiedlich ist jedoch die Dichte der Belegung. Wenn man von der Anzahl der Betten auf die mögliche Bewohnerzahl schließt, kann man bei Le Corbusier von vier Bewohnern ausgehen. Dem steht bei Neufert eine Maximalbelegung mit einem Elternpaar und vier Kindern gegenüber. Damit ist die Leistungsfähigkeit der Typen angesprochen. In beiden Fällen wird eine Optimierung des Verhältnisses von Flächenaufwand und Nutzen behauptet. Beim Vergleich der Wohnungsgrößen fällt nun auf, dass beide annähernd gleich groß sind, was insofern bereits erstaunlich ist, als man bei Le Corbusiers funktionalen Doppelbelegungen Flächeneinsparungen erwartet hätte. Würde man die eigentlich zur Wohnfläche zählende interne Treppe ebenso wie die über dem Frühstücksraum auf der Terrassengeschossebene befindliche Bibliothek noch hinzurechnen, wäre die Wohnung von Le Corbusier sogar deutlich größer. Le Corbusiers architektoni-

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sches wie soziales Experiment lässt sich folglich nicht, wie von ihm behauptet, flächenökonomisch argumentieren. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt man beim Vergleich der Grundflächen, die beide Wohnungen einnehmen. Le Corbusier verbraucht hier sogar etwas mehr Fläche als Neufert, obwohl er mit einem Skelettbau arbeitet, der es erlaubt, in tragende und nichttragende Bauteile zu unterscheiden, und er so mit sehr schlanken Stützen und sehr viel dünneren Wandstärken bei Fassaden und Trennwänden auskommt. Diese Flächengewinne, die Le Corbusier in der Konstruktion macht, verliert er jedoch an zwei anderen Punkten: zum einen in den Flächen, die die Einbauschränke einnehmen, die zum Verstauen der Betten in der Tag-Nutzung benötigt werden, und zum anderen in der flächenökonomisch ungünstigen T-förmigen Grundrissfiguration, die durch den ausgestellten Treppenhausflügel entsteht.

Abb. 84: Diagramme der Wohnungsorganisation bei Le Corbusier und bei Ernst Neufert

Noch gravierender als beim Grundflächenvergleich wirkt sich diese T-Form beim Vergleich der Fassadenlängen aus. Le Corbusiers Lösung kann zwar die Funktionen des Gebäudes deutlich strukturieren, wie ein Blick auf das folgende Diagramm zeigt: Die Wohn-/Schlafeinheiten sind linear gereiht und parallel von einem Gang begleitet. An zentraler Stelle setzt punktuell die Vertikalverteilung der Treppe und die Raumreserve des Frühstücksraums an. Alles ist in übersichtlicher Weise angeordnet. In Positionierung, Abfolge und Zusammenhang sind die Raumeinheiten geometrisch klar. Jedoch benötigt Le Corbusier dazu schon fast doppelt so viel Fassadenfläche bei gleicher umschlossener Nutzfläche wie Neufert bei seinem wirklich sparsamen Referenztyp.

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Festzustellen ist, dass sich bei der isolierten Betrachtung der bloßen numerischen Kennwerte gerade die beiden Erfindungen Le Corbusiers als ineffizient und unökonomisch erweisen, die sein funktionales Verständnis begründen sollen, die funktionelle Doppelbelegung und der strukturell klare Aufbau. Ganz im Gegensatz zu Neuferts Typen, die wirklich rationell konstruiert sind, sieht Le Corbusiers Gebäude lediglich so aus. Tatsächlich handelt es sich bei Le Corbusiers Vorschlag viel eher um ein Bild, allerdings ein in seiner formalen Präzision sehr konkretes, das vorstellt, wie Architektur unter den Bedingungen der Moderne aussehen kann bzw. aussehen soll. Neufert kann dagegen auf diese Demonstration verzichten. Beinhaltet doch seine Methode allein bereits alle Forderungen, die in der Modernisierungsdebatte der Avantgarde vorgebracht wurden: Normierung, Serialität und das universell angelegte Raster der Bauordnungslehre regeln vom Konzept bis in die Realisierung und darüber hinaus bis in die Nutzung jedes Detail, womit Art, Form, Lage und Position der Teile bestimmt sind. Frei ist Neufert dagegen – im Unterschied zu Le Corbusier – gerade in der Wahl und der Art der stilistischen Ausgestaltung seiner Architektur. Der gleiche funktional und ökonomisch optimierte Typ kann je nach Anforderung der Zeit im Dekor variiert werden: So tragen 1943 die Typenentwürfe neoklassizistische Fassaden, im Wiederaufbau nach 1945 dagegen funktioniert die gleiche Struktur ebenso gut bei modernistisch purifizierten Oberflächen. Die Architektur, die Neufert propagiert, erfüllt Funktionen auf direktem Weg, ganz in Übereinstimmung mit den Produktionsbedingungen, die die Moderne vorgibt. Bei dieser Einfügung in moderne Produktionszyklen ist weder an eine ästhetische Überhöhung der Funktion und des rationalen Produktionsprozesses gedacht noch daran, dem gegenüber eine kritische Position einzunehmen. Man könnte behaupten, bei Le Corbusiers Architektur verhalte es sich gerade umgekehrt, und das Stuttgarter Haus als Gegenposition interpretieren. Dass dieses Haus im Vergleich weniger effizient, gar nicht so rational und in seinem praktischen Gebrauch problematisch ist, wurde gezeigt. Es scheint Le Corbusier jedoch weniger um die Erfüllung dieser Forderungen als vielmehr um deren Darstellung zu gehen. Aber gerade hier, in der Repräsentation, ist seine Architektur – unter dem Aspekt des Nichtfunktionierens betrachtet – wesentlich unflexibel. Sein Haus soll eine Maschine zum Wohnen vorstellen, womit eine formale Festlegung getroffen ist. Die Beschwörung der Analogie Haus-Maschine zieht sich durch die programmati-

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schen Schriften78 seiner funktionalistischen Phase ebenso, wie sie hier ganz konkret herangezogen wird, um das Programm und die Lösung des Stuttgarter Hauses zu beschreiben. Die Maschine ist das Bild, das für einen Entwurfsprozess steht, der die konventionelle Überlieferung, wie Häuser auszusehen haben, hinter sich lässt und das Problem des Wohnens neu stellt, – neu im Sinne eines vorurteilslosen, sachlichen, anonymen, den Autor und dessen Befindlichkeiten ausblendenden, nur wissenschaftlich verifizierte Tatsachen zulassenden, logischen, folgerichtigen Gestaltungsprozesses. Mit anderen Worten, im Maschinenbegriff verdichten sich sowohl das gesamte Instrumentarium, das die Moderne bereitstellt, als auch die Maßgaben, die ein Entwerfen unter den Bedingungen der Moderne ausmachen. Allerdings stimmen Bild und Wirklichkeit der architektonischen Projekte, wie wir gesehen haben, nicht überein. Le Corbusier entwirft Häuser, die die Maschinenmetapher bemühen, die Absicht, ein affirmatives Verständnis der Moderne im Bild der Maschine festzumachen, ist lesbar. Jedoch funktionieren diese Häuser nicht reibungslos wie Maschinen. Die Inszenierung einer Wohneinheit nach dem Funktionsschema eines Eisenbahnwaggons erhebt den Anspruch einer genauen Analyse der Anforderungen, die sich unter dem Begriff des Wohnens subsumieren. Tätigkeiten wie Schlafen, Essen, Kochen, Arbeiten, Regenerieren, Kommunizieren, Körperpflegen, etc. werden isoliert, im Einzelnen in ihrem räumlichen Bedarf optimiert und neu zusammengesetzt. Le Corbusier behauptet, damit eine den Anforderungen des modernen Lebens angemessene Lösung gefunden zu haben. Die Aneignung durch mögliche Bewohner bleibt dabei jedoch schwierig. Aus dem Widerspruch zwischen dem evozierten Bild und der tatsächlichen Leistungsfähigkeit kann man nun – nimmt man die Maschinenbehauptungen ernst – folgern, Le Corbusier baue schlecht funktionierende Maschinen, d. h. schlechte Maschinen. Man könnte in diesen Widersprüchlichkeiten jedoch auch Ansätze zur Formulierung einer kritischen Position sehen. Die Forderungen, die die Moderne an das menschliche Individuum stellt, sind ja tatsächlich unzumutbar und die Unvereinbarkeiten, denen es ausgesetzt ist, gerade nicht auflösbar. Die Möglichkeiten seines Handelns sind begrenzt, Fremdbestimmtheit und das Erkennen seines letztendlichen Scheiterns der

78 Exemplarisch dazu die Ausführungen in: Le Corbusier: Ausblick, S. 75 ff. (»Die Ozeandampfer«), S. 87 ff. (»Die Flugzeuge«), S. 103 ff. (»Die Autos«)

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Abb. 85: Le Corbusier, System Maison Dom-ino (1914/15)

große Skandal. Le Corbusiers Maschinenästhetik und Rationalitätspathos zeigen das deutlich. Gleichzeitig lässt der ambigue Charakter der Maschinen, der in seinem Funktionsanspruch das Individuelle aufzuheben bestrebt ist, in seinem Scheitern doch das Individuum zu seinem Recht kommen. Das ist beruhigend. Insofern sind der funktional-disfunktionale Grundriss und die Schlafwagenmaschinerie sehr schön. Unter dem Aspekt des Zeigenwollens und Nichtfunktionierens könnte man weiter auch das strukturelle Gerüst untersuchen, das dem Stuttgarter Haus zugrunde liegt. Le Corbusier variiert das System »Maison Dom-ino« von 1914, das ursprünglich aus der Notwendigkeit heraus entwickelt wurde, nach den Zerstörungen des ersten Weltkriegs schnell leistbaren Wohnraum zu schaffen. Er schreibt dazu: »On a donc conçu un système de structure – ossature – complètement indépendant des fonctions du plan de la maison.«79 Der Ansatz ist elementar. Le Corbusier löst das Problem der Konstruktion eines Gebäudes auf grundsätzliche Weise. Er unterscheidet Teile der vertikalen Lastabtragung und Teile der horizontalen. Dabei handelt es sich im ersten Fall um Stützen, im zweiten um Platten. Bei deren Zusammenwirken spricht er von einem Skelett. Gänzlich unabhängig davon

79 »Wir haben also ein Konstruktionssystem entworfen – ein Skelett – völlig unabhängig von den Funktionen im Grundriss des Hauses.« Le Corbusier: Œuvre complète, Band 1, Basel/Boston/Berlin, S. 23

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Abb. 86: Horizontalschnitt, Vertikalschnitt und statisches System

sind die Gebäudehülle und die Raumaufteilung durch Binnenwände, die sich frei vor, auf oder zwischen den Platten anordnen lassen. Betrachtet wird zunächst das strukturelle Gebilde des Skeletts. Le Corbusier selbst stellt es als Perspektive dar: Der Betrachter steht außerhalb auf Geländeniveau und blickt über Eck auf das Gebäude, während die Sonne links steht und klar umrissene Schatten wirft. Man sieht eine angehobene Bodenplatte, zwei weitere Geschossplatten, sechs Stützen mit zugehörigen Fundamentblöcken und eine zweiläufige Treppe mit Wendepodesten. Dieses Diagramm kann als Gründungsinkunabel einer dann wirklich modernen Architektur gelesen werden. Ganz ausdrücklich tut dies Peter Eisenman.80 Betrachtet man zunächst jedoch neben der ungleich populäreren Perspektive die eher technisch gezeichneten Horizontal- und Vertikalschnitte, die Le Corbusier der Projektbeschreibung beilegt, könnte man das System Dom-ino – zumindest vorübergehend – schlicht als statisches System lesen, das – wiederum im technischen Sinn – tatsächlich optimiert ist. Ein Blick auf den Horizontalschnitt durch die Deckenplatte zeigt die differenzierte Behandlung der Tragstruktur. Es lässt sich ein System orthogonal zueinander stehender stabförmiger Tragelemente erkennen. Im Zusammenspiel mit den vertikalen Stützen kann man tatsächlich von einem Skelettbau sprechen. Die Positionierung, Ausrichtung und Verbindung der horizontalen

80 Peter Eisenman: Aspekte der Moderne. Die Maison Dom-ino und das selbstreferentielle Zeichen (1979), in: Ders.: Aura und Exzeß, S. 43 ff.

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wie vertikalen Teile geschieht dann auch so, wie man es im Skelettbau erwartet: Die vertikale Lastabtragung erfolgt punktuell in einzelnen Stützen, wobei die Anordnung der Stützen regelmäßig und repetitiv bzw. ihr Abstand zueinander gleich ist. Eine Ausnahme ist im Feld der Treppen festzustellen, wo sich die Achsbreite halbiert. Die horizontale Lastabtragung erfolgt in hierarchischen Schritten: Zunächst lassen sich im Geflecht der längs und quer gespannten Träger Hauptträger (I) isolieren. Sie sind deckengleich in Längsrichtung von Stütze zu Stütze gespannt und tragen die Last der in Viertelteilung dazwischen in Querrichtung liegenden Sekundärträger (II) zu den Stützen ab. Der Zwischenraum zwischen den Sekundärträgern wird mit wiederum längs gespannten Kassettenelementen (III) überbrückt. Effizient ist dieses System insofern, als es in der tertiären Ebene, in der die Abstände zwischen den Querträgern überbrückt werden, eine modulare Teilung in gleiche Kassettenelemente zulässt. Die dabei geringe Spannweite erlaubt ein Arbeiten mit handlichen Teilen. Gewicht und Materialaufwand sind minimiert. Die quer gespannten Sekundärträger, die die Deckenlast über die gesamte Deckenbreite abtragen und die Mehrzahl der Skelettteile ausmachen, sind statisch und folglich auch in ihrem Materialaufwand optimiert. Die beidseitigen Auskragungen entlasten das Feld, wobei das maximale Biegemoment (M), das für die Dimensionierung maßgeblich ist, kleiner ist als bei einem bloßen Einfeldträger. Das Verhältnis von Feldbreite und Länge der Auskragungen ist wiederum so gewählt, dass die Momentspitzen über den Auflagern und in der Feldmitte annähernd gleich sind, was den statisch günstigsten Fall darstellt. Die Hauptträger des Primärtragwerks, die von Stütze zu Stütze gespannt sind, wiederholen in ihrer Spannweite die Feldspannweiten der Querträger. Es ergibt sich ein Quadratraster in den Stützenstellungen. Das System ist anpassungsfähig. Ohne strukturelle Änderungen ist ein beliebiges Erweitern um weitere Quadratfelder ebenso möglich wie Feldverkürzungen als Reaktion auf Besonderheiten, wie z. B. Treppen. Generell kann man sagen, dass alle Teile in ihrer Stellung, ihrer Spannweite und ihrer statischen Beanspruchung ebenso wie Material- und Arbeitsaufwand aufeinander abgestimmt sind. Betrachtet man mehrere Maisons Dom-ino in ihrem strukturellen Zusammenspiel – wie sie ja als serielles Produkt tatsächlich gedacht sind – zeigt sich neben der bautechnischen Effizienz des Einzelobjekts auch dessen Brauchbarkeit als Bausystem im städtebaulichen Maßstab.

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Die Struktur erweist sich als überaus flexibel. Sowohl die Einzelobjekte als auch deren Verknüpfungen zu städtebaulichen Konfigurationen sind in ihrer Größe veränderbar. Wie zu erwarten sind Variationen in der Längsrichtung leicht zu bewerkstelligen. Durch die Veränderung der Achsenanzahl lassen sich große und kleine Wohneinheiten erzeugen bzw. beliebig viele Einheiten addieren. Ebenso ist die Gitterstruktur auch in Querrichtung wirksam. Längs und quer gelagerte Einheiten lassen sich L-förmig bzw. T-förmig zusammenschließen. Diese Kombinationsvorgabe erklärt dann auch den zunächst unverständlichen Versprung der Deckenplatten im Bereich der Treppen. Wir haben es folglich mit einem System zu tun, das es erlaubt, nicht nur linear, sondern auch flächig differenziert auf veränderliche Nutzungsprogramme zu reagieren, und das zulässt, ganz unterschiedliche Situationen zu erzeugen.

Abb. 87: Le Corbusier, Achsraster, Addition von Einheiten und städtebauliche Konfiguration, System Maison Dom-ino (1914/15)

Über das Aussehen der Häuser an sich sind dabei noch keine Aussagen getroffen. Da die Wände, speziell die Außenwände, von ihrer Aufgabe, die Decken zu tragen, entbunden sind, ist die Gestaltung der Fassaden frei. Frei ist auch die Aufteilung des Grundrisses sowie die Entscheidung über Raumabschlüsse, Übergänge und Öffnungen. Das System Maison Dom-ino trennt ganz deutlich Konstruktion, zu bedienendes Raumprogramm und formelles Erscheinen. Dabei tritt in den Beispielen, die Le Corbusier zum Ausbau seiner Struktur vorstellt, das Traggerippe gänzlich zurück. Es ist weder in den Fassaden zu erkennen, noch treten im Grundriss die Stützen

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als strukturierende Teile auf. Sie verschwinden ganz unspektakulär in den Wänden. Dieses Nichtdarstellen erscheint auch folgerichtig. Es ist ausreichend, wenn Struktur und Raster funktionieren. Gerade in dem Moment, in dem sie visuell verschwinden, kann sich die freie Verfügbarkeit über die von ihnen geschaffenen Flächen und Räume in der Nutzung und in deren formeller Ausgestaltung entfalten.

Abb. 88: Le Corbusier, Mustergrundrisse, Maison Dom-ino (1914/15)

Zurück zum Doppelhaus in Stuttgart, dessen Struktur ebenfalls aus einem System von Platten und Stützen besteht: »In Längsrichtung sind die einzelnen Pfosten durch in der Decke liegende Träger verbunden, in Querrichtung bildet die 24 cm starke Eisenbetonstegdecke die notwendige Versteifung. Die Anordnung derselben ist derart, daß jeweils ein Steg auf die Achse des Pfostens läuft.«81 Die Betonstegdecke kragt über den Längsträger hinaus aus und die Stützen folgen in ihrer Anordnung einem regelmäßigen Gitter, was bedeutet, dass die wesentlichen Merkmale, die das Skelett des Maison Dom-ino ausmachen, auch hier vertreten sind. Man kann somit durchaus auch beim Stuttgarter Doppelhaus prinzipiell vom gleichen System sprechen. Interessant sind dann jedoch die Unterschiede, sowohl im System als auch in dessen formaler Behandlung. Auf die ungünstige Flächenökonomie der Plattenzuschnitte des Stuttgarter Hauses wurde bereits eingegangen. Auch das statische System ist im

81 Roth: Zwei Wohnhäuser, S. 18

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Vergleich zum Vorbild weniger effizient. Es werden mehr Stützen benötigt und auch die die Decken entlastenden beidseitigen Auskragungen sind auf eine einseitige reduziert.

Abb. 89: Le Corbusier, Tragstruktur, Doppelwohnhaus, Stuttgart (1927)

Vor allem wird jedoch die strikte Gewerketrennung, die das System Domino als Skelettbau besonders auszeichnet, aufgegeben. Es ist nicht alleine der freie Grundriss, der in der Trennung von tragenden und raumbildenden Bauteilen behauptet wird, wichtiger ist vielleicht noch die Möglichkeit, Konstruktion und Ausbau gesondert ausführen zu können. Der Produktionsprozess eines Hauses lässt sich im System Dom-ino, ganz im fordistischen Sinn, in örtlich und zeitlich gänzlich voneinander unabhängige Arbeitsschritte zerlegen, was als Voraussetzung einer rationalisierten und industriellen Fertigung angesehen wurde. Beim Stuttgarter Haus verhält es sich nun aber anders: Die Stützen im Bereich der Rück- und Seitenwände werden gemeinsam mit den raumabschließenden Wänden hergestellt. Es handelt sich dabei um Betonpfosten, die die Hohlkammern der Wandsteine als verlorene Schalung nutzen. Mit dieser Veränderung, die eigentlich als bautechnische Innovation gedacht war, geht jedoch die Idee eines unabhängig tragenden Skeletts verloren. Insbesondere die Stützen stellen sich hier in Frage, da die raumabschließende Mauer alleine die Decke ebenso gut,

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nur billiger tragen würde. Trotzdem wird das System mit Stützen und Platten beibehalten und – das ist der wesentliche Unterschied zur ursprünglichen Verwendung im System Dom-ino – auch gezeigt. Die vordere Stützenreihe wird durch die Zurücksetzung des Erdgeschosses sichtbar. Sie ist im Wohn-/Schlafraum freigestellt und trägt im Terrassengeschoss offen das Flugdach. Auch die Pfeiler, die eigentlich in die Wände gegossen sind, geben sich als Teil einer Stützenstruktur zu erkennen. Im Schnitt des Lichtbands durch die Rückwand im OG geben sie in einem kurzen Abschnitt über ihre Existenz und Lage Auskunft. Es gibt ein Stützenraster und es ist sichtbar. Dabei spielt es in der Wahrnehmung der Stützenstellungen als Rasterstruktur keine Rolle, dass die Anordnung der Stützen in Wirklichkeit leicht unregelmäßig ist. Alfred Roth behauptet zwar in seiner Baubeschreibung, das System sei regelmäßig und auf die Modularität genormter Bauteile abgestimmt. Er schreibt: »Die Pfostenabstände sind von vorneherein gegeben. Sie richten sich nach der Verwendung des Schiebefensterelementes. Dieses ist auf 2,5 m in der Länge und 1,1 m in der Höhe normiert.«82 Demnach ergibt sich in seiner Baubeschreibung eine Gebäudelänge von vier bzw. fünf Aneinanderreihungen im Fensterband der Frontfassade sowie die Tiefe des Treppenflügels mit zwei Fenstermodulen. In den beigelegten Plänen ist der lichte Abstand zwischen den Stützen ebenfalls mit 2,5 m bzw. 5,0 m vermaßt. Die tatsächlich gezeichneten Achsabstände differieren jedoch untereinander. So sind die Randfelder der vorderen Stützenstellungen geringfügig breiter als die Mittelfelder und die Achsweiten der rückseitigen Pfeilerstellung sind davon wiederum verschieden. Bei diesen Abweichungen kann es sich nun nicht um Zeichen- oder Ausführungsungenauigkeiten handeln, da die beschriebenen Unterschiede sich auch in den Plänen zur Genehmigungs- und Ausführungsplanung mit den entsprechenden Vermaßungen finden.83 Ein Grund für diese offensichtlich ganz bewussten Systemabweichungen könnte nun in der systemischen Unschärfe des Projekts selbst liegen. Es ist nie eindeutig geklärt, ob die maßgebenden seriellen Teile wie Stützen oder Fensterelemente axial, d. h. von Objektmitte zu Objektmitte, oder über ein Bandraster, das Objektbreite

82 Ebd., S. 10 83 Vgl. Baugesuch Le Corbusiers (Umzeichnung von Richard Dockner, Mai 1927), Ausführungsplan 1926 und Ausführungsplan 1927, in: Weißenhofmuseum im Haus Le Corbusiers, Stuttgart/Zürich 2008, S. 48, S. 111 und S. 83

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und lichte Weite zwischen den Objekten berücksichtigt, aufeinander bezogen sind. Dabei können die Maßabweichungen zwischen den Systemachsen genutzt werden, um diesen unausgesprochenen Konflikt zwischen Bandund Achsraster auszugleichen. Die Effizienz des Gitters als einfaches Entwurfsinstrument, wie es in den gezeigten Beispielen von Durand oder Neufert propagiert wurde, kann sich so bei Le Corbusier nicht entfalten. Es ist nicht möglich, seriellen, immer gleichen Teilen mit Hilfe eines einfachen Koordinatensystems ökonomisch und eindeutig ihre Position im Bauwerk zuzuweisen. Vielmehr ist hier immer noch notwendig, jeweils Element und Achslage zurechtzuschieben. Trotzdem beharrt Le Corbusier auf der Verwendung eines Rastersystems. Er tut dies sogar umso deutlicher, je weniger wirksam es sich als Planungsmittel erweist. Folglich findet eine Verschiebung statt, von einer Rasterstruktur als Planungsmethode zu einer Rasterstruktur als Darstellung dieser Planungsmethode: Die Stützen stehen nicht mehr aufgrund der Ordnung eines Rasters an festgelegten Stellen, sondern dienen vielmehr der Visualisierung der Ordnung, – auch und gerade wenn diese Ordnung gar nicht mehr wirklich vorhanden ist. Das geht so weit, dass selbst die Grundrissorganisation in weit engerer Abhängigkeit zum Raster steht, als man nach anders lautenden Behauptungen erwarten sollte. Le Corbusier schreibt explizit in »Fünf Punkte zu einer neuen Architektur«, die exklusiv zur Eröffnung der Stuttgarter Häuser erstmals auf Deutsch erscheinen, unter Punkt drei: »Die freie Grundrißgestaltung: Das Pfostensystem trägt die Zwischendecken und geht durch bis unter das Dach. Die Zwischenwände werden nach Bedürfnis beliebig hineingestellt, wobei keine Etage irgendwie an die andere gebunden ist. Es existieren keine Tragwände mehr, sondern Membranen von beliebiger Stärke. Folge davon ist absolute Freiheit in der Grundrißgestaltung, das heißt freie Verfügung über die vorhandenen Mittel, was den Ausgleich mit der etwas kostspieligen Betonkonstruktion leicht schafft.«84

Am ausgeführten Musterhaus ist die propagierte absolute Freiheit der Grundrissgestaltung jedoch so nicht zu beobachten. Gerade die Erfindung der Raumteilung durch Schiebewände, die in besonderer Weise das Haus

84 Le Corbusier und Pierre Jeanneret: Fünf Punkte zu einer neuen Architektur, in: Roth: Zwei Wohnhäuser, S. 7

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erst zu einem transformablen Haus macht, ist auf das Engste mit der Tragkonstruktion verbunden. Laufen doch die Schiebewände exakt in den Achsen des Stützenrasters, durchdringen sogar die Stützen. Um nun die Schiebewände durch die Stützen hindurchführen zu können, sind die Pfeiler der vorderen Stützenreihe geteilt. Sie sind nicht standardgemäß aus Beton gegossen, sondern bestehen aus je zwei paarweise zueinander gestellten C-Profilen aus Stahl. Man sieht, der Aufwand, der durch die Achsausrichtung entsteht, ist nicht unerheblich. Rein konstruktiv wäre eine Verbindung des Ausbauelements Schiebewand mit dem Konstruktionselement Stütze nicht notwendig. Eine Positionstrennung, ein Aneinandervorbeiführen der beiden wäre einfacher und in der Ausführung wie der Materialwahl auch billiger gewesen. Die Situation erscheint paradox. Le Corbusier führt die beiden Erfindungen, das serielle Stützraster und die variabel verschiebbaren Wände, die beide auf ihre Art Flexibilität zuwege bringen und die eigentlich nach Le Corbusiers eigener Theorie nur bzw. gerade in ihrer Unabhängigkeit voneinander funktionieren können, in einem Punkt zusammen. Das ergibt zunächst keinen Sinn: Bautechnisch nicht, da die Konstruktion aufwendig ist und die fertigungstechnischen Gewinne einer Gewerketrennung so aufgegeben werden, was beides dem erklärten Ziel einer rationellen und industrialisierten Produktion entgegensteht. Ebenso ist ein Zur-DeckungBringen von Konstruktions- und Ausbauelementen unter dem Aspekt funktioneller und raumorganisatorischer Freiheit kontraproduktiv: Die Stützreihung wird dadurch zur Raumteilung in Schotten. Raumweiten und Nischen binden sich an die Stützweiten. Rhythmus, Ausdehnung und Abfolge der Räume wären dann bereits im Achsraster festgelegt. Hinsichtlich eines offenen Raumkonzepts müsste man hierbei von einer schlechten Lösung sprechen. Dennoch wird gerade im Detail der durch die Stütze hindurch geführten Schiebewand das Konzept dieser funktional argumentierten Architektur erst verständlich. Bewertet man nämlich Raster und flexible Wände nicht mehr allein nach ihrem konkreten Nutzen, sondern betrachtet beide vielmehr als Zeichen für Nützlichkeit, wirkt deren Verschränkung nicht mehr abträglich, sondern führt zu einer Klärung ihrer jeweiligen Aussagen. Die Schiebewand verweist gerade in ihrer Abhängigkeit von der Stützenstellung – indem sie auf die Achse zu und durch sie hindurch fährt, was die komplizierte Ausführung der Stütze als geteilte Stütze notwendig macht – auf die konzeptuelle Wichtigkeit des Rasters. Erst jetzt, indem es die Position eines anderen Elements bestimmt, tritt das Raster als Ordnungssystem

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im Raum in Erscheinung. Umgekehrt dient die Stütze der Schiebewand als Bezugspunkt. Aus der Möglichkeit des Schiebens wird erst durch diese Relation ein Wegschieben. Der Akt des Wegschiebens führt jeweils ganz anschaulich und greifbar die räumliche Flexibilität des Hauses vor: Gerade in der Benutzung aktualisiert sich das Konzept des freien Grundrisses.

Abb. 90: Le Corbusier, Schiebewand, Achse und geteilte Stütze, Doppelwohnhaus, Stuttgart (1927)

So gesehen, ist es nicht verwunderlich, wenn Le Corbusier die aktive Rolle der Nutzer betont, indem er fordert, »daß er [der Bewohner bzw. die Bewohnerin] selbst, als Träger der Funktionen, die Aufteilung durch bewegliche Wände nach Gebrauch vornimmt.«85 Dieser bereits zu Beginn des Kapitels zitierte Satz lässt sich jetzt nicht mehr nur als Aufforderung verstehen, ganz pragmatisch, entsprechend der akuten funktionalen Befindlichkeit, Raum zu schaffen. Die Aufforderung, die Aufteilung des Raums selbst vorzunehmen, dient darüber hinaus der Selbstvergewisserung, sich in einer wirklich modernen Raumkonzeption zu befinden. Diese moderne Raumkonzeption ist gedacht als möglichst neutrale Struktur, gegliedert durch ein regelmäßiges Raster, dem denkbar einfachs-

85 Roth: Zwei Wohnhäuser, S. 30

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ten und rationellsten Ordnungssystem, das in seiner mathematischen Abstraktion und der Unbestimmtheit seiner Ausdehnung als Möglichkeitsfeld aller denkbaren und noch nicht gedachten Nutzungsbelegungen brauchbar ist. Die Untersuchung des Systems Dom-ino, das genau diese Konzeption in ihrer reinsten Form vorstellt, hat am konkreten Beispiel des Stuttgarter Hauses gezeigt, dass jenseits des tatsächlichen Nutzens das Skelett und folglich das Raster darstellerischen Eigenwert gewinnen: Sie treten als formales System in Erscheinung. Bereits Colin Rowe hat die Bedeutung des Zeigens beschrieben. Er schreibt zum Dom-ino Haus: »Während seine primäre Funktion eindeutig ist, hat das Skelett neben seinem praktischen Wert ganz offensichtlich eine Bedeutung bekommen [...]. Anscheinend gibt uns das neutrale Raster, das von dem Skelett umgeben ist, ein besonders zwingendes wie überzeugendes Symbol an die Hand, und genau deshalb hat der Rahmenbau räumliche Bezüge neu hergestellt, eine Disziplin definiert und Formen generiert. Das Skelett ist der Katalysator einer ganzen Architektur gewesen, aber das Skelett ist auch selbst Architektur geworden [...]. So erinnern wir uns an unzählige Gebäude, wo das Skelett in Erscheinung tritt, selbst dort, wo es konstruktiv nicht notwendig ist; wir kennen Gebäude, wo ein Skelett vorhanden zu sein scheint, es aber gar nicht ist; und, da das Skelett einen über sich hinausgehenden Wert erlangt hat, ist man geneigt, diese Abweichung zu akzeptieren.«86

Noch deutlicher wird Rowe, wenn er beschreibt, was die Bedeutung von Skelett und Raster denn ausmacht: »Was wir hier vor uns sehen ist nicht so sehr ein Tragwerk als vielmehr eine Ikone, ein Objekt des Glaubens, das als Garantie für Authentizität dazustehen hat – das äußere Anzeichen einer neuen Ordnung, eine Vergewisserung gegen das Abgleiten in private künstlerische Freiheit, eine Disziplinierung, mit deren Hilfe ein rückgratloser Expressionismus auf den Anschein der Vernunft reduziert werden konnte.«87

Demnach steht die Verwendung des formalen Systems Raster als Zeichen für all das, was eine moderne Architektur ausmachen könnte: Sie soll funktionsoffen und vernünftig sein, in ihrer formellen Ausgestaltung vorausset-

86 Colin Rowe: Chicago Frame (1956), in: Ders.: Mathematik, S. 93 87 Ebd., S. 115

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zungslos und jenseits konventioneller Unwägbarkeiten. Das schließt die Verpflichtung auf den Verzicht jeglicher Autorenschaft ein. Die Architektur würde quasi »die unpersönliche Reinheit einer technischen Verfahrensweise«88 erhalten. Markiert ist damit ganz deutlich der Bruch mit der humanistischen Tradition: »Eine solche Form, so dachte man, würde im Gegensatz zur Architektur der letzten 500 Jahre sein.«89 Rasterstrukturen werden nun tatsächlich zu Zeichen, die Raster darstellen. Infolgedessen verlagert sich die Problemstellung. Es geht nicht mehr vorrangig darum, mit Hilfe einer Struktur eine möglichst allgemeine und allgemein gültige Formulierung zu finden, wie serielle Bauelemente planmäßig und fehlerfrei zu erfinden, zu organisieren und zusammenzusetzen sind, sondern die Struktur selbst rückt ins Zentrum des Interesses: Es geht nun darum, die Struktur lesbar zu machen, was kein konstruktives oder organisatorisches, sondern ein formales Problem ist. Das klingt zunächst widersinnig. Jedoch steckt gerade in der Verschiebung von einer Struktur, die tatsächlich so funktioniert, wie sie funktionieren sollte, hin zu einem Zeichen, das gar nicht mehr so funktioniert, dabei aber dieses Funktionieren repräsentieren kann, die Chance, moderne Produktionsbedingungen zu problematisieren: Die disfunktionale Verwendung des Rasters bei Le Corbusier kann kritisch sein, eine Möglichkeit, die bei dem von Neufert vorgestellten Architekturkonzept von vornherein entfällt. Frei nach Schinkel könnte man schlussfolgern, dass jede vollkommen ausgeführte Architekturfigur jedes Mal eine kurze Anzeige ihrer Planungsgrundlage sowie eine Anzeige ihres Scheiterns enthalten müsse, damit das Ganze Zusammenhang bekomme. Schinkel selbst hätte dieser Auslegung seiner Worte widersprochen, Neufert sowieso. Le Corbusier zumindest nutzt die Ambiguität von Funktion, Produktion und Bild des Rasters. Zumindest ausgewählte Projekte könnte man dahingehend interpretieren. An dieser Stelle bietet sich ein Blick auf die Villa Savoye an, die deutlich die geforderte Rasterstruktur zeigt und in gewisser Weise als Abschluss der Projektserie funktionalistischer Architektur der 20er Jahre gesehen werden kann: 5 x 5 Stützenachsen gliedern die Fassaden der Villa, Fensterteilung und Säulen folgen der Achsenstellung. Auf drei

88 Colin Rowe: Neoklassizismus und moderne Architektur I (1973), in: Ders., Mathematik, S. 127 89 Ebd.

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Seiten sind die Säulen im Erdgeschoss freigestellt, an der Eingangsseite sogar ebenso die zweite Stützenreihe. Alles deutet somit darauf hin, dass sich diese Struktur eines regelmäßigen Gitters auch im Inneren des Gebäudes fortsetzt. Bekanntlich tut sie das jedoch nicht: Vielmehr verschieben sich die Stützenstellungen fließend. Die Mittelstütze der zweiten Reihe teilt sich in zwei Stützen. Davon ausgehend bildet sich ein Subsystem, das sich in der Folge weiter differenziert und zur völlig freien Positionierung der Stützen auflöst.

Abb: 91: Le Corbusier, Stützenraster und Grundriss EG, Villa Savoye, Poissy (1929-1931)

Bleibt die Frage, warum überhaupt der Anschein eines regelmäßigen Systems evoziert wird, wenn sich gleichzeitig das System eben gerade nicht an die Vorgabe der Regelmäßigkeit hält. Die Erklärung, es handle sich lediglich um ein Ausweichen der Stützenstellungen, d. h. ein jeweils örtlich begrenztes, individuelles Reagieren auf funktionale Notwendigkeiten – es würde »gemäß bestimmter räumlicher Erfordernisse die Stellung einiger Stützen des rechteckigen Grundrasters kaum merklich verändert – die eine Stütze springt etwas vor, eine andere tritt zurück«90 – ist nicht ausreichend. Le Corbusiers Überschreiten des eigenen Ordnungssystems ist vielmehr

90 Robert Venturi: Komplexität und Widerspruch in der Architektur, Braunschweig/Wiesbaden 1993 (Bauwelt Fundamente 50) [zuerst: Complexity and Contradiction in Architecture, 1966], S. 71. Zu betonen ist allerdings, dass gerade Venturi eine funktionalistische Argumentation fern liegt.

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planmäßig und absichtsvoll angelegt.91 Zum Beispiel schließt bereits die Wahl eines 5-achsigen Gitters mit sechs Jochen ein mittiges Betreten des Gebäudes mehr oder weniger aus, da die Symmetrieachse durch eine Säulenstellung verstellt ist. Trotzdem beharrt Le Corbusier auf einem Eingang gerade an dieser Stelle. Die sich anbahnende Diskontinuität des Rasters wäre einfach, entweder durch eine gerade Anzahl von Gitterachsen und eine ungerade Jochanzahl oder durch ein außermittiges, dezentrales Zugehen in das Gebäude, zu vermeiden gewesen. Le Corbusier wählt keine dieser Lösungen. Der mutmaßliche, absichtsvolle Konflikt, den er provoziert, könnte folglich als bewusste Hervorhebung gelesen werden: Indem Le Corbusier die Mittelstellung mit einer Säule verbaut, betont er die Eigenschaften einer regelmäßigen Gitterstruktur, die sich gerade in der Neutralität und Gleichwertigkeit ihrer einzelnen Felder wie auch in ihrer freien Ausdehnbarkeit natürlicherweise jeglichen Zentralisierungstendenzen verschließt. Durch diesen Eingriff ist die Ordnung des Rasters keine absolute mehr. Die Gitterstruktur erhält im Gegenteil ein Relativ, um wirksam bzw. lesbar zu werden: Der Ungerichtetheit des Rasters steht eine Gerichtetheit gegenüber. Mit Türe und Doppelrampe, die sich auf die Symmetrieachse beziehen, erhält das Gebäude ein Vorne und Hinten, eine rechte und eine linke Seite. Auch im Bereich des Foyers geraten die Stützen unter zentralisierenden Einfluss. Portikusartig flankieren sie den Eingang und akzentuieren so den Bewegungsfluss. Ein vollständiges Aufgehen der inneren Stützen in der Binnenstruktur ist dabei jedoch nicht vorgesehen. Im Gegensatz zum Planstand von 1928,92 bei dem die Innenstützen tatsächlich in den Wänden verschwinden, markieren die freien Stützenstellungen in der tatsächlichen Ausführung ihre Mittlerrolle zwischen dem Kontinuitätsanspruch des Rasters und dessen Brechung.

91 Siehe zu Planmäßigkeit und Systematik der Achsverschiebungen auch die Rekonstruktionsversuche der geometrischen Grundlegungen der Villa Savoye bei: Klaus-Peter Gast: Le Corbusier. Paris – Chandigarh, Basel/Berlin/Boston 2000, S. 74 ff., Figur 43-50 92 Vgl. Le Corbusier: Œuvre complète 2006, Band 1, S. 186 f. Die Planung zeigt deutlich, dass ein Einpassen der raumbildenden Elemente innerhalb des regelmäßigen Stützrasters möglich gewesen wäre. Lediglich die Reihe der Symmetrieachse ist geteilt, wobei auch hier die Stützen nach der freien Portikusstellung in den Wänden verschwinden.

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Erreicht ist keine einfache, sondern eine schwierige Raumorganisation: Auf der einen Seite steht das klare Bekenntnis zu einer modernen, seriell erzeugten, neutralen, anonymen und objektiven Produktion von Raum, wie sie sich im Raster ausdrückt, auf der anderen Seite dagegen steht deren Relation in formellem Eigensinn. Ohne die Tatsache moderner Raumproduktion zu negieren, behält Le Corbusier dadurch die Möglichkeit, formal kritisch zu sein, indem er den Traum des funktionalistischen Architekten, innerhalb eines einfachen Regelsatzes alle Probleme auf objektive Weise lösen zu können, bis an die Grenzen seiner formalen Konsistenz und darüber hinaus austestet. Der Umweg des Scheiterns stellt sich hier folglich als eine Möglichkeit dar, architektonisch wirksam zu bleiben und eben doch einen einigermaßen autonomen Autor überleben zu lassen, ohne sentimental oder rückwärtsgewandt erscheinen zu müssen.

3.3 Der Modulor. Das Parallelereignis von Metaphysik und Funktionalismus Die Verlagerung im Gebrauch des Rasters – weg von einem Werkzeug objektiver Raumgeneration, hin zu einem Mittel der Darstellung rational verfassten Raums, einschließlich der Möglichkeit, das Scheitern einer derartigen Raumrationalisierung darzustellen – könnte mit dem Projekt der Villa Savoye als erreicht betrachtet werden. Entsprechend hat sich eine quantitative Betrachtung des Rasters in eine qualitative gewandelt: Nicht mehr das optimierte und optimierende Rastermaß steht nun im Fokus des Interesses, sondern, indem die Maschenweiten des Gitters untereinander und zueinander flexibel gehandhabt werden, das relationale Verhältnis des Rasters zur baulichen Struktur als Ganzes. Hier hätte Le Corbusier weiterarbeiten können, was er auch tut. Jedoch immer bestrebt, kein Argumentationsfeld auszulassen, kann er doch nicht die Bemühungen um ein auch und gerade quantitativ verbindliches Ordnungssystem aufgeben, d. h. ein System der Maßkoordination als Voraussetzung von serieller Produktion, Standardisierung und Normung, womit wir uns wieder bei den ursprünglichen Themen einer funktional, rational und rationell legitimierten Architektur befinden. Ziel und Ergebnis dieser Bemühungen bei Le Corbusier ist bekanntlich das Maßsystem, das er »Mo-

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dulor« nennt. Die eigentliche Entwicklungsarbeit dazu fällt in eine Phase des durch die Wirtschaftskrise und den Krieg bedingten Nichtbauens. Ähnlich den zeitgleichen Unternehmungen Neuferts, der sich um die Etablierung seines Oktametersystems bemüht, propagiert auch Le Corbusier sein Maßsystem als Werkzeug, das den Architekten befähigt, mit den Bedingungen moderner Produktion, Distribution und Konsumtion umzugehen: »Wenn es sich darum handelt, Gegenstände des häuslichen, industriellen oder Handelsgebrauchs herzustellen, die nach allen Orten der Welt verschickt und überall gekauft werden können, fehlt es der modernen Gesellschaft an der gemeinsamen Maßeinheit, die imstande ist, Umfang- und Inhaltsdimensionen zu ordnen, und damit imstande, Angebot und Nachfrage zu schaffen und sicher zu lenken. Hier setzt unsere Bemühung ein. Ihr Daseinsgrund ist: Ordnung schaffen.« 93

Le Corbusier befindet sich hier ganz im Einklang mit den schon bekannten Forderungen einer auf Nützlichkeitskriterien hin ausgerichteten Architektur, die sich dann auch gemäß ihrer Leistungsfähigkeit beurteilen lässt. Insofern ist Le Corbusiers Zielvorgabe Mitte der 40er Jahre nicht sehr originell. Interessant ist allerdings der folgende Satz, in dem Le Corbusier sein eigentliches Programm zu erkennen gibt: »Wenn überdies die Harmonie unsere Bemühungen krönte?«94 Mit diesem unscheinbaren Satz kündigt Le Corbusier nicht weniger an als den Versuch einer Synthese utilitaristischen Denkens mit der schon lange obsoleten Idee eines auf Harmonie gegründeten Bauens. Auch an dieser Stelle bietet sich ein kurzer Vergleich mit Neufert an. Es soll daran erinnert werden, dass auch er eine Verbindung zu einer zeitlosen harmonischen Ordnung herzustellen versucht, indem er seiner Bauentwurfslehre, die ja dann ein strikt rationales und funktionsorientiertes Entwerfen festschreibt, einen vitruvianischen Mann voranstellt. In den ersten Kapiteln der Bauordnungslehre werden Existenz und Gültigkeit zeitloser, harmonikaler Gesetzmäßigkeiten wiederum bemüht, finden dann im weiteren Verlauf, in dem Neufert sich mit der Ausarbeitung einer Maßpraxis im

93 Le Corbusier: Der Modulor. Darstellung eines in Architektur und Technik allgemein anwendbaren harmonischen Maszes im menschlichen Maszstab, Stuttgart 51985 [zuerst: Le Modulor, 1949], S. 21 94 Ebd.

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Dienste von Normung, Standardisierung und Erhöhung der Produktivität beschäftigt, freilich keine weitere Beachtung: Somit kommt es bei Neufert keinesfalls zu einer Synthese. Die Beschwörung harmonischer Ordnung und vitruvianischer Traditionen bleibt alibihaft. Le Corbusier dagegen verquickt tatsächlich die beiden Themenfelder, das nüchterne, auf Effizienz angelegte der Normung und Standardisierung, und das vormoderne, anthropomorph-kosmologische harmonischer Proportionalität. Dass zwischen beiden unvereinbare Widersprüche bestehen, nimmt Le Corbusier nicht zur Kenntnis. Auch die Rezeptionsgeschichte des Modulor geht darauf kaum ein. Zu verlockend ist das in dieser Verbindung enthaltene Versöhnungsangebot, wie es programmatisch im Untertitel der Modulorpublikation formuliert ist: Der Modulor wird vorgestellt als »ein[] in Architektur und Technik allgemein anwendbare[s] harmonische[s] Masz[] im menschlichen Maszstab.«95 Das ist nicht weniger als das Versprechen, die Entfremdung des modernen Menschen und seiner technischen Umwelt aufzuheben. Entsprechend breit gestreut sind die Begründungszusammenhänge, in die Le Corbusier das Unternehmen Modulor stellt. Zunächst versäumt er nicht, dessen technische Motivation zu betonen. Le Corbusier schreibt rückblickend: »Er [der Modulor] entsprach einem dringenden Bedürfnis, denn die modernen Aufgaben der Serienherstellung, der Normierung, der Industrialisierung, können nicht gelöst werden ohne eine neue Skala der Masse [Maße]. Der Modulor hat solche gebracht.« 96 Anthropomorphe Befindlichkeiten spielen, ihrer Natur gemäß, in den modernen Produktionsvorgängen, die Le Corbusier hier beschreibt, keine Rolle. Le Corbusiers Anspruch ist jedoch, gerade diese Verbindung zu menschlichen Maßen herzustellen, weshalb der folgende Satz wichtig ist: »Andererseits hat der Modulor auch Frieden gemacht zwischen den Systemen der ›Fuss‹ und dem metrischen System, denn er führt automatisch das metrische System in das andere ein.«97 Le Corbusier zeigt sich hier um eine umfängliche Maßvereinheitlichung bemüht. Es geht dabei um die Überwindung der globalen Maßteilung in das angloamerikanische System, das mit foot/inch arbeitet, und das metrische System als Voraussetzung eines internationalen Normen- und Standardabgleichs, einer grenzüberschreitenden Produktion und eines weltweit freien

95 Ebd., S. 3 96 Le Corbusier: Œuvre complète, Band 5, S. 180 97 Ebd.

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Zirkulierens der Warenströme.98 Ähnliche Überlegungen der Synchronisation von foot/inch und Meter finden sich parallel zu Le Corbusier auch bei Neufert, der ja behauptet, die Integration beider Systeme im Oktametersystem bewältigt zu haben. Dieses habe den Vorteil, dass die umständliche Handhabung der duodezimalen Staffelung des Fußsystems im dezimalen Aufbau des neuen Systems aufgeht. Im technischen Sinn, in dem Anspruch, ein neues, allgemein gültiges Basismaßsystem zu etablieren, sind jedoch beide Systeme, sowohl das System von Le Corbusier als auch das System Neuferts, unbrauchbar. Auch wenn die Rundungen, die beide vornehmen, um ein Maßsystem mit dem anderen abzugleichen, klein sind, bleiben Maßtoleranzen bestehen. Darüber hinaus finden die Maßanpassungen immer auf der foot/inch Seite statt und Näherungen der foot/inch Werte werden durch Meter bzw. Millimeter ausgedrückt. Die Betrachtung bleibt eurozentrisch. Sowohl die Erklärungsversuche der Dringlichkeit als auch die angebotenen Lösungen für eine globale Maßvereinheitlichung bleiben somit unbefriedigend. Allerdings findet sich noch eine andere Motivation für das Interesse, Fuß- und Metermaße zusammenzubringen. Beide, Le Corbusier und Neufert, bedauern den Verlust an Anschaulichkeit, der mit der Ablösung körperbezogener Maße wie Zoll, Fuß, Elle, Schritt, etc. durch die Einführung des gänzlich abstrakten metrischen Systems einher ging. Der Meter ist eine Maßvereinbarung ohne jegliche relevante Bindung. Er gibt lediglich Zahlenwerte vor, wobei jeder Zahlenwert gleichwertig bzw. in seinem Bedeutungsgehalt trivial ist. Die Integration des angloamerikanischen Systems in das metrische System kann folglich als Versuch gesehen werden, dem Bauen Bedeutsamkeit zurückzugeben. Dass jedoch gerade die Abstraktheit des Meters der Praxis moderner Produktion und Konsumtion entspricht und diese Abstraktheit eine der Moderne geradezu immanente Voraussetzung ist, wird dabei nicht thematisiert. Vielmehr beschwört Le Corbusier zur Begründung des Modulorunternehmens die Kontinuität eines anthropomorphen Maßbezugs und dessen generelle Brauchbarkeit für Bauzwecke:

98 Siehe auch: Le Corbusier: Modulor, S. 126 ff. Im Abschnitt »Welteinheit und Frieden« geht Le Corbusier sogar so weit, die Erfindung des Modulor in pazifistische Zusammenhänge zu stellen. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass sich Le Corbusier in den hier geschilderten Anfängen seiner Normungsversuche intensiv um Kontakte und Aufträge des Vichyregimes bemühte.

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»Der Wilde aller Zeiten und Länder, der Träger hoher Kulturen, der Ägypter, der Chaldäer, der Grieche usw. haben gebaut und infolgedessen auch gemessen. Über welches Werkzeug verfügten sie? Über ewige und stets verfügbare, über kostbare Werkzeuge, weil sie an die menschliche Person geknüpft waren. Diese Werkzeuge besaßen Namen: Elle, Finger, Daumen, Fuß, Spanne, Schritt usw. Wir wollen uns unmittelbar an die Tatsachen halten: diese Maße waren wesentliche Teile des menschlichen Körpers und daher von vornherein geeignet, als Maßhilfsmittel für die zu erbauenden Hütten, Häuser und Tempel zu dienen.«99

Nicht erwähnt werden die Komplikationen, die sich ergäben, wollte man ein solches Messen auf rationelles und rationalisiertes Bauen anwenden. Die genannten Maße sind ineinander verschränkt, in ihrem Bezug zueinander nicht linear, teilweise mehrdeutig und inkompatibel. Ebenso sind sie bedeutungsbehaftet, kompliziert und eindeutig schwer handhabbar. Neufert umgeht dieses Problem, indem er es bei einem vagen Anknüpfen an anthropomorphe Ausgangsmaße belässt. Das Oktametersystem bleibt in seinem Aufbau insofern dezimal, linear, einfach und effizient, als die Widerständigkeiten des Körperbezugs und der Bedeutungsgehalt der alten Maße zugunsten eines modernen Produzierens aufgehoben wurden. Le Corbusier belässt es dagegen nicht bei Andeutungen. Er nutzt den Rückblick auf archaische Messpraktiken und behauptet eine ursprünglich anthropomorphe Verankerung des Bauens, um tatsächlich an vormoderne Begründungsmuster der Architektur anzuknüpfen. Im oben zitierten Text fährt er fort: »Aber noch mehr: Sie [die körperbezogenen Maße] waren unendlich reich und scharf, weil sie teil hatten an der Mathematik, die den menschlichen Körper bestimmt – einer anmutigen, eleganten und sicheren Mathematik, der Quelle der uns ergreifenden Eigenschaft, der Harmonie: der Schönheit – (die, wohlverstanden, von einem menschlichen Auge erfaßt wird, nach menschlichen Begriffen, wohlverstanden. In Wirklichkeit könnte und dürfte es kein anderes Kriterium für uns geben.)«100

Wenn auch durch den Nachsatz, der die Rechte und die Bedeutung des wahrnehmenden Subjekts zu wahren versucht, relativiert, reproduziert Le Corbusier hier die alte Vorstellung metaphysischer Ordnung. Er beschwört

99

Ebd., S. 19

100 Ebd.

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die Identität von Mikro- und Makrokosmos, von menschlichem Körper und gültigen Harmoniegesetzen, wie sie die pythagoreisch-platonische Tradition humanistischer Architektur überliefert. Jedes Ding hat in dieser Ordnung seinen Ort, sein Maß und seine Form. Zudem basiert dies alles auf der Grundlage einer einfachen Mathematik, die in doppelter Weise bedeutsam ist, indem sie harmonische Beziehungen beschreiben kann und gleichzeitig selbst von den Vorstellungen harmonischer Eigengesetzlichkeiten bestimmt ist. Ordnung und Ordnung Erzeugendes, Mathematik, Schönheit und Harmonie fallen in Eins. Das Sinnbild dafür, der vitruvianische Mann in Quadrat und Kreis, ist wieder aktuell. Damit schließt Le Corbusier den Kreis der für ihn brauchbaren Argumentationen, die die Notwendigkeit bzw. Sinnfälligkeit eines verbindlichen Maßsystems belegen. Wie gesagt, die Legitimationsmodelle sind konträr, sie schließen sich in ihrer Herleitung, ihren Bedingungen und Zielen aus. Um die Widersprüche zu entwirren, lohnt ein Blick auf die Entwicklungsgeschichte des Modulor. Le Corbusier selbst hält den Arbeitsprozess, der dann zu dem führen wird, was er als Modulor bezeichnet, für so wichtig, dass er ihn in der Modulorpublikation ausführlich beschreibt. Den Beginn der konkreten Arbeit markiert ein zunächst recht kryptisch erscheinender Arbeitsauftrag an einen seiner Mitarbeiter: »Nehmen Sie den Mann mit dem erhobenen Arm, 2,20 m hoch, stellen Sie ihn in zwei übereinander angeordnete Quadrate von 1,10 m; lassen Sie auf den beiden Quadraten ein drittes Quadrat reiten, das Ihnen die Lösung bringen muß. Der Ort des rechten Winkels wird Ihnen helfen, die Lage dieses dritten Quadrats zu finden.«101

In Abbildungen folgt darauf der Lösungsvorschlag Gérald Hannings.

Abb. 92: Gérald Hanning, Quadratteilung (Modulor, 1949) 101 Ebd., S. 37

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Le Corbusier erklärt weder, warum er die Aufgabe so stellt, noch, welche Bedeutung es haben könnte, zwei Quadrate übereinander zu stellen und mit einem dritten Quadrat zu überlagern. Die Aufgabe erscheint beliebig. Doch finden sich Hinweise auf Le Corbusiers konzeptionelle Beweggründe in der Aufgabenstellung und in den Lösungsschritten Hannings. Bedeutsam ist das Maß 2,20 m. Im biographischen Rückblick, den er der Aufgabenformulierung voranstellt, hatte Le Corbusier schon ausdrücklich darauf hingewiesen: »Auf seinen Reisen hatte er102 in harmonischen Bauten, mochten sie volkstümlich oder von hohem geistigem Niveau sein, die Beständigkeit einer Höhe von ungefähr 2,10 bis 2,20 m (7 bis 8 Fuß) zwischen Fußboden und Decke festgestellt: [...] Es ist die Höhe eines Mannes mit erhobenem Arm, eine Höhe recht eigentlich im menschlichen Maßstab.«103

Die Maßangabe 2,20 m – wenn auch durch das Wort »ungefähr« relativiert – erscheint als ebenso natürlich wie verbindlich, will man »harmonisch« bauen. Man könnte von einer baulichen Invariante sprechen. Damit ist ein gültiges Maß gefunden, das überdies, wie gewünscht, anthropomorph legitimiert ist. Dass die in Klammer angegebene Obergrenze von 8 Fuß (~2,43 m) doch deutlich von diesem Maß abweicht, ignoriert Le Corbusier. Er bleibt vorübergehend bei 2,20 m, was die Gesamthöhe der Konstruktion erklärt. Nicht erklärt ist, warum die Strecke sich aus zwei Quadraten ergeben soll. Hier sind die Konstruktionen Hannings aufschlussreich. Er verwendet zwei Arten der Streckenteilung, den Proportionierungsmodus des Goldenen Schnittes und den dynamischer Rechteckreihen. Letztere sind in ihrer Konstruktion ursächlich mit dem Quadrat verbunden: Aus der Diagonale des Quadrats mit der Kantenlänge 1 ergibt sich die neue Seitenlänge ¥2. Um zu Verhältnissen im Goldenen Schnitt zu kommen, wählt Hanning aus den alternativ möglichen Konstruktionsverfahren ebenfalls das Verfahren aus, das von einem Quadrat ausgeht: Ein Quadrat wird geteilt und die Diagonale (¥5) des halben Quadrats auf die Grundlinie abgetragen. Damit ist erreicht, dass sich die kleinere Teilstrecke, die aus dem über das Quadrat hinausreichenden Teil der Diagonale besteht (¥5 - 1/2), im Verhältnis zur

102 Le Corbusier spricht im Text von sich selbst meist in der dritten Person. 103 Ebd., S. 28

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größeren Teilstrecke, bestehend aus der Kantenlänge 1, genauso verhält wie diese zur Gesamtlänge (¥5 + 1/2). Dieses »Goldene« Proportionsverhalten wird als bedeutsam angesehen und mit dem griechischen Buchstaben Φ (Phi) bezeichnet. In beiden Fällen ist so die Verwendung des Quadrats plausibel. Es bleibt jedoch die Frage, warum Hanning überhaupt Φ- und ¥2-Proportionen erzeugen will bzw. soll. Deren Verwendung ist nicht selbstverständlich. Überhaupt sind Legitimität und Wert feststehender Proportionsverfahren und Proportionsregeln spätestens mit der Ablösung der vitruvianischen Tradition durch die Moderne fragwürdig und mit dem Konzept funktionaler Architektur unvereinbar. Trotzdem beharrt Le Corbusier auf deren Gültigkeit. Dabei ist er nicht alleine. Er kann sich vielmehr auf eine erneuerte Tradition architektonischer Proportionslehre stützen. Dabei handelt es sich nicht um eine kontinuierliche, ungebrochene Tradition, wie Le Corbusier gelegentlich anmerkt, sondern im Wesentlichen um in der Mitte des 19. Jahrhunderts wieder einsetzende Versuche, anthropomorphgeometrische Maßanalogien in einen wissenschaftlichen Diskurs einzubinden. Wichtig sind hier insbesondere die Publikationen Adolf Zeisings, den schon Neufert als Referenzautorität angeführt hat. Le Corbusier sind die Theorien Zeisings durch Matila Ghykas Bücher bekannt.104 Matila Ghyka bezieht sich in seinen bereits vor Le Corbusiers Arbeiten am Modulor erschienen Schriften »Esthétique des proportions dans la nature et dans les arts« (1927) und »Le nombre d’or« (1931) explizit auf Zeising. Ebenfalls Erwähnung finden bei ihm die Studien Ernst Moessels,105 der die Proportionsbehauptungen Zeisings an historischen Architekturen nachzuweisen versucht. Auch Moessel wurde bereits von Neufert in der Bauentwurfslehre (1936) erwähnt. Ghyka führt Zeisings Arbeit, die Suche nach »einem bisher unerkannt gebliebenen, die ganze Natur und Kunst durchdringenden morphologischen Grundgesetze«, fort. Nachdem Zeising glaubt, in den Hervor-

104 Die Bücher Ghykas sind in Le Corbusiers Bibliothek nachweisbar. Vgl. Dario Matteoni: Modulor, in: Andreas Vowinckel/Thomas Kesseler (Hg.): Le Corbusier. Synthèse des Arts. Aspekte des Spätwerks 1945-65, Berlin 1986, S. 26. Die Beeinflussung ist nicht einseitig, in späteren Auflagen von »The Geometry of Art and Life« (1946) oder »Le nombre d’or« (1959) zeigt Ghyka Architekturbeispiele Le Corbusiers zur Illustration und als Beleg seiner Theorien. 105 Ernst Moessel: Die Proportion in Antike und Mittelalter. Urformen des Raumes als Grundlage der Formgestaltung, München 1926

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bringungen der Natur den Nachweis proportionaler Bedingtheit nach dem Goldenen Schnitt erbracht zu haben, beansprucht Ghyka – wie vor ihm schon Zeising – auch dessen Gültigkeit für künstlich geschaffene Artefakte, sowohl für technische als auch für künstlerische. Folglich finden beide ihre Proportionsannahmen auch im Bereich des Ästhetischen bestätigt. Anzumerken ist, dass Zeising sich durchaus bewusst ist, dass die theoretische Formulierung des Goldenen Schnittes als umfassendes Gestaltungsprinzip von ihm selbst stammt bzw. – wie er in einem historischen Rückblick nachweist – erst in seiner unmittelbaren Gegenwart entstand. Im ästhetischen bzw. architektonischen Diskurs vor der Mitte des 19. Jahrhunderts spielt Φ keine Rolle.106 Da es sich hierbei jedoch nicht allein um ein ästhetisches Konzept, sondern um eine Naturkonstante handeln soll, ist es für Zeising wichtig nachzuweisen, dass die Gestaltungskraft des Goldenen Schnittes schon immer unterschwellig, unbewusst und emotional wirksam war. Wichtig ist an dieser Stelle jedoch auch der Hinweis, dass Zeising Wertungen vornimmt: Es gibt stets richtige – und somit gute – Gestaltung und verfehlte – schlechte – Form. Die Argumentation Zeisings wurde gemeinhin als wissenschaftlich akzeptiert. Im Abschnitt »die Entwicklung des eigenen Systems«107 argumentiert er diesen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit auch ganz systematisch und folgerichtig. Er formuliert die These, dass es ein formelles Bildungsgesetz gebe, dass dieses als verbindlich anzusehen und dessen Beachtung notwendig und sinnvoll sei. Diese Vorstellung wird dann noch konkretisiert. Wesentlich für die Bildung bzw. für die Beschreibung und Bewertung von Form ist grundsätzlich der Begriff der Proportionalität. Wann und wie Proportionalität gegeben ist, die Voraussetzungen, denen sie unterliegt, und wie sie zu erreichen ist, kann er allgemein gültig und nachvollziehbar, letztendlich in mathematischer Präzision beschreiben. Als sinnvoll erachtete Verhältnismäßigkeiten in der Formbildung erscheinen: »1. als Regelung der unendlichen Verschiedenheit zur Einheit, d. h. als Gleichmaass oder strenge Regelmässigkeit;

106 Siehe hierzu auch: Marcus Frings: The Golden Section in Architectural Theory, in: Nexus Network Journal 4 (Winter 2002), S. 9 ff. 107 Vgl. Zeising, Proportion, S. 133 ff.

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2. als Ausbildung der strengen Einheit zur Verschiedenheit, d. i. als Proportionalität oder Verhältnismässigkeit; 3. als vollkommene Uebereinstimmung der zur Einheit geregelten Verschiedenheit und der zur Verschiedenheit ausgebildeten Einheit der Form mit einem zum Grunde liegenden Inhalt.«108

Der dritte Punkt ist als Synthese der beiden ersten zu verstehen. Er vereint die eigentlich widersprüchlichen Forderungen nach Gleichheit bzw. Unterschiedlichkeit der Teile. Erst in der Zusammenführung beider Forderungen kann ein allgemeines Gesetz liegen: »Um nun ein solches Gesetz zu finden, müssen wir es auf das Engste an den oben aufgestellten Begriff der Proportionalität anschliessen. Nach diesem aber ist die Proportionalität diejenige Stufe der formellen Schönheit, welche den Gegensatz von Einheit und Unendlichkeit, von Gleichheit und Verschiedenheit dadurch zur Harmonie aufhebt, dass sie das ursprünglich als Einheit zu denkende Ganze, mit der Zweiteilung beginnend, in ungleiche Theile theilt, diesen Theilen aber ein solches Maass giebt, dass die Ungleichheit der Theile durch die Gleichheit der Verhältnisse zwischen dem Ganzen und seinen Theilen einerseits und zwischen den beiden Theilen andererseits ausgeglichen wird. Ein diesem Begriff entsprechendes Proportionsgesetz wird also lauten müssen: Wenn die Eintheilung oder Gliederung eines Ganzen in ungleiche Theile als proportional erscheinen soll: so muss das Verhältniss der ungleichen Theile zu einander dasselbe sein, wie das Verhältniss der Theile zum Ganzen.«109

Was hier beschrieben ist, ist eine Teilung nach dem Goldenen Schnitt. Man könnte die Problemstellung auch algebraisch ausdrücken: a

/b = b/(a + b)

Die Auflösung der Gleichung erlaubt nur eine Lösung. Diese ist eindeutig: /b = (1 - ¥5)/2 bzw. b/a = (1 + ¥5)/2

a

108 Ebd., S. 151 109 Ebd., S. 158

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Nachdem er in mathematischer Beweisführung die Zwangsläufigkeit, die zum Goldenen Schnitt führt, dargelegt hat, geht Zeising daran, dessen formale Wirksamkeit nachzuweisen. Die anfängliche These wird durch Naturbeobachtung und Messung verifiziert.110 Die vorgestellte Argumentation erscheint prinzipiell schlüssig und die mathematisch-geometrische Herleitung von Φ stimmig. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass die systemimmanente Stringenz nicht ohne weiteres eine Übertragung auf außermathematische Zusammenhänge rechtfertigt. Zudem scheinen die Belege, die Zeising durch Messung anführt, dann auch eher der Absicht zu entspringen, seine These von einem allgemeinen formellen Bildungssystem zu verifizieren, als dass sie wirklich seine Argumentation hinsichtlich der Herleitung von Φ stützen würden. Auch rein methodisch erfüllen Zeisings Vermessungen der Natur und Kunst nicht den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit: Die Auswahl der Objekte ist hoch selektiv und die Messwerte sind in ihren Rundungen zu sehr dem gewünschten Ergebnis angepasst, als dass man mit ihnen überhaupt eine relevante Aussage treffen könnte. Vor allem aber stimmen die Messwerte und Messpunkte ebenso wie die angewandten geometrischen Konstruktionen nur vage bzw. nur über sekundäre Hilfskonstruktionen mit den vermessenen Objekten überein. All dessen ungeachtet hat sich über sämtliche damit verbundenen Konflikte hinweg die Überzeugung durchgesetzt, mit Φ ein Bildungsgesetz der Natur zu kennen, nach dem sich auch die Kunst zu richten habe. Damit ist dessen Gültigkeit jedoch noch nicht erschöpft. Der Goldene Schnitt gilt nicht nur als Regelsatz für das Hervorbringen von Form, auch deren Rezeption ist durch ihn bestimmt: Formen, die dem Teilungsverhältnis Φ folgen, erscheinen demnach als schön.111 Das aber bedeutet, dass sich mit dem Prinzip des Goldenen Schnittes der alte Gegensatz von Regelästhetik und Wahrnehmungsästhetik aufheben ließe. Solchermaßen scheint eine sichere Basis gewonnen. Gerade die Bindung von Φ und menschlichem Körper wird sprichwörtlich. Es ist nicht nur ein universelles Regelwerk entdeckt, es wird auch als menschlich und als dem Menschen angemessen verstanden. Dass das so skizzierte Formungsprinzip tatsächlich weder im wissenschaft-

110 Vgl. ebd., S. 174 ff. 111 Die Behauptung stützt sich im Wesentlichen auf die gestaltpsychologischen Untersuchungen Gustav Theodor Fechners. Vgl. hierzu und zum Einfluss Fechners auf Le Corbusier: Matteoni: Modulor, S. 26

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lichen Sinn haltbar ist, noch in der Alltagserfahrung als besonders relevant erscheint, spielt dabei keine Rolle. Ganz im Gegenteil, Neufert und Ghyka greifen die Ideen Zeisings auf und machen sie einem größeren – speziell dem architektonischen – Publikum verfügbar.

Abb. 93: Matila Ghyka, Überlagerung von Konstruktion und natürlichem Körper (Le nombre d’or, 1931)

Bestechend ist die Evidenz der Darstellung: Neuferts Mann in Kreis, Quadrat und Dreieck wird zur Ikone, Ghyka überzeugt im klaren Aufbau. Der mathematischen Herleitung von Φ folgen dessen geometrische Konstruktionen, Referenzobjekte und – als deren Synthese – die Überlagerungen beider. Die Sinnhaftigkeit des Unternehmens wird nicht in Frage gestellt.

Abb. 94: Quadrat und Konstruktion des Goldenen Schnittes Auch Le Corbusier betrachtet das Wirken von Φ als objektive Tatsache. Entsprechend ist es verständlich, dass er den Goldenen Schnitt zum Ausgangspunkt der Entwicklung seines Maßsystems nimmt. Bleibt noch, die Bedeutung des zweiten Elements von Le Corbusiers ursprünglicher Aufgabenformulierung zu klären, das sich aus der Diagonale des Ausgangsquadrats bzw. der Flächenteilung durch zwei zueinander im 90°-Winkel stehen-

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de Diagonalen – Le Corbusier spricht vom »Ort des rechten Winkels« – entwickelt.

Abb. 95: Diagonale und »Ort des rechten Winkels«

Diese beiden Zeichnungen, die als Ausgangspunkt für die folgenden Konstruktionen dienen, sind nicht beliebig. Im ersten Fall entsteht aus dem Zirkelschlag der Diagonale eines Quadrats ein Rechteck mit dem Seitenverhältnis 1 : ¥2. Die besondere Eigenschaft eines solchen Rechtecks ist seine Reproduzierbarkeit. Es ist nicht nur einfach zu erzeugen, seine Proportionsverhältnisse bleiben auch bei einer Verdoppelung der Schmalseite bzw. einer Halbierung der Langseite erhalten. In der zweiten Zeichnung teilen zwei im rechten Winkel zueinander stehende Diagonalen ein Rechteck in zwei Teile, wobei die so erzeugten Teilrechtecke wieder gleiche Proportionen aufweisen. Das Verhältnis von Höhe zu Breite des linken Rechtecks ist gleich dem Verhältnis von Breite zu Höhe des rechten Rechtecks. Beide Verfahren erzeugen konstante Proportionierungen. Bislang folgte die Untersuchung der Fragestellung, warum Le Corbusier bzw. der von ihm beauftragte Hanning gerade diese Arten von geometrischer Maßerzeugung wählen. Noch wichtiger ist jedoch die Feststellung, dass sie überhaupt mit derartigen Geometrien und Proportionierungen arbeiten. Die Bedeutung, die Le Corbusier diesen Operationen zumisst, wird schon im Aufsatz »Les tracés régulateurs« in »Esprit Nouveau» (1921) deutlich. In »Vers une architecture« (1923) erfolgt eine Wiederauflage als drittes Kapitel mit dem Titel »Die Maß-Regler«. Le Corbusier behauptet darin nicht weniger als deren ursächliche und natürliche Bindung an die Architektur. Bereits in den Uranfängen des Bauens, den ersten schöpferischen Äußerungen des Menschen »verwies ihn sein Instinkt auf die rechten Winkel, auf die Achsen, auf das Viereck, den Kreis.« Damit ist eine Ordnung etabliert. Im übernächsten Satz wird Le Corbusier dieses Empfinden von Ordnung auch noch objektivieren: »Denn Achsen, Kreise und rechte Winkel sind Wahrheiten

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der Geometrie, und was sie hervorbringen, sind Wirkungen, die unser Auge mißt und anerkennt. Alles andere wäre Zufall, Abweichungen vom Normalen, Willkür. Die Geometrie ist die Sprache des Menschen.«112 Er präzisiert dies weiter: »Die Baukunst ist die erste Manifestation des Menschen, als dieser sich nach dem Vorbild der Natur seine eigene Welt schuf: er erkannte damit die Naturgesetze an, die Gesetze, die unsere Menschennatur regieren, unsere Welt. [...] Der das Universum beherrschende Determinismus öffnet unsere Augen für die Schöpfungen der Natur und gibt uns die Gewißheit von Gleichgewicht, von vernünftig Gemachtem, ins Unendliche Abgewandeltem, von Entwicklungsmöglichkeiten, Mannigfaltigkeit und Einheitlichkeit. Die physikalischen Grundgesetze sind einfach und gering an Zahl. Die sittlichen Gesetze sind einfach und gering an Zahl.«113

In einfachen, elementaren Geometrien fallen Formerzeugung und Darstellung universeller Gesetzmäßigkeiten in eins. Geometrien, proportionale Verhältnisse und formale Ordnung sind folglich von sich aus und für sich bedeutsam. Gegenüber der humanistischen Tradition verschiebt sich lediglich die Art der Begründung, sofern ein als universell angenommenes System überhaupt argumentiert werden kann und muss: Wie schon in Bezug auf den Goldenen Schnitt gezeigt, treten positivistische Analogieschlüsse – der Verweis auf die mathematische Evidenz der angestrebten Ordnung bzw. die Behauptung ihrer Naturgegebenheit – an die Stelle von metaphysisch motivierten Erklärungsmustern. Le Corbusier erhält dadurch eine feste Basis formalen Entwerfens. Unbeeindruckt von der Frage, ob es diese Basis tatsächlich gibt, reproduziert er Kompositionsverfahren und Proportionsregeln des ausgehenden 19. Jahrhunderts, mit deren Hilfe er versucht, der architektonischen Form Sinn und Verbindlichkeit zurückzugeben.114

112 Le Corbusier, Ausblick, S. 64 f. 113 Ebd., S. 66 114 Le Corbusier bezieht sich mit dem Begriff der »tracés régulateurs« ausdrücklich auf Auguste Choisys »Histoire de l’architecture« (1899). Siehe hierzu: Le Corbusier: Modulor, S. 27. Dabei entsprechen allerdings seine Auslegung und die Bedeutung, die er ihnen zumisst, nicht unbedingt den Intentionen Choisys. Siehe hierzu auch: Banham: Theorie und Gestaltung, S. 18 und S. 21. Treffen-

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Le Corbusier geht auch gleich daran, diesen so gewonnenen Geometrieapparat auf die Architektur anzuwenden. Er gibt Beispiele – historische und eigene –, die Verfahren der Maßregelung zeigen, darüber hinaus aber vor allem die Wichtigkeit einer geometrischen Fundierung des Bauens belegen. Dazu schreibt er: »Hier nun einige Maß-Regler, die dazu gedient haben, sehr schöne Dinge zu machen, und die der Grund sind, daß die Dinge sehr schön sind.«115 Die folgende Sammlung von Architekturbeispielen ist kurz und nicht systematisch. Wichtig erscheint im Zusammenhang mit der Entwicklung des Modulor vor allem das Verfahren, das er in einer Fotografie von Michelangelos Kapitol in Rom entdeckt. In der Modulorpublikation wird er darauf zurückkommen. Die Beschreibung der Entdeckung wird dort noch dramatischer dargestellt: »Plötzlich überkam ihn [Le Corbusier] die Gewißheit einer Wahrheit: der rechte Winkel waltet über der Komposition; geometrische Orte (Orte des rechten Winkels) beherrschen die ganze Komposition.«116 Der sachliche Gehalt dieser pathetischen Äußerung liegt darin, dass Le Corbusier neben Φ ein weiteres Verfahren der Formfindung gefun-

der sind vielleicht noch die Bezüge, die Neufert in der Bauentwurfslehre herstellt: »Die Anwendung der Maßverhältnisse bei Bauplanungen in neuerer Zeit geht auf August Thiersch zurück, der im ›Handbuch des Architekten‹ die ersten praktischen Beispiele einer Lehre der Maßverhältnisse gibt, die sich auf Analogien aufbaut. Sein Schüler Theodor Fischer hat dann die Untersuchungen über das ›Hüttengeheimnis‹ der Alten besonders gefördert und das Wesentliche veröffentlicht, ohne neue praktische Handhaben zu geben. Dagegen haben Le Corbusier und andere moderne Architekten die Verhältnislehre A. Thierschs in ihrer Praxis weitgehend angewandt.« Neufert: BEL 1936, S. 30 115 Le Corbusier: Ausblick, S. 67 116 Le Corbusier: Modulor, S. 26. Tatsächlich übernimmt Le Corbusier die Konstruktion von August von Thiersch: Proportionen in der Architektur (1898). Allerdings ist anzumerken, dass er dessen Verfahren zur Darstellung proportionaler Gleichheit in seiner Interpretation als »Orte des rechten Winkels« deutlich missversteht. Siehe auch zum Einfluss Thierschs auf Le Corbusiers Proportionssystem: Werner Oechslin: Le Corbusier und Deutschland. 1910/1911, in: Ders.: Moderne Entwerfen. Architektur und Kulturgeschichte, Köln 1999, S. 187; Winfried Nerdinger: Standard und Typ. Le Corbusier und Deutschland 1920-1927, in: Stanislaus von Moos (Hg.): L’Esprit Nouveau. Le Corbusier und die Industrie 1920-1925, Berlin 1987, S. 45

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den hat. Er beansprucht für dieses Verfahren in der architektonischen Komposition die gleiche Gültigkeit, die er auch dem Goldenen Schnitt beimisst, der für ihn das Erreichen natürlicher bzw. menschlicher Proportion sicherstellt. Doch ebenso wie die Analogie von Φ und anthropomorpher Formbildung bei Einhaltung wissenschaftlicher bzw. methodischer Mindeststandards nicht haltbar ist, erweist sich auch Le Corbusiers Entdeckung der »Orte des rechten Winkels« als sehr vage.

Abb. 96: Fotografie des Kapitols mit Einzeichnungen Le Corbusiers und Bauaufnahme des Kapitols mit Eintragung der geometrischen Unschärfe der angenommenen rechten Winkel

Für Le Corbusier sind seine Entdeckungen jedoch durchaus bedeutsam, rational und wahr. Die geometrischen Elemente der ersten von Le Corbusier präsentierten Konstruktion, die auf eben diesen Maßreglern aufbauen, sind bewusst gewählt. Allerdings ist diese Konstruktion, die er als überaus gewichtig vorstellt, nach den Regeln der Mathematik unmöglich.

Abb. 97: Zwei Quadrate und Quadratteilung nach Hanning

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Die Lösung des gestellten Problems, ein Quadrat innerhalb eines von zwei Quadraten gebildeten Rechtecks zu positionieren, ist dreifach überbestimmt. Die Idealposition des einzelnen Quadrats ist bereits durch die erste Operation, die Erzeugung eines Verhältnisses im Goldenen Schnitt, eindeutig festgelegt. Es folgt der Versuch einer zweiten Bestätigung dieser Positionierung: Der Zirkelschlag der Quadratdiagonalen soll Klarheit bringen und das Quadrat noch fester innerhalb des Rechtecks einbinden. Schließlich folgt die Überlagerung des Ganzen mit einem rechtwinkligen Dreieck, dessen 90°-Winkel in der Halbierenden des zu positionierenden Quadrats zum Liegen kommt, – womit alle Quadrate endgültig fixiert wären. Allerdings muss bereits der zweite Verifizierungsversuch als gescheitert gelten. Das gewünschte Ergebnis einer Gesamtlänge von zwei Quadratseitenlängen, d. h. die natürliche Zahl 2, kann durch die Addition der beiden irrationalen Werte ¥2 der Quadratdiagonalen und des Goldenen-Schnitt-Anteils von (¥5 - 1) /2 niemals erreicht werden.117 ¥2 + (¥ 5 - 1)/2 § 2,03 Daher zeigt Le Corbusier einen zweiten Lösungsvorschlag, diesmal von Elisa Maillard.

Abb. 98: Quadratteilung nach Elisa Maillard

Der wesentliche Unterschied zur Konstruktion Hannings liegt darin, dass eine Lagebestätigung mit Hilfe der Quadratdiagonalen entfällt. Maillard

117 Vgl. zu den Fehlern: Simon Nigsch: Der Modulor. Eine kritische Betrachtung, Diplomarbeit an der TU Graz, Institut für Architekturtheorie, Kunst und Kulturwissenschaften, Graz 2008, S. 33 ff.

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verbindet einfach nach der Konstruktion des Goldenen Schnittes den Endpunkt der so gewonnenen Längenausdehnung mit der Mittelteilung des Ausgangsquadrats zu einer Diagonalen. Deren Ergänzung um einen 90°-Winkel zu einem rechtwinkligen Dreieck ergibt die Gesamtlänge. Le Corbusier geht davon aus, dass diese Länge der Summe von zwei Quadratseiten entspricht. Auch diese Annahme ist falsch. eg = ¥5/2 fg = ¥(12 + (¥5/2)2 = 1,5 eg / fg = fg / ig 2 ig = fg2 / eg = (1,5 * 2)/¥5 § 2,012 Das umschreibende Rechteck hätte demnach nämlich ein Verhältnis von 1 : 2,012 bzw. die Ausgangsquadrate wären mit 1 : 1,006 gar keine Quadrate mehr. Le Corbusiers Auslegungen bezüglich dieser Differenzen sind höchst widersprüchlich. Zunächst scheint er deren Bedeutung nur bedingt zur Kenntnis zu nehmen. Sie sind ihm nur eine Fußnote wert. Am Ende des Buches wird er dann umso pathetischer formulieren: »Jedoch der Mathematiker fügt hinzu: [...] die eine ihrer Seiten ist um sechs Tausendstel größer als die andere Seite ... In der täglichen Praxis sind sechs Tausendstel eines Wertes das, was man eine quantité négligeable heißt, die nicht in Rechnung gestellt zu werden braucht; man sieht sie nicht mit den Augen. In der Philosophie jedoch (ich habe zwar zu dieser strengen Wissenschaft keinen Zutritt) spüre ich, daß diese SECHS TAUSENDSTEL von irgend etwas eine unendlich kostbare Bedeutung haben; die Sache ist nicht erledigt, man kann sie nicht zur Seite schieben; das Leben tritt auf, es besteht in der Wiederholung einer prophetischen Gleichheit, die ausgerechnet nicht genau gleich ist ...«118

Würde er selbst diese Worte ernst nehmen, müsste er damit die weitere Arbeit am Modulor aufgeben. Das tut Le Corbusier jedoch keinesfalls, sondern ignoriert fortan jegliche Widersprüchlichkeiten. Dabei hätte er an dieser Stelle auch die Möglichkeit gehabt, die schöne Idee des Modulor als einer Proportionsmaschine, die am Ende doch nicht funktioniert, weiterzuver-

118 Le Corbusier: Modulor, S. 235

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folgen. Danach wäre es nicht mehr notwendig gewesen, den universellen Anspruch auf Gültigkeit und Wahrheit weiter unerbittlich durchsetzen zu müssen. Die Möglichkeiten, die sich gerade im Nicht-Funktionieren auftun, verfolgt Le Corbusier nicht weiter. Vielmehr ignoriert er in der weiteren Arbeit jegliche Hinweise auf Widerständiges innerhalb seines Systems. So greift er auch die Anmerkung Hannings nicht auf, wie und an welcher Stelle der Ort des rechten Winkels richtig anzusetzen wäre. Er zitiert ihn zwar, jedoch bleibt die Korrektur Hannings folgenlos. Dabei gibt es nur eine Lösung, wie ein rechtwinkliges Dreieck innerhalb eines aus zwei Quadraten bestehenden Rechtecks aufgespannt werden kann, nämlich mit dem 90°Winkel exakt in der Mitte.

Abb. 99: Gérald Hanning, Quadratteilung (1944)

Hanning offenbart hier keine neuen mathematischen Erkenntnisse, sondern bewegt sich mit seinen Überlegungen in den simplen Anfangsgründen der Geometrie. Die Lösung für Le Corbusiers Problem, die sich aus diesen Überlegungen ergäbe, wäre ebenso einfach wie banal. Der Ort des rechten Winkels würde das Rechteck, das aus zwei Quadraten zusammengesetzt wurde, wieder in zwei Quadrate aufteilen. Die Operation mit dem rechtwinkligen Dreieck wäre somit im höchsten Grade überflüssig und würde sich als gänzlich bedeutungslos erweisen. Übrig bliebe die bloße Addition von Quadraten. Man erhielte letztendlich ein Gitter mit sehr einfachen Proportionsverhältnissen, nämlich 1 : 1 bzw. 1 zu seinen ganzzahligen Vielfachen oder sämtliche beliebige natürliche Zahlen im Verhältnis zueinander. Verhältnisse nach dem Goldenen Schnitt könnten so jedoch nicht erreicht werden. Die Folge wäre, dass Le Corbusier das Prinzip einer Teilung nach Φ aufgeben oder aber auf die Legitimation seiner Zeichnungen durch das

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Einsetzen von Orten des rechten Winkels verzichten müsste. Le Corbusier kann und will jedoch weder das eine noch das andere Verfahren aufgeben. Zu groß war die Mühe, sie beide als wahr und bedeutsam, quasi als proportionale Naturkonstanten zu etablieren. Er vereinfacht daher das System nicht, sondern versucht vielmehr durch eine weitere Komplexitätssteigerung, den eingeschlagenen Weg plausibel zu machen: Φ gibt die Position des eingesetzten Quadrats (abcd), die Dreieckeinschreibung die Position der Mittelhalbierenden (ef) dieses Quadrats. In einer nächsten Operation dient diese Linie (ef) als Spiegelachse der Mittelhalbierenden (kl) des Ausgangsrechtecks (ghij), wodurch man eine weitere horizontale Linie (mn) erhält.

Abb. 100: Drei Quadrate und Φ-Verhältnisse

Das Ergebnis dieser Operationen ist schließlich ein vielfältiges Geflecht von proportionalen Bezügen. Bei aller Komplexität ist das System letztendlich sehr einfach, da sich sämtliche Strecken im Verhältnis zueinander oder zum Ganzen durch Φ beschreiben lassen und sie sich immer wieder ganz selbstverständlich in die einfachen Grundfiguren von Quadrat und Rechteck einpassen.119 Das entspricht genau dem, was von einem System universeller Geltung zu verlangen wäre. Der Zusammenhang der Φ-Reihen einerseits und deren Integrationsfähigkeit in den modularen Aufbau zweier Quadrate

119 Le Corbusier geht in seiner Konstruktion stillschweigend davon aus, dass er es tatsächlich mit einem Rechteck der Abmessungen 1 : 2 zu tun hat. Die zwangsläufige Verzerrung, die eine Konstruktion mit Hilfe eines eingeschriebenen rechtwinkligen Dreiecks nach sich ziehen würde, ignoriert er. Würde er diesen Fehler berücksichtigen, wären alle seine Proportionsannahmen falsch.

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andererseits stellen dann auch die bestimmenden Eigenschaften dar, auf denen der Modulor aufbauen wird. Der Umstand, dass die mehr oder weniger zufälligen Teilungen nach dem Goldenen Schnitt immer wieder mit den Linien des Quadrats, der Quadratteilung und dem umschreibenden Rechteck zur Deckung kommen, erstaunt zunächst, insbesondere da das Verhältnis Φ nur durch eine nicht natürliche Zahl ausgedrückt werden kann, Quadrat und Rechteck aber durch die natürlichen Zahlen eins und zwei.

Abb. 101: Zwei Quadrate mit den Φ-Erzeugenden ¥5 und ¥5/2 Diagonalen

Le Corbusier selbst ist fasziniert. Die Erklärung, die er für dieses Phänomen anführt, ist dabei jedoch etwas missverständlich. Er zitiert eine Unterredung mit dem Dekan der wissenschaftlichen Fakultät der Sorbonne: »Vom Augenblick ab, da Sie [Le Corbusier] den rechten Winkel in den beiden Quadraten unterbringen konnten, haben Sie die Funktion ¥5 eingeführt und veranlassen auf diese Weise ein Aufblühen von Goldenen Schnitten.«120 Mit dem rechten Winkel, der in den Quadraten unterzubringen ist, kann nicht Le Corbusiers eingeschriebenes rechtwinkeliges Dreieck gemeint sein, da dieses keine Strecken oder Teillängen von ¥5 erzeugt. Sehr wohl steht jedoch die Diagonale des halben Ausgangsquadrats senkrecht zur Diagonale der zum Rechteck summierten Quadrate. Diese Diagonale hat tatsächlich den Wert ¥5. Die Operation mit dem 90°-Winkel zeigt, dass beide Rechtecke, das kleinere (1 : 1/2), das den ersten Goldenen Schnitt erzeugte, und das größere (1 : 2), in das die Gesamtkonstruktion eingeschrieben ist, gleich proportioniert sind. Überdies sind beide in ihren Diagonalen

120 Le Corbusier: Modulor, S. 43

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Φ-Erzeugende. Es handelt sich folglich um ein geschlossenes System, das lediglich seine inhärenten Funktionen reproduziert. Le Corbusier zeichnet die Konstruktion, die dies erklären würde, nicht. Doch trotz der fehlerhaften Herleitung hat Le Corbusier mit seinen Quadrat- und Rechteckteilungen eine Maschinerie in Gang gesetzt, die ihre Aufgabe, verbindliche formale Ordnung herzustellen, erfüllt.

Abb. 102: Ernst Neuferts Mensch im Oktametersystem und Le Corbusiers Mensch in drei Quadraten

Es bleiben nur noch zwei Dinge zu tun: Die so gewonnenen und als harmonisch angesehenen Verhältnisse müssen geordnet bzw. in ein System gebracht werden. Darüber hinaus ist die Konstruktion in Übereinstimmung mit dem menschlichen Körper zu bringen. Diese zweite Aufgabe, die darin besteht, die menschliche Gestalt mit der Geometrie in Deckung zu bringen, ist insofern einfach, als ihre Lösung im Grunde bereits doppelt in der Aufgabenstellung angelegt ist. Da Le Corbusier schon im ersten Konstruktionsschritt von zwei übereinander gestellten Quadraten ausgeht, deren Höhe der Spanne eines den Arm nach oben ausstreckenden Menschen entspricht, sind die Quadrate von vorneherein entsprechend dimensioniert. Ebenso bestimmend ist die gleichfalls bereits im Vorfeld getroffene Annahme, dass die Positionierung des dritten Quadrats mit Hilfe des Goldenen Schnittes erfolgen solle. Auch wenn die Gestalt des menschlichen Körpers tatsächlich keine signifikanten Übereinstimmungen mit Verhältnissen nach dem Goldenen Schnitt erkennen lässt, so dass man berechtigt von einem ursächlichen Zusammenhang zwischen den menschlichen Proportionen und Φ sprechen könnte, wird dennoch gerade dies behauptet. Im Zeitraum bis zum

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Erscheinen des Modulor konnte sich diese Idee einer wechselseitigen Entsprechung von Körper und Goldenem Schnitt so weit etablieren, dass sie sowohl der Allgemeinheit als auch dem Fachpublikum als gewiss galt. Die Vorstellung, innerhalb überkonventioneller Formungsgesetze ideale oder idealtypische Gestalt fassen zu können, ist überaus populär. Entsprechende Bilder, die die Analogie Körper-Goldener Schnitt zeigen, werden so gelesen, als gäbe es den vorgestellten Bildungszusammenhang tatsächlich. Auch Neuferts Grafik eines Mannes in Quadrat, Kreis und Dreieck gehört in diesen Zusammenhang, sie erscheint als Illustration eines nicht mehr hinterfragten Sachverhalts und trägt zu dessen weiterer Verbreitung bei. Solchermaßen vorbereitet, kann Le Corbusier seinen Menschen in drei Quadraten zeichnen. Die bereits fertige geometrische Konfiguration ist nur noch maßlich anzupassen. Le Corbusier geht dabei von einer Körpergröße von 1,75 m aus. Alle weiteren Maße ergeben sich in der vorgegebenen Geometrie automatisch. Dabei verschiebt sich die ursprünglich angenommene Gesamthöhe geringfügig von 2,20 m auf 2,164 m bzw. die Kantenlänge der Quadrate von 1,10 m auf 1,082 m. Die Größe von 1,75 m beschreibt einen angenommenen Durchschnitt, der sich auch schon bei Neuferts Standardmensch findet. Mit ausgestrecktem Arm misst die neufertsche Figur 2,17 m,121 womit sie ebenfalls sehr nahe bei dem entsprechenden von Le Corbusier angegebenen Wert liegt. Die Figur von Le Corbusier wird in ihren Maßen von Neufert bestätigt, vielleicht hat Le Corbusier die Vorlage Neuferts sogar direkt übernommen. Auf jeden Fall passt sich die corbusiersche Figur mühelos in die vorgestellte Geometrie ein 122 und man scheint in der Auffassung bestätigt, dass doch ein genuiner Zusammenhang zwischen dem menschlichen

121 Vgl. Neufert: BEL 1936, S. 24: Die Maßangabe von 2,25 m bezieht sich auf die Reichweite eines auf ausgestreckten Zehenspitzen stehenden Menschen. Die Addition der angegebenen Einzelmaße ergibt dagegen eine Gesamthöhe von 2,17 m. Dem entspricht das in der BOL, S. 34 abgebildete Schema des Menschen im Oktametersystem, insofern man die Spanne des seitlich ausgestreckten Arms am angegebenen Gelenkpunkt nach oben projiziert. 122 Zu beachten ist: Die Maßangaben Le Corbusiers sind auf der Millimeterstelle gerundet. Dadurch ergeben sich im Proportionsgefüge, betrachtet man nicht die exakte Geometrie, sondern die ihr zugewiesenen Zahlenwerte, bereits signifikante Abweichungen von Φ.

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Körper und Φ besteht. In einfach lesbarer Form wird behauptet, dass sich mit Hilfe des Goldenen Schnitts humane Verhältnisse herstellen lassen, und umgekehrt garantiert bereits die Anwesenheit von Φ den menschlichen Rahmen. Da Le Corbusiers Schema dieses analoge Verhältnis so gut bedient, scheint es sich beim Modulor somit tatsächlich um ein Maßsystem im menschlichen Maßstab zu handeln. Dabei fällt gar nicht auf, dass es im Grunde wenige Punkte sind, die wirklich eine wechselseitige Entsprechung erkennen lassen. Lediglich die Fingerspitzen des ausgestreckten Arms, der Scheitelpunkt des Kopfes und der Bauchnabel treffen mit Konstruktionslinien zusammen. Ansonsten gibt es keine Übereinstimmung zwischen anatomisch signifikanten Punkten und in der Geometrie angezeigten ΦVerhältnissen. Selbst die angegebenen Maße mit direktem Körperbezug stehen nur mittelbar in Bezug zum Goldenen Schnitt. Das Verhältnis von Körpergröße (1,75 m) zu Gesamtspanne (2,164 m) ist ungleich Φ. Die Körpermaße lassen sich jedoch in die Kette der Zahlenwerte, die der Geometrie eingeschrieben werden, integrieren. »Man wird bemerken, daß es sich um eine sogenannte Reihe Fibonacci handelt, in der die Summe zweier sich folgender Glieder das darauf folgende Glied ergibt.«123 Neben ihrer fortlaufenden Addierbarkeit nähern sich die Verhältnisse zweier aufeinander folgender Zahlenwerte mit zunehmender Größe kontinuierlich an Φ an. Le Corbusier listet folgende Reihe auf:

25,4 cm 41,45 66,8 108,2 175,0 283,2

Diese Reihe ließe sich beliebig gegen 0 bzw. ∞ fortsetzen, wobei es sich hier nicht – wie Le Corbusier behauptet – um eine echte Fibonaccireihe124 handelt. Le Corbusiers Reihe ist der Fibonaccireihe in ihren Eigenschaften lediglich ähnlich. Die Körpermaße 1,75 m und 1,082 m sind Teil der Reihe, wie auch der Wert 2,164 m als Summe der nicht aufeinander folgenden

123 Le Corbusier: Modulor, S. 44 124 Diese hat mit der Zahl 1 ihren definitiven Anfang, besteht ausschließlich aus natürlichen Zahlen und nähert sich im kontinuierlichen Verlauf an Φ an.

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Teilglieder 1,75 m + 0,4145 m zumindest mit ihr verknüpft ist. Die Betrachtung in Reihen erlaubt, das System nicht mehr nur geometrisch, sondern ab jetzt vorrangig arithmetisch zu betrachten. Le Corbusier hat sich derart einen begrenzten Satz von Zahlenwerten geschaffen, mit dem er operieren kann. Dieser Zahlensatz ist nur noch zu sortieren: Dabei fasst Le Corbusier die oben angeführten Zahlenwerte unter dem Begriff der roten Reihe zusammen und bezieht sie auf das Ausgangsmaß 1,082 m, die Kantenlänge des der ganzen Konstruktion zugrunde liegenden Quadrats. Durch Verkürzung bzw. Verlängerung um den vorhergehenden bzw. nachfolgenden Wert ergeben sich die weiteren Zahlenwerte der Reihe. Um auch das für Le Corbusier wichtige Maß der Körperspanne mit ausgestrecktem Arm systemimmanent erfassen zu können, baut er ausgehend von 2,164 m, der Kantenlänge des ursprünglichen Doppelquadrats, eine zweite Reihe auf, die er als blaue Reihe bezeichnet. Das so erhaltene System hat folgende Eigenschaften: •





Benachbarte Werte innerhalb einer Reihe nähern sich in ihrem Verhältnis zueinander Φ an. Die Addition zweier benachbarter Werte ergibt dabei den nächst höheren Wert, deren Subtraktion den nächst kleineren. Jedem Wert der roten Reihe entspricht ein verdoppelter Wert in der blauen Reihe bzw. erzeugt umgekehrt die Halbierung eines Wertes der blauen Reihe wiederum einen Wert der roten Reihe. Die Differenz zwischen beliebigen Zahlen der roten und blauen Reihe lässt sich durch in der roten Reihe enthaltene Zahlenwerte ausdrücken, weshalb systemfremde Zahlenwerte nicht mehr notwendig sind.

Nur, »das Unglück wollte, daß fast alle diese metrischen Bezifferungen sich in die Zählung Fuß-Zoll nicht übertragen ließen. Nun wird aber der ›Modulor‹ eines Tages den Anspruch erheben, in allen Ländern die Erzeugnisse zu vereinheitlichen. Es war daher notwendig, ganz andere Werte in FußZoll zu suchen.«125 Der darauf folgende zweite Dimensionierungsversuch, der dann auch zu den endgültigen Maßen des Modulor führt, geht entsprechend von einer Körpergröße von 6 Fuß aus. Die dadurch bewirkten Verschiebungen führen im gesamten System zu Maßen, die sich innerhalb geringfügiger Rundungen sowohl in Metern als auch in feet/inch-Werten be-

125 Le Corbusier: Modulor, S.56

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schreiben lassen.126 Die besagten 6 Fuß (6 x 30,48 cm = 182,88 cm) werden mit 1,83 m angegeben. Ausgangsmaß der roten Reihe ist 1,13 m, Ausgangsmaß der blauen Reihe ist 2,26 m.

Abb. 103: Le Corbusier, rote und blaue Reihe (Modulor, 1949)

Diese Zahlenreihen ermöglichen, die unendliche Zahl möglicher und beliebiger Werte zur Bemessung von Architektur auf einen begrenzten Satz einzuschränken.

Abb. 104: Le Corbusier, Interaktion von Körper und Modulormaßen (Modulor, 1949)

Die Zahlenwerte, die man auf diese Art und Weise erhält, sind nicht beliebig, sie unterliegen einer Gesetzmäßigkeit. Diese ist einfach: Alle Werte

126 Mit »geringfügig« sind hier Rundungen im Bereich der ersten Kommastelle gemeint. Von einer exakten Umrechnung Meter – feet/inch kann nach wie vor keine Rede sein.

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lassen sich durch simple Addition bereits bekannter, immer wiederkehrender Maße gewinnen, wobei das System trotzdem in seiner proportionalen Verschränkung erstaunlich variationsreich ist und alle Werte im wechselseitigen Verweis von menschlichem Körper und Goldenem Schnitt bedeutsam erscheinen. Auch wenn insgesamt nur drei Punkte – an Kopf, Fingerspitzen und Bauchnabel – einen direkten Bezug zwischen Maßreihen und Körper erkennen lassen, findet Le Corbusier indirekt – in der Benutzung – Werte und Maße, »die mit der menschlichen Gestalt in charakteristischer Weise zusammenhängen.«127

Abb. 105: Maße der roten und blauen Reihe und Neuferts Oktameterraster

Einzulösen wäre nun noch das Versprechen von Effizienz. Schließlich war der Modulor angekündigt als Instrument der Versöhnung anthropomorpher Maßbefindlichkeit mit den Bedürfnissen industriell-serieller Produktion, die es im Bauwesen einzuführen galt. Nicht zuletzt ging es bei dem Zurechtrücken der Verschiedenheit menschlicher Körper in einem mathematisch legalisierten Idealbild darum, die Maßgrundlage eines umfassenden Standardisierungsprojekts zu finden. In der Anwendung der Methoden industrialisierten Bauens sind die Moduloreinheiten die Modulgrößen einer angestrebten normierten Fertigung. Ziel ist dabei eine möglichst kleine Anzahl verwendeter Teile, die jedoch eine größtmögliche Kombinierbarkeit zulassen. Gleichzeitig sichert die Konsistenz des Maßsystems die Passfähigkeit der Einzelteile innerhalb des zusammengesetzten Ganzen. Neuferts Oktametersystem erfüllt diese Anforderungen auf sehr einfache Weise. Als Vielfache des Grundmoduls 1/8 m lassen sich beliebige Figurationen bilden,

127 Le Corbusier: Modulor, S. 65

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die sich dabei immer in ein gleichförmiges Raster einfügen lassen. Mit Le Corbusiers Modulor verhält es sich dagegen komplizierter: »Er stellt als stetig wachsende Folge von Meßwerten kein gemeinsames Maß als Ausgangspunkt proportionaler Gestaltung dar, sondern bereits eine Proportionierungsmethode. Ein nach dem Modulor gezeichnetes Raster ist kein gleichförmiges Netz, sondern eine gerichtete, dynamische Struktur.«128 Betrachtet man das Gesamtsystem, die rote und blaue Reihe gemeinsam, zeigt sich die Struktur nicht nur als dynamisch, sondern darüber hinaus als diskontinuierlich.

Abb. 106: Le Corbusier, proportionale Flächenelemente (Modulor, 1949)

Die proportionalen Einheiten, die sich im Feld des Modulor finden, lassen sich in zusammenhängende und geschlossene Flächenelemente zusammenschließen, ganz in Übereinstimmung mit dem Postulat seriell-modularer Formerzeugung, was Le Corbusier auch zeigt. Dass dabei nicht alle Teile untereinander kombinierbar sind, zeigt Le Corbusier dagegen nicht. Sein System ist nicht immer und vor allem nicht automatisch stimmig. Die Passfähigkeit der Teile muss jeweils überprüft werden und es bedarf einer Auswahl sowie einer proportionalen Abstimmung, wodurch der formelle und produktive Automatismus eines Durand oder Neufert unterlaufen wird. Le Corbusiers System ist sehr schön, aber auch – und gerade hier – im Sinne einer effizienten Verwertung widerständig. Dennoch, Le Corbusier ist zufrieden: »Die Erläuterung des ›Modulor‹ in den Hauptpunkten ist geschehen. Der ›Modulor‹ betreut die Längen, Flächen und Körper. Er legt überall den menschlichen Maßstab an, bietet eine unbegrenzte Zahl von Kombina-

128 Naredi-Rainer: Architektur und Harmonie, S. 133

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tionen, sichert die Einheit in der Verschiedenheit, bedeutet eine unschätzbare Wohltat, ein Zahlenwunder.«129 Und er beschließt den ersten Band des Modulor mit einer wahrhaft vitruvianischen Figur

Abb. 107: Le Corbusier, Mensch in Quadrat, Kreis und rechtem Winkel (Modulor 1949)

und den Worten: »Diese Skizze schließt die Studien über den ›Modulor‹ durch die Bestätigung der Ausgangshypothese ab. Und noch dies: HIER spielen die GÖTTER! ich schaue zu und halte mich weislich außerhalb dieses Lustgartens!« 130

129 Le Corbusier, Modulor, S. 92 130 Ebd., S. 238

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3.4 Peter Eisenman. Das Spiel mit der Ordnung In den in den letzten beiden Kapiteln gezeigten Versuchen einer funktionalen wie anthropomorph-geometrischen Legitimation verbindlicher Ordnung gibt sich Le Corbusier Mühe, jeweils Systeme von großer Geschlossenheit zu entwerfen. Auch wenn das von der Maison Dom-ino ausgehende Raster und die Maßregelungen des Modulor formell ganz verschieden arbeiten, sind doch beides Beispiele formaler Regelsätze, die ein Übereinstimmen von Form und Bedeutung – immer auf der Basis von Einfachheit, Schlüssigkeit und Verständlichkeit – gewährleisten sollen. Zumindest will Le Corbusier das glauben machen. Es scheint ihm wichtig zu sein, deutlich zu machen, dass er selbst davon überzeugt ist. Dabei könnte, wie zu zeigen versucht wurde, die eigentliche Leistung Le Corbusiers in der Überschreitung seiner selbst aufgestellten Ordnungsverpflichtungen liegen. Werden doch die theoretischen Anweisungen, die über alle Widersprüche hinweg Konsistenz propagieren und ein Fortbestehen gesicherter Arbeitsgrundlagen behaupten, im architektonischen Tun konterkariert. Le Corbusiers Welt ist keinesfalls mehr einfach, übersichtlich und widerspruchsfrei erklärbar. Die formale Analyse hat gezeigt, dass er dem auch Rechnung trägt: Seine Architektur nimmt den kritischen Dialog mit Objektivität beanspruchenden formalen Systemen auf. Wichtig ist auch, dass, auch wenn die Gültigkeit der von ihm aufgestellten formalen Systeme nicht aufrechterhalten werden kann, diese Systeme immer noch nicht überflüssig sind, wie man nun annehmen könnte. Ohne ihr regulatives Gegenüber würde die architektonische Gestaltproduktion ins Leere laufen bzw. wäre die formale Anordnung, die Form selbst, ohne jegliche Beurteilungskriterien als Arbeitshypothese beliebig. Erst im Spannungsfeld von Regelkonformität und Regelübertretung wird so etwas wie die Möglichkeit von Kritik innerhalb der formalen Ausdrucksmöglichkeiten von Architektur sichtbar bzw. – in der weiteren Folge – lesbar. Damit verschiebt sich die Fragestellung: Nicht länger geht es um das Aufzeigen des prekären Verhältnisses von Form- und Bedeutungskonstruktion. Vielmehr werden nunmehr die Möglichkeiten ausgelotet, die sich im Diskrepanten ergeben. Im letzten Teil dieser Arbeit zu Bedeutung, Sein und Gebrauch formaler Ordnungssysteme soll noch ein grundsätzlich anderer Ansatz aufgegriffen werden. Bei diesem Ansatz geht es nicht mehr um die Findung bzw. Erfindung möglichst konsistenter Sys-

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teme, sondern – ganz im Gegenteil – um ein Operieren mit Widerspruch und der Unmöglichkeit, verbindliche Modelle überhaupt als gültig zu betrachten. Die Position des Architekturschaffenden – bzw. des Architekturmachenden – als Autor eindeutiger und bedeutsamer Form bleibt dabei nicht unbeschadet. Peter Eisenman, dessen Bemühungen um architektonische Form zum Abschluss dieser Untersuchung betrachtet werden sollen, liest das Spiel mit formalen Ordnungen in ganz anderer Weise. Behauptet wird dabei eine nun tatsächlich moderne Architekturkonzeption, ein angemessenes Agieren innerhalb der condition moderne. Vor der Frage, wie diese Konzeption dann tatsächlich aussehen könne bzw. zu bewerkstelligen sei, soll an dieser Stelle jedoch erst noch der Perspektivwechsel, den eine Standortbestimmung innerhalb der Moderne erzwingt und den auch Eisenman vornimmt, dargestellt werden. Moderne wird hier nicht verstanden als stilistisches Phänomen, dem man sich nach Belieben anschließen kann, sondern als Beschreibung eines neuen Verhältnisses des Menschen zu den ihn umgebenden Dingen. Ein Blick zurück auf das Davor soll diesen Wandel verdeutlichen: In vormodernen – Eisenman spricht von humanistischen – Konstruktionen von Welt war die Stellung des Menschen noch eine zentrale. Die Verhältnisse dieser vormodernen Welt sind geprägt durch die unversehrte Einheit von Ort, Zeit, Geschichte und Gestaltung, wobei der Mensch ganz selbstverständlicher Teil des Ganzen ist. Ziel ist immer die Einheit, möglichst auf der Ebene des Einfachen, des Begreifbaren. Der Mensch versteht sich selbst als ein handlungsfähiges und handelndes Subjekt inmitten einer ihm verständlichen, von ihm erklärbaren, von seinem Handeln abhängigen und damit ihm zugehörigen Objektwelt. Diese Darstellung ist natürlich grob vereinfacht. Die Sicherheit, mit der sich innerhalb eines derart konsistenten Systems agieren lässt, beruht jedoch nicht unwesentlich auf der Annahme eines verbindlichen Geordnetseins: Die Welt ist eine geordnete. Für Architekturproduzierende bedeutet das, dass sie in der Reproduktion dieser Ordnung mittels der Form bedeutsame, gültige und wahre Aussagen treffen können, indem sie sich an gültige Regelsätze halten. Es steht ihnen eine Sprache zur Verfügung, innerhalb der sie als Autoren wirksam werden können. Auf einer derart privilegierten Stellung des Autors, der mit entsprechenden Verfügungsgewalten über das zugrundeliegende Regelsystem ausgestattet ist, gründet die humanistisch motivierte Tradition der Architektur. Voraussetzung ist ein vorausliegender Sinn, gegründet auf einen göttli-

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chen Plan, zumindest eine absichtsvolle Schöpfung, wie sie sich in der Struktur des Kosmos offenbart. Die profanisierte Variante wäre der Ersatz eines Schöpfers durch die Natur selbst. Zu entschlüsseln und zu befolgen wäre dann die natürliche Ordnung der Dinge. Schließlich ist – als letztes sinnstiftendes Universalmodell – die Verpflichtung auf die Funktion innerhalb einer der Effizienz und Brauchbarkeit verpflichteten Ordnung zu nennen. Angestrebt ist immer, innerhalb eines Systems sowohl den Bedeutungsgehalt wie auch die formelle Ausgestaltung von Architektur möglichst widerspruchsfrei erklären zu können. Eisenman verkehrt das in sein Gegenteil. Spätestens mit der Moderne kann die Welt nach den Zumutungen der Aufklärung, den Ausdifferenzierungen eines modernen Wissenschaftsbegriffs sowie den Folgen der industriellen Revolution mitnichten mehr als einfach, verständlich und in Ordnung verstanden werden. »Die Systeme, in denen die Existenz des Menschen situiert ist: Natur, Arbeit und Sprache, etablieren sich in einer dem Subjekt entgleitenden und nicht transparenten Unverfügbarkeit, die die Rede vom Subjekt, vom Menschen als problematisch erweist.« 131 Das humanistische Paradigma, das dem vernunftbegabten, denkenden Individuum das Vorrecht einräumt, Welt zu deuten und darin sich seines eigenen Status selbst zu vergewissern, gehört demnach der Vergangenheit an und muss durch ein anti-humanistisches132 ersetzt werden. Damit kehrt sich die Blickrichtung um. Im Zentrum des Interesses steht fortan nicht mehr das Subjekt. Die Aufmerksamkeit des Architekturproduzierenden muss sich den Objekten selbst zuwenden. Das bedeutet, die Dinge bestehen nunmehr auch unabhängig von einem Betrachter, der folglich auch nicht mehr der privilegierte Erklärer von Welt ist: Die Formen der Dinge, deren Inhalte und die Bedeutungen, die man ihnen zuschreiben will, gehen getrennte Wege. Die Konsequenzen, die sich ergeben, wenn diese Forderungen ernst genommen würden, führen zu einer Architektur, die sich ihrer eigenen Existenz unter den Bedingungen der Moderne bewusst ist und diese Existenz auch zum Thema macht. Wirklich modern ist folglich nur die Architektur zu nennen,

131 Ullrich Schwarz: Another look - anOther gaze. Zur Architekturtheorie Peter Eisenmans, in: Eisenman: Aura und Exzeß, S. 16 132 Vgl. Peter Eisenman: Postfunktionalismus (1976), in: Ders.: Aura und Exzeß, S. 39 ff. Siehe zum letzten Absatz auch: Peter Eisenman: Das Ende des Klassischen. Das Ende des Anfangs, das Ende des Ziels (1984), in: Ebd., S. 65 ff.

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die die Unverfügbarkeit der Objekte, der Ordnungen und Bedeutungen gegenüber einem in seinem Subjektstatus verunsicherten Autor anerkennt und einen möglichen Umgang mit diesem Problem tatsächlich sucht. Die Strategie, sich mit einer Architektur auseinanderzusetzen, die – wie behauptet wird – unabhängig von einem autorialen Subjekt besteht, liegt zunächst in deren formaler Analyse, im Lesen dieser Architektur. Eisenman interessieren die inhärenten Bezüge, Abhängigkeiten und syntaktischen Regelsätze, in denen die Architektur über die Bedingungen ihres formalen Seins selbst erzählt. In dem Moment, in dem Begründungsmodelle humanistischer Sinngebung oder Nutzungsverwertungen ausgeblendet werden und die Architektur von der Vorstellung gelöst wird, »etwas vom Menschen Erdachtes, das ihn und seine Bedingungen verkörpert«,133 zu sein, können die Objekte über sich selbst Auskunft geben. Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, dass ein solchermaßen gewandeltes Erkenntnisinteresse auch mit Verlusterfahrungen verbunden ist. Die Idee der Konsistenz, die Überzeugung, mit der Sprache der Architektur substanziell bedeutsame Aussagen treffen zu können, die eine Ideenwelt zeigen, die über die Inhalte der Architektur selbst hinausgeht, ist aufgegeben. Das ist schmerzhaft. Die Bedeutungshaftigkeit von Architektur kann nicht mehr »als etwas der Architektur von außen Zukommendes angesehen« werden, »als Vorstellung, welche die Architektur auf den Menschen bezieht«, sondern als »der Architektur selbst innewohnende Idee, die sich aus der Architektur selbst erklärt.«134 Das architektonische Objekt offenbart nur mehr »seine eigenen Seinsvoraussetzungen und seine Entstehungsweise.«135 Wie eine nur auf sich selbst bezogene und aus sich heraus entwickelte Architektur konkret vorzustellen sei und warum es sich dabei um eine nach seinen Vorstellungen tatsächlich moderne Konzeption handelt, lässt sich gut anhand von Eisenmans Ausführungen in »Aspekte der Moderne: Die Maison Dom-ino und das selbstreferentielle Zeichen« zeigen. Entgegen Le Corbusiers eigener Beschreibung der Maison Dom-ino als funktionalistisches Bausystem, das dazu dienen soll, auf möglichst effekti-

133 Peter Eisenman: Aspekte der Moderne. Die Maison Dom-ino und das selbstreferentielle Zeichen (1979), in: Ders.: Aura und Exzeß, S. 48 134 Ebd., S. 48 ff. Die Argumentation, die Eisenman gegen die Auffassung Rowes anführt, wird hier als Zielvorstellung ins Positive gewendet wörtlich zitiert. 135 Ebd., S. 46

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ve Art und Weise Gebäude zu errichten, sieht Eisenman darin mehr und anderes. Natürlich kennt auch er den konstruktiven Hintergrund, die Begeisterung der Avantgarde für die Technisierung des Bauens, für Massenproduktion, Serialität und Standardisierung. Aber er erkennt diese Themen nicht als ausreichend an, um die formelle Konfiguration der Maison Domino erklären zu können. Deren Bedeutung als Muster einer modernen Raumkonzeption liegt für Eisenman nicht in der konstruktiven Präzision, die paradigmatisch – in ihrer Trennung von tragenden Elementen (Stützen und Platten) und Raum bildenden Bauteilen (freien Fassaden und Trennwänden) – den so genannten freien Grundriss vorstellt. Um eine konstruktive Beschreibung geht es Eisenman nicht, auch wenn er zunächst feststellt, »daß die Stützen und Platten und ihre Positionierung etwas mit ihrer Tragfunktion zu tun haben – vermutlich auch mit der primitiven Absicht, Schutz, Umschließung und Unterteilung zu bieten, aber grundsätzlich sollen sie die Gesetze der Statik und Physik beachten.«136 Hier wird exakt das beschrieben, worauf Le Corbusier in seinen Zeichnungen zum System Dom-ino Wert legt, bei denen es sich um richtige Pläne handelt, kanonisch ausgeführt in Grundriss, Ansicht und Schnitt. Diese Zeichnungen können als Bauanweisungen gelesen werden. Die abgebildeten Elemente ließen sich nach diesen Zeichnungen im Fertigteilwerk herstellen und korrekt auf der Baustelle zusammensetzen. In weiteren Zeichnungen zeigt Le Corbusier dann, wie das Schema Dom-ino zu fertigen Häusern ausgebaut, mit diversen Raumprogrammen überlagert und in städtebaulichen Konfigurationen wirksam werden könnte. Der Inhalt all dieser Zeichnungen betrifft Aussagen technischer Natur. Verhandelt wird ein Konstruktionssystem, das in seiner Herstellung effizient und dabei weitgehend offen für vielfältige Funktionsbelegungen ist. Letztlich geht es dabei um ein optimiertes Verhältnis von Aufwand und Nutzen. Die bestimmenden Kriterien, nach denen die Konstruktion beurteilt wird, sind Wirtschaftlichkeit und Funktionalität – also Forderungen, die von außerhalb an die Architektur gestellt werden. Dem gegenüber will Eisenman nun das finden, was – vor dem für einen möglichen Nutzer Nützlichen, d. h. vor jeder Nutzungsverwertung des Bauwerks – bereits in der Architektur selbst liegt. Um dem näher zu kommen, lässt Eisenman sämtliche Planzeichnungen außen vor und konzentriert sich ganz auf die eine berühmte Perspektivzeichnung, die das Prinzip Dom-

136 Ebd., S. 53

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ino so schön illustriert. Diese Perspektive ist in ihrer Darstellung viel offener als die Planzeichnungen. Um sie von diesen zu unterscheiden, spricht Eisenman von ihr als Diagramm. Er schreibt, sie sei »kein gezeichneter Plan oder etwas, das wie ein Gegenstand aussieht oder ihn repräsentiert; es ist eine Bedingung der Möglichkeiten, eine Schablone der Interpretation.«137 Was wir in der Perspektive dargestellt sehen, sieht immer noch wie ein konkretes Bauwerk aus. Was Eisenman mit Diagramm138 meint, wird in der Serie von Axonometrien deutlich, die seine Analyse begleiten. In diesen kann er nun tatsächlich die – wie er behauptet – der Architektur latent eingeschriebene und ihrer Realisation vorausliegende Struktur enthüllen. Er nähert sich darin dem an, was er die Interiorität der Architektur nennt.

Abb. 108: Maison Dom-ino und Betrachter

Interessant ist der Wechsel des Darstellungsmodus: Bei der Zeichnung Le Corbusiers, die Eisenman als Diagramm bezeichnet, handelt es sich um eine perspektivische Projektion. Die Objektkanten, die wir als parallel annehmen, streben auf gemeinsame Fluchtpunkte zu, womit sich der genaue Ort eines privilegierten Betrachters ausmachen lässt. Das wiederum zeigt, dass das diagrammatische Objekt tatsächlich nicht für sich steht, sondern nach wie vor von einem wahrnehmenden Subjekt abhängig ist. Weiterhin gibt es eine Darstellung von Licht und Schatten.139 Es lässt sich somit ne-

137 Peter Eisenman: Das Diagramm als Raum der Differenz: Die MAK-Ausstellung, in: Ders., Barfuss auf weiss glühenden Mauern, Peter Noever (Hg.), Ostfildern-Ruit 2004, S. 18 138 Vgl. zu Gebrauch und Bedeutung des Diagramms: Peter Eisenman: Diagram. An original scene of writing, in: Ders.: Diagram Diaries, London 1999 139 Vgl. Le Corbusier, Œuvre complète, Band 1, S. 23. Im Gegensatz dazu verwendet Eisenman bereits in seiner Dissertation von 1963 eine Umzeichnung der Maison-Dom-ino-Perspektive zur reinen Strichgrafik, in der sämtliche In-

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ben einer bestimmten Wahrnehmungssituation auch ein Wahrnehmungszeitpunkt beschreiben. Eisenman geht auf diesen Aspekt nicht ein. In der Diagrammserie, die er aus der Perspektive entwickelt, ist dann allerdings in der winkel- und längengerechten Darstellung der Subjektpart eines nicht mehr notwendigen Betrachters ebenso getilgt, wie in der nüchternanalytischen Strichgrafik alle Anhaltspunkte zu Zeit und Ort.

Abb. 109: Peter Eisenman, Diagramme zur Maison Dom-ino

Die Diagramme beschreiben mögliche formale Lösungen, – die jeweils in der Maison Dom-ino realisierten Lösungen und als Referenz alternative andere. Die Analyse setzt elementar an. Das Ganze wird in seine formell eigenständig wirksamen Teile – Platten, Stützen, Fundamentblöcke und Treppen – aufgeschlüsselt. Diese Teile werden jeweils sowohl für sich als auch in ihrer Anordnung zueinander auf ihren inneren Zusammenhang hin befragt. Man sieht in den Diagrammen Geometrien. Jedoch sind die gewählten Figurationen in Abgrenzung zur Geometrie an sich, die unendlich viele Möglichkeiten der Form und Formbeziehungen zulässt, nicht beliebig. Das erste Element, das Eisenman untersucht, um diese Nicht-Beliebigkeit nachzuweisen, ist die Bodenplatte. Ihre Geometrie ist die eines sehr flachen Quaders. Vorausgesetzt man beschränkt sich auf Rechtwinkligkeit, gibt es nur zwei Möglichkeiten der Formgebung: Das Verhältnis der Seitenlängen

formationen zu Licht und Schatten getilgt sind. Vgl. Peter Eisenman: Die formale Grundlegung der modernen Architektur, Werner Oechslin (Hg.), Berlin/Zürich 2005, S. 117, Abb. 22

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ist entweder gleich oder ungleich, AA oder AB. Mit der einen oder der anderen Entscheidung ist bereits eine formale Aussage getroffen, denn gleiche Längen lassen sich als verschieden zu ungleichen und ungleiche als verschieden untereinander erkennen. Indem die Abmessungen so »in irgendeiner Weise als unterschieden ausgewiesen [sind], kann diese Markierung als Zeichen angesehen werden.«140 Diese Markierung ist jedoch noch nicht sehr deutlich. Die Beschreibung durch ein AB-Verhältnis teilt die Bodenplatte immerhin mit allen rechtwinkligen Flächen, die nicht quadratisch sind. Auch ist noch nicht geklärt, ob die Entscheidung für die gewählte Figuration absichtlich erfolgt ist. Bei der Betrachtung des nächsten die Maison Dom-ino konstituierenden Elements, der Stütze und deren Stellung, ergeben sich für Eisenman ebenfalls verschiedene Möglichkeiten differenter Platzierung. Die Stützen können vor die Platte, bündig mit der Platte oder auf Abstand zur Plattenkante gesetzt werden. Tatsächlich stehen die Stützen bei der Maison Dom-ino eingerückt vom Plattenrand, – und zwar nicht gleichmäßig im Abstand AA zu Quer- und Längskante, sondern wiederum in einem AB-Verhältnis. Der Abstand zur kürzeren Seite ist gering, der zur längeren jedoch deutlich. Eisenman zeigt, dass ein umgekehrtes ABVerhältnis mit einem Annähern an die Längsseite und einer größeren Distanz zur Schmalseite ebenso möglich gewesen wäre, – mit dem Ergebnis, dass die Längenausdehnung der Bodenplatte in ihrem AB-Verhältnis durch die Stellung der Stützen gebremst worden wäre. Die formale Aussage der Stützenstellung stünde dann allerdings im Widerspruch zur Aussage des AB-Verhältnisses der Bodenplatte. Tatsächlich stehen die Stützen im Diagramm der Maison Dom-ino so, dass sie in ihrem Einrücken von den Längsseiten die Unterschiedlichkeit der Seite A zur Seite B betonen. Konstruktiv, funktional oder geometrisch wären beide beschriebenen – und darüber hinaus andere – Möglichkeiten der Stützenpositionierung sinnvoll und gleichermaßen praktikabel gewesen. Wenn aber behauptet wird, dass Kriterien der Konstruktion, der Funktion oder Geometrie alleine nicht ausreichend sind zu erklären, warum gerade die eine Lösung und nicht eine andere gewählt wurde, kann – unter der Voraussetzung, dass die Anordnung nicht zufällig, sondern vorsätzlich ist – vielleicht ein Blick auf die in der Konfiguration selbst angelegten Markierungen weiterhelfen. Eisenman argumentiert folgendermaßen: Zunächst gibt es eine Platte, die sich geomet-

140 Eisenman: Aspekte der Moderne, S. 54

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risch beschreiben lässt. Neben der Parallelität der Kanten ist sie über das Verhältnis der Seitenlängen bestimmt. Darüber hinaus sind in der vorliegenden Geometrie bereits Eigenschaften eingeschrieben: Indem die Seiten deutlich unterschiedlich sind, ist die Platte gerichtet, es gibt eine Tendenz zur Ausdehnung in Längsrichtung. Diese Richtungseinschreibung wird von den nachfolgenden Elementen, den Stützen, aufgenommen. Das bedeutet, die Stellung der Stützen wiederholt eine Aussage, die bereits in den Seitenverhältnissen der Platte angelegt war. Eisenman spricht hierbei von Redundanz: »Wenn somit die Platzierung der Säulen zur Unterstützung des vorliegenden geometrischen Verhältnisses AB dient, welches jedoch selber so offensichtlich ist, daß es dieser Verdeutlichung nicht bedarf, so kann das als ein absichtlicher Hinweis gewertet werden, als eine bedeutungstragende Redundanz.«141 Über ihre Überflüssigkeit hinaus kann die redundante Markierung in der Absicht gelesen werden, die Ausgangsgeometrie über ihr bloßes »faktische[s] Vorhandensein«142 hinauszuheben. Das bedeutet, dass die formale Ausführung im Hinweis auf strukturelle Zusammenhänge nicht beliebig ist. Man könnte von syntaktischen Abhängigkeiten einer zugrundeliegenden formalen Struktur sprechen. Indem sich diese sichtbar macht, wird sie lesbar. Für das Beispiel von Bodenplatte und Stützenstellung bedeutet das, dass erst die Markierung der Stützen das Gerichtetsein der Platte als Ausdehnung kenntlich macht.

Abb. 110: Ausdehnung und Nichtausdehnung der Maison Dom-ino

Die Analyse lässt sich fortsetzen: Neben der Positionierung der Stützen im Verhältnis zu den Plattenkanten ist ebenso die Stellung der Stützen zueinander bestimmt bzw. bestimmend: Der Abstand zwischen den Stützen ist

141 Ebd., S. 57 142 Ebd.

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gleich, sie bilden ein AA-Gitter und alle Stützen sind gleich, wobei ihre Grundfläche quadratisch ist. Ihrer Struktur nach könnten – und wollten – sie sich kontinuierlich nach allen Richtungen ausdehnen, sie formulieren quasi das Thema Ausdehnung. Gleichsam als Antithese wird dieses Ausdehnen jedoch abgeblockt, da bereits die Plattengeometrie und insbesondere die Einrückungen der Stützen ein Ausrichten des zunächst ungerichteten Stützenrasters bewirken. »Die langen Seiten sind fertig und werden nicht mehr verlängert werden.« Die Querseiten dagegen wirken wie abgeschnitten, für Eisenman ein Hinweis auf »die Möglichkeit, oder den vormaligen Zustand, einer horizontalen Verlängerung.«143

Abb. 111: Mögliche Gebäudeausdehnungen des Systems Maison Dom-ino

Die Geometrie und deren Markierungen lassen sich als eine Erzählung lesen, die vom formellen Eigensinn des architektonischen Gebildes handelt. Folgerichtig nehmen die weiteren Elemente, die Fundamentblöcke und Treppen, die angenommenen inhärenten Regelsätze auf und schreiben im gegenseitigen Verweis sowie der Wiederholung in formalen Bestätigungen und Bezugnahmen die Erzählung fort. Dabei bleiben Objekt und Erzählung in ihrem Selbstbezug selbstreferentiell: »Das wäre dann ein schlichtes, jedoch im Kern wirklich modernes Phänomen, welches von seiner bloßen Existenz und den Bedingungen seines Existierens spricht.«144 Interessant ist

143 Ebd., S. 58 144 Ebd., S. 57

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dabei, dass Le Corbusier in seiner funktionalen Beschreibung der Maison Dom-ino zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt, wie Eisenman in seiner formalen. Wohl nicht zufällig bewirkt das Zusammenspiel von Plattengeometrie, Positionierung der Säulen und deren Gitteranordnung die Gebäudefortschreibungen und städtebaulichen Anordnungen, die Le Corbusier vorführt. Die Indizien verdichten sich, dass innerhalb der Maison Dom-ino ein syntaktisches System wirkt, das als verbindlich anzusehen ist. Die Aufgabe Le Corbusiers als Architekt habe demnach lediglich darin bestanden, die der Maison Dom-ino bereits inhärenten formalen Bezüge, Absichten und Betonungen in ihrer baulichen Materialisierung weiterzuschreiben. Bereits in Eisenmans Dissertation »The Formal Basis of Modern Architecture« von 1963 finden sich Tendenzen, Architektur als überindividuelles, inhärenten Regelsätzen folgendes System jenseits subjektiver Wahl und Befindlichkeit zu beschreiben. Dabei unternimmt Eisenman den Versuch, das implizit vorhandene architektonische Vokabular sowie dessen Grammatik und Syntax explizit zu machen.145 In deren Analyse ließe sich dann – analog zu einem Sprachsystem – eine architektonische Form konstituierende Struktur – Eisenman spricht von formalen Grundlegungen – herauslesen. Die so gewonnene Betrachtung von Architektur quasi als formale Sprache erlaubt es, jenseits metaphysisch motivierter Bedeutungsaufladung des Formalen, wie sie sich in tradierten Regelsätzen findet, zu belastbaren Aussagen zu kommen, ohne dass Probleme von Form und Bedeutung in der Konsequenz eines funktional-utilitaristischen bzw. ökonomischen Argumentierens als relevante Kategorie der Architektur gänzlich aufgegeben werden müssen. Architektur gewinnt so ihre Stellung als autonome Disziplin zurück: Befreit von Programm, sozialer und historischer Bindung, den nun grundsätzlich zeitlosen Blick auf die formale Natur der Architektursprache gerichtet, »nähert man sich so unbeschwert den Universalien und fasst sie, um jeglicher Gefahr von Statik zu entfliehen, als flüssige Sprache. [...] Und die Elemente dieser (spezifisch architektonischen) Formensprache werden – wie eh und jeh und universal gültig – durch die euklidische Geometrie gebildet, die sich ja – später – beliebig variieren und notfalls erweitern lässt.«146

145 Vgl. Eisenman: Grundlegung, S. 70 146 Werner Oechslin: Gegen die »emphasis of history«: klassisch!, in: Ebd., S. 43 f.

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Eisenman unterscheidet in seiner Dissertation zwei grundsätzliche Kategorien von Form: »generisch« und »spezifisch«. Während die spezifische Form die tatsächliche physische Konfiguration – als Reaktion einer spezifischen Intention oder Funktion – meint, ist die generische Form im ursprünglichen platonischen Sinn zu verstehen, – als definierbare Entität mit ihren eigenen, in der Form selbst liegenden Charakteristika, die deren absolute Natur begründen. Im Rückgriff auf eben diese absolute Natur ist es nun möglich, Form in einem ausschließlich objektiven Sinn zu betrachten – jenseits jeglicher subjektiver ästhetischer Präferenz. 147 Um die Stabilität der Sprache, deren Gültigkeit, Verständlichkeit und Entwicklungsfähigkeit über den konkreten Moment hinaus zu gewährleisten, kann die Syntax, verstanden als der grundlegende Satz von Regeln, welche die grammatikalische Anordnung kontrollieren, nicht aus spezifischen Manifestationen, sondern nur aus deren generischen Vorläufern hergeleitet werden. Das bedeutet, die in der generischen Form angelegte Ordnung bestimmt die Implementierung des formalen Vokabulars in eine spezifische Situation. So sind die Verzerrungen der generischen Form, die sie auf ihrem Weg in die Konkretisierung erleidet, als Grammatik lesbar, und die Regeln, die diese Verzerrungen kontrollieren, als System.148 Eisenman glaubt, so zu dem vordringen zu können, was die Architektur im Wesentlichen ausmacht. Zu beachten ist grundsätzlich die hinter der jeweils spezifischen Realisation liegende bzw. dieser Realisation vorausgehende formale Konzeption. Die Elemente, mit denen diese formale Konzeption bespielt wird, sind generisch absolute: Eisenman spricht von »Platonischen Körpern« (sic!) und meint damit geometrische Grundkörper, wie Kegel, Kugel, Würfel, etc., auf die sich nach seiner Auffassung sämtliche Körpermodifikationen zurückführen lassen.149 Befragt werden die besagten Körper hinsichtlich der Eigenschaften Volumen, Masse, Oberfläche und Bewegung.150 Innerhalb der generischen Form

147 Vgl. Eisenman: Grundlegung, S. 77 148 Vgl. Ebd., S. 103 149 Vgl. Ebd., S. 90 150 Eisenman stützt sich hier in seiner Argumentation wesentlich auf gestaltpsychologische Ansätze. Ganz deutlich ist das zu Beginn des dritten Kapitels formuliert: »Die Ordnung des spezifischen Zustands entwickelt sich aus der generischen Form, welche ihrerseits eine inhärente Ordnung besitzt. Unter gestaltpsychologischen Bedingungen lesen wir beispielsweise ein Quadrat, von dem

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unterscheidet Eisenman weiterhin zwischen »linear« und »zentroidal«. »Würfel und Kugel sind zentroidal, Doppelwürfel und Zylinder linear. Jedem dieser grundlegenden Körper sind von Natur aus bestimmte dynamische Prozesse inhärent, diese müssen bei jedem grammatikalischen Gebrauch oder jeder Interpretation eines gegebenen Körpers verstanden und respektiert werden.«151 Untersucht wird folglich, inwieweit Volumen, Masse, Oberfläche und Bewegung einzelner Körper Tendenzen des ausgewogenen In-sich-Ruhens oder der Ausdehnung aufweisen bzw. wie sie im Zusammenspiel zentrierend, dezentrierend, zentrifugal, zentripetal, Bewegungen einleitend, verlängernd, abbremsend, etc. wirksam werden. Die Syntax im Spiel der Formen ist bestimmt von diesen der generischen Form selbst eingeschriebenen Kräften, dem Druck, den sie gegenseitig auf einander ausüben, wie auch in ihren Modifikationen durch von außen wirkende Kräfte.152

Abb. 112: Peter Eisenman, Lagerung, Ausdehnung und Bewegung von Flächen

Um nun zum eigentlichen Thema zurückzukommen: Dieses Kräftespiel generischer Formen findet nicht frei im Raum statt, es steht in Bezug zu einer zweiten – ebenfalls absolut gesetzten – Referenzebene. Eisenman setzt ein

eine Ecke weggeschnitten ist, zunächst als Quadrat, bevor wir die resultierende Figur erkennen. Wir sehen also zuerst den generischen Vorläufer, da seine Form für das Auge und den Verstand eine einfacher wahrnehmbare, absolutere Konfiguration darstellt. Es sind diese Grundfigurationen ganz allgemein, welche als Bezugspunkte für jede komplexere Form dienen müssen.« Ebd., S. 102 151 Ebd., S. 77 152 Vgl. ebd., S. 120

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kontinuierliches, dreidimensional den Raum gliederndes kartesisches Gitter voraus, das latent mitzudenken ist: »In Bezug auf jede Form muss dieses Gitter als abstrakte Entität betrachtet werden. Es bildet, ursprünglich auf unserer physischen Erfahrung der Schwerkraft beruhend, den Bezugrahmen für jegliche Wahrnehmung.«153 Bemerkenswert ist, dass Eisenman dieses Gitter nun zwar als Entität bezeichnet, sich aber gleichzeitig genötigt sieht, es wahrnehmungspraktisch zu begründen. Die Begründung des Rasters liegt somit außerhalb seiner selbst. Eisenman bezieht das zunächst physikalische Phänomen der Schwerkraft und die geometrische Konstruktion der drei Koordinatenachsen des Gitters aufeinander. Schwerkraft wird dabei als sinnlich erfahrbar verstanden, wobei aber nicht daran gedacht ist, sich eine konkrete Person oder Situation vorzustellen. Die Wahrnehmung von Horizontalität senkrecht zur Schwerkraftachse und von Vertikalität parallel zu dieser wird als universale Erfahrung angesehen. Ebenso werden die Primärrichtungen (vorne/hinten, rechts/links, oben/unten), die ja gemeinhin auf ein Subjekt bezogen sind, als Achsen verallgemeinert, die ein dreidimensionales Gitter aufspannen lassen. Alle Dinge, egal ob künstlich gemacht oder natürlich, lassen sich nun in Bezug zu diesem Raumgitter beschreiben – entweder als in Übereinstimmung mit diesem Gitter stehend oder als dessen Verformung. »Wenn wir einen Baum sehen, beschreiben wir ihn als Verformung eines generischen Vorgängers – seiner vertikalen Achse. Wenn wir eine Landschaft betrachten, nehmen wir ihre Deformationen wahr – der Eindruck von Hügeligkeit, Unwirtlichkeit, Lieblichkeit entsteht immer aus der Relation zum Horizont als absoluter Bezugsgrösse.«154

Weitergehend kann ganz allgemein »jede lineare oder zentroidale Form aus ihrem Bezug zum Raumgitter heraus erklärt werden.«155 Erreicht ist ein Blick auf architektonische Form, den Eisenman rational nennt. Mit der Annahme, dass es generische Formen gäbe, findet er einen sicheren Ausgangspunkt und innerhalb der generischen Form den Regelsatz, der es ihm ermöglicht, Architektur als Sprache zu entwickeln. Eingepasst in ein immer

153 Ebd., S. 89 154 Ebd., S. 90 f. 155 Ebd.

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als – zumindest implizit – vorhanden angenommenes Bezugsraster ist es ihm tatsächlich möglich, objektiv von Ordnung zu sprechen. Architektur wird dadurch in ihrer zu extrahierenden und zu analysierenden formalen Konzeption sachlich verhandelbar. Ziel dieser Konstruktions- und Dekonstruierungsprozesse ist Klarheit und Verständlichkeit zu gewinnen: »Von hier stammt das Bedürfnis nach einer formalen Ordnung, welche fähig ist, die konzeptionelle Essenz eines Gebäudes der Wahrnehmung zugänglich zu machen. Es ist diese Ordnung der Form, welche für jede rationale Architektur, die etwas taugen soll, als unabdingbar betrachtet werden muss.«156

Hier zeigt sich, dass Eisenman bereits 1963 die Ablösung eines autorialen Subjekts als Verursacher von Architektur zugunsten eines Verständnisses von Architektur als Sprachsystem vollzogen hat. Diese Sprache erzählt von den Bedingungen ihrer eigenen Existenz. Dabei ist sie einem möglichen Leser zugänglich. Die Verwendung und Kombination ihrer Elemente, die Regeln ihrer Verbindungen, ihre Syntax und Grammatik sind entschlüsselbar. Form wird hier als Problem logischer Konsistenz und folgerichtiger Modifikation innerhalb des formalen Systems aufgefasst, was zur Folge hat, dass über den bloßen Nachvollzug in der Analyse hinaus, in der Befolgung der so gewonnenen Regelsätze vernünftige, nachvollziehbare, nicht willkürliche Architekturen auch selbst geschaffen werden können. Dabei ist das Kriterium Brauchbarkeit – auch wenn funktionale Erwägungen als nicht ausreichend erkannt werden, Form hervorzubringen – noch nicht generell in Frage gestellt. Ganz im Gegenteil: »Nur wenn eine spezifische Form aus der Erwägung einer utilitaristischen Funktion entstanden ist, können die der generischen Form inhärenten Eigenschaften analysiert werden, um ihre Relevanz bezüglich der spezifischen Bedingungen zu testen.« Das ist nicht als restriktiv zu verstehen. Eisenman folgert hieraus vielmehr eine generelle Offenheit des Systems gegenüber der konkreten Anwendung, der materiellen Realisierung bestimmter Bauaufgaben. Demnach könnte »eine enorme Vielfalt an komplexen Systemen [...] von einer generischen Form unter jeder erdenklichen Bedingung hergeleitet werden.«157

156 Ebd., S. 102 157 Ebd., S. 82

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Abb. 113: Peter Eisenman, Diagrammfolge zu House III

Dabei beharrt Eisenman in der Transformation von der generischen in die spezifische Form noch darauf, ausschließlich sinnvolle Sätze zu formulieren, – sinnvoll in dem Sinn, dass die Entwicklung von einer vorausliegenden einfachen Form hin zum fertigen architektonischen Objekt in einem Prozess zunehmender Komplexitätssteigerung innerhalb gesicherter, linearer und folgerichtiger Entwurfsverfahren entwickelt bzw. nacherzählt werden kann. Das Interesse wie auch die Möglichkeiten architektonischen Handelns verschieben sich weg von der Kreation fertiger Objekte, hin zu einer Konzentration auf die Entwurfsverfahren selbst. »Diese werden vom Architekten kontrolliert, mit grafischen Mitteln ausgeführt und haben ihre innere Logik. Diese Logik wiederum sieht man ihrerseits als Bedeutung und formale Organisation im architektonischen Objekt eingebettet.«158 Innerhalb eines so verstandenen Architekturbegriffs erklärt sich ein »Schreiben« und »Lesen« von Architektur, wie es Eisenman im Weiteren einfordern wird. Im Konzept des Schreibens will Eisenman »die üblicherweise verborgenen Aspekte des Entwurfsprozesses explizit machen, ihnen eine Transparenz und innere Logik geben, um damit die Willkür der gängigen Verfahren zu kritisieren.« Auf der anderen Seite soll das Lesen formaler Differenziertheit am fertigen Gebäude »beim Betrachter einen ›Dekodierungs‹-Vorgang auslösen, in dessen Verlauf der Entstehungsprozess offen gelegt wird, ganz wie der Index aus den Wirkungen heraus eine Rekonstruktion der Ursachen anstößt oder ein Detektiv aus Indizien den Tathergang rekonstruiert.«159 Vorausgesetzt, mögliche Rezipienten sind gewillt, diese Gebäude zu entziffern, und eingedenk der Schwierigkeiten, dies tat-

158 Stan Allen: Spurenelemente, in: Cynthia Davidson (Hg.): Auf den Spuren von Eisenman, Zürich 2006, S. 57 159 Ebd., S. 59

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Abb. 114: Peter Eisenman, Diagrammfolge zu House III

sächlich zu bewerkstelligen, ist eine korrekte Lektüre möglich; – korrekt insoweit, als die Entwurfsoperationen, die zu einem bestimmten Ergebnis führen, in umgekehrter Leserichtung über die Entschlüsselung der formalen Ordnung, ihrer syntaktischen Regeln und grammatikalischen Anwendungen rekonstruiert werden und so zum jeweiligen generischen Ansatz zurückverfolgt werden können. So weit zumindest Eisenmans Intention. Für den Anspruch einer Reformulierung der Architektur als einer der condition moderne angemessenen erscheint das jedoch noch nicht ausreichend. Es tun sich Schwierigkeiten auf, die aber weniger im – prinzipiell immer möglichen – Scheitern der Dekodierungversuche, dem schlichten Fehllesen, liegen. Ganz im Gegenteil ist das Problem darin zu sehen, dass die anfangs geforderte Rollenumverteilung – weg von einem bestimmenden Autor, der eben nicht mehr glaubhaft die ihn umgebende Dingwelt erklären bzw. über diese verfügen kann, hin zu einem offenen Lesen von Architektur – noch keinesfalls eingelöst ist. Bestimmt doch Eisenman – letztendlich als autoriales Subjekt – immer noch Ausgangs- und Endpunkt der Lektüre und legt genau fest, wie zu lesen ist. Nachdem einem verständigen Leser das fertige Bauwerk derart als Kette kausaler Zusammenhänge vermittelt wird, besteht im Nachvollzug der Intentionen des Autors tatsächlich die Möglichkeit des richtigen Lesens. Vermittelt wird auf diese Art und Weise Stimmigkeit bzw. wird, indem das Schreiben und Lesen von Architektur nahezu zwangsläufig zu folgerichtigen Ergebnissen führt, so etwas wie Wahrheit behauptet. Damit ist nun aber ein Begriff angeschnitten, der hätte vermieden werden sollen: Die Bewertbarkeit der Dekodierungsarbeit nach den Kategorien richtig und falsch übersteigt die angestrebte Selbstgenügsamkeit des formalen Spiels architektonischer Elemente, das ja nur über sich selbst, seine eigene autonome Existenz, hätte sprechen sollen. Weitere Fragen ließen sich anschließen: Inwieweit auch die Festlegung von Anfang und Ende einer Absicht folgt, welchen Sinn und Zweck sie verfolgt, welche

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Funktion und welche Bedeutung sie hat. Wir geraten in die Nähe eines Feldes von Begriffen, die in einem Modernediskurs, wie ihn Eisenman führt, suspekt erscheinen. Um dem zu entgehen, erscheint es notwendig, dafür zu sorgen, dass die architektonische Lektüre offen bleibt, – offen insofern, als sie gerade nicht im fertigen Bauwerk ihren zwangsläufigen und endgültigen Abschluss erfährt, sondern auch die Möglichkeit eines anderen Verlaufs ebenso wie Nichtintentionales, Ungeplantes und im Rationalen auch Irrationales mit einschließt. Dem gerecht zu werden, bedeutet nicht weniger als »die denkbar größte Zumutung, die an die Architektur zu stellen ist.« Eingefordert ist eine Architektur, »die gegen ihre eigene Konstruktion jene Aspekte durchsetzt, die seit jeher durch die krude Materialität und Eindeutigkeit des Bauens verdrängt und verleugnet werden. An die Stelle jener bloß behaupteten Wahrheiten, die sich in Funktionalität, Maßstäblichkeit, Zeitgebundenheit und Kontextualismus zum Ausdruck bringen, sollen Fiktion und Irrtum treten, die Statthalter des Abwesenden.«160

Abb. 115: Peter Eisenman, Romeo and Juliet, Modell

Wie so etwas aussehen könnte, ist im Projekt »Romeo und Julia« vorgeführt bzw. im Text mit dem schönen Titel »Moving Arrows, Eros, and other Errors. Eine Architektur der Abwesenheit« beschrieben. Eisenman schreibt über das Projekt:

160 Gerd de Bruyn: Romeo und Julia (2), in: Ders.: Fisch und Frosch oder die Selbstkritik der Moderne, Basel/Boston/Berlin 2001 (Bauweltfundamente 124), S. 130

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»Das Romeo und Julia-Projekt der Biennale von 1986 für die beiden Schlösser gleichen Namens in Monteccio, außerhalb von Vicenza, bot die ideale Möglichkeit, einen architektonischen Text zu präsentieren, welcher nicht länger durch die Tradition der Architektur abgesichert war, da an diesem Ort bereits ein anderer Text vorlag, nämlich das Theaterstück mit eben diesem Namen.«161

Eisenman spricht zwar von zwei Schlössern, aber es gibt kein Bauwerk im herkömmlichen Sinn. Gerade eine architektonische Festschreibung, in der das Spiel architektonischer Form sein endgültiges Ende finden würde, gilt es ja zu vermeiden. Erzählt wird die Geschichte von Romeo und Julia, – allerdings etwas anders als bei Shakespeare. Eisenmans Interesse konzentriert sich auf drei entscheidende Situationen: die Trennung der Liebenden (mit dem Balkon an Julias Haus als Handlungsort), ihre Vereinigung (dargestellt in der heimlichen Trauung in der Kirche) und das tragische Ende an Julias Grab, das Eisenman als »dialektische Beziehung des Zusammen- und Getrenntseins«162 bezeichnet. Parallel zur Entwicklung in der literarischen Textvorlage findet Eisenman die genannten Themen Verbindung und Trennung/Teilung – bzw. deren synthetische Auflösung – in der städtischen Struktur Veronas bereits vorformuliert. In der Anordnung und Positionierung dieser Struktur bzw. den Verhältnissen ihrer architektonischen Elemente und der Systematik, nach denen diese geordnet sind, macht Eisenman einen eigenständigen – gewissermaßen architektonischen – Text aus: »Der Cardo und Decumanus teilen die Stadt, der alte römische Raster verbindet sie, und die Etsch erzeugt ein dialektisches Verhältnis von Trennung und Einheit zwischen beiden Hälften.«163 Eisenman bringt beide Texte – den literarischen und den architektonischen – zusammen. Hinzu kommt als dritte Textebene die Erzählung von zwei Schlössern in Montecchio bei Vicenza, die nach ihrer topographischen Lage – sie liegen so nahe beieinander und können doch nicht zusammenkommen – in der lokalen Überlieferung die Namen von Romeo und Julia tragen. Im so gewonnenen Textge-

161 Peter Eisenman: Architektur als eine zweite Sprache. Die Texte des Dazwischen (1989), in: Ders.: Aura und Exzeß, S. 159 162 Peter Eisenman: Moving Arrows, Eros and other Errors. Eine Architektur der Abwesenheit (1986), in: Ders.: Aura und Exzeß, S. 94 163 Ebd., S. 95

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Abb. 116: Romeo and Juliet, Elemente und Überlagerungen

füge sieht sich die Fiktion der Erzählung jeweils in realen strukturellen Verhältnissen bestätigt: Der Fluss durchzieht tatsächlich die Stadt und vom antiken Achsen- und Rastersystem finden sich im aktuellen Verona immerhin noch Spuren. Ebenso sind die Handlungsorte der Tragödie nach wie vor physisch wirklich existent, wie es auch die Schlösser tatsächlich gibt. Diese Entsprechungen bedeuten allerdings nicht, dass das Projekt einfach gelesen werden kann und soll. Ganz im Gegenteil versperrt es sich eindeutiger Dekodierbarkeit. Dem Anspruch der einen – der richtigen – Lektüre begegnen alternative Lesarten, Verwirrungen und die Verführung zum Fehllesen. Jedoch ist, bei aller angestrebten Ambiguität, die Art und Weise, wie Eisenman vorgeht, den architektonischen Text zu öffnen, immer noch methodisch präzis, innerhalb ihrer gewählten Spielregeln klar aufgebaut und benennbar: Eisenman überlagert die vorgestellten Motive, Handlungen und Handlungsorte, Architekturen und strukturellen Verhältnisse, wobei er im Zusam-

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Abb. 117: Romeo and Juliet, Elemente und Überlagerungen

menbringen der Teile – collagehaft – auf die Festlegung eines gemeinsamen, übergeordneten Maßstabs, wie es die überlieferte Praxis vorsehen würde, verzichtet. Würde eine solche maßstäbliche Bestimmung doch einem betrachtenden Subjekt erlauben, Größen abzuschätzen und sich in Beziehung zu setzen, was wieder zu Fragen nach dem menschlichen Maßstab mit all seinen humanistischen Implikationen führen würde.164 Eisenman bezeichnet dieses Verfahren als Scaling. Er beschreibt sein Vorgehen: »Die erste Überlagerung zeigt die in den drei Texten gefundene Vorstellung der Trennung. Durch Überlagerung der Mauern von Romeos Schloß mit den Mauern der

164 »Während der Mensch noch immer die gleiche physische Größe besitzt, hat er jedoch die zentrale Stellung – sowohl in bezug auf sein Selbstbild als auch in bezug auf die Welt insgesamt – verloren. Die großartige Abstraktion vom Menschen als dem Maß aller Dinge, seiner Schöpfermacht und seiner ganzheitlichen Identität kann nicht länger aufrechterhalten werden.« Ebd., S. 89

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Altstadt von Verona treten die drei Elemente des Ortes in Montecchio (im selben Maßstab wie Verona) in eine getrennte Beziehung zu den Mauern des wirklichen Schlosses Julias; ein simuliertes Schloß Julias erscheint innerhalb ihres wirklichen Schlosses, ebenso eine simulierte Kirche, und ein simuliertes Schloß Romeos situiert sich außerhalb der Mauern von Julias wirklichem Schloß [...] Die zweite Überlagerung hebt die in allen drei Teilen gefundene Idee der Vereinigung hervor. Hier erscheint nun das Schloß Julias, welches sich als passive Spur im wirklichen Schloß Romeos fand, als eine aktive Spur in bezug zu der wirklichen Kirche Montecchios. Der Turm des Schlosses umgibt die Kirche. Dem Turm Julias wird der Turm von Romeos Schloß als aktive Spur überlagert. [...] Die dritte Überlagerung zeigt den Gedanken der dialektischen Beziehung, der im Text zwischen Vereinigung und Trennung wirksam wird. Nun tritt Julias Schloß als aktive Gegenwart über dem Grab in Erscheinung, welches innerhalb des Friedhofes von Verona liegt.«165

Was anfangs so schön geordnet erschien, die klare Zuordnung dessen, was in den Themen Trennung, Verbindung und deren dialektischer Verbindung dargestellt werden soll, sowie parallel dazu die Repräsentationen dieser Themen in bestimmten städtischen und architektonischen Elementen Veronas und Montecchios, zeigt sich schnell als nahezu unentwirrbares Gewebe. Konkurrierende Schichtungen und Verquickungen ebenso wie wechselnde Maßstabsebenen – Eisenman wechselt diese nicht nur zwischen den Objekten, selbst ein und dasselbe Objekt kann in verschiedenen Maßstäben erscheinen – machen es schwer, vorgezeichnete Verknüpfungen nachzuvollziehen. Das Material selbst erscheint unsicher, da die Elemente, mit denen gearbeitet wird, in ihrer Position, Ausdehnung und Größe vage bleiben. Sie entwickeln dahingehend ein Eigenleben, als sie dazu neigen, durch Vervielfältigung und/oder Verschmelzung sowie durch Überlagerung neue Konfigurationen, formale Einheiten, Formen und Strukturen zu bilden. Wichtig ist dabei vor allem: Das architektonische Objekt hört auf, Endpunkt einer Entwicklung zu sein. Es gibt kein Bauwerk mehr, in dem diese Entwicklung festgeschrieben wäre. Die Zeichnungen und Modelle, die Eisenman zeigt, lassen sich weder linear chronologisch reihen, noch führen sie von einer anfänglichen Entwurfsidee zu einem Endergebnis. Vielmehr werden – quasi synchron – verschiedene Zustände oder mögliche Entwicklungen innerhalb des Entwurfsprozesses gezeigt. Die Frage, was vor bzw.

165 Ebd., S. 95 f.

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nach, als Bedingung oder als Folge von etwas entstanden ist, ist obsolet, ebenso die Frage nach dem Anfang und Ende, nach Sinn, Zweck, Funktion und Bedeutung.

Zusammenfassung

Einem Verständnis von Architektur, das deren Aufgabe darin sieht, Häuser zu bauen, muss Eisenmans Tun als wenig sinnvoll erscheinen. Jedoch gerade weil er sich dem verweigert, ist sein Umgang mit dem Komplex formaler Ordnung nach dem Verlust von deren Absolutheitskonstruktionen interessant. Betrachtet man formale Ordnung nicht als etwas zeitlos Absolutes, sondern grundsätzlich als konventionell Abhängiges, was die vorliegende Arbeit tut, so erweist sich der Umgang mit ihr als schwierig. In einem Querschnitt durch die Architekturgeschichte sollte anhand von ausgewählten Beispielen gezeigt werden, wie verschiedene Konzeptionen dessen, was Architektur sein könnte und wie sie zu realisieren wäre, zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Kontexten das Verhältnis von formalem Geordnetsein, der Bedeutung, die diesem zugeschrieben wird, und der architektonischen Form jeweils neu und anders verhandeln. Dabei werden formale Modelle weitergeführt und umgedeutet, von Neuem überlagert oder gebrochen, missverstanden und nicht mehr verstanden bzw. ignoriert oder trotz Bedeutungsverlustes weitertransportiert, – wobei die Systeme formaler Ordnung selbst in Mitleidenschaft gezogen werden. Obwohl die Geometrie beständig ist – bzw. das Raster in seiner geometrischen Disposition stabil bleibt –, ändert sich deren Verständnis, Verwendung und der Blick auf sie. Konfliktfreiheit und Konstanz, die eine genuine Bindung von Form und Bedeutung innerhalb einer natürlichen Ordnung der Dinge versprechen, sind nach Überwindung pythagoreisch-platonischer Idealkonstruktionen nicht mehr zu gewinnen. Wobei anzumerken ist, dass sich bereits dort die Übertragung von idealer, abstrakter Mathematik und Geometrie in gebaute Architektur als problematisch erwiesen hatte – wie am Beispiel Vitruvs ge-

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zeigt werden sollte. Rekonstruktionsversuche, die eine Rückkehr in die glücklichen Ursprünge einer gottgegebenen oder natürlichen Ordnung der Dinge versuchen, erweisen sich höchstens als Simulationen – und sind somit nicht brauchbar, um formale Absolute zu erzeugen. Ebenfalls als nicht ausreichend erscheint der Ersatz eines metaphysischen Geordnetseins durch ein funktionales Ordnen. Die Frage nach dem Nutzen und der Zweckdienlichkeit stellt zwar objektivierbare Kriterien zur Verfügung, wie Architektur zu formen und zu organisieren sei, gleichzeitig reduziert sie aber das, was Architektur erzählen könnte, auf die Darstellung der Ordnung selbst und ihres Geordnetseins – oder beschränkt sie die Architektur auf die Schilderung ihres bloßen Funktionierens. Der Anspruch, Welt mittels Form erklären zu können, erweist sich somit als kaum mehr einlösbar, da in der formalen Verfasstheit von Architektur keine wahren und verständlichen Aussagen mehr transportiert werden können – bzw. in Fällen in denen doch noch nachvollziehbare und verständliche Aussagen möglich sind – in der Beschränkung der Architektur auf Funktion und Technik – sind diese Aussagen jedoch trivial. Eine mögliche Reaktion auf diese Schwierigkeiten ist, das Bemühen um formale Ordnung generell aufzugeben, was auch getan wird. Architektur kann so konfliktfrei entwickelt werden, allerdings um den Preis des Verlustes eines wesentlichen, Architektur konstituierenden Momentes. Will man dagegen auf die Möglichkeiten geometrischer Produktion wie Repräsentation als bedeutsamen Teil von Architektur nicht verzichten, zeigt gerade das Beispiel Eisenman, wie sich über die damit verbundenen Schwierigkeiten hinweg Möglichkeiten formaler Erzählung offen halten lassen. Ohne in die Dogmatik nicht mehr haltbarer Bedeutungsfestschreibungen zurückzufallen, wird versucht, der Form – über das rein Operative ihrer geometrischen Erzeugung hinaus – Bedeutung zu entlocken. Einem Verstummen der Form, ihrer Beliebigkeit und Aussagelosigkeit wird das Spiel mit der Ordnung entgegengestellt, ein Spiel, dessen Spielregeln sich nun nicht mehr in der Exklusivität eines Beharrens auf dem Wahren, Unveränderlichen, Sicheren, etc. finden lassen. Nachdem sich die Forderung nach einer eindeutigen und korrekten Lektüre von Architektur als obsolet erwiesen hat, ist doch zumindest im Spiel ein Weiterschreiben und Weiterlesen von Architektur möglich gemacht, das nach wie vor notwendig erscheint, will die Architektur ihrer Aufgabe nachkommen, Welt zu erzählen, – auch wenn diese Erzählungen und die Bedin-

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gungen ihres Erzählens komplex, uneindeutig und vage sind. Ein Aufgeben des Anspruchs auf Reflexion und die Beschränkung des Aussagewerts architektonischer Form auf Gebrauchserfüllung, Nützlichkeit und Technik wäre dagegen einfach und eindeutig, aber ebenso uninteressant.

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Abbildungen

Abb. 1: Zeichnung des Verfassers Abb. 2: Francesco di Giorgio Martini: Biblioteca Laurenziana, Florenz, Codex Ashburnham 361, fol. 5r; Leonardo da Vinci: Galleria dell’Accademia, Gabinetto Disegni e Stampe, Venedig, Inv. Nr. 228 Abb. 3/4: Albrecht Dürer: The British Museum, London, 5230 fol. 2a/5218 fol. 199a; 5218 fol. 199b; 5218 fol. 199a1 Abb. 5: Albrecht Dürer: Vier Bücher von menschlicher Proportion, Nürnberg 1528, II. Buch, S. Giv; Giir; Giiv; Giiir Abb. 6/7: Albrecht Dürer: Vier Bücher von menschlicher Proportion, Nürnberg 1528, III. Buch, Montage aus S. Rv; S. R6v; S. Siir/Montage aus S. Rv; S. S6v Abb. 8: Zeichnung des Verfassers Abb. 9: Zeichnung des Verfassers, die räumliche Struktur folgt im Wesentlichen der Rekonstruktion von Sanpaolesi. Abb. 10/11: Zeichnung des Verfassers Abb. 12: Albrecht Dürer: Unterweisung der Messung, Nürnberg 21538, IV. Buch, S. Qiiiv Abb. 13: Albrecht Dürer: Unterweisung der Messung, Nürnberg 11525, IV. Buch, S. Qiiir Abb. 14: Zeichnung des Verfassers unter Verwendung von: Piero della Francesca: De prospectiva pingendi, Biblioteca Panizzi, Reggio Emilia, Ms. Regg. A 41/2 Abb. 15: Piero della Francesca: De prospectiva pingendi, Biblioteca Panizzi, Reggio Emilia, Ms. Regg. A 41/2

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Abb. 16/17/18: Albrecht Dürer: Vier Bücher von menschlicher Proportion, Nürnberg 1528, IV. Buch, S. Uiiiv; S. Uiiiir und S. U6v/S.X6v; S. Yr; S. Yiir/S. Y4r; S. Y4v Abb. 19: Zeichnung des Verfassers Abb. 20: Zeichnung des Verfassers unter Verwendung von: Giovanni Battista Piranesi: Iconografia Campi Martii (1762) Abb. 21: Marc-Antoine Laugier: Essai sur l’architecture, 21755, Titelblatt Abb. 22: Jean-Nicolas-Louis Durand: Précis des leçons d’architecture, Band 1, Paris 1819, I. Teil, Tafel 1 Abb. 23: Karl Friedrich Schinkel: Handzeichnungssammlung der Staatlichen Museen Berlin, Detail aus SM M.XLI 40; Tafel SM M.XL 23 Abb. 24: Le Corbusier: Feststellungen zu Architektur und Städtebau, Braunschweig 21987, S. 51 Abb. 25/26: Jean-Nicolas-Louis Durand: Précis des leçons d’architecture, Band 1, Paris 1819, I. Teil, Tafel 3/Tafel 4 Abb. 27: Zeichnung des Verfassers Abb. 28/29: Jean-Nicolas-Louis Durand: Précis des leçons d’architecture, Band 1, Paris 1819, II. Teil, Tafel 1/ Tafel 10 Abb. 30: Jean-Nicolas-Louis Durand: Recueil et parallèle des édifices de tout genre anciens et modernes, Paris 1801/02, Tafel 21 Abb. 31: Jean-Nicolas-Louis Durand: Précis des leçons d’architecture, Band 1, Paris 1821, II. Teil, Tafel 20 Abb. 32: Jean-Nicolas-Louis Durand: Précis des leçons d’architecture, Band 1, Paris 1819, II. Teil, Tafel 20 Abb. 33: Jean-Nicolas-Louis Durand: Partie graphique des cours d’architecture, Paris 1819, Tafel 3 Abb. 34: Jean-Nicolas-Louis Durand: Précis des leçons d’architecture, Band 1, Paris 1819, II. Teil, Tafel 21 Abb. 35/36: Zeichnung des Verfassers Abb. 37: Jean-Nicolas-Louis Durand/Jean-Thomas Thibault: Kunstsammlungen, Weimar Abb. 38: Leo von Klenze: Staatliche Graphische Sammlung, München, SGSM 27000 Abb. 39/40: Zeichnung des Verfassers nach Leo von Klenze Abb. 41: Leo von Klenze: Staatsbibliothek, Bamberg Abb. 42: Le Corbusier: Fondation Le Corbusier, Paris Abb. 43/44: Fotografie und Zeichnung des Verfassers

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Abb. 45: Karl Friedrich Schinkel: Handzeichnungssammlung der Staatlichen Museen Berlin, SM XLIII a/17 Abb. 46: Aloys Hirt: Die Baukunst nach den Grundsätzen der Alten, Berlin 1809, Tafel 2; Karl Friedrich Schinkel: Handzeichnungssammlung der Staatlichen Museen Berlin, SM XLIII a/16 Abb. 47: Zeichnung des Verfassers Abb. 48/49: Leo von Klenze: Versuch einer Wiederherstellung des toskanischen Tempels nach seinen historischen und technischen Analogien, München 1821, Tafel 1/ Tafel 2 Abb. 50: Jean-Nicolas-Louis Durand: Recueil et parallèle des édifices de tout genre anciens et modernes, Paris 1801/02, Tafel 49 Abb. 51: Jean-Nicolas-Louis Durand: Précis des leçons d’architecture, Band 1, Paris 1821, II. Teil, Tafel 1 Abb. 52: Andrea Palladio: I quattro libri dell’architettura, Venedig 1570, I. Buch, Kapitel 15, Tafel 16; Zeichnung des Verfassers Abb. 53: Andrea Palladio: I quattro libri dell’architettura, Venedig 1570, IV. Buch, Kapitel 31, Tafel 213; 214; 215 Abb. 54: Zeichnung des Verfassers; Andrea Palladio: I quattro libri dell’architettura, Venedig 1570, III. Buch, Kapitel 20, Tafel 115; 116 Abb. 55: Zeichnung des Verfassers; Jean-Nicolas-Louis Durand: Précis des leçons d’architecture, Band 1, Paris 1819, II. Teil, Tafel 4 Abb. 56: Zeichnung des Verfassers; Andrea Palladio: I quattro libri dell’architettura, Venedig 1570, III. Buch, Kapitel 20, Tafel 116; Harmen Thies: Michelangelo. Das Kapitol, München 1982, S. 204, Fig. 87 Abb. 57: Zeichnung des Verfassers nach Harmen Thies: Michelangelo. Das Kapitol, München 1982, S. 210, Fig. 89-93 Abb. 58/59/60: Zeichnung des Verfassers Abb. 61: Hans Schmidt: ABC, Serie 1, Nr.3/4, 1925 Abb. 62: ABC, Serie 1, Nr.3/4, 1925; Zeichnung des Verfassers nach Hans Schmidt Abb. 63: Zeichnung des Verfassers nach Hans Schmidt Abb. 64/65/66/67/: Ernst Neufert: Bauentwurfslehre, Berlin 31936, Titelblatt/S. 23/S. 24/S. 59 Abb. 68: Zeichnung des Verfassers nach Ernst Neufert: Bauentwurfslehre, Berlin 31936, S. 173, Detail 9 auf S. 173, Detail 1-4 auf S. 176 Abb. 69/70: Zeichnung des Verfassers Abb. 71/72: Ernst Neufert: Bauordnungslehre, Berlin 11943, S. 122/S. 34

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Abb. 73: Ernst Neufert: Bauentwurfslehre, Braunschweig/Wiesbaden 33 1992, S. 27 Abb. 74/75/76/77/78/79/80/81: Ernst Neufert: Bauordnungslehre, Berlin 1 1943, S. 107/S. 119/S. 202/S. 420/S. 371/S. 373/S. 388/S. 418 Abb. 82/83/84: Zeichnung des Verfassers Abb. 85: Le Corbusier: Œuvre complète, Band 1, Basel/Boston/Berlin 2006, S. 23 Abb. 86: Zeichnung des Verfassers unter Verwendung von: Le Corbusier: Œuvre complète, Band 1, Basel/Boston/Berlin 2006, S. 23 Abb. 87: Zeichnung des Verfassers; Le Corbusier: Œuvre complète, Band 1, Basel/Boston/Berlin 2006, S. 25 Abb. 88: Le Corbusier: Œuvre complète, Band 1, Basel/Boston/Berlin 2006, S. 25; S. 26 Abb. 89: Zeichnung des Verfassers unter Verwendung von: Le Corbusier: Œuvre complète, Band 1, Basel/Boston/Berlin 2006, S. 155 Abb. 90/91: Zeichnung des Verfassers Abb. 92: Le Corbusier: Der Modulor, Stuttgart 51985, S. 37, Abb. 6 Abb. 93: Matila Ghyka: Le nombre d’or, Paris 1959, Tafel X; Tafel XVI; Tafel XXII Abb. 94/95: Zeichnung des Verfassers Abb. 96: Le Corbusier: Der Modulor, Stuttgart 51985, S. 26, Abb. 2; Harmen Thies: Michelangelo. Das Kapitol, München 1982, S. 85, Fig. 48 Abb. 97/98/99/100/101: Zeichnung des Verfassers Abb. 102: Ernst Neufert: Bauordnungslehre, Berlin 11943, S. 34, Detail aus Abb. 1; Le Corbusier: Der Modulor, Stuttgart 51985, S. 66, Abb. 23; Zeichnung des Verfassers Abb. 103/104: Le Corbusier: Der Modulor, Stuttgart 51985, S. 67, Abb. 24/Abb. 25 Abb. 105: Zeichnung des Verfassers Abb. 106/107: Le Corbusier: Der Modulor, Stuttgart 51985, S. 91, Abb. 37; S. 93, Abb. 38/S. 237, Abb. 100 Abb. 108: Zeichnung des Verfassers unter Verwendung von: Le Corbusier: Œuvre complète, Band 1, Basel/Boston/Berlin 2006, S. 23 Abb. 109: Zeichnung des Verfassers nach Peter Eisenman Abb. 110/111: Zeichnung des Verfassers Abb. 112: Peter Eisenman: Die formale Grundlegung der modernen Architektur, Werner Oechslin (Hg.), Berlin/Zürich 2005, S. 129, Abb. 42-45

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Abb. 113/114: Zeichnung des Verfassers nach Peter Eisenman Abb. 115: Cynthia Davidson (Hg.): Auf den Spuren von Eisenman, Zürich 2006, S. 121 Detail Abb. 116/117: Luftbild: Google Earth; Peter Eisenman: Aura und Exzeß. Zur Überwindung der Metaphysik der Architektur, Ullrich Schwarz (Hg.); Wien 1995, S. 93; Fotografien des Verfassers

Architekturen Eduard Heinrich Führ DIE MAUER Mythen, Propaganda und Alltag in der DDR und in der Bundesrepublik April 2012, ca. 240 Seiten, kart., ca. 130 Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1909-6

Susanne Hauser, Christa Kamleithner, Roland Meyer (Hg.) Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften Bd. 1: Zur Ästhetik des sozialen Raumes 2011, 366 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1551-7

Susanne Hauser, Christa Kamleithner, Roland Meyer (Hg.) Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raumes April 2012, ca. 350 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1568-5

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Joaquín Medina Warmburg, Cornelie Leopold (Hg.) Strukturelle Architektur Zur Aktualität eines Denkens zwischen Technik und Ästhetik Januar 2012, 208 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1817-4

Tom Schoper Zur Identität von Architektur Vier zentrale Konzeptionen architektonischer Gestaltung 2010, 252 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1587-6

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Alexandra Klei Der erinnerte Ort Geschichte durch Architektur. Zur baulichen und gestalterischen Repräsentation der nationalsozialistischen Konzentrationslager 2011, 620 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1733-7

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