Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 56. Band (2015) [1 ed.] 9783428547197, 9783428147199

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 56. Band (2015) [1 ed.]
 9783428547197, 9783428147199

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET VON HERMANN KUNISCH

IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON BEATRICE JAKOBS, VOLKER KAPP, NORBERT LENNARTZ, KLAUS RIDDER, GERTRUD M. RÖSCH in Verbindung mit einem wissenschaftlichen Beirat PEER REVIEWED SEIT 2015

SECHSUNDFÜNFZIGSTER BAND

2015

DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH SECHSUNDFÜNFZIGSTER BAND

Literaturwissenschaftliches Jahrbuch Neue Folge, begründet von Hermann Kunisch, im Auftrage der Görres-Gesellschaft

Peer reviewed seit 2015 Herausgeber Prof. Dr. Klaus Ridder, Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen (Altgermanistik, federführend) Prof. Dr. Volker Kapp, Klausdorfer Str. 77, 24161 Altenholz (Romanistik) Prof. Dr. Norbert Lennartz, Anglistik, Universität Vechta, Driverstr. 22, 49377 Vechta (Anglistik/Amerikanistik) Prof. Dr. Gertrud Maria Rösch, Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Plöck 55, 69117 Heidelberg (Neugermanistik) PD Dr. Béatrice Jakobs, Romanisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Leibnizstr. 10, 24098 Kiel (Rezensionen)

Wissenschaftlicher Beirat Jürgen Barkhoff (Dublin), Matthias Bauer (Tübingen), Ricarda Bauschke (Düsseldorf), Ute Berns (Hamburg), Dieter Breuer (Aachen), Sebastian Coxon (London), Monika Fick (Aachen), Rüdiger Görner (London), Elke Koch (Berlin), Joachim Leeker (Dresden), Stéphane Macé (Grenoble), Friedhelm Marx (Bamberg), Anja Müller-Wood (Mainz), David Paroissien (Buckingham)

Redaktion Redaktionsanschrift: Prof. Dr. Klaus Ridder, Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen. Redaktion Aufsatzteil: Dr. Ulrich Barton. Redaktion Rezensionsteil: PD Dr. Béatrice Jakobs, Romanisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Leibnizstr. 10, 24098 Kiel. Merkblatt zur Manuskripterstellung und Merkblatt für Abbildungen: http://bit.ly/1B7LIRN Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Beiträge sind in Dateiform und als Ausdruck an die jeweils zuständigen Herausgeber zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, entsprechend den im Merkblatt (s. o.) angeführten typographischen Richtlinien einzureichen. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion (Rezensionsteil) erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden.

Verlag Duncker & Humblot GmbH, Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET VON HERMANN KUNISCH

IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON BEATRICE JAKOBS, VOLKER KAPP, NORBERT LENNARTZ, KLAUS RIDDER, GERTRUD M. RÖSCH in Verbindung mit einem wissenschaftlichen Beirat PEER REVIEWED SEIT 2015

SECHSUNDFÜNFZIGSTER BAND

2015

DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 978-3-428-14719-9 (Print) ISBN 978-3-428-54719-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-84719-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Vorbemerkung Mit dem vorliegenden Band beendet Ruprecht Wimmer seine Tätigkeit als Mitherausgeber des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs. Seit 1996 war er für die Herausgabe der neugermanistischen Beiträge zuständig. Die Görres-Gesellschaft sowie die Mitherausgeberinnen und Mitherausgeber danken ihm für sein langjähriges Wirken und für die so produktive wie freundschaftliche Zusammenarbeit. Die Nachfolge von Ruprecht Wimmer tritt mit diesem Band Gertrud Maria Rösch an. Des Weiteren stellt das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch ab dem vorliegenden Band die Qualität der Beiträge durch das Peer-Review-Verfahren sicher, indem alle Aufsätze mit Hilfe des Wissenschaftlichen Beirats anonym doppelt begutachtet werden. Die Herausgeber im Namen der Görres-Gesellschaft

Inhaltsverzeichnis AUFSÄTZE

Gert Hübner (Basel), Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Jean Schillinger (Nancy), Erbauungsliteratur zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit: Thomas Murners Badenfahrt (1514) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Glenn Ehrstine (Iowa City), Ablass, Almosen, Andacht: Die Inszenierung der nahen Gnade im Zerbster Fronleichnamsspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Heidy Greco-Kaufmann (Bern), Die Bedeutung von Teufelsfiguren in theatralen Aktivitäten und im Ordnungsdiskurs der Stadt Luzern. . . . . . . . . . . . . . . 119 Regina Toepfer (Berlin), Der Eheteufel auf der Hochzeit zu Cana. Paul Rebhuns dramatisierte Geschlechterordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Dietrich Briesemeister (Jena), Erneuerung und Wirkung der Rhetorik in Spanien (16. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Marina Ortrud M. Hertrampf (Regensburg), Das Interdependenzverhältnis von Dramentext und Aufführungspraxis im Siglo de Oro am Beispiel von Calderóns La vida es sueño (comedia und auto sacramental) . . . . . . . . . . . . . 191 Christa Schlumbohm (Rostock), Amor-Emblematik und liebestheoretischer Diskurs. Funktion und Gestaltungsweise sinnbildlichen Raumdekors im Hamburg des 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Michael Neumann (Eichstätt-Ingolstadt), Rückblick auf eine Vision. Novalis: Die Christenheit oder Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Oliver Bock and Wolfgang G. Müller (Jena), The Survival of the Poetic Muse in Sir Walter Scott’s Historical Novels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

8 Inhaltsverzeichnis Sylvia Schreiber (Wien), Eugène Delacroix: vom peintre écrivant zum peintre écrivain . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Ottavio Ghidini (Mailand), Le parole avviluppate. Virgilio, Manzoni e un’immagine di Ognissanti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Elisa Faustini (Verona), Come in uno specchio. Sereni, Dante e la poesia del dialogo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Peter Hühn (Hamburg), Visual Narratives: Narration in Paintings and Photographs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

BUCHBESPRECHUNGEN

Hagiographies. Histoire internationale de la littérature hagiographique latine et vernaculaire en Occident des origines à 1550, sous la direction de Monique Goullet, VI (von Matthias Bürgel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Dictionnaire raisonné de la caducité des genres littéraires. Dirigé par Saulo Neiva et Alain Montandon (von Frank-Rutger Hausmann) . . . . . . . . . . . . . . 371 Preghiera e liturgia nella Commedia. Atti del Convegno internazionale di Studi. Ravenna, 12 novembre 2011. A cura di Giuseppe Ledda (von Matthias Bürgel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Elisabeth Winkler, ›Liberty! Freedom! Tyranny is Dead!‹ Die Debatte über die Monarchie und Freiheitsideen im politischen Denken und in der Literatur der englischen Renaissance (von Jürgen Meyer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Frank Greiner (dir.), Fictions narratives en prose de l’âge baroque. Répertoire analytique (1611–1623) (von Volker Kapp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 Fabrice Preyat, Jean-Philippe Huys (dir.), Marie-Adélaïde de Savoie (1685– 1712) duchesse de Bourgogne, enfant terrible de Versailles (von Volker Kapp) 390 Katharina Rennhak, Narratives Cross-Gendering und die Konstruktion männlicher Identitäten in Romanen von Frauen um 1800 (von Katalin Schober) 395 Oliver Bock, Die Darstellung von Gewalt im Romanwerk Anthony Trollopes im Kontext juristischer und journalistischer Diskurse (von Rainer Emig) . . . 398

Inhaltsverzeichnis9 Heinz Hillmann / Peter Hühn (Hgg.), Lebendiger Umgang mit den Toten – der moderne Familienroman in Europa und Übersee (von Oliver Bock) . . . . . . 400 Henri de Régnier et Francis Jammes, Correspondance (1893–1936), édition critique de Pierre Lachasse (von Philippe Richard) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Sandra Martina Schwab, Of Dragons, Knights, and Virgin Maidens: Dragonslaying and Gender Roles from Richard Johnson to Modern Popular Fiction (von Britta Hartmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 Namen- und Werkregister (von Ulrich Barton und Daniela Czink) . . . . . . . . . 411

Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen Von Gert Hübner I. Historische Narratologie ›Historische Narratologie‹ ist allem Anschein nach ein von Narratologen und nicht von Literarhistorikern geprägter Begriff.1 Seine grammatische Struktur legt es nahe, ›historisch‹ als etwas Akzidentelles aufzufassen, das eine narratologische Substanz näher spezifiziert. Unter solchen Umständen braucht es, methodisch gesehen, am Anfang ein narratologisches Begriffssystem, das erstens definiert, was als Gegenstand der Narratologie in Frage kommt, und zweitens möglichst universal angelegt sein muss, um Gegenstände unterschiedlicher historischer Provenienz erfassen zu können. Insbesondere machen solche Umstände konstant gesetzte Begriffe von ›Erzählen‹ und ›Geschichte‹ nötig.2 Den folgenden Überlegungen liegt dagegen die Einschätzung zugrunde, dass narratologische genauso wie alle Begriffe Bestandteile historischer Wissensordnungen sind und Phänomene in der Weise derjenigen Wissensordnung konstituieren, der sie entstammen. Insofern die Kulturwissenschaften auf Begriffe als Erkenntnisinstrumente methodisch angewiesen sind, lassen sich Hypostasierungen möglicherweise nicht restlos vermeiden – Aristoteles hätte dazu wahrscheinlich gesagt, dass Universalien als 1  Ansgar Nünning, »Towards a Cultural and Historical Narratology«, in: Bernhard Reitz, Sigrid Rieuwerts (Hgg.), Anglistentag 1999 Mainz: Proceedings, Trier 2000, 345–373; Monika Fludernik, »Beyond Structuralism in Narratology. Recent Developments and New Horizons in Narrative Theory«, Anglistik, 11 (2000), 83–96. 2  Vgl. dazu Hartmut Bleumer, »Historische Narratologie«, in: Christiane Ackermann, Michael Egerding (Hgg.), Literatur- und Kulturtheorie in der Germanistischen Mediävistik (im Druck). Ich danke sehr für die Überlassung des Manuskripts, das es mir ermöglicht hat, einigen der im Folgenden skizzierten Ansichten schärfere Konturen zu geben. – Mehr oder weniger konstant gesetzte Begriffe von ›Erzählung‹ sind selbstverständlich auch bei Literarhistorikern im Gebrauch; terminologische Explikationen scheinen mir allerdings nicht ohne den Rekurs auf die Narratologie auskommen zu können.

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Gert Hübner

›in den Dingen‹ vorgestellt werden müssen, damit es Erkenntnis geben kann. Es scheint jedoch nicht völlig unmöglich zu sein, das Instrumentelle der Begriffe, das mit ihrer Kulturalität (respektive Historizität) identifiziert werden könnte, im Blick zu behalten; vielleicht würde Aristoteles heute sagen, dass Universalien, angeleitet durch Erkenntnisziele, in die Dinge gelegt werden müssen. Mit narratologischen Begriffen zu operieren, heißt in einem solchen Rahmen, der Unvermeidlichkeit wegen einen historisch kontingenten analytischen Anfang zu setzen und das begriffliche Instrumentarium beim Operieren dann so zu verändern, wie es für die Ziele der Operation taugt, aber die Begriffsveränderungen dabei möglichst unter Kontrolle zu halten. Unter dieser epistemologischen Voraussetzung ließe sich das Folgende als Skizze einer wissensgeschichtlichen Narratologie etikettieren. Dass meine Position auf einer pragmatistischen Epistemologie beruht, die die kulturelle Wirklichkeit einschließlich ihrer Wahrnehmung – und deshalb auch jede Erkenntnis – für ein Produkt sozialer Praxis hält, gebe ich gern zu; möglicherweise kann man eine solche Position wegen ihres instrumentellen Begriffsverständnisses auch als eine ›rhetorische‹ im Unterschied zu einer ›hermeneutischen‹ bezeichnen.3 Zum Begriffsrealismus Geneigte – Narratologen dürfen das vielleicht eher sein als Historiker – werden sie jedenfalls für unbefriedigend halten. Der Gebrauch des Begriffs ›historische Narratologie‹ erweckt in manchen Fällen den Verdacht, dass der Gegenstand einer solchen Disziplin vormoderne Erzählungen sein sollen.4 Dies mag darauf beruhen, dass diejenige Spielart der Narratologie, die heute oft anhand von Genettes discours-Begriff identifiziert wird,5 ihre Kategorien und Kategoriensystematiken seit ihren Anfängen im frühen 20. Jahrhundert vor allem anhand moderner ›realistischer‹ literarischer Erzählungen vorzugsweise aus Europa und Nordamerika entwickelt hat.6 Aus der Sicht dieser Forschungstra3  So

die Terminologie von Bleumer, »Historische Narratologie«. Fludernik, Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006, 124–133. 5  Gérard Genette, Discours du récit, Paris 1972; ders., Nouveau discours du récit, Paris 1983. Discours- und histoire-Narratologie unterscheiden beispielsweise Matías Martínez, Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 92012. 6  Käte Friedemann, Die Rolle des Erzählers in der Epik (Untersuchungen zur neueren Sprach- und Literaturgeschichte N. F. 7), Leipzig 1910; Percy Lubbock, The Craft of Fiction, New York 1921; Jean Pouillon, Temps et roman, Paris 1946; Norman Friedman, »Point of View in Fiction: The Development of a Critical Concept«, Publications of the Modern Language Association 70 (1955), 1160–1184; Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1955; Franz K. Stanzel, Die typischen Erzählsituationen im Roman (Wiener Beiträge zur englischen Philologie 63), Wien / Stuttgart 1955; ders., Typische Formen des Romans, Göttingen 1964; ders., Theorie des Erzählens (UTB 904), Göttingen 1979. 4  Monika



Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen

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dition, deren zentrales Konzept eine spezifische Vermitteltheit von Erzählungen ist (die Darstellung einer histoire in einem discours) und deren Kategoriensystem sich in erster Linie um Erzählinstanz (›Stimme‹), Per­ spektive (›Fokalisierung‹) und Zeitrepräsentation ordnet, besteht ein Nachholbedarf bei der Beschäftigung mit allen anderen Arten von Erzählungen. Deshalb figuriert vorrealistisches poetisches Erzählen hier gern in der Nachbarschaft von nachrealistischem und nichtwestlichem literarischen sowie nichtfiktionalem (›faktualem‹) Erzählen.7 Das Erkenntnisinteresse einer so verstandenen historischen Narratologie richtet sich vornehmlich auf die Reichweite der am europäischen und nordamerikanischen realistischen literarischen Erzählen entwickelten Begrifflichkeiten und auf Anlässe zu Begriffsmodifikationen, weniger auf eine Reflexion der prinzipiellen Historizität des narratologischen Kategoriensystems. Die discours-Narratologie wird durch ihre eigene Geschichte als eine historische Wissensordnung ausgewiesen, insofern sie ein im 18. Jahrhundert entstandenes subjektphilosophisches Wirklichkeitsverständnis voraussetzt. Ihm verdankt sich die grundlegende Bedeutung des Vermittlungskonzepts für das Kategoriensystem: Alle durch Erzählinstanz, Perspektive und Zeitrepräsentation begrifflich konstituierten Phänomene zielen auf eine Analyse von Erzählungen als subjektiver Weltdarstellung. Ich-Erzählung und ›personale‹ Erzählung erhielten deshalb, gewissermaßen als ästhetische Entsprechungen zur Subjektphilosophie, den Rang prototypischer symbolischer Formen der narrativen Vermittlung.8 Das vielleicht am weitesten avancierte begriffliche Produkt dieser Tradition ist die ›Expe­ rientialität‹, die als narratologische Basiskategorie Erzählen mit der Re­ präsentation von subjektivem Erleben identifiziert.9

7  Jan Alber, Monika Fludernik (Hgg.), Postclassical Narratology. Approaches and Analyses (Theory and interpretation of narrative), Columbus (OH) 2010; Roy Sommer, »The Merger of Classical and Postclassical Narratologies and the Consolidated Future of Narrative Theory«, DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung / Interdisciplinary E-Journal for Narrative Research 1.1 (2012), 143–157; Brian Richardson, »Unnatural Narratology. Basic Concepts and Recent Work«, ibid., 95–103. Zum faktualen Erzählen Christian Klein, Matías Martínez (Hgg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart / Weimar 2009. 8  Einen guten Eindruck vermitteln frühe Konzeptionen der Erzähltechnik im Roman: Friedrich Spielhagen, Beiträge zur Theorie des Romans, Leipzig 1883; ders., Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik, Leipzig 1898; Friedemann, Die Rolle des Erzählers; Henry James, The Art of the Novel: Critical Prefaces, New York 1934. 9  Monika Fludernik, Towards a »Natural« Narratology, London / New York 1996.

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Wer die Begriffe der discours-Narratologie als Analyseinstrumente für vormoderne Erzählungen benutzt, hat ihre phänomenkonstituierenden Leistungen im Kontext eines historisch spezifischen Wirklichkeitskonzepts zu bedenken.10 Zwar gab es in der Vormoderne unbestreitbar Konzepte von vermittelnder Darstellung und divergierenden Wirklichkeitswahrnehmungen; sie operierten jedoch im Rahmen einer anderen Episteme mit anderen Modellen der Relation zwischen Wirklichkeit und mentalen Prozessen als den seit dem 18. Jahrhundert verbreiteten.11 Weil Sinnzuweisungen an Erzählungen auf kulturellen Wissensordnungen beruhen, lassen sich Darstellungspraktiken zu Gegenständen historischer Phänomenologien, nicht aber zum Gegenstand einer ›Theorie‹ mit Universalitätsanspruch machen. Die Kategorien der discours-Narratologie können unter diesen Umständen bei der Untersuchung vormoderner Erzählungen einen heuristischen Wert haben, insofern sie mögliche Analysegegenstände identifizieren. Sie konstituieren Phänomene jedoch nicht schon als historische, sondern bei unmodifiziertem Gebrauch als moderne. Dass sie eine vollständige Heuristik aller historischen Formen der narrativen Vermittlung liefern, lässt sich nicht apriorisch unterstellen. Was heute oft histoire-Narratologie heißt, entstammt dagegen einer Forschungstradition, deren Kategorien nicht in der Beschäftigung mit modernen realistischen literarischen Erzählungen entwickelt wurden. Das Buch, in dem Todorov narratologie als eine erst noch zu entwickelnde science du récit definierte, sollte vielmehr zeigen, dass Boccaccios Dekameron-Novellen auf denselben wenigen Kombinationen weniger Figurenfunktionen und Handlungsmuster beruhen wie die von Propp analysierten russischen Zaubermärchen.12 10  Gert Hübner, Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ›Eneas‹, im ›Iwein‹ und im ›Tristan‹ (Bibliotheca Germanica 44), Tübingen / Basel 2003. 11  Ich benutze den Begriff ›vormodern‹ in einer wissensgeschichtlichen, durch die epistemologischen Umbrüche des 18. Jahrhunderts konstituierten Bedeutung als Bezeichnung sowohl für antike als auch für mittelalterliche und frühneuzeitliche ­Praktiken, Diskurse und Artefakte. Die gravierenden Differenzen, von denen die ­Begriffsbildung absieht, sollen durch sie selbstverständlich nicht in Abrede gestellt werden. Die Differenz, die sie zieht, besteht im Aufkommen eines Wirklichkeitsverständnisses, in dem der Wirklichkeitsbezug der Kognition nur als ein hypothetischinstrumenteller vorstellbar ist. Die Unterscheidung zwischen Moderne und Vormoderne impliziert nicht, dass das vormoderne Wirklichkeitsverständnis in der Moderne verschwunden wäre; anders als in der Vormoderne kann es in der Moderne jedoch zum Gegenstand von Kritik (im Sinn des Kritikbegriffs der Aufklärung) gemacht werden. 12  Tzvetan Todorov, Grammaire du Décaméron (Approaches to semiotics 3), Den Haag / Paris 1969; Vladimir Propp, Morphologie des Märchens (Literatur als Kunst), München 1972 (zuerst Leningrad 1928).



Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen

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Gemessen am Konzept einer universalen ›Grammatik‹ der Erzählung, die wie eine universale Grammatik ›der‹ Sprache ein generatives System aus Elementen und Kombinationsregeln sein und jede mögliche Erzählung erklären können soll, muss ›historische Narratologie‹ als eine selbstwidersprüchliche Begriffsbildung gelten.13 Möglicherweise hätte sich ihr Gegenstand indes zu einer universalen Erzählgrammatik verhalten können wie einzelsprachliche Grammatiken und ihre Geschichten zu einer universalen Sprachkompetenz. Solange kein Modell einer solchen Erzählgrammatik existiert, können die Kategorien der histoire-Narratologie allerdings ebenfalls nur eine heuristische Funktion beanspruchen. Die zentralen Begriffe Figur, Raum, Zeit und Handlungsverknüpfung konstituieren zwar Untersuchungsgegenstände; ohne den Rekurs auf historische Konzepte von Mensch, Raum, Zeit und Handeln, mithin auf kulturelle Wissensordnungen, lassen sich Sinnzuweisungen an Erzählungen jedoch offenkundig nicht begründen.14 13  Hartmut Bleumer, » ›Historische Narratologie‹? Metalegendarisches Erzählen im Silvester Konrads von Würzburg«, in: Harald Haferland, Matthias Meyer (Hgg.), Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven (Trends in Medieval Philology 19), Berlin / New York 2010, 231–261. 14  Figur: Fotis Jannidis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie (Narratologia 3), Berlin / New York 2004; Frank Ringeler, Zur Konzeption der Protagonistenidentität im deutschen Artusroman um 1200. Aspekte einer Gattungspoetik, Frankfurt a. M. u. a. 2000; Anette Sosna, Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200. Erec, Iwein, Parzival, Tristan, Stuttgart 2003; Armin Schulz, Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 135), Tübingen 2008. – Raum: Katrin Dennerlein, Narratologie des Raumes (Narratologia 22), Berlin / New York 2009; Andrea Glaser, Der Held und sein Raum. Die Konstruktion der erzählten Welt im mittelhochdeutschen Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u. a. 2004; Sonja Glauch u. a. (Hgg.), Projektion – Reflexion – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter, Berlin / Boston 2011. – Zeit: Jan Christoph Meister, Wilhelm Schernus (Hgg.), Time. From Concept to Narrative Construct. A Reader (Narratologia 29), Berlin / New York 2011; Barbara Nitsche, Die Signifikanz der Zeit im höfischen Roman. Kulturanthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur (Kultur, Wissenschaft, Literatur 12), Frankfurt a. M. 2006. – Handlungsverknüpfung: Harald Haferland, Armin Schulz, »Metonymisches Erzählen«, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 84 (2010), 3–43; Florian Kragl, Christian Schneider (Hgg.), Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Studien zur historischen Poetik 13), Heidelberg 2013. – Übergreifend: Uta Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin / New York 2007; dies., »Kausalität, Wiederkehr und Wiederholung. Über die zyklische Raumzeitstruktur vormoderner Erzählungen mit biographischem Schema«, in: Haferland, Meyer (Hgg.), Historische Narratologie, 361–384; Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik,

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Narratologische Kategorien konstituieren demnach insofern unvermeidlich historische Phänomene, als sie selbst stets Produkte kultureller Wissensordnungen sind. Wenn Erzählungen ihrerseits ebenfalls Produkte kultureller Wissensordnungen sind, hängt der historische Erkenntniswert jeder narratologischen Analyse von den Relationen zwischen den Wissensordnungen ab, die Erzählungen als Gegenstände der Analyse und Begriffe als heuristische Instrumente der Analyse aktualisieren. Deshalb gibt es keine nicht-historische Narratologie, sondern nur narratologische Phänomenologien mit ihren Gegenständen historisch mehr oder weniger adäquaten Kategorien, und jede ihren Gegenständen adäquate narratologische Phänomenologie ist eine historische. Eine ›Theorie‹ des Erzählens, die mit dem Begriff ›Theorie‹ einen Universalitätsanspruch erheben wollte, müsste kognitive Kompetenzen zum Gegenstand haben, die dem Erzählen und dem Verstehen von Erzählungen zugrunde liegen.15 Solche Kompetenzen lassen sich mit kognitionswissenschaftlichen, also experimentellen Methoden nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge ausschließlich an lebenden Probanden erforschen. Selbst wenn sich bestimmte Gesetzmäßigkeiten dabei als indifferent gegenüber heute bestehenden kulturellen Unterschieden erweisen sollten, vermag niemand experimentell zu überprüfen, ob diese Gesetzmäßigkeiten zu anderen Zeiten in derselben Weise wirksam waren oder ob bestimmte Interpretationen historischen Materials Fälle dieser Gesetzmäßigkeiten sind. Deshalb können kognitionswissenschaftliche Hypothesen nicht umstandslos über die Gegenwart hinaus generalisiert werden und keine Geltungsansprüche von Interpretationen begründen. So lässt sich beispielsweise aus den kognitiven Kompetenzen lebend verfügbarer Probanden nicht ableiten, welche narrativen Praktiken in der Vormoderne ›unnatural‹ waren und deshalb als Gegenstände einer ›unnatural narratology‹ gelten Tübingen 2007; Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, hg. Manuel Braun u. a., Berlin / Boston 2012. 15  Roger C. Schank, Robert P. Abelson, Scripts, Plans, Goals, and Understanding: An Inquiry into Human Knowledge Structures (Artificial intelligence series), Hills­ dale (NJ) 1977; Jan Christoph Meister, Computing Action. A Narratological Approach (Narratologia 2), Berlin / New York 2003; David Herman (Hg.), Narrative Theory and the Cognitive Sciences (CSLI lecture notes 158), Stanford 2003; ders., »Storytelling and the Sciences of Mind: Cognitive Narratology, Discursive Psychology, and Narratives in Face-to-Face Interaction«, Narrative 15 (2007), 306–334; Lars Bernaerts u. a. (Hgg.), Stories and Minds. Cognitive Approaches to Literary Narrative (Frontiers of narrative), Lincoln (NA) 2013; Sophia Wege, Wahrnehmung – Wiederholung – Vertikalität. Zur Theorie und Praxis der Kognitiven Literaturwissenschaft, Bielefeld 2013; Inderjeet Mani, Computational Modeling of Narrative (Synthesis Lectures on Human Language Technologies 18), San Rafael (CA) 2013.



Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen

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sollten.16 Weil die historischen Wissenschaften Erkenntnis durch die Interpretation zufällig erhaltenen Materials hervorbringen und weder eigens auf das Untersuchungsinteresse bezogene Daten erheben können wie die Sozialwissenschaften noch Hypothesen experimentell prüfen können wie die Naturwissenschaften, bleibt historische Narratologie eine reine Interpretationsheuristik, und selbstverständlich nur eine unter anderen. Auch bei ihr hängt die Erkenntnisträchtigkeit davon ab, dass das heuristische Programm Fragen stellt, deren interpretatorische Beantwortung die zufällig erhaltenen Quellen ermöglichen. Weil mir eine verlässliche Brücke zwischen dem empirisch-kognitivistischen und dem interpretatorisch-kulturalistischen Erkenntnisparadigma gegenwärtig nicht vor Augen steht, erscheint es mir irreführend, die unterschiedlichen Relationen zu verdecken, die in den beiden Paradigmen zwischen Hypothesenbildung und Methoden der Hypothesenvalidierung bestehen. Wenn sich beispielsweise nicht experimentell überprüfen lässt, ob ein bestimmtes ›script‹ das Handeln eines Akteurs im 13. Jahrhundert erklärt, ist dieses ›script‹, anders als in der Kognitionswissenschaft, ein bloßes Interpretationskonstrukt. Da Interpretieren alle Begriffe zu Deutungsheurismen macht, ist historische Narratologie auf interpretatorischkulturalistische Verfahrensweisen angewiesen. Eine mittelalterlichem und frühneuzeitlichem Material angemessene historische Narratologie könnte meines Erachtens gegenwärtig am ehesten als eine wissensgeschichtliche auf einer praxeologischen Grundlage konzipierbar sein. Ich versuche im Folgenden, dies sowohl mit der Bedeutung des Handelns in Poetik und Rhetorik – den wissensgeschichtlichen Vorgängern der modernen narratologischen Kategoriensysteme – als auch mit vormodernen narrativen Praktiken zu begründen. II. Poetik Von der Antike bis zu den epistemologischen Umbrüchen im 18. Jahrhundert17 gab es keine begriffsbildenden Reflexionen des Erzählens als 16  Jan Alber, Rüdiger Heinze (Hgg.), Unnatural Narratives – Unnatural Narratology (Linguae & litterae 9), Berlin / New York 2011; Monika Fludernik, »How Natural Is ›Unnatural Narratology‹; or, What Is Unnatural about Unnatural Narratology?«, Narrative 20 (2012), 357–370; Richardson, »Unnatural Narratology«; Jan Alber u. a. (Hgg.), A Poetics of Unnatural Narrative (Theory and interpretation of narrative), Columbus (OH) 2013. 17  Die im Folgenden skizzierte historische Differenz beruht auf der Ablösung der Rhetorik und der ihrer Episteme inkorporierten Poetik durch subjektphilosophisch

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einer spezifischen Vermittlungsweise, sondern solche der Darstellung und Bewertung von Handeln. Ihre diskursgeschichtlichen Orte waren in der Antike Poetik und Rhetorik. Unabhängig von der Überlieferungs- und Deutungsgeschichte der aristotelischen Poetik im lateinischen Westen scheint mir das hier entwickelte Konzept eines exemplarischen Erkenntniswerts der Handlungsdarstellung nicht nur antike, sondern auch mittelalterliche und frühneuzeitliche Praktiken sowohl historiographischen als auch poetischen Erzählens in einer besonders ergiebigen Weise zu erhellen. Da die Explikation lange nicht verfügbar war, kann der Grund dafür nur in der Beharrungskraft von Aristoteles erläuterter Praktiken in den historischen Traditionsbildungsprozessen liegen. Aristoteles traktiert in der Poetik dramatische und epische Dichtung – im Vergleich mit der Geschichtsschreibung – als kulturelle Praktiken der Darstellung (mimesis) von Handeln (praxis). Handeln kann entweder allein mittels vom Verfasser an Figuren delegierter Rede dargestellt werden oder allein mittels der Rede des Verfassers oder mittels einer Kombination aus beidem.18 Standpunkt und Zeitlichkeit gehören als Kategorien zu diesem Konzept, weil Epos und Drama – nicht anders als die Historiographie – differierende Standpunkte unterschiedlicher Äußerungssubjekte präsentieren, bewerten und hierarchisieren können sowie eine der Vermittlung eigene Dauer und Ordnung der Zeit des dargestellten Handelns notwendig machen. Einen Begriff des ›Erzählers‹, der aus der Differenzierung zwischen Verfasserrede und Figurenrede in Epik und Historiographie eine funktionale Unterscheidung hierarchisierender Geltungsansprüche ableiten und darauf ein Konzept der Spezifik ›narrativer‹ Vermittlung gründen würde, hat Aristoteles jedoch nicht entwickelt, weil ihm Handlungsdarbegründete Ästhetik und Hermeneutik; vgl. dazu u. a. Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert (Studien zur deutschen Literatur 107), Tübingen 1990; Dietmar Till, Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert (Frühe Neuzeit 91), Tübingen 2004. Wegen der unterschiedlichen epistemologischen Voraussetzungen besteht keine Identität zwischen dem, was im Folgenden als rhetorische Reflexionstradition der Handlungsdarstellung bezeichnet wird, und dem, was in Beschreibungen des modernen narratologischen Feldes manchmal ›rhetorical narratology‹ heißt; vgl. insbes. Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, Chicago / London 1961; Robert Scholes, Robert Kellogg, The Nature of Narrative, Oxford 1966; James Phelan, Narrative as Rhetoric: Technique, audiences, ethics, ideology (Theory and interpretation of narrative), Columbus (OH) 1996. 18  Aristoteles, Poetik. Griechisch / Deutsch, übers. u. hg. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, 82 (1460a). Die Unterscheidung stammt aus Platons Politeia (392c– 394c): Plato, Werke in 8 Bänden, hg. Gunther Eigler, bearb. Dietrich Kurz, Darmstadt 21990, Bd. 4: Politeia, 198–204.



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stellung – und nicht etwa Welt- oder Wirklichkeitsdarstellung – als Basiskategorie der Konzeption diente. Die Differenz insbesondere zum Erzählungsbegriff der modernen discours-Narratologie scheint mir nicht eben gering zu sein und vormodernes poetisches wie historiographisches Erzählen generell zu betreffen: Figuren waren hier stets Akteure, Räume Handlungsräume und Zeiten Handlungszeiten. Über die Handlungsdarstellung hinausgehende Weltdarstellung tendierte dazu, eine Funktion der Handlungsdarstellung zu bleiben, während insbesondere ästhetisch avanciertes modernes Erzählen ohne Handlungsdarstellung auskommen und als Weltdarstellung dennoch dem Erzählungsbegriff subsumiert werden kann. Wegen der Absicht, die Dichtung gegen Platons Verdikt zu verteidigen, zielt Aristoteles vor allem auf eine Begründung des Erkenntniswerts der Darstellung erfundenen Handelns: Die Dichtung stelle das Wahrschein­ liche und deshalb mehr Allgemeine, die Geschichtsschreibung das Tatsächliche und deshalb mehr Besondere dar; deshalb sei die Dichtung erkenntnisträchtiger.19 Das Argument impliziert eine Aussage über den Erkenntniswert jeder denkbaren Art der Handlungsdarstellung und setzt die aristotelische Konzeption des Handelns voraus.20 Die praxis ist für Aristoteles kein Gegenstand axiomatisierbaren theoretischen Wissens (episteme), weil ihre Erkenntnis nicht aus allgemeingültigen und unveränderlichen Gesetzmäßigkeiten, sondern nur aus Wahrscheinlichkeitsannahmen deduziert werden kann.21 Der für die Erkenntnis der praxis relevante Wissenstypus ist deshalb die Topik als Reservoir derjenigen Annahmen, die »Allen oder den Meisten oder den Weisen wahr scheinen, und auch von den Weisen wieder entweder Allen oder den Meisten oder den Bekanntesten und Angesehensten«.22 Poetik, 28 f. (1451b). der Begrifflichkeit als Formulierung eines Fiktionalitätskonzepts übersehen diesen Zusammenhang; vgl. etwa Andreas Kablitz, Kunst des Möglichen. Theorie der Literatur (Rombach Wissenschaften Reihe Litterae 190), Freiburg i. Br. u. a. 2012, 219–229. 21  Aristoteles, Nikomachische Ethik, nach der Übersetzung von Eugen Rolfes bearb. Günther Bien, Hamburg 1995, 133–137 (1139b–1141a). 22  Aristoteles, Topik (Organon V), übers. u. mit Anmerkungen vers. Eugen Rolfes, mit einer Einleitung von Hans Günter Zekl, Hamburg 1992, 1 (100b). – Zur Diskursgeschichte des Zusammenhangs zwischen Wahrscheinlichkeit und Topik in antiker und mittelalterlicher Dialektik und Rhetorik (bis Johannes von Salisbury) vgl. Peter von Moos, »Die angesehene Meinung. ›Was allen oder den meisten oder den Sachkundigen richtig scheint‹. Vier Studien zum Endoxon im Mittelalter«, in: ders., Öffentliches und Privates, Gemeinsames und Eigenes. Gesammelte Studien zum Mittelalter. Band III (Geschichte: Forschung und Wissenschaft 16), hg. Gert Melville, Berlin 2007, 237–393. 19  Aristoteles,

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Die Dichter machen das Wahrscheinliche und deshalb Allgemeine besser als die Geschichtsschreiber erkennbar, weil sie das dargestellte Handeln nach topischem Wahrscheinlichkeitswissen erfinden können. Das in der Dichtung dargestellte mögliche Handeln (›was geschehen könnte‹) meint deshalb wahrscheinliches Handeln, wobei sich die Wahrscheinlichkeit am topischen Wissen bemisst. Wie die von Aristoteles angeführten Beispiele und die daraus abgeleiteten Abstraktionen indizieren, bestehen die Wahrscheinlichkeiten in den auf Regelmäßigkeiten beruhenden kausalen Zusammenhängen zwischen Handlungsgründen und Handlungskonsequenzen.23 Der Erkenntniswert der Handlungsdarstellung müsste demzufolge durch die Generalisierbarkeit der Kausalzusammenhänge der erzählten Handlung zustande kommen und deshalb in Dichtung wie Geschichtsschreibung ein exemplarischer sein. Die epistemische Leistung des Beispiels besteht dabei weniger darin, den Rezipienten angetragene Handlungsdirektiven an erfolgreiche oder glücklose Modellakteure zu knüpfen, sondern wahrscheinliche Kausalitäten zwischen Handlungen und ihren Folgen erkennbar zu machen.24 Der Erkenntniswert exemplarischer Handlungsdarstellung ergibt sich aus den Möglichkeiten zur Analogiebildung zwischen dem dargestellten Handeln und anderen Handlungssituationen, in denen dieselben Regularitäten wahrscheinlich gelten werden. Insofern das Beispiel keine Regel für seine eigene Applikation impliziert, kommen Möglichkeiten zur Analogiebil23  Aristoteles, Poetik, insbes. 21 (1450a): »Der wichtigste Teil ist die Zusammenfügung der Geschehnisse. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung. Auch Glück und Unglück beruhen auf Handlung, und das Lebensziel ist eine Art Handlung, keine bestimmte Beschaffenheit. Die Menschen haben wegen ihres Charakters eine bestimmte Beschaffenheit, und infolge ihrer Handlungen sind sie glücklich oder nicht.« Vgl. dazu auch 38–46 (1452b–1454a). 24  Zur Epistemologie des Exemplarischen vgl. Karlheinz Stierle, »Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte«, in: Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel (Hgg.), Geschichte – Ereignis und Erzählung (Poetik und Hermeneutik 5), München 1973, 347–375; Peter von Moos, Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im ›Policraticus‹ Johanns von Salisbury (Ordo 2), Hildesheim u. a. 1988; Reinhart Koselleck, »Historia magistra vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte«, in: ders., Vergangene Zukunft (stw 757), Frankfurt a. M. 52003, 38–66; Walter Haug, Burghart Wachinger (Hgg.), Exempel und Exempelsammlungen (Fortuna vitrea 2), Tübingen 1991; Bernd Engler, Kurt Müller (Hgg.), Exempla. Studien zur Bedeutung und Funktion exemplarischen Erzählens (Schriften zur Literaturwissenschaft 10), Berlin 1995; Jens Haustein, Zum Verhältnis von exemplarischer Erzählung und Exempel an drei Beispielen aus der deutschen Literatur des Mittelalters (Sitzungsberichte d. Sächs. Akad. d. Wiss., Philol.-hist. Kl. 139,6), Stuttgart / Leipzig 2006; Jens Ruchatz u. a. (Hgg.), Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen (LiteraturForschung 4), Berlin 2007.



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dung erst aufgrund anderer Handlungssituationen – respektive in ihnen – zustande. Wenn es im Reich der Praxis keine axiomatischen Gesetzmäßigkeiten, sondern nur wahrscheinliche Regularitäten gibt, leistet das Beispiel epistemisch das der Praxis Angemessene, weil es Wahrscheinlichkeitsregularität und Situationsspezifik in einen Zusammenhang bringt: Es ist die Partikularität der Situationen, derentwegen die Regularitäten lediglich wahrscheinliche Geltung haben können. Handlungswissen besteht deshalb nicht allein in Regularitätenwissen, sondern ebenso in Situationsdeutungswissen als Instrument der Vermittlung zwischen Regularitäten und partikulären Situationen. Es liegt folglich nahe, sich Handlungswissen als Thesaurus topischer Beispiele vorzustellen, die in partikulären Situationen Analogieschlüsse ermöglichen; die epistemische Funktion des Beispiels entspricht dann der Epistemologie der Praxis. Der exemplarische Erkenntniswert der Geschichtsschreibung bleibt für Aristoteles hinter dem der Dichtung zurück, weil tatsächliches Handeln den topischen Wahrscheinlichkeiten im Einzelfall stets auch zuwiderlaufen kann. Handlungsdarstellung ließe sich demnach als Diskursivierung topischen Handlungswissens einschätzen. Sowohl bei den Geschichtsschreibern als auch bei den Dichtern ist sie eine Hervorbringung (poiesis) auf der Grundlage eines je spezifischen Textproduktionswissens (techne). Ihr Erkenntniswert beruht auf dem wahrscheinlichen Handlungswissen, das der dargestellten Handlung zugrunde liegt. Geschichtsschreibung und Dichtung exemplifizieren dieses Handlungswissen; die Dichtung vermag es wegen der Lizenz zur wahrscheinlichkeitsgemäßen Erfindung zuverlässiger zu exemplifizieren. Implizit bietet diese Konzeption auch eine Erklärung dafür, dass Handeln innerhalb einer kulturellen Gruppe als sinnhaft wahrgenommen wird: Sein Sinn besteht in den topischen Annahmen wahrscheinlicher Regularitäten, mit denen es begründet werden kann. Handlungsdarstellung macht diese wahrscheinlichen Regularitäten erkennbar. Die Regularitäten der Praxis sind bei Aristoteles faktische Wahrscheinlichkeiten, aber selbstverständlich keine empirischen im modernen Sinn kontingenter Hypothesen, die statistischer oder experimenteller Überprüfung bedürften. Erst unter den Bedingungen eines nachmetaphysischen Wirklichkeitsverständnisses konnten der aristotelische mimesis-Begriff von seinem Zusammenhang mit Praxis und Topik abgekoppelt, das bei Aristoteles eng mit dem Wahrscheinlichen assoziierte Konzept des Möglichen dem Begriff der möglichen Welten angenähert und das aristotelische Modell der erfundenen Handlungsdarstellung mit exemplarischem Erkennt-

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niswert zu einem Vorläufer moderner Fiktionalitätskonzepte umgedeutet werden.25 Gravierende Konsequenzen für die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Praktiken sowohl historiographischen als auch poetischen Erzählens hatte eine von der aristotelischen abweichende Einschätzung des Erkenntniswerts dargestellten Handelns, die nicht zuletzt in der neu entstehenden spätantiken Kirchen- und Weltgeschichtsschreibung zum Ausdruck kam.26 25  Zur Geschichte der Aristoteles-Deutungen vgl. Anne Eusterschulte u. a., »Mimesis«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 5 (2001), Sp. 1232–1327; Luiz Costa Lima, »Mimesis / Nachahmung«, in: Ästhetische Grundbegriffe 4 (2002), 84–121; Andreas Kablitz, »Mimesis versus Repräsentation. Die Aristotelische Poetik in ihrer neuzeitlichen Repräsentation«, in: Otfried Höffe (Hg.), Aristoteles: Poetik (Klassiker Ausgaben 38), Berlin 2009, 215–232; ders., »Die Unvermeidlichkeit der Natur. Das aristotelische Konzept der Mimesis im Wandel der Zeiten«, in: Gertrud Koch u. a. (Hgg.), Die Mimesis und ihre Künste, München 2010, 189–211. Zur Explikation des Fiktionalitätsbegriffs im Rahmen von Theorien möglicher Welten vgl. Ruth Ronen, Possible Worlds in Literary Theory (Literatur, Culture, Theory 7), Cambridge 1994; Lubomír Doležel, Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds (Parallax), Baltimore 1998; Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft (Allgemeine Literaturwissenschaft 2), Berlin 2001, 68–114; John Divers, Possible Worlds (The problems of philosophy), London 2002; Carola Surkamp, »Narratologie und ›possible worlds theory‹: Narrative Texte als alternative Welten«, in: Ansgar Nünning, Vera Nünning (Hgg.), Neue Ansätze der Erzähltheorie (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 4), Trier 2002, 153–183; Thomas Martin, Poiesis and Possible Worlds. A study in modality and literary theory, Toronto 2004; Marie-Laure Ryan, »From Parallel Universes to Possible Worlds: Ontological Pluralism in Physics, Narratology and Narrative«, Poetics Today 27.4 (2006), 633–674; Françoise Lavocat (Hg.), La théorie littéraire des mondes possibles, Paris 2010; Johan F. Hoorn, Epistemics of the Virtual (Linguistic Approaches to Literature 12), Amsterdam 2012. 26  Als ihr wirkungsmächtigstes Produkt dürfen die bis ins 17. Jahrhundert vielfach benutzten, abgeschriebenen und gedruckten Historiae adversus paganos von Paulus Orosius gelten; vgl. dazu Hans-Werner Goetz, Die Geschichtstheologie des Orosius (Impulse der Forschung 32), Darmstadt 1980; Peter van Nuffelen, Orosius and the Rhetoric of History (Oxford early christian studies), Oxford 2012. Zum historia-Begriff vgl. Arno Seifert, »Historia im Mittelalter«, Archiv für Begriffsgeschichte 21 (1977), 226–284; Joachim Knape, ›Historie‹ in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext (Saecula spiritalia 10), Baden-Baden 1984; Karl Ferdinand Werner, »Gott, Herrscher und Historiograph. Der Geschichtsschreiber als Interpret des Wirkens Gottes in der Welt und Ratgeber der Könige (4. bis 12. Jahrhundert)«, in: ErnstDieter Hehl u. a. (Hgg.), Deus qui mutat tempora. Menschen und Institutionen im Wandel des Mittelalters. Festschrift Alfons Becker, Sigmaringen 1987, 1–31; Fritz Peter Knapp, Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), Heidelberg 1997; Fritz Peter Knapp, Manuela Niesner (Hgg.), Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter (Schriften zur Literaturwissenschaft 19), Berlin 2002; Fritz Peter



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Wenn nämlich die Welt eine von Gott geschaffene Ordnung hat und das menschliche Erkenntnisvermögen zur Erkenntnis dieser Ordnung geschaffen ist, muss die Darstellung faktisch wahren Handelns (historia) einen zuverlässigeren Erkenntniswert haben als diejenige erfundenen Handelns (argumentum, fabula), weil es unter den genannten Voraussetzungen schwer vorstellbar ist, dass das menschliche Erfindungsvermögen Erkenntnisse hervorbringen kann, die nicht in der Schöpfungsordnung begründet sind. Allerdings wäre das menschliche Handeln auch in diesem veränderten Modell nur dann als aus Axiomen deduzierbar aufzufassen gewesen, wenn allein die Schöpfungsordnung, der sie erkennende Intellekt und die den Willen leitende Vernunft als Parameter gegolten hätten. Der Sündenfall als Korruption der Ordnung, des erkennenden Intellekts und der Willensleitung durch die Vernunft brachte eine auf lediglich wahrscheinlichen Regularitäten beruhende Konzeption des Handelns jedoch – aus einer praxeologischen Sicht gewissermaßen durch die theologische Hintertür – wieder ins Spiel. In Entsprechung zu den möglichen Annahmen über das Ausmaß der Korruption konnte dargestelltes Handeln in Mittelalter und früher Neuzeit deshalb ein breites Spektrum unterstellter topischer Regularitäten exemplifizieren, dessen verschiedene Optionen in den kleinepischen Gattungen – Fabel, Bispel, Fabliau, Märe, Prosanovelle, Prosaschwank –, im Tierepos und im Fastnachtspiel besonders prägnant zur Geltung kommen, das jedoch auch den Erkenntnisangeboten der narrativen Sinnkonstruktionen in Historiographie, Vers- und Prosaroman zugrunde liegt. Es reichte von der Annahme einer eingeschränkt, aber im Prinzip weiterhin zuverlässigen und allenfalls mit kurzfristigem Erfolg hintergehbaren tugendethischen Ordnung der diesseitigen Welt, die ordnungsgerechtes Handeln zumindest auf längere Sicht mit diesseitigem Erfolg belohnt und ordnungswidriges mit diesseitigem Scheitern bestraft, bis zu derjenigen einer vollständig korrumpierten diesseitigen Welt, der handlungsdarstellende Texte jedoch zumeist nicht unkalkulierbare Regellosigkeit, sondern andere als tugendethische Regularitäten unterstellten, mit denen Akteure rechnen können.27 Die in Historiographie wie Dichtung weit verbreitete tugendethische Variante mag dem modernen Blick als eine Instrumentalisierung der NarKnapp, Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik (II). Zehn neue Studien und ein Vorwort (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), Heidelberg 2005. 27  Der tugendethischen ›Ordnung‹ stand aus diesem Grund nicht generell das ›Chaos‹ entgegen, wie Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle, Tübingen 2006, meinem Eindruck nach nahelegt.

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ration zur moralischen Belehrung erscheinen.28 Tugendethische Handlungsdarstellung vermittelt jedoch dem eigenen Anspruch nach keine moralischen Normen im Sinn kultureller Konventionen, sondern die Erkenntnis der Grenzen, die die nicht veränderbare Ordnung dem möglichen Erfolg menschlichen Handelns setzt.29 Handlungsdarstellung dieser Art musste zudem immer mit dem Problem zurechtkommen, dass die tugend­ ethische Ordnung, deren regelhafte Wirkungsmacht sie unterstellte, nur eine Konsequenz des Handelns menschlicher Akteure oder direkter Eingriffe Gottes sein konnte. Willensfreiheit und Handlungskonsequenzen waren deshalb stets in ein wechselseitiges Verhältnis zu setzen. Selbst eine so entschieden tugendethische Erzählung wie der Helmbrecht entzieht sich dem nicht, wenn der Vater das Mitleid mit dem heimkehrenden verlorenen Sohn unterdrückt und ihn abweist. Auch die Darstellung einer vollständig korrumpierten Praxis hatte eine exemplarische Erkenntnisfunktion. Das in solchen Fällen diskursivierte topische Handlungswissen unterscheidet sich vom tugendethischen durch das Konzept einer zugunsten kurzfristiger Vorteile und in hohem Maß situationsabhängig operierenden eigennützigen Schlauheit, die erfolgreich auf die Schlechtigkeit weniger schlauer Co-Akteure kalkuliert und dabei als sehr verlässlich ausgewiesenen Handlungsregularitäten folgt.30 Erzählungen dieser Art rechnen in großer Offensichtlichkeit mit Adressaten, die die Tugendethik für eine Illusion halten und zu wissen glauben, wie es auf der Welt ›tatsächlich‹ zugeht. Der moderne Blick übersieht deshalb leicht ihr ebenfalls topisches, alles andere als in einem modernen Sinn empirisches Wirklichkeitsverständnis, das in den Fabeln von Fuchs, Wolf und Löwe eine weit zurückreichende Tradition hatte. Auf den exemplarischen Erkenntniswert dargestellten Handelns konzentrierte vormoderne Erzählpraktiken in Historiographie und Dichtung wiesen sowohl dem Handeln als auch seiner Darstellung einen Sinn als 28  Vgl. etwa Walter Haug, »Schlechte Geschichten – böse Geschichten – gute Geschichten. Oder: Wie steht es um die Erzählkunst in den sog. Mären des Strickers?«, in: Emilio González, Victor Millet (Hgg.), Die Kleinepik des Strickers. Texte, Gattungstraditionen und Interpretationsprobleme (Philologische Studien und Quellen 199), Berlin 2006, 9–27. 29  Gert Hübner, »Tugend und Habitus. Handlungswissen in exemplarischen Erzählungen«, in: Petra Schöner, Gert Hübner (Hgg.), Artium conjunctio. Kulturwissenschaft und Frühneuzeit-Forschung. Aufsätze für Dieter Wuttke (Saecula Spiritalia 48), Baden-Baden 2013, 131–161. 30  Gert Hübner, »Erzähltes Handeln, kulturelles Handlungswissen und ethischer Diskurs. Überlegungen zur Lehrhaftigkeit von Erzählungen«, in: Nicola McLelland u. a. (Hgg.), Lehren, Lernen und Bilden in der Literatur des deutschen Mittelalters (im Druck).



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Aktualisierung topischen Wahrscheinlichkeitswissens zu. Auch wenn das Konzept, das solchen narrativen Verfahrensweisen zugrunde lag, gerade kein kulturalistisches war, hat es doch Ähnlichkeiten mit modernen kulturalistischen Handlungstheorien, in denen Praxis als eine auf kulturellem Handlungswissen beruhende symbolische Bedeutungsordnung verstanden wird.31 Wie schon die aristotelische Konzeption der Topik als das die Praxis und ihre Darstellung begründende Wahrscheinlichkeitswissen, legt die praxeologische Soziologie die Einschätzung nahe, dass Handlungswissen ein spezifischer Typus vorzugsweise impliziten Wissens ist, das konkretes Handeln für die Mitglieder einer kulturellen Gruppe sinnhaft macht. Die modernen Theorien sozialen Handelns haben zur Analyse dieses Wissens begriffliche Instrumente entwickelt, die sich bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Modellen zunehmend auf Deutungsprozeduren für Handlungssituationen zur Vermittlung zwischen Regularitätenwissen und partikulären Situationen konzentrieren. Ein solcher ›methodologischer Situationalismus‹32 könnte für eine historische Narratologie vormodernen Erzählens interessant sein, weil Erzählungen Handeln – im Unterschied insbesondere zu den vormodernen ethischen Diskursen – in 31  Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (stw 291), Frankfurt a. M. 1976; ders., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft (stw 1066), Frankfurt a. M. 1987; ders., Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft (stw 1695), Frankfurt a. M. 2001; Michael Polanyi, Implizites Wissen (stw 543), Frankfurt a. M. 1985; Stephen Turner, The Social Theory of Practices. Tradition, Tacit Knowlegde, and Presuppositions, Cambridge 1994; Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000; ders., »Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodische Relation«, in: Herbert Kalthoff u. a. (Hgg.), Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung (stw 1881), Frankfurt a. M. 2008, 188–209; Theodore Schatzki u. a. (Hgg.), The Practice Turn in Contemporary Theory, London / New York 2001; Karl Heinz Hörning, Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens, Weilerswist 2001; Beate Krais, Gunter Gebauer, Habitus, Bielefeld 2002; Jörg Ebrecht (Hg.), Bourdieus Theo­ rie der Praxis. Erklärungskraft, Anwendung, Perspektiven, Wiesbaden 2002; Boike Rehbein u. a. (Hgg.), Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen. Probleme und Perspektiven (Theorie und Methode Sozialwissenschaften), Konstanz 2003; Karl Heinz Hörning, Julia Reuter (Hgg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis zwischen Kultur und sozialer Praxis (Sozialtheorie), Bielefeld 2004; Stefan Moebius, »Handlung und Praxis. Konturen einer poststrukturalistischen Praxistheorie«, in: Stefan Moebius u. Andreas Reckwitz (Hgg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften (stw 1869), Frankfurt a. M. 2008, 58–74; Daniel Suber u. a. (Hgg.), Pierre Bourdieu und die Kulturwissenschaften. Zur Aktualität eines undisziplinierten Denkens (Theorie und Methode Sozialwissenschaften), Konstanz 2011; Robert Schmidt, Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen (stw 2030), Frankfurt a. M. 2012. 32  Schmidt, Soziologie der Praktiken.

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mehr oder weniger detaillierten Situationsarrangements darstellen. Situationsbezogene Handlungsdarstellung konnte für die historischen Rezipienten einen verstehbaren Sinn dann nur in dem Maß haben, in dem sich das dargestellte Handeln auf ihr kulturelles Handlungswissen bezog. Die zentrale Aufgabe der narratologischen Analyse hätte deshalb den Wahrscheinlichkeitsregularitäten zu gelten, die unterstellt werden müssen, damit dargestelltes Handeln als plausibel erscheinen kann. Weil diese Plausibilität eine situationsabhängige ist, bedarf ihre Rekonstruktion der detaillierten Analyse dargestellter Handlungssituationen. Dies impliziert einen erheblichen Unterschied zur ›klassischen‹ strukturalistischen histoire-Narratologie, die infolge ihrer universalistischen Zielsetzung einerseits keine kategoriale Systemstelle für sinnkonstitutives kulturelles – und damit historisches – Handlungswissen vorsieht und deren Handlungsbegriff sich andererseits auch gar nicht auf Handeln im handlungstheoretischen Sinn bezieht. Die Abstraktion vom Handlungswissen gehört zu den Ursachen ihrer interpretatorischen Schwäche: Propps ›Funktionen‹ (Typen von Vorgängen wie Abreise, Rückkehr, Schädigung, Rettung etc.) und ›Rollen‹ (Typen von Figurenfunktionen wie Held, Gegenspieler, Schadenstifter, Helfer etc.) oder Greimas’ ›Aktanten‹ etwa bezahlen die intendierte Breite ihrer begrifflichen Extension notwendigerweise mit der Allgemeinheit ihrer Intension.33 Der nicht auf dargestelltes Handeln ausgerichtete Handlungsbegriff tritt in mediävistischen Adapta­ tionen des analytischen Verfahrens insbesondere zutage, wenn ›Erzählschemata‹ wie Brautwerbung, aventiure, Protagonistenweg oder Mahrtenehe einen von konkreten Situationsarrangements abstrahierten Sinn zugewiesen bekommen, der in einer Begriffsrelation besteht (exogame vs. endogame Heirat, höfische Ordnung vs. Gewalt etc.).34 ›Handlung‹ bedeutet 33  Propp, Morphologie des Märchens; Algirdas Greimas, Sémantique structurale, Paris 1966. 34  Schulz, Erzähltheorie, 159–291. – Was in narratologisch orientierten mediävistischen Analysen gern als ›Erzählschema‹ (im Sinn von ›Handlungsschema‹) bezeichnet wird, fiele in den Beschreibungsmodellen soziologischer Handlungstheorien gar nicht unter einen terminologisch explizierbaren Handlungsbegriff. Auch jenseits der Mediävistik ist im narratologischen Sprachgebrauch mit ›Handlung‹ meistens etwas anderes gemeint als in Handlungstheorien, nämlich eine Struktur von Figuren, Räumen und Zeiten zugewiesenen Bedeutungen. Wie stark narratologische und handlungstheoretische Phänomenkonstituierung hier differieren, zeigt schon ein vergleichsweise einfacher Begriff wie ›finale Handlungsmotivierung‹, der gewöhnlich insinuiert, dass ein erzähltes Geschehen zielgerichtet verläuft. Wenn man ihn in einem handlungstheoretischen Sinn benutzen und auf das Handeln eines Akteurs in einer Situation beziehen wollte, würde er entweder redundant oder unscharf: Handeln ist wegen seiner Intentionalität stets ›final motiviert‹, doch stellt das Zielkalkül



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in einer solchen Deutungspraxis lediglich die Veranschaulichung einer Begriffsrelation in einem raumzeitlichen Geschehen. Wenn die Verbindung zwischen Geschehen und Begriffsrelation dann noch raumsemantisch konzipiert wird,35 bleibt vom dargestellten Handeln nichts weiter übrig als Bewegungen der Figuren auf semantischen Feldern. Die methodische Austreibung des Handelns aus der Handlungsdarstellung unterdrückt jede Aufmerksamkeit für die Details von Handlungssituationen, die dargestelltes Handeln für historische Rezipienten erst sinnhaft machen, ebenso absichtlich wie systematisch durch mit dem Erzählschema begründete Relevanzunterstellungen. Selbst sehr ausführlich dargestelltes Handeln wie beispielsweise die Überredung Laudines durch Lunete im Iwein kann als sekundär für die Sinnkonstitution eingeschätzt werden, wenn es keine Schemaposition besetzt. In ähnlicher Weise lässt sich der Sinn von Schwankhandlungen so in einer Aktualisierung von Schemata der Steigerung, Revanche oder Spannung situieren,36 dass die konkreten Handlungssituationen, in denen je Spezifisches in je spezifischer Weise gesteigert, gerächt oder in einem Spannungsverhältnis gehalten wird, nur noch als Oberflächenvariationen erscheinen. In einer praxeologischen Narratologie der histoire-Ebene vormoderner Erzählungen müssten dagegen gerade die konkreten Situationsdetails und Akteureigenschaften als konstitutiv für den Sinn des erzählten Handelns gelten. Die Analyse sowohl poetischen als auch historiographischen Erzählens hätte dann die Aufgabe, aus den dargestellten Handlungssituationen dasjenige kulturelle Deutungs- und Regularitätenwissen zu rekonstruieren, das diese für Textverfasser und Adressaten zu plausibilisieren verdes Akteurs dabei einfach eine mögliche kausale Begründung des Handelns dar (x tut B, weil x annimmt, in der Situation A durch B das Ziel C erreichen zu können). Wenn das Handeln eines Akteurs im Dienst einer anderen menschlichen Intention als derjenigen des Akteurs steht, stellt diese Intention eine zweite kausale Begründung des Handelns neben derjenigen mit der Intention des Akteurs dar (y tut E, weil y annimmt, in der Situation D durch E das Ziel F erreichen zu können; und E impliziert, dass x B tut, weil x annimmt, in der Situation A durch B das Ziel C erreichen zu können). Die göttliche Vorhersehung ist eine Variante dieser zweiten Handlungsbegründung (y = Gott nimmt dann nicht an, sondern weiß, und kann nicht erreichen, sondern erreicht). Das antike fatum und der moderne schicksalhafte Zufall begründen das menschliche Handeln und seine Folgen ohne zweites personales Subjekt unmittelbar kausal (das fatum / der schicksalhafte Zufall ist der Grund dafür, dass x annimmt, in der Situation A durch B das Ziel C erreichen zu können, und das fatum / der schicksalhafte Zufall ist der Grund dafür, dass B zu D führt, wobei D mit C identisch oder nicht identisch sein kann). 35  Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte (UTB 103), München 1972. 36  Hermann Bausinger, »Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen«, Fabula 9 (1967), 118–136.

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mochte. So kann etwa die Überredung Laudines durch Lunete nur unter etlichen Voraussetzungen plausibel gewesen sein, zu denen beispielsweise auch die Wahrscheinlichkeit spezifischer Differenzen zwischen Machtstatus und Erkenntnisvermögen unter Akteuren an Höfen sowie die Wahrscheinlichkeit der Überzeugungskraft kurzfristiger Eigennutzkalküle in Situationen der Statusgefährdung gehört haben müssten. Die Kategorien der aristotelischen Poetik und der modernen histoireNarratologie behalten im Rahmen einer solchen handlungstheoretisch orientierten Heuristik einen instrumentellen Wert, werden aber zu Sinnzuweisungen an Akteure und Situationen. Wahrscheinlich wird eine praxeologische Narratologie den Begriff des Akteurs gegenüber dem der Figur bevorzugen, Raum wie Zeit primär als Situationsbestandteile konzipieren und sich mehr für mögliche Begründungen dargestellten Handelns (im handlungstheoretischen Sinn) als für Handlungsverknüpfung (im Sinn einer Form textueller Kohärenz) interessieren. Narrative Praktiken der Darstellung des Handelns von Akteuren in Situationen würden ihr in Übereinstimmung mit kultursoziologischen Praxis-Konzepten nicht als gewissermaßen ›reine‹, sondern stets als symbolische Formen37 gelten, die als Formen erst durch kulturelle Sinnzuweisungen an Akteure und Situationen auf der Basis kulturellen Handlungswissens konstituiert werden. Mit ihrer Untersuchung würde sie das Erkenntnisinteresse verfolgen, die Geschichte des kulturellen Praxiswissens und seines Verhältnisses zu der des diskursiven Wissens aus den erhaltenen Texten sowie die Verfahrensweisen und kulturellen Leistungen seiner Aktualisierung in den erhaltenen Texten zu rekonstruieren. III. Rhetorik Die zweite historisch wirkungsmächtige vormoderne Tradition der Reflexion über Handlungsdarstellung, deren diskursgeschichtliche Institutionalisierungen in Traktatliteratur und Schulunterricht seit der Spätantike auch Konzepte der ersten vermittelten, hat ihren Ursprung in der rhetori37  Ernst Cassirer, Theorie der symbolischen Formen. Erster Teil. Die Sprache (Philosophische Bibliothek 607), Text und Anmerkungen bearb. Claus Rosenkranz, Hamburg 2010. Den Begriff ›Sinn‹ gebrauche ich im Folgenden so, wie es in der kulturwissenschaftlichen Soziologie im Anschluss an Max Weber gängig ist, d. h. als Bezeichnung für die Aktualisierung einer Wissensordnung, die Kohärenz- und Kausalitätsunterstellungen (insbesondere in Form von Intentionalitätsunterstellungen) ermöglicht, durch einen sozialen Akteur; vgl. insbes. Peter L. Berger, Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 242012.



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schen Lehre von der Erzählung des Tathergangs in der Gerichtsrede.38 Weil die narratio im Aufbauschema der Gerichtsrede die anschließende rechtliche Beurteilung des Falls vorbereitete, galt das Interesse hier in erster Linie Verfahrensweisen urteilslenkender Textstrukturierung, die bei der Produktion der Rede als Wirkungskalküle im Sinn der zentralen Funktionskonzepte Glaubhaftigkeit und Parteilichkeit dienen konnten. Obwohl die Rhetorik in der Spätantike immer mehr von einer techne der öffentlichen Rede zu einer allgemeinen Textproduktionslehre wurde, blieb ihr narratio-Konzept seinem anfänglichen Funktionszusammenhang verhaftet, die Bewertung dargestellten Handelns zu steuern. Glaubhaftigkeit erzielt der Redner durch die Übereinstimmung seiner Erzählung mit dem Wahrscheinlichkeitswissen seiner Adressaten, die er mittels topischer inventio herstellt. Aus diesem Grund entfaltet Ciceros Traktat De inventione eine detaillierte Topik der Eigenschaften von Personen und der Bestandteile von Handlungssituationen, die den Gerichtsredner bei seiner Konzeption der narratio anleiten kann.39 Nach der im Frühmittelalter dominierenden Bevorzugung von Wissenskompendien – Cassiodor, Martianus Capella, Isidor von Sevilla – avancierte De inven­ tione zusammen mit der Rhetorica ad Herennium seit dem späten 11. Jahrhundert zur Grundlage für den Rhetorikunterricht in den Schulen, wobei der ursprüngliche Bezug auf die narratio in der Gerichtsrede durch die Generalisierung auf tatsächlich praktizierte Arten von Erzählungen ersetzt wurde.40 Als beispielsweise Matthäus von Vendôme im späteren 12. Jahrhundert Ciceros Topik in der Ars versificatoria mit leichten Modifikationen referierte, gab er seinen Schülern damit eine Möglichkeit an die Hand, für die Glaubhaftigkeit poetischer Erzählungen durch die topische inventio des Wahrscheinlichen zu sorgen.41 38  Joachim Knape, »Narratio«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 6 (2003), Sp. 98–106; zu den früh- und hochmittelalterlichen Unterrichtstraditionen Alexandru N. Cizek, Imitatio et tractatio. Die literarisch-theoretischen Grundlagen der Nachahmung in Antike und Mittelalter (Rhetorik-Forschungen 7), Tübingen 1994. 39  M. Tullius Cicero, De inventione. Über die Auffindung des Stoffes. De optime genere oratorum. Über die beste Gattung von Rednern, hg. u. übers. Theodor Nüßlein, Düsseldorf / Zürich 1998. 40  Rita Copeland, Ineke Sluiter (Hgg.), Medieval Grammar and Rhetoric. Language Arts and Literary Theory, AD 300–1475, Oxford 2009. 41  Mathei Vindocinensis Opera, hg. Franco Munari. Bd. 3: Ars versificatoria, Rom 1988; James Jerome Murphy, »The Arts of Poetry and Prose«, in: Alastair Minnis u. Ian Johnson (Hgg.), The Cambridge History of Literary Criticism. Vol. 2. The Middle Ages, Cambridge 2005, 42–67; Silvia Schmitz, Die Poetik der Adaptation. Literarische inventio im ›Eneas‹ Heinrichs von Veldeke (Hermaea N. F. 113), Tübingen 2007.

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Im Rekurs auf topisches Wahrscheinlichkeitswissen konvergieren die beiden vormodernen Traditionen der Reflexion über Handlungsdarstellung nicht zufällig, sondern wegen des vorausgesetzten Wirklichkeitskonzepts, in dem das Handeln, seine Darstellung und die Erkenntnis seiner Bedeutung durch Regularitäten begründet ist, die als wahrscheinlich gelten. Die antike Rhetorik betonte dabei insbesondere, dass Handlungsdarstellung nicht durch die Übereinstimmung mit tatsächlich Geschehenem, sondern mit Wahrscheinlichkeitswissen glaubhaft wird. In der christlichen Spätantike verschob sich dies infolge des Axioms, dass das Partikuläre in einer als Ordnung geschaffenen Welt stets ein Fall des Allgemeingültigen sein muss, zugunsten der unterstellten Übereinstimmung zwischen dem Wahrscheinlichen und dem Wahren. Aus diesem Grund konnten beispielsweise Bestandteile jeder historia sowohl von Geschichtsschreibern als auch von Dichtern mittels topischer inventio erfunden werden, ohne dass dies den Anspruch auf die Vermittlung faktischer Wahrheit beeinträchtigen musste:42 In Gestalt des Wahrscheinlichen wurde dabei das Wahre ›gefunden‹. Das Konzept war auch für das Desinteresse an der Entfaltung des rhetorischen Begriffs argumentum zu einer eigenständigen Reflexionskategorie und für die gängige dichotomische Kategorisierung der Handlungsdarstellung als faktisch wahr oder erfunden verantwortlich: Im Dienst einer historia konnte das erfundene Wahrscheinliche als gefundenes gelten und zum Bestandteil des faktisch Wahren werden; außerhalb der historia unterschied sich sein Erkenntniswert nicht von dem einer fabula, die an erfundenem Spezifischen wahres Allgemeingültiges exemplifiziert. Das Konzept der Parteilichkeit der narratio beruhte in der antiken rhetorischen Lehre von der Gerichtsrede ebenfalls auf dem des topischen Wahrscheinlichkeitswissens: Wenn selbst die Darstellung der Wahrheit nur glaubhaft sein kann, indem sie topisch ist, muss umgekehrt eine topische Darstellung auch dann glaubhaft sein, wenn sie nicht wahrheitsgemäß ist. Dies war der Grund für jene christlichen Vorbehalte gegen die Rhetorik, die Augustinus durch ihre normative Verpflichtung auf Wahrheitsdarstellung mit einigem Erfolg auszuräumen versuchte.43 Während beispielsweise rhetorisch konstruierte evidentia der antiken Vorstellung 42  Brigitte Burrichter, Wahrheit und Fiktion. Der Status der Fiktionalität in der Artusliteratur des 12. Jahrhunderts (Beihefte zur Poetica 21), München 1996, 19–28. 43  Augustine, De doctrina christiana, hg. u. übers. Roger P. H. Green, Oxford 1997, Buch IV; dt. Aurelius Augustinus, Die christliche Bildung (De doctrina chris­ tiana), Übers., Anm. u. Nachwort Karla Pollmann, Stuttgart 2002; vgl. dazu Joachim Knape, »Augustinus De doctrina christiana in der mittelalterlichen Rhetorikgeschichte. Mit Abdruck des rhetorischen Augustinusindex von Stephan Hoest (1466 / 67)«, in: Adolar Zumkeller, Achim Krümmel (Hgg.), Traditio Augustiniana.



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nach vor allem dort angebracht war, wo es an tatsächlicher Evidenz mangelte, diente sie mittelalterlichen Geschichtsschreibern als Wahrheitsbeglaubigung für potentiell Unwahrscheinliches, weil erfundene evidentia als im Wahrscheinlichkeitswissen ›gefundene‹ Wahrheit eingeschätzt werden konnte.44 In den Jahrzehnten um 1200 jedoch erprobten höfische Dichter, über deren rhetorische Kenntnisse es wenig Zweifel geben kann,45 Optionen parteiischen Erzählens, um das Urteil ihrer Adressaten über Akteure und ihr Handeln in problematischen Fällen zu lenken.46 In die gelehrten Diskurse kehrte die antike Gedankenfigur zu Beginn des 13. Jahrhunderts zurück, als die Rhetorik in Bologna Bestandteil der Juristenausbildung wurde: Boncompagno da Signa lehrte in der Rhetorica novissima, dass es die Aufgabe von Advokaten sei, »Wahres darzulegen, Wahrheitsähnliches zu erfinden, Erlogenes zu bemänteln, Falsches unter dem Bild der Wahrheit zu verbergen«.47 Im späteren 13. Jahrhundert ließ Konrad von Würzburg seinen Engelhard vor Gericht lügen, als ob er bei Boncompagno studiert hätte, und erzählte das so parteiisch, dass der Erfolg der Lüge Studien über Augustinus und seine Rezeption (Cassiciacum 46), Würzburg 1994, 141–173. 44  Ansgar Kemmann, »Evidentia, Evidenz«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 3 (1996), Sp. 33–47; zur frühen Neuzeit Andreas Solbach, Evidentia und Erzähltheorie. Die Rhetorik anschaulichen Erzählens in der Frühmoderne und ihre antiken Quellen (Figuren 2), München 1994; zum Mittelalter Gert Hübner, »evidentia. Erzählformen und ihre Funktionen«, in: Haferland, Meyer (Hgg.), Historische Narratologie, 119–147. 45  Douglas Kelly, The Art of Medieval French Romance, Madison 1992; Hans Fromm, »Die mittelalterlichen Eneasromane und die Poetik des ordo narrandi«, in: Harald Haferland, Michael Mecklenburg (Hgg.), Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), München 1996, 27–40; Franz Josef Worstbrock, »Dilatatio materiae. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue«, Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), 1–30; Schmitz, Die Poetik der Adaption. 46  Hübner, Erzählform, passim; Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie. Rezeptionslenkende Strukturen mittelalterlicher Texte am Beispiel des WillehalmStoffs (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 50), Berlin / New York 2008; Friedrich Michael Dimpel, Die Zofe im Fokus. Perspektivierung und Sympathiesteuerung durch Nebenfiguren vom Typus der Confidente in der höfischen Epik des hohen Mittelalters (Philologische Studien und Quellen 232), Berlin 2011. 47  Officium advocati est vera proponere, verisimilia fingere, palliare mendacia, velare falsitatem sub imagine veritatis […]. »Boncompagni Rhetorica novissima«, hg. Augusto Gaudenzi, in: Bibliotheca iuridica Medii Aevi. Scripta anecdota glossatorum, Bologna 1892, Bd. 2, 249–297, hier 259; vgl. dazu Terence O. Tunberg, »What is Boncompagno’s ›Newest Rhetoric‹?«, Traditio 42 (1986), 299–334.

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Rezipienten mit höfischen Einstellungen nur befriedigen konnte.48 Die parteiisch-relativistischen Potentiale der Rhetorik brachten außerdem eine Komplexion des exemplarischen Erzählens hervor, die sich gut mit einer historisierenden Modifikation des Kasus-Begriffs von André Jolles erfassen lässt.49 Kasuistisches Erzählen stellt Handeln so dar, dass es durch den Rekurs auf miteinander konkurrierende Regularitäten begründet und bewertet werden kann, und hebt dadurch Widersprüche im kulturellen Handlungswissen in die Reflexion. Ein prominentes frühes Beispiel dieses Typus der bewertungslenkenden Handlungsdarstellung, der vor allem in der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Kleinepik häufiger begegnet, ist Thomas’ Tristan-Roman, in dem eine ausdrückliche Präsentation der erzählten Geschichte als Minnekasus, den die Rezipienten debattieren sollen, das Konzept im Rahmen des historisch Möglichen auch offenlegt.50 48  Konrad von Würzburg, Engelhard (Altdeutsche Textbibliothek 17), hg. Ingo Reiffenstein, 3., neubearb. Aufl. d. Ausg. v. Paul Gereke, Tübingen 1982, v. 3671– 4125. 49  André Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz (Sächsische Forschungsinstitute in Leipzig, Neugermanistische Abteilung 2), Halle a.d.S. 1930; Ilse Nolting-Hauff, Die Stellung der Liebeskasuistik im höfischen Roman, Heidelberg 1959; Hans-Jörg Neuschäfer, Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit (Heidelberger Forschungen 6), München 1969; Manfred Eikelmann, »Kasus«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 2 (2000), 239–241; Udo Friedrich, »Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen«, in: Beate Kellner u. a. (Hgg.), Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter (Philologische Studien und Quellen 190), Berlin 2005, 227–250; ders., »Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen«, in: Marc Chinca u. a. (Hgg.), Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Per­ spektiven (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 13), Berlin 2006, 48–75; Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius, »Vergebliche Rationalität. Erzählen zwischen Kasus und Exempel in Wittenwilers Ring«, in: Klaus Ridder u. a. (Hgg.), Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur (Wolfram-Studien 20), Berlin 2008, 177–204; Caroline Emmelius, »Kasus und Novelle. Beobachtungen zur Genese des Decameron (mit einem generischen Vorschlag zur mhd. Märendichtung)«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N. F. 51 (2010), 45–74; dies., »Der Fall des Märe. Rechtsdiskurs und Fallgeschehen bei Heinrich Kaufringer«, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 163 (2011), 88–113; Hartmut Bleumer, »Vom guten Recht des Teufels. Kasus, Tropus und die Macht der Sprache beim Stricker und im Erzählmotiv ›The Devil and the Lawyer‹ (AT 1186; Mot M 215)«, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 163 (2011), 149–173; Coralie Rippl, Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (Bibliotheca Germanica 61), Tübingen 2014. 50  Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold (Bibliothek des Mittelalters 11), hg. Walter Haug u. Manfred Günter Scholz, mit dem Text des Thomas, hg., übers. u. komm. Walter Haug, Frankfurt a. M. 2011, Bd. 2, 64–73, v. 991–1123.



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Das vormoderne rhetorische Interesse an Verfahrensweisen urteilslenkender Handlungsdarstellung ähnelt in mancher Hinsicht dem Interesse der modernen discours-Narratologie an narrativen Vermittlungsverfahren. Die rhetorische Episteme beruhte jedoch nicht auf der Annahme einer unhintergehbaren Subjektivität des menschlichen Weltverhältnisses, sondern auf einem Wirklichkeitskonzept, für das die Unterscheidbarkeit von Wahrem und Unwahrem stets konstitutiv blieb und das beides in eine Relation zum der Wahrscheinlichkeit wegen Glaubhaften stellte. Weil die Rhetorik bereits die topische inventio als ›Findung‹ des Wahrscheinlichen in den Dienst der Adressatenlenkung stellte, erfasste sie zudem auch Praktiken, die heute zum Gegenstandsbereich der histoire-Narratologie gehören. Die einflussreiche Personal- und Handlungstopik Ciceros etwa unterstellte Relationen zwischen Kausalität und Plausibilität, deren Entsprechungen im historiographischen und poetischen Erzählen auf Schritt und Tritt begegnen: Eigenschaften, Affektionen und Reflexionen von Akteuren erscheinen als Gründe ihres Handelns, die zusammen mit dem Handeln auch dessen Darstellung plausibilisieren. Um sowohl die heuristischen Potentiale der vormodernen rhetorischen narratio-Lehre als auch die der modernen discours-Narratologie nutzen zu können, ohne die Funktionsbestimmungen der vormodernen Rhetorik bei der Interpretation lediglich zu übernehmen oder die Kategorien der modernen Narratologie einschließlich ihrer subjektphilosophischen Implikationen als universale Formen der erzählerischen Vermittlung zu hypostasieren, braucht es einen Begriff von narrativen Praktiken als symbolischen Formen, der unterstellt, dass Formen der narrativen Vermittlung erst durch kulturelle Sinnzuweisungen als solche konstituiert werden. Die narratologische Analyse hätte dann damit zu rechnen, dass narrative Vermittlungsformen, die durch eine bestimmte kulturelle Sinnzuweisung einmal etabliert sind, eine größere historische Beharrungskraft haben können als die sie ursprünglich konstituierenden Sinnzuweisungen und sich durch Umcodierungen mit neuen Sinnzuweisungen verbinden lassen. Ein Beispiel dafür ist das Formenrepertoire, das durch den rhetorischen evidentia-Begriff als sinntragendes bestimmt wurde. Der Sinn veranschaulichender narrativer Detaillierung bestand für die Rhetorik sowohl in der Plausibilisierung als auch in der parteiischen Bewertungslenkung. Wenn manche höfische Romane die evidentia-Verfahren für parteiisches Erzählen benutzen, könnte das folglich durchaus an eine der rhetorischen Sinnzuweisungen anknüpfen. Möglicherweise reichen diese jedoch nicht in jedem Fall aus, um Distribution und Elaboriertheit von evidentia-Verfahren funktional überzeugend zu erklären. Dann besteht ein Anlass, der Ausdifferenzierung oder Veränderung des historischen Sinnpotentials

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durch interpretatorische Arbeit auf die Spur zu kommen. Dabei den Rahmen einer historischen Wissensordnung zu verlassen, deren Kategoriensystem auf Urteilslenkung durch Textstrukturierung gegründet war, müsste meines Erachtens allerdings ein sehr hohes Maß an historischem Plausibilisierungsaufwand erfordern. Discours-Narratologie ist für vormoderne Erzählungen nicht weniger relevant als für moderne;51 historisch adäquat scheint sie mir indes vor allem durch eine Verbindung mit dem rhetorischen Wissen über Persuasionsverfahren werden zu können. Während es in der deutschsprachigen Literatur Kontinuitätsbrüche und Re-Importe gab, lässt sich die Tradition der evidentia-Verfahren und ihrer Umcodierungen im europäischen Rahmen kontinuierlicher verfolgen: Nach den höfischen Romanen des 12. und 13. Jahrhunderts erweisen sich dabei insbesondere die Pikaroromane des 16. und 17. Jahrhunderts sowie die philosophische Ästhetik des 18. Jahrhunderts mit ihren Auswirkungen auf den modernen Roman als folgenreich.52 Die historischen Prozesse der Kontinuitätsbildungen und Neufunktionalisierungen sind der Grund dafür, dass man die Formenrepertoires, die in der modernen Narratologie ›interne Fokalisierung‹ heißen, schon in höfischen Romanen und Pikaroromanen finden kann; die Veränderungen der Sinnzuweisungen sind dafür verantwortlich, dass es sich dabei um unterschiedliche symbolische Formen handelt. IV. Reflexionsbegriffe und narrative Praktiken Nicht zu unterschätzende Konsequenzen für einen Begriff narrativer Praktiken als symbolischer Formen könnte die in den praxeologischen Kulturtheorien verbreitete Annahme haben, dass das in kulturellen Praktiken aktualisierte Handlungswissen für die Mitglieder der jeweiligen Gruppe den Status impliziten Wissens hat.53 Im Rahmen eines praxeologischen Modells ergibt sich daraus ein spezifisches Verhältnis zwischen Praktiken und Reflexionsbegriffen, weil implizites Wissen stets nur durch diskursivierende Explikationen zugänglich gemacht werden kann, die unvermeidbar interpretatorisch verfahren müssen und notwendigerweise 51  So dezidiert – meines Erachtens nicht zutreffend – Schulz, Erzähltheorie, 1–6 und passim. 52  Solbach, Evidentia und Erzähltheorie; Gottfried Willems, Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils (Studien zur deutschen Literatur 103), Tübingen 1989. 53  Emphatisch hervorgehoben insbesondere von Bourdieu, Sozialer Sinn, 166 f.; dems., Meditationen, 238, 302. Vgl. zum Folgenden ibid., 165–209.



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nicht mit dem von ihnen Explizierten identisch sein können. Dies gilt sowohl für gruppeninterne Explikationen als auch für Explikationen externer Beobachter. Explikationen kultureller Praktiken sind deshalb immer Interpretationskonstrukte. Externe Beobachter können Explikationen von Gruppenmitgliedern folglich nicht einfach mit dem praktischen Wissen identifizieren, auf dem die Praktiken beruhen. Gleichwohl haben interne Explikationen wegen ihrer Nähe zu den Praktiken einen besonders großen heuristischen Wert für externe Interpretationen. Im Fall narrativer Praktiken kommt zeitgenössischen Diskursivierungen und Reflexionsbegriffen der Rang interner Explikationen dann zu, wenn sie aus derselben kulturellen Gruppe stammen wie die Praktiken. Ob also beispielsweise ein höfischer Romandichter seine eigenen narrativen Praktiken im Rekurs auf ›gelehrte‹ Begriffe der lateinischen Bildungstradition oder ohne einen solchen expliziert, ändert insofern nichts am Status der Explikation als internes Interpretationskonstrukt, als er in beiden Fällen seine eigenen Praktiken expliziert. Für Rezipienten konnten gelehrte Explikationen dagegen nur dann interne sein, wenn sie selber einen Zugang zur lateinischen Bildungstradition hatten. Aus Mittelalter und früher Neuzeit erhaltene Explikationen narrativer Praktiken stammen nun freilich entweder von Menschen mit einem mehr oder weniger breiten Zugang zur lateinischen Bildungstradition oder wurden von solchen für eine schriftliche Aufzeichnung ausgewählt. Schriftkundige sind darüber hinaus für die Produktion aller erhaltenen Aufzeichnungen und Drucke von Erzählungen – und damit für die Auswahl des Aufgezeichneten oder Gedruckten –, für die Produktion der erhaltenen lateinischen Erzählungen und für die Produktion eines großen Teils der schriftlich überlieferten volkssprachlichen Erzählungen verantwortlich. Jeder Zugang zu narrativen Praktiken jenseits der lateinischen Bildungs­ tradition führt deshalb über Hervorbringungen von Schriftkundigen mit Zugang zur lateinischen Bildungstradition. Das begrenzt die Erkenntnisoptionen erheblich, und möglicherweise sind sie noch enger begrenzt: Was immer an mittelalterlichen und frühneuzeitlichen narrativen Praktiken, auch an solchen jenseits der Gelehrtenkultur, heute noch verstehbar ist, könnte dies nur aufgrund von Prozessen gelehrter Traditionsbildung sein, die seit der Antike etablierte narrative Praktiken so auf Dauer stellten oder umcodierten, dass die dadurch hergestellten Kontinuitäten heutigen Beobachtern Identifikationen und Deutungen ermöglichen. Während dem Aufspüren von Formenrepertoires narrativer Praktiken außer internen Explikationen die Identifikation von Musterbildungen – also von Rekurrenzen – in historischen Textreihen zuträglich ist, bleibt das Aufspüren von Sinnzuweisungen auf interne Explikationen und externe

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interpretatorische Plausibilierungen kontextueller Funktionszusammenhänge angewiesen, weil Korrelationen von Formen und Sinnzuweisungen auf kulturellen Konventionen beruhen. Heuristische Instrumente für die externe interpretatorische Identifikation von Sinnzuweisungen können sich deshalb letzten Endes nur aus kulturellen Prozessen der Kontinuitätsbildung ergeben, die einen interpretatorischen Zugang externer Beobachter zum impliziten Handlungswissen der untersuchten Gruppe ermöglichen. Nicht intern expliziertes und durch Traditionsbrüche verloren gegangenes implizites Wissen bleibt externen Beobachtern dagegen unzugänglich. Externe Deutungen können folglich allein aufgrund einer Rekonstruktion der Kontinuitätsbildungsprozesse, die Deutende und Gedeutetes miteinander verbinden, valide sein. In den für die methodische Modellbildung am besten geeigneten – in diesem Sinn prototypischen – Fällen sind narrative Praktiken Implikationen sprachlicher Handlungen, die mündliche oder schriftliche Äußerungen hervorbringen.54 Die Formseite narrativer Praktiken ist folglich nicht unmittelbar wahrnehmbar, sondern eine Abstraktion aus der ebenfalls nicht unmittelbar wahrnehmbaren Bedeutungsseite sprachlicher Äußerungen. Die kulturellen Sinnzuweisungen, die narrative Formen erst als solche konstituieren, sind noch wahrnehmungsferner. Wenn vormoderne narrative Praktiken und ihre Geschichte mittels der Interpretation zufällig überlieferter sprachlicher Äußerungen rekonstruiert werden müssen, kann eine praxeologisch begründete narratologische Analyse nur die in erhaltenen Schriftquellen aktualisierten Praktiken rekonstruieren; eine Rekonstruktion narrativer Praktiken aus hypothetischen mündlichen Äußerungen liegt dagegen weit jenseits des mit ihren methodischen Mitteln Validierbaren. Folglich kann sie auch keine Aussagen über Zusammenhänge zwischen den in Schriftquellen aktualisierten narrativen Praktiken und den in hypothetischen mündlichen Erzählungen aktualisierten Praktiken machen. Die Verfolgung von Erkenntnisinteressen dieser Art bedarf, sollte sie überhaupt möglich sein, anderer begrifflicher Instrumentarien.

54  Antworten auf die Frage, ob es narrative Praktiken auch ohne impliziten Bezug auf eine vorausgesetzte sprachliche Handlung, das heißt auf ein sprachlich konstituiertes Narrativ gibt, scheinen mir vor allem Konsequenzen der jeweiligen Begriffsbildungen zu sein. Die Frage, in welchem Sinn bildliche Darstellungen erzählen können, sollte jedenfalls vom Informationswert bildlicher Darstellungen für die ­Rekonstruktion narrativer Praktiken aus sprachlichen Äußerungen unterschieden werden.



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V. Wahrheitsanspruch und Bewertungslenkung Die skizzierten vormodernen Traditionen der Reflexion über Handlungsdarstellung bezogen sich in erster Linie auf die Exemplifikation von Handlungsregularitäten und damit auf Praktiken exemplarischen Erzählens im Sinn der Diskursivierung von Handlungswissen als ›Findung‹ des faktisch Wahren mittels der Topik des Wahrscheinlichen und der Verfahrensweisen zur Bewertungslenkung. Lange vor der Entstehung volkssprachlicher schriftlicher Erzählkulturen sind solche narrativen Praktiken – im Anschluss an Modelle sowohl der paganen als auch der jüdischen Antike – in lateinischen historiographischen Erzählungen anzutreffen, die die Erkenntnisfunktion einer historia beanspruchen.55 Könnte man beispielsweise Gregor von Tours fragen, ob es bei der Taufe Chlodwigs ›wirklich so gewesen sei‹ wie in seiner Erzählung, würde er dies gewiss bejahen.56 Die berühmte Episode macht die Aktualisie55  Zu den alttestamentarischen Tun-Ergehen-Zusammenhängen vgl. etwa Michael Richter, Das narrative Urteil. Erzählerische Problemverhandlungen von Hiob bis Kant (Narratologia 13), Berlin / New York 2008; Georg Freuling, »Wer eine Grube gräbt…«. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang und sein Wandel in der alttestament­ lichen Weisheitsliteratur (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 102), Neukirchen-Vluyn 2004. Zur römischen Historiographie und zum mos maiorum vgl. Teresa Morgan, Popular morality in the early Roman Empire, Cambridge 2007; Bernhard Linke u. a. (Hgg.), Mos maiorum. Untersuchungen zu den Formen der Identitätsstiftung und Stabilisierung in der römischen Republik (Historia Einzelschriften 141), Stuttgart 2000; Überblick bei Dieter Flach, Römische Geschichtsschreibung, Darmstadt 42013. Zu Exempla und Exempelsammlungen vgl. die in Anm. 25 angeführte Literatur. 56  Gregor von Tours, Historiarum libri decem. Zehn Bücher Geschichten (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe), auf Grund der Übersetzung Wilhelm Giesebrechts neu bearb. Rudolf Buchner, 2 Bde., Darmstadt 82000, Bd. 1, 116–121 (II,30–32); vgl. dazu Wolfram von den Steinen, »Chlodwigs Übergang zum Christentum. Eine quellenkritische Studie«, Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 12 (1932), Ergänzungsband, 417–501; Dieter Geuenich, »Chlodwigs Alemannenschlach­ t(en) und Taufe«, in: Dieter Geuenich u. a. (Hgg.), Die Franken und die Alemannen bis zur »Schlacht bei Zülpich« (496 / 97) (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 19), Berlin / New York 1998, 423–437; Matthias Becher, »Ein Reichsgründer und sein Historiograph: Gregor von Tours über Chlodwig und dessen Taufe«, in: Michael Bernsen u. a. (Hgg.), Gründungsmythen Europas im Mittelalter (Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst 6), Göttingen 2013, 133–148. Zu Gregors Historiae vgl. Martin Heinzelmann, Gregor von Tours (538–594). ›Zehn Bücher Geschichte‹. Historiographie und Gesellschaftskonzept im 6. Jahrhundert, Darmstadt 1994; zum historiographischen Kontext vgl. Walter Goffart, The Narrators of Barbarian History (A. D. 550–800). Jordanes, Gregory of Tours, Bede, and Paul the Deacon, Princeton 1988.

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rung einer Ordnungsrelation wahrnehmbar, die Gregor in den alttestamentarischen Erzählungen von den Propheten und Königen Israels genauso bezeugt gefunden hatte wie in der Silvesterlegende. Topik als Ordnung des Wahrscheinlichkeitswissens wird dabei nicht erst in der Darstellung zur symbolischen Form, sondern selegiert bereits das aus Überlieferung und eigener Lebenswirklichkeit Erfahrene. Gregor konnte deshalb ebenso gut begründet der Überzeugung sein, mit der Erzählung von Chlodwigs Taufe die faktische Wahrheit ›gefunden‹ zu haben, wie ihn die moderne Quellenkritik der Erfindung des faktisch Unwahren verdächtigen muss. Die seine inventio plausibilisierenden Wahrscheinlichkeitsannahmen sind zum Teil relativ leicht zu erkennen, etwa wenn Chlodwigs Entschluss zur Taufe die Folge einer Gebetserhörung ist, die den Franken zum Sieg in einer fast schon verlorenen Schlacht gegen die Alamannen verhilft (II,30). Die Frage, ob dabei eine legendarische Erzählung von Konstantins Sieg an der Milvischen Brücke Pate stand, mag quellenkritisch naheliegen, bringt jedoch nicht den Erkenntniswert topischer inventio in den Blick: Wo auch immer ›fand‹ Gregor eine Ursache für die Bekehrung des Königs, die mit der Wahrscheinlichkeitsregel übereinstimmte, dass Begnadete im Unterschied zu Verworfenen richtig handeln. Gemäß dieser Eigenschaften nämlich teilen sich seine Frankenkönige – wie überhaupt alle Akteure seiner historiae – in zwei Gruppen, an die der Prolog die Absicht knüpft, »zur Erinnerung an das Vergangene, auf dass die Nachkommenden davon Kenntnis nehmen, […] die Kämpfe der Ruchlosen und das Leben der Rechtschaffenen ans Licht zu bringen«.57 Dass es ein modernes Missverständnis wäre, diese Unterrichtung als moralische Anleitung einzuschätzen, indizieren Akteurkonstruktionen, die die Einsicht und Besserung der Ruchlosen nicht kennen: Sie sind Verworfene, denen Gott seinen Segen verweigert. Die Rechtschaffenen dagegen, die selbstverständlich nicht sündenfrei sein können, begnadet Gott mit Erfolgen. Wenn sich Gottes Segen in den Erfolgen des Kriegerkönigs zeigt, kann ein Schlachtensieg, der ihm zugleich die Macht des wahren Gottes beweist, offenkundig als wahrscheinliche Ursache seiner Bekehrung gelten. Vielleicht weniger erwartbar und Gregor deshalb eine ausdrückliche Hervorhebung wert ist das der Heiligkeit vorgeordnete rhetorische Vermögen, mit dem Bischof Remigius Chlodwig ins Taufbad beordert: 57  Gregor, Historiarum libri, hg. Buchner, Bd. 1, 1 (praefatio prima): »pro commeroratione praeteritorum, ut notitiam adtingeringt venientium […] obtegere vel certamina flagitiosorum vel vitam recte viventium«; Übersetzung wie auch im Folgenden mit kleineren Veränderungen nach ibid., 2.



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›Beuge still deinen Nacken, Sicamber; verehre, was du verbrannt hast, verbrenne, was du verehrt hast.‹ Es war nämlich der heilige Bischof Remigius ein Mann von hoher Wissenschaft und besonders in den rhetorischen Studien erfahren. Aber auch durch Heiligkeit zeichnete er sich so aus, dass er an Wundertaten dem heiligen Silvester gleich kam.58

Gallorömische Rezipienten werden das für plausibel gehalten haben, wenn ihnen die Verbindung zwischen christlicher Wahrheit und römischer Bildung als notwendig und selbstverständlich erschien: Indem der metonymisch als Barbar apostrophierte Heide sein Haupt nicht allein ins Taufbecken, sondern dabei ebenso implizit wie unvermeidlich auch vor dem die Taufe vollziehenden Bischof beugt, den der Chiasmus als Repräsentanten der römischen Bildung und zugleich des wahren Gottes ausweist, rekurriert die Erzählung auf ein vorausgesetztes Wissen um die Ursachen der bischöflichen Handlungsmächtigkeit gegenüber dem Frankenkönig. Gregors Historien können selbstverständlich nicht dokumentieren, was in Entsprechung zum modernen Wirklichkeitsbegriff tatsächlich der Fall war; sie zeigen das aller Wahrscheinlichkeit nach Wahre nach der Maßgabe im historischen Handlungswissen verankerter Regularitäten. Rekonstruieren lässt sich aus ihnen deshalb in erster Linie das in der Erzählung aktualisierte Handlungswissen. Nicht das Verfahren der topischen ›Findung‹ des wahrscheinlich Wahren als solches, sondern das Ausmaß seiner Anwendung und das dabei aktualisierte kulturelle Wissen unterscheiden die französischen Antiken­ romane,59 die in den 50er und 60er Jahren des 12. Jahrhunderts entstanden, von der lateinischen Historiographie. Die durchweg gelehrten Verfasser bearbeiteten im Fall der Alexander- und der Troja-materia lateinische Prosahistorien und bezeichneten ihre Erzählungen nicht zuletzt aus diesem Grund als estoires. Weil die Lizenzen zur ›Findung‹ des Wahren anhand des topisch Wahrscheinlichen in der Dichtung traditionell größer waren als in der Geschichtsschreibung, erfanden die Verfasser der Antikenromane großzügig insbesondere Beschreibungen und Figurenreden. Mit diesen in der rhetorischen evidentia-Lehre verankerten Praktiken der 58  Ibid., Bd. 1, 118 (II,31): » ›Mitis depone colla, Sigamber; adora quod incendisti, incende quod adorasti‹. Erat autem sanctus Remegius episcopus egregiae scientiae et rhetoricis adprimum inbutus studiis, sed et sanctitate ita praelatus, ut Silvestri virtutebus equaretur.« Übersetzung nach ibid., 119, mit kleineren Änderungen. 59  Überblick bei Francine Mora-Lebrun, ›Metre en romanz‹. Les Romans d’Antiquité du XIIe siècle et leur posterité (XIIIe–XIVe siècle) (Moyen âge – Outils de synthèse 3), Paris 2008; Gert Hübner, »Der künstliche Baum. Poetisches Erzählen im höfischen Roman«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 136 (2014), 1–57.

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Beglaubigung durch Detaillierung, die am Vorbild antiker Epen, allen voran der Aeneis,60 studiert werden konnten und im Unterricht zur ars poetriae als Verfahren der Stoffbearbeitung mittels topischer inventio vermittelten wurden,61 schufen die französischen Dichter ein Profil szenischen Erzählens, das den höfischen Antikenroman von der Historiographie weniger kategorisch, sondern eher durch seine Dominanz abhebt. Für die Gelehrten begründete jedoch offenkundig gerade die Vorherrschaft dieses narrativen Profils die Differenz zwischen historiographischer und poetischer historia, wie nicht nur die Reflexionstradition dokumentiert: In­ struktive Beispiele für die in Historiographie und Dichtung prototypischen narrativen Praktiken bieten etwa Benoîts de Sainte-Maure poetische Umarbeitung spätantiker lateinischer Prosahistorien zum Roman de Troie und Guidos de Columnis historiographische Umarbeitung von Benoîts Roman zur Historia destructionis Troiae.62 Wo immer die französischen Bearbeiter der matière de Bretagne die neue materia auch ›gefunden‹ haben mögen: Zu ihrer Bearbeitung griffen sie jedenfalls unverkennbar dasjenige Profil szenischen Erzählens auf, das die Dichter der Antikenromane geschaffen hatten. Die faktische Wahrheit von historiae war den ›bretonischen‹ Romanen allerdings in einer glaubhaften Weise nur zu unterstellen, wenn Unwahrscheinlichkeiten in Übereinstimmung mit den zeitgenössischen Wissensordnungen plausibilisiert wurden.63 In der frühen Gattungsgeschichte strebte dies der anonyme Verfasser des französischen Partonopeu de Blois an, der das Wunderbare als Effekt der artes magicae erklärte und das Geschehen in die Zeit von König Clovis (Chlodwig) datierte, so dass es im Rekurs auf dessen trojanische Abstammung chronologisch zwischen matière de Rome und ma­ tière de France einzuordnen war.64 Auch Chrétien de Troyes hat seinen

60  Nikolaus Henkel, »Vergils Aeneis und die mittelalterlichen Eneas-Romane«, in: Claudio Leonardi, Birger Munk Olsen (Hgg.), The Classical Tradition in the Middle Ages and the Renaissance (Biblioteca di medioevo latino 15), Spoleto 1995, 123–141; Aimé Petit, Naissances du roman. Les techniques littéraires dans les romans antiques du XIIe siècle, 2 Bde., Genf 1985; Mora-Lebrun, Les Romans d’Antiquité. 61  Cizek, Imitatio et tractatio; Schmitz, Die Poetik der Adaption. 62  Le Roman de Troie de Benoît de Sainte-Maure, hg. Léopold Constans, 6 Bde., Paris 1904–1912; Guido de Columnis, Historia destructionis Troiae, hg. Nathaniel Edward Griffin (Publications of the Medieval Academy of America 26), Cambridge (MA) 1936; Guido de Columnis, Historia destructionis Troiae, übers. Mary Elisabeth Meek (Indiana University humanities series 71), Bloomington / London 1974. 63  Zu dem den französischen ›bretonischen‹ Romanen entgegengebrachten fabula-Verdacht vgl. Brigitte Burrichter, »Fiktionalität in französischen Artustexten«, in: Haferland, Meyer (Hgg.), Historische Narratologie, 263–279.



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Erec am Ende des Prologs als estoire ausgegeben,65 in der Erzählung selbst jedoch, anders als der Partonopeu-Dichter, keine Anstrengungen unternommen, dem fabula-Begriff Subsumierbares als historia-Konformes zu präsentieren. Für die Plausibilität der exemplifizierten Handlungsregularitäten blieb die Klassifikation freilich ohnehin zweitrangig, weil die Wahrheit des Allgemeingültigen bei einer fabula genauso wie bei einer historia von der Übereinstimmung mit dem topischen Regularitätenwissen abhing. 64

Dass nur derjenige Ritter ein guter Herrscher sein kann, der mit seiner Kampfkraft dem Recht dient, war deshalb eine auch durch unwahrscheinliche Akteure und raumzeitliche Handlungssituationen exemplifizierbare Wahrscheinlichkeit. Ähnlich wie in Tierfabeln konnte die unwahrscheinliche Erfindung die unterstellte Unabänderlichkeit sozialer Ordnungsverhältnisse sogar besonders überzeugend plausibilisieren, weil deren Natürlichkeit gerade durch die ›Präparation‹ ausgewiesen wurde:66 In den unwahrscheinlichsten Konstellationen der bretonischen Romane gelten doch stets und zuverlässig berechenbare Regularitäten des kulturellen Handlungswissens. In den narrativen Praktiken der Tierfabel scheint die oben skizzierte Konzeption der aristotelischen Poetik – unabhängig von ihrer Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte, aber auf eine in der Tat fast schon orthodox anmutende Weise – ein Bestandteil der historischen Traditionsprozesse geblieben zu sein: Gerade indem die Fälle erfunden werden, zeigt sich, dass die Wirklichkeit immer diejenige derselben Regularitäten ist. In diesem Sinn könnten die Riesen des Artusromans Produkte derselben Ordnungsmetaphysik sein wie der Wolf der Tierfabel: Dargestelltes Handeln konnte als faktisch wahr oder erfunden, eine dadurch exemplifizierte Generalisierung, die in ihrer Allgemeingültigkeit glaubhaft sein sollte, dagegen stets nur als ›gefunden‹ gelten.67 Ihr ›Ort‹ war das kulturelle Handlungswissen. 64  Le Roman de Partonopeu de Blois. Édition, traduction et introduction de la rédaction A (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, 2986) et de la Continuation du récit d’après les manuscrits de Berne (Burgerbibliothek, 113) et de Tours (Bibliothèque municipale, 939), hg. Olivier Collet, Pierre-Marie Joris, Paris 2005, v. 143–498. 65  Chrétien de Troyes, Erec et Enide. Édition critique d’après le manuscrit B. N. fr. 1376, hg. Jean-Marie Fritz, Paris 1992, v. 23. 66  Zur ›präparierten Welt‹ des Artusromans vgl. Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen / Basel 91994, 120– 138; Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen, 162–179. 67  Die mediävistischen Debatten um die Adaptierbarkeit des Fiktionalitätsbegriffs scheinen mir sowohl auf der Seite von Skeptikern wie Fritz Peter Knapp, Historie und Fiktion, als auch auf der jüngst von Timo Reuvekamp-Felber, »Zur gegenwärtigen Situation mediävistischer Fiktionalitätsforschung. Eine kritische Bestandsaufnahme«, Zeitschrift für deutsche Philologie 132 (2013), 417–444, vertretenen Gegen-

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Narrative Praktiken der Bewertungslenkung dienen bei Gregor von Tours der Vereindeutigung und haben deshalb in aller Regel die Funktion, mögliche Sinnkomplexitäten zu reduzieren. Figurenreden etwa explizieren zu diesem Zweck oft denjenigen Bewertungsmaßstab für das Handeln eines Akteurs, den Gregor angelegt wissen will. Allerdings impliziert die Funktion der Sinnkomplexitätsreduktion nicht, dass die Verfahren als Form stets unkompliziert wären. Um beispielsweise die Ermordung des ruchlosen Königs Sigibert als ordnungsgemäße Strafe für einen noch gar nicht begangenen, sondern erst geplanten Brudermord auszuweisen, lässt Gregor einen Bischof, der als Akteur die göttliche Ordnung repräsentiert, die Bibel als göttliche Offenbarung dieser Ordnung zitieren und errichtet damit eine bei aller Kürze immerhin dreistöckige Konstruktion aus Erzählerrede, zitierter Figurenrede und in der Figurenrede zitierter Rede Gottes: Der heilige Bischof Germanus sagte zu ihm [Sigibert]: ›Wenn du gehst und deinen Bruder nicht tötest, wirst du lebend und siegreich heimkehren. Wenn du aber etwas anderes vorhast, wirst du sterben. Denn so spricht der Herr durch Salomon: »Du fällst in die Grube, die du deinem Bruder bereitest [frei nach Spr. 26,27].«‹ Aber Sigibert war auf Sünden aus und wollte nicht hören. Als er zu dem Hof mit dem Namen Vitry kam, versammelte sich das ganze Heer um ihn, hob ihn auf den Schild und machte ihn zum König. Da taten zwei von der Königin Fredegund verhexte Knechte so, als ob sie etwas vorbringen wollten, und stießen ihm scharfe Messer, die in der Volkssprache scramasax heißen und vergiftet waren, in beide Seiten. Er schrie laut auf, stürzte und starb kurz danach.68 seite zu wenig Aufmerksamkeit dafür aufzuwenden, dass womöglich erst die Ablösung eines Wirklichkeitskonzepts, in dem Topik und Wirklichkeit zusammenfielen, durch ein empirisches, auf das sich die Kognition ausschließlich hypothetisch bezieht, den Erkenntniswert erfundener Geschichten eigens begründungsbedürftig machte. Weil es dieses Problem unter den Bedingungen vormoderner Wissensordnungen nicht gab, wäre ein Fiktionalitätskonzept weder notwendig noch geeignet gewesen, ein Poetizitätskonzept begründend abzusichern: In einer metaphysischen (im aristotelischen Sinn) Episteme hat das Erfundene keinen anderen Erkenntniswert als das Faktische, weil die Wirklichkeit die des nicht erfindbaren Allgemeingültigen ist. Es ist deshalb nicht besonders verwunderlich, dass erfundene Geschichten offenbar ein eher marginales Problem waren und sich niemand darüber Gedanken gemacht hat, ob ihr Erkenntniswert ein prinzipiell anderer sein könnte als derjenige faktisch wahrer Geschichten; es ging stets nur darum, dass es eine Lüge sei, erfundenes Geschehen als faktisch wahr auszugeben. 68  Gregor, Historiarum libri, hg. Buchner, Bd. 1, 270 (IV,51): Cui sanctus Germanus episcopus dixit: »Si abieris et fratrem tuum interficere nolueris, vivus et victur redis; sin autem aliut cogitaveris, morieris. Sic enim Dominus per Salomonem dixit: ›Foveam quae fratri tuo parabis, in ea conrues.‹ « Quod ille, peccatis facientibus, audire neglexit. Veniente autem illo ad villam cui nomen est Victuriaco, collectus est ad eum omnis exercitus, inpositumque super clypeum sibi regem statuunt. Tunc duo



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In höfischen Romanen steigern bewertungslenkende narrative Praktiken dagegen manchmal die Komplexität der Sinnkonstruktion. Nicht selten steht dies im Zusammenhang mit der kasuistischen Darstellung von Spannungsverhältnissen innerhalb des kulturellen Handlungswissens. So brachte beispielsweise der Gegensatz zwischen der Zwanghaftigkeit der Liebesaffektion und der tugendethischen Notwendigkeit vernünftiger Affektkontrolle fast schon unvermeidbare Bewertungskonflikte hervor, wenn die Liebesaffektion nicht einfach als vermeidungswürdig gelten sollte. Als etwa der Dichter des Roman d’Eneas in seiner neu ›gefundenen‹ Lavinia-Episode die aus der antiken Epik übernommene Gedankenrede zur symbolischen Form einer Auseinandersetzung zwischen Affekt und Vernunft machte, verband er eine in der lateinischen Bildungstradition verfügbare Form mit einer neuen Sinnzuweisung und schuf dadurch eine neue narrative Praktik, die dann in der Gattungsgeschichte auf Dauer gestellt und durch die Übertragung in andere Handlungssituationen weiter ausdifferenziert wurde. Dies koppelte die Verfahrensweisen der Innenweltdarstellung von der anfänglich engen Koppelung an die Liebe ab und generalisierte sie, wie etwa die typischen Gedankenreden in Entscheidungssituationen zeigen, zu einem Standardverfahren rationalisierender Handlungsbegründung, dessen Distribution zugleich der Lenkung der Handlungsbewertung dienen konnte.69 Denn Akteure ›durchschaubar‹ zu machen, wie es in Ciceros De inventione heißt,70 war eine narrative Praktik der Parteinahme in dem Maß, in dem es das Handeln durch die Angabe entweder unproblematisch gerechtfertigter oder problematischer, aber zwingender Gründe verständlich machte. Im zweiten Fall ließ sich die Komplexität der narrativen Sinnkonstruktion durch die Repräsentation divergierender Bewertungsparameter für das erzählte Handeln steigern. Die antike Epik bot den höfischen Dichtern dafür ein Formenrepertoire, die rhetorische Reflexionstradition auf diese Formen bezogene Sinnzuweisungen. Dennoch waren die Praktiken narrativer Innenweltdarstellung in höfischen Romanen keine bloßen Übernahmen aus antiker Epik und rhetorischer Reflexionstradition, sondern entstanden auf deren Grundlage als neue symbolische Formen, insofern sie, wie im skizzierten Fall von Eneas und Lavinia, in den histop­ ueri cum cultris validis, quos vulgo scramasaxos vocant, infectis vinino, maleficati a Fredegundae regina, cum aliam causam suggerire simularent, utraque ei latera feriunt. At ille vociferans atque conruens, non post multo spatio emisit spiritum. Übersetzung nach ibid., 271, mit kleineren Änderungen. 69  Hübner, Erzählform, 249–260; Nine Miedema, »Gedankenrede und Rationalität in der mittelhochdeutschen Epik«, in: Ridder u. a. (Hgg.), Reflexion und Inszenierung von Rationalität, 119–160. 70  Cicero, De inventione, hg. Nüßlein, 1,19,27.

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rischen Wissensordnungen verankerte Zusammenhänge zwischen erzählter Handlungsbegründung und narrativer Lenkung der Handlungsbewertung herstellten. Meinem Eindruck nach zielte dies nicht in erster Linie auf die Vermittlung intentionalethischer gegenüber ergebnisethischer Handlungsbe­ wer­tung,71 sondern auf die Exemplifikation der größeren Erfolgsträchtigkeit eines Handelns, das sowohl in seinen möglichen Begründungen und Konsequenzen durchdacht ist als auch die Spezifika der jeweiligen Situa­ tion berücksichtigt, gegenüber affektgeleitetem und rituellem, deren Misserfolgsträchtigkeit mangelnder Situationskontrolle respektive ungenügender Situationsspezifik zugeschrieben wird. Während Praktiken narrativer Bewertungslenkung durch Innenweltdarstellung in allen Typen des höfischen Romans begegnen, scheint eine Neigung zur ausdrücklichen Thematisierung der narrativen Vermittlung, die nicht allein in Prologen und Epilogen, sondern auch in markanten Unterbrechungen der Handlungsdarstellung platziert ist, für deutsche Bearbeitungen der unter fabula-Verdacht stehenden matière de Bretagne charakteristisch zu sein. Dem modernen Blick müssen solche Textpartien – Hartmanns von Aue Dispute mit einem erfundenen Zuhörer im Erec und der personifizierten Minne im Iwein, Wolframs von Eschenbach Dia­ log mit der personifizierten aventiure sowie seine Darstellung von Ursprung und Überlieferung der materia im Parzival72 – als ›metanarrative‹ Erzählerkommentare erscheinen, die eine Erzählerfunktion vom Textverfasser unterscheiden, eine dadurch konstituierte Erzählinstanz fiktionalisieren und sie als Hinweis auf die subjektivierte narrative Vermittlung in die Reflexion heben.73 71  Rüdiger Schnell, »Abaelards Gesinnungsethik und die Rechtsthematik in Hartmanns Iwein«, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 65 (1991), 15–69; ders., Suche nach Wahrheit. Gottfrieds ›Tristan und Isold‹ als erkenntniskritischer Roman (Hermaea 67), Tübingen 1992. 72  Hartmann von Aue, Erec (Bibliothek des Mittelalters 5), hg. Manfred Günther Scholz, übers. Susanne Held, Frankfurt a. M. 2004, v. 7493–7525; Hartmann von Aue, Gregorius, Der Arme Heinrich, Iwein (Bibliothek des Mittelalters 6), hg. u. übers. Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2004, Iwein v. 2971–3028; Wolfram von Eschenbach, Parzival (Bibliothek des Mittelalters 8,1–2), nach der Ausgabe Karl Lachmanns rev. u. komm. Eberhard Nellmann, übertr. Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1994, v. 433,1–434,10 und 453,1–455,22. 73  Vgl. in jüngerer Zeit etwa Rachel Raumann, ›Fictio‹ und ›historia‹ in den Artusromanen Hartmanns von Aue und im ›Prosa-Lancelot‹ (Bibliotheca Germanica 57), Tübingen / Basel 2010; Reuvekamp-Felber, »Zur gegenwärtigen Situation mediävistischer Fiktionalitätsforschung«; skeptischer Monika Unzeitig, Autorname und Autorschaft. Bezeichnung und Konstruktion in der deutschen und französischen Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 139), Berlin / New York 2010; Sonja Glauch, An



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Im Kategoriensystem von Genettes discours-Narratologie figurieren die den Begriffen ›Modus‹ und ›Stimme‹ subsumierten Phänomene als zwar verfahrenstechnisch voneinander unterschiedene (qui sait respektive voit vs. qui parle), funktional aber gleichermaßen subjektphilosophisch gedachte Vermittlungsformen der histoire.74 Da im ›Erzähler‹, als dessen etwas weniger substantialistische Wiedergängerin Genette die ›Stimme‹ dient, die Einschätzung des Erzählens als subjektive Weltdarstellung gewissermaßen terminologisch kristallisiert, liegt sein Gebrauch für eine begriffliche Konstituierung vormoderner Phänomene als moderne besonders nahe – das Vertrauen auf die Überbrückbarkeit erheblicher epistemologischer Differenzen im poetischen Ingenium und seiner je zeitgenössischen Verstehbarkeit immer vorausgesetzt. Unter den Bedingungen vormoderner Wissensordnungen dienten ›Erzählerkommentare‹, sieht man von Gliederungssignalen ab, indes entweder der expliziten Handlungsbewertung oder der expliziten Behauptung des Wahrheitsanspruchs, wobei Zuverlässigkeit oder Glaubhaftigkeit in beiden Fällen nicht als apriorische Implikation von Explizitheit gelten konnten. In den genannten ›metanarrativen‹ Passagen geht es um die Wahrheit des Erzählten. Es liegt deshalb nahe, ihre Deutung in einen gattungsgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen, an dessen Anfang Chrétiens Erec-Prolog steht.75 Chrétien begründet den Wahrheitsanspruch mit seinem eigenen gelehrten Wissen (essience, estuide): Indem er es auf den conte anwendet, zieht er jene ›schöne Zusammenfügung‹ aus ihm, die es offenkundig erlaubt, die Bearbeitung am Prologende als estoire (historia) zu bezeichnen. Wo Benoît de Sainte-Maure Dares als Augenzeugen des Geschehens und Urheber der seither schriftlich überlieferten historia für deren Wahrheit einstehen lässt,76 tritt bei Chrétien der gelehrte Bearbeiter mit seiner wissensbasierten Fähigkeit zur Zusammenfügung – seiner ›Kohärenz-Kompetenz‹, möchte man fast sagen – in Erscheinung. Die Argumentation, die das in den lateinischen Poetiken dokumentierte Konzept der tractatio materiae voraussetzt, ohne vollständig aus ihm ableitbar zu sein, macht den Bearbeiter dort, wo weder auctor noch schriftliche Überlieferung geltend zu machen sind, zum Garanten für den behaupteten – damit freilich nicht auch schon glaubwürdigen – Wahrheitsanspruch der Erzählung. der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens (Studien zur historischen Poetik 1), Heidelberg 2009. 74  Genette, Discours du récit; ders., Nouveau discours du récit. 75  Chrétien, Erec et Enide, hg. Fritz, v. 1–26. 76  Benoît, Roman de Troie, hg. Constans, v. 1–144.

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Wie Chrétien thematisieren Hartmann und Wolfram weder einen ›fik­ tionalen‹ Erzähler noch sich selbst als ›Autoren‹, sondern als Bearbeiter einer materia, der der faktische Wahrheitsanspruch einer historia nicht ohne weiteres zu unterstellen war. Die auf gelehrtes Wissen rekurrierende Verfahrensweise der deskriptiven dilatatio,77 mit der Hartmann den erfundenen Besserwisser im Erec zum Verstummen bringt, lässt die Sattelbeschreibung als eine Demonstration dessen erscheinen, was Chrétien vermutlich der essience des Bearbeiters subsumiert hätte. Wenn Hartmann die Liebe im Iwein in einem Dialog mit sich selbst als Personifikation auftreten lässt, die die Plausibilität der erzählten Trennung Iweins von Laudine verbürgt, untergräbt er seine Zuverlässigkeit als deutender Bearbeiter nur scheinbar: Die Personifikation erklärt dem als begriffsstutzig dargestellten Hartmann ein Wissen über die Liebe, dessen Geltungsanspruch durch sie als Sprecherin begründet wird, und indem Hartmann das Wissen über die Liebe durch die von ihm erfundene Sprecherin referieren lässt, erweist er sich über alle denkbare Begriffsstutzigkeit hinaus als Bearbeiter, der der möglicherweise fabulösen materia einen maximalen und zuverlässigen exemplarischen Erkenntniswert abgewinnt. Wolframs Gespräch mit der ­ personifizierten materia attestiert dieser ebenso wenig eine faktische Wahrheit wie sein Bericht über ihre Herkunft, der zwar auf Augenzeugenschaft und schriftliche Überlieferung rekurriert, jedoch erkennbar nicht in der für die Beglaubigung einer historia üblichen Weise. So mag man sich im Nachhinein auch nicht darüber wundern, dass der Bearbeiter die Wahrheit des Erzählten schon viel früher dem Gebot seiner Adressaten anheimgestellt (59,27) und ihnen damit bedeutet hat, dass sie sich auf ihn verlassen müssen. Von der faktischen Wahrheit des dargestellten Handelns kann die Wahrheit des damit Exemplifizierten indes auch beim Parzival nicht abhängen. Mit dem modernen Fiktionalitätskonzept haben die Sinnkonstruktionen dieser Passagen die Gemeinsamkeit, dass sie die Erfindung einräumen. Der nicht eben geringe Unterschied besteht indes darin, dass sie den Erkenntniswert des Erfundenen nicht damit begründen, dass es erfunden ist. Denn im historia- wie im fabula-Fall war es am Ende stets das Regularitätenwissen, das den Erkenntniswert der Handlungsdarstellung sicherte, und die Regularitäten waren nicht erfundene, sondern topisch ›gefundene‹. Deshalb konnte in einer historia die faktische Wahrheit teilweise erfunden werden, freilich – wie etwa die Geoffrey von Monmouth angetragenen Vorbehalte zeigen78 – eben nur teilweise und in der Verpflichtung gegen77  Worstbrock, 78  Burrichter,

»Dilatio materiae«. Wahrheit und Fiktion.



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über einer schriftlichen Überlieferung. Im fabula-Fall musste das exem­ plifizierte Regularitätenwissen als solches zuverlässig sein, weil der Erkenntniswert der Handlungsdarstellung allein auf ihm beruhte. Deshalb lag es durchaus nahe, als Bearbeiter einer möglicherweise erfundenen materia das eigene Wissen demonstrativ zur Geltung zu bringen. Hartmann wie Wolfram kamen dem mit spielfreudigem Witz nach, der ein hohes Maß an Souveränität gegenüber dem potentiellen Erkenntniswert des faktisch Unwahren signalisiert. Die Wertschätzung des Erfundenen rechtfertigten sie jedoch nicht mit einem Fiktionalitätskontrakt im modernen Sinn, sondern mit einem Wissen des Stoffbearbeiters, das für die mit dem Erfundenen exemplifizierte, nicht erfundene Wahrheit einsteht.

VI. Exemplarizität und Exorbitanz Die Handlungsdarstellung in Vergils Aeneis hat einen exemplarischen Sinn, insofern sie einen ziemlich strikten Kausalzusammenhang zwischen pietas-geleitetem Handeln und seinen Erfolgen sowie furor-geleitetem Handeln und seinen Misserfolgen herstellt.79 Allerdings disponieren Herkunft, soziales Alter und Geschlecht die Akteure für die eine oder die andere Option: Patres mit einem göttlichen Elternteil, denen das fatum offenbart wird, neigen zur pietas; Frauen und iuvenes, denen ein direkter Einblick ins fatum verwehrt ist, können den furor schwer kontrollieren. Bei den Göttern verhält es sich ähnlich: Allein Juppiter kennt als pater das fatum; andere – Göttinnen zumal – versuchen sich manchmal, obwohl von ihm unterrichtet, affektgeleitet und vergeblich an dessen Verhinderung oder Beförderung. Die Korrelation von pietas und furor mit der mehr oder weniger privilegierten Kenntnis des fatum schränkt die Gültigkeit der exemplifizierten Handlungskausalität nicht ein, unterstellt die Entscheidung für die eine oder die andere Möglichkeit jedoch nicht allein dem Willen der Akteure: Wer sich von der pietas leiten lassen kann und wer Opfer des furor wird, ist selbst schon vom fatum bestimmt. Aeneas muss sich zwar anstrengen, hat dafür als Halbgott aber auch gute Voraussetzungen. Als er nach dem Tod von Anchises in die pater-Position einrückt, bekommt er das fatum in der Unterwelt offenbart und schwächelt von da 79  Forschungsliteratur zu den im Folgenden skizzierten Sinnkonstruktionen in der Aeneis und den beiden höfischen Eneas-Romanen bei Hübner, Erzählform, 202– 217. – Zur heroischen Exorbitanz vgl. insbesondere Klaus von See, »Was ist Heldendichtung?«, in: ders. (Hg.), Europäische Heldendichtung (Wege der Forschung 500), Darmstadt 1978, 1–38; ders., »Held und Kollektiv«, Zeitschrift für deutsches Altertum 122 (1993), 1–35.

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an nicht mehr – abgesehen vielleicht vom Ende, wo er Turnus im furor erschlägt, statt der in der Unterwelt mitgeteilten Regel zu folgen, dass Besiegte zu schonen sind, wenn sie sich unterwerfen. Exemplarizität und Exorbitanz können, wie man sieht, nicht nur koexistieren, sondern in einem Begründungsverhältnis zueinander stehen. Unterscheidbar bleiben sie trotzdem: Affektkontrolle optimiert generell die Erfolgschancen von Akteuren, das Handeln von Frauen und Jünglingen hat wegen der geringeren Fähigkeit zur Affektkontrolle generell schlechtere Erfolgsaussichten als dasjenige erwachsener männlicher Anführer. Die Exorbitanz eines Halbgotts dagegen hat man oder hat sie nicht. Auch Turnus hat sie – doch ist er kein zur pietas geneigter pater, sondern ein für den furor anfälliger iuvenis und paktiert mit noch furioseren Frauen. Die Attraktivität der Aeneis für die gelehrten höfischen Dichter des 12. Jahrhunderts muss nicht zuletzt auf der Möglichkeit beruht haben, die narrative Sinnkonstruktion aufgrund der wahrscheinlich unverständlich gewordenen Bedeutung des apersonalen antiken fatum als eine unproblematische Verbindung exorbitanten und exemplarischen Handelns einzuschätzen. Der höfische Eneas agiert jedenfalls – abgesehen von seiner ­vorübergehenden karthagischen Verirrung ins Wohlleben – stets so, dass seine Außerordentlichkeit, indem sie das Allgemeingültige perfektioniert, der Ordnung dient. Eneas vollbringt das generell Richtige in optimalem Ausmaß und ist deshalb zu Recht der Anführer des trojanischen Personenverbands. Der unbekannte Dichter des Roman d’Eneas übernahm dafür Vergils exemplarischen Zusammenhang zwischen Affektkontrolle und Handlungserfolg ohne die Beschränkung der Willensfreiheit durch das fatum. Die Exorbitanz des Akteurs Eneas begründete er mit seinem Adel sowie dem zwar ein wenig rätselhaften, aber doch immerhin personalen und damit providentiellen Willen ›der Götter‹. Um den Sieg über Turnus zu rechtfertigen, legitimierte er die Herrschaftsübernahme in Italien außer durch die liebesbedingte Heirat mit Lavinia noch durch alte Rechte der Trojaner. Die Verbindung von adelig-exorbitantem und exemplarischordnungsgerechtem Handeln ergab das für die weitere Geschichte des höfischen Romans charakteristische Protagonistenmodell: Ein exorbitanter Akteur exemplifiziert als Ordnungsstifter allgemeingültige Handlungsregularitäten – optional nach einem Fehlhandeln und der Bewältigung seiner Folgen – in größtmöglicher Perfektion. Die Darstellung exorbitanten Handelns steht möglicherweise insofern nicht in einem prinzipiellen Gegensatz zu exemplarischer Handlungsdarstellung, als auch sie darauf angewiesen zu sein scheint, allgemeingültige Regularitäten des kulturellen Handlungswissens zu aktualisieren. Allerdings benutzt sie diese als Parameter, an denen sich das jeweilige Außer-



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ordentliche bemisst. Wenn etwa der ruhmbegründende Kampf ein solcher allgemeingültiger Maßstab ist, der ein für alle Mitglieder der adressierten sozialen Gruppe erstrebenswertes Handlungsziel und ein allen Kampffähigen verfügbares Handlungsmittel identifiziert, besteht exorbitantes Handeln in einer nicht allen, sondern nur dem jeweiligen einen möglichen Kampfestat und einem nicht für alle, sondern nur für den jeweiligen einen erreichbaren Ruhm. So exorbitant das Ausmaß der aufgewendeten Mittel und des erreichten Ziels auch sein mögen, bleibt der kausale Zusammenhang zwischen ihnen jedoch allgemeingültig: Wer im Kampf siegt, erhält Ruhm. Aus diesem Grund haben alle exorbitanten Akteure, die Aktualisierungen desselben kulturellen Handlungswissens sind, jeweils ähnliche Fähigkeiten, die diejenige anderer Akteure jeweils übertreffen. In diesem Ähnlichen liegt der exemplarische Erkenntniswert begründet, den die Darstellung exorbitanten Handelns hat. Nicht so sehr wegen einer transkulturellen Identität alles ›Heroischen‹, sondern eher wegen der historischen Traditionsbildungsprozesse gibt es im Verhältnis von Exemplarizität und Exorbitanz Gemeinsamkeiten zwischen den Halbgöttern der vorchristlichen antiken Epik und den Heiligen der christlichen Heiligenlegenden.80 Zum Heiligen kann man ebenso wenig 80  Zur Übersicht vgl. Günter Lanczkowski u. a., »Heilige / Heiligenverehrung«, in: Theologische Realenzyklopädie 14 (1985), 641–672; Edith Feistner, Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation (Wissensliteratur im Mittelalter 20), Wiesbaden 1995. – Richard Pervo, »The Ancient Novel becomes Christian«, in: Gareth Schmeling (Hg.), The Novel in the Ancient World (Mnemosyne Supplements 159), Leiden 1996, 685–711; Hans-Jürgen Bachorski, Judith Klinger, »Körper-Fraktur und herrliche Marter. Zu mittelalterlichen Märtyrerlegenden«, in: Klaus Ridder, Otto Langer (Hgg.), Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur (Körper – Zeichen – Kultur 11), Berlin 2002, 309–333; Berndt Hamm, »Heiligkeit im Mittelalter. Theoretische Annäherung an ein interdisziplinäres Forschungsvorhaben«, in: Nine Miedema, Rudolf Suntrup (Hgg.), Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift Volker Honemann, Frankfurt a. M. 2003, 627–645; Harald Haferland, »Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden«, Euphorion 99 (2005), 323–364; Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse, 107–169; Andreas Hammer, Stephanie Seidl, »Die Ausschließlichkeit des Heiligen. Narrative Inklusions- und Exklusionsstrategien im mhd. ›Passional‹ «, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 130 (2008), 272–297; David Konstan, »Suche und Verwandlung. Transformation von Erzählmustern in den hellenistischen Romanen und den apokryphen Apostelakten«, in: Werner Röcke, Julia Weitbrecht (Hgg.), Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit (Transformationen der Antike 14), Berlin / New York 2010, 251–268; Andreas Hammer, Stephanie Seidl (Hgg.), Helden und Heilige. Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters (Germanisch-romanische

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aus eigenem Willen und eigener Anstrengung werden wie zum Halbgott, und die Heiligen exemplifizieren wie die Halbgötter Regularitäten einer praktischen Wissensordnung: Wenn Gebete sofort erhört werden, Götzen stürzen, Martern keine Schmerzen verursachen und Hinrichtungen nicht zum Tod führen, hat das Gute einen so unmittelbaren Erfolg und das Schlechte einen so unmittelbaren Misserfolg, wie es im korrumpierten Diesseits sonst nicht zu erwarten ist. Anders als bei den Halbgöttern sind die Regularitäten diejenigen einer uneingeschränkten Gerechtigkeit, die Gott den Exorbitanten ohne Aufschub gewährt. Deshalb macht das Außerordentliche auch im Fall der Heiligen zugleich Allgemeingültiges erkennbar. Obschon nur Heilige so sterben können wie Georg, exemplifiziert Georgs Tod doch die Richtigkeit des Lebensopfers für den Glauben; obschon nur Heilige so unberührt vom fleischlichen Begehren sein können wie Alexius, exemplifiziert Alexius’ Unberührtheit doch die Richtigkeit der Askese. Der theologische Begriff der virtus he­ roica – ein Produkt der Rezeption der Nikomachischen Ethik im 13. Jahrhundert, das im 17. Jahrhundert zum Bestandteil des Kanonisierungsprozesses wurde – reflektiert die Kombination des Exorbitanten mit dem Exemplarischen in einer treffenden Weise:81 Unbeschadet der weiterhin obligatorischen Wunder ersetzt die außerordentliche Aktualisierung der sieben Kardinaltugenden bei Bekennerheiligen die Außerordentlichkeit des Märtyrertods in der Christusnachfolge. Bekennerheilige haben keine besonderen, sondern gewöhnliche Tugenden in einem besonderen, auf Begnadung beruhenden Ausmaß. Noch hier ist die Ähnlichkeit zu den antiken Halbgöttern erkennbar, bei denen das besondere Ausmaß gewöhn­ licher aristokratischer Handlungskompetenzen eine Folge der Abstammung gewesen war. Im Unterschied zur Exorbitanz höfischer Romanprotagonisten kann diejenige von Heiligen indes keine ordnungsschaffende sein. Als Angehörige der civitas dei müssen Heilige die civitas diaboli entweder als Märtyrer verlassen oder sich ihr als Asketen entziehen. Erst die dritte, jüngere Monatsschrift Beiheft 42), Heidelberg 2010; Bernd Bastert, Helden als Heilige. ›Chanson de geste‹-Rezeption im deutschsprachigen Raum (Bibliotheca Germanica 54), Tübingen 2010; Bleumer, »Historische Narratologie? Metalegendarisches Erzählen«; Julia Weitbrecht, Aus der Welt. Reise und Heiligung in Legenden und Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), Heidelberg 2011; Schulz, Erzähltheorie, 143–150; Peter Strohschneider, Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur (Germanischromanische Monatsschrift Beiheft 55), Heidelberg 2014, 89–217. 81  Rudolf Hofmann, Die heroische Tugend. Geschichte und Inhalt eines theologischen Begriffs (Münchener Studien zur historischen Theologie 12), München 1933.



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Variante der ›Weltgestaltungsheiligen‹ erlaubt es, heilige Außerordentlichkeit in den Dienst des Diesseits zu stellen, an dessen Korruption jedoch auch in diesem Fall unvermeidlich nichts zu ändern ist. Weil Heilige ein Allgemeingültiges exemplifizieren, das nicht das diesseitige sein kann, sind ihre exorbitanten Dienstleistungen auf Nothilfe und die institutionelle Repräsentation der civitas dei in der vergänglichen Welt begrenzt. Letzteres kommt besonders gut bei den Ordensgründern, ersteres bei den heiligen Kämpfern gegen das Böse zur Geltung – einem Amt, das Georg im 11. Jahrhundert durch die Inserierung des Drachenkampfs in die Legende aufgetragen wurde.82 Nicht zuletzt seine Promotion zum Kreuzritterheiligen indiziert, welchem Modell die heiligen Krieger der Chansons de geste verpflichtet sind. Sie können das Böse – den heidnischen Drachen – nur abwehren; wenn sie dafür nicht mit dem Martyrium belohnt werden, müssen sie das Kloster wählen. Ähnlich ordnungsdienlich wie die Exorbitanz von Artusrittern, die beim Kampf für die eigene Ehre zugleich Aggressoren beseitigen und ihre Befähigung zum Herrscher unter Beweis stellen, ist dagegen die um 1000 wohl eher neu ›gefundene‹ als nachträglich verschriftlichte, jedenfalls nur in dieser schriftlichen Gestalt verfügbare Beowulfs.83 Seine ›heroische‹ 82  Zur Geschichte der Georgslegenden vgl. Wolfgang Haubrichs, Georgslied und Georgslegende im frühen Mittelalter. Text und Rekonstruktion (Theorie, Kritik, Geschichte 13), Königstein i. Ts. 1979; ders., »Georgslegende, Georgsverehrung und Georgslied im westlichen Mittelalter«, in: Sylvia Hahn, Peter Bernhard Steiner (Hgg.), Sanct Georg. Der Ritter mit dem Drachen, Lindenberg 2001, 57–63; Peter Strohschneider, »Georius miles – Georius martyr. Funktionen und Repräsentationen von Heiligkeit bei Reinbot von Durne«, in: Matthias Meyer, Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift Volker Mertens, Tübingen 2002, 781–811; Elke Koch, »Erzählen vom Tod. Überlegungen zur Finalität in mittelalterlichen Georgsdichtungen«, in: Cornelia Herberichs, Susanne Reichlin (Hgg.), Kein Zufall? Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur (Historische Semantik 13), Göttingen 2010, 110–130. 83  Beowulf. An edition with relevant shorter texts, hg. Bruce Mitchell, Fred C. Robinson, Oxford 1998. Für ein die im Folgenden skizzierte Einschätzung schärfendes Gespräch bin ich Uta Störmer-Caysa zu Dank verpflichtet. Zum Stand der Forschung vgl. Mark Amodia, The Anglo-Saxon Literature Handbook, Chichester u. a. 2014; Jennifer Neville, »Redeeming Beowulf. The Heroic Idiom as Marker of Quality in Old English Poetry«, in: Victor Millet, Heike Sahm (Hgg.), Narration and Hero. Recounting the Deeds of Heroes in Literature and Art in the Early Medieval Period (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Ergänzungsbände 87), Berlin / Boston 2014, 45–70; Beowulf. Ein altenglisches Heldenepos, übers. u. hg. Martin Lehnert, Stuttgart 2013; Heike Sahm, »Uuord endi uuerc in Heliand und Beowulf. Ein Thema und seine Modifikation in der frühmittelalterlichen Epik«, Germanischromanische Monatsschrift 61 (2011), 1–23; Michael Koch, Beowulf – Siegfried – Diet-

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Gewalt, die ihm Ruhm und Schatz einträgt, richtet sich nicht gegen andere Personenverbände, sondern gegen Ungeheuer, deren Aggression die Ordnung stört. Zu den monströs bedrängten Dänen fährt er um des Ruhmes willen und um seine außerordentliche Kampfkraft in ihren Dienst zu stellen. Die materielle Belohnung, die er für den Sieg bekommt, ist Bestandteil und Zeichen seines Ruhms; daheim präsentiert er sie dem Gautenkönig zusammen mit der Erzählung von seinen Taten. Dass ihn seine ordnungswahrende Außerordentlichkeit zum Herrscher qualifiziert, wäre auch ohne die Fürstenspiegel-Predigt offenkundig, die ihm der Dänenkönig vor der Heimfahrt hält. Als Herrscher verteidigt er den Frieden dann gegen ein weiteres Monster. Habgier stellt die Erzählung in der Drachen­ episode als schädlich dar; der Schatz des Drachen gelangt nach Beowulfs Tod zusammen mit seinem Ruhm in die Königshalle. Freunden ›germanischer Heldendichtung‹ hat der Beowulf-Verfasser nicht zuletzt den Gefallen getan, mehrmals von der Produktion und dem Vortrag von Heldenliedern zu erzählen und damit anderweitig schwer lieferbare Vorstellungen von den Praktiken der singer of songs über die doer of deeds zu evozieren. Den Text des Lieds über die Schlacht auf der Finnsburg, das der schop des Dänenkönigs nach Beowulfs Sieg über Grendel in der Halle zum Besten gibt, referiert der Dichter in 190 Versen so, als ob es sich wörtlich um den vorgesungenen handelte (v. 1050–1159a). Mangels einer erläuternden Einführung der Akteure und ihrer Relationen zueinander ist das Lied nur für Adressaten verständlich, die die Geschichte schon kennen;84 im Mittelpunkt steht ihre Bedeutung für Hildeburh, deren Bruder und Sohn auf gegnerischen Seiten gefallen sind. Ganz anders als der schop, der sein Heldenlied ohne Einleitung mit einer durch bloße Akteurnamen bewerkstelligten Identifikation der als bekannt vorausgesetzten Geschichte beginnt, weist der Beowulf-Dichter seine Adressaten und sich selbst eingangs zunächst explizit als Träger einer mündlich vermittelten kollektiven Erinnerung an Heldentaten aus Vorzeittagen aus. Eine Bekanntheit der von ihm erzählten Geschichte setzt er danach jedoch rich. Vergleichende Studien zur Darstellung und Charakterisierung des Helden in der germanischen Epik, Aachen 2010; Victor Millet, Germanische Heldendichtung im Mittelalter. Eine Einführung, Berlin / New York 2008, 60–93; Ruth Johnston ­Staver, A Companion to Beowulf, Westport (CT) 2005; Andy Orchard, A Critical Companion to Beowulf, Cambridge 2003; Robert E. Bjork, John D. Niles (Hgg.), A ­ Beowulf Handbook, Lincoln 1997; Peter Stuart Baker (Hg.), Beowulf. Basis ­Readings, New York 1995. 84  Zum Finnsburg-Fragment und seiner abenteuerlichen Überlieferung, die jeder interpretatorischen Belastung ein bestenfalls wackliges Fundament bietet, vgl. ­Beowulf, hg. Mitchell, Robinson, 212–215; Scott James Gwara, »The foreign ­Beowulf and the ›Fight at Finnsburg‹ «, Traditio 63 (2008), 185–233.



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gerade nicht voraus; vielmehr stellt er alle Akteure und ihre Relationen zueinander mit nur wenigen Ausnahmen eigens vor. Allein auf den Drachentöter Sigemund und König Ingeld, die einer Erklärung vermutlich in der Tat nicht bedurften, referiert er uneingeleitet. Die narrativen Praktiken des Beowulf-Dichters unterscheiden sich dadurch so auffällig von denen des schop, dass man an eine Inszenierung der Differenz zwischen schriftlichem Heldenepos und mündlichem Heldenlied glauben könnte. Gleichwohl lässt sich die Finnsburg-Erzählung relativ leicht als eine komplementäre Exemplifikation derjenigen Wissensordnung, die die Beo­ wulf-Erzählung am Positivfall ihres Protagonisten exemplifiziert, ex negativo verstehen. Im Lied des schop finden die Kämpfe nicht zwischen heroischem Einzelnen und Monstern, sondern zwischen Personenverbänden statt und führen ausschließlich zu Leid. Dessen Ausmaß ist das einzig Exorbitante, das sich auf der Finnsburg ereignet, weil von außerordentlichen Kampftaten à la Beowulf gar nicht die Rede ist. Begründet wird der Kampf zwischen Dänen und Friesen mit der beiderseitigen Unfähigkeit zum Einhalten ordnungssichernder Verträge und materiellem Besitzstreben: Zuerst brechen die Friesen die treowe (v. 1072), danach eskaliert der Konflikt trotz eines beeideten Friedens wegen der dänischen Rache (gyrnwræce, v. 1138) ein weiteres Mal. Der Friedensvertrag nach dem ersten Kampf sieht regelmäßige Goldgaben vor, am Ende plündern die Dänen die Burg der Friesen. Wenn auf dem gemeinsamen Scheiterhaufen für Hildeburhs Bruder und Sohn Gold aufgehäuft ist (v. 1107 f.), tritt ein Zusammenhang zwischen materiellen Schätzen und dem Handlungsziel Ruhm zutage, den das Lied sonst nicht eigens thematisiert. Während die von einem exorbitanten Einzelnen ausgeübte Gewalt im Fall Beowulfs als Abwehr monströser Aggression der Ordnung dient, zeitigt die von Personenverbänden als unbeherrschte Aggression gegeneinander ausgeübte Gewalt im Fall der Finnsburg-Schlacht furchtbare Folgen. Die narrativen Praktiken in der Beowulf-Erzählung indizieren recht deutlich eine buchepische Konstruktion mit einem exemplarischen Sinn, der seine Heimat unverkennbar in der gelehrten Klerikerkultur hat. Wenn die narrativen Praktiken in der Finnsburg-Erzählung mündliche Heldenlied-Tradition indizieren, verdankt sich zumindest die Auswahl des Lieds für den Auftritt des schop im Schriftepos doch ziemlich offenkundig der Deutbarkeit als Negativexempel im Sinn der gelehrten Klerikerkultur. Ihr war heroische Exorbitanz entweder ordnungsdienlich oder ordnungswidrig und in beiden Varianten exemplarisch; in ihren Händen lagen schriftliche Textproduktion und schriftliche Textüberlieferung bis zur Entstehung säkularer Bildungsinstitutionen.

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VII. Handlungsdarstellung und die Geschichte des praktischen Wissens Als Aktualisierung kulturellen Regularitäten- und Situationsdeutungswissens war vormoderne Handlungsdarstellung immer exemplarisch, insofern der kulturelle Sinn konkreten Handelns in den Relationen zwischen den Spezifika der einzelnen Handlungssituationen und dem Allgemeinen des kulturellen Regularitäten- und Situationsdeutungswissens bestand, wenn es das kulturelle Handlungswissen war, das dargestelltes ebenso wie tatsächliches Handeln sinnhaft machte. Aus diesem Grund hatte auch die Darstellung exorbitanten Handelns einen exemplarischen Sinn, während exemplarisch dargestelltes Handeln umgekehrt nicht exorbitant zu sein brauchte. Vormoderne Handlungsdarstellung exemplifizierte dem eigenen Anspruch nach nicht, was sein soll, sondern was ist. Ihre kulturelle Erkenntnisleistung beruhte darauf, dass sie die Vermittlung zwischen dem Spezifischen einzelner Handlungssituationen und dem Allgemeinen kulturellen Regularitäten- und Situationsdeutungswissens zeigen konnte. Im Unterschied zum tatsächlichen Handeln aktualisierte Handlungsdarstellung das praktische Wissen in diskursiver Form und konnte dadurch reflexivere Optionen als die Praxis selbst eröffnen. Handlungsdarstellung vermochte demnach stets eine Rationalisierungsfunktion zu haben, wobei die jeweiligen Rationalitätsstandards selbstverständlich Produkte der jeweiligen kulturellen Wissensordnungen waren. Regularitätenwissen seinerseits beruhte auch in der Vormoderne notwendigerweise auf Kausalitätsunterstellungen, weil Regeln vom Typus ›wenn a dann b‹ stets die Annahme ›b weil a‹ nahelegen. Wenn Handeln eine Bedeutung haben soll, gibt es in der Handlungsdarstellung – genauso wie in der Praxis selbst – folglich keinen anderen Typus der Handlungsbegründung als den kausalen. Was jeweils als Begründung in Frage kommt, hängt von den jeweiligen kulturellen Wissensordnungen ab; deshalb hat dargestelltes Handeln – wie die Praxis selbst – eine Geschichte. Wenn es die Ordnungen des praktischen Wissens sind, aus der alle anderen Wissensordnungen hervorgehen, ohne selbst auf andere zurückführbar zu sein – und nichts anderes behaupten die praxeologischen Kulturtheorien –, müsste die Geschichte dargestellten Handelns wohl als ein ziemlich exorbitanter kulturwissenschaftlicher Gegenstand gelten.

Erbauungsliteratur zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit: Thomas Murners Badenfahrt (1514) Von Jean Schillinger Es gibt in der älteren deutschen Literaturgeschichte nur wenige Schriften, die so abfällig beurteilt wurden wie Thomas Murners Badenfahrt. Für Carl Grüneisen handelt es sich um »eine plumpe und frivole Darstellung der christlichen Buße«;1 Heinrich Kurz bezichtigt Murner, darin »in die größten Abgeschmacktheiten« zu verfallen;2 Charles Schmidt, einer der besten Kenner der elsässischen Literatur an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, meint, Murner selbst habe sich bei der Abfassung der Schrift gelangweilt und sei so für seinen Leser langweilig geworden.3 Etwas nachsichtiger äußert sich Victor Michels, der Herausgeber der Badenfahrt in der Gesamtausgabe der deutschen Schriften Murners; er schreibt in seiner Einleitung, sie zähle »gewiß nicht zu den wertvollsten Dichtungen Thomas Murners«, was u. a. auf die »Mängel der Komposition« zurückzuführen sei, doch werde der Stoff mit einer Lebhaftigkeit vorgetragen, »die den Leser trotz der ständigen Wiederholung derselben Gedanken immerhin nie ganz ermüden läßt.«4 Die Badenfahrt wurde dagegen von Georg Schuhmann energisch verteidigt, mit der Behauptung, manche Abschnitte gehörten »zum Besten und Gefühlvollsten der Erbauungsliteratur des sechzehnten Jahrhunderts«.5 Grüneisen, Niclaus Manuel, Stuttgart / Tübingen 1837, 75. Kurz, Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 1, Tübingen 1853, 646. 3  Charles Schmidt, Histoire littéraire de l’Alsace à la fin du XVe et au début du XVIe siècle, Paris 1879, Bd. 2, 293. 4  Victor Michels, »Einleitung«, in: Thomas Murner, Badenfahrt, hg. V. Michels (Thomas Murners Deutsche Schriften, hg. Franz Schultz, Bd. 1 / 2), Berlin / Leipzig 1927, IX. Von nun an zitiert unter der Sigle BF mit Angabe der Seiten- und ggf. der Verszahl. Die Originalausgabe (VD 16 M 7022) erschien 1514 bei Grüninger in Straßburg. 5  Georg Schuhmann, Thomas Murner und seine Dichtungen, Regensburg / Rom 1915, 55. 1  Carl

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Die vorwiegend negativen Urteile lassen sich mindestens teilweise einerseits durch religiöse Vorurteile,6 andererseits durch klassizistisch geprägte ästhetische Vorstellungen erklären. Eine unbefangene Untersuchung von Murners Badenfahrt führt zu anderen Ergebnissen: Das illustrierte Werk ist ein sprechender Beleg für das Können der oberrheinischen Drucker am Anfang des 16. Jahrhunderts und veranschaulicht eingehend die Möglichkeiten des Zusammenwirkens von Text und Bild;7 es ist, darüber hinaus, ein bemerkenswertes Beispiel für die katholische Erbauungsliteratur im Jahrzehnt vor der Reformation, und sein Interesse liegt nicht zuletzt in dem Rückgriff auf eine theologisch-erbauliche Tradition, deren Ursprünge bereits in der Patristik zu beobachten sind und die Murner auf eigenwillige und originelle Weise abzuwandeln versteht. I. Eine Schrift für Gelehrte und Ungelehrte Das Hauptanliegen von Murners Schrift sowie ihre Eigenart sind im Großen und Ganzen auch von Kritikern erkannt worden, die für das Werk wenig Verständnis aufzubringen vermochten. So schreibt Heinrich Kurz: »Die Badenfahrt beruht auf der lächerlichen Vergleichung Gottes, oder vielmehr Christi mit einem Bader, indem Alles, was zu einem Bade nöthig ist, symbolisch auf die Bekehrung und Besserung der Menschen gedeutet wird«.8 Dieser Vergleich, so eine andere Stimme, störe »durch das Triviale und Unwürdige des gewählten Bildes«.9 Kritik erregen einerseits die Tatsache, dass der Bereich des Heiligen mit der alltäglichen Wirklichkeit in Bezug gebracht wird, andererseits das Ungewöhnliche des Vergleichs. Damit werden aber zwei Züge genannt, die für eine Richtung der spätmittelalterlichen Frömmigkeitsliteratur kennzeichnend waren, in die sich Murner bewusst einordnet. Die Badenfahrt gehört zur allegorischen Frömmigkeitsliteratur,10 die sich im Spätmittelalter besonderer Beliebtheit 6  Philippe Dollinger, »Vie de Thomas Murner«, in: Thomas Murner. Elsässischer Theologe und Humanist 1475–1537, Ausstellungskatalog, hg. von der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe in Zusammenarbeit mit der Bibliothèque Nationale et Universitaire de Strasbourg, Karlsruhe 1987, 9. 7  Die Anlage der Badenfahrt als illustriertes Werk setzt das Modell von Brants Narrenschiff voraus, dem Murner bereits in der Narrenbeschwörung (1512) und in der Geuchmatt (1519) verpflichtet war. 8  Kurz, Geschichte der deutschen Literatur, 646. 9  Grüneisen, Niclaus Manuel, 75. 10  Eine Variante dieser Literatur wurde eingehend studiert von Dietrich Schmidtke, Studien zur dingallegorischen Erbauungsliteratur des Spätmittelalters am Beispiel der Gartenallegorie, Tübingen 1982.



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erfreute.11 Ein Blick in ein bibliographisches Standardwerk zeigt, wie häufig Titel wie Das geistliche Haus, Die geistliche Klause, Der geistliche Wagen oder Die geistliche Weinrebe vorkommen.12 Manches deutet darauf hin, dass die allegorische Erbauungsliteratur am Oberrhein, besonders im Elsass, in der Nachfolge von Johannes Kreutzer und Geiler von Kaysersberg besonders eifrig gepflegt wurde.13 Im Mittelalter galt, dass die Allegorie und die bildliche Einkleidung besonders geeignet seien, die einfachen Menschen anzusprechen. Diese Vorstellung findet sich u. a. bei Alanus ab Insulis und Thomas von Aquin.14 Neben das Problem der Bildungsebene des Publikums trat aber ein anderes Element: Es scheint, so Dietrich Schmidtke, dass im Spätmittelalter die moraltheologische Unterweisung auf die Praxis bildlicher Einkleidung nicht mehr verzichten konnte, um abgestumpfte Zuhörer oder Leser zu gewinnen.15 Ein Zeugnis für diese Einsicht begegnet in der apologetisch gefärbten Vorrede einer irrtümlich Geiler von Kaysersberg zugeschriebenen Schrift.16 Der Verfasser dieser »Passion in Form eines Gerichthandels«, Jacob Mennel, betont die Notwendigkeit, die Menschen ständig an die Guttaten Christi zu erinnern, stellt aber fest […] vnd aber vil menschen seind die nit gern zůkirchen kume[n] /  auch wenig e neigung habe[n] predig zehoren /  Denen auch langweillig ist /  petbūchlin zůlesen  /  Habend vil meer lusts /  etwas das sich vff weltlich art ziehe /  zůbedencken. […] So hab ich. J / M / D /  diß gege[n]wertig büchlin /  von der heiligen Passion /  in form eins gerichthandels gestelt […].17

Der Rückgriff auf Weltliches wird hier keineswegs auf die mangelnde Bildung des Publikums zurückgeführt, sondern auf dessen Desinteresse an der geistlich-religiösen Sphäre. Der Titel des Traktats, der eine Darstellung des Leidens Christi anhand von »Missiven, Kaufbriefen und Urteilsbrie11  Vgl. ibid., 216 die chronologische Tabelle, aus der hervorgeht, dass die Zeit zwischen 1475 und 1500 in dieser Hinsicht besonders fruchtbar war. 12  Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. Kurt Ruh, Bd. 2, Berlin 1980, Sp. 1157–1183. Etwa 20 einschlägige anonyme Titel werden aufgelistet. 13  Wieland Schmidt, »Zur deutschen Erbauungsliteratur des späten Mittelalters«, in: Kurt Ruh (Hg.), Altdeutsche und altniederländische Mystik, Darmstadt 1964, 454. 14  Schmidtke, Studien zur dingallegorischen Erbauungsliteratur, 254. 15  Ibid., 253. 16  Zu dieser Schrift siehe Léon Dacheux, Die æltesten Schriften Geilers von Kaysersberg, Freiburg i. Br. 1882, CXVIII–CXXI. 17  Das ist der Passion Jn form eins gerichtha[n]dels darin Missiue[n] Kauffbrieff Urtelbrieff vnd an[der]s gestellt sein kürtzweillig vn[d] nütz zůlesen. [Straßburg 1514], Bl. Aiii v° (VD 16 A221).

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fen« verspricht, scheint eine direkte Bezugnahme auf Beschäftigungen eines stadtbürgerlichen Publikums anzustreben. Sowohl Mennels Passion als auch Murners Badenfahrt verdeutlichen eine Tendenz der allegorischen Erbauungsliteratur: Zur Neigung, moralische Erbauung durch Vergleiche mit realen Gegenständen des täglichen Lebens ›schmackhaft‹ zu machen, tritt die Bemühung, eine überraschende Wirkung zu erzielen, indem die gewählten Bilder eine unerwartete Deutung erhalten.18 Thomas Murner war zur Zeit der Abfassung der Badenfahrt Doktor der Theologie und promovierte später auch noch zum Doktor der Rechte. Er war aber weniger Wissenschaftler denn Pädagoge, was sich besonders in seinem Hang zur Vulgarisierung ausdrückte: Er verfolgte das Ziel, das Wissen Kreisen zugänglich zu machen, die über die enge Schicht der lateinkundigen Literaten hinausgingen. Dies zeigte sich etwa in seinen Bemühungen um Popularisierung des römischen Rechts, in der Übersetzung von Vergils Aeneis in deutsche Verse oder in seinen innovativen Methoden, die den Studenten das Memorieren des Stoffes (in der Logik oder in der Rechtswissenschaft) an Hand von Spielkarten erleichtern sollten. Auch die Badenfahrt steht unter diesem Zeichen. Die Titelseite kündigt ein Werk an, das gelert vn[d] vngelernten nutzlich zū bredige[n] vn[d] zů lesen sei (BF 1). Dem zweifachen Publikum entspricht ein doppelter Rezeptionsmodus: Die Schrift soll gelesen (bzw. vorgelesen) werden, und der Inhalt kann auch Stoff für Prediger liefern, was zu der Vermutung geführt hat, Murner habe selbst über die Badenfahrt gepredigt.19 Der Wille, sich auch an die illiterati zu wenden, wird im Kap. 3420 wiederholt thematisiert und als das Ergebnis einer doppelten Motivation dargestellt: Murner fühlt sich einerseits als Doktor angehalten, auch einfachen Leuten eine Belehrung zukommen zu lassen; andererseits sei er als Mitglied eines Bettelordens zur Dankbarkeit denjenigen gegenüber verpflichtet, die ihn mit ihren Almosen ernähren.21 18  Schmidt,

»Zur deutschen Erbauungsliteratur«, 452. Heger, »Thomas Murner«, in: Stefan Füssel (Hg.), Deutsche Dichter der Frühen Neuzeit (1450–1600). Ihr Leben und Werk, Berlin 1993, 296–310, hier 301; dies., »Murners Sprache. Kanzleisprache – Dichtersprache«, in: Thomas Murner, hg. Badische Landesbibliothek, 79–91, hier 85. In der Narrenbeschwörung und in der Schelmenzunft erklärt Murner, er habe über Auszüge aus diesen Werken gepredigt. Vgl. dazu Schmidt, Histoire littéraire, Bd. 2, 226, und Theodor von Liebenau, Der Franziskaner Dr Thomas Murner, Freiburg i. Br. 1913, 68. 20  Die Ausgabe von 1514 kennt keine Kapitelzählung; diese wurde in die Ausgabe von Victor Michels eingeführt. Sie bietet eine leichte Orientierung im Text. 21  BF 143, 80–83: Was wer es das ich doctor were | Vnd geb dem armen man kein lere | Vnd freß den bettel gar vmb sunst, | So ich verhelet in min kunst? 19  Hedwig



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Diese Haltung schlägt sich in der Entscheidung nieder, auf Deutsch zu schreiben.22 Auch die Tatsache, dass das Werk mit Holzschnitten versehen ist, lässt sich durchaus mit der Absicht vereinbaren, auch ein ungebildetes, des Lateins, vielleicht auch des Lesens nicht kundiges Publikum zu erreichen. Die Bilder können daneben aber auch als Stütze für die Erinnerung oder einem meditativen Gebrauch dienen. Damit ist aber nur ein Teil von Murners intendiertem Publikum erfasst. Das Titelblatt kündigt die Absicht an, sich auch an ein gelertes Publikum zu wenden, und auch dieser Aspekt der Wirkintention Murners wird im Kap. 34 berücksichtigt: Der deutsche Text wird nämlich durch 299 lateinische Glossen ergänzt,23 die sich an Gebildete und Theologen wenden, die sich werden vergewissern können, dass die Aussagen des Autors, so gewagt sie im Einzelnen auch scheinen mögen, biblisch und wissenschaftlich abgesichert sind.24 Dies verleiht dem Werk seine Eigenart: Der Bezug zwischen Schrift und Bild wird durch die Zweisprachigkeit des Textes ergänzt.25 Schon die äußere Gestaltung zeugt vom Willen des Autors, ein sozial und intellektuell undifferenziertes Publikum anzusprechen.26 Die Tatsache, dass das Werk eine einzige Ausgabe erlebte, dürfte nicht als Zeichen des Erfolgs gedeutet werden. Der Uneinheitlichkeit des Publikums wird im Werk auf andere Weise Rechnung getragen. Murner war sich dessen bewusst, dass der Lebenswandel der Geistlichen bei den Laien Anstoß erregte,27 dass also ein Teil seines Publikums dem anderen nicht unbedingt günstig gesonnen war. Und er nutzt die Gelegenheit, schlichtend einzugreifen: Die Vorwürfe seien wohl in manchen Fällen gerechtfertigt, sollten aber den Laien auch 22  BF 144, 97–100: […] So hab ich doch das min gethon, | Dem vngelernten gschriben fin | Dis badenfahrt, nit zů latin | Das er sich wiß zůrichten drin. 23  Von 299 Glossen entstammen 187 der Bibel. 18 Glossen stammen aus dem Werk des Augustinus. Petrus Lombardus liefert 15 Glossen. Profane Autoren des klassischen Altertums liefern 20 Glossen. 24  BF 144, 101–106: Jst er gelernt vnd kan, | So fint er vßwendig stan | Latinsche meinung auch da by, | Wa solches her genumen sy, | Vnd das es hab ein bestant | Vß der heilgen gschrifft zů hant […]. 25  Es ist daher sehr bedauerlich, dass Victor Michels (wahrscheinlich aus drucktechnischen Gründen) die Glossen hinter den Text stellen musste. Aber der Vergleich mit der Originalausgabe macht den Unterschied in der Wirkung der Textgestaltung sehr anschaulich. 26  Vgl. Simone Loleit, Wahrheit, Lüge, Fiktion: Das Bad in der deutschsprachigen Literatur des 16. Jahrhunderts, Bielefeld 2008, 215: »Die grundlegende Unterscheidung zwischen volkssprachlicher Laienpredigt und lateinischer Predigt fällt weg.« 27  Vgl. Heribert Smolinsky, »Thomas Murner und die katholische Reform«, in: Thomas Murner, hg. Badische Landesbibliothek, 35–50.

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nicht als Vorwand dienen, um Position und Autorität der Geistlichen anzufechten. Dabei wendet sich Murner in einer Apostrophe direkt an den Laien und ermahnt ihn zur Geduld: Das selb zeichen  /  diesse Kron28 e Findstu vff deren heu ptren ston Die dir in dugendt für soln gon: Wie wol du offt das von in klagst Das du iern gang nit spieren magst […] Darumb du in kanst volgen nit. (BF 60, 41–47)

In den meisten Fällen sagt Murner »wir«, womit seine Gemeinschaft mit seinem Publikum betont wird. Hier distanziert er sich als Geistlicher von dem Laien, der mit »du« angesprochen wird. In beiden Fällen aber haben wir es mit »Spuren von Mündlichkeit« zu tun, die für die Predigt charakteristisch sind.29 Unter den Werken Murners steht – so Florenz Landmann – die Badenfahrt der Predigt besonders nahe.30 Dies drückt sich auch durch den häufigen Rückgriff auf epische Versatzstücke aus, die den homiletischen exempla entsprechen. Die exempla bestehen z. T. in der Paraphrase wohlbekannter biblischer Stoffe (wie der Gleichnisse der weisen und törichten Jungfrauen oder des verlorenen Sohns), aber auch Erzählungen aus dem Leben der Heiligen (der hl. Franciscus überwindet die Versuchung, indem er sich nackt im Schnee wälzt), aus der Geschichte (Kaiser Konstantin leidet unter Aussatz), aus der Mythologie (Herkules am Scheideweg) oder aus der Naturgeschichte (das Häuten der Schlange) werden bemüht.31 Diese exempla gehören zu dem im Mittelalter geläufigen Typus: Sie werden durch ihren didaktischen Charakter gekennzeichnet, der sie in den Dienst einer Rhetorik der persuasio stellt, und zielen nicht nur auf moralische Belehrung oder Unterhaltung ab, sondern auf das

ist hier die Tonsur (die Platte) in Kap. 14 (Das haubt scheren). Hans-Jochen Schiewer, »Spuren von Mündlichkeit in der mittelalterlichen Predigtüberlieferung. Ein Plädoyer für exemplarisches und beschreibend-interpretierendes Edieren«, Editio 6 (1992), 64–79, hier 65: »Apostrophe und andere rhetorische Kunstgriffe sind Stilmittel, die nur dazu dienen, die Fiktion von Mündlichkeit herzustellen. Sie sind die dominanten textinternen Signale, die den Texttyp ›Predigt‹ von anderen Typen geistlicher Prosa unterscheiden, ohne daß dadurch eine vorschriftliche Mündlichkeit des Textes zwingend vorausgesetzt werden müßte.« 30  Florenz Landmann, »Thomas Murner als Prediger. Eine kritische Nachprüfung«, Archiv für Elsässische Kirchengeschichte 10 (1935), 324: »Wir besitzen noch ein Gedicht Murners, das uns näher zu seiner wirklichen Predigtart hinführt als die NB und die SZ […]: Es ist seine ›Geistliche Badenfahrt‹ […].« 31  Die Geschichte der Päpstin Johanna und des hl. Franciscus werden übrigens ausdrücklich als exempel bzw. exemplum im Text oder in der Glosse bezeichnet. 28  Gemeint 29  Vgl.



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Heil der Seele.32 Der Bericht über die Schlange, die denjenigen beißt, der sie an seinem Busen wärmt,33 gibt ein Bild der Undankbarkeit des Menschen Gott gegenüber (BF 67); die Reue des hl. Petrus zeigt die Wirksamkeit der Buße, und an den Bericht schließt sich die Aufforderung an den Leser an: Lere von im (BF 13, 65); die Bestrafung der sündhaften Nachsicht des Priesters Heli seinen Söhnen gegenüber (1 Sam. 2–4) soll den Leser zur Einsicht führen: Wer hie ein kleine bue ssen důt | Den strafft man dort mit harter růt. (BF 44, 57–58) Besonders bemerkenswert ist die Erzählung von der Päpstin Johanna im Kapitel 11 (Die hut kratzen). Murner gibt den Bericht als historische Tatsache: Eine Frau sei Päpstin geworden, habe mit einem Kardinal gebuhlt und sei schwanger geworden. In der anti-päpstlichen Propaganda des Protestantismus wird diese Legende einen wichtigen Platz einnehmen.34 Murner lässt sich weder vom skandalösen Inhalt der Geschichte stören noch von der Tatsache, dass Wyclif und Jan Hus sie gebraucht hatten, um die Autorität des Papstes anzugreifen.35 Es geht ihm ausschließlich um ihre Aussagekraft: Johanna traf die Wahl, ihren Fehler öffentlich zu bekennen, die Schande auf sich zu nehmen, für die ganze Gemeinde ein Beispiel zu werden, und konnte so Gottes Gnade erlangen (BF 48). Murner folgt hier einer Martin von Troppau zugeschriebenen, erbaulichen Fassung der Geschichte der ›Päpstin‹: Sie habe nach ihrer Absetzung ein frommes Leben geführt, und ihr Sohn sei Bischof von Ostia geworden; nach ihrem Tod hätten auf ihrem Grab Wunder stattgefunden. Diese Version ordnet Johanna der großen hagiographischen Tradition der reuigen Sünderinnen zu.36 Somit zeigt sich, dass dieses exemplum auf Murners Hauptanliegen bezogen ist: Zusammen mit Magdalena, aber auch mit David, Petrus und dem guten Schächer soll Johanna auf die Früchte der Buße hinweisen und daran erinnern, dass kein Mensch, so schlimm seine Verfehlungen auch sein mögen, von Gottes Gnade ausgeschlossen ist. 32  Claude Bremond, Jacques Le Goff, Jean-Claude Schmitt, L’»Exemplum« (Typologie des sources du Moyen Âge occidental 40), Turnhout 1982, 36–38. 33  Die Geschichte wird von Äsop und Phädros erzählt. 34  Vgl. Thomas S. Freeman, »Joan of Contention: The Myth of the Female Pope in Early Modern England«, in: Kenneth Fincham, Peter Lake (Hgg.), Religious Politics in Post-Reformation England (Studies in Modern British Religious History 13), Woodbridge 2006, 60–79. 35  Ibid., 63; vgl. auch Alain Boureau, »La papesse Jeanne. Formes et fonctions d’une légende au Moyen Âge«, Comptes rendus des séances de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 128.3 (1984), 446–464, hier 457 f. 36  Ibid., 458.

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Victor Michels weist darauf hin, dass Murner den Stoff auch in der Geuchmatt gebraucht, ihm aber eine völlig andere Bedeutung gibt:37 Es geht da um die Bloßstellung der Macht der »Venuskünste« und der weiblichen Herrschsucht.38 Als exemplum soll die Geschichte wahrhaftig sein,39 aber sie kann auf verschiedene Weisen gedeutet werden, wobei der Wirksamkeit, die sie in einem bestimmten Kontext entfaltet, entscheidende Bedeutung zukommt. II. Das geistliche Bad In seiner Studie zum Beruf des Predigers im Spätmittelalter stellt Hervé Martin den häufigen Rückgriff der Seelsorger auf Metaphern fest, mit dem Ziel, den Inhalt der Botschaft auch ungebildeten Menschen verständlich zu machen. Dabei unterscheidet er zwischen Metaphern, die für die gesamte Menschheit bedeutsam sind (wie die vier Elemente, der Kosmos, der Zyklus der Natur, die Pflanzen- und Tierwelt) und solchen, die zu einer bestimmten kulturellen Tradition gehören.40 In Murners Allegorie des Besuchs einer Badeanstalt kommen eigentlich beide Aspekte zum Tragen. Die Welt der Badehäuser war für die Menschen des Spätmittelalters eine kulturell und sozial verankerte Erfahrung,41 und manches deutet darauf hin, dass dies auf Deutschland besonders zutraf;42 seit der Mitte des 15.  Jahrhunderts entstand auch eine umfangreiche balneologische Literatur,43 die Ratschläge für den Aufenthalt am Bade- bzw. Kurort erteilte und deren sicher bekanntestes Beispiel das Bäderbüchlein des Nürnberger Hans Folz (um 1480) ist. »Kommentar« zu Murner, Badenfahrt, 209. Murner, Die Geuchmatt, hg. Eduard Fuchs (Thomas Murners deutsche Schriften, Bd. 5), Leipzig 1931, 99–101, v. 2094–2131. 39  Bremond, Le Goff, Schmitt, L’»Exemplum«, 37. 40  Hervé Martin, Le métier de prédicateur en France septentrionale à la fin du Moyen Âge, Paris 1988, 427–463. 41  Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München, Zürich 1980, Sp. 1340 f.; Frank Fürbeth, »Zur Bedeutung des Bäderwesens im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit«, in: Heinrich Dopsch, Peer F. Kramml (Hgg.), Paracelsus und Salzburg (Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde. Erg.-Bd. 14), Salzburg 1994, 463–488. 42  Agnese Nobiloni Toschi, »Bad. ›Una parola importante per la cultura germanica‹ «, Quaderno del dipartimento di letterature comparate – Università di Roma Tre 2 (2006), 279–298. 43  Siehe Frank Fürbeth, »Bibliographie der deutschen oder im deutschen Raum erschienenen Bäderschriften des 15. und 16. Jahrhunderts«, Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 13 (1995), 21–252. 37  Michels,

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Wenn sich beim Publikum eine Kenntnis der Welt der Badehäuser voraussetzen lässt, so muss auch hinzugefügt werden, dass die damit verbundenen Konnotationen keineswegs ausschließlich positiver Art waren. Die Badehäuser dienten zu verschiedenen Zwecken, wobei die Sauberkeit des Körpers und die Pflege der Gesundheit nicht unbedingt im Vordergrund standen. Man kann sich ein Bild der Vorstellungen machen, die mit der Welt der Badehäuser verbunden waren,44 indem man die berühmte Beschreibung des fröhlichen Lebens in Baden in der Schweiz durch den italienischen Humanisten Poggio Bracciolini heranzieht. Poggio hatte ab 1414 am Konstanzer Konzil teilgenommen und die Gelegenheit wahrgenommen, das nahegelegene Baden zu besichtigen. Über seine Erfahrungen berichtet er in einem langen Brief an seinen Freund Nicolo Nicoli. Die Lage des Ortes sei nicht besonders angenehm, man werde aber durch andere Umstände entschädigt: Hier […] gewährt die Lage dem Gemüthe keine, oder nur wenige Ergötzung; alles andere aber hat einen so unendlichen Reiz, daß ich öfters in dem Wahn stehe, die cyprische Venus selbst, oder was sonst die Welt Schönes in sich enthalten mag, habe sich in diese Bäder begeben, so sehr hält man über die Gebräuche der Göttin, so ein genaues Bild hat man hier von ihren Sitten und muthwilligen Spielen.45

Einen Einblick in das Alltagsleben in Baden gewähren uns folgende Bemerkungen: Man besucht täglich drey bis vier Bäder, und bringt den größten Theil des Tages mit Singen, Trinken, oder Tanzen zu. Selbst im Wasser setzen sich einige hin, und spielen Jnstrumente. Kein Anblick ist reizender, als wenn eben mannbare, oder schon in voller Blüte stehende Jungfrauen nackend im Wasser, […] an Gestalt und Sitten Göttinnen gleich, in ihre Jnstrumente singen. – Jhr leichtes Gewand ist zurückgeworfen, und schwimmt auf dem Wasser, daß man ein Mädchen für eine zweite Venus halten sollte.46

Poggio erwähnt übrigens auch, dass Priester, Mönche und Nonnen keineswegs ausgeschlossen werden. Die Besprechung der Heilwirkung des Wassers, hauptsächlich als Mittel gegen die Unfruchtbarkeit, nimmt dagegen kaum eine halbe Seite in Anspruch. Im Kap. 62 der Narrenbeschwörung (1512) hatte Murner selbst auf diesen Hintergrund hingewiesen: Das lürlis bad ist da ein vermeintlicher 44  Die Frage, ob diese Vorstellungen zutreffend waren, ist für unser Anliegen ziemlich belanglos. Entscheidend ist, was die Menschen wussten oder zu wissen glaubten. 45  [Poggio Bracciolini], Die Bäder zu Baden in der Schweiz. Eine Beschreibung derselben aus dem fůnfzehenten Jahrhundert, o. O. 1780, 7. 46  Ibid., 17 f.

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Lustort, in den Menschen aus allen Ständen strömen, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass sie sich in Wirklichkeit in die Hölle stürzen.47 Selbstverständlich rechnet Murner damit, dass solche Tatsachen zum Erfahrungshorizont seines Rezipienten gehören, was ihm die Möglichkeit bietet, das Bekannte radikal umzudeuten und seinem Leser, statt einer unanständigen Beschreibung, eine »andechtig geistliche« Badenfahrt, d. h. [z]ů weschen sich ein nüwe art (BF 1, 26) zu bieten. Die Wirksamkeit des Motivs des Bades beruht also zum Teil auf einem Vorwissen seitens des Lesers, das gleichzeitig mobilisiert und irregeführt wird. Hinzu kommt der Rückgriff auf eine Tradition, die nicht in der Erfahrung des Publikums begründet ist, sondern ihren Ursprung in der Theologie und in der Frömmigkeitsliteratur findet: Es geht um die Analogie zwischen dem Heil der Seele und einem ärztlichen Vorgang. Sehr verbreitet war die Vorstellung Christi unter den Zügen eines Arztes (Christus medicus): Sie ist biblischen Ursprungs48 und wurde von der Patristik aufgegriffen, variiert und entwickelt.49 Von der Metapher des Arztes und der ärztlichen Behandlung ist der Übergang zum reinigenden und heilenden Bad leicht zu vollziehen. Auch diese Vorstellung ist bereits in der Patristik anzutreffen. Die Bedeutungsvielfalt des Bades offenbart sich z. B. im Werk des Johannes Chrysostomos. Die erste Taufkatechese untersucht die christliche Taufe, die als reinigendes Bad dargestellt wird. Der Kirchenvater trifft dabei eine Unterscheidung zwischen dem Bad, das den Körper reinigt, dem schon auf höherer Ebene stehenden rituellen Bad der Juden und der gnadenbringenden Taufe, die die Verunreinigung der Seele tilgt und einer Neugeburt gleichkommt.50 Die vierte Predigt über die Namensänderungen betrachtet die Heilige Schrift als ein reinigendes Bad, das die Seele vor der Unreinigkeit und Besudelung durch die Sünde bewahrt; und dieses Wasser erhält seine Kraft durch das Feuer des Heiligen Geistes.51 Eine Homilie über die Ehe liefert eine andere Deutung. Auch hier bildet das Bad, das den Körper 47  Murner, Narrenbeschwörung, hg. M. Spanier (Thomas Murners deutsche Schriften, Bd. 2), Berlin / Leipzig 1926, Kap. 63, 334, v. 26–28: Do vorhin die hellen was, | Do ist yetzundt ein lustlichs bad, | Da hin ich all myn narren lad. Siehe dazu Loleit, Wahrheit, Lüge, Fiktion, 255. 48  Vgl. dazu Adolf Harnack, Medicinisches aus der ältesten Kirchengeschichte, Leipzig 1892, bes. 89–111. 49  Vgl. dazu Michael Dörnemann, Krankheit und Heilung in der Theologie der frühen Kirchenväter (Studien und Texte zu Antike und Christentum 20), Tübingen 2003 50  Johannes Chrysostomos, Ad illuminandos catecheses, in: PG 49, Sp. 225 f. 51  Johannes Chrysostomos, De mutatione nominum, in: PG 51, Sp. 116.

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vom Schmutz befreit, den Ausgangspunkt für die Aufforderung, auch die sündige Seele einem läuternden geistigen Bad zu unterziehen, das vor allem in heißen Tränen der Reue besteht.52 Murner macht in seiner Schrift keinen deutlichen Unterschied zwischen der Badestube und dem Heilbad: Das Bad ist gleichzeitig reinigend und heilend, und beide Wirkungen werden kaum auseinandergehalten. Dafür ist Kap. 5 (Sich selb vnrein erkennen) sehr aufschlussreich. Am Anfang steht die Behauptung, die meisten Menschen seien krank, wollten sich aber ihre Krankheit nicht eingestehen. Schon die Überschrift des Kapitels macht deutlich, dass die Erkrankung mit Unreinheit gleichzusetzen sei, und von dem Arzt wird die Heilung erwartet, die unter der Form der Reinigung erfolgt: Du sist so frum vnd also bider Das du es alles weschest wider. (BF 24, 38 f.)

Die Bezugnahmen auf Vorstellungen, die mit dem Bad zusammenhingen, waren in der Erbauungsliteratur des Spätmittelalters ziemlich verbreitet. Das Motiv des geistlichen Bades begegnet in verschiedenen Zusammenhängen, und in manchen Fällen stammen die textuellen Grundlagen aus dem Elsass. Zu den möglichen Quellen der Badenfahrt rechnet Victor Michels zwei Badelieder aus der »Pfullinger Liedersammlung« (2. Hälfte des 15. Jahrhunderts).53 Die Lieder wenden sich an ein weibliches Publikum, das von der Dreifaltigkeit bzw. von Christus in das geistliche Bad geladen wird, wo die Seele von der Sünde befreit werden und die himmlischen Freuden erleben soll. Auch für ein weibliches Publikum gedacht ist eine für die Straßburger Ursulabruderschaft verfertigte Gebetsliste, die unter dem Titel Die geistliche Padstube bekannt ist.54 Diese Schrift beschreibt einen doppelbödigen allegorischen Vorgang: Eine Badestube wird eingerichtet, wobei die Gebete sowohl für die verschiedenen Teile des Gebäudes (Wände, Fenster, Diele, Ofen, Tür usw.) als auch für die ablauChrysostomos, Mulier est alligata legi, in: PG 51, Sp. 224. »Einleitung« in Murner, Badenfahrt, XVII–XXIII. Die zwei Lieder sind abgedruckt bei Hoffmann von Fallersleben, Geschichte des deutschen Kirchenliedes bis auf Luthers Zeit, 3. Ausg., Hannover 1861, Nr. 38 und 39, 109–112, und bei Philipp Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des 17. Jahrhunderts, Bd. 2, Leipzig 1867, Nr. 820 und 821, 633–634. Zu diesen Liedern siehe Judith Theben, Die mystische Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts. Untersuchungen – Texte – Repertorium (Kulturtopographie des alemannischen Raums 2), Berlin / New York 2010, 516–518. 54  Der Text ist abgedruckt bei André Schnyder, »Die geistliche Padstube. Eine spätmittelalterliche Andachtsübung«, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 113.3 (1984), 147–150. 52  Johannes 53  Michels,

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fenden Vorgänge (schwitzen, reinigen, waschen) stehen, welche auf Glaubensinhalte verweisen.55 Wie in den zwei oben erwähnten Badeliedern (und wie in Murners Badenfahrt) endet der Text mit einem Gebet an die Jungfrau Maria. Die Existenz solcher Schriften führt zunächst dazu, Murners Originalität zu relativieren: Das Thema war sowohl aus der Patristik als auch aus der zeitgenössischen Frömmigkeitsliteratur bekannt. Murners Leistung ist vor allem im Umgang mit dem Material zu sehen. Seine Schrift, die um ein vielfaches länger ist als die erwähnten Texte, bietet die Möglichkeit, die Allegorie des Bades breit auszuführen, bei Einzelheiten zu verweilen, eine Wechselwirkung zwischen Text und Bild herzustellen. Besonders wichtig und beeindruckend sind aber die Art, auf die die Vorgänge im Bad personalisiert werden, und die Rolle, die Christus dabei zugedacht wird.

III. Christus als Bader Die Menschen, die in den Badehäusern tätig waren (die Bader), gehörten zu den sogenannten »unehrlichen Leuten«.56 Diese »Unehrlichkeit« rührte möglicherweise von der Tatsache her, dass sie mit menschlichen Körpern und mit Leichnamen umgingen, aber die Nähe zur Kuppelei und Prostitution trug auch dazu bei.57 So ist es für den Rezipienten auf jeden Fall eine Überraschung, Christus in der Funktion des Baders zu entdecken.58 Die Holzschnitte spielen dabei eine entscheidende, ambivalente Rolle. Einerseits wird Christus bei der Durchführung niedriger, ja demütigender Dienste gezeigt: Er wäscht dem Patienten Füße und Kopf (Kap. 9 und 13), er kratzt ihm die Haut mit seinen Nägeln (Kap. 11), oder er kämmt ihm die Haare (Kap. 16). Es sind auf jeden Fall Tätigkeiten, die Christi Heiligkeit zu widersprechen scheinen, oder, genauer gesagt, die zeigen, wie tief Gott sich erniedrigt, um den Menschen zu ret55  Ders., »Die geistliche Padstube«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. Burghart Wachinger, Bd. 11 (Nachträge und Korrekturen), Berlin 2010, Sp. 503. 56  Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Wien / Köln / Weimar 2012, 735. 57  Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, Sp. 1339. 58  Die Suche nach dem Überraschungseffekt ist eine Konstante in Murners Schreibstrategie. Zur Rolle des Überraschungseffektes in Murners Narrenschriften vgl. Barbara Könneker, Wesen und Wandlung der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus. Brant – Murner – Erasmus, Wiesbaden 1966, 142.



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ten.59 Das Aufzeigen dieser Erniedrigung entspricht einer Grundtendenz der spätmittelalterlichen Frömmigkeitsliteratur, die das Erbe der christologischen Wende des 12. und 13. Jahrhunderts antritt, indem sie nicht den triumphalen göttlichen Weltenherrscher betont, sondern den menschgewordenen Erlöser, der »durch das Medium der Leibhaftigkeit […] in innigste leiblich-seelische Kommunikation zu den Menschen aller Zeiten [tritt]«.60 Dass Murner Christus in Szene setzt und ihm eine Tätigkeit zuschreibt, die nach Analogie einer nicht unbedingt sehr geschätzten menschlichen Tätigkeit verrichtet wird, ist übrigens kein Einzelfall innerhalb der spätmittelalterlichen Erbauungsliteratur, in der Christus gelegentlich auch als Kaufmann oder als Koch dargestellt wurde.61 Diese Erscheinungsform Christi, die ihn dem Menschen annähert, wird jedoch durch eine andere Tendenz aufgewogen. Christus wirkt zwar als Bader in der vertrauten Umgebung der Badestube, doch erscheint er keineswegs in der Gestalt, wie die damalige Ikonographie den Bader darzustellen pflegte; Jost Ammans Ständebuch (1568) zeigt den Bader als einen athletischen Mann, der nur einen Lendenschurz trägt; auf den Holzschnitten zur Badenfahrt ist dagegen der durch die Ikonographie sanktionierte Typus des Heilands (ein bärtiger, langhaariger Mann, mit langem Gewand und Nimbus) zu sehen. Die Art, wie Christus auf den Holzschnitten dargestellt wird, scheint dazu angetan, eine nuancierte theologische Aussage zu tragen. Im Großen und Ganzen bleibt der Körper Christi verborgen, im Gegensatz zu demjenigen des Badegasts, der seine Kleider ablegt, dessen Körperlichkeit somit stark betont wird62; doch sieht man außer seinem Gesicht seine Füße, seine Unterarme, manchmal seine Waden, genug also, um klar zu machen, dass Christus einen menschlichen Körper besitzt. Christus erscheint in seiner Eigenschaft als wahrer Mensch und wahrer Gott.63 Die Andeutung einer solchen theologischen Aussage ist ein 59  Dies wird übrigens im Kap. 9 (Die füs weschen) offen thematisiert (BF 39, 27– 30): Wier habens da für an genomen | Das du hast müssen zů vns komen | Vnd si dier angedinckt gewesen | Zů füeren so ein ellends wesen. 60  Berndt Hamm, Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, Tübingen 2011, 518. 61  Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. Kurt Ruh, Bd. 1, Berlin / New York 2010, Sp. 1234–1235 (Christus als Koch) und 1241–1243 (Christus und die sieben Laden, wo Christus als Kaufmann auftritt). 62  Dies betrifft in noch höherem Maße die nackten Menschen, die auf dem Holzschnitt zum Kap. 26 (Der Jung brun) zu erblicken sind. 63  Siehe z. B. die Definition des Konzils zu Chalcedon; H. Denzinger, A. Schönmetzer, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, Editio XXXIV, Barcinone u. a. 1967, 108, Nr. 301: Sequentes igitur sanctos Patres, unum eundemque confiteri Filium Dominum nostrum Iesum Christum ­

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Argument für die These, dass Murner an der Ausgestaltung der Holzschnitte mindestens mitgewirkt hat.64 Nicht auszuschließen ist, dass die Rolle, die Christus in der Badenfahrt zugedacht wird, Murners Strategie widerspiegeln könnte. Indem Murner den Christus medicus der Tradition zum Christus balneator macht, vollzieht er eine Entwicklung, die eine Entsprechung auf der Ebene des Wissenstransfers finden mag: Durch die Wahl einer Bezugsfigur, die z. T. ähnliche Funktionen erfüllt wie der Arzt, dessen soziales und berufliches Prestige aber keineswegs besitzt, signalisiert er, dass die Inhalte, die er mitzuteilen gedenkt, den Zielsetzungen der christlichen Seelsorge entsprechen (es geht um Heilung der Seele), dass aber ihre Aufbereitung, als vulgarisiertes Wissen, auf das Prestige der Kommunikation unter Gelehrten verzichten muss.65

IV. Analogie von Badekur und Seelenheil Die Badenfahrt besteht im Grunde genommen aus zwei Teilen.66 Ein erster, längerer Teil, umfasst die Vorrede, die Kapitel 1 bis 25 sowie das Kapitel 34: Der Leser wohnt dem vollständigen Verlauf einer Badekur bei, vom Empfang in der Badestube bis zur Rückkehr des Badegasts in seine Heimat, über die verschiedenen Behandlungen, denen sich der Gast zu unterziehen hat. Der zweite Teil, die Kap. 26 bis 33, stellt die verschiedenen Arten von Bädern vor. So beschrieben, entspricht der Inhalt von Murners Badenfahrt im Wesentlichen demjenigen der Badeschriften der Zeit: Der zukünftige Patient erhält Auskünfte über die verschiedenen Bäder, was ihm erlaubt, das Bad zu wählen, das seiner Pathologie entspricht; er wird auf den Verlauf der Kur vorbereitet und erhält Ratschläge, die es ihm ermöglichen sollen, aus der Kur den größtmöglichen Profit zu ziehen. Das Eingangsmotto kündigt ein ambivalentes Bad an, in dem der Gast Lib /  vnd seel [west] /  als er dan sol (BF 2), aber dieses Gleichgewicht von c­ onsonanter omnes docemus, eundem perfectum in deitate, eundem perfectum in humanitate, Deum vere et hominem vere […]. 64  Vgl. Loleit, Wahrheit, Lüge, Fiktion, 203. 65  Vgl. auch ibid., 226: »[…] denn der Bader-Chirurg steht als nicht-akademischer Heiler dem Volk näher als der gelehrte Arzt.« 66  Hinzu kommt das Gebet an die Jungfrau Maria (Kap. 35 Der baderin dancken), das mit großer Wahrscheinlichkeit nachträglich hinzugefügt wurde. Vgl. dazu Michels, »Einleitung«, XI.

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Körper und Seele ist nur vordergründig: Entscheidend ist auf jeden Fall der zeichenhafte Charakter der Badekur, d. h. die Tatsache, dass die Etappen der Behandlung des Körpers nur eine Bildebene abgeben, die auf seelische Vorgänge verweist.67 Auf den Holzschnitten werden eigentlich wohlbekannte Handlungen gezeigt, und der visuelle Charakter des Bildes ist dazu angetan, den Leser die jeweilige Situation nachvollziehen zu lassen, doch genügt die Tatsache, dass die Pflege von Christus vollzogen wird, um das Banale in eine andere Dimension umschlagen zu lassen. Der Text verdeutlicht jeweils die Sinnpotentialitäten des Bildes nach einem analogischen Prinzip, das kaum geändert wird: Die Heilung des Körpers ist Zeichen für Vorgänge, die zum Heil der Seele führen sollen; was im medizinischen Bereich Symptom der Krankheit ist, ist im geistlichen Bereich Zeichen für die Sünde. An manchen Stellen wird auf den zeichenhaften Charakter der dargestellten Realitäten nachdrücklich hingewiesen, und dem Leser werden hermeneutische Instrumente an die Hand gegeben. Ist von Wasser die Rede, so erklärt Murner: Doch ich nit all wasser mein, | Allein die von dem hertzen gond (BF 10, 2); die Kleider sind nicht diejenigen des Alltags, die auf keinen Fall abzulegen seien, sondern [d]ie kleidung meyn ich doch allein | Die laster bringen, vnd sunst kein (BF 31, 32 f.); zum Schröpfen werden Eisen verwendet, die fasten /  betten /  weinen […] mit wachen vnd mit lesen yeben heißen (BF 52, 36–38). Der Holzschnitt zum Titelblatt verweist auf den Bezug zwischen physischer Heilung und Heil der Seele: Ein Mann, der sich im Text als Murner selbst zu erkennen gibt, sitzt in einer Wanne. Wir erkennen darin eine Grundsituation des gewöhnlichen Badevorgangs. Hinter der Wanne ist ein Hahn zu sehen, aus dem Wasser zum Bad fließen sollte, was aber nicht geschieht68; stattdessen wird die Wanne mittels eines Gefäßes mit Wasser gespeist. Das Gefäß wird von einer Hand gehalten, die aus Wolken hervorragt, in der unschwer Gottes Hand zu erkennen ist.69 Entscheidend ist die übernatürliche Herkunft des Wassers, aber auch die Tatsache, dass seine Provenienz aus einem gezierten Gefäß seine Kostbarkeit unterstreicht, im Gegensatz zum banalen Wasser, das aus dem Hahn fließen könnte. Der Text präzisiert die Eigenschaft dieses Wassers, damit man wescht ins ewig leben, und das nun seit 1500 Jahren ununterbrochen fließt Wahrheit, Lüge, Fiktion, 197. Bild wird hier anders interpretiert als bei Loleit, Wahrheit, Lüge, Fiktion, 231. Die Autorin geht davon aus, dass Wasser vom Hahn fließt, was aber nicht ersichtlich ist. 69  Vgl. den Holzschnitt zu Kap. 37 von Brants Narrenschiff. 67  Loleit, 68  Das

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(BF 5, 78). Zu berücksichtigen ist auch das Kapitel 4, sowohl der Holzschnitt als auch der Text. Bei der Badekur wurde nicht Seife, sondern Lauge gebraucht. Der Holzschnitt zeigt Christus als Bader, der für seine ›Kunden‹ die notwendige Lauge vorbereitet: Er gießt Wasser in einen Laugensack,70 in dem sich Asche befindet. Aus einem Loch unten fließt die fertige Lauge in einen Kübel. Der Text bezieht die Lauge auf die im Heilsvorgang notwendige Buße und deutet die drei Elemente (Wasser, Sack und Asche) im Hinblick auf die Buße Davids nach seinem Ehebruch mit Bathseba, die er übrigens beim Baden erblickt hatte (2 Sam. 11,2). David stellte eine Lauge her, d. h., dass er sich in einen Sack kleidete und sich mit seinen eigenen Tränen wusch. Noch deutlicher ist das Bild, das Murner auf sich selbst bezieht: Die esch, die ich nun selber bin, | Solt ich mit sack vmfassen fin | Vnd wasser lassen durch mich rinnen | Mit weinen […]. (BF 20, 43–46) Die vergossenen Tränen werden zum Wasser, das durch die in einen Sack gehüllte Asche fließen und diese Asche verwandeln soll; die Asche ist der Mensch, der nach Gen. 18,27 Asche und Erde ist, dessen Sterblichkeit also in den Vordergrund gerückt wird. Aufschlussreich für die theologischen Auffassungen Murners ist sein oft wiederholter Zweifel an der Fähigkeit des Menschen, von sich aus den Geist der Buße zu erlangen. Aber der Mensch kann Gott anflehen, der dise loug wol machen kan und Buße erwecken kann, wie er es schon mit den Bewohnern der Stadt Ninive im Buch Jonas gemacht hat (BF 20, 54–56). Eine andere Stelle eignet sich sehr gut, um Murners Absichten zu beleuchten. Im Kapitel 29, wo die Vorzüge des natürlich Badens dargelegt werden, kommt er auf eine in der politischen Legende berühmte Badeszene zu sprechen. Es geht um den Bericht über die Krankheit Kaiser Konstantins, der an Lepra gelitten und versucht hätte, die Krankheit zu heilen, indem er im Blut unschuldiger Kinder gebadet hätte. Diese Legende steht im Zusammenhang mit der berühmten Konstantinischen Schenkung. Murner erzählt die Geschichte, ohne zu erwähnen, dass die vorgebliche Heilung nicht durch das Blutbad, sondern durch ein von Papst Sylvester erwirktes Wunder erfolgt sei. Er tut, als ob er das medizinische Mittel ernst nähme, was aber nur dazu dient, den Leser zur Einsicht in die eigene Lage zu führen. Dies wird durch die Aufforderung eingeleitet: Heilt menschlichs blůt die malacy  / So lůg, ob got ein artzet sy. (BF 122, 47 f.) Und tatsächlich, durch Adam sind die Menschen in den Zustand Konstantins versetzt worden: Er war ussetzig, und sie sind ußgesetzt, d. h., sie wurden aus dem Paradies vertrieben und auf dieser Erde ausgesetzt. Der 70  Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, Leipzig 1885, Sp. 340: »Laugensack, m. sack zum durchseihen der lauge.«

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Bezug wird hier durch das sprachliche Verfahren der Paronomasie geleistet. Und in beiden Fällen hilft das gleiche Mittel: Konstantin, der an einer physischen Krankheit litt, wurde (angeblich) durch menschliches Blut geheilt; die Menschen, die an ihrer Seele Schaden genommen haben, werden durch das Blut gerettet, das Christus für sie, dem Pelikan ähnlich,71 vergossen hat. Wie bei den Kirchenvätern wird die Menschwerdung Gottes unter dem Blickwinkel der medizinischen Handlung erfasst. Auch die Wirkung der Sakramente wird durch Metaphern erläutert, die im Zusammenhang mit der Badekur stehen. Die metaphorische Bezeichnung der Sünde als Schmutz und die wohlbekannte Bedeutung des Wassers als Mittel der Reinigung ergeben einen Komplex, der sich leicht auf die Taufe beziehen lässt. Vor allem Kapitel 26, das dem Jungbrunnen gewidmet ist, beschäftigt sich mit der Taufe. Sie wird als Reinigung von der Erbsünde dargestellt und somit als Mittel, Gottes Zorn zu besänftigen: Das wasser nimpt hin alln vnflat  /  Mit dem sich adam bschissen hat,  /  Vnd gibt darzů heimliche gnad. (BF 110 f., 65–67) Das Kapitel 30, das dem Ölbad gewidmet ist, nimmt das Motiv wieder auf und führt es weiter. Murner erinnert an die furchtbare Krankheit des Herodes, die durch Reibung mit Öl geheilt wurde. Und danach, seinem Prinzip treu, geht er von der physischen Krankheit zum geistlichen Gebrechen über, das durch Salbung im Namen des Heiligen Geistes geheilt werde: Dies geschehe in der Taufe und bei der letzten Ölung. Schließlich wird im Kapitel 33, das dem Schweißbad gewidmet ist, auf die Beichte eingegangen. Der Schweiß, von dem hier die Rede ist, besitzt aber nur bedingt reinigende Funktion: Es handelt sich vielmehr um den Schweiß der Angst, der den verhärteten Sündern aus der Stirn bricht, wenn sie nur an die Beichte denken. Der Gebrauch des Weihwassers wird nach dem Modell der Sakramente72 im Kapitel 31 über das teglich Bad betrachtet. Die Reinigung durch das Weihwasser wird vor allem denjenigen Menschen empfohlen, die sich nur lässliche Sünden vorzuwerfen haben. Zu diesem Gebrauch bemerkt der Autor: Und ist ein gůte badenfahrt,  /  Die fil holz und schiter spart […]. (BF 130, 59 f.) An dieser Stelle gibt Murner den metaphorischen Charakter der Kur, die er empfiehlt, unumwunden zu erkennen: Das Weihwasser läutert den Menschen, hat demzufolge die Wirkung eines Bads, ohne mit einem echten Bad etwas zu tun zu haben, da man sich sogar die Kosten für das Holz zum Heizen des Wassers sparen kann. Und

Bedeutung des Pelikans ist u. a. aus dem Physiologos bekannt. ist nach Definition der katholischen Kirche kein Sakrament, sondern ein »Quasi-Sakrament«, ein Sakramentale. 71  Diese

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Murner fügt (gleichsam als Bestätigung) hinzu: Vnd kumpt vns wol so wir sin arm. Im Mittelpunkt der Allegorie steht das Bild des Wassers, aber die Bedeutung dieses Bildes ist alles andere als eindeutig. Das Wasser der Taufe (Kap. 26) oder das Weihwasser (Kap. 31) können gemeint sein (Kap. 26), aber in den meisten Fällen bezeichnet das klare, reinigende Wasser eine andere Flüssigkeit, etwa die Tränen der Reue oder (vor allem) das Blut Christi, dem im Heilsprozess – entsprechend dem christlichen Dogma – eine zentrale Rolle zukommt, die Murner anhand der Farbsymbolik beschreibt. Über den guten Schächer schreibt er: […] So bald er sine sünd erkant, Erbotstu im das Paradiß Vnd wůscht in mit dem blůt so wiß Das er zů hand ward also rein e Als er ermordet hette kein. (BF 24, 43–47)

Das farblose Wasser wird zum roten Blut, welches den Schächer, nachdem er seine Sünden bekannt hat, wäscht und auf diese Weise weiß färbt. Die logische Unstimmigkeit des Vorgangs ist wohl nicht als Widerspruch zu verstehen, sondern als Hinweis auf das Geheimnisvolle der Erlösung. V. Die Allegorese der Badekur Murner beschränkt sich nicht darauf, Analogien zwischen einzelnen Phänomenen aufzuzeigen, sondern er macht auch einen Versuch, den gesamten Ablauf einer Badekur allegorisch und soteriologisch zu deuten. Damit wird nahegelegt, dass Gott, einem menschlichen Arzt ähnlich, der kranken Seele eine sorgfältig angelegte Kur angedeihen lässt. Die Analogie zwischen dem menschlichen Arzt und Gott geht auch einher mit der oft wiederholten Behauptung der Güte und Barmherzigkeit Gottes, wie dies schon in einem ähnlichen Zusammenhang bei den Kirchenvätern zu lesen ist. Gott will jeden retten, und es ist die Schuld des Menschen, wenn er trotzdem verdammt wird. Dies wird durch das Gleichnis des verlorenen Sohns und die grelle Ausmalung der Freude des Vaters bei der Rückkehr des Sohns erhellt (BF 27). Und auch Judas hätte die großmütige Vergebung seiner Sünden erreichen können, wenn er sie nur bekannt und nicht Selbstmord begangen hätte (BF 24). An vielen Stellen betont Murner die Nähe der Gnade, im Einklang mit einer Anschauung, die in der spätmittelalterliche Frömmigkeitsliteratur stark ausgeprägt ist: »Es ist eine Gnade

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in unmittelbarer Reichweite des heilsbedürftigen Menschen.«73 Simone Loleit hat recht, wenn sie erklärt, dass der geistliche Sinngehalt der Holzschnitte ohne den Text unklar bleibt;74 vielleicht ließe sich doch hinzufügen, dass die Wiederholung von Szenen, in denen gezeigt wird, wie emsig sich Christus um einen Menschen kümmert, reicht, um jedem verständlich zu machen, mit welcher selbstlosen Liebe Christus um das Wohl der Menschen besorgt ist. Der gesamte Badevorgang spiegelt den Weg zum Heil der Seele wider. Zunächst werden Grundvoraussetzungen genannt, die erfüllt werden müssen, um das heilende Wirken Gottes zu ermöglichen. Die Badeanstalt muss eröffnet werden, und die Badegäste müssen durch den Bader eingeladen werden: Der Holzschnitt zum Kapitel 1 zeigt Christus mit einer Posaune, was dem damaligen Brauch entsprechen mag, aber auch, durch die symbolische Bedeutung der Posaune, nahelegt, dass die Zeit des Gerichts naht. Danach muss die Badeanstalt in Betrieb genommen werden, d. h., Wasser muss geschöpft und gewärmt werden: Das Wasser ist eine Metapher für die bitteren Tränen der Reue, und das Heizen des Bades versinnbildlicht die Wärme der göttlichen Gnade, die nicht durch den Badegast, sondern durch den Bader, also Christus, bewirkt wird. Um behandelt zu werden, muss der Mensch sich als krank bzw. als Sünder erkennen (Kap. 5). Sich aus- und später wieder anziehen verweist auf die Abwendung von der Sünde, auf das Ablegen des alten Menschen und auf das strahlende Gewand, das die Erwählten im Paradies tragen werden (Eph. 4,22 f.).75 Dazwischen liegen Vorgänge, die im Bad der Reinigung des Körpers dienen und die hier die Läuterung der Seele beschreiben. Dass zum Beispiel dem Badegast der Kopf gewaschen wird (Kap. 13), deutet auf die Notwendigkeit hin, der Gottesebenbildlichkeit des Menschen zu gedenken: Gedechtnüs /  willen /  vnd verstandt, | Die dry stick im houpte hand | Glich bildung, als man das seit, | Für war mit der dryfaltigkeit | Jn dem sindt wir gotz bildung glich. (BF 55, 10–14) Murner bezieht sich hier implizit auf eine sehr bekannte Lehre des heiligen Augustinus, die einen Bezug zwischen der Dreifaltigkeit und den menschlichen Seelenkräften, vor allem Gedächtnis, Einsicht und Willen, postuliert.76 Augustinus wird hier nicht zitiert, aber eine Glosse verweist auf Petrus Lombardus, der die augustinische

Religiosität im späten Mittelalter, 514. Wahrheit, Lüge, Fiktion, 203. 75  Zu der differenzierten Bedeutung der Kleider vgl. ibid., 244. 76  Siehe dazu Michael Schmaus, Die psychologische Trinitätslehre des heiligen Augustinus, Münster 1967 (1. Aufl. 1927). 73  Hamm, 74  Loleit,

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Trinitätslehre in sein Sentenzenwerk aufnahm und auf diese Weise ihre Verbreitung in der Theologie des 12. und 13. Jahrhunderts sicherte.77 Eine sehr eigenartige Bedeutung hat in diesem Gefüge das Kap. 18 (Die füs riben): Der Bader, der auf dem Holzschnitt zu erblicken ist, ist hier nicht Christus, sondern eine hässliche Gestalt, die mühelos als der Teufel zu identifizieren ist. Auf dem Weg zum Heil werden die Menschen dem kitzel, der sinnlichen Versuchung, ausgesetzt. Dagegen erteilt Murner die Empfehlung: Halt stiff, vnd biß die zen zů sammen | Vnd denck an got vnd sinen nammen. (BF 75, 29 f.) Nach der Behandlung soll der Gast sich ausruhen, und der Schlaf, den er dann genießt, ist ein Bild des Todes und der darauffolgenden Auferstehung. Der Badegast kehrt anschließend in seine Heimat zurück, wobei daran erinnert wird, dass das Paradies die wahre Heimat des Christen ist. Die Erinnerung an den Tod ist ein stets anwesender Hintergrund in der Badenfahrt. Schon die ersten Zeilen der Vorrede sprechen ein memento mori aus: Der kluge Mensch soll in allen Augenblicken seines Lebens an seinen Tod denken sowie an die Tatsache, dass er vor Gottes Angesicht wird erscheinen müssen und sich also darauf vorzubereiten habe (BF 3). Daher die eindringliche Ermahnung, die dem ganzen Werk sein Gepräge gibt: Es gilt werlich das ewig leben: Darumb so lůg daruff gar eben! (BF 77, 65 f.)

Die Badestube als Ort ist in ihrer Bedeutung nicht eindeutig festgelegt. Simone Loleit erblickt, durchaus gerechtfertigt, im Bad eine geistliche Enklave in der Welt,78 aber mehrere Stellen legen nahe, dass die Badestube auch als ein Bild des irdischen Lebens verstanden werden kann. Dies wird durch den grundlegenden Gegensatz zwischen ›hier‹ und ›dort‹ verdeutlicht, der sich in Aussagen ausdrückt wie (BF 36, 40): Hie wescht man sich, dort badt man nit. Und es wird erklärt, worin die geistliche Bedeutung des irdischen Lebens liegt: Wie in einer Badestube ist der Mensch auf dieser Erde ein Gast; wie ein Kranker, der im Bad die Gesundheit sucht, ist er ein Reisender, ein Pilger zwischen seiner profanen Heimat und der wahren Heimat, die ihm verheißen wird.79 Murner konstruiert eine 77  Michael Schmaus, »Vorwort« zu: Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus fünfzehn Bücher über die Dreieinigkeit, übers. und hg. M. S., Kempten / München 1935, 60. 78  Loleit, Wahrheit, Lüge, Fiktion, 241. 79  Vgl. dazu Winfried Frey, »Die Pilgerreise des Christen und das Christenleben als Pilgerreise in das thor des vatterlandes öwiger säligkeit«, in: Vom Mittelalter zur Neuzeit. Festschrift für Horst Brunner, hg. Dorothea Klein zusammen mit Elisabeth Lienert und Johannes Rettelbach, Wiesbaden 2000, 431–445, hier 431: »Hier [im



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Schreibsituation, die der Reise einen wichtigen Platz einräumt: Er legt dar, er sei selbst infolge einer Erkältung, die er sich während einer Reise auf dem Rhein zugezogen habe, gezwungen gewesen, ein Heilbad zu besuchen. Die Frage, ob diese Angabe eine Begründung in Murners Autobiographie besitzt, ist für unser Anliegen belanglos, interessant ist dagegen der Hinweis auf die symbolische Wasserreise: Das Wasser (hier der Rhein) ist ein Bild der Welt und ihrer Gefahren. So gesehen ist das Bad, wie S. Loleit darlegt, auch ein Schutz vor den Gefahren der Welt.80 Im Gegensatz zu weit verbreiteten Vorstellungen, die schon besprochen worden sind, ist das Bad bei Murner kein Ort des Vergnügens. Ständig wird daran erinnert, wie sehr die Badekur mit schmerzhaften Prozessen verbunden ist: Da wird man gekratzt, geschröpft, geschoren und geleckt, d. h. mit einem Badequast gepeitscht,81 um die Temperatur des Körpers zu erhöhen. Die Deutung dieser Vorgänge verrät Murners asketische Einstellung und seine grundsätzliche Anerkennung des Leidens als unabdinglicher Komponente im Leben eines Christen und als unverzichtbarer Vorbereitung auf das Heil der Seele: Damit erfolgt eine Sinngebung des Leidens, die zu den Grundlagen der christlichen Seelsorge gehörte.82 Oft wiederholt Murner Aussagen wie (BF 48, 48–50): Wer sich hie nicht will kratzn lon, | Den wirt man dort mit zangen rissen | Vnd mit eberzenen bissen. Noch deutlicher formuliert (BF 84, 35–39): So wirt got dort kein bader knechdt | […] Der bader wirdt zum richter werden | Wirdt vrteil geben mit geferden. Der Zusammenhang zwischen den Leiden im Diesseits und der ewigen Freude im Jenseits wird durch den mehrfachen Gebrauch des Wortes reyben im Kap. 10 (Den lib riben) deutlich gemacht. Es geht um die nachsichtigen Priester, die ihre Beichtkinder nur »reiben«, d. h. ihnen die Absolution erteilen, ohne eine richtige, schmerzhafte Buße zu verlangen. Dazu bemerkt der Autor: Jch wolt mich lieber hie lon schinden Den dort nur by den rybern finden. (BF 44, 47 f.)

Kap. 24, J. S.] nimmt [Murner] jene anthropologische Grundkategorie, die in der Bibel immer wieder sprachlich variierte Vorstellung des ›Weges‹ auf und setzt sie direkt in seine Didaxe ein: der Mensch ist homo viator, das Leben des Menschen ist ein Weg zu Gott, mit allen Möglichkeiten der Verstrickung und des Fallens.« 80  Vgl. dazu Loleit, Wahrheit, Lüge, Fiktion, 224. 81  Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, Leipzig 1885, Sp. 481–482. 82  Vgl. z. B. Jean Delumeau, Le péché et la peur. La culpabilisation en Occident xiiie-xviiie siècles, Paris 1983, 498–516.

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Wie von Viktor Michels dargelegt, sind die ryber die Teufel,83 die den leidensscheuen Menschen schreckliche Qualen zufügen werden, im Vergleich zu denen das Schinden auf dieser Welt auf jeden Fall vorzuziehen wäre. Die Bedeutung des Bads steht im Zusammenhang mit der Person des Baders. Und diese Person ist nicht immer dieselbe. In den meisten Fällen handelt es sich um Christus, der die menschliche Seele von ihren Makeln befreit. Diese Bedeutung Christi wird in erster Linie durch seine Anwesenheit auf den Holzschnitten sinnfällig gemacht. Aber neben Christus sind mehrere Personen oder Wesen als Bader tätig: Magdalena (BF 118), der Schutzengel (BF 135) oder die Jungfrau Maria werden als Bader bezeichnet. Auch der Teufel kommt als Bader in Betracht. In einigen Fällen sind die Rollen des Baders und des Gebadeten austauschbar. Dies ist bei Magdalena der Fall. Sie ist als Baderin bzw. als mynnekliche badermagt tätig, insofern sie die Füße Christi mit ihren Tränen wusch (BF 118), aber sie wurde auch von got gebadet schon (BF 79, 17), indem sie von ihren Sünden befreit wurde. Auch bei Christus lässt sich diese Verdoppelung der Rollen feststellen: Im Grunde ist er der Bader, aber er wurde von den Tränen Magdalenas gebadet, was dem Autor ermöglicht, von seinem Wunsch zu sprechen, ein Bad zu besuchen [s]o christus selb ist d[r]in gewesen (BF 118, 63). Murner schreibt sich selbst in dem Werk eine ambivalente Rolle zu. In seinen Schriften gehört die Selbstinszenierung des Autors zu einer oft eingesetzten Schreibstrategie.84 In den Narrenschriften stellt er sich als Narr bzw. als Kanzler im Narrenorden vor. Im anti-lutherischen Pamphlet Von dem großen Lutherischen Narren setzt sich der Verfasser selbst als Murnarr, als närrische Katze, in Szene, und heiratet sogar Luthers Tochter, um sie sofort verstoßen zu können, da sie mit dem Grind behaftet ist.85 In der Badenfahrt spielt eine Gestalt, die Murners Züge trägt, eine wichtige und komplexe Rolle. Diese Gestalt, an der Mönchskutte erkennbar, tritt durchgehend als Christi Widerpart auf: Sie ist der Badegast, der sich den verschiedenen Vorgängen der Kur unterzieht. Murner erklärt ja, ein gesundheitliches Leiden habe ihn dazu gebracht, das Bad zu besuchen, und er habe, während der Behandlung, da er weder predigen noch unter83  Michels,

»Kommentar«, 205, mit Belegen zum Motiv des Höllenbads. Könneker, Wesen und Wandlung, 142 f. 85  Vgl. Jean Schillinger, »Narr und Narrheit in der konfessionellen Polemik: Thomas Murners Großer Lutherischer Narr«, in: ders. (Hg.), Der Narr in der deutschen Literatur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Bd. 96), Bern 2009, 83–102, hier 84–90. 84  Vgl.



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richten konnte, das Werk diktiert. Die ältere Forschung hat nach dem genauen Datum dieser Kur geforscht, aber solche Spekulationen sind müßig. Interessanter ist der Bezug zwischen den zwei Ebenen der Kur: Gott, sagt Murner, habe ihm die körperliche Gesundheit zurückgegeben, die Badenfahrt sei aus Dankbarkeit verfasst worden, und ihr Ziel liege darin, die Menschen dazu zu bringen, sich der geistlichen Badekur zu unterziehen. Neben Christus ist Murner der zweite Bader, oder, wie er selbst sagt, der knecht des Baders (BF 5, 86). Diese Vorstellung der Weiterführung des heilenden Werks Christi durch den Priester ist, wie gesagt, schon in der Patristik bezeugt. Murners Aktivitäten als Bader betreffen zwei Bereiche. Einerseits wird die Seelsorge als Bad dargestellt. Dies gilt besonders für die Beichte, die als Schweißbad bezeichnet wird. Murner lädt die Menschen in sein reinigendes Bad ein: So gbüt ich, alß ich billich sol, | Das ir im iar doch nur ein mol | Kommen her zů mir ins bad, | Das vch der wůst vnd kot nüt schad. (BF 139, 66–69) Darüber hinaus ist das Buch selbst ein Bild für das Bad. Metonymisch sind Titel und Inhalt des Buchs identisch. Dies ist schon bei Sebastian Brants Narrenschiff der Fall: Zu den Bedeutungen des Schiffs gehört auch das Buch.86 Murner kommt an mehreren Stellen seines Traktats, besonders am Anfang und am Ende, auf diese Bedeutung zu sprechen. In der Vorrede schreibt er, er habe während seiner eigenen Kur beschlossen, die Badenfahrt zu diktieren, und, um nicht dem Müßiggang zu verfallen, Zů fieren ietz der bader wesen. (BF 4, 34) Anschließend erklärt er, was er darunter versteht: Er habe gesehen, wie schmutzig die Menschen sind, und er behauptet: Darumb hab ich ein bad gerüst | Zů reinigen die sellben armmen, | Dan sie von hertzen mich erbarmen […]. (BF 4, 40–42) Nicht auszuschließen wäre eine bewußte Anknüpfung an die Vorrede von Brants Narrenschiff, wo der Dichter, nachdem er festgestellt hat, alle Gassen und Straßen seien voller Narren, behauptet: Des hab ich gdacht zů diser früst | Wie ich der narren schiff vff rüst […].87 Die metonymische Identität von Buch und Bad wird am Ende des Traktats, im Kapitel 34, Dem bader Dancken, bestätigt. Der Holzschnitt kündigt einen Inhalt an, der in der Nachfolge des im Buch beschriebenen geistlichen Badevorgangs steht. Murner, erkennbar an seinem Wappen mit der Devise »Patientia«, kniet vor Gott und dankt für die Läuterung seiner Seele. Aber der Inhalt des Kapitels überrascht. Murner erklärt wohl, dass er das Buch 86  Vgl. u. a. Ulrich Gaier, Satire. Studien zu Neidhart, Wittenwiler, Brant und zur satirischen Schreibart, Tübingen 1967, 240–242. 87  Sebastian Brant, Das Narrenschiff, hg. Manfred Lemmer, Tübingen 1986, Vorred, 3, v. 13 f.

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aus Dankbarkeit Gott, dem »Bader«, gegenüber verfasst habe, erwähnt dann aber auch seine eigenen Verdienste um das Publikum, legt also nahe, dass auch er Dankbarkeit verdient habe: Find ich vnder tusent einen, | Der sich im bad würdt also reinen | Vnd bessert sich vß mim gedicht, | So hoff ich das min arbeit nicht | Si von mir vmb sunst gemacht. (BF 142 f., 63–67) Auf dem Holzschnitt zum Kap. 35 erscheint Murner in einer Position, die es ihm sogar erlaubt, beide Rollen, als Badender und Bader, gleichzeitig wahrzunehmen. Er steht, fast nackt, in der heilenden Wanne und kommt seiner Tätigkeit als Seelsorger nach, indem er einem auf dem Sterbebett liegenden Mann das wilt Bad des letzten Sakraments spendet. Die Rolle, die sich Murner selbst als Bader bzw. als Knecht des Baders zuschreibt, gibt Aufschluss über einen Grundzug seiner Heilsauffassung: das Prinzip der imitatio Christi bzw. der imitatio Dei. Murner behauptet stets, dass Gottes Anteil am Heilsvorgang entscheidend sei: Ohne Gnade sei kein Heil möglich. Er beruft sich kennzeichnenderweise auf Augustin, der erkannt habe, Das vnser sach nicht gat von stat, | Wa got nit wer mit siner gnad | Vnd wörmet selb menschliches bad. (BF 15, 8–10) Dieser Sachverhalt wird an einer anderen Stelle auf eine Weise ausgedrückt, die auf Vorstellungen zurückgreift, die man später bei Luther wiederfinden wird: All wil der mensch selb fechten kan, | Warumb wolt im den got bi stan? (BF 92, 55 f.)88 Aber Murner ist von der Vorstellung der Rechtfertigung durch den Glauben allein weit entfernt; in seinen Augen gilt das Prinzip der Kooperation des Menschen am Heil der Seele, u. a. durch die Werke der Barmherzigkeit. Gott ergreift die Initiative, er wärmt das Bad, d. h., er zündet das Feuer der Liebe im Herzen des Menschen an, und Murner fasst den menschlichen Anteil am Erlösungsprozess folgendermaßen zusammen: So důnd im truwlich ein bistandt! (BF 17, 67) Das Prinzip der imitatio Christi wird mehrmals betont. Es gilt grundsätzlich für das gesamte Heilsgeschehen. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass Murner die Handlungsweise Gottes und des Menschen parallelisiert: Um die Menschen von der Sünde reinzuwaschen, ist Gott ein Bader geworden, er hat ein wunderliche fart unternommen, die ihn vom Himmel auf die Erde geführt hat (BF 4, 51); der Mensch wird aufgefordert, auch eine Fahrt zu unternehmen, und zwar die geistliche Badenfahrt, die ihn in den Genuss der Früchte von Gottes Heilstat bringen wird. Grundlegend für die Entscheidung Gottes ist die Traurigkeit über den Zustand der Menschen: Christus hat auf der Erde nie gelacht, sondern bitter geweint

88  Man denkt z. B. an den kriegerischen Wortschatz im Gedicht Eine feste Burg ist unser Gott.



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und hat uns mit seinen Tränen reingewaschen: Auf diese Weise hat er das zum Baden notwendige Wasser geschöpft. Darauf soll der Mensch mit e Tränen der Reue antworten: Lond vns doch selber scho pfen, weinen, | Mit eignen trehern weschen, reinen […] (BF 11, 33 f.) Murner geht sogar einen Schritt weiter, indem er seinen Lesern nahelegt, dass sie durch ihr eigenes Weinen Gott entlasten, indem sie ihn der Mühe entheben, selbst das ganze Badewasser zu schöpfen (BF 12). Und das Beispiel der Reue des hl. Petrus bezeugt, dass nur derjenige, der eifrig durch seine Tränen Wasser schöpft, der Hilfe Gottes sicher sein kann. Das Prinzip der Nachahmung ergibt sich auch aus Aspekten der Allegorese des Badevorgangs. Auf das Baden folgt eine Zeit des Ausruhens, die, wie bereits erwähnt, auf den Tod bezogen wird. Murner rückt das Wirken der Vorsehung ins Licht: Gott wird dafür sorgen, dass jeder Mensch am Ende der Zeiten als Dreiunddreißigjähriger mit intaktem Körper auferstehen wird. Und daran schließt sich eine praktische Forderung an den Menschen: Die Menschen sollen Gottes Wirken als Richtlinie nehmen und die Toten ehrfurchtsvoll begraben (BF 87). Die Erniedrigung Gottes bei der Fußwaschung soll den Menschen auch ein Beispiel der Demut sein (BF 39 f.). Durch die Menschwerdung hat Gott eine schwere Bürde auf sich genommen, und der Mensch soll diesem Verhalten nacheifern, wenn er seine Seele retten will: Darumb sind nit so treg und feig, Vnd stoßt die hend bas in den deig […]. (BF 45, 70 f.)

Fazit Murners Charakter als Lehrer, als Didaktiker ist allgemein festgestellt worden. Und dies bestätigt sich auch in einer Erbauungsschrift wie der Badenfahrt. Es wird ein zuweilen hohes theologisches Wissen mitgeteilt, auf eine Weise, die Anspruch darauf erhebt, gleichzeitig einfache Menschen anzusprechen und den Erwartungen der Gebildeten zu genügen. Es geht zum einen um die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch, um das richtige Verhalten des Christen auf dieser Welt, wobei der zentrale Wert der Buße stark betont wird, und um die Wege der Erlösung. Zum anderen wird ein Bild des irdischen Lebens vermittelt, das im Grunde genommen eine Pilgerschaft ist, die den Menschen nach dem Tod in seine ewige Heimat zurückführen wird. Dieses Wissen bleibt im Rahmen der Seelsorge am Anfang der Frühen Neuzeit. Eigenartiger sind die Mittel, die Murner benutzt, um die Rezeption seiner Botschaft zu sichern. Grundlegend ist die Allegorie, die die beschriebenen übernatürlichen Vorgänge an die Erfahrung des Lesers bindet und dem Weg zum Heil diesel-

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be Stimmigkeit verleiht wie den aufeinanderfolgenden Phasen einer Badekur. Und das pädagogische Geschick Murners äußert sich auch durch seine Fähigkeit, das Interesse für seine Darlegungen durch einen Überraschungseffekt zu sichern: Murner geht vom bekannten Motiv des Christus medicus aus, verleiht ihm aber eine neue Dimension, indem er den Heilsvorgang aus der in sozialer und moralischer Hinsicht negativ konnotierten Welt der Badestube hervorgehen lässt und den »unehrlichen« Bader zum Urheber der Erlösung des Menschen macht.

Ablass, Almosen, Andacht: Die Inszenierung der nahen Gnade im Zerbster Fronleichnamsspiel Von Glenn Ehrstine Am 30. April 1506 wurde die Stadt Zerbst von einem verheerenden Brand heimgesucht, der etwa ein Drittel des städtischen Baubestands zerstörte.1 Der Wiederaufbau bedeutete für die Zerbster einen enormen Kraftakt, der die eigenen Ressourcen um ein Vielfaches überstieg. Kurfürst Friedrich von Sachsen und sein Bruder Johannes stellten dem Stadtherrn Zerbsts, Fürst Magnus zu Anhalt, unentgeltlich Baumaterial zur Verfügung und ließen dieses zollfrei auf der Elbe transportieren.2 Noch zehn Jahre später war der Brandschaden nicht völlig behoben.3 Gerade in dieser Zeit materieller Engpässe und überbeanspruchter Kapazitäten leistete sich die Stadt eine möglichst aufwändige und feierliche Fronleichnamsprozession mit lebenden Bildern aus dem Alten und Neuen Testament. Auch wenn das resultierende Fronleichnamsspiel die Fortset-

1  Zum oft nicht explizit genannten Datum des Brandes vgl. Friedrich Sintenis, »Beschreibung einer im Jahre 1507 zu Zerbst aufgeführten Procession«, ZfdA 2 (1842), 276–297, hier 276. 2  Vgl. die entsprechenden Urkunden in Das Zerbster Prozessionsspiel 1507, hg. Willm Reupke (Quellen zur deutschen Volkskunde 4), Berlin / Leipzig 1930, 7 f. Sämtliche Zerbster Quellen, die Reupke in seiner Edition vorlegte, sind außerdem mit einigen Korrekturen abgedruckt bei Bernd Neumann, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet, 2 Bde. (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 84 / 85), München / Zürich 1987, 781–809, Nr. 3397–3566. Der von Reupke gewählte Titel Zerbster Prozessionsspiel ist zwar noch gebräuchlich, aber im Einklang mit den Bestrebungen der germanistischen Mediävistik in den 1980er Jahren, einheitliche Spielbezeichnungen einzuführen, wird hier für Spiel und Prozession der Titel Zerbster Fronleichnamsspiel bevorzugt. Vgl. Rolf Bergmann, Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters, München 1986, 14 f., 374–388 (Nr. 174–190). 3  Über das Ausmaß der Zerstörung vgl. Reinhold Specht, Geschichte der Stadt Zerbst, Zerbst 1998, 227.

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zung einer schon bestehenden Tradition war,4 mutet die kostspielige Inszenierung örtlicher Frömmigkeit in Anbetracht der herrschenden Notlage geradezu wie ein Wunder an. Bereits am 17. Mai 1506 bat der Zerbster Rat in einem offenen Brief um finanzielle Unterstützung für das Unternehmen,5 und kurz danach bestätigte Fürst Magnus die im Juni stattfindende Prozession zue irstatung euers sweren schadens.6 Im folgenden Jahr entstanden dann neue, besonders umfassende Spielquellen, was von dem Bemühen zeugt, die bisherige Spielpraxis in einer Art Bestandsaufnahme für kommende Generationen zu sichern und mit frischer Energie voranzutreiben. Die Handschrift O aus dem Jahr 1507 enthält von allen fünfzehn überlieferten Spielhandschriften den vollständigsten Text des Spiels, bestehend aus 398 vierhebigen Reimpaarversen, mit denen der spielleitende rector processionis die stummen, heilsgeschichtlichen tableaux vivants der Prozession von einem zentralen Gerüst an der Prozessionsroute für die Umstehenden erläuterte. Zusammengebunden mit dieser Handschrift ist das sogenannte Große Regiebuch, das Aufschluss gibt über die Trägerschaft und Ausstattung der als figuren bezeichneten lebenden Bilder, die den Kern der Prozession bildeten. Diese zwei Quellen, ergänzt durch eine lateinische, ebenfalls nach 1506 entstandene Beschreibung des feierlichen Eröffnungsgottesdiensts in der Zerbster Bartholomäikirche mit anschließenden Angaben zur Prozessionsordnung, bilden die Grundlage der Spiel­ edition von Willm Reupke aus dem Jahre 1930.7 Trotz einiger Mängel8 blieb Reupkes Ausgabe lange Zeit die alleinige Grundlage für eine Beschäftigung mit dem Zerbster Spielbetrieb: Nachdem im April 1945 ein Bombenangriff 80 % der örtlichen Archivbestände zerstörte, galten die Quellen des Fronleichnamsspiels als Kriegsverlust. Die lateinische Prozessionsordnung und zwei kleinere Regiebücher sind nach wie vor verschol4  Die erste gesicherte Erwähnung der Zerbster Fronleichnamsprozession fällt in das Jahr 1504. Im Jahr 1490 fand die Stiftung eines processorium der Epistellen am Zerbster Bartholomäistift statt, das evtl. im Zusammenhang mit dem Fronleichnamsspiel stehen könnte. Vgl. Hannes Lemke, »Neue Quellen zum Zerbster Prozessionsspiel«, in: Enno Bünz, Hartmut Kühne (Hgg.), Tagungsband: Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde), Leipzig 2015 [im Druck]. 5  Neumann, Geistliches Schauspiel, 782  f., Nr. 3399; Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 7, Anm. 1. 6  Neumann, Geistliches Schauspiel, 783, Nr.  3400; Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 7, Anm. 2. 7  Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke. 8  Reinhold Specht, »Rezension von Das Zerbster Prozessionsspiel 1507, hg. Reupke«, Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historischen Kommission für die Provinz Sachsen und Anhalt 7 (1931), 553 f.



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len, aber inzwischen sind wir durch die Wiederentdeckung sämtlicher Spieltextbücher im Jahr 2012 durch Hannes Lemke in der glücklichen Lage, den Originalquellen wieder auf den Grund zu gehen.9 Diese Textbücher werden außerdem durch einige neue Aufführungsbelege ergänzt, die Lemke 2015 hat vorlegen können.10 Ältere Versuche, die Funktion dieses Massenereignisses für die Zerbster Gemeinschaft zu deuten, betrachten das Spiel vor allem als Bitt- bzw. Bußprozession,11 die Gottes Hilfe gegen existenzbedrohende Nöte wie Pest, Krieg oder Unwetter erflehen sollte. Solche Umgänge sind für Zerbst gut belegt, wie etwa die Bittprozession vom 26. Mai 1483, in der alle Geistlichen und Bürger der Stadt, angeführt von bußfertigen Kreuzträgern aus dem Vorort Ankuhn und umliegenden Dörfern, eine anhaltende Dürre abwenden wollten.12 Für eine Analyse der Fronleichnamsprozession als Ortes von soziopolitischen Verhandlungen zwischen verschiedenen Vertretern der städtischen Ordnung, wie man sie vor allem aus der Forschung Miri Rubins kennt,13 scheinen die Zerbster Quellen allerdings nicht so ergiebig zu sein: Sie melden nämlich keinerlei Streitigkeiten über die Rangfolge bei der Prozessionsordnung, wie wir sie z. B. aus Colmar kennen, wo Bäckersknechte 1494 die Teilnahme an der örtlichen Fronleichnamsprozession verweigerten, nachdem aufstrebende Zünfte den Bäckern ihren traditionellen Platz vor und hinter dem Sakrament streitig gemacht 9  Hannes Lemke, »Die Ankuhner als Apostel, der Stadtrat als Herodes. Die ­ erbster Ratschronik und das Prozessionsspiel als Baustein zu einer Zerbster LiteraZ turgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit«, Zerbster Heimatkalender – Zerbster Schriften 53 (2012), 122–130; ders., »Regiebuch und Rollentexte des Zerbster Prozessionsspiels«, in: Hartmut Kühne, Enno Bünz, Thomas T. Müller (Hgg.), Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Katalog zur Ausstellung »Umsonst ist der Tod«, Petersberg 2013, 270–272. Herrn Lemke gebührt mein herzlichster Dank für seine freundliche Betreuung im Zerbster Stadtarchiv, wo ich im Juli 2014 die aus der Ausstellung »Umsonst ist der Tod« zurückgekehrte Handschrift O, das Große Regiebuch und sonstige Spielbelege einsehen konnte. 10  Lemke, »Neue Quellen«. 11  Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 2; Specht, Geschichte der Stadt Zerbst, 154. 12  Hermann Wäschke (Hg.), Annales Anhaltini, Dessau 1911, 5 f. Vgl. auch Carina Brumme, Das spätmittelalterliche Wallfahrtswesen im Erzstift Magdeburg, im Fürstentum Anhalt und im sächsischen Kurkreis. Entwicklung, Strukturen und Erscheinungsformen frommer Mobilität in Mitteldeutschland vom 13. bis zum 16. Jahrhundert (Europäische Wallfahrtsstudien 6), Frankfurt a. M. 2010, 190 f.; Specht, Geschichte der Stadt Zerbst, 154. 13  Miri Rubin, Corpus Christi: The Eucharist in Late Medieval Culture, Cambridge 1991, 265–271.

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hatten.14 Aus dem Großen Regiebuch geht deutlich hervor, dass Zerbster aller Stände an der Durchführung der Prozession beteiligt waren: Neben den Zünften der Stadt übernahmen auch die Vorsteher kirchlicher Institutionen sowie Bruderschaften die Trägerschaft einzelner figurae, ja der Stadtrat selbst hat die lebenden Bilder zur Vorführung Jesu vor Kaiphas und Herodes dargestellt.15 Als Verhandlungsgegenstand erscheint die Prozession allenfalls zwischen dem Stadtrat und Fürst Ernst von Anhalt, dem Nachfolger Magnus, der am 23. Mai 1514 aus einem nicht näher genannten Anlass zwei Ratsvertreter auf das Schloss Bernburg zu einer Besprechung über die Prozession bestellt.16 Dies belegt offenbar ein Mitspracherecht des Fürsten in Sachen der Prozession,17 aber das vertrauliche Gesprächsbedürfnis kann durchaus auch wohlwollend gewesen sein. Wir wissen schließlich, dass Fürst Magnus schon vor dem Stadtbrand die Zerbster Prozessionskultur nach Kräften förderte: Die Bittprozession von 1483 fand auf Geheiß von Magnus, dem Bischof von Brandenburg und dem Dekan des Bartholomäistifts, Petrus Kleinschmidt, statt, und 1505 wies Magnus das Stift an, einen Fastentag sowie eine Prozession zur Abwendung der neu ausgebrochenen Pest abzuhalten.18 Gerade die Prozessionsroute, die die Bartholomäikirche im fürstlichen Jurisdiktionsbereich mit der städtischen Pfarrkirche St. Nikolai verband, zeugt von dem Bemühen, die Repräsentationsansprüche von Stadt und Fürst gleichermaßen zu berücksichtigen. Nach dem Stadtbrand von 1506 wird also Andrea Löthers Charakterisierung von spätmittelalterlichen Bittprozessionen in Erfurt ebenfalls für die Zerbster Umstände gegolten haben: »Mit der Präsentation von Eintracht und Ordnung versicherte sich eine spätmittelalterliche Stadt […] angesichts einer Krise ihrer Identität und stellte gleichzeitig die Grundlagen städtischer Legitimation in einen religiösen Begründungszusammenhang«.19 Dennoch greift die Deutung als Bittprozession viel zu kurz, um die alljährlichen Besucherströme zu erklären, die bis zur letzten bezeugten 14  Andrea Löther, Prozessionen in spätmittelalterlichen Städten. Politische Partizipation, obrigkeitliche Inszenierung, städtische Einheit (Norm und Struktur: Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 12), Köln / Weimar / Wien 1999, 144–147. 15  Lemke, »Die Ankuhner als Apostel«, 126–130. 16  Lemke, »Neue Quellen«. 17  Ibid. 18  Specht, Geschichte der Stadt Zerbst, 154, 216; Vgl. auch Michael Thomas, »Magnus von Anhalt, Fürst und Magdeburger Dompropst (1455–1524)«, in: Werner Freitag (Hg.), Mitteldeutsche Lebensbilder. Menschen im späten Mittelalter, Köln /  Weimar / Wien 2002, 89–111, hier 98. 19  Löther, Prozessionen, 281.



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Fronleichnamsprozession im Jahre 1522 anhielten und bedeutende Geldsummen für die Stadt abwarfen. Wie das bei Reupke abgedruckte »Register der Einnahmen und Ausgaben« für insgesamt sechs Spieljahre eindrucksvoll belegt,20 hat die Prozession stets mehr eingenommen, als man für Kostüme, Requisiten und sonstige Spielvorbereitungen benötigte. Man muss nicht lange in den Quellen suchen, um eine einleuchtende Erklärung für diese Spendierfreudigkeit unter Zuschauern zu finden. Nach spätmittelalterlichem Verständnis konnte man nämlich das eigene Seelenheil durch Almosen bzw. »milde Gaben« für religiöse Zwecke absichern, und schon 1504 vergab der Magdeburger Weihbischof, Matthias Kanuti, einen Ablass für »Teilnehmer der Prozession von der Bartholomäi- zur Nikolaikirche und zurück«.21 Wie aus dem gleich näher zu besprechenden Brief des Zerbster Stadtrats vom 17. Mai 1506 hervorgeht, hatten mindestens drei andere kirchliche Würdenträger schon vor dem Brand ebenfalls einen Ablass für das Fronleichnamsspiel bewilligt: neben den Bischöfen von Brandenburg und Merseburg auch der Kardinallegat Raimund Peraudi, der Zerbst vom 19. auf den 20. Januar 1503 während seiner letzten Ablasskampagne in Deutschland einen Besuch abstattete.22 Der offenbar große Publikumsandrang macht deutlich, dass sowohl Zuschauer als auch Spielorganisatoren das Zerbster Fronleichnamsspiel als Ablassmedium verstanden, dessen andächtige Betrachtung einen Sündennachlass erwirken konnte. Auch wenn die Gewährung eines Ablasses für andere örtliche Spieltraditionen im deutschen Sprachraum belegt ist,23 erlaubt die Zerbster Quellenlage einen unvergleichlichen Blick darauf, wie neben Andachtsbildern und Heiltumsweisungen auch die geistlichen Spiele des Mittelalters als »mediale Inszenierungen der nahen Gnade« Gottes

20  Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 10–16; Neumann, Geistliches Schauspiel, 789–799, Nr. 3404–3562. 21  Gottfried Wentz, »Das Kollegiatsstift St. Bartholomäi in Zerbst«, in: Fritz Bünger, Gottfried Wentz (Hgg.), Das Bistum Brandenburg (Germania Sacra 3, Teil 2), Berlin 1941, 18–74, hier 29; Heinrich Becker, »Reformationsgeschichte der Stadt Zerbst«, Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Geschichte und Altertumskunde 11 (1910), 241–460, hier 440, Anm. 55; Lemke, »Neue Quellen«. 22  Hartmut Kühne, »Raimund Peraudis Reise durch Mitteldeutschland«, in: Norbert Moczarski, Katharina Witter (Hgg.), Thüringische und Rheinische Forschungen. Bonn – Koblenz – Weimar – Meiningen. Festschrift für Johannes Mötsch zum 65. Geburtstag, Leipzig / Hildburghausen 2014, 109–124, hier 121. 23  Nach der Belegsammlung von Bernd Neumann erhielt man Ablass für den Spiel- bzw. Prozessionsbesuch in Aschersleben, Augsburg, Calw, Hameln, Helmstedt, Kamenz, Luzern, Mainz, Straßburg, Wien und natürlich auch Zerbst: Vgl. Neumann, Geistliches Schauspiel, Nr. 32, 34, 35 / 3 [Anm.], 1055, 1944, 1946, 1969, 2106, 2258, 2660, 3024, 3399.

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fungieren konnten.24 Die Aussicht auf Sündennachlass, den der spielverwandte Ablass in Zerbst versprach, war selbstverständlich ein äußerst effektives Werbemittel, das möglichst viele Zuschauer aus dem Umland in die Stadt lockte. Da der Zerbster Ablass außerdem für alle »milden Handreicher« galt, konnten die Spielorganisatoren mit beträchtlichen Einnahmen rechnen, die eine besonders eindrucksvolle Ausstattung der betreffenden lebenden Bilder erlaubten. Die eigentliche Inszenierung der nahen Gnade bestand letztlich in der ›Weisung‹ dieser kostspieligen Figuren im Fronleichnamsspiel – einer ostensio figuralis,25 wie es in der Beschreibung des prozessionseröffnenden Gottesdienstes heißt – deren ablassverheißende Gegenwart einen Rezeptionsrahmen schuf, der die Zuschauer ermutigte, als Zeichen der für den Sündennachlass erforderlichen Reumütigkeit eine öffentliche Andacht zu verrichten, sei es durch Gebet oder die Zurschaustellung emotioneller Ergriffenheit.

I. Der Ablass als Werbemittel Der erste gesicherte Beleg für das Zerbster Fronleichnamsspiel ist gleichzeitig der erste Beleg für den Besuch auswärtiger Gäste beim Spiel. Am 4. Mai 1504 schreibt Fürst Magnus an den Zerbster Rat: Mergkliche furstenn werden zue der kunftigenn processien zue Cerwst komen. Wollet vleisig ordenen dy figuren, auch dy rymen und personenn, dy dor zue gebraucht, anhalten, in andacht zue gehennde.26 Ob der Ablass, der für 1504 bezeugt ist, diese adeligen Gäste zum Spielbesuch angeregt hat, geht aus diesem Schreiben nicht hervor; eventuell sind sie lediglich einer persönlichen Einladung durch Fürst Magnus gefolgt. Dennoch zeugt der Brief vom überregionalen Prestige des Zerbster Fronleichnamsspiels, das auch fürstliche Besucher anlocken konnte, und auch die noch Reupke zugängliche lateinische Prozessionsordnung sieht als Teil der liturgischen Handlungen die Beweihräucherung von principes vor, wenn diese zugegen 24  Berndt Hamm, »Die Medialität der nahen Gnade im späten Mittelalter«, in: Carla Dauven-van Knippenberg, Cornelia Herberichs, Christian Kiening (Hgg.), Medialität des Heils im späten Mittelalter (Medienwandel – Medienwechsel – Me­ dienwissen 42), Zürich 2009, 21–59, hier 42. 25  Cernitur in processione figuralis ostensio. Neumann, Geistliches Schauspiel, 804, Nr. 3566; Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 18. 26  Neumann, Geistliches Schauspiel, 781, Nr. 3397; Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 6. Vgl. auch Ernst Schubert, »Das Schauspiel in der spätmittelalterlichen Stadt«, in: Bernhard Kirchgässner, Hans-Peter Becher (Hgg.), Stadt und Theater (Stadt in der Geschichte 25), Sigmaringen 1999, 19–70, hier 66.



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waren.27 Das Schreiben belegt außerdem, dass eine möglichst andächtige Aufführung mit ›geordneten Figuren‹ im Interesse von auswärtigen Gästen stattfinden sollte. Dass aber der Zerbster Stadtrat ausdrücklich mit dem Ablass für den Besuch des Fronleichnamsspiels warb, zeigt der offene Brief an alle wohltätig gesinnten Christen, den der Rat kaum drei Wochen nach dem Stadtbrand von 1506 durch Boten in der Region verbreiten ließ. Dass der Wert dieses Dokuments als einmaliger Beleg für eine ablassbezogene Spielwerbung im Mittelalter bis jetzt nicht gebührend erkannt wurde, liegt z. T. daran, dass Reupke es in seiner Ausgabe irrtümlich als Bittbrief an Ernst II. von Sachsen, Erzbischof von Magdeburg, identifizierte.28 Schon 1842 hatte der Zerbster Stadtarchivar Friedrich Sintenis darauf hingewiesen, dass die Urkunde darüber Auskunft gibt, wie »beglaubigte abgeordnete des stadtraths beiträge zur bestreitung der processionskosten nach dem großen brande sammelten«.29 Auf Grund seiner Bedeutung für den Zerbster Spielbetrieb, ja für das spätmittelalterliche Geistliche Spiel überhaupt, sei hier der Brief in seinem vollen Wortlaut zitiert: Vor allenn Cristgloubigenn frommenn szeligenn leuthenn, was wirdenn, standis addir weszenn die sein unnd mith diesszem unnzern offin brieffe in demuth zue der ehre gotts irsucht werdin, bekennen wir, burgermeyster und rathmanne, richter unnd scheppenn der stadt Zcerwisch: Szo alsdann manichenn fromen menschin bwusth, das hier zue der erbietunge des allmechtigenn gotts, unnszers szelichmechirs, eynn erlich processien, bedeutunge der bittern ghenge, die Christus, unnszir heill, umme erloszunge aller menschlicher geslecht zue seynen hymmelischenn vaters durch denn smelichin todt ghanghen ist, der gleich gottis auszerwelten heillige phyn unnd martir zcue bedenckenn, alhier vorordenth unnd auff gericht isth jerlichenn in dem achten tage des heiligenn leichnams mith kosperlichenn30 27  Si sunt astantes principes, primum thurificabit eos quemlibet tribus vicibus licet. Der Text gibt etwas später zu erkennen, dass auch ein princeps spiritualis, also ein Kirchenfürst, vermutlich einer der Bischöfe aus der Region, mal zugegen sein konnte. Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 20. 28  »In der Urkunde vom 17. Mai 1506 bitten Bürgermeister und Rat der Stadt den Fürsten Ernst Erzbischof zu Magdeburg um Unterstützung der Prozession durch Almosen«. Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 7, Anm. 1. Reupkes Missidentifizierung lebt weiter, mit Erzbischof Ernst als Verfasser des Briefs, in Kühne, »Raimund Peraudis Reise«, 121. Kühne kann hier allerdings nachweisen, dass Peraudi selbst beim Spiel nicht anwesend war, wie anderweitig angenommen: vgl. Schubert, »Schauspiel«, 66. 29  Sintenis, »Beschreibung«, 276. Vgl. auch Becker, »Reformationsgeschichte«, 440, Anm. 55. 30  Zu kosperlich als verstärkendem Ausdruck für ›kostbar‹ vgl. Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1873, Bd. 11, Sp. 1860.

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ffiguren des Aldenn unnd Nauen Testaments, welche gheringe erebiethunge der erwirdigste in goth vater unnd herr, herr Raymundus, bebstlicher legat unnd cardinall, in kortzin jaren alhier irschenenn, dergleichenn der hoechwirdigste, in goth vatir irleuchtenn hochgeboren ffurst unnd herr, herr Ernsth, ertzbischoff zue Magdeburg, primat in Germanien, administrator der kirchin zcue Halberstadt, hertzogk zue Sachsszenn, langthgraffe in Doringhenn unnd margkgraff zue Meysszen, unnszer gnedigster, lieber herr, ingleichenn unnszir gnediger herre von Brandinborch unnd Merszeborgk, alles bewagenn unnd sulche processien und erbietunge angesehenn, den schattzs der kristlichen kirchin angegriffin und zeli[g]en ablas darzue gegebin und allen mylden hanthreichern dys zue irhalden, sodhann schatzs nach vormeldunge der brieff mithgeteilt; wie wol Rustunge und kostunge etwas gestandin [d. h.: ›teuer zu stehen gekommen ist‹; ›einiges gekostet hat‹],31 isth doch leyder brandis und feurs noeth vorszeriget und beschediget. Wurden wir bewogenn, euer mylde hanth betlichen zue irsuchin. Deshalbin [wir]32 diessze keginwertige unszer huszbesesszin gloubwirdige bothen ahn euer alle gunsth und liebe geschickt, wolle die ere unnszers zelichmechers betrachtin, euer zelen heil bedenckenn, denselbigen unnszern bothen die mylden almuszenn zue sulcher ehre obir die irgangenn schodin bey euch zcue bitten vorgonnen unnd [auff ernhanten]33 tagk hier irscheinenn, die belonunge vonn gote, der aller woltethe eyn beloner isth, zunehmen; wollen wir ouch umbe eynen yderen bszundern willich und gernhe vordienenn. Diesszes zu warhafftiger urkunde habin wir unnszir stadt secreth undenn ahn ghehanghenn, der gegebenn ist nach Cristi, unnszers herrn geborth thausentfunffhundert und im sechssten jare sonthages Vocem Jocunditatis.34

Dieses direkte Schreiben an potentielle Zuschauer gibt Aufschluss darüber, welche Aspekte des Fronleichnamsspiels der Rat besonders erwähnenswert fand, um ein möglichst großes Interesse an der kommenden Aufführung zu wecken. Zunächst wird der Inhalt des Spiels umrissen: Die Prozession, die alljährlich zu Gottes Ehren in Zerbst aufgeführt wird, zeige die durch den Tod Christi erwirkte Erlösung des Menschgeschlechts sowie das Martyrium von Gottes auserwählten Heiligen. Danach kommt die Hervorhebung der kosperlichenn ffiguren, also der lebenden Bilder aus 31  Zur Übersetzung dieser Stelle, vgl. den Eintrag zu kostung im Deutschen Wörterbuch, wo dieser Nebensatz als Beleg dient: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1873, Bd. 11, Sp. 1881. 32  Von Neumann eingefügt: Neumann, Geistliches Schauspiel, 782. 33  Die Phrase auf ernhanten fehlt in der Transkription dieses Briefes bei Reupke wie auch bei Neumann, dem nur Reupkes Edition zur Verfügung stand. Vgl. Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 7, Anm. 1; Neumann, Geistliches Schauspiel, 782. Den vollständigen Wortlaut findet man bei Sintenis, »Beschreibung«, 278. Ich habe die Richtigkeit von Sintenis’ Transkription anhand des Originals überprüft: Stadt­ archiv Zerbst, Historisches Archiv, Abt. IA, Nr. 333. 34  Zitiert nach Neumann, Geistliches Schauspiel, 782–783, Nr. 3399. Vgl. auch Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 7, Anm. 1.



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dem Alten und Neuen Testament, die auf Grund ihrer kostspieligen Aufmachung die Attraktivität bzw. den heilsbringenden Nutzen des Spiels steigern sollen. In Anerkennung der Ehrerbietung gegenüber Gott, die in der Prozession zum Vorschein kommt, haben insgesamt vier Kirchenfürsten aus dem Gnadenschatz der Kirche geschöpft und Ablass für »alle milden Handreicher« bewilligt, d. h. für alle, die durch wohltätige Gaben oder Taten das Prozessionsspiel unterstützen. Zwar sind im Zerbster Stadtarchiv keine solchen Ablassbriefe erhalten,35 doch wir wissen aus dem Wirken Peraudis andernorts, dass er neben dem Vertrieb päpstlicher Indulgentien eigene Ablässe ausstellte, um die Frömmigkeit in den von ihm besuchten Städten zu fördern, u. a. auch für den Besuch örtlicher Prozessionen.36 Da ein Spielablass aus Magdeburg für 1504 bezeugt ist, besteht außerdem kein Grund, an dem Vorhandensein eines Ablasses aus der Magdeburger Erzdiözese zu zweifeln. Trotz aller Anpreisung der kostbaren figurae des Fronleichnamsspiels macht der Brief klar, dass der mit dem Spiel verbundene Ablass die Hauptattraktion des Ereignisses ausmacht. Die Nachrichten über die Gewährung des Ablasses für Spielförderer sowie die Empfehlungen des Stadtrats, den Ablass durch mildtätige Almosen zu erwerben, nehmen etwa Zweidrittel des Schreibens ein. Die Einsammlung von Spielgeldern durch die Boten des Rats hat hier regelrechten Transaktionscharakter: Zeigt man sich bereit, zur Förderung der Ehre Christi sowie des eigenen Seelenheils an Ort und Stelle eine Geldspende zu leisten, wird man zum passenden Zeitpunkt die von Gott verheißene Belohnung bekommen. Durch die mangelhafte Transkription Reupkes, bei der die Forderung zur Erscheinung am Spieltag (auff ernhanten tagk hier irscheinenn) entstellt worden ist, ist allerdings ein wichtiger Aspekt dieser Ablasstransaktion bis jetzt verloren gegangen: Für die Wirksamkeit des Spielablasses reicht es nicht, nur Geld zu spenden; man muss als Zuschauer der Prozession auch beiwohnen, um in den Genuss des versprochenen Sündennachlasses zu kommen. Mit anderen Worten: Der Ablass hing letztendlich vom Akt des Sehens ab; von daher waren alle Aspekte des Spiels, die die Zuschauer zum andächtigen Schauen anregten, auch dem Ablass förderlich. Der Brief wirbt außerdem implizit mit der Menge des Sündenerlasses, die durch die unterschiedlichen Ablässe Peraudis und der drei Bischöfe erwirkt werden konnte. Der Stadtrat konnte davon ausgehen, dass die Empfänger des 35  Freundliche

Mitteilung von Hannes Lemke, 16. Juli 2014. Vogtherr, »Kardinal Raimund Peraudi als Ablaßprediger in Braunschweig (1488 und 1503)«, Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte 77 (1996), 151–180, hier 166. Vgl. auch Kühne, »Peraudis Reise«, 121. 36  Thomas

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Briefs mit der Mathematik des damaligen Ablasswesens vertraut waren. Bischöfe, so sah es das spätmittelalterliche Kirchenrecht vor, waren befugt, Ablässe in Höhe von 40 Tagen auszustellen. Ein Kardinal, wie es Peraudi war, durfte über 100 Tage bei seinen Ablässen verfügen. Nur der Papst konnte vollständigen Ablass, eine sogenannte Plenarindulgenz, erteilen, was die Attraktivität der durch Peraudi betriebenen päpstlichen Jubiläums- und Kreuzzugsablässe deutlich steigerte. Allerdings fühlte sich Peraudi durch seine besonderen Befugnisse als päpstlicher Ablasskommissar offenbar berechtigt, bei bestimmten Ablässen die Summe von 100 Tagen gelegentlich zu überschreiten.37 Wenn wir den Zerbster Stadtrat beim Wort nehmen können, dass insgesamt vier Ablässe für den Besuch des Fronleichnamsspiels vorhanden waren – ein Kardinalsablass sowie drei Bischofsablässe – dann kommen wir auf einen Gesamtablass von mindestens 220 Tagen (100 + 40 + 40 + 40), vielleicht noch mehr, wenn sich Peraudi bei seinem kurzen Besuch in Zerbst besonders freigebig gezeigt hatte. Diese Summe wirkt zwar wie ein Klacks gegenüber den päpstlichen Plenarindulgenzen, deren Verkündigung in Zerbst durch Peraudis Subkommissar für Sachsen, Günter von Bünau, für die Jahre 1489 und 1502 bezeugt ist.38 Da man aber im Grunde nie sicher sein konnte, wie viele Sünden man schon angehäuft hatte bzw. ob schon erworbene Ablässe unwirksam geblieben waren, weil man die Voraussetzung echter Reue über die begangenen Sünden nicht erfüllt habe, war man besser beraten, lieber zu viele als zu wenige Ablässe zu erwerben.39 Zwar besitzen wir nur diesen einen Beleg aus dem Jahre 1506, dass der Zerbster Stadtrat den mit der alljährlichen Fronleichnamsprozession verbundenen Ablass öffentlich ›verkündet‹ hat. Dennoch lässt die Formulierung szo alsdann manichenn fromen menschin bwusth gleich nach der Begrüßungsformel des Briefes den Schluss zu, dass der Zerbster Spiel­ ablass, so wie das Fronleichnamsspiel selbst, im Fürstentum Anhalt und Umgebung allgemein bekannt war. Darüber hinaus ist es möglich, dass man vor der Fronleichnamsoktav in und um Zerbst den nahenden Ablasstermin von der Kanzel herab ankündigte, so wie es bei anderen Ablässen der Zeit üblich war.40 Wir dürfen also davon ausgehen, dass der durch den Besuch des Fronleichnamsspiels zu erlangende Ablass auch in den Jahren 37  Vogtherr,

»Peraudi als Ablaßprediger«, 166. (Hg.), Annales Anhaltini, 12; Brumme, Wallfahrtswesen, 191–192; Specht, Geschichte der Stadt Zerbst, 178. 39  Hartmut Boockmann, »Über Ablaß-›Medien‹ «, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 34 (1983), 709–721, hier 710. 40  Enno Bünz, Hartmut Kühne, »Alltägliche Ablässe und Ablassmedien«, in: Kühne, Bünz, Müller (Hgg.), Alltag und Frömmigkeit, 347–348, hier 348. 38  Wäschke



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nach 1506 als Werbemittel fungierte, um möglichst viele Zuschauer nach Zerbst zu locken. II. Der Ablass als Einnahmequelle Dass die Stadt Zerbst nach dem Stadtbrand vom April 1506 dringend Geld brauchte, steht außer Frage. Der offene Brief des Stadtrats belegt u. a., dass auch die Spielausrüstung durch Feuer Schaden genommen hatte. Die milden Gaben, die die Boten der Stadt 1506 nach Vorlage des Briefs eingetrieben haben, werden in erster Linie der Wiederanschaffung bzw. Reparatur von Kostümen und Requisiten gedient haben. Dennoch deuten alle Indizien darauf hin, dass die Zerbster Obrigkeit von Anfang an die Neuinvestierung in das Fronleichnamsspiel als ertragreiche Finanzierungsquelle für den langfristigen Wiederaufbau der Stadt betrachtete. Am 20. Mai 1506, drei Tage nachdem der Rat seine Boten zur Eintreibung von Spielalmosen hinausgeschickt hatte, spricht Fürst Magnus in seiner Bestätigung der Prozession von der ›Schadenserstattung‹, die er sich durch die Prozession für die Stadt erhoffte.41 Wie schon oben bemerkt, stammen fast alle bedeutenden Spielquellen aus der Zeit um 1507, d. h., in den Monaten nach dem Brand machte man sich daran, eine neue Grundlage für künftige Prozessionen zu legen. Nach spätmittelalterlichem Verständnis wäre außerdem die Einsetzung von Ablasserlösen zu Bauzwecken selbstverständlich, vor allem wenn sie für Kirchenbauten Verwendung fanden,42 eventuell auch für die Zerbster Nikolaikirche, deren Dach bei der Feuersbrunst abgebrannt war. Fest steht jedenfalls, dass die Spieleinnahmen beträchtlich waren, wie wir durch die Reupke noch zugänglichen Spielrechnungen für die Jahre 1511–13 und 1520–22 wissen.43 Im Jahr 1511 etwa brachte die Prozession 41  Neumann, Geistliches Schauspiel, 783, Nr. 3400; Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 7, Anm. 2. 42  Bünz, Kühne, »Alltägliche Ablässe«, 348; Alberto Cassone, Carla Marchese, »The Economics of Religious Indulgences«, Journal of Institutional and Theoretical Economics 155 (1999), 429–442, hier 437. 43  In seiner Rezension von Reupkes Ausgabe beklagt sich Reinhold Specht: »Die Zahlen sind […] häufiger falsch aufgelöst« (554). Die hier genannten Zahlen sind also mit etwas Vorsicht zu genießen, wobei Reupkes Angaben in einigen (aber nicht allen) Fällen durch Neumann korrigiert worden sind, wo diese rechnerisch unstimmig waren: Neumann, Geistliches Schauspiel, 798, Anm. 38. Nichtsdestoweniger lässt sich in den durchgehend schwarzen Zahlen eine gewisse Grundtendenz konstatieren, d. h., es wäre unwahrscheinlich, dass Reupke für jedes der sechs Spieljahre falsche Zahlen produziert hätte.

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mehr als 76 Schillinge ein, während man nur 25 Schillinge zur Bestreitung der Spielkosten ausgab.44 Als Vergleichsmaßstab: Der resultierende Überschuss von etwa 50 Schillingen wäre mehr als genug gewesen, um die jährliche Besoldung von 40 Schillingen für die beiden Kapläne der Nikolaikirche zu decken.45 Den Spielerlös bezog man aus insgesamt drei Quellen,46 die alle als milde Gaben für den Ablass fungierten: 1) dem Verkauf von Wolle und Schafen, die offenbar durch die ländliche Bevölkerung zu Spielzwecken gespendet worden waren;47 2) dem Verkauf von »Gerätschaft« (reitschap bzw. rettischaft / retesschaft), also Gegenständen, die man ebenfalls als milde Spende abgegeben hatte;48 und 3) der Innahame von den tafelen,49 die durchweg die Hauptquelle für Spieleinnahmen darstellt. Im Kontext der spätmittelalterlichen Almosenpraxis sind mit diesen sonst nicht identifizierten Tafeln offensichtlich Sammeltafeln gemeint, wie z. B. die Almosentafel, die aus der Kirche von Dallmin in der Gemeinde Karstädt bei Perleberg (Brandenburg) erhalten ist (Abb. 1–2).50 Solche Tafeln dienten der Einsammlung von Münzen, wie anhand der Dallminer Tafel ersichtlich ist: Vor einer Rückblende mit geschnitzten Heiligenfiguren, hier wohl den Dallminer Kirchenpatronen Maria und Jakobus dem Älteren, ragt eine flache Lade aus Holz, deren hintere Hälfte von einem dünnen Brett bedeckt wird. Zur Sicherstellung von eingelegten Spenden kann man die Tafel leicht nach hinten kippen, damit die Münzen unter das Brett rutschen. Vergleichbare Tafeln wur­ den offenbar am Spieltag von vier bis fünf vertrauenswürdigen Zerbster 44  Neumann, Geistliches Schauspiel, 789, Nr. 3405; 791, Nr. 3434. Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 10 f. 45  Das Gehalt der Kapläne wurde allerdings nicht von der Stadt finanziert, sondern aus den Opfergeldern des Bartholomäistifts: Wentz, »Das Kollegiatsstift St. Bartholomäi«, 30. 46  Wolle- und Tafel-Einnahmen sind für jedes Jahr verzeichnet. Einträge für »Gerätschafts«-Erlöse fehlen für einige Jahre; allerdings lässt die Rechnung des Jahres 1522 vermuten, dass dies nicht etwa am Ausbleiben solcher Gaben lag, sondern an buchhalterischer Lässigkeit: So obertridt die innome die uszgabe disz jors in 4 ß an [= ›ohne‹] die retteschaft. Ansonsten fehlt für dieses Jahr jeglicher Hinweis auf Gerätschaftseinnahmen. Neumann, Geistliches Schauspiel, 799, Nr. 3561. 47  Innome von wulle: 5 ß von schapp unde wulle genoten; Von wulle unde hammel 4 ß 9 ngr 2 d. Neumann, Geistliches Schauspiel, 794, Nr. 3484; 796, Nr. 3520. 48  Neumann, Geistliches Schauspiel, 789, Nr. 3404; 794, Nr. 3482; 794, Nr. 3485. Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 10, 14. Siehe auch Lemke, »Neue Quellen«. 49  Neumann, Geistliches Schauspiel, 789, Nr. 3405; Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 10. 50  Zu der Dallminer Sammeltafel, vgl. Hartmut Kühne, »Sammeltafel«, in: Kühne, Bünz, Müller (Hgg.), Alltag und Frömmigkeit, 243 f. Für den freundlichen Hinweis auf die Dallminer Tafel danke ich Hannes Lemke.



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Abb. 1–2: Sammeltafel. Brandenburg (?), frühes 16. Jahrhundert, Laubholz (?), Höhe 28 cm, Tiefe (mit Handgriff) 39 cm. Landeskirchliches Archiv Berlin, Depositum aus der Kirche von Dallmin (Gemeinde Karstädt bei Perleberg)

Bürgern herumgetragen, die in den Rechnungen als tafeldregern erscheinen und für die Jahre 1511–13 namentlich aufgeführt werden,51 um Zuschauer zur Entrichtung ihrer ablassversprechenden Spielabgabe zu ­ ­ermuntern.52 Da die vergleichbaren Rechnungsbücher des Künzelsauer Fronleichnamsspiels von Kirchenpflegern der dortigen Johannespfarrei erstellt wurden,53 ist es möglich, dass die Zerbster Rechnungen ebenfalls durch 51  Die tafeldregern gehörten 1520–1522 zu den Ehrengästen bei Festmahlzeiten für Spielmitwirkende: Neumann, Geistliches Schauspiel, 799, Nr. 3562. Die Spieleinnahmen der Jahre 1511–13 sind nach den Namen der Tafelträger einzeln aufgelistet. Insgesamt erscheinen sechs Männer als Tafelträger, mal mit, mal ohne Vornamen: Bestman (1511–13), Andres Lindeman (1511–1513), Jan Kermen (1511–13); Pawel Kynast (1511); Jacob Tzander (1512); Hinrich (1512–13). Für 1511 und 1513 scheint es also vier, für 1512 fünf Tafelträger gegeben zu haben. Vgl. Neumann, Geistliches Schauspiel, 789–792; Nr. 3405, 3435, 3458. Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 10–13. 52  Lemke, »Neue Quellen«. 53  Glenn Ehrstine, »Crux interpretationis: Die Heiltumsweisung im Künzelsauer Fronleichnamsspiel«, in: Elke Huwiler (Hg.), Das Theater des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit: Kulturelle Verhandlungen in einer Zeit des Wandels, Heidelberg

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Kirchenpfleger aufgezeichnet und dann dem Stadtrat zur Kontrolle vorgelegt worden sind.54 In diesem Fall hätten die Tafelträger des Zerbster Spiels im Auftrag der Nikolaipfarrei gehandelt, und der Spielerlös wäre in erster Linie der Nikolaikirche als städtischer Pfarrkirche zugute gekommen. Nach dem Zeugnis des offenen Briefs vom 17. Mai 1506 scheint allerdings der Zerbster Stadtrat unmittelbar über die Spieleinnahmen gewacht zu haben und konnte eventuell frei über den erzielten Gewinn verfügen. Dass der Stadtrat jedenfalls darüber entschied, wer zu welchem Zweck bei der Prozession Spenden eintreiben durfte, geht aus einem durch Hannes Lemke neu entdeckten Brief des Köthener Rats hervor, in dem die Köthener darum bitten, bei der Zerbster Prozession Almosen für den Bau eines neuen Gewölbes in der Köthener Jakobskirche sammeln zu dürfen – eine Bitte, die offenbar schon einmal vom Zerbster Rat stillschweigend abgelehnt worden war.55 Die Rechnungen geben auch sonst reiche Auskunft über diverse Aspekte des Zerbster Spielbetriebs. Das Publikum setzte sich offensichtlich aus unterschiedlichen sozialen Schichten zusammen: Die Wolle wurde von bäuerlichen, die rettesschaft von minder bemittelten Zuschauern gespendet, die nur mit Mühe über bares Geld verfügen konnten. Die vom Stadtrat angepriesenen kosperlichenn ffiguren des Spiels scheinen auch keine Übertreibung gewesen zu sein. Örtliche Maler, Schneider und deren Gesellen wurden regelmäßig entlohnt,56 um die zugehörigen Requisiten der lebenden Bilder farbfrisch und anschaulich zu halten, und man hat sogar Gold- und Silberblatt aus Magdeburg für die Ausstattung besorgt.57 Etliche Einwohner der Stadt, die an den Spielvorbereitungen sowie der Aufführung beteiligt waren, sind nur in den Rechnungen greifbar: Fuhrleute bzw. Reisende haben Spielzubehör aus Dessau, Köthen, Magdeburg und Halle geholt;58 Brauer des begehrten Zerbster Biers haben gegen Bezahlung den Durst der Spielschaffenden gelöscht;59 Kustoden haben regelmäßig bei der Prozession die Kirchenglocken erklingen lassen;60 und Zim2015 [im Druck]; Neumann, Geistliches Schauspiel, 428–431, Nr. 1998–2005, 2008– 2016. 54  Zur üblichen Kontrolle von Kirchenpflegrechnungen durch den Stadtrat vgl. Martin Sladeczek, »Die Kirchenpflegschaft«, in: Kühne, Bünz, Müller (Hgg.), Alltag und Frömmigkeit, 242 f., hier 242. 55  Lemke, »Neue Quellen«, Anhang Nr. II. 56  Neumann, Geistliches Schauspiel, 790, Nr. 3426; 793, Nr. 3476; 794, Nr. 3489. 57  Ibid., 791, Nr. 3445; 795, Nr. 3492–93. 58  Ibid., Nr. 3406, 3422, 3461, 3479, 3509, 3528, 3547. 59  Ibid., 795, Nr. 3506; 797, Nr. 3527. 60  Ibid., Nr. 3425, 3442, 3487, 3531, 3557.



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merleute haben jedes Jahr das pallatium aufgebaut,61 das zentrale Schaugerüst des Fronleichnamsspiels, von dem noch die Rede sein wird. Nach der Aufführung haben letztlich als Dank für ihre Mühen die regenten, rymleszeren unde tafeldregern des Spiels ein Festmahl erhalten, die sogenannte collation, wie für die Jahre 1513 und 1520–22 bezeugt ist.62 Im Jahre 1513 gehörte dazu u. a. ein ganzer Ochse neben Hammelfleisch, Hasen, Hühnern, Rindfleisch, Speck und diversen Beilagen. Die besprochenen Spielrechnungen machen deutlich, welch bedeutenden Wirtschaftsfaktor das Fronleichnamsspiel für die Stadt darstellte. Der Ablass war Motor des Ganzen und hat jedes Jahr im Vorfeld des Fronleichnamsfestes etliche prozessionsbezogene Wirtschaftszweige der Stadt (Malerhandwerk usw.) subventioniert. III. Das Fronleichnamsspiel als Ablassmedium Wie wir beim offenen Brief des Zerbster Stadtrats gesehen haben, flossen die milden Gaben für das Spiel nicht nur aus gutem Willen, sondern waren Teil einer Transaktion, die erst durch den Spielbesuch vollzogen werden konnte. Mit anderen Worten: Nur durch den Akt des Zuschauens konnte das Publikum den Ablass einlösen und den ersehnten Sündennachlass bekommen. Was haben die Zuschauer beim Zerbster Fronleichnamsspiel geboten bekommen, und wie trug das zur Wirksamkeit des Ablasses bei? Unter Kirchenhistorikern rechnet man das Geistliche Spiel schon länger, wenn auch meist beiläufig, neben Andachtsbildern zu den Ablassmedien des Spätmittelalters, durch die die Gläubigen Zugang zum Erlösungsakt Christi gesucht haben.63 Um die leichte Verfügbarkeit dieser heilsvermittelnden Medien für die Zeitgenossen zu kennzeichnen, hat Berndt Hamm den Begriff der ›nahen Gnade‹ geprägt.64 Auch in der mediävistischen 61  Ibid.,

Nr. 3408, 3414, 3439, 3463, 3502, 3524, 3550. 792, Nr. 3457; 799, Nr. 3562. 63  Bob Scribner, »Popular Piety and Modes of Visual Perception in Late-Medieval and Reformation Germany«, The Journal of Religious History 15 (1989), 448–469, hier 457; Susan C. Karant-Nunn, The Reformation of Feeling: Shaping the Religious Emotions in Early Modern Germany, Oxford 2010, 18; Berndt Hamm, »Typen spätmittelalterlicher Gnadenmedialität«, in: Berndt Hamm, Volker Leppin, Gury Schneider-Ludorff (Hgg.), Media Salutis (Spätmittelalter, Humanismus, Refor­ mation 58), Tübingen 2011, 43–83, hier 68. Zu Ablassmedien im allgemeinen vgl. Boockmann, »Über Ablaß-›Medien‹ «, 709–721. 64  Berndt Hamm, »Die ›nahe Gnade‹ – innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit«, in: Jan A. Aertsen, Martin Pickavé (Hgg.), »Herbst 62  Ibid.,

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Spielforschung gerät neben performativen und räumlichen Aspekten auch die Medialität der Spiele zunehmend in den Blick,65 und es fehlt nicht an Untersuchungen, die auf die theatrale Heilsleistung geistlicher Aufführungen hinweisen.66 Dennoch ist die eingehende Analyse eines geistlichen Spiels als Ablassmediums bis jetzt ausgeblieben; Spielablässe werden, wenn überhaupt, meist nebenbei erwähnt,67 was auf Grund der bisherigen Quellenlage nicht überrascht. Durch den nun offenkundigen Ablassbezug in Zerbst sind wir in der Lage, die heilsvermittelnde Medialität eines Fronleichnamsspiels näher unter die Lupe zu nehmen. Hierzu gehören auch Belege zum Zuschauerverhalten bei vergleichbaren medialen Inszenierungen der nahen Gnade in und um Zerbst, vor allem im Zusammenhang mit der örtlichen Prozessionskultur und der Verkündung des päpstlichen Ablasses durch Raimund Peraudi und seine Subkommissare. Überall da, wo wir ablassverbundene Andachtshandlungen aus dem frömmigkeitsgeschichtlichen Umfeld des Zerbster Fronleichnamsspiels vorfinden, die nach zeitgenössischem Verständnis für die Wirksamkeit des Ablasses nötig waren, können wir Rückschlüsse über die handelnde Teilnahme des Publikums beim Geistlichen Spiel ziehen. des Mittelalters«? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts (Miscellanea Mediaevalia 31), Berlin / New York 2004, 541–577. 65  Ingrid Kasten, Erika Fischer-Lichte (Hgg.), Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel (Trends in Medieval Philology 11), Berlin 2007; Edith Feistner, »Spätmittelalterliche Stadtkultur und kulturwissenschaftliche Raumperspektive. Mediävistische Überlegungen zum Spatial Turn am Beispiel des Prozessionale aus dem Regensburger Reichsstift Obermünster (clm 27301)«, in: Freimut Löser u. a. (Hgg.), Neuere Aspekte germanistischer Spätmittelalterforschung (Imagines Medii Aevi 29), Wiesbaden 2012, 107–122; Nikolaus Henkel, »Mediale Wirkungsstrategien des mittelalterlichen Dramas. Ein Beitrag zur Konstruktion historischer Intermedialität«, in: Karl-Heinz Spieß (Hg.), Medien der Kommunikation im Mittelalter (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 15), Wiesbaden 2003, 237–263; Katja Gvozdeva, Hans Rudolf Velten (Hgg.), Medialität der Prozession. Performanz ritueller Bewegung in Texten und Bildern der Vormoderne (Germanisch-Romanische Monatsschrift; Beiheft 39), Heidelberg 2011. Zur jüngeren Forschungsgeschichte vgl. auch Ursula Schulze, Geistliche Spiele im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Von der liturgischen Feier zum Schauspiel. Eine Einführung, Berlin 2012, 12–15. 66  Vgl. u. a. Ursula Schulze, »Schmerz und Heiligkeit: Zur Performanz von Passio und Compassio in ausgewählten Passionsspieltexten (Mittelrheinisches, Frankfurter, Donaueschinger Spiel)«, in: Horst Brunner, Werner Williams-Krapp (Hgg.), Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters. Festschrift für Johannes Janota, Tübingen 2003, 211–232. 67  In dem jüngsten einschlägigen Handbuchartikel zum Zerbster Spiel fehlt z. B. ein Hinweis auf den bezeugten Spielablass: Raymond Graeme Dunphy, »Zerbster Fronleichnamsspiel«, in: Burghart Wachinger u. a. (Hgg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 10, Berlin / New York 1996, Sp. 1541–1544.



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Nach Zeugnis der lateinischen Beschreibung des prozessionseröffnenden Gottesdienstes in der Zerbster Bartholomäikirche, die nach 1506 entstanden sein muss,68 bestand die Medialität des Fronleichnamsspiels für die Zeitgenossen in einer ›figürlichen Weisung‹ (ostensio figuralis).69 Der offene Brief des Stadtrats betont auf ähnliche Weise die kosperlichenn ffiguren des Aldenn unnd Nauen Testaments, die die besondere Attraktivität der Aufführung ausmachten. Insgesamt bestand das Spiel aus 78 als ffigura bezeichneten stummen tableaux vivants, die der sogenannte rector processionis des Spiels jeweils in 1 bis 14 vierhebigen Reimpaarversen für das Publikum erläuterte. Die ältere Forschung zu den englischen cycle plays des Spätmittelalters unterstreicht die Bedeutung solcher figurae als Strukturprinzip der Spiele, das Szenen aus dem Alten und Neuen Testament zueinander in Beziehung setzte nach Prinzipien der typologischen Präfiguration.70 Als kleinste szenische Einheit in Zerbst spielen die Figuren des Spiels offensichtlich auch eine strukturelle Rolle, aber die Eröffnung der Prozessionsbeschreibung weist ihnen darüber hinaus eine Schlüsselrolle in der Wahrnehmung und Rezeption des Fronleichnamsspiels zu: Residuum pignus divini amoris in ultima cena a salvatore nostro accepimus. Congruum censetur continuis votis collere ad memoriam hoc insigne memoriale in dies reducere autoris nostri verba gentes: »hoc facite«, inquit, »in meam commemorationem«. Valde convenit connectere vetustis seculi portentis fili dei personaliter gloriosam manifestationem, que ita choruscat, ut ardor intimi amoris splendorem parat. Contulit supremus largitor huic loco renovare et stupenda utriusque pagine monimenta rudibus animis imprimere: cernitur in processione figuralis ostensio, qua proditur, quod saevis conditur codicibus plus movere dura pectora.71 Die bleibende Bürgschaft göttlicher Liebe haben wir von unserem Erlöser im Abendmahl erhalten. Es geziemt sich, dass wir von Tag zu Tag durch unsere anhaltenden Gebete dieses memoriale Zeichen [d. h. das Sakrament] zu seinem Gedächtnis verehrend pflegen, um den Menschen die Worte unseres Herrn näherzubringen: »Tut dies«, sagte er, »zu meinem Gedächtnis«. Gewiss gebührt es, 68  Zerbster

Prozessionsspiel, hg. Reupke, 17. memorativen Rolle von figurae im Geistlichen Schauspiel des Mittelalters vgl. Glenn Ehrstine, »Das figurierte Gedächtnis: Figura, Memoria und die Simultanbühne des deutschen Mittelalters«, in: Ursula Peters (Hg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur, 1150–1450, Stuttgart / Weimar 2001, 414–437; Schubert, »Schauspiel«, 24–30. Zur breiteren Geschichte des Begriffs im Altertum und Mittelalter vgl. Erich Auerbach, »Figura«, in: Fritz Schalk (Hg.), Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern 1967, 55–92. 70  V. A. Kolve, The Play Called Corpus Christi, Stanford 1966, 56–100. 71  Neumann, Geistliches Schauspiel, 804, Nr. 3566; Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 18. 69  Zur

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die Vorzeichen des Alten Testaments mit der glorreichen Manifestation des Gottessohns selber zu verbinden, welche derart erstrahlt, dass die Flamme der innersten Liebe einen Glanz gewinnt. Gott, der höchste Stifter von allen, hat es diesem Ort gewährt, die wunderhaften Erinnerungszeichen aus beiden Testamenten der Heiligen Schrift zu erneuern und einfacheren Gemütern einzuprägen: in der Prozession mag man eine figürliche Weisung wahrnehmen, durch die harte Herzen eher bewegt werden als durch raue Bücher.

Die Präfiguration des Lebens und Todes Christi durch die portenta des Alten Testaments rechtfertigt hier die Aufnahme von alttestamentlichen figurae in Prozession und Spiel. Doch ihre Amplifizierung der »glorreichen Manifestation des Gottessohns selber« (fili dei personaliter gloriosam manifestationem), die im Kontext des Fronleichnamsfests sowohl den lebendigen Christus als auch seine Präsenz in der mitgeführten Hostie der Prozession bezeichnen konnte, ist genauso medial wie strukturell; ja, die zwei Ebenen bedingen sich gegenseitig in einer prozessionalen bzw. prozessualen Wahrnehmung.72 In dieser prozessionalen Medialität sind solche lebenden Bilder selbstverständlich anders als die Realpräsenz der Hostie oder die gegenständliche Heilspräsenz von Reliquien im Spätmittelalter. Dennoch besteht im Begriff der ostensio figuralis eine funktionale Affinität zu der Reliquienschau einer ostensio reliquiarum,73 d. h., auch lebende Bilder konnten einem spätmittelalterlichen Publikum ›gewiesen‹ werden, um das andächtige Gedenken an den Erlösungsakt Christi bzw. den Märtyrertod der Heiligen zu fördern. Alle figurae des Spiels, selbst die der Heiligen, weisen in ihrer Zeichenhaftigkeit auf Christus bzw. auf seinen spirituell nahrhaften Leib hin, wie der rector processionis am Ende des Spiels betont: dysze figuren thun Iesum beweysen.  /  Er wil uns mit seynem leichnam speysen.  /  Gyb lob und dang, o cristenheit!74 Die ›figürliche Weisung‹ ist hier außerdem ›rauen Büchern‹ (saevis codicibus) vorzuziehen, da sie eher imstande ist, harte Herzen zu bewegen. 72  Christian Kiening, »Prozessionalität der Passion«, in: Gvozdeva, Velten (Hgg.), Medialität der Prozession, 177–198. 73  Vgl. zu den Reliquienweisungen des Mittelalters: Hartmut Kühne, Ostensio reliquiarum. Untersuchungen über Entstehung, Ausbreitung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im römisch-deutschen Regnum (Arbeiten zur Kirchengeschichte 75), Berlin / New York 2000; Christof L. Diedrichs, »Man zeigte uns den Kopf des Heiligen«: Bausteine zu einer Ereigniskultur in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin 2008. Für den Anblick von besonders wertvollen Reliquien wurde in einigen Fällen, etwa bei der Heiltumsweisung im Wiener Stephansdom, sogar ein vollkommener Ablass gewährt: B. Dudík, »Über Ablaßtafeln«, Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 58 (1868), 155–180, hier 176 f. 74  Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, v. 389–391. Vgl. Ehrstine, »Das figurierte Gedächtnis«, 419–421.



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Dennoch sind solche lebenden Bilder durchaus als Lektüre für die Augen gedacht, wie die Bestätigung einer vergleichbaren Prozession aus Kamenz im Jahre 1502 durch den Bischof von Meißen zeigt. Der Kamenzer Stadtrat hatte den Bischof um Erlaubnis gebeten, ihre traditionelle Prozession anlässlich des Kreuzerfindungsfests (3. Mai) von nun an mit figurae aufzuführen. Der Bischof gewährt diese Bitte mit der Begründung, dass ungebildete Laien solche körperliche figurae und Zeichen wie in einem Buch lesen könnten, wodurch ihnen das Meditieren über die Passion leichter falle: Omn[e] vulgus ad talia meditanda aptius faciliusque induci nequit, quam per corporales quasdam figuras et signa, quibus tanquam libris quibusdam passionem dominicam legere habeant.75 Außerdem verdeutlicht dieses Dokument die erhofften Wechselwirkungen zwischen prozessionaler Figurenschau und Ablass. Der Bischof gewährt allen Menschen, die der figürlichen Prozession beiwohnen, vierzig Tage Ablass, wenn sie fünf Paternoster zur Ehre Christi beten, vorausgesetzt, sie sind wahrhaft reumütig und haben gebeichtet: omnibus vere poenitentibus, confessis et contritis, wie es hier in einer üblichen Formel heißt.76 Dies geschieht ausdrücklich, damit das gläubige Volk um so williger zur feierlichen Prozession strömt. Für die päpstlichen Ablasskampagnen Raimund Peraudis sind wir durch Augenzeugen und Anweisungen an den örtlichen Klerus über die betreffenden Maßnahmen zur Erfüllung solcher Voraussetzungen für die Wirksamkeit des Ablasses gut unterrichtet.77 An jedem Ort, wo der Ablass verkündet werden sollte, erwählte der zuständige Kommissar Beichtväter aus dem örtlichen Klerus, die den Gläubigen die Beichte abnehmen, die Reumütigkeit feststellen und den nötigen Geldbetrag für den Erwerb des Ablasses festlegen sollten.78 Dieser Betrag sollte der Geldsumme entsprechen, die der Gläubige eine Woche lang zur Bestreitung der Lebenskosten Geistliches Schauspiel, 414 f., Nr. 1969. ut fidelis populus eo libentius ad hanc solennem processionem confluat, omnibus vere poenitentibus, confessis et contritis, huic processioni interessentibus et condolentibus quibuslibet pro sua devotione Christi passionem et in ejus honorem quinque pater noster orantibus, de injunctis eis poenitentiis quadraginta dies indulgentiarum autoritate beatorum apostolorum Petri et Pauli et sancti Donati martyris, patroni nostri, confisi in domino, misericorditer indulgemus. Neumann, Geistliches Schauspiel, 415, Nr. 1969. 77  Vgl. u. a. Wäschke, Annales Anhaltini, 12, Z. 8–26 (Peraudi’sche Ablasskampagne in Zerbst, 1489); Peter Wiegand, »Anweisungen für die Beichtväter«, in: Kühne, Bünz, Müller (Hgg.), Alltag und Frömmigkeit, 365 f. 78  Über das unter Peraudi übliche Zeremoniell der Ablassverkündung vgl. Johannes Schneider, Die kirchliche und politische Wirksamkeit des Legaten Raimund Peraudi (1486–1505), Halle 1882, 99–104. 75  Neumann, 76  […]

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benötigte. Als Zeichen des öffentlich ausgerufenen Ablasses hat man außerdem in der Kirche, in der der Ablass vor Ort erhältlich war – in Zerbst war dies 1489 und vermutlich 1502 die Bartholomäikirche – ein rotes Ablass- bzw. Gnadenkreuz auf einer für die Ablassspenden vorgesehenen Eisenkiste aufgerichtet, dessen Querbalken mit päpstlichen Fahnen versehen war. Das Aussehen eines solchen Kreuzes wird im Titelholzschnitt der protestantischen Streitschrift On Aplas von Rom kan man wol selig werden aus dem Jahre 1521 festgehalten (Abb. 3);79 dieses anonyme Pamphlet greift zwar in erster Linie den Petersablass von 1517 an, aber dieser hat sein Zeremoniell weitgehend von der Verkündung voriger päpstlicher Ablässe durch Peraudi übernommen.80 Vor diesem Kreuz haben die Ablasserwerber unterschiedliche Andachtshandlungen vorgeführt. Dazu gehörten öffentliche Bußrituale für Verbrecher, die auch der göttlichen Gnade teilhaftig werden sollten: In Zerbst sind für 1489 vierzig Mörder bezeugt, die entblößten Rückens vor das Ablasskreuz hingetreten sind, mit einer Kerze in der einen Hand und einer Rute in der anderen; ein ähnliches Ritual vollzog sich 1502 in Halle.81 Alle Ablasserwerber haben eine symbolische Geißelung durch die Beichtväter erhalten, die weiße Stäbe in den Händen hielten, mit denen sie die Gläubigen nach der Beichte zum Zeichen der Absolution berührten.82 Darüber hinaus waren spontane Bezeugungen der eigenen Bußfertigkeit bzw. der affektiven Teilnahme an der Passion Christi an der Tagesordnung. In Halle haben Laien vor dem Ablasskreuz geweint; bei der Abschlussfeier der Ablassverkündung hat man vor Niederlegung des Kreuzes noch davor gekniet und dreimal Media vita in morte sumus auf Deutsch gesungen.83 Peraudi selbst brauch79  Faksimileausgabe in: Ohn’ Ablass von Rom kann man wohl selig werden. Streitschriften und Flugblätter der frühen Reformationszeit, hg. Germanisches Na­ tionalmuseum Nürnberg, Nördlingen 1983, Druck II. Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek: http: /  / daten.digitale-sammlungen.de / ~db / 0001 / bsb00012453 / ima ge_6. 80  Hans Volz, »Die Liturgie bei der Ablaßverkündung«, Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 11 (1966), 114–125, hier 116, Anm. 18 (Beschreibung des Kreuzes); 125 (Angaben zum Holzschnitt). Vgl. auch Boockmann, »Über Ablaß-›Medien‹ «, 711 f. 81  Et apparuere publici penitentiarii per aliquot dies homicide a schapulis nudati, in una portantes candelam, in altera manuum virgam flectentes ante crucem coram eadem per singulos singulos dies depromserant. Wäschke (Hg.), Annales Anhaltini, 12. Siehe auch Brumme, Wallfahrtswesen, 191–192; Specht, Geschichte der Stadt Zerbst, 178. Zu Halle vgl. Nikolaus Paulus, »Raimund Peraudi als Ablaßkommissar«, Historisches Jahrbuch 21 (1900), 645–682, hier 675. 82  Vogtherr, »Peraudi als Ablaßprediger«, 154; Schneider, Peraudi, 100. 83  Paulus, »Peraudi als Ablaßkommissar«, 676. Das lateinische Media vita gehörte unter Peraudi zum Kreuzniederlegungszeremoniell; ob der deutsche Gesang in Hal-



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Abb. 3: Titelholzschnitt, On Aplas von Rom kan man wol selig werden (1521). Bayerische Staatsbibliothek, Signatur Res / 4 Polem. 7

te nach seinem feierlichen Einzug in Lübeck im April 1503 nur seine Hand auszustrecken, um zur Segnung des versammelten Volkes das Zeichen des Kreuzes zu machen, und schon prostrierten sich Tausende von Anwesenden aus Ehrerbietung.84 Als schließlich einige Wochen später in le spontan oder unter örtlicher Regie angestimmt wurde, geht aus der Beschreibung bei Paulus nicht hervor. Der lateinische Gesang wurde bei der Kreuzaufrichtung ­flexis genibus gesungen. Vgl. Volz, »Die Liturgie«, 115–117, Z. 13, 39. 84  Andreas Röpcke, »Geld und Gewissen, Raimund Peraudi und die Ablaßverkündigung in Norddeutschland am Ausgang des Mittelalters«, Bremisches Jahrbuch 71 (1992), 43–80, hier 53.

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Bremen der Andrang von Leuten, die Peraudi nach der Eröffnungsmesse die Hand küssen und Segen erbitten wollten, zu groß wurde, musste der Kardinal an Ort und Stelle noch zwei bis drei Bischöfe bevollmächtigen, »ebenso wirkungsvollen Ablass zu erteilen, wie er selber«.85 Im Gegensatz zur formellen Abfertigung der ablassheischenden Gläubigen unter Peraudi gab es gerade bei kleineren Ablässen, wie sie durch Bischöfe erteilt wurden, meist keine zuständige Entscheidungsinstanz über die Echtheit der geleisteten Reue und Buße. Nach der damaligen Ablasstheologie war es dennoch allen Laien klar, dass die von ihnen zu erbringenden Leistungen für die Wirksamkeit des Ablasses ›wahrhaft‹ sein mussten, um in den Genuss des versprochenen Sündennachlasses zu kommen. Die historische Emotionsforschung weist in diesem Kontext zunehmend auf die soteriologische Funktion von öffentlich gezeigten Gefühlen, die als sichtbare Zeichen für die Echtheit innerer Seelenzustände bürgen konnten, nicht nur gegenüber den Mitmenschen, sondern auch gegenüber sich selbst.86 Weinte man über den leidenden Christus, so war das keineswegs Ausdruck einer kindischen Gemütsverfassung, wie sie Johan Huizinga für das Spätmittelalter postulierte,87 sondern gerade im Ablasskontext Garant dafür, dass man auch innerliche Anteilnahme bzw. Reumütigkeit verspürte. Für die Sünder waren Tränen infolgedessen ein heilsvermittelndes Geschenk Gottes, ein donum lacrimarum,88 das eine 85  Röpcke,

»Geld und Gewissen«, 58. Schreiner, » ›Brot der Tränen‹. Emotionale Ausdrucksformen monastischer Spiritualität«, in: Klaus Ridder, Otto Langer (Hgg.), Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur, Berlin 2002, 193–248; Lyn A. Blanchfield, »Considerations of Weeping and Sincerity in the Middle Ages«, in: Elina Gertsman (Hg.), ­Crying in the Middle Ages. Tears of History (Routledge Studies in Medieval Religion and Culture 10), New York / London 2012, xxiii; William A. Christian, Jr., »Provoked Religious Weeping in Early Modern Spain«, in: John Corrigan (Hg.), Religion and Emotion, Oxford 2004, 33–50. Zum Zusammenhang von Emotionalität und ­Ritual überhaupt vgl. Jutta Eming u. a., »Emotionalität und Performativität in narrativen Texten des Mittelalters«, Paragrana 10 (2001), 215–233, hier 219–221. 87  Für eine Auseinandersetzung mit Huizingas Thesen von der unreifen Emotionalität mittelalterlicher Menschen siehe Barbara Rosenwein, Emotional Communities in the Early Middle Ages, Ithaca / London 2006, 5; Blanchfield, »Considerations of Weeping«, xxi. Vgl. Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden (Kröners Taschenausgabe 204), hg. Kurt Köster, Stuttgart 1965, 1–10. 88  Schreiner, »Brot der Tränen«, 194 f.; Elina Gertsman, »›Going They Went and Wept‹: Tears in Medieval Discourse«, in: Gertsman (Hg.), Crying in the Middle Ages, xi; Piroska Nagy, »Puissances médiévales de la passion incarnée«, in: Ingrid Kasten (Hg.), Machtvolle Gefühle (Trends in Medieval Philology 24), Berlin / New York 2010, 316–333, hier 323. 86  Klaus



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›Gnade der Tränen‹ (gratia lacrymarum) mit sich brachte, wie es in der Vita Christi des Ludolf von Sachsen heißt.89 Auch zeitgenössische Gebetsbücher betonten die Bedeutung des andächtigen Weinens als Voraussetzung für den Gnadenempfang.90 Selbst wenn keine Gefühlsregungen sichtbar waren, konnte allein die Körperstellung beim Gebet davon Zeugnis ablegen, dass man äußerlich wie auch innerlich christusförmig geworden war, wie beim Beten crützwys, also in Kreuzeshaltung.91 Die Andacht galt überhaupt als meritorischer Akt,92 durch den man den Ablass eingelöst hat. Von daher war es kein Zufall, dass man 1502 bei der Verkündung des päpstlichen Ablasses in Halle vor dem aufgestellten Ablasskreuz weinte, da man damit vor Klerus und Mitmenschen den öffentlichen Nachweis der für den Sündennachlass nötigen contritio lieferte. Auf den Zerbster Kontext angewandt heißt das, dass man auch für das Fronleichnamsspiel von andachtsbezeugenden Zuschauern ausgehen muss, die durch Gebet, körperliche Gesten und zur Schau getragene Emotionen die Wirksamkeit der von ihnen geleisteten Ablassspende sicherstellen wollten. Für die Hervorrufung von andächtigen Rezeptionshandlungen muss man außerdem betonen, dass der Vorzug des Geistlichen Spiels als Ablassmediums, der in der Zerbster Anpreisung der prozessionalen ostensio figuralis gegenüber Schriftmedien zum Ausdruck kommt, stets auf dessen Multimedialität beruhte, die für den Ritus der katholischen Kirche von besonderer Bedeutung war: »Wort in gesprochener und musikalischer Form, in lateinischer und deutscher Sprache, getragen von personaler Präsenz und Repräsentanz begleitet von Gesten, Bewegungen im Raum, Begegnung oder Trennung«.93 Während die Zerbster Spielhandschriften weitgehend nur das gesprochene Wort des Spiels überliefern, das in den 89  Ista vita in summo desiderio debet esse peccatori, propter multa. […] Tertio, propter gratiam lacrymarum, valde necessariam peccatori in hac valle miseriae, quam Christus, qui est fons hortorum, et puteus aquarum viventium, consuevit peccatoribus sibi adhaerentibus dare. Ludolphus the Carthusian, Vita Christi (Analecta Cartusiana 241), Bd. 1, Salzburg 2006, 1. Vgl. auch »Das Vorwort zum Leben Jesu Christi«, übers. Andreas Falkner, Geist und Leben 61 (1988), 265–284, hier 267. 90  Thomas Lentes, »Gebetbuch und Gebärde. Religiöses Ausdrucksverhalten in Gebetsbüchern aus dem Dominikanerinnen-Kloster St. Nikolaus in undis zu Straßburg (1350–1550)«, Diss., Westfälische Wilhelms-Universität Münster 1996, ­ 303. 91  Glenn Ehrstine, »Ubi multitudo, ibi confusio: Wie andächtig war das Spielpublikum des Mittelalters?«, Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 20 (2014 / 15) [im Druck]; Lentes, »Gebetbuch und Gebärde«, 315 f. 92  Ibid., 304. 93  Henkel, »Mediale Wirkungsstrategien«, 239.

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exegetischen Kommentaren des rector processionis zu den einzelnen figurae der Prozession bestand, erlauben die im Großen Regiebuch enthaltenen Beschreibungen der figurae Rückschlüsse auf deren szenische Ausstattung sowie auf Kostüme und die Bewegungsregie des Spiels. Die Lesbarkeit dieser lebenden Bilder bestand vor allem in ihrer Einrichtung nach ikonographischen Mustern aus der zeitgenössischen Kunst, die im Regiebuch skizzenhaft umrissen werden, oft unter Angabe von Körpergesten: Die erweckunge Laszari usz dem grabe. Ihesus mit 2 ufgerackten fingern, Lasarus imm grabe mit gefalten henden.94 Mitunter finden sich hier Anklänge an Motive aus bekannten Andachtsbildern, deren Betrachtung ablassvermittelnd wirken sollte, wie beim Schweißtuch der Veronika: Eyn wolgeschigkte frowe, die dy Feronica treget, demutig gekleydt.95 Durch die Mitführung von Spruchbändern mit lateinischen Vulgata-Zitaten bei etlichen figurae war auch das geschriebene Wort präsent, und Lemke wertet dies als Indiz dafür, dass die Spielorganisatoren durch das Nebeneinander von Heiliger Schrift und lebendem Bild Zuschauer unterschiedlichen Bildungsgrades ansprechen wollten.96 Die Steigerung der visuellen Lektüre wurde außerdem durch begleitende liturgische Musik erreicht,97 vor allem durch den Vortrag des Responsoriums Tenebrae factae sunt, das uns bald näher beschäftigen wird. In der Prozession wurden schließlich Gegenstände des kirchlichen Kults mitgeführt oder auch gewiesen, nicht nur die geweihte Hostie, sondern auch liturgisches Gerät, Reliquien und andere rituelle Objekte. Das Vorhandensein solcher Objekte geht leider nicht immer aus den Aufführungsmaterialien selber hervor: Wir wissen lediglich durch einen am 2. April 1510 aufgesetzten Brief Adolfs von Anhalt-Zerbst, Bruder des Fürsten Magnus und zu der Zeit Dompropst in Magdeburg, dass er aus dem Magdeburger Domschatz ein »Kreuz und Glied in einer 94  Neumann, Geistliches Schauspiel, 785, Nr. 3402; Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 56. 95  Neumann, Geistliches Schauspiel, 786, Nr. 3402; Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 58. 96  Lemke, »Die Ankuhner als Apostel«, 129. 97  Jill Stevenson, Performance, Cognitive Theory, and Devotional Culture: Sensual Piety in Late Medieval York (Cognitive Studies in Literature and Performance), New York 2010, 49, 138 f.; Henkel, »Mediale Wirkungsstrategien«, 257; Detlef Altenburg, »Die Musik in der Fronleichnamsprozession des 14. und 15. Jahrhunderts«, Musica Disciplina 38 (1984), 5–24. Vgl. auch die Ausführungen zu den Funktionstypen des Bekenntnisses und der autoritativen Kundgabe bei den liturgischen Gesängen der hessischen Passionsspiele: Johannes Janota, »Zur Funktion der Gesänge in der hessischen Passionsspielgruppe«, in: Max Siller (Hg.), Osterspiele: Texte und Musik. Akten des 2. Symposiums der Sterzinger Osterspiele (12.–16. April 1992) (Schlern-Schriften 293), Innsbruck 1994, 109–120, hier 113, 116.



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Kiste«, offenbar einen kleinen Reliquienschrein, zum Gebrauch in der Zerbster Prozession ausgeliehen hatte. Welche Reliquie bzw. welche(r) Heilige hier gemeint sein könnte, bleibt unklar; Lemke weist Magdeburger Reliquien für die Heiligen Sebastian und Katharina nach, die eventuell bei den entsprechenden figurae des Fronleichnamsspiels zum Einsatz kamen.98 Daneben verfügte die Nikolaikirche über »silberne Bilder der Heiligen Maria, […], Nikolaus, Katharina«, die vermutlich als Reliquienbehälter dienten und ebenfalls als auratische Requisiten für das Fronleichnamsspiel in Frage kommen.99 Kerzen tragende Kantoren der örtlichen Bartholomäikirche; Bürger aus Zerbster Innungen und Bruderschaften in ikonenhafter Kostümierung und Körperhaltung, einige versehen mit Spruchbändern, worauf Redefetzen aus der Vulgata zu lesen waren; in der Mitte dieser tableaux vivants ein nicht näher bezeichnetes tragbares Kreuz, von dem noch die Rede sein wird; der ehrfurchtsheischende Klerus des örtlichen Bartholomäistifts in vollem Ornat, bestehend aus Dekan, Vikaren, Chorherren und dem ­Rektor der Stiftsschule zusammen mit seinen als Chor versammelten Schülern,100 alle um das Sakrament gruppiert; und hier und da kostbare Reliquienbehälter, zumindest bei einer der jährlichen Aufführungen: All das gehörte zum Wahrnehmungsangebot des Zerbster Fronleichnamsspiels, das in der obigen Reihenfolge an dem Publikum vorüberzog.101 Nach der Eröffnungsfeier in der Bartholomäikirche, an der vermutlich neben Ehrengästen alle Mitziehenden teilnahmen,102 bildete sich der Prozessionszug entweder

98  Lemke,

»Neue Quellen«. »Das Kollegiatsstift St. Bartholomäi«, 72. Zu möglichen Reliquien aus dem Kirchenschatz des Bartholomäistifts berichtet Wentz: »Von mittelalterlichen Altargeräten, Reliquien usw. ist nichts erhalten« (40). 100  Zu den Gesangsaufgaben der Stiftsschüler vgl. Wentz, »Das Kollegiatsstift St. Bartholomäi«, 32. Die lateinische Prozessionsordnung hält ausdrücklich fest, dass der Rektor während der Prozession als Kantor fungierte und den Chor leiten sollte: rector schole, qui hic locum tenet cantoris; rector schole semper chorum gubernare [debet?]. Neumann, Geistliches Schauspiel, 805, 806. 101  Die lateinische Prozessionsordnung gibt die Reihenfolge der Teilnehmer wie folgt an: erit processio ita ordinata: In primis candele cantorum, inde figure, post clerus cum honesta baiulatione sacramenti. Neumann, Geistliches Schauspiel, 808, Nr. 3566. 102  In Luzern haben alle Mitwirkenden beim Passionsspiel vor der Aufführung an einem eigenen Gottesdienst in der Luzerner Peterskapelle teilgenommen. Heidy Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes, vfferbuwung dess mentschen vnd der statt Lucern lob. Theater und szenische Vorgänge in der Stadt Luzern im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit (Theatrum Helveticum 11), Zürich 2009, 189. 99  Wentz,

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in oder vor der Kirche.103 Bei Fronleichnamsprozessionen anderer deutscher Städte zogen Vertreter der Stadt gewöhnlich unmittelbar vor oder nach der Geistlichkeit mit; die ehrenhaftesten Ratsmitglieder hielten oft den »Himmel«, den Baldachin über dem Priester, der das Sakrament in einer besonders kostbaren Monstranz trug, oder gaben als »Führer« diesem Priester das Geleit, wie für die Prozession des Nürnberger HeiligGeist-Spitals belegt ist.104 In der entsprechenden Beschreibung der Zerbster Prozessionsordnung ist allerdings von städtischer Repräsentation keine Rede; durch die Auflistung der zuständigen Träger für einzelne tableaux vivants im Großen Regiebuch wissen wir nur, dass der Zerbster Stadtrat für die Gestaltung der Kaiphas- und Herodes-figurae verantwortlich zeichnete, welche die Macht der weltlichen Herrschaft zum Ausdruck brachten.105 Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass Ratsmitglieder völlig auf die ehrenvolle Begleitung des Sakraments verzichteten, zeigt das ­Zerbster Beispiel, dass die Rangordnung von Teilnehmern bei figürlichen Prozessionen nicht nur nach ihrer Nähe zum Sakrament bestimmbar ist, sondern auch durch die Übernahme von besonders prestigeträchtigen bzw. standesgemäßen heilsgeschichtlichen Tableaux. Über den Weg aller Teilnehmer durch die Stadt sind wir durch die lateinische Prozessionsordnung unterrichtet: von der Bartholomäikirche über die Neue Brücke und die Breite Straße zum Markt hin,106 dann nach einem Umgang durch die Nikolaikirche zur Bartholomäikirche zurück, eventuell über die Alte Brücke, was eine kreisförmige Route ergeben hätte mit Platz für möglichst viele Zuschauer am Straßenrand.107 Hauptauf103  Möglich ist, dass man die figurae erst in oder vor dem Rathaus geordnet hat, da die figuren stets vor dem Spiel up deth rathhausz getragen werden. Neumann, Geistliches Schauspiel, Nr. 3409, 3440, 3465, 3510, 3522. Vgl. auch Wolfgang F. Michael, Die geistlichen Prozessionsspiele in Deutschland (Hesperia 22), Baltimore / Göttingen 1947, 62. 104  Löther, Prozessionen, 126, 129; Charles Zika, »Hosts, Processions, and Pilgrimages: Controlling the Sacred in Fifteenth-Century Germany«, Past and Present 118 (1988), 25–64, hier 41. 105  Eyn erbar rath: Cayfas cum Ihesu, gebunden, gefurt; […] Eyn erbar rath: Herodes, schon gekleydet; eynn kron und czepter vor imm. Ihesus vor om mit eynem weiszen kleyde und klatzer daran. 4 juden, die Ihesu gebunden leyten. Neumann, Geistliches Schauspiel, 785–786, Nr. 3402; Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 57. Vgl. auch Lemke, »Die Ankuhner als Apostel«, 128. 106  Transibit processio per novum pontem et in bracchio sinistro late platee descendendo ad forum. Neumann, Geistliches Schauspiel, 808, Nr. 3566. 107  Reupke, der sich über die schwere Lesbarkeit der inzwischen verschollenen Urkunde beklagt (S. 18), gibt zwei Lesarten für den Rückweg der Prozession zur Bartholomäikirche: Tunc rector schole continuabit historiam et redibit priori (proxi-



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führungsort war der Marktplatz vor dem Rathaus der Stadt. Hier hatte man das sacramenti pallatium aufgebaut,108 einen erhöhten ›Palast‹ für das Sakrament, den man wie Prozessionsstationen andernorts mit Gras schmückte.109 Etwas aufwärts hiervon haben die Schüler Stellung eingenommen, vermutlich als Chor.110 Nach dem Gesang des Te Deum durch einen Cantor und der priesterlichen Segnung der Anwesenden fand dann der transitus figurarum statt, also das vom rector processionis kommentierte Vorüberschreiten der lebenden Bilder.111 Die bisherige Forschung geht einstimmig davon aus, dass der rector den Spieltext vom pallatium aus vorgetragen hat,112 nicht zuletzt der besseren Akustik wegen. Ob die figurae auf oder vor dem pallatium zur Vorführung kamen, ist bis jetzt unentschieden,113 aber wenn man die Regiebemerkung zur Gefangennahma?) via (Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 22). D. h., entweder kehrte die Prozession über den schon beschrittenen Weg zurück, also über die Neue Brücke über den kleinen Nebenarm der Nuthe, der den fürstlichen von dem städtischen Jurisdiktionsbereich des Ortes trennte, oder sie schlug den nächsten Weg ein, die direktere Verbindung zwischen den beiden Kirchen über die Alte Brücke. Neumann entscheidet sich für die erste Lesart, allerdings ohne Begründung: Neumann, Geistliches Schauspiel, 809, Nr. 3566. Auf Grund der topographischen Verhältnisse vor Ort ist der Rückweg über die Alte Brücke durchaus plausibel: Vergleichbare spätmittelalterliche Prozessionen neigten dazu, möglichst viele Örtlichkeiten einer Stadt zu vereinen, und die Überquerung beider Brücken hätte wie bei der Einbeziehung beider Ortskirchen ausgleichenden Symbolwert gehabt: Die Alte Brücke stand unter städtischer Obhut, während die Neue Brücke dem Fürsten den ungehinderten Zugang zur Hauptverkehrsstraße nach Magdeburg ermöglichen sollte. Vgl. Specht, Geschichte der Stadt Zerbst, 47. 108  Neumann, Geistliches Schauspiel, 808, Nr. 3566; Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 21. 109  Wilhelm Breuer, »Zur Aufführungspraxis vorreformatorischer Fronleichnamsspiele in Deutschland«, Zeitschrift für deutsche Philologie 94 (1975; Sonderheft), 50–71, hier 52; Neil C. Brooks, »Processional Drama and Dramatic Procession in Germany in the Late Middle Ages«, Journal of English and Germanic Philology 32 (1933), 141–171, hier 144–146; Michael, Prozessionsspiele, 62. 110  Ordinabit rector schol[a]e, ut aliquantum superius ascendent scholares. Neumann, Geistliches Schauspiel, 808, Nr. 3566; Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 21. 111  Statione ordinata incipiet mox cantor »Te deum« in bassa […]. Tunc legetur […] et cantet qui fert sacramentum: »Salvum fac« […]. Vertat se sacerdos circumcirca, faciens cruces, et dicet versus cum collecta: »Dominus vobiscum«. Post transitum figurarum sequentur scholares et tota congregatio prebens honorem sacramento procedet. Neumann, Geistliches Schauspiel, 808, Nr. 3566; Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 21. 112  Breuer, »Aufführungspraxis«, 53; Michael, Prozessionsspiele, 62. 113  Michael (Prozessionsspiele, 62) ortet die figurae auf dem pallatium; Breuer (»Aufführungspraxis«, 53) davor; und Brooks (»Processional Drama«, 146) hält beide Varianten für möglich.

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me Jesu wörtlich versteht – die durch Ankuhner Bürger dargestellten Apostel sollen szo lange vor dem sacrament stehen, bisz das Ihesus gefangen wirt114 – dann werden die insgesamt 17 Schauspieler, die zur Darstellung der Szene nötig waren, auf einem entsprechend großen Pallatiumsgerüst gestanden haben, wo auch das Sakrament ausgestellt war. Dies hätte zumindest bessere Sichtverhältnisse für die Umstehenden geschaffen. Der Centurion, der in der Prozession ritlichen zu pferde geht, wird vermutlich auf dem Markt abgestiegen sein, um als Teil des Beweinungsensembles nach dem Tod Christi mit seinem Spruchband in der Hand auf den Gottessohn hinzuweisen: vere filius dei erat iste.115 Andere Regiebemerkungen aus dem Großen Regiebuch machen deutlich, wie die Darsteller auf dem Markt den Einsatz ihrer stummen Pantomime auf die Kommentare des rector processionis abstimmten. Der Vergleich zwischen Regiebuch und Spieltext erlaubt hier außerdem Rückschlüsse über die Eigenart des Fronleichnamsspiels gegenüber anderen performativen Medien des Spätmittelalters: Annas cum Ihesu: Hir sal Ihesus gebunden gehenn und Annas als eyn bisco[p] uf der eynen seite, uf der andern seite eyn jude, der die hant zum slan ufhebet, und eynen ry[m] in seiner hant: »Sic respondes pontifici«. Uf dem mar[kt] im rym sal Ihesus nidderfallenn. [Neumann, Geistliches Schauspiel, 781, Nr. 3402]

Die entsprechenden zwei Zeilen des rector processionis zu dieser figura lauten: Vor Annas der herre irstlich stundt, Hertlich geslagenn an seyne wangen und munt. [Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, v. 233 f.]

In dem Moment also, wo der rector die gewaltvolle Peinigung Christi sprachlich evoziert, fällt der Christus-Darsteller zum Zeichen seiner Qual hin. Der Schergen-Darsteller wird seine Malträtierung vermutlich auch pantomimisch ausgeführt haben, aber dies kann in einem einzigen Handschlag bestanden haben. Sämtliche figurae haben Zitatcharakter, vor allem wenn bedenkt, dass der rector processionis bei jedem Szenenwechsel in seiner Kommentierung so lange pausieren musste, bis die Darsteller eines lebenden Bildes die Spielfläche geräumt und die der nächsten Szene ihre Plätze eingenommen hatten, selbst wenn sein darauf folgender Kommentar wie oben aus nur zwei Zeilen bestand. Das Ziel einer solchen stets punktuellen Szenenregie war nicht die Schaffung einer erlebten, mitreißenden Dramatik – stilisierte Folterspiele wie etwa das ›Strecken‹ bei der Geistliches Schauspiel, 785, Nr. 3402. 786, Nr. 3402.

114  Neumann, 115  Ibid.,



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Kreuzannagelung der Passionsspiele, deren rhythmische Dialogführung die Zuschauer in den Bann des Passionsgeschehens hineinziehen sollte,116 fehlen in Zerbst vollkommen117 – sondern die kontemplative Hervorrufung schon vorhandener innerer Bilder bzw. Gedächtnismomente. Nicht dass die Gewalthandlungen des Spiels immer ›kurz und schmerzlos‹ blieben – Jesus wird irbermlich gegeiselt vorn unnd hyndenn (Spieltext), und die czwey, die in howen mit ruten (Regiebuch), müssen ihr Tun nach dem vierzeiligen Kommentar des rector nicht sofort eingestellt haben118 – aber die Gewalt wird nicht wie im Passionsspiel sprachlich inszeniert,119 sondern visuell zitiert. Die Steigerung des Spielgeschehens findet stattdessen auf der Schauebene statt: Im Zeitraffer wird den Zuschauern Szene um Szene knapp das unaufhaltsame Näherrücken des Kreuzestods Christi vorgeführt. Die Sprache des Fronleichnamsspiels dient hier stets dem Schauakt: Sie entsteht nie bei den Darstellern selbst als Teil ihres mimetischen Spiels, sondern weist stets von außen auf deren Rollenverkörperung hin, entweder durch das gesprochene Wort des rector processionis oder durch die mitgeführten Verse der Heiligen Schrift, die hier in der Gegenständlichkeit der Spruchbänder einen zeugnishaften, fast auratischen Charakter haben. Die Stummheit der Schauspieler resultiert in einer betont körperlichen Zeichenhaftigkeit, was durchaus dem zeitgenössischen Verständnis des Spiels als einer ostensio figuralis entspricht, bei der die Zuschauer die Passion Christi wie in Kamenz per corporales quasdam figuras et signa wahrnehmen sollten. 116  Jutta Eming, »Sprache und Gewalt im spätmittelalterlichen Passionsspiel«, in: dies., Claudia Jarzebowski (Hgg.), Blutige Worte: Internationales und interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Mittelalter und Früher Neuzeit (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 4), Göttingen 2008, 31–51, hier 38 f.; Jan-Dirk Müller, »Das Gedächtnis des gemarterten Körpers«, in: Claudia Öhlschläger, Birgit Wiens (Hgg.), Körper – Gedächtnis – Schrift: Der Körper als Medium kultureller Erinnerung (Geschlechterdifferenz und Literatur 7), Berlin 1997, 75–92, hier 79–83. Für die Analyse vergleichbarer Folterspiele in Spielen aus Frankreich und England vgl. Jody Enders, The Medieval Theater of Cruelty: Rhetoric, Memory, Violence, Ithaca / London 1999, 170–185; Stevenson, Performance, 138 f. 117  Von dem vergleichbaren Folterspiel bei Kaiphas, bei dem die wiederholten Aufforderungen an den sonst prophezeihungsfreudigen Christus, seine Peiniger trotz Augenbinde zu identifizieren, zu einer Art Reigen gesteigert werden, bleibt in Zerbst nur der Hinweis auf das von Christus erlittene Bartraufen und Haarziehen; vom sprachlich geführten Prophezeiungsspiel ist keine Spur: Eyn erbar rath: Cayfas cum Ihesu, gebunden, gefurt. Neumann, Geistliches Schauspiel, 785, Nr. 3402. Vgl. den Spieltext: Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, v. 241–250. 118  Ibid., v. 262; Neumann, Geistliches Schauspiel, 786, Nr. 3402. 119  Eming, »Sprache und Gewalt«, passim; Müller, »Gedächtnis«, 79.

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Die dadurch gesteigerte Präsenz der figurae wurde im Laufe von Prozession und Spiel in immer neue Bezüge zum mitgeführten Sakrament gebracht, vor allem durch die Einbeziehung liturgischer Gesänge und anderer Elemente des Kults. Insgesamt gab es mindestens vier Stationen am Prozessionsweg, auf denen das Sakrament ausgestellt war und die der Vorführung liturgischer bzw. paraliturgischer Handlungen dienten. Die Bartholomäikirche war gleichzeitig erste und letzte Station des Umgangs: Während der Eröffnungsfeier wurde hier nach einleitendem Glockengeläut in und außerhalb der Kirche die Station für das Sakrament eingerichtet (statio sacramenti est facta).120 Das pallatium auf dem Marktplatz, das in der älteren Forschung gelegentlich als erste Station beschrieben wird,121 war genaugenommen die zweite Prozessionsstation; dafür bildete sie aber die einzige Station im öffentlichen Raum. Am Ende des transitus figurarum hat hier der rector processionis alle Anwesenden aufgerufen, eine öffentliche Andacht vor dem Sakrament zu verrichten: Sich, got ist bey uns auff erdenn.  /  Des alleyne hir ingedenckenn.  /  Dor zcue deyne andacht sol lencken.122 Anschließend hat man den traditionellen Fronleichnamsleis Christ, du bist mild und gut angestimmt, und auch hier schreibt die Handschrift in einer Randnotiz eine Gebetshaltung vor.123 Nach der Verehrung des Sakraments begann dann mit dem Vortrag des Responsoriums Immolabit haedum die musikalische Nacherzählung der ganzen Passionsgeschichte (tota historia) durch die für das Fronleichnamsfest vorgesehenen Responsorien.124 Der Responsoriengesang setzte sich offenbar auf dem Weg zur dritten Station in der Nikolaikirche fort, wo die Prozession nach einem Umgang durch die Kirche vor dem Altar Halt machte. Hier war wieder das Sakrament ausgestellt; daneben standen Vertreter der Geistlichkeit und ein plebanus, vermutlich ein Ratsmitglied oder ähnlich ehrenvoller Bürger der Stadt, die zusammen das Ecce panis angelorum sangen.125 Geistliches Schauspiel, 805, Nr. 3566. Prozessionsspiele, 62. 122  Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, v. 386–388. 123  Inclinate humiliter ad sacramentum. Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, v. 399 (auch Anmerkung). Zum Leis vgl. Walther Lipphardt, »Leisen und Rufe«, in: Friedrich Blume (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 16, 1. Aufl., Kassel 1979, Sp. 1105–1110, hier Sp. 1106. 124  Et sciendum, cantabitur tota historia in responsoriis incipiendo ab »Immolabit« in foro et ab omnibus stationibus […]. Tunc transibit processio ad s. Nicolaum: Neumann, Geistliches Schauspiel, 808, Nr. 3566. Vgl. »Immolabit haedum« (926) und andere Responsorien der Fronleichnamsliturgie in Liber usualis missae et officii, Paris u. a. 1934, 917–960. 125  Figure circumeunt et transibit tota processio ad chorum. Ibi ante summum altare stabit sacramentum, cui adduntur ministrantes ex summo et decanus vel senior 120  Neumann, 121  Michael,



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Beim Verlassen der Nikolaikirche haben Rektor und Schülerchor die musikalische Narration der Passionsgeschichte auf dem Rückweg zur Bartholomäikirche fortgesetzt, wo man in statione, also an der ursprünglichen Station, die Antiphon O quam suavis anstimmte, bevor man mit dem Introit O sacrum convivium zur abschließenden Fronleichnamsmesse überleitete. Auswärtige Zuschauer haben vermutlich allen Stationshandlungen im Kircheninneren beigewohnt, so gut es der Publikumsandrang erlaubte. Den Hauptschauplatz bildete dennoch der öffentliche Raum der Stadt, wo Besucher sich einen oder zwei günstige Orte aussuchen konnten, um das Geschehen möglichst nahe zu verfolgen.126 In diesem Kontext scheint der Einsatz liturgischer Gesänge für die zweite Hälfte des Umgangs zwischen Pallatium und Bartholomäikirche einen besonderen Rezeptionsrahmen für die andächtige Betrachtung der vorbeiziehenden figurae geschaffen zu haben. Nach einem ersten Durchgang durch die Heilsgeschichte bei dem transitus figurarum auf dem Marktplatz wurde also danach auf dem Rückweg zum Ausgangspunkt die tota historia des im Sakrament verehrten Erlösungsaktes Christi in musikalischer Überhöhung erneut vergegenwärtigt, während das Publikum vom Straßenrand aus die lebenden Bilder der Prozession unmittelbar beobachten konnte. Bei der vorausgehenden Vorführung der figurae auf dem Marktplatz war begleitender liturgischer Gesang jedoch einer einzigen figura vorbehalten, nämlich dem Moment der Kreuzigung. Wie die Handschrift O festhält, wurde hier nicht nur das Responsorium Tenebrae factae sunt gesungen, sondern es sollten auch die Glocken im Turm, vermutlich von der nächstgelegenen Nikolaikirche, geläutet werden: Tenebre facte sunt et hic pausatur et fiat Brevis pulsus in turri.127 Auch das Große Regiebuch sowie die Handschrift XIV, die eventuell vor dem Stadtbrand von 1506 angelegt wurde,128 fordern hier Tenebre,129 und die Spielrechnungen nencum plebano in lateribus stantes tribus vicibus cantantes: »Ecce panis« cum choro et organo usque ad finem. Neumann, Geistliches Schauspiel, 808, Nr. 3566. 126  Selbst der protestantische Dramatiker Joachim Greff muss in seiner Kritik des Freiberger Pfingstspiels einräumen, dass der prozessionale Teil des Spiels gute Sichtverhältnisse erlaubte: Die Pompa und die Circuit war wol das allerbeste, da man die personen alle, eine nach der anderen, recht mercken kunde. Neumann, Geistliches Schauspiel, 328, Nr. 1554. Zu Greffs Kritik am Geistlichen Spiel vgl. Schulze, Geistliche Spiele, 221 f.; Johannes Janota, » ›Repraesentatio peccatorum‹: Zu Absicht und Wirkung der spätmittelalterlichen Passionsspielaufführungen«, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 137 (2008), 439–470, hier 443–448. 127  Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 38, Anm. »Nach v. 282«. 128  Ibid., 23. 129  Neumann, Geistliches Schauspiel, 786, Nr. 3402; Handschrift XIV, Stadtarchiv Zerbst, Abt. III, Nr. 4, 7r. Vgl. auch Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 58.

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nen ausdrücklich tenebre als Anlass für das Glockenläuten durch die Kustoden in den Jahren 1520–22.130 Als fünftes Responsorium der Karfreitagsliturgie hält das Tenebrae die Sterbensworte Christi fest: Exclamans Jesus voce magna, ait: Pater, in manus tuas commendo spiritum meum. Et inclinato capite, emisit spiritum.131 Es markiert also den eigentlichen Todesmoment Jesu. Der Sinn seiner Kombination mit Glockengeläut geht u. a. aus einer Stiftung am Wiener Stephansdom hervor: In einer Urkunde vom 6. Februar 1459 wird bestimmt, dass jeden Freitag nach dem Hochamt der cantor das obgenant respons Tenebre facte sunt etc. mit den knaben andêchticlichen singen soll; gleichzeitig soll der Messner die große Glocke läuten lassen, die gewöhnlich dem Salve regina vorbehalten war.132 Bei der Abendpredigt am Ostersonntag sollte man dann jährlich von der Kanzel das volkch vleissiclich ermonen […], wo sie an irer arbait sein und die gross glogken am freitag nach dem fronambt zu mittentag horent leutten, dass sie dester andechticlicher gedechtnuss haben sullen des grossen pittern leidens Unsers Herrn Jesu Cristi mit dem antlas, der darzu geben ist oder wirdet.133

Die freitägliche Mittagsstunde galt als Todeszeitpunkt Christi und wurde im Mittelalter auch andernorts akustisch markiert;134 hier wird jedoch allen, die am Freitag unter Glockengeläut eine Passionsandacht einlegen, während man im Stephansdom das Tenebrae factae sunt singt, ein Ablass (antlas) in Aussicht gestellt. Auf ähnliche Weise gewähren der Würzburger Bischof Sigismund von Sachsen und sein Generalvikar, Titularbischof Hermann, am 14. August 1441 jeweils einen vierzigtägigen Ablass für den Besuch einer allsamstäglichen Passionsandacht in der Wertheimer Pfarrkirche, bei der man das Tenebrae gesungen hat.135 Offensichtlich galt der Vortrag dieses Responsoriums als besonders ablassfördernd. Die Kombination von liturgischem Gesang und Glockenklang bei der gleichzeitigen Repräsentation der Kreuzigung auf dem Zerbster Marktplatz war zwei130  15 ngr custodibus vor ›tenebre‹. Neumann, Geistliches Schauspiel, 794, Nr. 3487. Vgl. auch Nr. 3531, 3557. 131  Vgl. den vollständigen Text des Responsoriums im Liber usualis, 680 f. 132  Quellen zur Geschichte der Stadt Wien, II. Abtheilung, III. Band: Verzeichnis der Originalurkunden des städtischen Archives 1458–1493, bearb. Karl Uhlirz, Wien 1904, 23, Nr. 3848. 133  Quellen zur Geschichte der Stadt Wien, bearb. Uhlirz, 23, Nr. 3848. 134  Therese Bruggisser, »Frömmigkeitspraktiken der einfachen Leute im Katholizismus und Reformiertentum. Beobachtungen des Luzerner Stadtschreibers Renward Cysat (1545–1614)«, Zeitschrift für Historische Forschung 17 (1990), 1–26, hier 10. 135  Landesarchiv Baden-Württemberg, Abteilung Staatsarchiv Wertheim, Bestand G-Rep. 13a, Lade XVII, Nr.  57: http: /  / www.landesarchiv-bw.de / plink / ?f=7-154551.



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felslos der mediale Höhepunkt des Spiels und markiert auch den zentralen Moment seiner Ablasswirksamkeit. Die Kreuzigung stellt natürlich den Hauptakt der Erlösung dar und ist somit Grundlage des Fronleichnamsfests. Dass sie hier eine besondere Hervorhebung erfährt, muss nicht Wunder nehmen. Dennoch fällt bei der näheren Beschäftigung mit den Quellen auf, dass gerade dieser figura eine zeichenhafte Rollenverkörperung durch lebende Schauspieler fehlt. Während das Große Regiebuch für alle sonstigen tableaux die jeweilige Anzahl der nötigen Darsteller festhält,136 steht hier nach Angabe der zuständigen Innung der Krämer nur der lakonische Hinweis Eyn cruce uf gerichtt.137 Auch im Spieltext spricht der rector processionis lediglich davon, dass ›das Kreuz‹ aufgestellt worden ist: Das krewcze ist aufgericht. Wer das hewte ansicht, Der gedencke an dy martir groes Unnd seyn heiliges bluet, das do floes[.] Das tregt der prister in seyne hant. Dancken wir Iesu, dem rechten heylant.138

Wir haben es hier also eher mit einer Kreuzigungslacuna zu tun, wie wir sie aus dem Künzelsauer Fronleichnamsspiel kennen: Anstatt eines mimetischen Nachspielens der eigentlichen Todesmomente auf dem Golgatha inszenierte man hier offenbar ein spezifisches Ritualkreuz, das die Kreuzigung auch in anderen Gebrauchszusammenhängen stellvertretend repräsentierte. In Künzelsau war dies ein Kreuzreliquiar der dortigen Johanneskirche,139 und für Zerbst kommt zunächst eine ganze Reihe von vergleichbaren Andachtskreuzen in Frage. Kreuze im prozessionalen Zusammenhang sind uns schon in der Bittprozession des Jahres 1483 begegnet, wo signiferi crucis zum Zeichen der Bußfertigkeit den Zug anführten,140 136  Zum Kontrast sei hier der Eintrag des Großen Regiebuchs zur Rollenbesetzung der Auferstehungs-figura zitiert: Die uf erstentnisz Ihesu[s] mit eyner fahnen, eynem liebkleydt mit 5 wunden, desz sal bey dem grabe sein. 2 wolgeruste wepener und 2 engelle mit weiszen tuchern. Item 2 greber, darinnen 2 personen mit weiszen mutzen und mit gefalden henden. Neumann, Geistliches Schauspiel, 786, Nr. 3402. 137  Ibid. 138  Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, v. 283–288. 139  Glenn Ehrstine, »The True Cross in Künzelsau: Devotional Relics and the ›Absent‹ Crucifixion Scene of the Künzelsau Corpus Christi Play«, in: Cora Dietl, Christoph Schanze, Glenn Ehrstine (Hgg.), Power and Violence in Medieval and Early Modern Theater, Göttingen 2014, 73–104. 140  Primi signiferi crucis quarundam villarum et illorum de Ankun. Annales Anhaltini, hg. Wäschke, 5, Z. 18 f.

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und Reinhold Specht berichtet, dass im Spätmittelalter Kruzifixe vor den Toren der Stadt standen, an denen die Zerbster, die die Stadtmauer passierten, ihr Gebet verrichteten.141 Diesen Kreuzen fehlt allerdings ein eindeutiger Ablassbezug. In diesem Kontext kommt eher das Kritz in Frage, das der Magdeburger Dompropst im April 1510 zusammen mit einer Reliquie für die Zerbster Prozession ausgeliehen hat: Als mögliches Reliquienkreuz wäre es selbst ein Ablassmedium gewesen. Kreuzreliquiare waren jedoch in der Regel kleinere Altar- bzw. Vortragekreuze, die nicht eigens ›aufgerichtet‹ werden mussten. Das Kreuz, das auf solch aufwändige Weise in Zerbst inszeniert wurde, war offenbar lebensgroß. Nach einer Auswertung verfügbarer Quellen sprechen alle Indizien dafür, dass hier die Aufrichtung eines Gnadenkreuzes im Stile der Peraudi’schen Ablassverkündungen stattfand. Drei Hauptfaktoren sind hier ausschlaggebend. Der Zerbster Stadtrat hat erstens in seinem offenen Brief vom 17. Mai 1506 offensichtlich mit dem Namen Peraudis für den Besuch des Spiels geworben: Das Publikum durfte also seinerseits Anklänge an das Peraudi’sche Zeremoniell bei der örtlichen Verkündung des päpstlichen Ablasses im Jahre 1502 erwarten. Das Ablasskreuz war außerdem bezeugter Teil von Prozessionen um Peraudi: Bei seinem feierlichen Einzug in Bremen ritt der Kardinal direkt hinter dem Ablasskreuz, begleitet von den höchsten geistlichen und weltlichen Würdenträgern der Stadt,142 und es scheint auch Bestandteil der für Jubiläumsablässe vorgesehenen Eröffnungsprozession gewesen zu sein, bei der die Geistlichkeit eines Orts vor versammelter Bevölkerung von der Kirche, wo der Ablasskommissar die Beichtväter mit der Vollmacht zur Absolution und den zugehörigen weißen Stäbchen investierte, zu der Hauptkirche der Ablassverkündung zog, wo das Kreuz feierlich aufgestellt wurde.143 Die auffälli141  »Wenn der Ackerbürger der Stadt morgens und abends oder der reisende Kaufmann und die Fuhrleute aus der Stadt hinaus oder in die Stadt hineinfuhren, verrichteten sie ihr Gebet an den Kruzifixen vor den Toren, deren eines am Heidetor noch bis kurz nach 1500 erwähnt ist«. Specht, Geschichte der Stadt Zerbst, 153. 142  Röpcke, »Geld und Gewissen«, 57. 143  Chronikalische Berichte über die Eröffnungsprozession erwähnen das Ablasskreuz in der Regel erst bei seiner Aufrichtung im Kircheninneren. Schneider (Peraudi, 99) berichtet allerdings, dass die Ablasskommissare unter Peraudi die »heiligen Geräte«, die zu ihrem Geschäft nötig waren, vor der Prozession in der Kirche deponierten, von der aus die Prozession zur Hauptkirche zog, wo das Kreuz aufgestellt wurde. Volz (»Liturgie«, 116, Anm. 18) teilt mit, dass erst beim Petersablass von 1517 das Kreuz »bereits vor dem Eröffnungsgottesdienst aufgerichtet« wurde. Vgl. u. a. auch die zeitgenössischen Berichte über die Ablassverkündung der Jahre 1488– 90 aus Erfurt und Nürnberg: Memoriale thüringisch-erfurtische Chronik von Konrad Stolle, bearb. Richard Thiele, Halle 1900, 440 f.; Die Chroniken der deutschen



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ge Betonung der Aufrichtung eines Kreuzes im Spiel zeigt nicht zuletzt eindeutige Parallelen zur crux erecta der Peraudi’schen Ablasskampagnen.144 Selbstverständlich wird man nicht dasselbe Ablasskreuz mitgeführt haben wie bei der Zerbster Verkündung des Jubiläumsablasses von 1502. Vor allem die päpstlichen Fahnen, die vom Querbalken des Gnadenkreuzes herabhingen, werden gefehlt haben. Die sonstigen Attribute aber, die auf dem Holzschnitt zum Petersablass von 1517 zu sehen sind (Abb. 3), können durchaus die gleichen gewesen sein: über dem Hauptstamm eine Tafel mit der Inschrift INRI, darunter die Dornenkrone. Außerdem war das ganze Kreuz rot angestrichen als Zeichen des erlösenden Blutes des Salvators, und der rector des Spiels verweist in seiner Ermahnung an das Publikum, bei der Betrachtung des Kreuzes der Marter Christi zu gedenken, direkt auf seyn heiliges bluet, das do floes. Im Gegensatz zur Heiltumsweisung des Kreuzreliquiars im Künzelsauer Fronleichnamsspiel kommt es allerdings bei der Deutung dieser zentralen Szene weniger darauf an, welches Kreuz bei der ostensio figuralis in Zerbst ›gewiesen‹ wurde, als auf den Symbolgehalt dieser Weisung. Beim Peraudi’schen Ablasszeremoniell signalisierte die Aufrichtung des Kreuzes den Beginn der Ablassverfügbarkeit, und die liturgischen Anweisungen für die entsprechende Verkündung rekurrieren immer wieder auf dieses Zeichen.145 Aus demselben Grund trägt die figura der Kreuzigung im Großen Regiebuch den Titel Eyn cruce uf gerichtt: Es war der Akt der Kreuzaufrichtung, nicht der Gegenstand selbst, der den Augenblick der Ablasswirksamkeit im Spiel markierte. Als Teil der Fronleichnamsfeier sollte das Kreuz die Realpräsenz des Sakraments außerdem nicht ersetzen, sondern ergänzen. Der Hinweis des rector processionis zum Schluss der Kreuzigungsfigur, dass ein Priester das Blut bzw. den Körper Christi in seiner Hand hält, macht wahrscheinlich, dass eine Weisung des Sakraments unmittelbar nach der Aufrichtung des Kreuzes stattfand und dass das Publikum beide Zeichen des Erlösungsakts gleichzeitig nebeneinander wahrnehmen konnte. Der gekreuzigte Christus, der im Sakrament präsent, aber unsichtbar war, wurde auf diese Weise durch das aufgerichtete Kreuz vergegenwärtigt. Diese figura stellt somit das Pendant zur christusförmigen Beweihräucherung des Sakraments beim Eröffnungsgottesdienst in der Städte, hg. durch die Historische Commission bei der Königlichen Akademie des Wissenschaften, Leipzig 1874, Bd. 11, 554 f., 723–726. 144  Volz, »Liturgie«, 116, Anm. 18. 145  Vgl. u. a. Conveniant domini prelati, canonici, sacerdotes, religiosi cum scholaribus ad ecclesiam, in qua Crux veniet erigenda; Et in tercia inceptione elevent crucem totaliter et affigant trunco vel ciste; in ecclesia, in qua crux est erecta; Volz, »Liturgie«, 115, v. 4 f.; 116, v. 17 f.; 117, v. 24 f.

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Bartholomäikirche dar, bei dem ein Priester vor der ausgestellten Hostie den Umriss eines menschlichen Körpers mit dem Weihrauchfass nachzeichnete, um so die einzelnen Glieder des Herrn zu evozieren.146 Das offensichtliche Bestreben, den heilsspendenden Körper des Salvators auf möglichst anschauliche Weise zu vergegenwärtigen, schließt letztendlich die Möglichkeit ein, dass das im Spiel aufgerichtete Kreuz ein lebensgroßes Kruzifix war, mit einer Darstellung des leidenden Christus in effigie.147 Bei den zwei verschollenen Regiebüchern des Zerbster Fronleichnamsspiels, dem Kleinen und Mittleren Regiebuch, die eventuell aus späteren Auf­ führungen stammen, erscheint die figura der Aufrichtung als Jhesus cru­ cifixus,148 was eventuell für die Verbildlichung des Gekreuzigten spricht. Beim Aufrichtungszeremoniell späterer Ablassverkündungen konnte jedenfalls ein Kruzifix an die Stelle des Peraudi’schen Kreuzes treten, wie für Mainz und Augsburg bezeugt ist.149 Von der imaginativen Vergegenwärtigung des herabfließenden Blutes Christi, zu der der rector processionis bei der Betrachtung des aufgerichteten Kreuzes aufruft, ist es allerdings nur noch ein kleiner Schritt zu der Behauptung des Subkommissars Bartholomäus Kluge beim Tetzel’schen Petersablass von 1517, er habe mit eigenen Augen das Blut Christi am Ablasskreuz herabfließen sehen, wie uns Fürst Georg III., die führende Gestalt der anhaltischen Reformation und Verwandter von Fürst Magnus, als Kindheitserinnerung aus Dessau überliefert.150 Zerbst wurde wieder Schauplatz eines päpstlichen Ablassverkaufs, und Martin Luther berichtet 1541 in der Schrift Wider Hans Worst darüber, wie 1517 die Gläubigen aus Wittenberg, wo Kurfürst Friedrich der Weise den Ablass nicht gestattet hatte, nach Zerbst und Jüterbog zur Lösung der göttlichen Gnade gepilgert sind.151 Durch die Wiederaufrichtung des päpstlichen Ablasskreuzes Geistliches Schauspiel, 806 f., Nr. 3566. Einsatz von handelnden Kruzifixen im Gottesdienst vgl. Johannes Tripps, Das handelnde Bildwerk in der Gotik. Forschungen zu den Bedeutungsschichten und der Funktion des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Hoch- und Spätgotik, 2. Aufl., Berlin 2000, 122–185. 148  Zerbster Prozessionsspiel, hg. Reupke, 61, 63. 149  Volz, »Liturgie«, 116, Anm. 18; 119, Anm. 36; 120, Z. 6. 150  Becker, »Reformationsgeschichte«, 267; Specht, Geschichte der Stadt Zerbst, 179. Zu Georg siehe Achim Detmers, Ulla Jablonowski (Hgg.), 500 Jahre Georg III. Fürst und Christ in Anhalt (Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Landeskunde, Sonderband 2008), Köthen 2008. 151  Als nu viel Volcks von Wittemberg lieff dem Ablas nach gen Jüttterbock und Zerbest etc., Und ich (so war mich mein Herr Christus erlöset hat) nicht wuste, was das Ablas were, wie es denn kein mensch nicht wuste, fieng ich seuberlich an zu pre146  Neumann, 147  Zum



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vor Ort wird das Fronleichnamsspiel zunächst frischen Auftrieb bekommen haben, aber auch die vermeintlich erlösende Kraft des Peraudi’schen Kreuzes war Zielscheibe von Luthers Kritik, denn Tetzel hatte gepredigt: das Rote Ablas Creutz mit des Bapsts wapen, in den Kirchen auffgericht, were eben so krefftig, als das Creutz Christi.152 Es scheint somit kein Zufall zu sein, dass 1522, das letzte verzeichnete Aufführungsjahr des Spiels, gleichzeitig das Jahr ist, in dem Luther durch sein persönliches Auftreten in Zerbst half, den religiösen Umbruch in der Stadt einzuleiten.153 Der Reformator hatte schon 1519 in seinem Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi die affektive, mitleidende Teilnahme an der Passion Christi kritisiert, die sich u. a. in der Beweinung des Salvators äußerte,154 wie sie uns in den Tränen der Gläubigen vor dem Ablasskreuz in Halle begegnet ist. Die Kritik Luthers richtet sich hier allerdings nicht gegen eine angeblich passive Spielrezeption unter katholischen Zuschauern, wie oft zu lesen ist,155 sondern er argumentiert dafür, dass sich die durch Weinen bezeugte Teilnahme am Erlösungswerk Christi letztendlich in einer äußerlichen, oberflächlichen Haltung erschöpft. Die Einstellung des Fronleichnamsspiels und der affektiven Andacht vor dem aufgerichteten Ablasskreuz in Zerbst stellt somit einen der ersten Schritte auf dem Weg zu einer ›protestantischen Innerlichkeit‹ dar, bei der öffentlich gezeigte Emotionen keinen Platz mehr haben.156 In seiner ostentativen Theatralität war jedoch das Fronleichnamsspiel zu mächtig, um nur durch Luther ein Ende zu finden: Zu seiner wahren Blüte gelangte es erst als auto sacramental unter Pedro Calderón de la Barca in Spanien, und selbst in den protestantischen Regionen Deutschlands lassen sich seine Spuren weiterverfolgen.157 Vor der reformatorischen Zeitenwende allerdings liefert digen, man köndte wol bessers thun, das gewisser were, weder Ablass lösen. Martin Luther, »Wider Hans Worst«, in: WA, Bd. 51, 461–572, hier 539, Z. 4–8. 152  Ibid., 539, Z. 17 f. 153  Agnes-Almuth Griesbach, Wege zur Reformation. Luther, Melanchthon, Calvin und Zerbst, hg. Museum der Stadt Zerbst / Anhalt, Zerbst 2009, 18. 154  Martin Luther, »Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi«, in: WA, Bd. 2, 131–142, hier 136. 155  Barbara Könneker, » ›Wold ihrs den nicht schir gleuben do?‹ Joachim Greffs protestantisches Osterspiel«, Daphnis 23 (1994), 309–344, hier 315. 156  Vgl. Monique Scheer, »Protestantisch fühlen lernen: Überlegungen zur emo­ tionalen Praxis der Innerlichkeit«, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 15 (2012), 179–193; Karant-Nunn, Reformation of Feeling, 65. 157  Vgl. u. a. Kirsten Kramer, »Theatralität und Kosmologie. Variationen urbaner Raum- und Weltmodelle im spanischen Fronleichnamsspiel (Calderón)«, in: Elke Huwiler (Hg.), Das Theater des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit: Kulturelle Verhandlungen in einer Zeit des Wandels, Heidelberg 2015 [im Druck]; Hans Jürgen

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das Zerbster Fronleichnamsspiel ein unvergleichliches Beispiel dafür, wie der bald verfemte Ablass nicht nur als werbewirksame finanzielle Grundlage für eine multimediale ›Weisung‹ von lebenden Bildern fungierte, sondern auch eine aktive, emotionsbeladene Spielrezeption durch das Publikum förderte, die das Geistliche Spiel in den Augen der Zeitgenossen zur eigenständigen Quelle der Gnade werden ließ.

Scheuer, »Die Körper des Königs und der Leib des Herrn. Barockes Trauerspiel und mittelalterliches Fronleichnamsmysterium«, in: Claude Haas, Daniel Weidner (Hgg.), Benjamins Trauerspiel. Theorie – Lektüren – Nachleben (LiteraturForschung 25), Berlin 2014, 123–141; Ursula Röper, Hans Jürgen Scheuer, »Von Deutgeistern und anderen Versatzstücken. Das Nachleben des mittelalterlichen Fronleichnamsspiel im Heiligen Grab des Klosters Neuzelle«, Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 20 (2014 / 15) [im Druck].

Die Bedeutung von Teufelsfiguren in theatralen Aktivitäten und im Ordnungsdiskurs der Stadt Luzern Von Heidy Greco-Kaufmann Buchstäblich in des Teufels Küche gerät, wer sich auf die Erscheinungsformen des Teufels im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit einlässt. Enorm zahlreich und mannigfaltig sind die Phänomene, die in Wort und Bild überliefert und in einer kaum überblickbaren Fülle von Publikationen verschiedener Fachdisziplinen gedeutet sind. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit theatral agierenden Teufelsfiguren in Luzern im 15. und 16. Jahrhundert und fokussiert deren Rolle im Kontext des städtischen Ordnungsdiskurses.1 Basis der Untersuchungen bilden spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Quellen, die Aktivitäten von diabolischen Masken­ figuren im Rahmen von brauchtümlichen Handlungen dokumentieren, sowie die in den Luzerner Spieltexten aufgezeichneten Auftritte von ­Bühnenteufeln. Gefragt wird nach den ordnungsgefährdenden, bzw. -stabilisierenden Funktionen dieses Maskentypus’, der in unterschiedlichen Aktionsfeldern in Erscheinung tritt. I. Fastnacht und Brauchtumsteufel Fastnächtliches Treiben ist eine Herausforderung für die Hüter der städtischen Ordnung.2 Alljährlich wiederkehrende Ratsprotokolleinträge zeugen auch in der Stadt Luzern von der Brisanz der an den Kirchenka-

1  Dieser Beitrag entstand im Rahmen der Tagung Theater im Spannungsfeld zwischen Bedrohung und Ordnung im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, Tübingen, 12.–13. Dezember 2013. 2  Vgl. Klaus Ridder, Beatrice von Lüpke, Rebekka Nöcker, »From Festival to Revolt. Carnival Theater during the Late Middle Ages and Early Reformation as a Threat to Urban Order«, in: Cora Dietl, Christoph Schanze, Glenn Ehrstine (Hgg.), Power and Violence in Medieval and Early Modern Theater, Göttingen 2014, 153– 167.

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lender gebundenen Festlichkeit. Verbote, Mandate und Kriminalakten sind denn auch mit Abstand die wichtigsten Quellen, die uns Auskunft geben über brauchtümliche Praktiken, die in der breiteren Bevölkerung gepflegt wurden. Über das wilde goukelwäsen sind wir nur ex negativo unterrichtet.3 Direkte Zeugnisse von Akteuren und Zuschauern sind nur in Ausnahmefällen (etwa in den Verhörprotokollen) vorhanden; in der Regel vermitteln die vorhandenen Quellen nur die Sicht der Obrigkeit. Vorreformatorische Chroniken aus der Eidgenossenschaft überliefern zwar auch positive, ja gar enthusiastische Berichte über Fastnachtsfeiern, doch dabei handelt es sich meist um Schilderungen fastnächtlicher Treffen zwischen verbündeten Orten, die von den herrschenden Eliten gezielt inszeniert wurden, um den Zusammenhalt zu stärken sowie politische und ökonomische Ziele zu verfolgen. Im Zentrum solcher ›Fastnachten‹ standen Gelage, Tanz und wohl organisierte Auftritte von Symbolfiguren (Masken). Teufelsfiguren traten in den obrigkeitlich organisierten Fastnachtsfesten jedoch nicht in Erscheinung.4 Was nun die Aufführung literarischer Schauspiele – zur Fastnachtszeit und in der Osterwoche – anbelangt, so wurden diese auf Geheiss des Rats verfasst und aufgeführt. Auftraggeber, Autoren und Ausführende stammten aus der gesellschaftlichen Oberschicht. Die Schauspiele dienten den führenden patrizischen Familien vor allem der Repräsentation und der Kommunikation religions- und gesellschaftspolitisch motivierter Anliegen. Was die spätmittelalterliche Fastnacht betrifft, so ist auf einige Spezifika hinzuweisen, die sich aus der systematischen Durchforstung von Luzerner Archivalien ergeben haben und die gerade im Hinblick auf das Auftreten von Teufelsfiguren relevant sind.5 In Umgeldbüchern, d. h. Wochenrechnungen, sind Ausgaben mit dem Vermerk ›Fastnacht‹ für das ganze Win3  Die Bezeichnung wildes goukelwäsen taucht mit schöner Regelmäßigkeit im amtlichen Schrifttum des 15. und 16. Jahrhunderts auf. Darunter wurde eine breite Palette von volkskulturellen Praktiken wie Rüge- und Heischebräuche oder das unkontrollierte Maskenlaufen, subsummiert. 4  »Fastnachtsbesuche« bei Leo Zehnder, Volkskundliches in der älteren Chronistik, (Schriften der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde 60), Basel 1976. 5  Im Rahmen meines Forschungsprojekts zur Theatergeschichte der Stadt Luzern wurden die Luzerner Archivalien des Spätmittelalters bis ca. 1650 systematisch nach Belegen theatraler Phänomene abgesucht. Die folgenden Ausführungen gründen auf der sehr reichhaltigen Ausbeute an unterschiedlichsten Zeugnissen zu Fastnacht und Maskenwesen. Vgl. Stichwort »Fastnacht« in: Heidy Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes, Vfferbuwung dess mentschen vnd der Statt Lucern lob. Theater und szenische Vorgänge in der Stadt Luzern im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Quellenedition und historischer Abriss (Theatrum Helveticum 11), 2 Bde., Zürich 2009, hier Bd. 2, auch CD mit Suchfunktion.



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terhalbjahr belegt. Ratsprotokollen entnehmen wir Klagen der Stadtväter über ungestümes Maskentreiben im Advent und um die Weihnachts- und Neujahrszeit.6 Die von den üblichen Terminen abweichenden Belege für fastnächtliche Aktivitäten – es handelt sich zum einen um volkskulturelle Handlungen, zum andern um ökonomisch-politisch motivierte gegenseitige Fastnachtsbesuche der Eliten befreundeter Städte – lassen sich unter anderem damit erklären, dass der Ausdruck ›Fastnacht‹ im Spätmittelalter ein viel breiteres semantisches Spektrum umfasste als heute. Fastnacht bezog sich nicht ausschließlich auf Festlichkeiten, die der vorösterlichen Fastenzeit vorausgingen, sondern bedeutete ganz allgemein fröhliches Zusammensein, zu dem üppige Tafelfreuden, reichlicher Weingenuss, Musik, Tanz und Unterhaltung gehörten. Erst im Laufe des 16. Jahrhunderts und im Zuge der zunehmenden Reglementierung des Festwesens verengte sich die Bedeutung auf die Aktivitäten an den Brauchtumsterminen vor der Fastenzeit. Gemäß Kirchenkalender konnte die närrische Zeit zwar schon mit dem Ende des Weihnachtsfestkreises, am 6. Januar, anheben, doch als ›eigentliche‹ Fastnachtstage wurden auch in den ältesten Luzerner Quellen meist der Sonntag nach Estomihi und der darauf folgende Sonntag Invocavit (auch Dominica Quadragesima) genannt. Am Sonntag Estomihi, unmittelbar vor dem Aschermittwoch, wurde die Herren- oder Pfaffenfastnacht gefeiert, ein Fastnachtstermin, der mit der Zinsabgabe an Klöster und Pfarrhöfe zusammenhing. Der Sonntag Invocavit, der erste Fastensonntag nach dem Aschermittwoch, wurde als ›alte Fastnacht‹ oder ›Bauernfastnacht‹ bezeichnet. Den Aufzeichnungen des Stadtschreibers Renward Cysat entnehmen wir, dass spätestens in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch zusätzlich zu den oben genannten Fastnachtssonntagen weitere feste Fastnachtstage regelmäßig begangen wurden: Der Aschermittwoch, eigentlich der Beginn der Fastenzeit, der darauf folgende Hirsmontag (nach dem ersten Fastensonntag) sowie der heute noch in Luzern als Fastnachtsauftakt gefeierte ›schmutzige‹ (fette) Donnerstag. Der Sammler und Polyhistor Renward Cysat berichtet in seinen Collectanea pro Chronica Lucernensi et Helvetiae ausführlich über das Brauchtum seiner Heimatstadt und hält fest, dass im Jahre 1580 der in der Fastenzeit 6  Wildes fastnächtliches Treiben zur Winterszeit ist auch in anderen Städten der alten Eidgenossenschaft nachgewiesen. Besonders aufschlussreich ist der Basler Ratserlass aus dem Jahr 1418: So ist ouch ein nüwe gewonheit hie ufferstanden, daz man im atvent anfaht in Bökenwise zue gonde und erber lüte zu überfallende in iren hüsern, davon dik gebrest ufferstanden ist und noch tuon möchte. Darumb so hand Rat und meyster erkent, üch geheissen sagen und gebieten, daz nyemand me von disshin in Böken wise gon sol, untz uff der pfaffenvasnacht nehst komend. Zit. nach Eduard Hoffmann-Krayer, Kleine Schriften zur Volkskunde, hg. Paul Geiger, Basel 1946, 42.

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liegende Hirsmontag als Fastnachtstermin aufgehoben und das fassnacht wäsen […] vff den letsten tag der fassnacht, die junge fassnacht genannt, gelegt wurde.7 Dieser letzte Tag der ›jungen Fastnacht‹ entspricht dem heutigen ›Güdisdienstag‹ (›verschwenderischer‹ Dienstag). Die Bezeichnung ›Güdismontag‹ für die ›junge Fastnacht‹ wird in einer Quelle von 1599 erwähnt.8 Die je mit den verschiedenen Fastnachtsterminen verbundenen gesellschaftlich bedeutungsvollen Ereignisse wie Zinsabgabe, Markt, Gerichtstag, politische Zusammenkünfte sowie brauchtümliche Gepflogenheiten modellierten die Festlichkeiten. Im Laufe der Zeit änderten sich Bedeutung, Termine und Gestalt der Fastnacht. Mit dem Kontext änderte sich jeweils auch der Bezugsrahmen des Auftretens von Teufelsfiguren. Der älteste Luzerner Beleg, in dem explizit von Teufelsfiguren die Rede ist, entstammt einem Ratsprotokoll aus dem Jahr 1402. Uoli Lütishofen, Hans Kramer, Peter Scherer, sint Wernhers Kellers wibe in iren zins gelüffen in tüfels wise, vnd hant ir mit iren knütlen an ir kisten vnd kasten geslagen vnd sprachen si hett irem man verborgen daz er bi ir kintzlege.9

Beim dokumentierten Vorkommnis scheint es sich um ein klassisches Beispiel eines Rügebrauchs, eines Charivaris, gehandelt zu haben. Das mit Prügeln bewaffnete Männertrio drang in das zinspflichtige Gut einer Frau ein, richtete Sachbeschädigungen an und verbreitete Angst und Schrecken. Als Grund für die von wüstem Lärm begleitete Aktion gaben die selbst ernannten Sittenwächter an, dass die Frau ihrem Mann verborgen habe, dass er bei ihr kintz lege (›als Kind liege‹). Der Vorwurf kann sich nur auf den großen Altersunterschied des Paares bezogen haben. Vermutlich war die Frau eine vermögende Witwe, die einen wesentlich jüngeren Mann geheiratet hatte. Uns interessiert nun die Aussage, dass die Männer in tüfels wise aufgetreten seien. Bedeutet dies, dass bei diesem Überfall ein Teufelskostüm getragen wurde? Schlüpften die Akteure bewusst in die Haut des Teufels, um der Frau vorzuführen, dass ihr Verstoß gegen die gesellschaftlichen Normen die höllischen Mächte heraufbeschworen hatte? Schließlich stellt 7  Renward Cysat, Collectanea Chronica und denkwürdige Sachen pro Chronica Lucernensi et Helvetiae, bearb. Josef Schmid, Bd. 1 (3 Teile), Bd. 2 (2 Teile) und Glossar (Quellen und Forschungen zur Kulturgeschichte von Luzern und der Innerschweiz 4 / 1, 4 / 2, 4 / 3, 5 / 1, 5 / 2, 9), Luzern 1961, 1969, 1972, 1977, hier Bd. 1, Teil 2, 724. 8  Cysat, Collectanea I / 2, 724 f. 9  Staatsarchiv Luzern, RP 1, fol. 208v.



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sich die Frage, wie sich die Obrigkeit zu dieser Strafaktion stellte. Aus dem Ratsprotokoll-Eintrag geht nicht hervor, ob die Handlungsweise der Eindringlinge ›in der Weise des Teufels‹ als verwerflich betrachtet und die Männer für den Überfall zur Rechenschaft gezogen wurden. Dies lässt sich allerdings vermuten, denn in einem anderen Ratsprotokolleintrag des Jahres 1402 finden wir einen weiteren Beleg eines ›Überlaufens‹, einer Heimsuchung: Her Henman von Buttikon Wilhelm Meyer und Wilhelm von Stans10

}

Luffent an der vasenacht in böggen wise über das, so es bi eim phunde verbotten was

Diesem Beleg entnehmen wir, dass das gewaltsame Eindringen in das fremde Haus in böggen wise, also verkleidet, erfolgte. Welcher Art die Verkleidung war und ob Gesichtsmasken getragen wurden, erfahren wir nicht. Hingegen geht klar hervor, dass es sich bei diesem Vorfall nicht um eine singuläre Tat handelt, sondern um ein offenbar seit längerem bekanntes Phänomen, das die Obrigkeit mit einem Vermummungsverbot ausmerzen wollte. Die Geldstrafe für fastnächtliches ›Verbutzen‹ und ›Überlaufen‹ figurierte mit einem festen Betrag im Bussenkatalog. 10

Aus einer dritten Quelle, einer Satzung aus dem Jahr 1417, schließen wir, dass dem Treiben der Maskenläufer durch Verbot und Geldstrafen nicht beizukommen war. Schabernack, Übergriffe und Gewalttaten schienen sich gehäuft zu haben, so dass der Rat sich genötigt sah, die Bekämpfung des Übels zu intensivieren und die Strafen drastisch zu verschärfen: Von böggen. Unser herren ret hant gesetzet und sint überein komen: Wer in des tüfels wis oder in böggen wis gat, nemlich wer sin antlit vermacht, anders denn er ze kilchen und an der strass gat, über unser herren gebott, was dem beschicht, er werd geslagen oder gestochen, dem will man nüt richten. Tete aber er ieman üt, da wölt man ab im richten strenklich, wannt nu dem lermeister also gericht ist gegen Toman und Hensli Phister. Actum 4a ante Laurentij anno mccccxvijo. Ret und hundert sint überein kon und hant ein offen rueff getan, dz niemannt in böggen wis noch in andren kleidren gan sol noch sin antlit vermachen sol, 10  Zit. aus Konrad Wanner, Die Rechtsquellen des Kantons Luzern, Erster Teil: Stadtrechte, Bd. 1: Stadt und Territorialstaat Luzern, Satzungen und andere normative Quellen (bis 1425); Bd. 2: Stadt und Territorialstaat Luzern, Satzungen, Eidbuch, Stadtrechtbuch und andere normative Quellen (1461–1489) (Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, III. Abteilung: Die Rechtsquellen des Kantons Luzern), Aarau 1998, Basel 2004, 2005, hier Teil I, Bd. 2, 249 [Ratsprotokoll].

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denn alz einr ze kilchen und ze mergt gat, bi j lib., alz dik es beschicht. Und dz sont ret und hundert und die weibel leiden by iren eidenn dem schriber. Diss hand min herren ernüwert 6a ante Purificationem anno etc. 1429.11

Die Unterscheidung zwischen tüfels wis und böggen wis verrät, dass neben der nicht näher beschriebenen Butzenverkleidung tatsächlich Teufelskostüme getragen wurden, auch mit Gesichtsmasken. Wer das auf der Kanzel verkündete Vermummungsverbot missachtete, musste mit einschneidenden Sanktionen rechnen. Die Satzung erklärt Vermummte für rechtlos, das heißt, man konnte sie ungestraft verletzen oder gar töten. Umgekehrt wurden Maskenläufer aber für die Übertretung des Vermummungsverbots gebüßt und ihre Untaten mit drakonischen Strafen geahndet. Wie rigoros die städtische Obrigkeit das Maskierungsverbot durchsetzen wollte, lässt sich an der Verpflichtung der Ratsangehörigen, Verstöße dem Stadtschreiber zu melden, ablesen. Nichtsdestotrotz rissen die Klagen über das wilde goukelwäsen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts nicht ab. Die Maskenläufer, insbesondere die diabolischen Schreckgestalten, stellten eine Bedrohung der Ordnung des Gemeinwesens dar. Die ausführlichsten Schilderungen der Phänomene verdanken wir Renward Cysat, der in Luzern ab 1570 bis zu seinem Tod 1614 als Archivar, Stadtschreiber, Verfasser und Regent der Weinmarktspiele wirkte.12 In seinen Collectanea pro Chronica Lucernensi et Helvetiae finden wir eine Fülle an farbig-plastischen Schilderungen von Sitten und Bräuchen, die Cysat als Zeitzeuge miterlebt hatte, zum Teil aber auch nur vom Hörensagen her kannte. In Bezug auf das Auftreten von Schreck- oder Teufelsgestalten sind die Aufzeichnungen über die Bolsternächte, das Sträggele- und PfaffenkellerinJagen von Belang. Über diese ›uralte Gewohnheit‹, die angeblich im Jahr 1578 abgestellt vnd ewig verbotten worden war,13 berichtet er, dass in den drei Donnerstagsnächten vor Weihnachten jeweils ein fürchterlicher Lärm und ein ungestümes Poltern geherrscht habe. In diesen Bolsternächten (d. h. Polternächte) habe man die Sträggele oder Stäggele gejagt. Die von Cysat aufgezeichneten Sagen rund um diese weibliche Schreckgestalt, die als Hexe mit glühenden Augen und struppigen Haaren beschrieben wird, sind variantenreich und widersprüchlich. Sie galt als Gefährtin des Türst, des höllischen oder tüfflischen Anführers des Wuotisheers. Der Sage nach handelte es sich bei diesem Wuotisheer oder Guotisheer um nächtliche Gespenstererscheinungen, um die Seelen vorzeitig Verstorbener, die in Sturmwinden daher brausten, die Leute erschreckten, Vieh vertrieben und Rechtsquellen I / 1, 248 [Ratsprotokoll]. Renward«, in: Verfasserlexikon. Frühe Neuzeit in Deutschland 1520– 1620, 14 Bde., Berlin 2012, Bd. 2, Sp. 85–92. 13  Cysat, Collectanea I / 2, 715 / 1098. 11  Wanner, 12  »Cysat,



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Schaden anrichteten, die Menschen aber auch mit wundersamer Musik verzauberten. In einzelnen Versionen wird der Sträggele die Entführung und Tötung unfolgsamer Kinder angelastet. Zu einem unbestimmten Zeitpunkt im 16. Jahrhundert wurde die Sträggele auch Grosskellerin oder Pfaffengäleren genannt. Auch wenn das wilde Treiben in den Bolsternächten im 15. / 16. Jahrhundert nur in vagen Umrissen fassbar ist, so kann man sich doch ausmalen, dass eine Horde vermummter Gestalten mit Getöse durch die Gassen jagte, um die Sträggele zu vertreiben. Einzelne Auswüchse sind jedoch aktenkundig geworden und werfen Schlaglichter auf konkrete Erscheinungsweisen des Brauchs. 1555 beschäftigte sich der Luzerner Rat an zwei Sitzungen mit einem Streitfall zwischen einem Angehörigen des Stifts im Hof und jungen Burgerssöhnen.14 Diesen wurde vorgeworfen, sie hätten in der Bolsternacht die Pfaffenkellerin gejagt. Im Laufe der Verhöre stellte sich heraus, dass ein Geistlicher während des Sträggele-Jagens ein metz mit jm gefüertt vnd morndes mess ghan.15 Die jungen Männer, provoziert durch das öffentliche Auftreten des Klerikers mit seiner Haushälterin, hatten den traditionellen Brauch kurzerhand zum Pfaffenkellerin-Jagen umfunktioniert. Der Luzerner Rat, der anfänglich versucht hatte, zwischen den Parteien zu vermitteln, erteilte nach Kenntnis des Sachverhalts dem Geistlichen einen strengen Verweis. Aber auch die Brauchtumsträger wurden ermahnt, das narren jagen künftig den jungen knaben zu überlassen. Es ist offensichtlich, dass die Obrigkeit sich um die Sicherung von Ordnung und Anstand bemühte: die Missachtung des Zölibats und das sittenwidrige Verhalten des Geistlichen wollte sie ebenso wenig dulden wie die selbstherrlichen Straf- und Spottaktionen der jungen Burger. Jn tüfelswys auftretende Gesellen beschäftigten den Rat aber weiterhin. Ein besonders krasser Fall ereignete sich gemäß Turmbuch-Aufzeichnungen am St. Nikolaus-Tag im Jahr 1571.16 Den Verhörprotokollen lässt sich entnehmen, dass eine Bande junger Männer aus einem Luzerner Vorort das wilde Heer nachgeahmt und etlichen Leuten das Vieh weggetrieben und verwechselt hatte. Am schlimmsten vergriffen sie sich an den Tieren des Pfarrers: Seine Rindviecher jagten sie aus dem Stall, und seinem Pferd schnitten sie den Schwanz ab. Die Untaten geschahen während des Gottesdienstes, den der Geistliche abhielt! Im Verhör gab einer der Beteiligten an, dass der Pfarrer die Kirchgänger mit extra langen Predigten piesacke, so dass viele aus der Kirche laufen würden und sich ein gspött drus machend wenn der herr 14  Staatsarchiv

Luzern, RP 22, fol. 205r / 206v. Hure mit ihm geführt und am folgenden Tag Messe gehalten.‹ 16  Staatsarchiv Luzern, COD 4445, fol. 33r–36v. 15  ›Eine

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prediget. Dem Priester war also wegen seiner als unangemessen empfundenen Amtsführung ein Denkzettel verpasst worden. Dieselben Akteure, die den Tierbesitzern im Rahmen des Sträggele-Brauchs Schaden zugefügt hatten, zettelten gemäß Verhörprotokoll in der Ablasswoche, der Woche vor Ostern, eine Jagd auf die Pfaffenkellerin an. Den Ausgang nahm das gegen die Konkubine des Küsters gerichtete Schmähritual bei einer Kindbettfeier in einem Wirtshaus. Der Wirt gab zu Protokoll, dass besagte Burschen die Gesellschaft aufgefordert hätten, die Pfaffenkellerin zu jagen, denn diese beute sie aus. Zu fünft seien sie dann lärmend durch das Dorf gezogen, und zwei von ihnen hätten auch mit der Büchse geschossen. Bei aller Disparatheit der szenischen Vorgänge, an denen diabolischdämonische Schreckgestalten beteiligt waren, lassen sich gemeinsame Züge erkennen. In allen Fällen handelte es sich um Varianten von Rügebräuchen. Die Aktionen der Brauchtumsteufel richteten sich immer gegen normen- und sittenwidriges Verhalten. Sie treten als strafende und rächende Instanzen auf; ihr Tun zielt letztlich auf die Wiederherstellung der durch Transgression verletzten Ordnung. Dies trifft auch im Fall des Sträggele-Jagens zu: Die im Geister- und Totenreich beheimatete weibliche Sagengestalt bedroht durch ihre Übergriffe das von den Menschen gesetzte Ordnungsgefüge. Die rituelle Vertreibung der Sträggele diente der Bannung numinoser Kräfte, der Schadenabwehr und Sicherung irdischer Machtverhältnisse. Dabei wurde der imaginierten Schimäre aus dem Jenseits durch in tüfelshüten gekleidete Maskenläufer aus dem Diesseits der Garaus gemacht. Lärm und Getöse halfen mit, die Macht des bösen Prinzips zu brechen. Diesem Vorgehen liegt der in dem mosaischen Gesetz (›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹) formulierte und im Volksempfinden tief verwurzelte Rechtsgrundsatz zugrunde, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Die ideellen Wurzeln des in Kostümierung und Gebaren herbeizitierten Teufels lassen sich aber weniger der religiös-kirchlichen Sphäre als vielmehr dem Kosmos der lokalen Sagen- und Mythenwelt zuordnen. Dass die Autoritäten gegen die Aktivitäten der Brauchtumsteufel einschritten, ist – zumindest in vorreformatorischer Zeit – aber nicht primär deren nichtchristlichen Bezügen geschuldet, sondern dem Umstand, dass sie die städtische Ordnung gefährdeten. Die Teufelsfiguren verbreiteten Chaos, Angst und Schrecken. Durch ihre Beteiligung an Formen der Volksjustiz konkurrierten sie mit dem Rechtssystem der regierenden Eliten. Im Zug der tridentinischen Reformbemühungen gerieten nicht nur die ordnungsgefährdenden Auswüchse volkskultureller Praktiken ins Visier der Obrigkeit, sondern auch die Tatsache, dass die Bräuche in religiös markierten Zeiten, beispielsweise im Advent, in den Raunächten um die Weihnachts- und Neujahrszeit, ausgeübt wurden. Mit der terminlichen



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Verlagerung auf die Fastnachtszeit, der zeitlichen Beschränkung auf drei Tage, dem Verbot des Maskentragens und dem allmählichen Ersatz der Brauchhandlungen durch militärisch organisierte Umzüge zähmte man das wilde goukelwäsen und band es in das durch konsequent umgesetzte Herrschaftsverdichtung erzeugte straffe Ordnungssystem ein. II. Teufelsfiguren in den literarischen Spielen Die Stadt Luzern, Vorort der altgläubig gebliebenen Innerschweiz, darf mit Fug und Recht als die Theaterhochburg der alten Eidgenossenschaft bezeichnet werden. 1453 bis 1616 fanden in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen Aufführungen des Luzerner Osterspiels statt. Das anfänglich nur wenige Stunden dauernde Auferstehungsspiel wurde um 1470 zum Passionsspiel erweitert – überliefert im sogenannten Donaueschinger Spieltext – und im 16. Jahrhundert zu einem 24-stündigen Heilsdrama, das die wichtigsten Stationen der Heilsgeschichte umfasst, ausgestaltet. An den traditionellen Spieltagen, am Dienstag und Mittwoch nach Ostern, wurden auch weitere religiöse Spiele, Hans Salats Verlorener Sohn17 1533, Zacharias Bletz’ Antichrist- und Weltgerichtsspiel18 1549, aufgeführt. In den Jahren zwischen den großen religiösen ›Staatsschauspielen‹ wurden Fastnachtsspiele inszeniert. Verfasser, Bearbeiter und Spielleiter waren jeweils die Stadtschreiber; die Darsteller gehörten den führenden Familien an. Ab 1579 institutionalisierten die Jesuiten ihren lateinischen Spielbetrieb; ab 1585 führte Jakob Wilhelmi, Lehrer an der Stiftsschule im Hof, volkssprachliche Heiligenspiele auf. In den Spielen mit vornehmlich religiösem Inhalt gehören Teufelsfiguren zum Standardpersonal. Während sie in den Luzerner Passionsspielauf17  Hans Salat, »Der verlorene Sohn (1537). Aufgrund des Erstdruckes von 1537 herausgegeben, erläutert und kommentiert von Robert Schläpfer«, in: Fünf Komö­ dien des 16. Jahrhunderts (Schweizer Texte 10), hg. Walter Haas u. Martin Stern in Zusammenarbeit mit Robert Schläpfer u. Hans Wuhrmann, Bern 1989, 61–181. 18  Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Ms. 169 II fol.  /  Ms. 169 III A fol. / Ms. 169 I fol. / Ms. 169 III fol. Die auf zwei Spieltage berechnete Aufführung beinhaltet ein Antichrist- und Weltgerichtsspiel. Die mehrere Spieltexte, Personenverzeichnisse und diverse Regiematerialien umfassende Überlieferung ist sehr umfangreich und kompliziert. Vgl. Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes, 625 ff. Teileditionen: Die deutschen Weltgerichtsspiele des Mittelalters und der Reformationszeit. Nebst dem Abdruck des Luzerner »Antichrist« von 1549, hg. Karl Reuschel, Leipzig 1906, 209–320; Renward Brandstetter, »Heiligenspiele«, ASNS, hg. Ludwig Herrrig, Bd. 74 (1885), 69–82; Renward Brandstetter, »Die Technik der Luzerner Heiligenspiele« ASNS, hg. Ludwig Herrig, Bd. 75 (1886), 383–418.

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führungen schon um die Mitte des 15. Jahrhunderts relativ prominent in Szene gesetzt werden, treten sie in den Fastnachtsspielen erst relativ spät auf: Als nicht näher charakterisierte Schreckgestalten im Narrenfresser19 von Zacharias Bletz um 1550, explizit als Teufel aber erst in Renward Cysats Tragicocomedi20 von 1593. Doch zurück zu den Aufführungen der Osterzeit. Im ältesten erhalten gebliebenen Textzeugnis des Osterspiels, der um 1470 entstandenen ›Donaueschinger‹ Abschrift des Luzerner Urtexts, treten Bühnenteufel in vier Szenen auf: Der Versuchung Christi (v. 393–439), der Höllenfahrt Christi (v. 3908 ff.), dem Selbstmord des Judas (v. 2422 ff.) und als Einflüsterer der träumenden Frau des Pilatus (v. 2976b-d).21 Der unmittelbar auf die Auferstehungsszene folgende Descensus ad inferos gehört dem ältesten, 1453 aufgeführten Szenenbestand an.22 Auf die Aufforderung des Auferstandenen, die Höllentore zu öffnen, machent die tüffel ein wild gefert in der hell (v. 3912 f.), und nachdem sich der Erlöser gewaltsam Einlass verschafft hat, steigert sich ihr Protest zu einem wilden geschrey (v. 3930 f.). Eine kurze Sprechrolle kommt nur dem Oberteufel Lucifer zu. Er wird vom Salvator in Ketten gelegt; die übrigen Teufel brüelend (v. 3930 f.). In der Szene des Selbstmords des Judas, die ab 1470 zum festen Bestand des Passionsspiels gehörte, fesselt Beltzeback der tüffel (v. 2429 f.) den Verräter und zieht ihn am Strick eine Leiter hinauf. Anschließend befestigt er ihn mittels eines Hakens am bis zur Hölle gespannten Seil und setzt sich hinter ihn auf einen hölzernen Knüppel. Zu zweit rasen sie, am Boden begleitet vom Teufel Fäderwusch, dem Höllenmaul zu. Lucifer bindet Judas vom Seil los und verheißt ihm frohlockend ein ewiges Bad in Schwefel, Pech und heißem Feuer. Die Teufelsknechte tragen ihn in ihr Reich. Mit wilden Gebärden und schauerlichem Lärm evozieren die Teufel das Bild einer infernalischen Konfusion. Indem der Auferstandene die Pforten 19  Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Ms. 166 fol. Das Spiel ist nicht ediert, auszugsweise Veröffentlichung durch Renward Brandstetter, »Über Luzerner Fastnachtspiele«, ZfdPh 17 (1885), 421–431. Eine Transkription in Form eines Typoskripts, erstellt 1997 durch Linus Spuler, ist in der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern vorhanden. 20  Heidy Greco-Kaufmann, Spiegel des vberflusses vnd missbruchs. Renward Cysats »Convivii Process«. Kommentierte Erstausgabe der Tragicocomedi von 1593, hg. Andreas Kotte, Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern (Theatrum Helveticum 8), Zürich 2001. 21  Das Donaueschinger Passionsspiel. Nach der Handschrift mit Einleitung und Kommentar neu hg. Anthonius H. Touber, Stuttgart 1985. 22  Vgl. Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes, 163 ff.



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der Hölle zerstört und die Vorväter befreit, triumphiert er über das Chaos und das Böse und stellt die göttliche Ordnung wieder her. Durch seine Erlösungstat hat Christus die Macht der Teufel gebrochen – dies die anschaulich vorgeführte Botschaft an die Zuschauer. Auch in den Szenen der zum Passionsspiel erweiterten Fassung (ab 1470) werden die Teufel in die Schranken gewiesen. Die Bemühungen Luzifers, Christus in Versuchung zu führen, scheitern. Der Salvator weist ihn mit Worten zurecht und stößt ihn von sich. So bleibt dem Höllenfürsten nichts anderes übrig, als sich in sein Reich zurückzuziehen und den Engeln den Platz zu überlassen (v. 411 ff.). Auch die Einflüsterungen des Teufels Brendly, der im Traum die Frau des Pilatus von der Unschuld Christi überzeugen und damit die Erlösungstat verhindern will, erweisen sich als wirkungslos und vermögen den göttlichen Heilsplan nicht außer Kraft zu setzen (v. 2976). Die in der JudasSzene agierenden Teufel wiederum erweisen sich als Handlanger Gottes, die den Verräter und Selbstmörder seiner gerechten Strafe zuführen.23 An der Konzeption der Bühnenteufel als furchterregende lärmende Ge­ sellen, letztlich aber machtlose Diener Gottes, die durch ihr Wirken das göttliche Ordnungssystem stabilisieren, ändert sich bei späteren Überarbeitungen des Luzerner Osterspiels nichts Wesentliches bis 1545.24 In der Spieltextbearbeitung durch Zacharias Bletz vermehren sich die Teufels­ auftritte beträchtlich, und Teufel tauchen nun auch in Episoden auf, in denen ihnen kein heilsgeschichtlich begründeter Part zukommt. In der Rolle der Beobachter erklären und kommentieren sie das Geschehen und deuten es im Hinblick auf die jenseitigen Konsequenzen. In der Magdalena-Historie beispielsweise betrachten die Teufel Bürstlin und Glissglass das frivole Treiben der Sünderin, und Bürstlin frohlockt: 23  Zur Bedeutung dieser Szene vgl. Werner Röcke, »Maria Magdalena und Judas Ischarioth. Das Alsfelder Passionsspiel und die Erlauer Spiele als Experimentierfelder des Bösen und soziokultureller Standards im Spätmittelalter«, in: Ingrid Kasten, Erika Fischer-Lichte (Hgg.), Transformationen des Religiösen und Textualität im geistlichen Spiel, Berlin 2007, 80–96, hier 91 ff. 24  Der Text des Luzerner Osterspiels ist für keine einzige Aufführung vollständig überliefert. Auf der Basis des Donaueschinger Spieltextes (Fassung um 1470), den überlieferten Regiematerialien und Aufführungszeugnissen sowie den acht vorhandenen Textfragmenten aus den Jahren 1545, 1571, 1583, 1597, 1616 lässt sich aber ein guter Überblick über das Spielgeschehen und die Veränderungen durch die verschiedenen Bearbeiter gewinnen. Vgl. Blakemore M. Evans, Das Osterspiel von Luzern. Eine historisch-kritische Einleitung. Übersetzung des englischen Originaltextes von Paul Hagmann (Schweizer Theater-Jahrbuch XXVII der schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur, hg. Edmund Stadler), Bern 1961. Die Texte des 16. und 17. Jahrhunderts sind herausgegeben durch Heinz Wyss: Das Luzerner Osterspiel, 3 Bde., Bern 1967.

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[…] Diss völcklin ist vns vsserwellt Sy achttend wenig an der statt Dess gebott, der sy beschaffen hatt Darumb wends ouch in vnser pyn Vnd ewig vnser gnossen syn, Wann essen, trincken, Tantzen, singen Vppigkeit vnd bossheitt vollbringen Das ist ir läben, das sy tryben Wir wends nun allso lassen bliben.25

Mit der Einführung von Kirchenlehrer-Figuren in der Aufführung von 1538 hatte zwar schon Bletz’ Vorgänger Hans Salat begonnen, die biblischen Historien in expliziter Weise für paränetische Zwecke zu funktionalisieren, doch durch die körperliche Anwesenheit der Teufel und die Kommentare aus ihrem Mund gewinnt die Didaktisierung der in Szene gesetzten Heilsgeschichte neue Dimensionen. Die Folgen von Verstössen gegen die Gebote Gottes und (die Mandate der Obrigkeit!) werden nun nicht nur gepredigt, sondern durch die physische Präsenz der furchterregenden Gesellen direkt vor Augen geführt. Die biblischen Episoden werden im Laufe der verschiedenen Bearbeitungen immer ausführlicher mit lebensnahen Einzelheiten ausgeschmückt und immer konkreter in der städtischen Realität verankert; die Vermittlung heilsgeschichtlicher Inhalte wird zunehmend überlagert durch die Propaganda bürgerlicher Normen und Werte. Diese Tendenz verstärkte sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und erreichte in den Aufführungen unter der Regenz von Renward Cysat einen Höhepunkt. In seinen Denkpunkten zur Aufführung von 1597 notierte Cysat: Ob die Tüffel ouch by den x brüedern zethuond vnd by Esau? Oder: Ob Astaroth vnd Beelzebub, si Ira vnd inuidia sind, sich nit ouch erzeigen söllent […].26 Diese Bemerkungen zeigen, dass Cysat die einzelnen Historien des Passionsspiels gezielt auf das Potenzial der Verdeutlichung durch Teufelsauftritte überprüfte und dass er die Teufel als personifizierte Laster auffasste. Aus inhaltlichen Gründen eigneten sich die Historien des Passionsspiels aber nur bis zu einem gewissen Grade zur Bekämpfung von Lastern und zur Propagierung gesellschaftlicher Reformen. Das durch Zacharias Bletz im Jahr 1549 inszenierte Antichrist- und Weltgerichtsspiel bot da ganz andere Möglichkeiten. Das raffinierte Wirken der Teufel in der Welt und der Preis, den die verführten Menschen spätestens am Jüngsten Tag zu bezahlen haben, ist das Hauptthema des grandiosen zweitägigen Spekta25  Ibid.,

v. 4285 ff. Das Osterspiel von Luzern, 108, Punkt 7.

26  Evans,



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kels. Satan und seine Gesellen sind Movens und Bedrohung während der ganzen Spielhandlung: Sie stiften die Menschen zu gottlosem und lasterhaftem Tun an und ermöglichen den Aufstieg des Antichrist. Wie die Verschmelzung von Laster- und Teufelsfiguren auf der Bühne realisiert wurde, erfahren wir aus den Regieanweisungen: Astarot leytt ein lasterlich cleyd über das tüffelcleyd an, also gytt, nyd, unküscheytt. Hend keyn tüffels köpff, sonst parett, aber hend vnd fuess clauwen wie tüffel.27 Ohne näher auf die Einzelheiten der Spielhandlung einzugehen, kann Bletz’ Teufelsspiel als wirkungsvolles Medium der Propaganda stadtbürgerlicher Vorstellungen eines in religiösen und weltlichen Dingen geordneten Gemeinwesens interpretiert werden. Die Verdammten, die nach dem Weltgericht von den Teufeln mit einer Kette umschlossen in die Hölle geschleppt werden, hatten alle in irgendeiner Weise gegen die sittlich-moralischen Normen dieses Systems verstoßen. Oder sie wandten sich dem neuen religiösen Führer – dem Antichrist, respektive Luther / Zwingli – zu und bedrohten die in Luzern und in der Innerschweiz vertretene katholische Glaubensordnung.28 Hansjürgen Linke legte in seinem Aufsatz Verantwortung. Ein zentrales Thema im mittelalterlichen deutschen Drama anhand zahlreicher Beispiele des Weltgerichtsspielkorpus dar, dass es in den verschiedenen Varianten dieser Gattung hauptsächlich um das Gemeinwohl geht, um eine gerechte Sozial- und Wirtschaftsordnung: »Zwar lassen sich alle so einbekannten Vergehen in die gängigen Sündenlisten einordnen; aber sie sind eben mehr als eine bloß persönliche religiöse Schuld – wie auch die Sünder nicht einfach Verdammte oder Unselige genannt werden.«29 III. Teufel in literarischen Fastnachtsspielen Zacharias Bletz, der den Teufeln in den Passionsspielen prominente Auftritte verschafft und sie im Antichrist- und Weltgerichtsspiel gar zu den Hauptakteuren gemacht hatte, führte die Schreckgestalten auch in die literarischen Fastnachtsspiele ein. Im Narrenfresser-Spiel30 ist zwar nicht aus: Weltgerichtsspiele, hg. Reuschel, 236, Regieanweisungen nach v. 1366. Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes, 332 ff. 29  Hansjürgen Linke, »Verantwortung. Ein zentrales Thema im mittelalterlichen deutschen Drama«, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2004, 139–165, hier 154. 30  Beim anonym überlieferten Narrenfresser handelt es sich um eine durch berühmte Narrenliteratur (Sebastian Brants Narrenschiff und Thomas Murners Nar27  Zit.

28  Vgl.

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explizit von Teufeln die Rede, doch es deutet alles darauf hin, dass mit den dunklen Gesellen, die als Gehilfen des Narrenfressers fungieren, die Höllenknechte gemeint sind. Ihnen kommt die Aufgabe zu, die Narren, die vom Gericht wegen lasterhaften Lebenswandels, menschlichen Fehlverhaltens und Abkehr vom rechten Glauben zum Tod verurteilt worden waren, zum großen Narrenvertilger zu schleppen, damit dieser sie verschlucken und mit zänden zertrucken kann.31 Das zahnbewehrte Riesenmaul des Narrenfressers symbolisiert zweifellos den Höllenschlund.32 Die Ähnlichkeiten zwischen Fastnachtsspiel und eschatologischem Spiel sind unübersehbar. Dem göttlichen Gericht des Weltgerichtsspiels entspricht die weltliche Rechtsprechung des Fastnachtsspiels. Die Narren werden für ihre gesellschaftsschädigenden Handlungen zur Rechenschaft gezogen und von den Schreckgestalten zur Vertilgung in den höllischen Rachen getrieben. Wenn im Weltgerichtsspiel die Teufel im Dienste des Salvators stehen, so handeln die Schreckgestalten im Fastnachtsspiel im Auftrag der weltlichen Justiz.33 Interessant ist, dass der Narrenfresser bei seiner Selbstvorstellung gleich zu Beginn des Spiels angibt, im Dienste der Obrigkeit zu stehen. Er bittet deshalb den Richter, ihm beim Ausrotten der Narren behilflich zu sein. Dass das wandelnde Monstrum mit dem Riesenschlund, das Teufel und Hölle zugleich verkörpert, nicht einfach selbstherrlich Narren verschluckt, sondern die anvisierte Beute zuerst einem ordentlichen Gerichtsverfahren zuführen will, demonstriert auf äußerst sinnfällige Weise die Kernaussage des obrigkeitlich inszenierten Fastnachtsspiels: Hölle und Teufel stellen eine ständige Bedrohung dar für die Narren, d. h. für diejenigen Stadtbewohner, die sich dem bürgerlichen (katholischen) Ordnungssystem nicht unterordnen wollen oder in irgendeiner Weise gegen die geltenden Sitten und Normen verstoßen. Ihre zerstörerische Kraft renbeschwörung, vom Grossen Lutherischen Narren und Die Mühle von Schwindelsheim) und fastnächtliches Brauchtum inspirierte Schöpfung, die Bletz zugeschrieben und auf 1550 datiert wird. Vgl. Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes, 408 ff. 31  Zitiert nach dem Typoskript von Linus Spuler, Meggen 1997 (aufbewahrt in der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern). 32  Den Zuschauern war der Zusammenhang zwischen dem monströsen Narrenfresser und dem Höllenschlund sehr bewusst: Die Hölle wurde in den Luzerner Spielen (Osterspiel, Antichrist- und Weltgerichtsspiel) jeweils durch ein aufklappbares Maul mit Zähnen dargestellt. Vgl. dazu die Skizze der Bühnenanlage von Renward Cysat zur Aufführung des Osterspiels von 1583, abgebildet in: Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes, 454 f. 33  Vgl. Heidy Greco-Kaufmann, »Inszenierte Politik? Versuch einer Verortung der Luzerner Fastnachtspiele im Kontext theatraler Aktivitäten in der frühneuzeit­ lichen Stadt«, in: Klaus Ridder (Hg.), Fastnachtspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten, Tübingen 2009, 99–114.



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entfalten sie jedoch nur, wenn sie von der städtischen Gerichtsbarkeit dazu ermächtigt werden. Im letzten auf dem Luzerner Weinmarkt aufgeführten Fastnachtsspiel, in Renward Cysats Convivii Process von 1593, agieren die Teufel ebenfalls ganz im Sinne der obrigkeitlichen Politik.34 Im Spiegel dess vberflusses vnd missbruchs in ergetzlicheit dess lybs vnd weltlichen fröwden, wie der originale Titel lautet, geht es um die Konsequenzen des überbordenden Fastnachtsbrauchtums und der angeblich grassierenden Lasterhaftigkeit und Sittenlosigkeit der Zeit. Gleich zu Beginn des Fastnachtsspiels übernehmen die Teufel das Regiment: Lucifer erteilt den Teufeln den Auftrag, ihm neue Seelen zuzuführen. Die Höllenknechte, jeder für ein spezielles Laster zuständig, schwärmen aus und verleiten die Menschen zu Fressund Saufgelagen, Müßiggang, Spielsucht, Lug und Trug, Hoffart, Ungehorsam gegenüber der Obrigkeit, Kuppelei und Hurerei. Das durch die teuflischen Verführungskünste in Gang gesetzte sittenlose Treiben ruft die Krankheiten und den Tod auf den Plan. Die Krankheiten, kostümiert als scheußliche Monster, überfallen die festfreudige Gesellschaft. Der umherschleichende Tod wird einstweilen noch von den Krankheiten am Eingreifen gehindert. Man wolle den Menschen noch eine Chance zur Besserung geben. Diese denken jedoch nicht an Mäßigung und feiern in der Herberge der Kupplerin weiter. Nach dem Fastnachtsküchlein-Schmaus werden sie aber von den Teufeln empfangen und über den ganzen Platz verfolgt. Die Kupplerin wird gleich in die Hölle geschleppt. Trotz warnender Worte der Sobrietas (Allegorie der Nüchternheit) versammeln sich die Uneinsichtigen erneut zu einem Gelage und die Krankheiten schlagen ein zweites Mal zu. Diesmal schnappt sich der Tod vier Prasser. Auch sie werden dem Reich Lucifers überantwortet. Monströse Krankheiten, jäher Tod, die Klauen der Teufel und ewige Höllenqualen erwarten diejenigen, die sich der städtischen Ordnung und den bürgerlichen Moral- und Tugendvorstellungen widersetzen. Der Teufel ist auch in diesem Fastnachtsspiel die stärkste Waffe der Obrigkeit, die

34  Cysats Conivivii Process (der Prozess, der der Schlemmerei, beziehungsweise dem Schlemmer, gemacht wird) beruht auf der rund hundert Jahre älteren französischen Vorlage La Condamnation de bancquet et correction de souper. Cysats Tragicocomedi – wie er sein Spiel nennt – ist rund zweieinhalb Mal so lang wie seine Quelle. Er verlegt die Handlung vom Milieu des französischen Hofs konsequent in die städtische Realität Luzerns. Vgl. Greco-Kaufmann, Spiegel des vberflusses. Zur Autorschaft der französischen Moralität vgl. Jelle Koopmans, »La fin de Banquet«, in: Denis Hüe u. a. (Hgg.), Mainte belle oeuvre faicte. Etudes sur le théâtre médiéval offertes à Graham A. Runnalls (Medievalia 54), Orléans 2005, 251–264.

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in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine rigorose Politik der So­ zialdisziplinierung verfolgte. Zum Schluss noch ein paar Bemerkungen zum Zusammenhang zwischen den Brauchtumsteufeln und den Bühnenteufeln. Was Aussehen und Gebaren anbelangt, lassen sich zwischen den Brauchtums- und den Bühnenfiguren keine signifikanten Unterschiede ausmachen. Es handelt sich immer um Furcht einflößende Gestalten, die durch Verkleidung, Masken und Attribute – bestehend aus Fellen, Häuten, Hörnern, Klauen und Eberzähnen – als menschlich-tierische Mischwesen in Erscheinung treten. Sie gehen nicht, sondern stürmen daher, laufen durcheinander, tänzeln, springen und wirbeln, schreien, poltern und veranstalten einen ›Höllenlärm‹. Zeitgenössische Bildwerke bestätigen, dass die Akteure des wilden goukelwäsens Aussehen und Verhalten des Teufels nicht anders imaginierten als die Verfasser und Darsteller der literarischen Spiele.35 Eine überraschende Übereinstimmung lässt sich auch bezüglich der Funktion der Teufelsfiguren in den jeweiligen Kontexten ausmachen: Im Rahmen des Rügebrauchtums wurde der Teufel zur Durchsetzung von Normen und Interessen einer gesellschaftlichen Gruppe instrumentalisiert; bei den Aufführungen literarischer Schauspiele diente er zur Festigung des (katholischen) Glaubens, zunehmend aber zur Stützung des Herrschaftsanspruchs des regierenden Patriziats, das im Laufe des 16. Jahrhunderts dazu tendierte, sämtliche Bereiche des sozialen Lebens zu kontrollieren und zu reglementieren. Brauchtumsteufel und Bühnenteufel sind in Bezug auf Bedeutung und Rolle durchaus kongruent, sie gehören aber zwei konkurrierenden Ordnungssystemen an. Das Treiben der Brauchtumsteufel, die Charivaris und das Sträggele-Jagen, gefährdete das Ordnungssystem der Patrizier, die nur kodifiziertes Recht gelten lassen wollten. Interessant ist, dass Belege über in tüfelshüten laufende und mit Selbstjustiz-Aktionen für Ordnung sorgende Brauchtumsträger schon im ältesten Ratsbüchlein zu finden sind – rund ein halbes Jahrhundert bevor die Teufelsfiguren auf der Bühne auftauchen. Wenn die Priester des Vierwaldstätterkapitels anlässlich der Aufführung des Auferstehungsspiels im Jahre 1453 in der DescensusSzene die Konfrontation des Erlösers mit dem Teufeln inszenierten, vermittelten sie den Zuschauern nicht nur die Botschaft des Triumphs der göttlichen Ordnung über das teuflische Chaos, sondern sie setzten sich zugleich als legitime Vertreter des heilsbringenden Systems in Szene. 35  Vgl. Heidy Greco-Kaufmann, »Hofbrückenbilder und Weinmarktspiele: Abhängigkeiten, Wechselwirkungen?«, in: Der Bilderweg auf der Hofbrücke in Luzern, Bd. II: Geschichte, Künstler, kulturelles Umfeld, hg. Heinz Horat, Luzern 2003, S. 119–166.



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Ebenso wie in der Alltagsrealität ist der Teufel in den von den geistlichen und weltlichen Eliten aufgeführten Spielen immer präsent. Die Obrigkeit machte sich das Bedrohungspotenzial der in christlichen und paganen Vorstellungswelten gleichermaßen verwurzelten Schreckgestalten zunutze, um Machtansprüche durchzusetzen und ihre Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung zu verwirklichen. Beim Einbezug der Teufel in die Spiele ging es nicht um eine »Remythisierung der Heilsgeschichte« im Sinne Warnings,36 sondern vielmehr um die Integration der Lebenswirklichkeit der Zuschauer. Es deutet auch einiges darauf hin, dass die Obrigkeit die Brauchtumsträger, junge männliche Stadtbürger, in die Aufführungen einband. Die Störer mutierten so zu den Hütern der städtischen Ordnung.

36  Rainer Warning, Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels, München 1974, 30. Zur Debatte um die These Warnings vgl. Heidy GrecoKaufmann, »Von paraliturgischen Handlungen zum barocken Schauereignis: Genese und Entwicklung des Luzerner Osterspiels«, in: Friedemann Kreuder, Stefan Hulfeld, Andreas Kotte (Hgg.), Theaterhistoriographie. Kontinuitäten und Brüche in Diskurs und Praxis (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 36), Tübingen 2007, 45–87, hier 46 f.

Der Eheteufel auf der Hochzeit zu Cana Paul Rebhuns dramatisierte Geschlechterordnung Von Regina Toepfer Die Bedeutung der Reformation für die Geschlechtergeschichte wird in der Forschung kontrovers diskutiert.1 Lange Zeit wurde die Stellung von Frauen in der lutherischen Kirche als eine Fortschrittsgeschichte gedeutet, insofern Luthers Würdigung der Frau als Gefährtin des Mannes und als Hausmutter zu einer Aufwertung geführt hätte.2 Derselbe Sachverhalt wurde jedoch auch gegenteilig bewertet: Die Festlegung auf die Rolle als Ehefrau und Mutter sei mit einer klaren Geschlechterhierarchie und der Unterordnung unter den Mann verbunden.3 1  Vgl. Stefan Ehrenpreis, Ute Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter (Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt 2002, 92–99, bes. 96. Die Autoren führen die divergierenden Forschungspositionen auf die »mangelnde Klarheit von Luthers Aussagen und Handlungen« zurück (ibid.). Eine Möglichkeit, ­zwischen ihnen zu vermitteln, besteht darin, die konträren Aussagen in eine chronologische Folge zu bringen. Während Frauen zu Beginn der Reformation einen erweiterten Gestaltungsspielraum gehabt hätten, würden sie im Zuge der Institutionali­ sierung zurückgedrängt, erläutert Claudia Ulbrich, »Frauen in der Reformation«, in: Nada Boškovska Leimgruber (Hg.), Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungstendenzen und Forschungserträge, Paderborn u. a. 1997, 163–177, hier 165 f. 2  Vgl. Dagmar Lorenz, »Vom Kloster zur Küche. Die Frau vor und nach der Reformation Dr. Martin Luthers«, in: Barbara Becker-Cantarino (Hg.), Die Frau von der Reformation zur Romantik. Die Situation der Frau vor dem Hintergrund der Literatur- und Sozialgeschichte, Bonn 1980, 7–35, hier 7. – Lorenz warnt davor, diese Annahme »unqualifiziert zu akzeptieren« (7), und argumentiert: »Luthers Welt ist streng patriarchalisch.« (21). Dagegen ruft Scharffenorth dazu auf, Luthers Aussagen über die gemeinsame Gottebenbildlichkeit und Gnadenhaftigkeit von Mann und Frau sowie ihre Bestimmung zur gegenseitigen Freundschaft stärker zu beachten. Vgl. Gerta Scharffenorth, » ›Im Geiste Freunde werden‹. Mann und Frau im Glauben Martin Luthers«, in: Heide Wunder, Christina Vanja (Hgg.), Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1991, 97–108, bes. 108. 3  Vgl. Ehrenpreis, Lotz-Heumann, Reformation, 95 f.

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Einer der anregendsten und wichtigsten Beiträge in dieser Debatte stammt von der Historikerin Lyndal Roper, die die Auswirkungen der Reformation auf Frauen am Beispiel der Stadt Augsburg untersucht. Roper vertritt die These, dass »die Moralvorstellungen der Stadtreformation – als religiöses Credo und Ausdruck einer sozialen Bewegung – als eine Theologie des Geschlechterverhältnisses verstanden werden müssen«.4 Die Folgen des Protestantismus für Frauen bewertet Roper als zutiefst ambivalent. Zwar seien einerseits weibliche Frömmigkeitsformen gefördert, doch sei andererseits der Patriarchalismus erneuert worden. Die Institu­ tionalisierung der Reformation in den deutschen Städten charakterisiert Roper als eine Domestizierung, die sich auf die Handlungsmöglichkeiten der Frauen restriktiv auswirkte. Die »Morallehre des frommen Hauses«5 hätte ihnen kein öffentliches Betätigungsfeld mehr geboten; Klöster wurden aufgehoben, Nonnen zur Heirat angehalten, Prostituierte verteufelt und der Ehestand gepriesen. Nach Ropers Auffassung standen die Geschlechterbeziehungen im Zentrum der Reformation und trug das patriarchale Rollenverständnis entscheidend zur Konsolidierung der Reformation bei.6 Lyndal Ropers Beobachtungen lassen sich auf die Bibeldramen des 16. Jahrhunderts übertragen. Dass die Dramen zur Vermittlung religiöser Lehren genutzt wurden und homiletisch-katechetische Funktion besitzen, ist in der Forschung schon lange bekannt. Das Theaterspiel wird »als Medium evangelischer Verkündigung«, als Predigt oder gar Gottesdienst charakterisiert.7 Religiöse Lehren beinhalten jedoch stets soziale Implika4  Lyndal Roper, Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation. Aus dem Englischen von Wolfgang Kaiser (Geschichte und Geschlechter, Sonderband), Frankfurt a. M. / New York 1999, 7. 5  Roper, Das fromme Haus, 8. 6  Roper, Das fromme Haus, 37–53, 70–75, argumentiert, dass die reformatorische Lehre für die Zünfte besonders attraktiv war, weil sie mit deren Geschlechter- und Moralvorstellung übereinstimmte und den Handwerkern neue Einfluss- und Aufstiegsmöglichkeiten bot. 7  Vgl. Waltraud Timmermann, »Theaterspiel als Medium evangelischer Verkündigung. Zu Aussage und Funktion der Dramen Paul Rebhuns«, Archiv für Kulturgeschichte 66 (1984), 117–158; Fidel Rädle, »Theater als Predigt. Formen religiöser Unterweisung in lateinischen Dramen der Reformation und Gegenreformation«, Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 16 (1997), 41–60; Wolfram Washof, »Drama als Gottesdienst. Homiletisch-katechetische Funktionen und liturgische Elemente des protestantischen Bibeldramas der Reformationszeit«, in: Christel Meier, Heinz Meyer, Claudia Spanily (Hgg.), Das Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, Schriftenreihe des SFB 496.4), Münster 2004, 159–170.



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tionen, sie unterrichten über ein angemessenes Verhalten in der Welt und beeinflussen das Gemeinschaftsleben. Diese enge Verknüpfung von Theologie und Sozialethik zeigt sich vor allem an der lutherischen Ehelehre. Reformatorische Bibeldramen dienen daher auch als wichtiges Medium, um geschlechtsspezifische Ideale zu propagieren. Wie hierarchische Machtstrukturen im Geschlechterverhältnis dramatisch ausgeleuchtet werden, möchte ich an Paul Rebuhns Hochzeitsspiel exemplarisch zeigen.8 Die Geschlechterordnung wird durch einen Eheteufel zumindest zeitweilig bedroht, bevor sie durch verschiedene Autoritätspersonen neu etabliert wird. Nach einer kurzen Vorstellung von Autor und Werk untersuche ich zuerst die im Spiel vorgetragenen Ehelehren und dann das zugrundeliegende Genderkonzept. Weil das Handeln von Frauen stets in Abhängigkeit vom Verhalten der Männer bewertet wird, setze ich mich abschließend mit den im Spiel entworfenen Formen von Männlichkeit auseinander. I. Biblische Dramatisierung Paul Rebhun zählt zu den bekanntesten deutschen Dramatikern des 16. Jahrhunderts, obwohl er nur zwei Dramen verfasste.9 Geboren wurde er um 1500 in Waidhofen an der Yps in Niederösterreich, war aber beruflich und schriftstellerisch vor allem in Sachsen und Thüringen tätig. Aufgrund seiner guten Kontakte zu Luther und Melanchthon geht die Forschung davon aus, dass er in Wittenberg studiert haben muss; urkundlich fassbar wird Rebhun erst im Jahr 1526 als Kantor und Lehrer der Lateinschule in Zwickau. Drei Jahre später war er als Schulmeister in Kahla an der Saale tätig, bevor er 1536 nach Zwickau zurückkehrte und dort das Amt des Konrektors der Lateinschule übernahm. Nach zwei Jahren ging er als Rektor an die Stadtschule in Plauen und wurde im gleichen Jahr von Luther als Archidiaconus ordiniert. 1542 wurde er zum Pastor von Oelsnitz und als Superintendent des Bezirks Voigtsberg berufen, wo er vier Jahre später – wenige Monate nach Luthers Tod – starb. Rebhuns beruf8  Auch Erika Kartschoke, die sich mit Ehelehren in der frühneuhochdeutschen Literatur beschäftigt, führt als Gattungsbeispiel Rebhuns Drama an, vgl. Erika Kartschoke, »Einübung in bürgerliche Alltagspraxis«, in: Werner Röcke, Marina Münkler (Hgg.), Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1), München 2004, 446–462, hier 455–457. 9  Zur Biographie vgl. v. a. Paul F. Casey, Paul Rebhun. A biographical Study, Stuttgart 1986. Vgl. auch Hans-Gert Roloff, »Rebhun, Paul«, in: NDB 21, 225; Hugo Holstein, »Rebhun, Paul«, in: ADB 27, 481–483; Wilhelm Kühlmann, »Rebhuhn, Rebhun, Paul« in: Killy 9, 320 f.; Wolfgang F. Michael, Das deutsche Drama der Reformationszeit, Bern u. a. 1984, 70–74.

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liche Laufbahn ist symptomatisch für viele Bibeldramatiker des 16. Jahrhunderts, von denen die meisten der protestantischen Bewegung angehörten und als Prediger oder Schulmeister tätig waren.10 Neben zwei Dramen verfasste Rebhun eine Klag des armenn Manns von Sorgen­vol, ynn theuerung und hungersnot, eine katechetische Schrift Ein christlich und notig Gesprech von der Summa des Christlichen glaubens und wesen und eine Predigt mit dem Titel Hausfried, was Ursach den christlichen Eheleuten zu bedencken, den lieben Hausfrieden […] zu erhalten.11 Erst nach seinem Tod erschien ein deutsch-lateinisches Schulbuch, das Rebhun auf der Basis der Komödien des Terenz für den Sprachunterricht erstellte hatte. Von seinen eigenen Dramen fand vor allem die Susanna Aufmerksamkeit, die mehrfach auf der Bühne aufgeführt und nachgedruckt wurde.12 In der Dramenforschung wird dieses Spiel besonders positiv bewertet und gilt als eines der gelungensten volkssprachigen Spiele des 16. Jahrhunderts.13 Gefallen fanden die Interpreten vor allem an dem stringenten Handlungsaufbau und den Versexperimenten. Rebhun wurde als ein »Opitz vor Opitz« gerühmt,14 weil er die Versbetonung dem deut10  Vgl. Wolfram Washof, Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren und protestantische Theologie im lateinischen und deutschen Bibeldrama der Reformationszeit (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496 / 14), Münster 2007, 23. 11  Dass sich Rebhun in seinen Werken mit gesellschaftlich relevanten Fragen seiner Zeit beschäftigte, belegen die Zwickauer Annalen. 1529 trat der Widertäufer Hans Sturm in der Stadt auf, der die Ehe geringschätzte und sie sogar für eine Sünde hielt. In den Jahren 1530 und 1537 wird die Teuerung von Lebensmitteln thematisiert. Vgl. Tobias Schmidt, Chronici Cygnei Pars Posterior Oder Zwickauischer Chronicken Anderer Theil, Zwickau: Melchior Göpner 1656, 307 f., 310, 322. 12  Nach der Zwickauer Erstausgabe von 1536 erschienen Nachdrucke in Wittenberg 1537, Worms 1538 und Zwickau 1544. Gespielt wurde die Susanna 1535 in Kahla, 1537 in Zwickau, 1541 Straßburg, 1544 in Oelsnitz, 1545 in Frankfurt, 1549 und 1589 in Münnerstadt, vgl. Casey, Paul Rebhun, 111; Holstein, »Rebhun, Paul«, 482; Hellmut Thomke, »Kommentar«, in: ders. (Hg.), Deutsche Spiele und Dramen des 15. und 16. Jahrhunderts (Bibliothek der Frühen Neuzeit 2), Frankfurt a. M. 1996, 899–1150, hier 1061. 13  Hermann Palm würdigt die Susanna als »leicht das beste deutsche stück des XVI jahrhunderts«, vgl. Hermann Palm, »Schluszwort des Herausgebers«, in: Paul Rebhuns Dramen, hg. Hermann Palm, Darmstadt 1969, reprografischer Nachdruck der 1. Auflage, Stuttgart 1859, 175–193, hier 181. Vgl. auch Hans-Gert Roloff, »Nachwort«, in: Paul Rebhun, Ein Geistlich Spiel von der Gotfürchtigen und keuschen Frauen Susannen (1536). Unter Berücksichtigung der Ausgaben von 1537 und 1544, hg. Hans-Gert Roloff, Stuttgart 1967, 121–142, hier 121; Thomke, »Kommentar«, 1059. 14  Wolfgang F. Michael, Ein Forschungsbericht. Das deutsche Drama der Reformationszeit, Frankfurt a. M. u. a. 1989, 143. Vgl. auch Roloff, »Rebhun«, 225.



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schen Wort- und Satzakzent anpasste.15 Deutlich weniger beachtet und kritischer beurteilt wird dagegen Rebhuns zweites Werk,16 das im Zentrum dieses Beitrags steht: Das Hochzeit Spiel auff die Hochzeit zu Cana Galilaeae gestellet wurde 1538 in Zwickau veröffentlicht und zweimal neu aufgelegt (Zwickau 1546, Nürnberg 1572). Die biblische Perikope aus dem zweiten Kapitel des Johannesevangeliums eignet sich deutlich weniger für eine Dramatisierung als der SusannaStoff.17 Die Hochzeit zu Kana weist keinen inneren Spannungsbogen auf, nur kurz und knapp wird vom ersten Wunder Jesu berichtet (Joh 2,2–11): 1 VND am dritten tage ward eine Hochzeit zu Cana in Galilea  /  vnd die mutter Jhesu war da. 2 Jhesus aber vnd seine Jünger wurden auch auff die Hochzeit geladen. 3 Vnd da es an Wein gebrach  /  spricht die mutter Jhesu zu jm  /  Sie haben nicht wein. 4 Jhesus spricht zu jr  /  Weib was habe ich mit dir zuschaffen? Meine stunde ist noch nicht komen. 5 Seine mutter spricht zu den Dienern  /  Was er euch saget das thut. 6 Es waren aber alda sechs steinern Wasserkrüge gesetzt nach der weise der Jüdischen reinigung  /  vnd gieng in je einen  /  zwey oder drey Mas 7 JHEsus spricht zu jnen  /  Füllet die Wasserkrüge mit wasser. Vnd sie fülleten sie bis oben an. 8 Vnd er spricht zu jnen  /  Schepffet nu  /  vnd bringets dem Speisemeister. Vnd sie brachtens. 9 Als aber der Speisemeister kostet den Wein  /  der wasser gewesen war  /  vnd wuste nicht von wannen er kam  /  die Diener aber 15  Zur Metrik vgl. Rudolf Kreczy, Rebhuns Reform der deutschen Verskunst, Diss. masch., Wien 1938. 16  Palm urteilt (»Schluszwort«, 181), dass das »allzu starke hervortreten des didactischen elements« ein Fehler in der Anlage des Stückes sei und seine dramatische Wirkung sehr beeinträchtige. Casey (Paul Rebhun, 107) meint, dass es sich eher um eine Predigt als ein Drama handle, und vermisst »the realistic touch«, den er bei der Susanna bewundert. Auch Timmermann (»Theaterspiel«, 155) hält Rebhuns »Ansätze zu dramatischer Handlungsgestaltung« nur für episodisch und nicht überzeugend in ein Gesamtkonzept integriert, was sie mit dem »Primat des Religiös-Lehrhaften« erklärt. 17  Dies schlägt sich in der geringen Zahl der Bearbeitungen nieder. In Washofs Bibliographie fehlt die Thematik gänzlich (vgl. Washof, Bibel auf der Bühne, 466– 480), obwohl die Perikope im 16. Jahrhundert auch von Wolfgang Schmeltzl und von Nicodemus Frischlin behandelt wurde (vgl. Casey, Paul Rebhun, 110, Anm. 68). – Zu den Susanna-Dramen vgl. Cheri A. Brown, »The Susanna Drama and the German Reformation«, in: Donald Gilman (Hg.), Everyman and Company (AMS studies in the Renaissance 15), New York 1989, 129–153; Paul F. Casey, The Susanna Theme in German Literature. Variations of the Biblical Drama (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 214), Bonn 1976; Regina Toepfer, »Frühneuzeitliche Wende auf der Frankfurter Bühne? Das Frankfurter Passionsspiel und Paul Rebhuns Susanna zwischen Theater und Kult«, in: Robert Seidel, Regina ­Toepfer (Hgg.), Frankfurt im Schnittpunkt der Diskurse. Strategien und Institutionen literarischer Kommunikation im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (Zeitsprünge 14), Frankfurt a. M. 2010, 137–161.

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wustens  /  die das Wasser geschepfft hatten  /  rüffet der Speisemeister dem Breutgam  /  10 vnd spricht zu jm  /  Jederman gibt zum ersten guten Wein  /  vnd wenn sie truncken worden sind  /  als denn den geringern  /  Du hast den guten Wein bisher behalten. 11 Das ist das erste Zeichen das Jhesus thet  /  geschehen zu Cana in Galilea  /  vnd offenbarte seine Herrligkeit. Vnd seine Jünger gleubten an jn.18

Zu erfahren ist, was (eine Hochzeit) wann (am dritten tage) und wo (zu Cana in Galilea) stattfand und welche Personen an dem Geschehen beteiligt waren (Jesus, seine Jünger und seine Mutter). Die Problemkonstella­ tion, dass es an Wein mangelt, wird gleich zu Beginn genannt. Maria versucht diese Schwierigkeit mit einem impliziten Appell zu lösen, wird aber von Jesus barsch zurückgewiesen: Weib was habe ich mit dir zuschaffen? Die Mutter lässt sich jedoch nicht verunsichern und beauftragt die Diener, Jesu Weisungen Folge zu leisten. Anschließend erfolgt eine genaue Beschreibung der Requisiten, zu denen sechs Wasserkrüge mit je hundert Litern Fassungsvermögen gehören. Der Wandlungsvorgang selbst wird nicht beschrieben, sondern nur durch die Gegenüberstellung der früheren und späteren Qualität der Flüssigkeit angezeigt. Jesus lässt die Krüge bis zum Rand mit Wasser füllen, woraufhin der für das Mahl verantwortliche Mann bezeugt, dass es sich um erstklassigen Wein handle. Resümierend wird festgehalten, dass sich Jesus mit diesem ersten Zeichen als Messias offenbarte und seine Jünger an ihn glaubten. Die marginalen biblischen Vorgaben stellten den Dramatiker Rebhun vor besondere Herausforderungen. Zwar eignet sich eine Hochzeit bestens, um Ehelehren zu vermitteln, doch muss der Text stark bearbeitet werden, um das Handlungsgerüst dramatisieren zu können. Diese Veränderungen legt Rebhun zu Beginn seines Werks offen: Seine poetische Gestaltung, bei der er sich am antiken Gattungsideal eines fünfaktigen Dramas orientiere,19 entspreche nicht der biblischen Vorgabe: Was sich bei der Hochzeit wirklich zugetragen habe, könne man nicht wissen, weil es in der Bibel nicht dargestellt sei. Nur die Wundertat Jesu werde dort be18  Zitiert wird nach folgender zeitgenössischer Ausgabe: Die Luther-Bibel, Originalausgabe 1545 und revidierte Fassung 1912 (Digitale Bibliothek 29), Berlin 2004. 19  Der Dramatiker hält seine Einteilung jedoch nicht für so feststehend, dass keine Veränderungen möglich wären, und räumt Regisseuren und Rezipienten in seinem Vorwort Gestaltungsfreiheit ein. Vgl. Paul Rebhun, »Ein Hochzeit spiel auff die Hochzeit zu Cana Galileae gestellet« (1546), in: ders., Das Gesamtwerk (Mittlere deutsche Literatur 27), hg. Paul F. Casey, Bd. 1: Dramen, Bern u. a. 2002, 307–407, hier 313: Was die austeylung des spiels in Scenas /  vnd Actus betrifft /  wiewol es bey vns deudschen nicht fast bsonder not ist /  in dem den Latinis nach zu folgen /  hab ichs doch geteilt /  so viel die materi hat leyden wollen /  Wer etwas mangel dran hat /  mag es teilen seins gefallens /  on all meinen zorn vnd widerred […].



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richtet, die gesamte übrige Handlungskonstellation, insbesondere die neuen Verwandt­schaftsverhältnisse, habe er aus didaktischen Überlegungen entsprechend gestaltet.20 Rebhun legitimiert die dramatischen Veränderungen mit seiner Lehrintention und warnt zugleich davor, poetische Fiktion und biblische Wahrheit gleichzusetzen:21 Das lass man bleyben ein geticht Vnd mach ihm niemand draus ein gschicht /  Als were ergangen alls der mast Wie es ist spiel weis hie verfast […] Vnd vns ist hie zu thun viel mehr Vmb vnterricht vnd gute lehr (v. 49–58).

Der Blick ins Personenverzeichnis zeigt, dass Rebhun mehrere Figuren neu hinzugefügt hat: Biblisch belegt sind der Bräutigam (Sponsus), der Speisemeister (Architricli­nus), die Diener (Minster primus, Minster secundus), Maria, Jesus und seine Jünger, die Rebhun namentlich als Judas, Andreas, Petrus, Johannes und Simon identifiziert. Die anderen, neuen Figuren lassen sich in drei Gruppen untergliedern: erstens die Hochzeitsgäste, die als Statisten an der Feier teilnehmen (Conviva primus, Conviva secundus, Anus conviva), zweitens metaphysisches Personal, der Engel Raphael und der Eheteufel, der die Zauberin für seine Zwecke instrumentalisieren wird, und drittens die bisherigen Dienstherren der Braut, Tobias und Anna. Die Braut, die im Johannesevangelium nicht als Individuum in Erscheinung tritt, wird von Rebhun gleich in dreifacher Hinsicht subordiniert: Sie ist ihrem künftigen Ehemann, ihren bisherigen Dienstherren und Maria zugeordnet, die nicht nur die Mutter Jesu, sondern auch ihre Tante ist. Schon das Figurenverzeichnis lässt somit auf die Bedeutung von geschlechtsspezifischen Hierarchieverhältnissen schließen.22 20  In der antiken und mittelalterlichen Exegese wird die Hochzeit zu Kana gemäß dem vierfachen Schriftsinn gedeutet. Zwar lehnte Luther die allegorische Auslegung der Schrift ab und verlangte, den literalen Sinn zu beachten, doch behielt der sensus moralis in der Reformationszeit seine Bedeutung. – Zur exegetischen Tradition dieser Perikope vgl. Adolf Smitmans, Das Weinwunder von Kana. Die Auslegung von Jo 2,1–11 bei den Vätern und heute (Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese 6), Tübingen 1966. 21  Sterns Charakterisierung, Rebhuns Bearbeitungen seien prä-säkular, da sich der Dramatiker »rite et pure« am biblischen Ausgangstext orientiere, lässt sich kaum aufrecht erhalten, vgl. Martin Stern, »Paul Rebhuns Spiel von der Gotfürchtigen und keuschen Frauen Susannen (1536). Ein Bibeldrama aus Luthers Geist – mit Vorgeschichte und Kontext«, Theologische Zeitschrift 65 (2009), 332–345, hier 345. 22  Ob das Stück je auf die Bühne gelangte, ist ungewiss, da keine Aufführungen belegt sind. Während Casey (Paul Rebhun, 109 f.) das Hochzeitsspiel als ein Sprech-

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II. Reformatorische Ehelehre Die didaktische Intention von Dramen steht für Rebhun außer Frage. Ausdrücklich beruft er sich auf Luthers Auffassung, dass biblische Stoffe dramatisiert werden sollen, um Lehren besonders einprägsam zu vermitteln.23 Auf dem Titelblatt wird angekündigt, dass das Hochzeitsspiel dem e Gottgeordenten Ehestand zu ehren /  vnd allen gottfFurchtigen Eheleuten  /  Gesellen /  vnd Junckfrawen zu trost /  vnd vnter­richt (309) verfasst worden sei. Diese Zielsetzung wird in der Vorrede des Spiels genauer erläutert. Heiratswillige junge Leute beiderlei Geschlechts, junge meid vnd iunge gseln, sollten erkennen, Was ihn auff beidem theil gebür (v. 59–61). Darüber hinaus wendet sich das Spiel auch an diejenigen, die sich bereits im Ehestand befinden, um sie zu trösten und für solche Zeiten zu wappnen, Wenn sie der Teuffel irgnt anficht (V. 65).24 Im ersten Akt wird die schwierige Ausgangskonstellation aus männlicher Perspektive dargestellt. Der Bräutigam berichtet, dass er sich aufgrund der Tugendhaftigkeit und Frömmigkeit seiner Braut trotz seiner Jugend zur Ehe entschlossen habe. Nun quält ihn die Sorge, ob er das Geld für eine Hochzeitsfeier aufbringen kann, wobei der Wein einen besonders hohen Kostenfaktor darstellt. Der Speisemeister, der die Hochzeit organisieren soll, macht sich seinerseits Gedanken um die Finanzen des Bräutigams. Er kritisiert, dass junge Leute heiraten, ohne selbst ihren Unterhalt sichern zu können. In diesen Reden spiegeln sich zwei divergierende Eheauffassungen der Frühen Neuzeit: Die Bräutigam vertritt die Auffassung der Reformatoren, die für eine frühe Heirat plädierten, um stück oder Lesedrama charakterisiert, das nicht für die Bühne gedacht sei, gibt Rebhun selbst Hinweise für eine Aufführung. Er bietet in seiner Edition sowohl eine Bühnenfassung mit reduzierten Sprechpartien als auch eine Leseversion, in der ausführlichere Unterweisungen enthalten sind. – Zu Rebhuns Differenzierung zwischen verschiedenen Rezeptionsformen vgl. Regina Toepfer, »Theater und Text in der Frühen Neuzeit. Impulse des überlieferungsgeschichtlichen Konzepts für die Dramenforschung«, in: Dorothea Klein in Verbindung mit Horst Brunner, Freimut Löser (Hgg.), Überlieferungsgeschichte transdisziplinär. Aspekte eines Forschungsparadigmas, Berlin/Boston 2015 [im Druck]. 23  Rebhun druckt Auszüge aus Luthers Vorreden zu den Büchern Judith und Tobias in seiner Susanna ab, in denen dieser die beiden Geschichten als Tragödie bzw. Komödie bezeichnet, vgl. Thomke (Hg.), Deutsche Spiele, 441 f. – Zu Luthers Wertschätzung der Dramen vgl. Wolfgang F. Michael, »Luther and the Religious Drama«, Daphnis 7 (1978), 365–367; Thomas I. Bacon, Martin Luther and the Drama (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 25), Amsterdam 1976. 24  Zur konsolatorischen Funktion des Dramas vgl. Timmermann, »Theaterspiel«, 157 f.



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Unzucht zu vermeiden.25 Der Speisemeister dagegen teilt die Position der städtischen Obrigkeit, dass sich Bürger selbst versorgen können müssen. Damit junge Eheleute nicht der Allgemeinheit zur Last fallen, betrieb etwa der Augsburger Rat eine restriktive Heiratspolitik.26 Dieser im ersten Akt aufgeworfene Konflikt bleibt während des gesamten Dramas präsent und wird schließlich im Sinne Luthers und in Übereinstimmung mit der biblischen Perikope entschieden: Wer auf Gott vertraut, muss sich um den Unterhalt für seine Familie keine Sorgen machen. Im zweiten Akt werden die Geldsorgen sowohl aus weiblicher als auch aus männlicher Sicht behandelt. Die Braut klagt, dass sie kein richtiges Hochzeitskleid und keinen Schmuck für die Zeremonie besitze. Selbst wenn sie sonst keine großen Ansprüche stelle, bedauert sie sehr, sich bei der Hochzeit nicht festlich kleiden zu können. Auch ihr Bräutigam ist bedrückt, weil er seine Gäste nur kärglich bewirten kann. Die Klagen des Brautpaares reflektieren die zeitgenössischen Hochzeitsbräuche, die eine kostspielige Angelegenheit darstellten und über die öffentliche Reputation der Brautleute entscheiden konnten. Städtische Räte suchten das wachsende Ausmaß zu begrenzen, indem sie übermäßigen Luxus verboten und finanzielle Obergrenzen für Hochzeiten festlegten.27 Im Spiel beruhigt Maria das Brautpaar, indem sie die lutherische Ehelehre propagiert: Sie fordert die beiden jungen Leute auf, Gott zu vertrauen, und erklärt Tugendhaftigkeit zu dem schönste Kleid; keinesfalls dürfe man maßlos sein und über seine Verhältnisse leben.28 Im dritten Akt verlagert sich der Fokus von der Geldnot zur Problematik rechter Eheführung. Die Brautleute geraten in Gefahr, weil ein Eheteufel

25  Vgl. Martin Luther, »Vom ehelichen Leben (1522)«, zitiert nach: Martin Luther, Gesammelte Werke, hg. Kurt Aland (Digitale Bibliothek 63), Berlin 2004, 4909: »Wer sich nicht zur Keuschheit geschickt findet, der tue beizeiten (etwas) dazu, daß er etwas schaffe und zu arbeiten habe, und wage es danach in Gottes Namen und greife zur Ehe (ein Jüngling aufs späteste, wenn er zwanzig, ein Mägdlein, wenn es gegen fünfzehn oder achtzehn Jahre alt ist, so sind sie noch gesund und geschickt) und lasse Gott sorgen, wie sie mit ihren Kindern ernährt werden. Gott macht Kinder, der wird sie auch wohl ernähren.« 26  Vgl. Roper, Das fromme Haus, 118–120. 27  Allein in Augsburg gab es im 16. Jahrhundert elf Neufassungen von Ordnungen, in denen sich der Rat gegen verschwenderische Hochzeiten richtete, vgl. Roper, Das fromme Haus, 130–132. 28  Vgl. Luther, »Vom ehelichen Leben«, 4908: »Wer aber auf christliche Weise ehelich sein will, der darf sich nicht schämen, arm und verachtet zu sein, geringe Werke zu tun. Er muß sich daran genügen lassen: aufs erste, daß Gott sein Stand und Werk wohlgefalle; aufs zweite, daß ihn Gott bestimmt ernähren wird […]«.

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auf die Bühne tritt.29 Er hasst den gottgefälligen Stand der Ehe und entwickelt verschiedene Strategien, um die Menschen zum Bösen zu verleiten. Vor den Zuschauern legt der Eheteufel offen, dass er in einem ersten Schritt versuche, Menschen von der Heirat abzuhalten (vgl. v. 485–490). Dabei geht er wie selbstverständlich davon aus, dass sich sexuelle Begierden kaum kontrollieren lassen. Ehelose Menschen trieben Hurerei, begingen Sünden und gerieten in Schande. Im Hintergrund dieser Auffassung steht die lutherische Überzeugung, dass die wenigsten Menschen zu einer keuschen Lebensführung fähig sind.30 Auch wenn das Hochzeitsspiel nicht explizit konfessionspolemisch angelegt ist, so übt Rebhun doch implizit an der Verhaltensweise von Priestern, Mönchen und Nonnen Kritik. Ihr keuscher Lebenswandel gilt als nicht realisierbar und als eine Erfindung des Teufels. Scheitert die Eheverhinderungsstrategie und wollen junge Leute durchaus heiraten, dann greift der Eheteufel zu einer zweiten Maßnahme (vgl. v. 491–502). Er versucht, unrechte Verbindungen zu stiften, die gegen den Willen der Eltern zustande kommen. Auch mit dieser Erklärung macht sich der Teufel ex negativo zum Sprachrohr lutherischer Eheauffassung, indem er sich als Initiator falscher oder heimlicher Eheversprechen zu erkennen gibt. Die Zustimmung der Eltern sahen die Reformatoren als notwendige Voraussetzung einer Eheschließung an. Missachteten junge Leute diese Vorgabe, konnte ihre Ehe durch das städtische Ehegericht für nichtig erklärt werden.31 Sollte jedoch auch dieser Manipulationsversuch erfolglos bleiben und eine gültige Ehe geschlossen werden, greift der Eheteufel zu seiner letzten Maßnahme (vgl. v. 539–548). Er versucht, zwischen Eheleuten Hass und Zwietracht zu säen, und setzt ihnen durch Arbeit, Mühe, Sorge, Ehebruch, Krankheit und Hunger beständig zu. Nur mit göttlicher Hilfe kann es gelingen, solchen Anfechtungen zu widerstehen, wie Reb­hun mittels einer zweiten metaphysischen Figur vor Augen führt. Als Gegenspieler des Eheteufels und Schutzengel der Brautleute tritt Raphael auf die Bühne.32 Er weist den Eheteufel zunächst verbal Teufelsliteratur vgl. Günther Mahal, »Teufelsbuch«, in: RLW 3, 592–594. protestantischen Polemik, romtreue Priester als »sexuelle Unholde« zu charakterisieren, vgl. Roper, Das fromme Haus, 21–24, hier 23. 31  Zur vorreformatorischen und reformatorischen Lehrmeinung hinsichtlich der elterlichen Erlaubnis sowie zu den Entscheidungen des städtischen Ehegerichts in Augsburg vgl. Roper, Das fromme Haus, 135–140. Zum Ehegericht in einer anderen oberdeutschen Stadt vgl. Susanna Burghartz, Zeiten der Reinheit – Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit, Paderborn u. a. 1999, bes. 107–131. 32  Zur Funktion von Engelszenen im frühneuzeitlichen Drama vgl. Bernd Roling, »Der Engel als Spielfigur in den Dramen der Jesuiten Jakob Gretser (1562–1625), 29  Zur 30  Zur



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in seine Schranken und wird schließlich sogar handgreiflich (vgl. v. 599– 640). Die bedrohte Ordnung lässt sich jedoch so einfach nicht sicherstellen. Der Streit zwischen Engel und Teufel wird auf menschlicher Ebene fortgesetzt, indem letzterer eine alte Nachbarin instrumentalisiert, die auch als Zauberin und Wettermacherin tituliert wird (vgl. v. 690–692).33 Die Zauberin entwirft gleichsam eine Anti-Ehe­didaxe, die in der Tradition spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Ehelehren steht,34 aber die negativen Konsequenzen der Ehe mit Blick auf die Frau statt auf den Mann formuliert. Den Ehestand malt die Zauberin gegenüber der Braut in dunkelsten Farben. Sie hebt die Plagen hervor, die eine Schwangerschaft, kleine Kinder, faule Diener und vor allem die Gehorsamspflicht gegenüber dem Mann bedeuten (vgl. v. 727–744). Um sich von dieser unerträglichen Last zu befreien, empfiehlt sie der jungen Frau, alle Aufträge ihres Mannes zu ignorieren. Weise er sie zurecht, solle sie keine oder eine übermäßige Reaktion zeigen, also schreien und zetern. Dagegen dürfe die Braut keinerlei Nachsicht bei männlichen Schwächen wie Zechen, Spielen und Müßiggang zeigen. Wie massiv Auseinandersetzungen um Geldfragen und vernachlässigte Pflichten den Ehealltag beeinflussen konnten, bezeugen die Akten des Augsburger Ehegerichts.35 Die Zauberin legt somit die Diskrepanz zwischen reformatorischem Eheideal und Lebenswirklichkeit offen, doch ist ihre Glaubwürdigkeit durch die Verbindung zum Eheteufel von vornherein in Abrede gestellt. Dennoch werden die schlechten Ratschläge in der Bühnenhandlung auch ausdrücklich zurückgewiesen. Raphael schickt der Braut ihre Tante Jakob Bidermann (1578–1639) und Georg Bernardt (1595–1600)«, in: Christel Meier, Bart Ramakers, Hartmut Beyer (Hgg.), Akteure und Aktionen. Figuren und Handlungstypen im Drama der Frühen Neuzeit (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, Schriftenreihe des SFB 496, 23), Münster 2008, 233– 267, hier 243–263. 33  Zum verbreiteten Motiv, dass sich Teufel mit alten Frauen verbinden, um den Ehefrieden zu zerstören, vgl. Walter Behrendt, Eva Hauck, »Der Teufel und das alte Weib. Ein Exempel-Motiv im Drama des 16. Jahrhunderts«, in: Ulrike Gaebel, Erika Kartschoke (Hgg.), Böse Frauen – gute Frauen. Darstellungskonventionen in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Literatur, Imagination, Realität 28), Trier 2001, 239–251, bes. 247 f. – Zur ambivalenten Bewertung von Frauenrollen vgl. auch Elke Huwiler, »Die kämpferische Ehefrau? Aspekte von Gender­ identitäten im frühneuzeitlichen Schweizer Theater«, Estudios Filológicos Alemanes 22 (2011), 53–70, bes. 59. 34  Zu Rebhuns Anlehnung an die ehedidaktische Dialogliteratur vgl. Kartschoke, »Einübung«, 457. – Dass Frauenrollen im Drama sowohl an literarische Muster als auch an historische Diskurse anknüpfen, arbeitet Huwiler (»Die kämpferische Ehefrau«, 66) für das frühneuzeitliche Schweizer Theater heraus. 35  Vgl. Roper, Das fromme Haus, 147–160.

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zur Hilfe und lässt klarstellen, dass Ehelosigkeit nicht dem Willen Gottes entspricht (vgl. v. 1087–1100). Marias Lehren zur Eheführung sind eine genaue Verkehrung der Empfehlungen der Zauberin. Die Braut solle stets fromm bleiben, ihren Mann nicht betrüben und seinen Zorn zu besänftigen suchen. Niemals dürfe sie die Aufträge ihres Mannes nicht erfüllen oder ihn gar harsch zurechtweisen, stets solle sie freundlich und dienstbereit sein (vgl. v. 1111–1138). Wie die Braut von ihrer gottesfürchtigen Tante in das Verhalten einer Ehefrau eingewiesen wird, muss auch der Bräutigam über das Eheleben belehrt werden.36 Die Rolle des weisen Mentors und erfahrenen Ehemanns übernimmt Tobias, der zunächst eine Intrige vereiteln muss. Die Zauberin hat die Braut bei ihrem künftigen Ehemann verleumdet, doch kann To­bias ihre Tugendhaftigkeit bezeugen. Als bisheriger Dienstherr der Braut prophezeit er dem Paar eine glückliche Ehe, sofern sich der Bräutigam an seine Richtlinien halte. Er möge verantwortungsbewusst herrschen, ein tugendhaftes Leben führen und sich bei Eheproblemen vertrauensvoll an Gott wenden. Statt durch Saufen, Spielen und Schlemmen Geld zu verprassen, solle er treu seine Arbeit verrichten, seine Frau lieben, versorgen und sie auf den richtigen Weg führen. Der dritte Akt vermittelt in doppelter Hinsicht Lehren: Zum einen unterrichten Maria und Tobias, wie eine gute Ehe zu gestalten ist. Zum anderen führt die Bühnenhandlung vor Augen, dass fromme Eheleute unter dem Schutz Gottes stehen. Der gottgefällige Stand der Ehe erweist sich jedoch auch als bedroht, da selbst fromme Menschen durch schlechte Ratgeber und teuflische Verführer negativ beeinflusst werden können. Im vierten Akt wird die Ausgangsproblematik, die Armut des Paares, wieder aufgegriffen und die Trauzeremonie vollzogen.37 Im Rahmen der Hochzeitsfeier tritt Jesus mehrfach als Verkündiger der lutherischen Ehelehre auf. Sein Kommen begründet er gegenüber seinen Jüngern damit, dass er am Ehestand Wohlgefallen finde, weil yn got hat selbs ein gsetzt 36  Timmermann, »Theaterspiel«, 155, charakterisiert die Belehrung der Brautleute »als ein spärlich dialogisierter Ehespiegel oder eine Ehepredigt«. Nach Kartschoke, »Einübung«, 457, besteht »die szenisch aufbereitete Lehre […] aus einem dichten Geflecht intertextueller Verweise auf die ehedidaktische Literatur«. 37  Luther betrachtete die Ehe als einen göttlichen Stand, weil sie der Erfüllung menschlicher Existenz diene. Zwar sei sie ein ›weltlich Ding‹ und kein Sakrament, doch von Gott gestiftet und werde auch von ihm geschützt. Vgl. Wolf-Dieter Hauschild, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 2: Reformation und Neuzeit, Gütersloh 22001, 314 f. Vgl. auch Klaus Suppan, Die Ehelehre Martin Luthers. Theologische und rechtshistorische Aspekte des reformatorischen Eheverständnisses, Salzburg / München 1971.



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vor andern alln (v. 1376). Die Schwierigkeit, den Sohn Gottes auf die Bühne treten zu lassen,38 löst Rebhun, indem er Jesus als einen protestantischen Prediger präsentiert. Er lässt ihn die Schrift auslegen, die Trauung vornehmen und das Tisch- und Dankgebet sprechen. Während die Gäste das Festmahl genießen, quälen das Brautpaar Geldsorgen. Vergeblich bittet Maria ihren Sohn um Hilfe, als der Wein knapp wird. Erst im fünften Akt, als die durstigen Jünger sich schon über die schlechte Bewirtung beschweren, vollbringt Jesus das Wunder. Den dankbaren Bräutigam mahnt er zu stetem Gottvertrauen: Vnd sonderlich inn diesem standt Den Gott hat selbs mit seiner handt /  Jm Paradeiss vor alln gestifft Wie man erfert aus heilger schrifft /  Dann den helt er so lieb vnd werdt Vor allen stenden sonst auf erdt (v. 1905–1910).

Auch die Braut wird von Jesus eigens belehrt, dass Gott den Ehestand gestiftet habe und erhalten werde. Durch die Wandlung des Weins wird dieser Glaube in Handlung umgesetzt; mit Gottes Hilfe können fromme Braut- und Eheleute alle Schwierigkeiten überwinden. Rebhun gestaltet sein Hochzeitsspiel somit als ein Lehrstück über den gottgefälligen Ehestand. III. Frühneuzeitliche Geschlechterhierarchie Die reformatorischen Ehelehren sind untrennbar mit der Geschlechterordnung verknüpft.39 Mann und Frau werden einander zugeordnet und ihr Verhältnis wird hierarchisch definiert. Wie eng Fragen der Eheführung und der Geschlechterhierarchie miteinander verbunden sind, lässt sich an Rebhuns Hochzeitsspiel eindrucksvoll belegen.40 Die Reden des Eheteufels 38  Weil der Sohn Gottes nicht der Lächerlichkeit preisgegeben werden darf, empfiehlt Luther vor allem alttestamentliche Geschichten zur Dramatisierung. Vgl. Michael, »Luther and the Religious Drama«, 365. – Auch in Rebhuns Drama konfligieren gesellschaftliche Hochzeitsbräuche und religiöse Heiligkeitsvorstellungen. Bevor die Hochzeitsfeier mit Tanz und Geselligkeit endet, zieht sich Jesus zurück und erklärt, dass sich ein solches Verhalten für ihn nicht schicke (vgl. v. 2050–2058). 39  So etwa bei Heinrich Bullinger, vgl. Burghartz, Zeiten der Reinheit, 49–69. 40  Zu Rebhuns Ehe- und Geschlechterverständnis vgl. auch Albrecht Classen, Der Liebes- und Ehediskurs vom hohen Mittelalter bis zum frühen 17. Jahrhundert (Volksliedstudien 5), Münster u. a. 2005, 175–182. – Eine sozialpolitische Interpretation, in der die Kategorien gender und class verknüpft sind, bietet David Price, »Gender and Class in Early German Matrimonial Drama: An Interpretation of Paul

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und der Zauberin sind erneut sehr aufschlussreich, weil sie ex negativo zeigen, worauf es im reformatorischen Ehe- und Geschlechtermodell ankommt. Der Eheteufel versucht, Frauen und Männer so zu verblenden, dass sie Gottes Willen missachten. Die sündhafte Verkehrung der Ehefrau besteht darin, sie gegen ihren Mann aufzuwiegeln: Verhetz das Weib das sie nicht tregt /  Den ghorsam der ihr auffgelegt /  Vnd gib yr auffrürigen mut Das sie ihrm Herrn kein gut nicht thut (v. 553–556).

Ebenso ist der Ehemann zu einem bestimmten, der Frau komplementären, Verhalten verpflichtet; er soll sich mit Freundlichkeit, Güte und Liebe um sie kümmern. Den Mann sucht der Eheteufel zu manipulieren, dass er sich ungerecht und gewalttätig gegenüber seiner Frau verhält, um eine Spirale des Misstrauens und Streitens in Gang zu setzen. Denn mit seinen Schmähungen und Schlägen verleite ein tyrannischer Ehemann seine Frau, Jhm untrew /  feind /  vnd gram zu wern | Vnd nicht zu halten /  wie ihrn Herrn (v. 569 f.). Die zentrale Bedeutung der Geschlechterhierarchie lässt sich auch an der agitativen Rede der Zauberin ablesen. Sie versucht nicht, die Braut zum Ehebruch zu animieren oder von der Ehelosigkeit zu überzeugen, sondern konzentriert sich auf die Problematik der Gehorsamspflicht. Keine andere Bürde des Ehelebens wertet sie als so belastend wie die Unterordnung der Frau (vgl. v. 739–742, 753 f.). Eindringlich rät die alte Nachbarin der Braut, den Führungsanspruch des Mannes zu unterlaufen und sich nicht einmal durch körperliche Züchtigung erweichen zu lassen. Dass das Machtverhältnis der Geschlechter nicht nur mit verbalen Mitteln, sondern auch mit physischer Gewalt ausgehandelt wird, kalkuliert die Zauberin ein. Während die Braut schon beim Gedanken an Schläge zurückschreckt, argumentiert die Alte, dass es sich nur um ein Übergangsstadium handle. Der Mann sei selbst Leidtragender der Gewalt und werde sein Verhalten zuletzt bereuen, da eine verletzte Frau keine Arbeiten verrichten könne. Ziel der Verweigerung ist es, das Geschlechterverhältnis umzukehren und die Frau zur Eheherrin zu machen: Auff das er auch lern fürchten euch Vnd nicht was er wil /  thue on scheuch /  Jn summa müst ihr gwenen yn Das er sich richt nach eurem syn Rebhun’s Die Hochzeit zu Cana und Rudolf Gwalther’s Nabal«, in: Thomas E. Ryan, Denes Monostory (Hgg.), Word and Deed. German Studies in Honor of Wolfgang F. Michael, New York u. a. 1992, 145–157.



Der Eheteufel auf der Hochzeit zu Cana151 Vnd alle zeit eurs gfallens thue So werd jr krigen gute rhue Vnd diser stand gelindert werdn Der one das thut /  fast beschwern /  (v. 825–832).

Durch Marias energisches Eingreifen gerät die Braut im Hochzeitsspiel nicht in die Gefahr, an diesem Gedanken Gefallen zu finden. In der Lebenswelt der Rezipienten wurde das reformatorische Geschlechterideal hingegen nicht fraglos akzeptiert. Volkstümliche Hochzeitsbräuche zeugen vielmehr von dem Bemühen, das Hierarchieverhältnis zu Gunsten von Frauen zu beeinflussen. Das Handwörterbuch des Aberglaubens führt verschiedene Praktiken an, mit denen sich Bräute den Herrschaftsanspruch zu sichern glaubten: Sie versuchten, ihren Mann auf den Fuß zu treten, die eigene Hand beim Ringtausch oben zu behalten und die Schwelle im Haus mit dem rechten Fuß zu überschreiten. Durch die Aneignung eines Gegenstands ihres künftigen Mannes hofften Frauen ebenfalls, dauerhaften Einfluss zu erlangen: Eine Hose wurde unter das eigene Kissen gelegt oder ein Geldstück während der Trauzeremonie in den Schuh gesteckt.41 Die Zauberin und Maria vertreten zwei gegenläufige Geschlechtermodelle, die sich bemerkenswerterweise beide biblisch legitimieren lassen: Die Zauberin entwirft ein Egalitätsmodell, wobei sie sich auf den zweiten Schöpfungsbericht beruft. Aus der göttlichen Bestimmung, dass Mann und Frau ein Leib sein sollen, leitet sie einen weiblichen Herrschafts- und Freiheitsanspruch ab: Das auch dem weib so wol gezim Das regiment als ebn dem man Vmb das die mann mit gwalt inn han Darumb es nicht zu leyden sey Dieweils ihn sein sol beyden frey /  (v. 912–916).

Maria hingegen tritt für ein Subordinationsmodell ein, das sie mit dem Sündenfall begründet.42 Wegen Eue missethat (v. 675) habe Gott den Frauen als Strafe auferlegt, mit Schmerzen Kinder zu gebären und dem Mann untertan zu sein. In dieser Argumentation sind biologische und soziale Geschlechtsvorstellungen untrennbar verwoben. Eine Unterscheidung zwischen sex und gender lässt sich nicht vornehmen, da auch biologische 41  Vgl. Bernhard Kummer, »Hochzeit«, in: Handwörterbuch des Aberglaubens, 148–174, hier 160. – Berichtet wird auch von dem Brauch, sich mit Senf und Dill auszustatten, und während der Trauung die Worte zu sprechen: »Ich habe Senf und Dille, Mann, wenn ich rede, schweigst du stille.« 42  Vgl. Gen 3,16, vgl. auch 1 Kor 11,7–9.

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Geschlechtskonstruktionen kulturell überformt sind.43 Die körperlichen Besonderheiten von Frauen dienen als Beleg für die Richtigkeit ihrer sozialen Subordination, wie Maria im Hochzeitsspiel argumentiert: Vnd drümb als wenig Gott der Herr Das weib befreit von schmertzen schwer Wenn sie irgnt geht mit schwangerm leib So wenig wil er /  das das weib Von mans gehorsam gfreyet werdt Noch diese straff von ihr gekert /  (v. 981–986).

In dreifacher Hinsicht hält die Mutter Jesu die Aufhebung oder gar Verkehrung der Geschlechterhierarchie für verwerflich.44 Zum einen wertet sie den Ungehorsam von Frauen als einen Verstoß gegen ihre religiöse Bestimmung und deshalb als gottlos. Widerspenstige Frauen widersetzten sich der Strafmaßnahme, die Gott dem weiblichen Geschlecht zu seinem Heil auferlegt habe und gelangten deshalb in die Hölle (vgl. v. 999 f.). Mittels eschatologischer Konsequenzen lässt sich ein besonders wirksames Drohpotential aufbauen, um Frauen auf ihre Gehorsamspflicht einzuschwören. Zum zweiten verkehren ungehorsame Frauen nach Marias Ansicht die von Gott gegründete, natürliche Ordnung der Dinge. Sie wollten den Schöpfer übertreffen, erhöben die Pfeiler über das Gewölbe, stellten den Reiter auf die Erde, damit er selbst sein Pferd trage (vgl. v. 1004–1006). Der Vergleich der Geschlechterbeziehung mit Ross und Reiter erinnert an die Erzählung von Aristoteles und Phyllis und steht in einer jahrhundertelangen misogynen Tradition.45 Während in der Antike und im Mittelalter jedoch primär die gefährliche Verführungskraft von Frauen in Text und Bild thematisiert wird, erhält der Vergleich im reformatorischen Hochzeitsspiel eine eigene Zuspitzung: Statt zu kritisieren, dass sich ein Mann aufgrund seines Begehrens zum Tier machen lässt, scheint ein Ritt in wechselnder Besetzung der Geschlechterordnung zu entsprechen. 43  Zur kulturellen Konstruktion von Genderkonzepten vgl. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke, Frankfurt a. M. 1991. 44  Zur Funktion des Mannes als Gatten, Familienoberhaupts und häuslichen Priesters in der protestantischen Familie vgl. Albrecht Koschorke, Die Heilige Familie und ihre Folgen, Frankfurt a. M. 2000, 152. 45  Vgl. »Aristoteles und Phyllis«, in: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung, hg., übers. u. komm. Klaus Grubmüller (Bibliothek des Mittelalters 23), Frankfurt a. M. 1996, 492–523; Peter Flötner: »Aristoteles und Phyllis«, in: Roper, Das fromme Haus, 96, Abb. 5; Cornelia Herrmann, Der »Gerittene Aristoteles«. Das Bildmotiv des »Gerittenen Aristoteles« und seine Bedeutung für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung vom Beginn des 13. Jahrhunderts bis um 1500, Pfaffenweiler 1991.



Der Eheteufel auf der Hochzeit zu Cana153

Der dritte Verstoß, der mit dem verweigerten Gehorsam der Frau einhergeht, betrifft die politische Ordnung. Nach Luthers Vorstellung soll die Familie nach dem Vorbild des Staates geordnet sein und bildet zugleich seine Keimzelle.46 Dabei kommt der Frau die Rolle des Untertanen zu, der sich der Obrigkeit fügen soll.47 Weiblicher Ungehorsam richtet sich daher nicht nur gegen den eigenen Ehemann, sondern stellt zugleich einen Angriff auf das Gemeinwesen dar. Renitente Ehefrauen zettelten im eigenen Haus einen Aufstand an, erklärt Maria, und verhielten sich somit wie Volksverhetzer gegenüber dem gmeinen pöbel (v. 1014). Diese poli­ tische Implikation wertet sie als besonders problematisch, weil andere Frauen durch negative Vorbilder zum Ungehorsam verführt werden könnten. Der neuralgische Punkt der von Maria vorgetragenen Geschlechterlehre ist die Gewalt. Die Position des Mannes als familiale Obrigkeit begründet sein Züchtigungsrecht. Er kann seinen Herrschaftsanspruch mit physischer Gewalt durchsetzen, ohne dass seine Frau den Gehorsam verweigern darf. Widerstand leisten gegen den Ehemann darf sie einzig dann, wenn der Befehl ihres Mannes gegen das Gebot Gottes verstößt. In allen anderen Fällen muss die Ehefrau die männliche Gewalt akzeptieren und dabei bedenken, dass es sich um eine göttliche Strafe oder Prüfung handeln kann. Maria rät ihrer besorgten Nichte, Gott in einem solchen Fall um Gnade zu bitten und den Ehemann zu versöhnen. Zuletzt bringt Maria noch eine weitere Option ins Spiel, bei der familiale und politische Konstellationen erneut verschränkt werden. Erfüllt ein Mann seine Fürsorgepflicht nicht, kann seine Frau an die weltliche Obrigkeit appellieren (v. 1065–1070). Durch die Verlagerung des Ehekonflikts auf eine höhere ­Hierarchieebene kann eine vernachlässigte oder misshandelte Frau Hilfe erhalten. Selbst diese Klagemöglichkeit trägt jedoch weniger zur Aufhebung als zur Stärkung der Geschlechterhierarchie bei. Frauen bleiben weiterhin subordiniert, da ihnen nur dann Recht zugesprochen wird, sei es von Gott oder einem weltlichen Ehegericht, wenn sie 46  Zu Luthers Eheauffassung vgl. Hauschild, Lehrbuch, 314 f. – Roper, Das fromme Haus, 63–65, weist darauf hin, dass sich der Augsburger Rat in der Zuchtordnung von 1537 wiederholt auf das Bild des Hausvaters bezog, um sein Verhältnis zu seinen Bürgern zu beschreiben und gleichsam einen natürlichen Machtanspruch auf sie zu erheben; die Moralvorstellungen wertet Roper insgesamt als den Schlüssel zur politischen Neuorientierung in der Reformationszeit. 47  Ebenso wie die Auflehnung der Frau gegen den Mann wird die Auflehnung der Untertanen gegen die Obrigkeit als eine Sünde gewertet. – Zu den Parallelen ­zwischen häuslicher und politischer Ordnung vgl. auch Price, »Gender«, 145–150. – Koschorke (Heilige Familie, 154) argumentiert, dass im protestantischen Familienmodell patriarchale (familienväterliche), paternalistische (landesherrliche) und kirchliche Aufsicht Hand in Hand gingen.

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an ihrem Opferstatus festhalten.48 Maria stellt mit Blick auf einen gewalttätigen Konfliktfall klar: Du aber für dein eign person Solst vor vnd nach sein vnterthan /  Vnd allen vngehorsam meidn /  Ehe druber gwalt vnd vnrecht leidn (v. 1071–1074).

Ebenso wie Maria ihre Nichte zum Gehorsam verpflichtet, hält Tobias den Bräutigam zur Herrschaft an.49 Er soll die Ordnung Gottes achten und über seine Frau herrschen, allerdings ohne willkürlich Gewalt auszuüben. Die Hierarchie der Geschlechter ist darüber hinaus Gegenstand der Hochzeitspredigt. Jesus belehrt die Brautleute, wie eine gute Ehe zu führen ist, wobei er sich auf die paulinischen Briefe stützt:50 Die schrifft dem Weibe zeiget an Das sie dem Mann sey vnterthan Der Man dagegen lieb sein Weib Nicht anders als sein eignen leib Wo dise stück bey samen sind Den rechten hausfrid man da find /  (v. 1463–1468).

Abhängig macht Rebhun sein zentrales Ziel, den rechte Hausfrieden zu sichern, also von zwei Bedingungen: der Unterordnung der Frau und der Liebe der Männer. Im Beschluss wird die beidseitige Verpflichtung der Eheleute als Essenz des Spiels festgehalten, die nun in einem erneuten Rückgriff auf die Bibel christologisch begründet wird: Vnd wil /  das /  wie die kirch dem Herrn Jst vnterthan /  vnd helt inn ehrn Das auch die Weiber ihre Man Alzeit inn gleichen wirdn sol han Da gegen /  wie sich Christus hat Gegn seiner gmein mit lieb vnd that  /  Erzeigt /  also ein man auch sol Gegn seinem Weib sich halten wol (v. 2135–2142).51

Diese geschlechtsspezifischen Forderungen erklären, weshalb in der Frühneuzeitforschung so unterschiedliche Urteile über die Bedeutung der 48  Auch in diesem Punkt stimmen Rebhuns dramatische Lehre und die politische Praxis in Augsburg überein, vgl. Roper, Das fromme Haus, 165. 49  Zur Herrschaftspflicht reformatorischer Ehemänner allgemein vgl. Steven E. Ozment, When Fathers Ruled. Family Life in Reformation Europe, Cambridge, Mass. / London 1983. 50  Vgl. Kol 3,18. 51  Vgl. Eph 5,22–25.



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Reformation für die Geschlechtergeschichte gefällt werden: Während von Frauen eine Subordination verlangt wird, basiert die Forderung, Männer sollten ihre Ehefrauen wie sich selbst lieben, auf einem Egalitätsgedanken. Liegt das Schwergewicht der Interpretation auf dieser zweiten Bedingung können die Folgen der Reformation für Frauen durchaus positiv bewertet werden. In der Summe dominieren – zumindest in Rebhuns Hochzeitsspiel – jedoch die restriktiven Aussagen zur Gehorsamspflicht.52 Die männliche Überlegenheit wird zwar durch die Forderung zur Gattinnenliebe partiell relativiert, doch bleibt das Geschlechterverhältnis von Männern dominiert. Der Handlungsspielraum der Frauen ist vom Wohlwollen ihrer Ehemänner oder der städtischen Eherichter abhängig.

IV. Divergierende Männlichkeit Wie schwierig das Ideal der weiblichen Gehorsams- und männlichen Fürsorgepflicht in der Ehepraxis umzusetzen ist, wird in der Spielhandlung reflektiert. Aufgrund der menschlichen Verschiedenheit, die nicht allein mit der Geschlechterdifferenz zu erklären ist, stellt die Eheführung eine große Herausforderung dar. Im Gespräch mit dem Bräutigam entwirft Tobias eine Typologie von Ehepartnern, in der er vier Arten von Männern und Frauen unterscheidet. Die erste Gruppe der Ehemänner tituliert er als Sieman.53 Diese tolerierten Ungehorsam und führten nicht selbst das Regiment, sondern überließen die Macht ihren Frauen (vgl. v. 1279–1284). Auch die übrigen Männertypen werden mit sprechenden Namen charakterisiert und – wie in der modernen Gendertheorie – gemäß ihrer Position im Geschlechterverhältnis kategorisiert.54 Als Herman bezeichnet Tobias die zweite Gruppe Männer, die ihre Herrschaftspflicht zwar erfüllten, jedoch ihren 52  Auch in städtischen Zuchtordnungen gilt der Gehorsam der Frau als entscheidende Pflicht, auf den sich viele Einzelbestimmungen zurückführen lassen, vgl. Roper, Das fromme Haus, 144. 53  Zur Wortgeschichte, zur frühneuzeitlichen Semantik und zu Rebhuns Typologie vgl. Paul F. Casey, »Serious humor. An Extended Word-Play in Paul Rebhun’s ›Hochzeit zu Cana‹ (1538)«, in: James Hardin, Jörg Jungmayr (Hgg.), »Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig«. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Gert Roloff, Bern u. a. 1992, 597–604. – Zum zeitgenössischen Diskurs vgl. auch Adam Schubart, Haußteuffel /  das ist /  Der Meister SIEman […], Frankfurt a. M.: Martin Lechler für Sigmund Feyerabend, Simon Hüter 1565. 54  Zur Konstruktion divergierender Männlichkeiten durch soziale Praktiken und das Aushandeln von Machtverhältnissen vgl. Robert W. Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten (Geschlecht und Gesellschaft 8), Opladen 1999, bes. 98.

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Willen lieblos und gewaltsam durchsetzten (v. 1285–1290). Eng mit diesem Typus verwandt ist die dritte Gruppe der Ehemänner, die Kolbman genannt würden. Diese Männer griffen viel zu schnell zur körperlichen Gewalt, aber auch ihre Frauen vernachlässigten ihre Pflichten und gehorchten nicht (v. 1291–1298). Nur der vierte Männertyp entspricht dem reformatorischen Eheideal und wird demzufolge auch als Gots man bezeichnet. Solche Männer liebten ihre Frauen, wie auch diese das göttliche Gebot erfüllten und ihren Männern Gehorsam leisteten (v. 1299–1314). Die Verhaltensweisen von Ehepartner korrelieren zwar zum Teil,55 doch können sie auch divergieren. Daher ist es für einen frommen Ehemann wichtig, die verschiedenen Frauentypen zu kennen, wenn er sein Herrschaftsamt angemessen ausüben und jede nach ihrer Art behandeln will.56 Glücklich können sich nach Tobias die Männer schätzen, deren Ehefrauen von sich aus auf ihre Tugend achten und sich bereitwillig unterordnen (299, v. 243–254). Andere Frauen hätten zwar einen guten Willen, doch handelten sie aus Unvernunft oft falsch und müssten mit Ermahnungen zum richtigen Handeln angeleitet werden (300, v. 275–284). Drittens gebe es Frauen, die sich nach Esels art (300, v. 297) geraten seien und Schläge bräuchten, um auf einen guten Weg zu gelangen. Am problematischsten wertet Tobias die vierte Gruppe von Frauen, die ihren Männern das Leben schwer machten und sich weder mit Worten noch mit Schlägen zum Guten bewegen ließen (302, v. 341–378). Dieses theoretische Wissen wird für den Bräutigam nicht mehr handlungsrelevant, zumal seine Braut stets als fromm und gehorsam charakterisiert worden ist. Einen Vertreter eines kritisierten Männlichkeitskonzepts können die Rezipienten jedoch auf der Bühne erleben. Dabei handelt es sich um den Typus, der die frühneuzeitliche Geschlechterordnung am stärksten bedroht: Der Siemann, der die hierarchischen Verhältnisse verkehrt, wird im Hochzeitsspiel mit dem onomasiologisch verwandten Jünger Jesu gleichgesetzt und diskriminiert.57 Simon fällt dadurch auf, dass er nicht gemeinsam 55  Besonders offenkundig ist dies bei der Bezeichnung Sieman, die im Hochzeitsspiel sowohl für gehorsame Männer als auch für herrschsüchtige Frauen verwendet wird. So warnte die Zauberin den Bräutigam davor, seiner Braut zu viel Raum zu lassen, Das sie nicht Doctor Sieman würde (v. 1167). Die Zuordnung wird also nicht von biologischen Geschlechtsmerkmalen, sondern vom sozialen Handeln abhängig gemacht. Zur Performativität von Genderkonzeptionen vgl. auch Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, bes. 198–208. 56  Den zweiten Teil der Ehelehre lagert Rebhun aus und hängt ihn aus aufführungspraktischen Überlegungen am Ende des Stückes an, lässt ihn aber bereits im Beschluss der Bühnenhandlung zur Lektüre empfehlen (vgl. v. 2105–2110). 57  Zum Wortspiel Sieman / Simon vgl. Casey, »Serious Humor«, 597 f.

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mit den anderen Gästen zum Hochzeitsfest kommt. Er fehlt während der Trauzeremonie, weil er in Weiber gschefft […] verstrickt sei (v. 1465). Eine typische Frauentätigkeit auszuüben, ist bei einem hierarchischen Geschlechterverständnis schon problematisch genug; noch kritischer wird Simons Handeln deshalb bewertet, weil er einen Befehl seiner Frau erfüllt.58 Freimütig entschuldigt sich Simon für seine Verspätung: Mein fraw die gab mir für ein gschefft Damit war ich so lang verhefft Jch must ihr wign ein weil das kindt Dann wir nicht habn viel haussgesindt (v. 1473–1476).

Wie ungebührlich und unmännlich ein solches Verhalten ist, wird bühnenwirksam inszeniert. Für den seiner Frau gehorsamen Simon findet sich kein Platz mehr in der männlichen Gesellschaft; statt neben Tobias, Jesus und seinen Jüngern wird Simon am Frauentisch platziert. Die Sitzordnung spiegelt den frühneuzeitlichen Hochzeitsbrauch, nach Geschlechtern getrennt zu feiern, und bringt zugleich die Schande eines effeminierten Mannes symbolträchtig zum Ausdruck.59 Der Sieman macht seinem Namen alle Ehre, indem er keinerlei Einspruch erhebt und sich nur allzu bereitwillig in die Gemeinschaft der Frauen einfügt: Es ist mir eins /  ich sitz bey euch Odr anderswo gilt ebn gleich Mit weibern ich mich wol vertrag Vnd lass sie herrn sein nacht vnd tag /  Vnd ehe ich sie entrüsten wolt Eh wolt ich thun /  als was ich solt  /  (v. 1495–1500).

Die Sieman-Episode zeigt die Konsequenzen eines egalitären Geschlechterverständnisses für Männer auf. Wenn sie sich Frauen gleichstellen, werden sie von Männern ausgegrenzt. Die mit der Genderdifferenz verbundene Hierarchie wird nicht etwa aufgehoben, sondern zu Ungunsten des Mannes verkehrt und auf diese Weise neu gestärkt. Dass das reformatorische Bibeldrama dazu beiträgt, die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu zementieren, zeigt sich besonders an dem Motiv, das aus den spätmittelalterlichen Weihnachtsspielen bekannt ist: dem Wiegen des Kindes. Während Maria in vorreformatorischen Weihnachtsspielen Josef 58  Vgl.

aus.

V. 1467 f.: Sein fraw beualch ihm was im haus | Das muss er ihr vor richten

59  Zu geschlechtsspezifischen Hochzeitsbräuchen vgl. Roper, Das fromme Haus, 116–118. – Roper berichtet von dem Passus der Augsburger Hochzeitsordnung von 1571, nach dem sich ein Bankrotteur als Demütigung zu den Frauen setzen musste. – Zur didaktischen Funktion des komischen Zwischenspiels bei Rebhun vgl. ­Casey, »Serious Humor«, 602 f.

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bedenkenlos bitten kann, ihr beim Wiegen des Kindeleins zu helfen, gilt dieselbe Tätigkeit bei Rebhun als entehrend.60 Im Spiel zeichnet sich eine klare Aufgabenverteilung ab; die Verrichtung typisch häuslicher Tätigkeiten, wie sie Josef in spätmittelalterlichen Spielen und Bildern mit dem Schüren des Feuers, dem Kochen des Breies oder dem Wiegen des Kindes übernimmt, widerspricht den reformatorischen Ehe- und Geschlechtervorstellungen. Eine solche Tätigkeit bedroht die Genderhierarchie und wird deshalb als lächerlich bzw. unmännlich markiert. Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus dieser Analyse für die Frage nach der Position von Frauen in der Reformationszeit ableiten? Trotz der Appelle zur liebevollen Verantwortung der Ehemänner bin ich geneigt, Lyndal Roper recht zu geben und die soziale Degradierung von Frauen stärker zu gewichten als ihre individuelle Wertschätzung.61 Die reformatorische Geschlechterordnung war deshalb so erfolgreich, weil Frauen auf die Rolle der subordinierten Ehefrau festgelegt und andere, auf Ehelosigkeit basierende Lebensmodelle verworfen wurden.62 Die Erziehung zur angemessenen Verhaltensweise betrifft jedoch nicht nur Frauen, auf die Roper den Fokus ihrer Studie legt. Auch Männer müssen sich am neuen Männlichkeitsideal des protestantischen Eheherren orientieren, um nicht dem Gelächter preisgegeben zu werden. Wie Rebhuns Hochzeitsspiel belegt, werden die reformatorischen Bibeldramen als Medium genutzt, um geschlechtsspezifische Verhaltensregeln zu vermitteln und Machtverhältnisse zu verfestigen. Die Geschlechterordnung wird im Hochzeitsspiel durch teuflische, bösartige oder lächerliche Figuren kurzzeitig verkehrt, um durch Autoritätspersonen umso wirksamer verteidigt zu werden. 60  Zum protestantischen Bild der Heiligen Familie vgl. Koschorke, Heilige Familie, 146–167. Er weist darauf hin, dass sich das protestantische Männlichkeitskonzept nicht etwa an die Väterlichkeit Josefs, sondern die Väterlichkeit Gottes anlehnte (ibid., 159). – Auch in Holzschnitten des 16. Jahrhunderts wird die häusliche Arbeit eines Mannes als eine Rolleninversion karikiert, vgl. Hans Leonhard Schäufelein, »Der Windelwäscher« (1536), in: Roper, Das fromme Haus, 163, Abb. 10. 61  Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Price (»Gender«, 1992, 153 f.). Er widerspricht der Auffassung, die Reformation habe zu einer Aufwertung von Frauen geführt, und hält fest: »As portrayed in the dramas, matrimony in the patriarchal family entailed subjugation of the wife. […] matrimonial drama is politically charged; it represents public affirmation of class and gender hierarchy.« 62  Vgl. Roper, Das fromme Haus, 190: »Natürliches und göttliches Recht, die evangelische Auffassung von der Familie verboten Frauen jedwede Autoritätsausübung und untersagten ihnen jede Funktion außerhalb des Hauses.« Die Frauenklöster waren die einzigen Einrichtungen, in denen Frauen wählten und Ämter übernahmen und materielle Verfügungsgewalt besaßen. Zur Aufhebung der Frauenklöster vgl. ibid., 183–194.



Der Eheteufel auf der Hochzeit zu Cana159

Doch geht Rebhuns Spiel wirklich ganz in seiner Lehrfunktion auf? Allen guten Ratschlägen zum Trotz bleiben gewisse Ambivalenzen nicht nur im Hinblick auf die Bewertung der Frauenrolle erhalten:63 Die Argumente der Zauberin und das Verhalten Simons belegen, dass die Geschlechter­ hierarchie keineswegs unumstritten war. Die Vehemenz, mit der Paul Rebhun und andere Autoren für die reformatorische Ehelehre eintraten, lässt auf Widerstände bei der Etablierung einer patriarchalen Geschlechterordnung schließen. Der Eheteufel steckt bei der Hochzeit zu Kana im Detail.

63  Anders urteilt dagegen Price (»Gender«, 1992, 154): »To Rebhun, gender and class inequality is absolute and unconditional.«

Erneuerung und Wirkung der Rhetorik in Spanien (16. Jahrhundert) Von Dietrich Briesemeister Die Entfaltung der klassischen Rhetorik geht in den Sprachräumen des habsburgischen Reichs unter soziokulturell unterschiedlich geprägten Zuständen sowie in Zeiten heftiger politischer und religiöser Streitigkeiten vonstatten. Noch bevor die bahnbrechenden Rhetoriktraktate zur Verfügung stehen, hatte die humoralphysiologische Völkertypologie Spanien zur rhetorischen Nation erklärt. Den Wahrnehmungsmustern für Temperament und Icon animorum von Menschen und Völkern werden Topoi für Lob, Tadel und Vergleich zugeordnet. Als strategische Mittel der Rhetorik liefern loci communes die Schlagwörter zur Beweisführung. Zum Register der Merkmale spanischen Wesens gehört neben ingenium und mores des Volkes die ›National‹sprache, deren kastilische Ausformung in der Literatur gefestigt und von Latinisierungstendenzen begleitet wird. Die Sprachensituation auf der Iberia oder Hispania genannten Halbinsel ist breiter gefächert. Neben den romanischen Staatssprachen Kastilisch (Spanisch) und Portugiesisch bestehen in Spanien bis heute jeweils mit Schrifttum seit dem Hochmittelalter drei Sprachen: Galicisch, Katalanisch – (ein katalanisch-deutsches Wörterbuch erschien bereits 1502) – und das nichtindo­ europäische Euskara (Baskisch). Im Freund-Feind-Schema werden diese Unterschiede zunächst kaum wahrgenommen. Nach Ansicht des Agrippa von Nettesheim (De incertitudine et vanitate scientiarum et artium declamatio, 1530, cap. liv) zeichnen sich die Spanier aus durch sermone eleganti, elata iactantiae animositate, voce flebili, sie sind in oratione culti, sed iactabundi, in conversationibus cauti – die Deutschen übrigens imperiosi intolerabilesques – und in consiliis astuti. Attribute wie acuta, brevis, efficax, gravis, plena proverbiorum, religiosa, honesta bleiben lange im Umlauf. Fernando de Herrera preist das Spanische 1580 in den Anotaciones zur Dichtung des Garcilaso de la Vega als »grave, religiosa, onesta, alta, manifica, suave, tierna, afetuosissima, i llena de sentimientos, i tan copiosa i abundante, que ninguna otra puede gloriarse desta riqueza i fertilidad mas justamente«: das ist unüberbietbar die vollkommene Sprache der Redekunst. Umgekehrt hat die Liste der Nationalcharakteristika, die Julius

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Caesar Scaliger seinem Handbuch Poetices libri septem (1561, III, cap. 17) unter der Rubrik Natio sive gens beifügt, Spuren hinterlassen: die Spanier gelten als alacres, bibaces, loquaces, iactabundi, tragen fastus tartareus zur Schau, werden getrieben von auaritia immanis, fidei firmitas, und gelten als omnibus nationibus et invidentes et inuisi. »These colours of Castillian Rhetorick« bestimmen auch im elisabethanischen England die Vorstellung von Habitus und Redeweise der Spanier. In protestantischen Ländern bleiben sie verrufen als Fuchsschwänzer, schmeichelnde Schönredner, Meister hinterlistiger dissimulatio und Lügner.1 Noch im 18. Jahrhundert urteilt der Hallenser Professor der Beredsamkeit Nikolaus Hieronymus Gundling, von Sprach-, Landes- oder Literaturkenntnis unberührt: »Ihre Oratorie geht auf Steltzen«, und ihre Redner seien Wäscher. Im Zeitalter der Entdeckungen verfestigen sich nationale Phänotypen und Unterscheidungsmerkmale der Nationen durch neue Vormachtsansprüche.2 Sebastian Münster übernimmt in seiner Cosmographia. Beschreibung aller Lender (1544) das abschätzige Urteil in De Hispania et eius ad Galliam comparatio des Exilspaniers Miguel Servet aus dessen PtolemaeusAusgabe (1540): die Spanier hand sinnriche köpff, aber werden jren studieren niimmer recht gelert. Dann so sie halber gelernt hand, achten sie sich für gar gelert vnd erzeigen mit jrem geschwetz vnd bracht mere kunst dann hinder jn ist. Es wirt selten einer by jnen gefunden, der die Latinisch sprach recht kann, sunder sie vermischen sie mit jrer vnd der Marranen sprachen. Vnd das ist vrsach, das also wenig bücher in Hispania beschriben werden (f. xlviir).

Gravis, Merkmal der elocutio, erhält durch die Übersetzung »rauhe sprach« (gravitas) eine abschätzige Bedeutung gegenüber dem »freundt­ licheren« Französisch. Zuvor hatte Juan Luis Vives die styli tarditas vel ruditas der Spanier beklagt, eine Kritik, die nicht nur italienische Humanisten mit dem Zusatz aufgreifen, Universitäten und Lateinkenntnisse seien insgesamt schlecht. Der Arzt Huarte de San Juan führt im Examen de ingenios (cap. Viij) den Spruch grammaticus ipse arrogantia est an und behauptet kühn, dass sich nicht nur die lateinische Sprache schwerlich mit scholastischer Theologie vertrage, sondern dass, auch konstitutionell be1  Jon R. Snyder, Dissimulation and the culture of secrecy in early modern Europe, Berkeley 2009. Christian Büschges, »Politische Sprachen? Sprache, Identität und Herrschaft in der Monarchie der spanischen Habsburger«, in: Thomas Nicklas, Matthias Schnettger (Hgg.), Politik und Sprache im frühneuzeitlichen Europa, Mainz 2007, 15–32. 2  Paola Gambarota, Irresistible signs. The genius of language and Italian national identity (Scripts of vernaculars and collective characters in early modern Europe), Toronto 2011, 22–58.



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dingt, »la lengua latina tan repugnante al ingenio de los Españoles« sei; barbarisches und rauhes (Lessings Übertragung von »mal rodado«) Latein verrate unschwer die Herkunft des Sprechers.3 Lorenzo Valla bezeichnet Hispania in Historiarum Ferdinandi Regis Aragoniae libri III (Rom 1520) mit Blick auf die Lage im Westen des Kontinents als caput Europae und caput orbis terrarum. Eine ähnliche Formel verwendet sein in Kastilien wirkender Landsmann Lucius Marineus Siculus. Kaum zwanzig Jahre später erscheint eine allegorische Karte von Europa in Gestalt einer Königin mit Spanien als Haupt, sie demonstriert Habsburgs Führungsanspruch: Universalmonarchie und dominatus mundi.4 Münster gibt der Cosmographia einen ähnlichen Holzschnitt bei, und Luís de Camões überhöht Portugal im Nationalepos Os Lusíadas (1572) aus himmlischer Schau zu Scheitel und Krone Europas: »quasi cume da cabeça  /  De Europa toda, o Reino Lusitano« (III,20). Im Dreißigjährigen Krieg kursierte schließlich das geflügelte Wort »Spanien ist der Mund Europas«, und Deutschen kommt heute noch manches »spanisch« vor. Os, das Haupt, gilt als würdigstes Glied und Sitz des Verstandes. Os bezeichnet jedoch auch Sprache und Redekunst, die beide der Macht als Werkzeuge dienen. Der Valencianer Rhetoriklehrer Juan Lorenzo Palmireno wagt das Wortspiel: oratio »Latine quasi oris ratio dicta est«. Andererseits wird Ariosts prahlender Rodomonte, der »Bergumwälzer« im Orlando furioso, zum Inbegriff des Spaniers als Großmauls, fanfarrón (panfarron).5 Das Schreckbild des gefräßigen Spaniens, das sich die Niederlande und Amerika einverleibt hat, 3  Manuel Garrido Palazón, »El Examen de ingenios para las ciencias de Huarte de San Juan y el enciclopedismo retórico y didáctico de su tiempo«, Revista de literatura 122 (1999), 349–373. Tomás Albaladejo Mayordomo, »La retórica en el Examen de ingenios para las ciencias de Huarte de San Juan. Elocuencia, verdad y el perfecto orador«, Castilla. Estudios de literatura 21 (1996), 7–18. María Dolores Rincón González, »El análisis fisiológico del predicador en el Examen de ingenios de Huarte de San Juan, ¿cuestión de selección o de ortodoxia?«, in: Trinidad Arcos Pereira u.a. (Hgg.), Pectora mulcet. Estudios de retórica y oratoria latinas, Logroño 2009, Bd. 2, 1171–1180. 4  Peter Meurer, »Europa Regina. 16th-century maps of Europe in the form of a queen«, Belgeo. Revue Belge de Géographie 3 / 4 (2008), 355–370. Barbara F. Weissberger, Isabel rules. Constructing queenship, wielding power, Minneapolis 2004. 5  Dietrich Briesemeister, »Der satirische Bilderbogen vom ›Signor Spangniol‹ «, in: ders., Spanien aus deutscher Sicht. Deutsch-spanische Kulturbeziehungen gestern und heute, Tübingen 2004, 175–189. Víctor Infantes, »La sátira antiespañola de los fanfarrones, fieros, bravucones, y matasietes. Las ›Rodomuntadas españolas‹ y los ›Emblemas del Señor Español‹ (1601–1608)«, Mélanges de la Casa de Velázquez 43,2 (2013), 39–52; ders. in: Rafael Zafra Molina, José Javier Azanza (Hgg.), Emblemática trascendente, hermenéutica de la imagen, iconología del texto, Pamplona 2001, 363– 372.

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beherrscht die Bildpropaganda gegen die aufstrebende Weltmacht. John Case stellt Königin Elisabeth von England im Frontispiz seiner Sphaera ciuitatis (1588) als Astraea und Verkörperung der Tugendordnung über alle Welt voran. Dem verächtlichen hispanizare – Spanisch und Spanisches annehmen oder nachahmen – steht später Campanellas Wunschtraum spanischer Weltbeherrschung entgegen: egregium hoc esset, si mundus totus lingua et legibus Hispanicis uteretur (De Monarchia Hispanica discursus, Amsterdam 1640, cap. XI). Der Streit um die protokollarische Rangordnung (praecedentia) unter den europäischen Fürstenhäusern bietet die Bühne für die Austragung des politischen Vormachtsanspruchs.6 Dazu fügt sich die Anekdote über den Redewettstreit (contentio de primatu linguarum) zwischen Vertretern aus französisch-, spanisch- und italienischsprachigen Ländern, die der translatio studii eine Stufung der translatio linguae folgen lässt. Ob die rhetorische Demonstration zum Erweis der vollen Übereinstimmung mit dem Latein 1498 tatsächlich vor Papst Alexander VI. stattfand, der vier Jahre zuvor die Welt in eine spanische und eine portugiesische Hemisphäre aufgeteilt hatte, ist nicht gesichert, passt jedoch sowohl zum seinerzeit in Frankreich, Italien und Spanien geführten Streit über Herkunft und Würde der Nationalsprachen als auch zur Übung von Prunk- und Streitreden. Der spanische Vertreter siegt mit dem Beweis der »conformidad«.7 Einer der frühen spanischen Grammatiken, der Vtil, y breve institvtion, para aprender los principios y fundamentos de la lengua Hespañola (Löwen 1555), ist als Muster eine weitere Epistola Latina et Hispana beigegeben zum doppelsinnigen Beleg dafür, dass »los Españoles como los Latinos escriben como hablan y hablan como escriben« (f. A ijv). Bei der Diskussion über die Herkunft der romanischen Volkssprachen wurden die Einfälle der Vandalen, Goten und Mauren auf der Iberia als Ursache für den verdorbenen Zustand der Latinität (corruptio) ausgemacht. Ohne den Barbareneinfall hätte das Latein den einstigen Blütezustand bewahrt. In einem Psalmenkommentar stellte Jaime Pérez de Valencia 1484 fest: […] lingua hispana moderna nil aliud est nisi lingua Romana obliquata (Paris 6  Dietrich Briesemeister, »La lutte de préséance et prééminence entre la France et l’Espagne«, in: Pierre Civil (Hg.), Siglos dorados. Homenaje a Augustin Redondo, Bd. 1, Madrid 2004, 137–153. 7  Marc Zuili, »La contienda entre el latín y el castellano en la España de los Siglos de Oro«, Studia Europea Gnesnensia 5 (2010), 81–97; ders.: »Défense de la langue vernaculaire et naissance d’un sentiment national dans l’Espagne des XVIe et XVIIe siècles«, in: Marie-Sol Ortolá, Marie Roig Miranda (Hgg.), Langues et identités culturelles dans l’Europe des XVIe et XVIIe siècles, Bd. 2, Nancy 2006, 231–244. Avelina Carrera de la Red, El problema de la lengua en el humanismo renacentista español. Lingüística y filología, Valladolid 1998.



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1518, f. xviir).8 Als debellator barbariae kann schließlich Antonio de Nebrija mit der lateinischen Grammatik, Rhetorik und den Wörterbüchern gefeiert werden. Bezeichnenderweise wird eine weitere Anekdote zum Rangstreit der Sprachen mit Kaiser Karl V. verbunden, der auf Spanisch zu Gott betete (wegen der gravitas und maiestas), mit Freunden und Frauen in italienischer, mit Diplomaten in französischer Sprache verkehrte – und militärische Befehle in deutscher Sprache erteilte; tudesco oder teutón haben den abschätzigen Beigeschmack behalten.9 Die spanische Krönungsrede 1529 vor dem Papst in Bologna galt als deutliche Machtbekundung. Seinem Sohn Philipp sollte er jedoch später die tägliche Übung des Lateins als Hauptsprache für den weltumspannenden Nachrichtenverkehr empfehlen. Die im 19. Jahrhundert gebildete und heutzutage gebräuchliche Bezeichnung Lateinamerika für die 1492 in Besitz genommene Neue Welt ist allerdings irreführend und war anfänglich das Kennwort eines ideologischpolitischen Verbunds gegen die »anglo-germanischen« (und protestantischen) Länder. Die Neubildung beruht auf der latinisierten Fassung von Vespuccis Vornamen Amerigo. Die Formel von der Sprache als Begleiterin der Macht – »la lengua compañera del imperio« – hatte Nebrija im Jahr der Entdeckung Amerikas und des Endes der Maurenherrschaft in die Widmung der Gramatica sobre la lengua castellana an die Katholischen Könige übernommen.10 Sie 8  Erasmo Buceta, »La tendencia a identificar el español con el latín. Un episodio cuatrocentista«, in: Homenaje ofrecido a Ramón Menéndez Pidal, Madrid 1925, 85–108. Dietrich Briesemeister, »Rodrigo de Valdés, S. I. (1609–1682) y la tradición poética en latín congruo y puro castellano«, Ibero-Amerikanisches Archiv, N. F. 12 1986, 97–122. Pedro Ruiz Pérez, »Composiciones hispano-latinas del siglo XVI; los textos de Fernán Pérez de Oliva y Ambrosio de Morales«, Criticón 52 (1991), 111– 139. Alicia Yllera, »Rivalidades lingüísticas franco-españolas en el siglo XVI«, Epos 14 (1998), 383–407. 9  Harald Weinrich, Wege der Sprachkultur, Stuttgart 1985, 181–192; Manuel Alvar, »Carlos V y la lengua española«, in: Karl-Hermann Körner, Günther Zimmermann (Hgg.), Homenaje a Hans Flasche. Festschrift zum 80. Geburtstag, Stuttgart 1991, 417–435. 10  Eugenio Asensio, »La lengua compañera del imperio. Historia de una idea de Nebrija en España y Portugal«, Revista de filología española 43 (1960), 300–413. Hugues Didier, »L’Espagne écartelée entre une identité à fondement linguistique (le castillan ou espagnol) et l’idéal d’une monarchie chrétienne universelle«, in: Ortola, Roig Miranda (Hgg.), Langues et identités culturelles, Bd. 2, 287–298. Lore Terracini, Lingua come problema nella letteratura spagnola del Cinquecento, Turin 1979. David Rojinsky, Companion to Empire. A genealogy of the written word in Spain and New Spain, Amsterdam 2010, 93–136. Miguel Martínez, »Language, nation, and empire in early modern Iberia«, in: José del Valle (Hg.), A political history of Spanish.

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sollte 1614 überboten werden durch Heinrich Doergangk in der ersten, in Köln auf Lateinisch gedruckten spanischen Grammatik für den deutschen Sprachraum, den Institutiones in linguam Hispanicam. Im Gegensatz zur Wirkung spanischen Schrifttums im frühneuzeitlichen Deutschland (in lateinischer und deutscher Übersetzung) setzt die Beschäftigung mit der Sprache spät ein. In seiner apologetisch eifernden Vorrede erhebt der Kölner Lehrmeister die Sprache des neuen Gottesvolkes zur heiligen Sprache neben Hebräisch, Griechisch und Lateinisch. Er preist sie im Überschwang als vera, sincera, aperta, plena majestatis et gravitatis regiae, et heroicae magnanimitatis, referta verae pietatis. Rhetorische Ausdrücke und Tugendbegriffe verschmelzen zur politischen Losung: Ament ergo Hispanos qui Deum et Christum amant. In krassem Widerspruch dazu steht die frühe antispanische Sprachkritik des Antonio De Ferrariis, il Galateo, in De educatione (1505). Er schmäht die Spanier als versuti, subdoli, prompti, argutuli, vafri, geübt in blacterare, simulare, dissimulare, mentiri. Zu Unrecht bezeichneten sie ihr Idiom als linguam romanam (romancium) und stoßen hässliche Laute aus, crassos et saracenicos sonos ab imo gutture evomunt (Aussprache der ›jota‹).11 Den gängigen antispanischen Vorstellungen von Sprache und Wesensart stehen in Spanien die ausgeprägte Sprachreflexion und literarische Entwicklung entgegen, die begleitet wird vom Aufschwung der Rhetorik in lateinischer und spanischer Sprache. Die Hispanorömer Quintilian (aus Calahorra) und Seneca (aus Córdoba) stehen für die einheimische Tradition. Antonio de Nebrija, in Bologna ausgebildet, schafft die Hilfsmittel: das mehrmals überarbeitete und über Jahrhunderte maßgebende, aber auch kritisierte Lehrbuch Introductiones latinae (1481) sowie die ersten umfangreichen Wörterbücher (lateinisch-spanisch 1492 und spanisch-lateinisch 1495).12 Neben der Grammatik des Kastilischen (1492) setzt sich der Philologe bereits 1517 für die Normierung der Rechtschreibung ein. Zum Vergleich: die erste französische Grammatik (in lateinischer Sprache) von Jacques Dubois erschien 1531, die Teutsche Grammatica von Valentin The making of a language, Cambridge 2013, 44–60. Ignacio Guzmán Betancourt, »La lengua ¿compañera del imperio? Destino de un presagio nebrisense en la Nueva España«, Cuadernos Americanos 37 (1993), 148–164. 11  Vittorio E. Zacchino, »Il De educatione di Antonio Galateo e i suoi sentimenti antispagnoli«, in: La crisi dell’Umanesimo nella coscienza degli scrittori del Regno aragonese (Atti del Congresso Internazionale di Studi sull’età aragonese), Bari 1970. 620–633. 12  Miguel Ángel Garrido Gallardo, »Nebrija y las retóricas españolas del siglo XVI«, in: Filología y lingüística. Estudios ofrecidos a Antonio Quilis, Madrid 2006, Bd. 2, 1729–1744. Isabella Ianuzzi, »Talavera y Nebrija: lenguaje para convencer, gramática para pensar«, Hispania. Revista española de historia 228 (2008), 37–62.



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Ickelsamer kam 1534 in Druck. Unter der Regierung der Katholischen Könige wird die Rhetorik gestärkt durch Reformen im Bildungswesen, enge Verbindungen des Hofs mit italienischen Humanisten (Lucius Marineus Siculus, Petrus Martyr de Anghiera) sowie nach Italien.13 Ugolino Verino und Carlo Verardi verfassten lateinische Huldigungsschriften. Die 1499 in Alcalá de Henares gegründete Universität bildet mit Salamanca das Zentrum der Philologie und Rhetorikstudien. Am Mittelmeer steigt der Handelsplatz Valencia mit der 1502 wiederbegründeten Universität zu einem humanistischen Studienzentrum auf. Juan Lorenzo Palmireno, ein erklärter Ciceronianer14 mit der programmatischen Disputatio de vera et facili imitatione Ciceronis (1566), beherrscht den Lehrbetrieb mit zahlreichen Schriften zur ars dicendi, überträgt aber auch nach dem Vorbild der Adagia (1508) des Erasmus spanische Sprichwörter ins Lateinische (Adagiae Hispanicae in Romanum sermonem conversae, 1584, erweitert 1591). Zuvor hatten bereits Pedro Vallés (1549) und der Gräzist und Rhetorikprofessor Hernán Núñez de Toledo Refranes o proverbios en romance gesammelt (1555). Juan de Mal Lara bestimmt in seiner Filosofia vulgar (Sevilla 1568) wie Erasmus deren philosophischen und dem Apophthegma oder Denkspruch vergleichbaren Gehalt, und die Bedeutung für die Rhetorik betont der Arzt Juan Sorapán de Rieros in der Vorrede zur Medicina española contenida en proverbios vulgares de nuestra lengua (Granada 1616). Die Übertragung volkssprachiger Texte ins Lateinische ist sowohl eine grammatikalische Herausforderung als auch eine Übung in Rhetorik. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nimmt die Zahl lateinischer Übersetzungen von Werken iberischer Autoren in Deutschland ebenfalls ständig zu. Ein Beispiel für die verschlungenen Wege der Übertragung bietet das Erbauungsbuch Spill dela vida religiosa in Form eines allegorischen Gesprächs, erstmals anonym 1515 in Barcelona auf katalanisch erschienen; 1533 erfolgte die kastilische Fassung, später erweitert unter dem Titel El Desseoso; 1553 kam die lateinische Version (Desiderius) von Laurentius 13  Martin Biersack, Mediterraner Kulturtransfer am Beginn der Neuzeit. Die Rezeption der italienischen Renaissance in Kastilien zur Zeit der Katholischen Könige, München 2010; ders., »Los Reyes Católicos y la tradición imperial romana«, Humanitas 12 (2009), 33–47. Ángel Gómez Moreno, España y la Italia de los humanistas. Primeros ecos. Madrid 1994. 14  Carl Joachim Classen, Antike Rhetorik im Zeitalter des Humanismus (Das Studium der Reden Ciceros in Spanien im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert), München 2003, 72–135. Juan María Núñez González, El ciceronianismo en España, Valladolid 1993. Guillermo Soriano Sancha, Tradición clásica en la Edad Moderna. El legado de Quintiliano en la cultura del humanismo, Logroño 2013. Guillermo Soriano Sancha, »Pensamiento clásico e intelectualidad cristiana. Quintiliano y la Compañía de Jesús«, Miscelánea Comillas 71 (2013), 265–292.

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Surius in Köln heraus. Auf sie gehen einige der Fassungen in acht Sprachen zurück, darunter Deutsch,15 Holländisch, Irisch und Polnisch. Lateinische Übertragungen aus den neueren Sprachen (von den Humanisten linguae exoticae genannt) erfordern sprachlich-stilistische Kenntnisse und rhetorische Gewandtheit.16 Juan Luis Vives nennt sich zwar Valentinus (aus Valencia stammend), studiert jedoch in Paris und entfaltet seine Wirksamkeit aus Furcht vor Verfolgung von Löwen und England aus. Dass Erasmus, der in Spanien zunächst sehr einflussreiche Anhänger hatte, früh übersetzt und oft gedruckt wurde, die Einladung aber ablehnte, in Alcalá zu lehren – non est animus hispanizein – ist vermutlich dem herrschenden Spanienbild zuzuschreiben, das der portugiesische Humanist Damião de Góis mit der Landeskunde Hispania (Löwen 1542) auch zu ändern versuchte. Die europäische Verbreitung von Rhetoriktraktaten spanischer Humanisten besorgen Verleger in Basel, die neben Antonio Lull und Fadrique Furió Ceriol vor allem die Werke von Juan Luis Vives auf den Markt bringen, sowie die Drucker in den Niederlanden (Löwen, Brüssel, Antwerpen; Benito Arias Montanos Rhetoricorum libri IV). Die Zahl von schätzungsweise über vierzig spanischen Verfassern rhetorischer Traktate im 16. Jahrhundert ist im internationalen Vergleich auffällig hoch. In der Dichtung des Siglo de Oro setzt der Culteranismo den Wettstreit mit dem Repertoire klassischer Ausdrucksmittel fort; Gegner prangern diesen Sprachstil als »la culta latiniparla« an. Gelehrte Anmerkungen durch den Salmantiner Philologen Francisco Sánchez de Brozas und seitens des Dichterfürsten Fernando de Herrera in Sevilla, genannt el Divino, kanonisieren die Lyrik von Juan de Mena und Garcilaso de la Vega, als Muster der ›National‹literatur. Der Gräzist Hernán Núñez de Toledo hatte schon 15  Der edele Sonnenritter, welcher mit sonderlicher Kriegßkunst gar artlich vorbildet die Wanderschafft deß Menschen Lebens, Gießen 1611. Georg Eickhoff, »Claraval, Digulleville, Loyola: la alegoría caballeresca de El pelegrino de la vida humana en los noviciados monástico y jesuítico«, in: Juan Plazaola (Hg.), Ignacio de Loyola y su tiempo, Bilbao 1992, 869–881; ders., »Von Clairvaux nach Loyola. Ort und Bild im aszetischen Gedächtnis. Zur Funktionsgeschichte der Allegorie«, GermanischRomanische Monatsschrift 44 (1994), 151–163. Élise Arnaud, »El pelegrino de la vida humana publié à Toulouse à la fin du XVe siècle«, Atalaya. Revue d’études médiévales romanes 13 (2013), digitalisiert. 16  Dietrich Briesemeister, »Traducciones neolatinas de obras en lengua española (siglos XVI–XVIII)«, Studi Ispanici 35 (2010), 11–43; veränderte deutsche Fassung: »Neulateinische Übersetzungen spanischer Werke im deutschsprachigen Raum im 17. Jahrhundert«, in: Alfred Noe, Hans-Gert Roloff (Hgg.), Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750), Bern 2012, 157–195.



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zuvor Menas Las CCC (1499) mit gelehrten Kommentaren wie einen klassischen Text behandelt. Mit der systematischen Ausformung der Rhetorik geht in Spanien die Entwicklung sowohl des lateinischen als auch des volkssprachigen Dialogs (coloquio, plática) als eigenständiger Gattung einher; ungefähr 200 Werke in Gesprächsform sind aus dem 16. Jahrhundert überliefert.17 Es ist bezeichnend, dass zu den frühen Zeugnissen ein Gespräch über die Sprache gehört: der Diálogo de la lengua von Juan de Valdés, entstanden um 1535 in Neapel im Gedankenaustausch mit drei italienischen studiosi des Kastilischen. In seinen Sprachbeobachtungen und Erläuterungen führt der Erasmianer Grammatik, Stilistik und Rhetorik unter dem Prinzip »escribo como hablo« nicht nur für Fremdsprachler zusammen. Er führt unter anderem 173 refranes (überlieferte Volksweisheit in Sprichwörtern) an zum Beleg für pureza, propiedad, sencillez des Kastilischen an und empfiehlt sogar die Lektüre des Amadisromans, der im Verlauf des 16. Jahrhunderts in Europa beliebt war, von Sittenwächtern jedoch verurteilt wurde. Ab 1596 erschien mehrmals die Schatzkammer schöner zierlicher Orationen Sendschreiben Gesprächen Vorträgen Vermahnungen und dergleichen, eine Sammlung von Musterstücken der Rede- und Briefkunst in deutscher Übersetzung. Auch Cervantes lässt Don Quijote mit vielen Reden auftreten, etwa über das Goldene Zeitalter (I,11) oder die Waffenkunst und Wissenschaften (I,38).18 Dem Roman ist das dialogische Prinzip eingeschrieben nicht nur durch die Zwiesprache zwischen Herr und Diener, sondern auch im Stillen mit Lesarten von Literatur, die Don Quijote um das Verständnis der Wirklichkeit bringen, und erst auf dem Sterbebett wird er ent-täuscht und vernünftig. Als Realist erklärt sich Sancho die Welt mit der Erfahrungsweisheit von Sprichwörtern. Für Argumentationstechnik und Einübung von Wechselreden bieten das lateinische Schultheater und der Redewettstreit (colloquia) den akademischen Spielraum.19 Die Nachwirkung klassischer Vorbilder zeigt sich vor 17  Dialogyca. Biblioteca Digital del Diálogo Hispánico, Universidad de Madrid, verzeichnet 227 Titel (2014). Asunción Rallo Gruss, La escritura dialógica. Estudios sobre el diálogo renacentista, Málaga 1996. Jesús Gómez Gómez, Forma y evolución del diálogo renacentista, Madrid 2000. Rafael Malpartida, Varia lección de plática áurea. Un estudio sobre el diálogo renacentista español, Málaga 2005. Jacqueline Ferreras, Los diálogos humanísticos del siglo XVII en lengua castellana, Murcia 2008. 18  Jesús Gómez, »Pláticas y coloquios en el Quijote«, Anales cervantinos 36 (2004), 247–278. Heinz-Peter Endress, »Rhetorik und Reden im Don Quijote«, in: Eva und Kurt Reichenberger (Hgg.), Cervantes y su mundo, Kassel 2004, Bd. 1, 33–65. 19  Joaquín Pascual Barea, »Neo-Latin drama in Spain, Portugal, and Latin America«, in: Howard Norland, Jan Bloemendal (Hgg.), Neo-Latin drama in early modern

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allem in der Beliebtheit der satirischen Gespräche des Lukian von Samosata.20 Ciceros Dialoge verteidigt Lorenzo Palmireno als Vorbild mit De vera et facili imitatione Ciceronis (1560), und das große zeitgenössische Vorbild geben die Colloquia des Erasmus.21 Dialoge dienen, unter Freunden breitgefächert und mehrstimmig inszeniert, der Vermittlung von Wissen und Erläuterung von Fragen. Damit eröffnet die Dialogliteratur auch einen umfassenden Einblick in Wissenstraditionen und Ideengeschichte.22 Mit der Evangelisierung und Gründung von Bildungseinrichtungen wird die Dialogform nach Amerika übertragen und mehrsprachig verwendet in Kulturräumen mit eigenen Schriftsystemen und Gesellschaftsstrukturen.23 Maturino Gilbertis Lateinlehrbuch (Mexiko 1559) steht zwar allen ›grammatices studiosis‹ zur Verfügung, vermag jedoch keineswegs die schwierigen Bedingungen des soziokulturellen Umfelds zu berücksichtigen.24 Neben der fiktionalen Inszenierung von Dialogen im vertrauten Freundeskreis wird die höfische Gesprächskultur und Hofmannslehre in Europa seit 1528 durch Baldassare Castigliones Brevier Il libro del cortegiano bestimmt.25 Bereits 1534 bringt der Dichter und Höfling Juan Boscán die Europe, Leiden 2013, 545–632. Michael Zappala, » ›Fablemos latino‹. Diálogo, Latin roots and vernacular landscape in fifteenth and sixteenth centuries Castile«, Iberoromania 29 (1989), 43–64. 20  Ana Vian Herrero, »El diálogo lucianesco en el Renacimiento español. Su aportación a la literatura y al pensamiento moderno«, in: Roger Friedlein (Hg.), El diálogo renacentista en la Península ibérica, Stuttgart 2005, 51–95. 21  Santiago del Rey Quesada, El discurso dialógico en el castellano del siglo XVI. Las traducciones de los Coloquios de Erasmo, Sevilla 2012 (Diss.). 22  Consolación Baranda Leturio, »Formas del discurso científico en el Renacimiento: tratados y diálogos«, Studia Áurea 5 (2011), 1–21. Anita Traninger, Disputation, Deklamation, Dialog. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus, Stuttgart 2012. 23  Ana Vian, »El diálogo literario en América en el siglo XVI«, in: Alan Deyermond, Ralph Penny (Hgg.), Actas del I Congreso Anglo-Hispano, Madrid 1993, Bd. 2, 193–215. 24  Dietrich Briesemeister, »La estela de Nebrija en el Nuevo Mundo. La gramática y la retórica latinas«, in: Karl Kohut, Sonia V. Rose (Hgg.), Pensamiento europeo y cultura colonial, Madrid 1997, 52–67. Ignacio Guzmán Betancourt / Eréndira Nansen Díaz (Hgg.), La obra de Antonio de Nebrija y su recepción en la Nueva España, México 1997. Santa Arias, Retórica, historia y polémica. Baltasar de Las Casas y la tradición intelectual renacentista, Lanham 2001. Ignacio Osorio, Conquistar el eco. La paradoja de la conciencia criolla, México 1989. 25  Margherita Morreale, Castigilione y Boscán. El ideal cortesano en el Renacimieno español, Madrid 1959. Manfred Hinz, Rhetorische Strategien des Hofmanns. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1992. Peter Burke, The fortunes of the Courtier. The European reception of Castiglione’s Cortegiano, Cambridge 1995. »Höfische Rhetorik«, in: Historisches



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spanische Übersetzung heraus. 1561 erscheint in Wittenberg die lateinische Fassung De perfecto aulico. Im selben Jahr kommt El Cortesano des Musikers Luis Milán heraus, der einen Einblick in die theatralische Fest- und Gesprächskultur am Hof in Valencia bietet.26 Das Gegenstück für die gelehrte Welt (scholastica republica) entwirft Cristóbal de Villalón (unter dem Decknamen Christophoro Gnosopho = weise Urteilender oder Gescheiter) in El Scholastico (um 1540), der das Bildungsideal für scholares – Schüler, Lehrer und Gelehrten – vorstellt.27 Mit dem Diálogo de la discreción (1579 entstanden) des Damasio de Frías28 kündigt sich das Ideal des discreto an, das im 17. Jahrhundert die vollkommen gebildete Persönlichkeit auszeichnet. Deren Merkmale und Fertigkeiten (realces) entwickelt Baltasar Gracián in El Discreto (1646) mit einem Fächer virtuoser Diskursformen für seine Argumentation: diálogo, fábula, apólogo, crisis (Entscheidung), encomio, invectiva, carta, razonamiento oder discurso académico, memorial und ficción heroica. Höfische eloquentia erlangt im Kanzleiwesen, Zeremoniell sowie in der Diplomatie der spanischen Habsburger eine herausragende Bedeutung.29 Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen 1996, Bd. 3, 1454–1475. Ángel Gómez Moreno, »La recepción de El cortesano en España«, in: María de las Nieves Muñiz Muñiz, La traduzione della letteratura italiana in Spagna (1300–1939), Barcelona 2007, 317– 330. José Antonio Rico Ferrer, Los tratadistas ibéricos de conducta áulica. Representación, masculinidad y colaboración auriseculares, Vigo 2011. Christoph Strosetzki, Konversation als Sprachkultur. Elemente einer historischen Kommunikationspragmatik, Berlin 2013. 26  Ignacio López Alemany, Ilusión áulica e imaginación caballeresca en El Cortesano de Luis Milán, Chapel Hill 2013. 27  Ana María Vian, »El Scholastico de Cristóbal de Villalón, un manifiesto por el humanismo en la hora de los especialistas«, Boletín de la R. Academia Española 82 (2002), 309–351. José M. Martínez Torrejón, Diálogo retórico en el Renacimiento español. El Scholastico de Cristóbal de Villalón, Santa Barbara 1989. 28  Antonio Álvarez-Ossorio Alvariño, »La discreción del cortesano«, Edad de Oro 18 (1999), 9–45. Jesús Gómez, »La ›conversación discreta‹ de Damasio de Frías y los estudios sobre el arte de conversar«, Hispanic Review 75 (2007), 95–112. Jaime Hernández Vargas, »La discreción del humanista. A propósito de los Diálogos de diferentes materias, de Damasio de Frías y Balboa«, Revista Destiempos 19 (2009), 31–52. Henk Haverkate, »La cortesía como estrategia conversacional«, Diálogos hispánicos de Ámsterdam. La semiotica del diálogo 6 (1987), 27–63 (davor Walter Mignolo »Diálogo y conversación«, 3–26.) 29  Michael de Ferdinandy, »Die theatralische Bedeutung des spanischen Hofzeremoniells Kaiser Karls V.«, Archiv für Kulturgeschichte 47 (1965), 306–320. José Martínez Millán, Manuel Rivero Rodríguez, »Etiquetas y espacio político. El orden interno de la monarquía hispánica (siglos XVI–XVII). La configuración de un orden ideal: las etiquetas«, in: Marcello Fantoni (Hg.), La corte e lo spazio, Rom 2012, 247–264.

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Lucas Gracián Dantisco, Sekretär Philipps II. und Sohn des Sekretärs Karls V. Diego Gracián de Alderete, gestaltet das Handbuch Galateo (1558) des Giovanni della Casa um (1593) für die guten Sitten des »discreto gentil-hombre« in der spanischen Gesellschaftskultur. Einer der frühen Drucke des Erfolgsbuchs erklärt bereits im Titel die Zielsetzung (1595): »de lo que se deue hazer y guardar en la comun conuersacion para ser bien quisto y amado de las gentes«.30 Der Musiker und Dichter Luis Milán inszeniert in El cortesano (1561) Geselligkeit und Festkultur am valencianischen Hof des Vizekönigs von Neapel als Dialog-Bericht mit deutlichem Bezug auf Castiglione. Eine literarische Gegenfigur zum cortesano bildet der pícaro, der gesellschaftliche Außenseiter, im satirischen und europaweit nachgeahmten Schelmenroman.31 1603 erscheint sogar ein Druck des Galateo zusammen mit La vida de Lazarillo de Tormes y de sus fortunas y adversidades (1554). Lazarillo, »Gotthilf« und Nebenbruder des biblischen Armen, erzählt / beschreibt einem Ungenannten in der IchForm die ganze Geschichte seiner Person als Diener vieler Herren. Rückschauend entwickelt sich die Selbstdarstellung in sieben monologischen Sequenzen, die, wiederum mit Gesprächen und Redewiedergaben (Predigt, Gebet) durchsetzt, eine vieldeutige Lektion ergeben. Neben dem Dialog ist der Brief (carta, χάρτηϛ = Papier; ›letra‹ = littera, carta misiva) eine zentrale Gattung sowohl für den Informationsaustausch als auch für die kunstvolle Gestaltung von Texten, halb Schreibmedium, halb Konversation, collocutio scripta in der regen Gesprächskultur, dem litterarum commercium, in der frühneuzeitlichen Respublica litterarum.32 In Spanien hat die Toledaner Hof- und Kanzleisprache seit dem späten 13. Jahrhundert als »castellano drecho« und »roman paladino« für Regierung und Rechtsprechung normative Gültigkeit erlangt. Eine weitere entscheidende Stärkung sowohl des Lateinischen als auch des Kastilischen 30  Shifra Armon, »Gracián Dantisco and the culture of secrecy in Hapsburg Spain«, Ingenium. Revista de historia del pensamiento moderno 5 (2011), 55–75. 31  Felipe E. Ruan, Pícaro and cortesano. Identity and the forms of capital in early modern Spanish picaresque narrative and courtesy literature, Lewisburg 2011. 32  Pedro Martín Baños, El arte epistolar en el Renacimiento europeo 1400–1600, Deusto 2005. Domingo Ynduráin, »Las cartas en prosa«, in: Víctor García de la Concha (Hg.), Literatura en la época del Emperador, Salamanca 1988, 53–86. Jeremy N. H. Lawrence, »Nuevos lectores y nuevos géneros: la epistolografía en los albores del Renacimiento español«, in: ibid., 81–99. Francisco M. Gimeno Blay, » ›… missivas, mensageras, familiares …‹. Instrumentos de comunicación y de gobierno en la España del 500«, in: Antonio Castilla (Hg.), Escribir y leer en el siglo de Cervantes, Barcelona 1999, 193–209. Asunción Rallo Gruss, Rafael Malpartida Tirado, »La epístola como género literario humanístico«, in: Pedro Aullón de Haro (Hg.), Teoría del Humanismo, Madrid 2010, Bd. 2, 167–188.



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bewirken die Maßnahmen der Katholischen Könige zum Aufbau des Staats- und Verwaltungsapparats für die Herrschaft über ein Weltreich. Auffällig ist die Zunahme der Drucke von Briefstellern seit etwa 1485 (Fernando Manzanares, De dicendi venustate, de verborum sententiarum coloribus, de componendis epistolis, flores rhetorici; Francisco López de Villalobos, Congressiones et epistolae, 1514). Die Ars epistolandi … Tulliano more und Institutiones oratoriae des spanischstämmigen Wandergelehrten Jacobus Publicius Rufus erschienen zwischen 1490 und 1502 sogar in Basel, Leipzig, Augsburg und Reutlingen. Umgekehrt wurden Werke italienischer Humanisten zur Briefrhetorik mehrfach in Spanien aufgelegt (Franciscus Niger, Opusculum epistolarum familiarium et artis earundem scribendi, 1494  /  95 und 1502; Stephanus Fliscus, Sinonima variationum sententiarum, Valencia 1502 mit Anhang Elegantie ad epistolas componendas in lateinisch und valencianisch). Die weitverbreitete lateinische Anleitung zum Briefschreiben von Juan Luis Vives De conscribendis epistolis (Antwerpen und Paris 1534) ist Alonso de Idiáquez gewidmet, einem Sekretär Karls V., neben dem Erasmisten Alfonso de Valdés. Sie erscheint wiederholt zusammen mit Erasmus’ Traktat (1522).33 Valencianer Gelehrte wie Francisco Juan de Bardaxí (1564), Juan Lorenzo Palmireno (Dilucida conscribendi epistolas ratio, 1585) und Pedro Juan Núñez stehen in der Nachfolge von Vives. Die Traktate der Jesuiten bilden eine dritte Gruppe der Brieflehrbücher mit erheblicher Wirkungsbreite: Bartolomé Bravos Traktat (zuerst 1589) erschien 1604 in Mexiko. Die Entwicklung von den mittelalterlichen dictatores mit ihrer ars dictaminis zu letrados – Juristen und Sekretären mit Standesbewusstsein – wirkt sich auf die staatliche Verwaltung aus. Der Consejo de Indias in Sevilla und das Staatsarchiv in Simancas (1540) verwahren bis heute amtliches Schriftgut.34 Philipp II. galt als »rey papelero«. Bereits unter Karl V. hatten Sekre33  Judith Rice Henderson, »Defining the genre of the letter: Juan Luis Vives De conscribendis epistolis«, Renaissance & Reformation 19 (1983), 89–105. 34  Arndt Brendecke, Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln 2009; ders. »Papierfluten. Anwachsende Schriftlichkeit als Pluralisierungsfaktor in der Frühen Neuzeit«, Mitteilungen des Sonderforschungsbereichs 573 Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit 1 (2006), 21–30. Marc-André Grebe, »Littera scripta manet. Formas y funciones del archivo en el imperio de los Austrias. Simancas, Roma, Quito y Cuenca«, Procesos. Revista ecuatoriana de historia 35 (2012), 5–36. Ders. Akten, Archive, Absolutismus? Das Kronarchiv von Simancas im Herrschaftsgefüge der spanischen Habsburger 1540– 1598, Frankfurt a. M. 2012, für die Rolle der Sekretäre im Papier-Imperium. Jacques Lafaye, »Del secretario al formulario. Decadencia del ideal humanista en España (1560–1630)«, in: Lia Schwartz Lerner, Isaías Lerner (Hgg.), Homenaje a Ana María

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täre, darunter Humanisten, hohes Ansehen gewonnen. Der Advokat Francisco Bermúdez de Pedraza zeichnet in El secretario del rey (Madrid 1620) das Berufsbild des Sekretärs und dessen Pflichten als »interprete de su voluntad … la voz de su lengua … el mobil de su pensamiento« und »silenciario« (großer Schweiger seines Herren). Für Drucklettern und Korrespondenz gelten feste Formen und Regeln (Francisco Lucas, Arte de escrevir, Madrid 1580, mit Musterbuchstaben).35 Der Baske Juan de Iciar schafft in seiner Orthographia pratica (1548) die Norm für die Kanzleikursive und nennt sich »escriptor de libros«. Nueuo estillo de escrever cartas mensageras sobre diuersas materias (1552) bietet Regeln für die formgerechte Abfassung von Briefen mit entsprechenden Mustervorlagen für verschiedenste Anlässe und Empfänger. Sein Konkurrent ist der Schreibmeister Gaspar de Texeda (Cosa Nueva. Estilo de escreuir cartas mensageras cortesanamente, a diuersos fines y conceptos con los titulos y cortesias que se usan, 1549, mit etwa 360 Musterbriefen; Erstdruck 1547). In den Philipp II. gewidmeten Dialogen des Libro subtilissimo intitulado Honra de escriuanos (1565) stimmt Pedro de Madariaga, Landsmann und Schüler Iciars, ein großartiges Lob der Schrift an als Werkzeug der Memoria, »registro del entendimiento« und Vermittlerin von Wissen und Fortschritt. »Buena pluma« ist für den Bewunderer von Juan Luis Vives die Grundlage der Bildung: Schreibfähigkeit gehört zu allen Freien Künsten. Schreibenlernen eröffnet den Zugang zum vollendeten Menschsein. Für den Stand des escribano wird damit auch ein hohes Berufsethos vorgestellt.36 Barrenechea, Madrid 1984, 247–260. Sybille Große, »Secretarios, formularios y retórica en la España del Siglo de Oro«, in: Alberto Gil, Christian Schmitt (Hgg.), Retóricas en las lenguas iberorromanicas, Bonn 2006, 317–336. 35  Aurora Egido, La voz de las letras en el Siglo de Oro. Madrid 2003 (das zweite Kapitel »Los manuales de escribientes y la teoría de la escritura«). Fernando J. Bouza Álvarez, Corre manuscrito. Una historia cultural del Siglo de Oro, Madrid 2001; ders., »Familiar, retórica, cortesana: disfraces de la carta en los tratados epistolares renacentistas«, Cuadernos de historia moderna. Anejos 4 (2005), 15–30. Antonio Castillo Gómez, Entre la pluma y la pared. Una historia social de la escritura en los Siglos de Oro, Madrid 2006. M. Josefa Navarro Gala, »Debate e interacción doctrinal en las artes epistolares castellanas de mediados del siglo XVI«, Dicenda. Cuadernos de filología hispánica 28 (2010), 117–140. Antonio Castillo Gómez, Victoria Sierra Blas (Hgg.), Cinco siglos de cartas. Historia y prácticas epistolares en las épocas modernas y contemporáneas, Huelva 2014 (insbesondere 25–96). María Nieves Muñoz Martín, »Sobre artes epistolares jesuíticas. Bartolomé Bravo, Juan de Santiago y Bartolomé de Alcázar«, in: António Maria Martins Melo (Hg.), Humanismo novilatino e pedagogia, Braga 1999, 349–366. Juan María Núñez González, Toribio Cornejo, »Las Formulae illustriores ad praecipua genera epistolarum conscribendas de Pedro Juan Núñez«, Revista de Estudios Latinos 13 (2013), 173–186. 36  Rafael Malpartida Tirado, »Confluencia de modalidades dialogales en la Honra de escribanos de Pedro de Madariaga«, Lectura y Signo 1 (2006), 105–124.



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Regelwerke legen die rhetorische Gestaltung von Kanzleischreiben fest, deren Form beispielsweise mit der Prematica en qve se da la orden y forma qve se ha de tener y guardar, en los tratamientos y cortesias de palabra y por escrito (Alcalá 1586) gesetzlich verordnet wird. Die Verbindung zwischen Rhetorik und Briefkunst betont Tomás Gracián Dantisco, Sekretär Philipps III., bereits im Titel zu seiner Anleitung: Arte de escrivir cartas familiares que los latinos usaron, cuyo estilo sera muy provechoso para el nuestro castellano, sacado de los retoricos antiguos (1589). Die Einhaltung der Praxis epistolica am Wiener Hof des 16. Jahrhunderts belegen Abschriften in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien (5880e, ff. 370r–397r Estilo de escrivir de manopropria y agena del rey de España a los potentados y principes, 401r–440r, und Musterbriefe in 5685 Han, ff. 55r–76a, und S. N. 2605). Die Gattung Brief erreicht eine enorme thematische Breite und öffentliche Wirkung in der Frühen Neuzeit.37 Die Briefberichte des Cristóbal Colón und Amerigo Vespucci verändern schlagartig das überkommene Weltbild.38 Bereits im Frühjahr 1493 erscheint der Bericht an den Schatzmeister der Katholischen Könige im Druck und verbreitet sich sofort in Europa. Am Hof wirkt der italienische Humanist Pietro Martire d’Anghiera, dessen Opus epistolarum (Alcalá 1530) mit 812 Briefen aus den Jahren 1488 bis 1525, die Zeitgeschichte mitteilen. In die Korrespondenz fließen über Jahrzehnte amtliches Nachrichtenmaterial, Gespräche mit Botschaftern und persönliche Beziehungen ein. Das Titelblatt hebt eigens die stili venustatem der Schriftstücke hervor. Ähnliche Quellen liegen auch De Orbe novo decades zugrunde, der ersten Gesamtdarstellung der Entdeckungen in Amerika, zuerst unautorisiert in Sevilla 1511, dann 1516 von Antonio de Nebrija herausgegeben. Cartas de relación, Berichte über die Eroberung Mexikos an Kaiser Karl V. durch Hernán Cortés, erscheinen ab 1522 auf Spanisch und Latein. Diese Berichte rufen wiederum heftige Streitgespräche / -schriften hervor, wie De conuenientia 37  Pedro Martín Baños, »La carta en el Renacimiento y el Barroco. Guía bibliográfica«, Cuadernos de historia moderna. Anejos 4 (2005), 187–201. Jamile Trueba Lawand, El arte epistolar en el Renacimiento español, Madrid 1996. Begoña López Bueno (Hg.), La epístola, Sevilla 2000. Gonzalo Pontón, Correspondencias. Los orígenes del arte epistolar en España, Madrid 2002. Pedro Martín Baños, El arte epistolar en el Renacimiento europeo (1400–1600) Bilbao 2005. Won-Hoon Choo, La epístola en verso en el siglo XVI. Diss. Universidad Complutense, Madrid 1997. 38  Céline Cifoni Roque, »Entre lettre de marchand et lettre humaniste. Le regard épistolaire d’Amerigo Vespucci sur le Nouveau Monde«, in: Maria Cristina Panzera (Hg.), L’exemplarité épistolaire, Bordeaux 2014, 103–118.

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militaris disciplinae cum Christiana religione dialogus qui inscribitur Democrates (Rom 1535) des Juan Ginés de Sepúlveda.39 Im religiösen Leben dient der Brief als Medium, der Erörterung von Glaubensfragen, der Seelenführung und des Austauschs spiritueller Erfahrungen in spontaner Äußerung. Die Jesuiten regeln den (lateinischen) Schriftverkehr innerhalb der Compañía (›Genossenschaft‹) in den Constitutiones verpflichtend mit der formula scribendi (zuerst 1560, später ratio scribendi genannt).40 Berichterstattung / communicatio und Briefschreiben / commercium litterarum gehören ebenso wie geistliche Gespräche zum Dienst am Wort (verbi Dei ministerium), der Glaubensverkündigung und Unterrichtung. Die Litterae Annuae sind nicht nur ordensinterne Tätigkeitsberichte, sie informieren und formen zugleich die Gemeinschaft (Societas Iesu), bezeugen und leiten ihr Wirken auf drei Kontinenten in der Frühen Neuzeit und gewähren Einblicke in die Bildungsarbeit, beispielsweise mit Angaben der Titel und Aufführungen von Schuldramen. Die Berichterstattung dient der Wissensvermittlung ›von allen Enden der Welt‹, nicht selten mit erzählenden Einlagen (Reisebeschreibungen, abenteuer­ liche Erfahrungen). Im 18. Jahrhundert erschienen Missionarsbriefe unter dem Titel Lettres édifiantes et curieuses.41 Die umfangreichen und in Übersetzungen europaweit verbreiteten Briefwechsel spanischer Heiliger (Juan de la Cruz, Francisco Javier, Juan de Ávila und Teresa de Ávila, Patronin der Schriftsteller spanischer Zunge) gehören zu den bewegenden Zeugnissen der Frömmigkeitsgeschichte im

39  Renate Pieper, Die Vermittlung einer Neuen Welt. Amerika im Nachrichtennetz des habsburgischen Imperiums (1493–1598), Mainz 2000. José Luis Gotor, »Formas de comunicación en el siglo XVI (relación y carta)«, in: María Luisa López de Vidriero, Pedro Manuel Cátedra (Hgg.), El libro antiguo español, Salamanca 1988, Bd. 1, 175–188. 40  Markus Friedrich, Der lange Arm Roms? Globale Verwaltung und Kommunikation im Jesuitenorden 1540–1773, Frankfurt a. M. 2011. Paul Nelles, »Chancillería en colegio: la producción y circulación de papeles jesuitas en el siglo XVI«, Cuadernos de historia moderna. Anejos 13 (2014), 49–70. Jörg Zech, »Die Litterae Annuae der Jesuiten. Berichterstattung und Geschichtsschreibung in der alten Gesellschaft Jesu«, Archivum Historicum Societatis Iesu 77 (2008), 41–61. Annick Delfoss, »La correspondance jésuite. Communication, union et mémoire. Les enjeux de la Formula scribendi«, Revue d’Histoire Ecclésiastique 104 (2009), 71–114. María de la Soledad Justo, » ›Que no es todo para todos‹ El deber de escribir en la Compañía de Jesús«, Actas y Comunicaciones de Historia Antigua y Medieval (Buenos Aires) 9 (2013), 1–13. 41  Adrien Paschoud, Le monde amérindien au miroir des Lettres édifiantes et curieuses, Oxford 2008.



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Konfessionellen Zeitalter. Allein von Ignatius von Loyola sind über 7000 Briefe erhalten.42 Eine für die europäische Literatur bedeutsame Folgeerscheinung der entwickelten Briefrhetorik ist der Briefroman. Er findet seine frühe Ausprägung in Spanien.43 Zuvor hatte bereits der »tractatulus« De duobus amantibus historia (Eurialus und Lucretia) von Aeneas Sylvius Piccolomini mit einer frühen spanischen Fassung (Salamanca 1496, Nachdrucke im 16. Jahrhundert) großen Erfolg. Italienische Drucke tragen den Titel Epistole de dui amanti. Um 1522 erschienen als pliego suelto (Flugschrift) Cartas y coplas para requerir nuevos amores mit sechs Liebesbriefen und Schlussversen. In La Carcel de amor des Diego de San Pedro (1492) spielen zwar auch rhetorisch-stilistisch formgewandte Liebesbriefe eine Rolle und verschaffen diesem Werk im 16. Jahrhundert in England und Frankreich (in Deutschland verspätet 1642) modische Beliebtheit, doch erst Juan de Segura gibt dem Processo de cartas de amores que entre dos amantes passaron con una carta para un amigo suyo pidiendole consuelo y una quexa y aviso contra amor traduzido del estilo griego en nuestro pulido castellano (Toledo 1548) die Briefform als Erzählstruktur. Ausgaben von 1562 und 1564 sind auch Cartas y coplas para requerir nuevos amores angefügt. Blasco de Garay komponiert sogar Sprichwörter geistreich im Stil der suasoria zu ›Liebesbriefen‹ um (1540 und öfter).44 Der fließende Übergang zwischen Briefformular und fiktionalem Brief zeigt sich ebenfalls in französischen und deutschen Zusammenstellungen von »harangues,

42  Ricardo Sáez, »Ignacio de Loyola, usos y prácticas epistolares«, in: Antonio Castillo Gómez, Verónica Sierra Blas (Hgg.), Cartas, lettres, lettere. Discursos, prácticas y representaciones epistolares (siglos XIV–XX), Alcalá 2014, 285–305. Nuria Sanjuán-Pastor, Carta Blanca. Representations of self in sixteenth-century epistolary fiction, Diss. Princeton 2011 (digitalisiert). Alison Weber, Teresa of Ávila and the rhetoric of femininity, Princeton 1990. 43  Françoise Vigier, »Fiction épistolaire et Novela sentimental en Espagne aux XVe et XVIe siècles«, Mélanges de la Casa de Veláquez 20 (1984), 229–259. Thomas O Beebee, Epistolary fiction in Europe 1500–1850, Cambridge 1999. Nuria SanjuánPastor, Carta Blanca. Representations of self in sixteenth-century epistolary fictions, Diss. Princeton 2011. Ludger Scherer, »Petrarkismus und novela sentimental. Juan de Seguras Proceso de cartas de amores«, in: Michael Bernsen, Bernhard Huss (Hgg.), Der Petrarkismus – ein europäischer Gründungsmythos, Göttingen 2011, 259–272. 44  Rogelio Reyes Cano, »Un testimonio de la literatura erasmista: Las Cartas en refranes, de Blaco de Garay«, Archivo Hispalense 54 (1971), 1–20. Luis Alberto Hernando Cuadrado, »Las Cartas en refranes de Blasco de Garay. Aspectos paremiológicos y sintácticos«, Boletín de la R. Academia de Extremadura de las Letras y las Artes 17 (2009), 181–192.

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concions, épistres, complaintes, et autres choses les plus excellentes« aus den Amadis-Romanen.45 Ähnlich wie der Dialog thematisch-fachlich keine Beschränkung kennt, so sind auch die cartas familiares offen für den Gedankenaustausch über alle möglichen Fragen. Der erfolgreichste Brieferfinder seiner Zeit ist der Franziskanerbischof Antonio de Guevara, Hofprediger und Chronist Karls V., dessen Libro aureo de Marco Aurelio emperador y eloquentissimo orador 1528 in Sevilla erscheint.46 Der Autor gibt an, in der Florentiner Bibliothek des Cosimo de’ Medici eine Handschrift mit Briefen des Kaisers Marcus Aurelius Antoninus gefunden zu haben. Die Selbstbetrachtungen De seipso seu vita sua gelangten jedoch erst 1558 in Zürich zum Druck, und Briefe Mark Aurels sind auch nicht überliefert. Das Werk ist ein Musterstück der epideiktischen Gattung und feiert den Herrscher als exemplum. Die freizügigen Liebesbriefe fügen sich nicht in die Gedan­ kenwelt des griechisch schreibenden Philosophen. Eine der frühen italienischen Ausgaben stellt Guevaras Werk als Biographie vor: Vita, gesti, costumi, discorsi, lettere di Marco Aurelio imperatore, sapientissimo filosofo, & oratore eloquentissimo, con la giunta di molte cose, che nello spagnuolo non erano, e delle cose spagnuole, che mancavano nella tradottione italiana. Guevara führt den Libro aureo in seinen Fürstenspiegel Relox de principes (1529) über mit dem Zusatz weiterer, bisher ›unbekannter‹ Briefe. Danach erscheinen 1539 und 1541 die beiden Teile der Epistolas familiares, 92 Briefe enthalten für den breiten Leserkreis »vil schöne Tractätl, subtile Discursen, artliche Historien, herrliche Antiquitäten, und lauter gute Exemplarische Sachen«, wie eine deutsche Übertragung unter dem Titel Die guldenen Sendtschreiben ankündigt. Guevara verwendet die Bezeichnungen razonamientos, discursos, sermones, platicas, disputaciones und traducciones, die lateinische Übersetzung lautet dissertationes, Erörterungen, in der Bedeutung von Disputation, die zur deliberativen Gattung zählen. Guevaras Epístolas werden als Vorläufer von Montaignes Essais (1580) als 45  María Carmen Marín Pina, »Las cartas de amores caballerescas como modelos epistolares«, in: Jean Pierre Étienvre, Leonardo Romero Tovar (Hgg.), La recepción del texto literario, Madrid 1988, 11–24. María Josefa Navarro Gala, »Las vicisitudes de la carta amatoria en los tratados de retórica (siglos IV–XVI)«, Criticón 105 (2009), 117–138. 46  Augustin Redondo, Antonio de Guevara (1480?-1545) et l’Espagne de son temps. De la carrière officielle aux oeuvres politico-morales, Genf 1976, 465–498. Antonio Orejudo Utrilla, Las Epístolas familiares de Antonio de Guevara en el contexto epistolar del Renacimiento, Madison 1994. Horacio Chiong Rivero, The rise of pseudo-historical fiction. Fray Antonio de Guevara’s novelizations, New York 2004. Pedro Díaz Fernández (Hg.), Fray Antonio de Guevara e a cultura do Renacemento en Galicia, Lugo 1994, Bd. 2, 21–54, und 93–114.



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eine Art Gespräch bezeichnet. In der Vorrede (»El Auctor al Lector«) zum ersten Teilband des Epistolario beteuert Guevara mit gespielter Bescheidenheit, er habe nie beabsichtigt, Briefe an Freunde zu veröffentlichen, aus der Schreibstube seien jedoch Briefe entwendet und sogar unter verfälschter Verfasserangabe in Umlauf gebracht worden. In memoriales (Notizbüchern) fanden sich Aufzeichnungen, die er nun selbst, teilweise überarbeitet, der Öffentlichkeit vorlege: ein durchschaubar verschlüsseltes Bekenntnis zur Autorschaft und zum fiktionalen Charakter der Sendschreiben als rhetorische Übung, einschließlich der Korrespondenz Mark Aurels. Alle drei Werke des Bischofs sind mit Übersetzungen und hohen Auflagen in Europa verbreitet worden; es gibt jedoch auch Kritiker wie Pedro de Rhúa mit Cartas de Rhua lector en Soria sobre las obras del reverendissimo señor Obispo … dirigidas al mesmo (1549), der mit harscher Detailkritik Guevaras Rhetorik zerpflückt als missratene Frucht der Regeln der Progymnasmata des Aphthonius oder des Auctor ad Heren­ nium.47 Der Vorsatz (Paratext) zu Guevaras Libro áureo ist ein Beispiel für die mit dem Aufschwung des Buchdrucks gewachsene Bedeutung des Prologs. Er stellt die Verbindung zwischen Autor und Leser her und erfüllt wichtige Funktionen mit topischen Hinweisen auf Anlass, Entstehung, Zielsetzung und Leserlenkung, Selbstdarstellung oder Gegenkritik.48 Im Zeitalter spiritueller Reformbewegungen, der Kirchenspaltung und Gegenreformation, der Glaubenskriege und des Humanismus sind Rhetorik und Religion vielschichtig verwoben. Sprache, ihre Gestaltung und Übersetzung, die ars dicendi, die Erstarkung und Konkurrenz der Nationalsprachen, Polemik und Propaganda greifen ineinander. Der Bibelexegese bieten zwei in Drucktechnik und philologischer Gelehrsamkeit hervorragende Polyglotten eine erweiterte Textgrundlage. In der spätscholastischen Philosophie und vor allem in der Theologie ragen zahl­reiche auf Lateinisch schreibende Spanier hervor. Im neuzeitlichen Bildungswesen und im Frömmigkeitsleben gehen von Spanien ebenfalls tiefe Wirkungen 47  Florentino Zamora Lucas, Víctor Hijes Cuevas, El Bachiller Pedro de Rúa, humanista y crítico. Sus cartas censorias al P. Guevara y Amistad co Álvar Gómez de Castro, Madrid 1957. Redondo, Antonio de Guevara, 554–565. 48  Alberto Porqueras Mayo, El prólogo en el Renacimiento español, Madrid 1965, und El prólogo como género literario. Su estudio en el Siglo de Oro español, Madrid 1957. Chiara Schiavon, Una via d’accesso agli epistolari, le dediche nei libri di lettere del Cinquecento, Padua 2011. Ana Vian Herrero, »Los paratextos dialógicos y su contribución a la poética del dialogo en los siglo XV a XVII«, in: María Soledad Arredondo, Pierre Civil, Michel Moner (Hgg.), Paratextos en la literatura española, siglos XV–XVIII, Madrid 2009, 395–446.

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aus. Die Erfahrung der Mystiker führt über die Dichtung und Metaphorik hinaus an die Grenze des Sagbaren. Leben und Werk des Basken Ignatius von Loyola stehen im Dienst am Wort einerseits in Schule und Universität durch Wissensvermittlung, andererseits in der Menschenführung, der cura animarum, mit Gespräch, Meditation und Brief. Die Studienordnung (ratio studiorum) regelt verpflichtend bis ins Einzelne und weltweit das Bildungsprogramm der Gesellschaft Jesu mit Latein- und Rhetorikunterricht. Ihre Seelsorge beruht auf einer rhetorisch bestimmten Grundlage und Zielrichtung. Gemäß der biblischen Weisung, Hörer und ›Täter‹ des Wortes zu sein, wird die Predigt zum Gottes-Dienst am Wort; sie soll überzeugen und bewegen, »angesteckt vom Feuer des Geistes«, jenem außerrhetorischen Prinzip prophetischen Redens, das der Apostel Paulus im ersten Korintherbrief (Kap. 14) beschreibt. Das Gespräch, die sacra conversazione, kann überall geübt werden, in Bruderschaften (Kongregationen), im Freien, auf öffentlichen Plätzen oder in Gefängnissen. Die verinnerlichende Bild-Meditation übersteigt die Gesprächsdimension in der Schau. Dazu gibt Ignatius im Exerzitien-Buch (1548) Anweisungen, die der ruminatio nahekommen, einer Übung im Mönchtum, bei der gelesene Texte zur Verinnerlichung durch leises Wiederholen nachgesprochen wurden.49 García de Cisneros, Abt des Benediktinerklosters Montserrat, wo sich der baskische Adelige Iñigo zum miles Christi bekehrte, hatte 1500 mit dem Exercitatorium vitae spiritualis eine reformerische Anleitung zum geistlichen Leben in Druck gegeben, die Ignatius kannte. Der sogenannte »Bericht des Pilgers«, eine in dritter Person gesprochene Darstellung seiner Bekehrung und Berufung (the rhetoric of the self), ist als epideiktische Rede angelegt: Ignatius führt über einen längeren Zeitraum allein das Wort. Luís Gonçalves da Câmara, ein portugiesischer Ordensbruder, lauscht dem soliloquium und zeichnet aus dem Gedächtnis oder anhand von Stichwörtern sowie unter Mithilfe von Schreibern zwischen 1553 und 1555 die Aussagen auf – teilweise in italienischer Sprache! Die lateinische Übersetzung fertigte schließlich ein Franzose, Annibal de Coudret an. Der Ohrenzeuge gibt das Bekenntnis (confessio) so getreu wie möglich wieder. Sein Notat steht, in welcher Fassung auch immer, für ein großes Zeugnis der Selbsterforschung und Selbstdarstellung in der Frühen Neuzeit neben dem Libro de la vida der Teresa de Ávila.50 Stationen aus dem Lebensbericht des Ignatius wurden bezeichnen49  Fidelis Ruppert, Meditatio – Ruminatio. Zu einem Grundbegriff christlicher Meditation, Beuron 1977. 50  Georg Eickhoff, »La retórica divina de los Ejercicios espirituales«, in: Quintín Aldea Vaquero (Hg.), Ignacio de Loyola en la gran crisis del siglo XVI, Madrid 1993, 69–78; ders., »Biographie und Allegorie: narrative Textstrategien in den ignatiani-



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derweise anlässlich seiner Seligsprechung (1609) in einen dramatischen Bilderzyklus mit 79 Kupferstichen umgesetzt. In der zeitlichen Abfolge von Exerzitien und Pilgerbericht steht die maßgebliche Predigtlehre des Francisco de Borja Ecclesiastes sive de ra­ tione concionandi instructio, die im frühen 17. Jahrhundert über Kölner Drucke auch in Deutschland Verbreitung fand. Die Jesuiten, die gemäß der Weisung Totus mundus nostra fit habitatio überall tätig sein sollen, kommen unter Borjas Generalat nach Mexiko und Peru, zuvor (1549) hatten portugiesische Jesuitenmissionare bereits Brasilien erreicht. Früher hatten Franziskaner bereits mit dem Unterricht in Latein und Rhetorik begonnen. 1537 lobt Julián Garcés, OP., Bischof von Tlaxcala, die Lateinkenntnis unter adeligen Nahuatl-Schülern, und es sind Briefe hoher indigener Amtsträger an Karl V. und Philipp II. in gepflegtem Latein erhalten.51 Die Gründung der Universität in Mexiko erfolgt 1553; ein Jahr später gibt Francisco Cervantes de Salazar seine Ad Ludovici Vivis Valentini exercitationes aliquot dialogi in Mexiko-Stadt in Druck. Am Rand einer Abschrift von Nebrijas spanisch-lateinischem Wörterbuch (1516) wurden entsprechende Nahuatl-Ausdrücke eingetragen. Die Rhetorica Christiana (Perugia 1579) des Franziskaners Diego de Valadés zeugt von den  Ansätzen und Schwierigkeiten, die mit der Glauschen Exerzitien«, in: Wilhelm Kühlmann, Wolfgang Neuber (Hgg.), Intertextualität in der frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, Frankfurt a. M. 1994, 171–194. Marjorie O’Rourke Boyle, Loyola’s acts. The rhetoric of the self, Berkeley 1997. (»The Knight Errant«, 22- 52, 193–203; »The Pilgrim / Peregrinus«, 147–184, 242–254). John W. O’Malley, Constructing a saint through images, Philadelphia 2008 (Bild-Biographie). Tomás Albaladejo Mayordomo, »Configuración retórica de los Ejercicios espirituales de S. Ignacio de Loyola«, in: José Martínez Millán, Henar Pizarro Llorente, Esther Jiménez Pablo (Hgg.), Los jesuitas: religión, política y educación (siglos XVI–XVIII), Bd. 1, Madrid 2012, 433– 442. Ferner Francisco de Borja, Diario espiritual (1564–1570), hg. Manuel Ruiz Jurado, Bilbao 1997, sowie Ignacio de Loyola, La intimidad del Peregrino. Diario espiritual de San Ignacio de Loyola, hg. u. komm. Santiago Thió de Pol, S.I, Bilbao 1990. 51  Andrew Laird, »Nahuas and Caesars. Classical learning and bilingualism in post-Conquest Mexico. An inventory of Latin writings written by authors of native nobility«, Classical Philology (109) 2014, 150–169. Heréndira Téllez Nieto, Vocabulario trilingüe en español, latín-náhuatl atribuido a fray Bernardino de Sahagún, ­México 2010. Juan Gil, »El latín en América. Lengua general y lengua de élite«, in: I Simposio de Filología Iberoamericana, Sevilla 1990, Zaragoza 1990, 97–135. Helena Beristáin, Gerardo Ramírez Vidal, La palabra florida. La tradición retórica indígena y novohispana, México 2004. Aurora Egido, »Erasmo y la Torre de Babel«. in: ­Joseph Pérez (Hg.), España y América en una perspectiva humanista. Homenaje a Marcel Bataillon, Madrid 1998, 11–34. Ferner Walter D. Mignolo, »Nebrija in the New World. The question of the letter, the colonization of Amerindian languages, and the discontinuity of the classical tradition«, L’homme 32 (1992), 185–207.

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bensverkündigung und Wissensvermittlung für den »buen salvaje« in der Neuen Welt verbunden sind.52 Der Predigtanleitung sind 26 Kupferstiche beigegeben; sie sollen die memoria festigen, beziehen aber auch die aztekische Vorstellungswelt ein. Die Wechselreden zwischen spanischen Franziskanermissionaren und indianischen Vornehmen (1524) sind ein einzigartiges frühes Beispiel für den Rekonstruktionsversuch eines ›interkulturellen‹ Glaubensgesprächs anhand von Redeprotokollen und ausgestaltenden Ergänzungen.53 Das 1596 in Köln erschienene Werk des im Vizekönigreich Peru wirkenden Jesuiten José de Acosta De natura novi orbis libri duo, et de promulgatione evangelii apud barbaros, sive de procuranda Indorum libri sex bietet die erste Naturkunde Amerikas, eine wissenschaftliche und sprachliche Großtat in der enzyklopädischen Erfassung, sprachlichen Darstellung und Deutung, die belegt, wie Historia und Rhetorik verbunden bleiben. Fast gleichzeitig schreibt Inca Garcilaso de la Vega, Sohn einer Inkaprinzessin und eines altadligen spanischen Offiziers, die Comentarios reales nieder, die Geschichte der Inka vor der Eroberung durch die Spanier.54 52  Don Paul Abbott, »Diego Valadés and the origins of humanistic rhetoric in the Americas«, in: Winifred Bryan Horner, Michael C. Leff (Hgg.), Rhetoric as pedagogy. Its history, philosophy, and practice. Essays in honor of James J. Murphy, Mahwah, N. J. 1995, 227–242. Rolando Carrasco Monsalve, El proceso de formación textual en las crónicas franciscanas de Nueva España (siglo XVI), Pittsburgh 2015. Linda Báez Rubí, Mnemosine novohispánica. Retórica e imágenes en el México en el siglo XVI, México 2005. Perla Chinchilla Pawling, De la compositio loci a la República de las Letras. Predicación jesuita en el siglo XVII novohispano, México 2004. Claudio Finzi (Hg.), Un francescano tra gli Indios. Diego Valadés e la Rhetorica Christiana, Rimini 1995. Arturo E. Ramírez Trejo, »La retórica novohispana. Origen, desarrollo y doctrina (Siglos XVI–XVIII)«, Nova Tellus. Anuario de estudios clásicos 30 (2012), 149–165. Gerardo Ramírez Vidal, »Fray Diego Valadés y el tratado seudoluliano In rhetoricam isagoge«, Nova Tellus 30 (2012), 167–197. – Ein Auszug der ›geistlich Rhetoric‹ erschien in deutscher Zusammenfassung durch Valentin Fricius, OFM. (Ingolstadt 1617) unter dem Titel Indianischer Religionstandt der gantzen newen Welt beyder Indien gegen Auff und Nidergang der sonnen. 53  Coloquios y doctrina Christiana con que los doce frailes de San Francisco … convirtieron a los indios de la Nueva España, hg. Miguel León Portilla, México 1986. Cristián Roa de la Carrera, »Translating Nahua rhetoric. Sahagún’s Nahua subjects in colonial Mexico«, in: Damián Baca, Víctor Villanueva (Hgg.), Rhetorics of the Americas, New York 2009, 69–88; vgl auch Rocío Quispe-Agnoli, »Spanish scripts colonize the image. Inca visual rhetorics«, ibid., 41–68. Zu Las Casas: César Chaparro Gómez, »La retórica de Bartolomé de Las Casas, un único método de persuasión«, Latomus 59 (2000), 129–146. 54  Margarita Zamora, Language, authority, and indigenous history in the Comentarios reales de los Incas, Cambridge 1988. Christian Fernández, »Tradición y apro-



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Der mit der Muttersprache Ketschua aufgewachsene, später in Europa hispanisierte Mestize überträgt aus seiner Erinnerung die mündliche Überlieferung der Inka, die keine Schrift kannten, nach dem Muster humanistischer Geschichtsschreibung und deutet ihre Herrschaft als ›otra Roma en su imperio‹. Verschriftlichung und Erzählung in erlesenem Kastilisch, mit erzählenden Zwischenstücken und allegorisierenden Einschüben, sind geprägt von Vorbildern und Regeln der Alten Welt. In der Vorrede zu einem weiteren Bericht über spanische Eroberungszüge im südlichen Nordamerika, La Florida del Ynca, beruft sich Inca Garcilaso auf conversaciones mit einem Freund und Augenzeugen, den er als autor bezeichnet und dem er als escribiente dienen will, um Berichten und weiteren Aussagen von Teilnehmern an den Eroberungszügen Gestalt zu geben (hacer relación). Die Ausgestaltung gewinnt mit Kampfbeschreibungen und Reden durchaus episch-romanhafte Züge. Ein weiteres einzigartiges Zeugnis aus der frühen Kolonialzeit ist die Primer [sic] nueva coronica y buen gobierno des Felipe Guaman Poma de Ayala, der als Dolmetscher für Ketschua und Aymara und Schreiber vornehmer Herkunft in spanischen Diensten stand. Dem Bericht an König Philipp III., einem 1200seitigen Manuskript, sind 400 Federzeichnungen beigegeben, sie veranschaulichen die Beschreibung der Andenkultur im Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit in Bildszenen und sollen die utopische Erwartung bekräftigen, dass eine Novissima Roma in Lima entstehen werde. Der transatlantische Verkehr und die Eroberungszüge auf dem amerikanischen Kontinent ziehen eine Fülle von Reise- und Abenteuerberichten nach sich. Auf literarischer Seite entspricht dem die Beliebtheit der novela bizantina seit Mitte des 16. Jahrhunderts (Alonso Núñez de Reinoso, Jerónimo de Contreras). Im geistlichen Schrifttum ist die Pilgerschaft seit jeher das Bild für das Menschenleben auf Erden. Fast zur gleichen Zeit wie Loyolas Bericht des Pilgers erscheint die Peregrinacion de la uida del hombre, puesta en batalla debaxo de los trabajos que sufrio el Cauallero del Sol en defensa de la Razon (Medina 1552), ein allegorischer Ritterroman des Klerikers Pedro Hernández de Villaumbrales. Der Jesuit José de Acosta übersandte 1586 die Peregrinación de Bartolomé Lorenzo an den piación: los ›papeles rotos‹ y la creación de Blas Valera como ›autoridad‹ en los Comentarios reales del Inca Garcilaso de la Vega«, in: Carmen de Mora (Hg.), Humanismo, mestizaje y escritura en los Comentarios reales, Madrid 2010, 79–92. David M. Solodkow, Etnógrafos coloniales: alteridad y escritura en la conquista de América (siglo XVI), Frankfurt a. M. 2014, zur Beschreibung von »cosas nuevas y estrañas«, »hacer discsurso e inquisición«, »discurrir y conferir« sowie zum Verhältnis von »historia y discurso«.

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Jesuitengeneral Claudio Acquaviva, die zunächst in Abschriften und verschiedenen Fassungen in Umlauf war und 1600 erstmals gedruckt erschien.55 Die von Acosta niedergeschriebene Fassung des Lebensberichts – er kannte den Laienbruder persönlich – wurde unzutreffend als fiktive Abenteuererzählung angesehen. Es ist jedoch ausgeschlossen, dass Acosta aus seiner führenden Stellung und Lagekenntnis heraus einen verbrämten Bericht nach Rom sendet. Der Text protokolliert ähnlich wie der ignatianische Bericht des Pilgers die Reiseumstände eines peregrino cristiano auf dem Weg zu seiner geistlichen Bestimmung in Peru. Mit einem formgerechten Brief wird dieses Bekenntnis an Acquaviva weitergeleitet als Zeugnis für die »trabajos« (Mühen / Leiden) im amerikanischen Weinberg des Herrn. Die deutsche Fassung von Navragio y peregrinacion de Pedro Gobeo de Vitoria (1610) vermerkt auf dem Titel, dass das Werk »von ihme selbst beschriben, unnd von den Patribus der Societet Iesu deren Orthen in Europae geschickt« worden sei, zur erforderlichen Information für indipetae (Bewerber) vor ihrer Aussendung nach Amerika.56 Mit der Tätigkeit der Jesuiten entwickelt sich das Schultheater im katholischen Europa und in Mittel- und Südamerika. Die Bühne dient wie die Kanzel der religiösen Unterweisung. Autos sacramentales, aufwendige Schaustellungen zur Verherrlichung der Eucharistie, bilden eine in der spanischen Literatur des Siglo de Oro ausgeprägte und beliebte Gattung. 55  Lorenzo Rubio González, »Sobre la Peregrinación de Bartolomé Lorenzo. Relato de aventuras por las Indias Orientales«, Castilla. Estudios de literatura 1 (1980), 87–118. Raúl Neira, »Peregrinación de Bartolomé Lorenzo de José de Acosta (1586). Obra clave del género de los viajes del descubrimiento y conquista«, Revista de literatura hispanoamericana 35 (1997), 119–127. Emma Herrán Alonso, »Entre el homo viator y el miles Christi. Itinerarios narrativos de la alegoría espiritual hispánica en la imprenta áurea«, Cahiers de linguistique hispanique médiévale 30 (2007), 145–165. Fray Alonso de Soria, Historia y milicia del cavallero Pelegrino, Cuenca 1601, bietet eine allegorische ›Bildungsgeschichte‹ des Pilger-Menschen. 56  Literarisch ausgestaltete Beispiele bieten das Bühnenstück La vida de San Alejo, peregrino en su patria (Jesús Menéndez Peláez, »El santo peregrino en el teatro jesuítico«, Archivum 60 (2010), 213–248) und das »erzählende‹ Argonauticon Americanorum des Jesuiten Johann Bissel, dazu Dietrich Briesemeister, »Andanzas y peripecias misioneras entre Europa y el Virreinato de Indias, El Argonauticon Americanorum de Johann Bissel (1601–1652)«, in: Lillian von der Walde Moheno, Mariel Reinoso Ingliso (Hgg.), Virreinatos II, Mexiko 2013, 106–119. Aliocha Maldavsky, Vocaciones inciertas: misión y misioneros en la provincia jesuita del Perú en los siglos XVI y XVII, Sevilla 2012. Dies., »Rome et les provinces hispaniques dans l’administration des vocations. L’expédition pour le Pérou de 1604«, in: Pierre-Antoine Fabre, Bernard Vincent (Hgg.), Missions religieuses modernes. ›Notre lieu est le monde‹, Rom 2007, 45–70. Georg Eickhoff, La historia como arte de la memoria. Acosta vuelve de América, México 1996. Gian Carlo Roscioni, Il desiderio delle Indie. Storia, sogni e fughi di giovani gesuiti italiani, Turin 2001.



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Es sind »sermones puestos en verso«. Zur Veranschaulichung der frommen Botschaft bedienen sie sich der Allegorie, der bildlichen Redeweise und Personifikation von Begriffen. Die loa dient als exordium (abgeleitet von laus): Einberufung der Zuschauer, Hinweis auf das Thema und die Moral der Geschichte.57 Die Theatermaschinerie (tramoyas) verstärkt die kathartische Wirkung von Lob und Tadel der mit allen Mitteln der rhetorischen Wortkunst vorgeführten actio. Im Barock gerät die Predigt als rhetorisch gekünstelte und theatralische Schaustellung vielfach in die Kritik, und in der Aufklärung kommt es in Spanien zum Verbot der Aufführung von autos sacramentales. Das Schultheater ist keine Erfindung jesuitischer Lehr- und Lernmethodik. Rede-Kunst (Redner) und Theater-Spiel (Schauspieler) sind über die Wirkungsabsicht der persuasio und die Zielsetzung prodesse – delectare – docere für die Dichtung eng miteinander verbunden. Ihm gehen sowohl die Entwicklung des lateinischen Humanistendramas als auch die Celestina58 voraus, die zwischen 1499 und 1504 in veränderten Fassungen erscheint, erst als comedia, dann als tragicomedia bezeichnet wird. Gleichzeitig wurde Leon Battista Albertis Comedia Philodoxeos (ca. 1426 entstanden) 1501 in Salamanca gedruckt; in Barcelona erschien neben der Galathea und Zaphira des Zyprioten Hercules Florus auch die Ephigenia eines unbekannten Vulgonensis Poeta. Ihre Sonderstellung erkannte bereits der Philologe Kaspar von Barth (1587–1658), der unter dem Titel Pornoboscodidascalus (1624) eine kommentierte lateinische Fassung des Lesedramas herausbrachte. Italienische Humanisten im Umkreis Alexanders VI. setzen bereits zeitgeschichtliche Ereignisse bühnengemäß um. Carlo Verardi behandelt in der Historia Baetica die Eroberung von Granada (1492). Das Werk, das mit einer italienischen Siegeshymne und Musiknotation endet, erschien bereits 1493 in Rom und im Jahr darauf erneut in Basel. Die tragicomedia Fernandus servatus des Marcellino Verardi behandelt die Errettung König Ferdinands bei einem Anschlag in Barcelona 1492. Das Werk soll veritas (historische Tatsache), religio (erbauliche Bedeutung) sowie poesis (kunstvolle Darstellung) vereinen und bietet eine Abfolge hochstilisierter Prunkreden.59 Zwischen (Trost-)Gesprächen und dramatischem Gesche57  Carolina Erdocia Castillejo, La loa sacramental de Calderón de la Barca, Kassel 2013. 58  Martha García, Dialogismo teológico. Devotio moderna, Celestina, Quijote, Vigo 2013. 59  Hartmut Beyer, »Carlo and Marcellino Verardi’s Fernandus Servatus and the poem Supra casum Hispani regis by Petrus Martyr. Drama and diplomacy in Papal

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hen bewegen sich die Dialogi quatuor super auspicato Joannis Hispaniarum Principis emortuali die (Antwerpen 1498) des Diego Ramírez Villaescusa zum Tod des Infanten D. Juan (1497). Hier fließen ebenfalls Herrscherlob für die Katholischen Könige und Erbauung zusammen. Das humanistische Drama kann sich trotz des Aufschwungs der volkssprachigen Bühne und der späteren Konkurrenz mit dem jesuitischen Schultheater weiter entfalten. 1502 erschienen in Barcelona die Galathea und Zaphira des Zyprioten Hercules Florus. In Valencia versucht Lorenzo Palmireno, zeitgenössische spanische Stücke als Vorlage und Übungsmaterial heranzuziehen. Die Fabella Aenaria (1574) ist als histrionica exercitatio zwar lateinisch verfasst, aber spanisch in Gestaltung und Ambiente. Dem Stück geht ein Zwiegespräch zwischen Autor und Echo in spanischer Sprache voraus. Im Universitätstheater bleiben Plautus und Terenz sowie Seneca die Musterautoren.60 Das Schultheater bildet einen Teil sowohl des Bildungsprogramms als auch des Missionsauftrags der Jesuiten. Lateinunterricht und Theaterspiel hängen in ihrer Zielsetzung – Bildung in eloquentia und pietas oder literata virtus – eng zusammen im Schau-Spiel und Hören des Wortes. Beide Rome under Alexander VI«, in: Jan Bloemendal u.a. (Hgg.), Drama, performance, and debate, Leiden 2013, 35–56; ders., Das politische Drama im Italien des 14. und 15. Jahrhunderts. Humanistische Tragödien in ihrem literarischen und funktionalen Zusammenhang, Münster 2008, 315–388, Carlo Verardis Historia Baetica, Fernandus Servatus, 389–470, Petrus Martyr Anglerius, 471–495. 60  Joaquín Pascual Barea, »Neo-Latin drama in Spain, Portugal and Latin America«, in: Jan Bloemendal, Howard Norland (Hgg.), Neo-Lastin drama in early modern Europe, Leiden 2013, 545–632. Ders., »School Progymnasmata and Latin drama. Thesis, refutation, confirmation and laus in the Dialogue on the Conception of Our Lady (1578) by the Spanish Jesuit Bartholomaeus Bravo (1553–1607)«, in: Philip Ford, Andrew Taylor (Hgg.), The early modern cultures of Neo-Latin drama, Leuven 2013, 107–112. Julio Alonso Asenjo, »Panorámica del teatro estudiantil del Renacimiento español«, in: Maria Chiabò, Federico Doglio (Hgg.), Spettacoli studenteschi nell’Europa umanistica, Rom 1998, 151–191. Ders., »Teatro renacentista en la Universidad. En torno a las comedias humanísticas de Juan Pérez (Petreius), al cuidado de María del Val Gago Saldaña«, Anuario Lope de Vega 20 (2014), 187–202. Jesús Menéndez Peláez, »El teatro escolar latino-castellano en el siglo XVI«, in: Javier Huerta Calvo (Hg.), Historia del teatro español, Madrid 2003, Bd. 1, 581–610. José María Maestre Maestre, »El papel del teatro escolar en la enseñanza de la retórica y del latín durante el Renacimiento«, in: Jordi Pérez i Durà (Hg.), Los humanistas valencianos y sus relaciones con Europa de Vives a Mayans, Valencia 1998, 95–113. Luis Gil Fernández, Formas y tendencias del humanismo valenciano quinientista, Alcañiz 2003. Julio Alonso Asenjo, »Sobre el teatro humanístico escolar del Ultramar hispánico«, TeatrEsco 3 (2008 / 2009), 1–54; »Bases y despegue del teatro como instrumento educativo en la Edad Moderna«, TeatrEsco 4 (2010), 29–62; (digitalisiert).



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befördern das Erlernen der Sprache, üben die Texterstellung ein nach den Regeln der Grammatik und Rhetorik (inventio, dispositio, elocutio), schulen die memoria beim Deklamieren und proben den sprachlichen Auftritt (actio, Körpersprache und szenisches Rollenspiel).61 Rhetoriklehrer der Kollegien verfassen die lateinischen Textvorlagen, die religiöse und weltliche Stoffe behandeln. Sie führen auch Regie, außerdem zirkulierten Manuskripte unter den Ordensniederlassungen. Die Spielarten reichen von actio über comoedia zu certamen, colloquium, dialogus, hilarotragoedia bis zu triumphus, tragoedia und tragicomoedia. Musikalische Begleitung und emblematische Bildzeichen erzeugen zusätzliche Effekte. Die Aufführungen an kirchlichen Festtagen oder zum Schulabschluss zogen viele Zuschauer an und dienten damit dem Ansehen der Gesellschaft Jesu. Mit den Jesuiten gelangt das Theater in das amerikanische Kolonialreich.62 Die anhaltende Wirkung der Jesuiten beruht auf der Predigt, die in nachtridentinischer Zeit als Sprach-Handlung für das Wort Gottes und zur Festigung der Rechtgläubigkeit in der Auseinandersetzung mit dem Protestantismus die pastorale Erneuerung in den katholischen Gebieten trägt. Davon zeugt eine Vielzahl theoretischer und praktischer Handreichungen, die bei der Ausbildung des Klerus in der ars concionandi – auch eloquentia sacra / divina oder rhetorica ecclesiastica genannt – und in der homiletischen Praxis bis weit in das 17. Jahrhundert hinein auch in Deutschland Verwendung finden: Sammlungen von Predigten berühmter Theologen, Musterpredigten für alle liturgischen Anlässe, homiletische Ratgeber, Anthologien mit Gemeinplätzen, Nachschlagewerken. Sie sind vorwiegend in der Kirchensprache verfasst, müssen also für Laien, das 61  Die Forschungen zum Jesuitentheater in Spanien haben in den letzten Jahrzehnten ebenfalls einen beachtlichen Aufschwung erfahren, den das Historische Wörterbuch der Rhetorik nicht berücksichtigt, daher die wichtigsten Hinweise: Julio Alonso Asenjo, »Introducción al teatro de colegio de los jesuitas hispanos (s. XVI)«, in: parnaseo.uv.es / Ars / teatresco / estudios / introduccion_al­_teatro.htm (20.12.2014). Jesús Menéndez Peláez, Los jesuitas y el teatro en el Siglo de Oro, Oviedo 1995; ders., »Los jesuitas y el teatro en el Siglo de Oro. Repertorio de obras conservadas y de referencia«, Archivum Revista de la Facultad de Filología (Oviedo) 54 / 55 (2004 / 2005), 421–563. Cayo González Gutiérrez, El códice de Villagarcía del P. Juan Bonifacio. Teatro clásico del siglo XVI, Madrid 2001. Barbara Mahlmann-Bauer, ­Jesuitische ›ars rhetorica‹ im Zeitalter der Glaubenskämpfe, Frankfurt a. M. 1986. Christian Mouchel, »Les rhétoriques post-tridentines (1570–1600), la fabrique d’une société chrétienne«, in: Marc Fumaroli (Hg.), Histoire de la rhétorique dans l’Europe moderne (1450–1950), Paris 1999, 431–497. 62  Julio Alonso Asenjo, »Sobre el teatro humanístico escolar del Ultramar hispánico«, TeatrEsco 3 (2008 / 2009), 1–54, sowie Teatro colegial colonial de jesuitas de México a Chile, Valencia 2012. Pedro M. Guibovich Pérez, El edificio de letras. Jesuitas, educación y sociedad en el Perú colonial, Lima 2014.

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gemeine Kirchenvolk, durch den Prediger ›übersetzt‹ werden. Es geht um das ›Öffnen der Ohren‹, um das Hören und Verstehen der biblischen Botschaft, die Annahme der Glaubenswahrheiten, die Weisung zum richtigen Tun. Wie überzeugend die Ausführungen in der Volkssprache klangen und gelangen, lässt sich nicht abschätzen. Wahrscheinlich ist die zunächst pseudonym erschienene romanhafte Satire des Jesuiten José Francisco de Isla in der Historia del famoso predicador Fray Gerundio de Campazas, alias Zotes (zuerst 1758) ein Spiegel des nach langer Zeit eingetretenen Zustands. Das umfangreiche und international verbreitete jesuitische Erbauungsschrifttum und die Disziplin der Betrachtung in den Exercitia haben die neuzeitliche Spiritualität geprägt und verändert. Die Kanzelberedsamkeit der Spanier erreichte im 16. Jahrhundert eine außerordentliche Breitenwirkung sowohl auf Lateinisch als auch in den Volkssprachen und weit über die Iberische Halbinsel hinaus.63 Reformation und Gegenreformation, die Missionierung in Amerika und Asien stellen die Kirche Roms und die rhetorica christiana vor große theologische und pastorale Herausforderungen, die das europäische Frömmigkeitsleben der Neuzeit prägen und verändern. Es ist in diesem Zusammenhang nicht möglich, die Entwicklung der ars praedicandi und ihren Einfluss in Glaubenswelten und Erbauungsschrifttum zu verfolgen. Bereits im frühen 16. Jahrhundert zeichnet sich in Spanien ein Wandel von der mittelalterlichen Predigtlehre zur gelehrten Erneuerung der Rhetorik ab mit De arte praedicandi von Pedro de Ciruelo, Mathematiker und Theologieprofessor in Alcalá sowie Lehrer Philipps II. (in Expositio libri misssalis peregregia, zusammen mit dem Traktat De arte memorativa, Alcalá 1528). Bemerkenswert ist die frühe Berücksichtigung von Philipp Melanchthons Elementa rhetorices (Wittenberg 1531, und wenig später De officio concionatoris) im Traktat des Benediktiners Alfonso de Zorrilla De sacris concionibus recte 63  Félix Herrero Salgado, La oratoria sagrada en los siglos XVI y XVII, Madrid, 1996–2006, fünf Bände für Jesuiten, Dominikaner, Augustiner, Karmeliter u.a. John W. O’Malley, Religious culture in the sixteenth century. Preaching, rhetoric, spirituality, and reform, Brookfield 1993. José Aragüés Aldaz, Deus concionator. Mundo predicado y retórica del exemplum en los Siglos de Oro, Amsterdam 1999. Pedro M. Cátedra, »Nebrija y la predicación«, in: Carmen Codoñer, Juan Antonio González Iglesias (Hgg.), Antonio de Nebrija. Edad Media y Renacimiento, Salamanca 1997, 129–150. Ciruelo gab 1498 dem Traktat über Sacroboscos Sphaera mundi ein gelehrtes Streitgespräch bei: Disputatorius dialogus. Pedro M. Cátedra, »Brevis editio de arte predicandi de Pedro Ciruelo«, in: Juan Miguel Valero Moreno (Hg.), Artes de poesía y de prosa. Entre el cortesano y el predicador (Siglo XV–XVI), Salamanca 1998, 51–103. Antonio Claret García Martínez, La escritura transformada. Oralidad y cultura escrita en la predicación de los siglos XVI y XVII, Huelva 2006.



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formandis, deque ratione theologiae discendae (Roma 1543). Die Inquisitoren verurteilten die Lektüre des Lutheraners, auch das Spätwerk des Erasmus Ecclesiastes, sive de ratione concionandi (1535) wurde indiziert. Weiteste Verbreitung in Mitteleuropa findet der Dominikaner Luis de Granada bis in die Barockzeit mit seinen Ecclesiasticae rhetoricae, siue, de ratione concionandi, libri sex (Köln 1578), gelegentlich auch im Verbund mit Diego de Estella, OFM, De modo concionandi Köln 1594 u.ö.). In nachtridentinischer Zeit wächst die Flut von homiletischen Lehrtraktaten und Predigtsammlungen von spanischen Geistlichen aus den verschiedenen Ordenstraditionen (Jesuiten, Dominikaner, Franziskaner, Karmeliter) sowohl in lateinischer Sprache als auch in deutschen Übertragungen erheblich an. Ein augenfälliges Zeichen für Spaniens Beitrag zur Rhetorica divina, dem kirchlichen Lehramt und der spirituellen Literatur, sind vier doctores Ecclesiae: Maestro Juan de Ávila, einer der berühmtesten Prediger, wurde 2012 zum Kirchenlehrer erhoben. Juan de la Cruz und Teresa de Ávila tragen nach Isidor von Sevilla ebenfalls diesen Ehrentitel. Zusammen mit dem Latein wird das Spanische zur »fast heiligen Kirchensprache« (Herder). Die Intensivierung der Rhetorikstudien in Spanien fällt zeitlich ungefähr zusammen mit den Neuansätzen der deutschen Forschung und der Veröffentlichung des Handbuchs der literarischen Rhetorik von Heinrich Lausberg (1960). Hispanica non leguntur lautet ein alter Spruch. Im monumentalen Historischen Wörterbuch der Rhetorik wird unter dem Lemma ›Rhetorikforschung‹ kein Forschungsertrag aus Europa »hinter den Pyrenäen« verzeichnet. Von dort aus setzt nicht nur die Übertragung der Rhetorik nach Lateinamerika ein, sondern aus Spanien kommen auch fundamentale Beiträge zur Erneuerung der Latinität und zur christlichen Spiritualität. Unter ›Predigt‹ wird zwar Frankreich und England behandelt, nicht jedoch Spanien, ein Kernland, auch für die Wirkung der ›Erbauungsliteratur‹ in der Gegenreformation. Unter der Herrschaft der Habsburger steigt Spanien zur Weltmacht auf. Die Sprache Kastiliens steigt zunächst im Verein mit dem Kirchen- und Gelehrtenlatein zur Weltsprache auf. Die Literatur bringt im 16. Jahrhundert Werke von europäischer Geltung hervor, und gleichzeitig stößt die Mystik an die Grenzen sagbarer religiöser Erfahrung. Spanien entwickelte sich entgegen der Klischeebilder vom Prahlhans oder Dissimulanten zu einem Zentrum der Kunst der »Wohlredenheit«, deren Ausformung und Verbreitung in der Frühen Neuzeit durch dogmata rhetorices iberischer Gelehrsamkeit entscheidend gestaltet wird. So behält die Metapher ›Os Europae‹ Bedeutung für Spanien als Territorium, von dem ein reiches corpus rhetoricum für die abendländische Sprachkultur ausgeht.

Das Interdependenzverhältnis von Dramentext und Aufführungspraxis im Siglo de Oro am Beispiel von Calderóns La vida es sueño (comedia und auto sacramental) Von Marina Ortrud M. Hertrampf Das Siglo de Oro ist das Jahrhundert des Theaters in Spanien. Jede der sich herausbildenden Theater- und Bühnenformen ist mit bestimmten Erfordernissen hinsichtlich der Realisierung und des Einsatzes aufwändiger Bühnentechnik sowie hinsichtlich der Erwartungshaltung des jeweiligen Publikums verbunden, was wiederum Auswirkungen auf Dramengestaltung und Inszenierung hat. Um der Frage dieses Wechselverhältnisses nachzugehen und die dramenkonzeptionellen Unterschiede herauszuarbeiten, bietet es sich an, ein Stück heranzuziehen, das für unterschiedliche Bühnenformen konzipiert wurde. Eines der bekanntesten Dramen von Pedro Calderón de la Barca ist La vida es sueño, das Calderón sowohl als comedia als auch als auto sacramental verfasste. Die vorliegende, vergleichend angelegte Analyse untersucht, inwieweit die Texte selbst Aufschluss über die intendierte Form der Inszenierung geben und sich den Gegebenheiten der jeweiligen Aufführungspraxis sowie den Erwartungen des Publikums beugen. I. Der Zusammenhang von Dramenfassung, Bühnenform und Spielort: comedia und auto sacramental Calderóns Stücke zeichnen sich durch einen reichen Einsatz aller bühnentechnischen Möglichkeiten aus, dies gilt nicht nur für Stücke, die für das Hoftheater konzipiert wurden, sondern auch für diejenigen für die corral-Bühne. Infolge der vehementen Kritik seitens der Kirche verfasste Calderón nach seiner Priesterweihe 1651 nur noch fiestas mitológicas und autos. Letztere verstand er als in Verse gefasste Predigten, die wesentliche Fragen der Theologie in darstellbare Vorstellungen umsetzen, um der Masse des illiteraten Kirchenvolks die Kardinalpunkte des christlichen Glaubens auf polymediale und damit verständliche Weise zu vermitteln.

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Die vielen paraphrasierten Bibelverse ermöglichen es auch ungebildeten Gläubigen, die Worte der Bibel in ihrer Landessprache zu verstehen. Zur Vergrößerung der Anschaulichkeit verwendet Calderón aber nicht nur eine reiche Bildersprache, sondern nutzt vor allem auch alle bühnenbildnerischen Möglichkeiten der carro-Bühne. Trotz des bühnentechnisch hohen Effektgehaltes ist Calderóns Theater stets ein Reflexionstheater mit stark didaktisch-philosophischem Anspruch. Die autos und die Stücke für die Hofbühne unterscheiden sich folglich lediglich im Ausprägungsgrad der Nutzung bühnentechnischer Möglichkeiten von denen, die Calderón für die corral-Bühne konzipierte. Uns sind zwei Versionen der comedia überliefert, die von der Textkritik beide der Autorenschaft Calderóns zugesprochen wurden. Im selben Jahr, 1636, erscheinen zwei voneinander abweichende Druckversionen, die eine in Saragossa, die andere in Madrid. Man geht davon aus, dass es sich bei der in Saragossa veröffentlichten Version um eine bereits vor 1630 entstandene Rohfassung des Stückes handelt, die Calderón an einen autor de comedias verkauft hatte, und die erst einige Jahre später in Druck kam.1 Bei der Madrider Fassung scheint es sich hingegen um eine spätere Version zu handeln, die um 1635 entstanden sein soll. Die erste Fassung stellt eine pragmatische, aufführungsorientierte Textbasis dar, während die Madrider Version wohl eigens für den Druck des ersten Teils seiner Theateranthologie verfasst wurde.2 Bezüglich des Spielortes, für den La vida es sueño konzipiert wurde, betont Shergold: La vida es sueño a été composée en vue d’une représentation dans un théâtre public et non à la cour […] les indications scéniques de La vida es sueño ne 1  Vgl. José María Ruano de la Haza (Hg.), La primera versión de ›La vida es sueño‹ de Calderón, Liverpool 1992. An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass der Dramentext für Calderón vornehmlich der Aufführung dient und nicht der Lektüre. Seine ablehnende Haltung gegenüber der reinen Lektüre wird ganz besonders in den Vorbemerkungen zur ersten Ausgabe seiner autos deutlich, wo er den Leser dazu auffordert, sich die prunkvolle Feierlichkeit der Aufführung samt ihrer musikalischen und bühnentechnischen Effekte vorzustellen (vgl. Pedro Calderón de la Barca, Obras completas, Bd. III, hg. Angel Valbuena Prat, Madrid ²1967, 42). Calderón bezieht sich mit dieser Forderung auf Ignatius von Loyolas Exercitia spiritualia und die Möglichkeiten zur imaginativen Visualisierung religiöser Ereignisse. In diesem Sinne soll der Leser den monomedialen, geschriebenen Text in seiner Vorstellung mit allen fünf Sinnen zu einer plastischen, polymedialen Aufführung rekonstruieren. Für Calderón, dem es um die Vulgarisierung religiöser Inhalte auf unterhaltsame Weise geht, ist die Inszenierung folglich das entscheidende Vermittlungsmedium seiner Botschaft. 2  Vgl. Ciriaco Morón, »Introducción«, in: Pedro Calderón de la Barca, La vida es sueño, hg. Ciriaco Morón, Madrid 282004, 12–82, hier 70.



Dramentext und Aufführungspraxis im Siglo de Oro193 mentionnent pas de machines ingénieuses ni de transformations spectaculaires. Ce sont les caractéristiques d’un ›corral de comedias‹ que l’on voit reflétées dans le texte […].3

Allerdings räumt er ein, dass die comedia in der Folge wohl auch am Hofe aufgeführt wurde. Arroniz gibt bezüglich des Aufführungsortes etwas vage einen »salón de palacio« an, bei dem es sich ihm zufolge um eine ›höfische corral-Bühne‹ im Alcázar oder um einen Theaterraum im Bueno Retiro gehandelt haben könnte.4 Teuber hält hingegen fest: »Die Uraufführung fand 1635 im seit kurzem eingerichteten Palasttheater des Coliseo des Buen Retiro zu Madrid statt.«5 Auch von dem gleichnamigen auto liegt eine frühe Fassung6 und eine von Calderón selbst überarbeitete spätere Fassung vor.7 Die zweite Version ist Teil der von Calderón herausgegebenen Gesamtausgabe seiner autos. Für diese Fassung existiert sowohl die loa als auch die Memoria de las apariencias, in denen Calderón die Ausstattung und Gestaltung der Bühnenwagen für die Fronleichnamsspiele von 1673 präzisiert.8 Ein Vergleich der beiden Versionen zeigt, dass das Manuskript eine Art Scharnier zwischen comedia und auto darstellt. So sind z. B. die populären Elemente in der ersten Fassung weitaus stärker ausgeprägt als in der zweiten, die neben einer theologischen Verkomplizierung auch weitaus mehr Elemente des katholischen Ritus aufweist. Während die Erstfassung handlungsstrukturell noch eng mit der comedia verbunden ist und dessen allegorischen Gehalt in die Form des Sakramentsspieles transponiert, erlangt die zweite Fassung sehr viel mehr Autonomie eines eigenständigen Kunstwerkes. Zum Teil arbeitet Calderón Motive und Elemente der comedia im auto aus; z. B. stellt er im auto die Schöpfung der Erde, d. h. den Kampf der 3  Norman D. Shergold, »La vida es sueño: ses acteurs, son théâtre et son publique«, in: Jean Jacquot (Hg.), Dramaturge et société, Paris 1968, 93–109, hier 93. 4  Othón Arroniz, Teatros y escenarios del Siglo de Oro, Madrid 1977, 223. 5  Bernhard Teuber, »Calderón de la Barca ›La vida es sueño‹ – Comedia«, in: Volker Roloff, Harald Wentzlaff-Eggebert (Hgg.), Das spanische Theater: Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1988, 146–162, hier 161. Für diese Annahme spricht v. a. der Einsatz von künstlichem Licht (vgl. Arroniz, Teatros y escenarios, 233). 6  Pedro Calderón de la Barca, »La vida es sueño. Primera redacción«, in: ders., Obras completas, Bd. III, hg. Angel Valbuena Prat, Madrid ²1967, 1861–1875. 7  Eine ausführliche textkritische Vergleichsstudie der beiden Versionen liefert Fernando Plata Parga, La vida es sueño. Edición crítica de las dos versiones del auto y de la loa, Kassel 2012. 8  Pedro Calderón de la Barca, »La vida es sueño«, in: Lara Escuerdo, Rafael Zafra (Hgg.), Memorias de apariencias y otros documentos sobre los autos de Calderón de la Barca, Kassel 2003, 139–141.

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Elemente als Bühnenhandlung dar. Die comedia setzt lediglich mit einer Anspielung auf das Chaos der kämpfenden Elemente ein.9 Im auto übernimmt Calderón aber auch einige rhetorische Mittel wie Antithese, Paradoxon und Oxymoron aus der comedia; z. B. finden sich die Oxymora »vivo cadáver« (v. 94) und »siendo un esqueleto vivo,  /  siendo un animado muerto« (v. 201 f.) in der Beschreibung des Menschen nach dem Sündenfall in leicht modifizierter Form im auto wieder: »pues dejo a la ­Muerte viva,  /  deje a la Vida difunta?«.10 Analog dazu findet sich auch das paradoxe Bild des Grabes als Wiege des Menschen, ein Symbol für die Erbsünde, in comedia und auto: »que cuna y sepulcro fue  /  esta torre para mí« (v. 195 f.) und »un sepulcro fue mi cuna? « sowie »quedó en la cuna labrada  /  la materia de la tumba« (AS 1397). Während die Allegorien der ersten Fassung des auto noch eng mit dem plot der comedia verbunden und zum Verständnis fast notwendig sind, differenziert Calderón das allegorische Bühnenpersonal in der zweiten Fassung weiter aus, so dass diese strukturelle Geschlossenheit und Unabhängigkeit erlangt.11 Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Versionen liegt vor allem in dem veränderten theologischen Verständnis. Statt die abstrakten Dogmen der katholischen Kirche lediglich in die konkretere Form einer Geschichte zu bringen, bietet die zweite Version eine tiefgreifende Interpretation und mehrdimensionale Veranschaulichung abstrakter Glaubensfragen und setzt diese zugleich in einen weiteren theologisch-philosophischen Kontext: »Calderón intenta, por tanto, à través del esquema teológico, dar razón de la vida temporal del ser humano y hacer inteligible su propia existencia. Es una de las razones escenciales de la teología, de filosofía y de la creación poética.«12

9  Vgl. Pedro Calderón de la Barca, La vida es 282004, 85, v. 1–7. Sofern nicht anders angegeben,

sueño, hg. Ciriaco Morón, Madrid wurden alle Zitate aus der comedia dieser Ausgabe entnommen. In der Folge wird bei Regieanweisungen nur noch die Seitenzahl und bei Zitaten des Haupttextes der Vers angegeben. 10  Pedro Calderón de la Barca, »La vida es sueño«, in: ders, Obras completas, Bd. III, hg. Angel Valbuena Prat, Madrid ²1967, 1387–1407, hier 1400. Sofern nicht anders angegeben, wurden alle Zitate aus dem auto dieser Ausgabe entnommen. In der Folge werden bei Zitaten die Sigle AS und die Seitenzahl angegeben. 11  Vgl. Alexander A. Parker, The Allegorical Drama of Calderon. An Introduction to the Autos Sacramentales, Oxford / London 1943, 203. 12  Enrique Rull, Arte y sentido en el universo sacramental de Calderón, Kassel 2004, 82.



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II. Die Interdependenz von Publikumsbezug und Bühnenform: Konzessionen an Publikumsgeschmack und Aufführungssituation Geht man davon aus, dass Calderón La vida es sueño für das corralTheater konzipierte, so spielt die Orientierung am Publikumsgeschmack aufgrund der kommerziellen Ausrichtung des corral-Theaters eine maßgebliche Rolle. Aufgrund der Aufführungssituation des auto im öffentlichen Raum müssen auch hier Strategien der Gewinnung und Bewahrung der Publikumsgunst eingesetzt werden. Die übliche Spielfolge im corral-Theater wirkt sich auf die Dramenkonzeption aus. Den Unterbrechungen der Handlungsentwicklung des Hauptstückes durch Pausen und entremeses musste dadurch Rechnung getragen werden, dass die Aufmerksamkeit der Zuschauer bei (Wieder-) Aufnahme des Hauptstückes auf das Handlungsgeschehen gelenkt wurde. Zwei Verfahren bildeten sich zu diesem Zwecke heraus, zum einen der zukunftsweisende Suspens-Effekt am Aktende, zum anderen der Auftakt bzw. Aktschluss durch Monologe, die dadurch spannungssteigernd wirken, dass sie die Konfliktlösung hinauszögern. Beide Formen kommen in der comedia zum Einsatz: Als Rosaura gegen Ende der ersten jornada Clodaldo gegenüber rätselhafte Andeutungen bezüglich ihrer Identität macht, verwirrt sie nicht nur ihn, sondern weckt damit auch die Neugierde des Publikums.13 Die zweite jornada setzt mit einem langen Botenbericht ein (v. 989–1094), der die Aufklärung von Rosauras wahrer Identität weiter verzögert. Ähnlich schließt der zweite Akt mit einem längeren Monolog von Segismundo. Am Anfang des dritten Aktes steht ein Pausenfüllungsmonolog, der vom gracioso Clarín durchgeführt wird. Die so erzielte »Zeitgewinnungsfunktion entsprach der Aufführungssituation: nach dem Zwischenstück konnte nämlich dann eine Pause drohen, wenn gerade zu Aktbeginn eingesetzte Schauspieler an den Einlagen mitzuwirken hatten und folglich gewisse Zeit zum Umkleiden benötigten«.14 Im auto beeinflusst nicht zuletzt auch der ritualisierte Ablauf der Aufführung die Ausgestaltung des Stückes: »Die auto sacramentales sind kein 13  »Sí dijera; mas no sé  /  con qué respecto te miro,  /  con qué afecto te venero,  /  con qué estimación te asisto,  /  que no me atrevo a decirte  /  que es este exterior vestido  /  enigma, pues no es de quien  /  parece: juzga advertido, si no soy lo que parezco,  /  y Astolfo a casarse vino  /  con Estella, si podrá  /  agraviarme. Harto te he dicho.« (v. 962–973) 14  Brigitte Kaufmann, Die comedia Calderóns. Studien zur Interdependenz von Autor, Publikum und Bühne, Frankfurt a. M. 1976, 63.

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reines Theater mehr, sondern symbolische Dramen, die als feste Bestandteile der kirchlichen Liturgie des Festes bereits kultischen Charakter annehmen.«15 Zu nennen ist diesbezüglich vor allem die Glorifizierung der Eucharistie am Ende des Stückes. In La vida es sueño spricht Aire die liturgischen Eingangsworte der Wandlung von Brot und Wein: »tan misteriosas palabras,  /  que el Pan en Carne convierta,  /  y el Vino en Sangre, la Voz  /  de la Sabiduría inmensa  /  el día que diga …«, woraufhin Sabiduría die Worte der Darbietung von Hostie und Kelch ergänzt: »Esto es  /  mi Carne y mi Sangre mesma.« (AS 1406). Insgesamt betrachtet überwiegen in der comedia die Elemente des Reflexionstheaters über die Anteile des Aktionstheaters, dennoch enthält das Drama zahlreiche Elemente der handlungsdominierten Genres, die als Zugeständis an die Rezipientenschaft interpretiert werden können, so bspw. der Einsatz von konventionalisierten Themen wie z. B. dem des Ehrkonfliktes oder von stereotypen Personenkonstellationen wie der des erotischen Dreiecks zwischen Estrella, Astolfo und Rosaura. Ferner integriert Calderón die beliebten Motive der Mantel- und Degenstücke wie Verwechslung, Verkleidung, Vortäuschen falscher Identitäten, Belauschen, Verbergen und Verstecken. So tritt Rosaura zunächst als Mann verkleidet und dann als Nichte Clotaldos auf, um Astolfo und Estrella zu täuschen. Segismundo gegenüber verschweigt sie ihre wahre Identität: »(Dissimilar me importa.) Soy de Estrella una infelice dama« (v. 1591 f.). Clotaldo belauscht Segismundo und Rosaura (v. 1618–1669), Basilio beobachtet unerkannt Segismundo (v. 160–163), und der feige Clarín versucht sich – freilich vergeblich – vor den tödlichen Kampfgeschützen zu verstecken (v. 198). Neben der Freude des Publikums am Mimischen, der Realisierung der Schein-Sein-Thematik, der Visualisierung des Spannungsbogens erwirkt die Versteckstrategie zuweilen obendrein einen Effekt karnevalesker Komik.16 Gerade am Anfang ist es notwendig, dass das Stück mit einem spektakulären Theatereffekt einsetzt, der die Aufmerksamkeit des unruhigen Publikums auf das Bühnengeschehen zu lenken vermag. Daher lässt Calderón die comedia auch mit dem eindrucksvollen Sturz eines ungestümen Pferdes beginnen, einem beim Publikum beliebtem Motiv zur Steigerung der Dramatik.17 Weitere Elemente, die ebenfalls aufmerksamkeitsstei15  Hans-Joachim

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Müller, Das spanische Theater im 17. Jahrhundert, Berlin 1977,

16  Etwa dann, wenn sich ausgerechnet der König verkleidet, um seinen Sohn zu belauschen. Die komische Wirkung resultiert aus der Diskrepanz zwischen der königlichen Würde und ihrer Verkehrung in der Verhüllung. 17  Vgl. Charles Vincent Aubrun, La comédie espagnole (1600–1680), Paris 1966, 25.



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gernde Funktion tragen und den unruhigsten mosquetero fesseln, sind Szenen des Tumults, Aufruhrs und Kampfes. Als Beispiele seien das spannungsintensivierende Duell zwischen Segismundo und Clotaldo (v. 1680 ff.) und die Kampfszenen auf dem Schlachtfeld genannt. Auch auf diskursstruktureller Ebene kann mit Hilfe des de-dramatisierenden Verfahrens des Aparte dramatische Spannung erzeugt werden: In der achten Szene des ersten Aktes informieren drei im Nebentext explizit markierte Apartes über die Gedanken und Pläne Clotaldos und lösen somit beim Publikum Neugier auf das Kommende aus. Insbesondere im letzten Drittel der comedia verkompliziert sich der Diskurs und erreicht einen hohen Abstraktionsgrad. Aufgrund der wirkungsästhetischen Zielsetzung des Dramas erscheint es nur als konsequente Folge, dass parallel zu der philosophisch-theologischen Thematik die Frequenz spektakulärer Szenen, die den Geschmack des unterhaltungs- und handlungsbegierigen vulgo treffen, ansteigt.18 In den Vorbemerkungen zur ersten Ausgabe seiner autos schickt Calderón den Sakramentsspielen fast schon entschuldigend voraus, dass die gewisse Monotonie der immer gleichen Figuren in dem hohen Konven­ tionalisierungsgrad der Gattung begründet liege. Die theoretisch-theologische Simplizität seiner Stücke resultiere aus der wirkungstheoretischen Orientierung, die dem gesamten Publikum gerecht werden müsse.19 Ebenso ist die wiederholte Verwendung von tradierten literarischen Topoi als bewusste Antwort auf die Wünsche und Erwartungen der gebildeteren Repräsentanten der heterogenen Zuschauerschaft zu bewerten. In Segismundos Vorstellungsmonolog (v. 102–172) variiert Calderón die beim Publikum beliebte und häufig verarbeitete Wendung »el delito major del hombre es haber nacido« gleich viermal20 und verstärkt dadurch »den Eindruck von der Beliebtheit derartiger Inhalte und Wendungen«.21 Analog dazu sind auch die literarischen und mythologischen Anspielungen zu betrachten. In La vida es sueño manifestiert sich dies z. B. in der Verbindung mit der Technik sprechender Namensgebung: Rosaura heißt als

18  Hier ist zu ergänzen, dass ein bestimmter bildungsmäßiger Stand und eine bestimmte Erwartungshaltung nicht immer auch mit einem bestimmten sozialen Stand gleichzusetzen sind. Als Beweis dafür stehen insbesondere die regelmäßigen incognito-Besuche von Philipp IV. im Corral de la Cruz, das ab 1631 auch eine Königsloge besaß, von der aus der König in den Genuss kam, einem ›normalen‹ Theaternachmittag beizuwohnen (vgl. Shergold, »La vida es sueño«, 107). 19  Vgl. Calderón de la Barca, Obras completas, 42. 20  Vgl. v. 105–108, v.111 f. und v. 116. 21  Kaufmann, Die comedia Calderóns, 76.

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Dienerin Estrellas Astrea,22 und wie die Göttin der vergeltenden Gerechtigkeit straft Rosaura alias Astrea Astolfo insofern, als sie die Unaufrichtigkeit seines Werbens um Estrella aufdeckt und somit die Vermählung mit jener verhindert. Wenn auch nur mit Hilfe einer List, so stellt sie doch die Gerechtigkeit wieder her, denn dadurch, dass er sie sitzen ließ, verlor Rosaura ihre Ehre. Zudem ist es ihrem Handeln zu verdanken, dass Segismundo zum rechtmäßigen König ernannt wird.23 Abgesehen von den ohnehin sprechenden Namen der allegorischen Figuren des auto, verwendet Calderón die telling-name-Technik, wenn sich Sombra und der Príncipe de las Tinieblas zur Verführung des Menschen Aspid und Basilisco nennen: ÁSPID OCULTO ENTRE FLORES: alude al motivo de la sierpe o áspid oculto en las flores, fomoso desde el verso virgiliano ›latet anguis in herba‹ (Bucólica, 3, 93), muy reiterado en el Siglo de Oro y en los autos de Calderón. […] Se llama basilisco (de basileus, rey), rey de las serpientes por la cresta que corona su cabeza. Los clásicos (Plinio, Lucano), las vidas de santos y los hombres de ciencia (Galeno, Avicena, Escalígero) atestiguan sus poderes maravillosos. Se aplica frecuencia al demonio, y a menudo emparejado con el áspid o serpiente, en glosas y paráfrasis del salmo 90.24

Mit der Technik überraschender Enthüllungen – z. B. durch das ZurSeite-Ziehen eines Vorhanges, hinter dem etwas Unerwartetes zu Tage tritt – überträgt Calderón ein Verfahren der im Barock weitverbreiteten Emblematik auf die konkrete Aufführungssituation seiner Stücke für die corral- und carro-Bühne:25 Calderón was well aware that persuasion, the ultimate goal of a sermon, was best effected through the combination of the visual and the verbal. The revelation of 22  Astrea ist die römische Göttin der Gerechtigkeit und der Naturgesetze; in der griechischen Mythologie ist Asträa der Beiname der Dike (griech. ›Gerechtigkeit‹), einer der drei Horen. 23  Wie Clarín mehrfach explizit erläutert (vgl. z. B. v. 2045–2047), ist auch sein Name sprechend; allerdings benennt die semantisierende Namensgebung entsprechend der Konvention zur Konzeption der gracioso-Figur eine dominante Eigenschaft, seinen Hang zum ›Austrompeten‹ von Gerüchten. 24  Ignacio Arellano, Diccionario de los autos sacramentales de Calderón, Kassel 2000, 33. 25  Calderón verwendet das Verfahren der Entdeckung sowohl in der comedia als auch im auto: In der Inszenierungsanweisung der comedia formuliert er: »(Descúbrese SEGISMUNDO con una cadena y la luz, vestido de pieles.)« (90), in der des auto: »Descrúbese un peñasco, y el HOMBRE vestido de pieles, y la GRACIA con una hacha« (AS 1394). Calderón verarbeitet im auto darüber hinaus aber auch ganz konkrete Embleme wie z. B. die Anspielung auf den Pfau als Zeichen für mensch­ liche Eitelkeit (AS 1398).



Dramentext und Aufführungspraxis im Siglo de Oro199 hidden meanings was an art practiced with great frequency in the entertainment of Spanish Golden Age society. The proliferation of emblem books, collections of enigmas and fables, masques, and allegorical processions, for example, offer proof of a national fascination with unraveling the mysterious. In the most popular of entertainments, the plays performed at court and in the corrales, this kind of game-playing was institutionalized in the emblematic discovery scene, where curtains were drawn to reveal some mysterious or marvelous tableau. It should not surprise us, then, to find vestiges of the emblem tradition as a means to unveil the mysteries of the liturgy in the Corpus plays.26

Mikrostrukturell wird dem hohen Zuschaueranteil niederer Herkunft u. a. auch dadurch Rechnung getragen, dass die Mehrzahl der Verse in den Versmaßen der volksnahen Romanzenstrophe verfasst ist, was es gerade dem ungebildeten Publikum vereinfachte, der Handlung zu folgen.27 Allerdings zeichnet sich die metrische Gestaltung von La vida es sueño mitunter auch gerade durch Polymetrie aus, die Calderón auch zur Dramatisierung einsetzt, so z. B. an der Stelle, wo Rosaura Segismundo ihre Lebensgeschichte erzählen will. Kaum hat sie zu ihrem Lebensbericht angesetzt − die Strophenform wechselt dabei von Dezimen zur Romanzenstrophe (v. 273) −, da bricht ihre Rede in einer Aposiopese ab (im Drama), bzw. Clotaldos Befehl an die Wachen aus dem Off unterbricht sie mitten im Satz (auf der Bühne). Da mit dem Wechsel zur Romanzenstrophe samt Rosauras Bitte um Aufmerksamkeit (v. 275) eine bestimmte Erwartungshaltung des Publikums aufgebaut wird, wirkt der plötzliche Abbruch ihrer Erzählung und die daraus resultierende völlig unverhoffte Dynamisierung der Handlung wie ein Schlag, wie ein ›metrischer coup de théâtre‹. Wie stark Calderón den Geschmack seines Publikums berücksichtigt, wird deutlich, wenn man die Konzeption der gracioso-Figur Clarín in der Saragossa-Fassung mit der in der Madrider Fassung vergleicht. In der älteren Fassung, die sich an einen trotz seiner in sich homogenen Zusammensetzung durchgehend einfacheren Publikumsgeschmack richtet, begegnet man einer komischen Gestalt mit krudem Witz. Die Madrid-Version verleiht dem gracioso eine ernste, wenn nicht sogar tragische Komponente. Clarín verkörpert damit eine Figur, in der sich Schwank und Witz mit tiefen Einsichten und Reflexionen verbinden. Doch meist wird der gracioso durch seine Fehleinschätzung der Situation oder sein unangemessenes 26  John T. Cull, »Emblematic Representation in the ›autos sacramentales‹ of Calderón«, in: Manuel Delgado Morales (Hg.), The Calderonian Stage. Body and Soul, Lewisburg 1997, 107–132, hier 108. 27  Evangelina Cuadros Rodríguez, La técnica del actor español en el Barroco. Hipótesis y documentos, Madrid 1998, 495.

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und kläglich-feiges Verhalten, das in Diskrepanz zu seinem großspurigwortreichen Imponiergehabe gerät, zum Gegenstand der Situationskomik, bspw. als der verängstigte Clarín den verhüllten und bewaffneten Clotaldo befragt, ob es denn einen Maskenball gebe (v. 295). In der zweiten Szene des dritten Aktes entsteht dadurch Komik, dass die Soldaten, die gewaltsam in den Kerkerturm eingedrungen sind, zunächst Clarín für ihren wahren Prinzen Segismundo halten, der ängstliche Clarín diese einfache Verwechslung jedoch nicht erkennt, hinter dieser Huldigung seiner Person einen hinterhältigen Trick vermutet und die Äußerungen der Soldaten daher absichtlich falsch versteht (v. 2236–2240 und v. 2249–2252): (SOLDADO) 2.°

Tú nuestro príncipe eres; ni admitimos ni queremos sino al senor natural, y no príncipe extranjero. A todos nos da los pies.

[…] TODOS. CLARÌN.

Danos tus plantas. No puedo porque las he menester para mí, y fuero defecto ser príncipe desplantado.

Auch das für die Verwechslungskomödie typische Formelement des quiproquo, das zu Beginn des dritten Aktes mit dem Element des Karnevalesken verbunden wird, sorgt für Komik: Für kurze Zeit wird die Nebenrolle des unbeirrbaren Narren zur szenenbeherrschenden Figur. Die Retablierung der normalen hierarchischen Verhältnisse erfolgt schließlich über die Verwechslung Claríns mit Segismundo. Das Hineinnehmen typenhaften Bühnenpersonals, v. a. der komischen Figur einfacher Herkunft in die comedia erweitert die Identifikationsmöglichkeiten des gemischten Publikums. Mit Ausnahme der Soldaten zählt das Bühnenpersonal in der comedia zu Mitgliedern des Hofes. Ausgeglichen wird dieses Dominanzverhältnis durch den Protagonisten Segismundo: Er ist die allegorisch-symbolische Verkörperung des Archetypischen, des Allgemeinmenschlichen schlechthin und bietet somit Identifikationspotential für alle Zuschauerschichten. Den Aufführungsbedingungen des auto trägt Calderón insofern Rechnung, als er zum Ausgleich von Akustikproblemen bzw. zur Vermittlung der Zentralaussage auch für später dazugestoßene Zuschauer Poder die bis dahin dargestellte Handlung in einer epischen Einblende zusammenfassen lässt: »Hombre, que hice a imagen mía,  /  yo te saqué de la Tierra,  /  en



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real alcázar te puse,  /  perdióle tu inobediencia,  /  a la Tierra te volví,  /  y vuelvo a buscarte en ella:  /  dónde, cobrado en mi Gracia,  /  quiro que tu esposa sea« (AS 1406–1413). Die anaphorisch gestalteten Stichomythien von Gottvater (Poder), Jesus (Sabiduría) und Heiligem Geist (Amor) als Ausdruck der göttlichen Dreifaltigkeit bringen die transzendentale Beziehung von Schöpfer und Geschöpf auf einen Nenner: »PODER. […] mira, pues, lo que me debes.  /  SABID. Mira lo que a mí me cuestas.  /  AMOR. Mira lo que yo te amo.« (AS 1407). Calderón gelang es also in comedia wie in auto, »den sehr verschiedenartig gelagerten Ansprüchen zu genügen, indem er die divergierenden Richtungen in einem mosaikartig zusammengefügten Ganzen konvergieren ließ«.28 Der uneinheitliche Eindruck der comedia, der die Heterogenität der ästhetischen Forderungen des Rezipientenkreises textuell widerspiegelt, reflektiert im selben Moment jedoch auch die für den Barock charakteristische Präferenz für ausgeprägte Antithesen und Paradoxa. III. Theatralität und Illusionsdurchbrechung vor dem Hintergrund der Relation von Bühnen-, Zuschauer- und Handlungsraum Allein der ritualisierte Ablauf eines Theaternachmittages, bei dem das Hauptstück durch mehrere Zwischenstücke unterbrochen wurde, sowie der unmittelbare Publikumskontakt unterbinden bis zu einem gewissen Grad die Illusionsbildung eines reinen Schautheaters und lassen die Bühne als Bühne stets bewusst bleiben. Während dies zur allgemeinen Bühnenkonvention des Siglo de Oro gehörte, weist der Dramentext selbst zusätzlich zahlreiche Verfahren der Illusionsdurchbrechung auf. La vida es sueño ist daher nicht nur Metatheater, sondern auch Metadrama, denn Autoreferentialität, theatraler Kunstcharakter und Inszeniertheit werden auf Makro-, Diskurs- und Mikrostrukturebene hervorgehoben. Weiter oben wurde bereits auf den Einsatz von Handlungsmotiven wie Verkleidung und Verstellung hingewiesen. Die explizite Thematisierung der Inszenierung und die Verdopplung des Spiels von Schein und Sein innerhalb einer inszenierten fiktiven Welt verweisen auf die Fiktionaliät des Stückes selbst und stören die Entstehung des Illusionseffektes. Wie in der comedia verwendet Calderón auch im auto Verkleidungsszenen und das Motiv des Theaters im Theater: Nach dem Schuldbekenntnis des Menschen (AS 1404) übernimmt Sabiduría die Rolle des sündigen Menschen, dies freilich nur, um den Zustand der Sünde und des Todes am 28  Kaufmann,

Die comedia Calderóns, 73.

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Kreuz durch die Auferstehung zu überwinden: »En fin, Hombre, dejas  /  tus prisones en mis manos;  /  bien que con la diferencia  /  de estar en ti como propias,  /  y estar en Mí, como ajenas. (Pónense la cadena y recuéstase en la gruta.)« (AS 1404). Eine ganz ähnliche Wirkung erzielt das Handlungselement der Inszenierung des Traums des Menschen. Das Leben als Traum, der Traum als Leben, das Leben als Theater, das Theater als Traum. Diese Reihe ließe sich unendlich fortsetzen, denn Leben, Traum und Theater(rolle) verschmelzen bei Calderón zu metaphorischen Synonymen. Das tertium comparationis ist das Ephemere, das zeitlich eng Begrenzte, das Vergängliche, das Rollenhafte, das Täuschende, das Illusionistische und Inszenierte. Auch auf figuraler Ebene stellt Calderón in der comedia autoreferentielle Bezüge her, so z. B., wenn Clarín auf die ohnehin transparente Bedeutung seines Namens verweist (v. 1208–1219). Mit dieser mise en abyme betont er die Analogie seines Wesens zu einer Trompete, die sich in dem Ausposaunen von Gerüchten und Vertraulichem manifestiert. Clarín bezieht sich damit einerseits auf die konventionalisierten Eigenschaften seiner eigenen Rolle, andererseits auf das dichterische Verfahren der sprechenden Namensgebung und durchbricht die Grenze zwischen Fiktion und Theaterrealität. Wenn der verängstigte Clarín sagt: »haga el papel de Nerón,  /  que de nada se dolía« (v. 3050 f.), verweist er explizit auf die Austauschbarkeit und das Ephemere jeder angenommenen Rolle. Zugleich verweist Calderón in Form eines intertextuellen Verweises auf eine klassische Theaterrolle. An anderer Stelle verweist Clarín noch deutlicher auf seine eigene Rolle: »pues cada día lo veo:  /  fuerza es hacer mi papel.« (v. 2248 f.). Damit bezieht er sich in einer mise en abyme auf die Situation des Schauspielers, der den gracioso Clarín verkörpert. Mit seiner Äußerung, die sich direkt an das Publikum richtet, charakterisiert er sich selbst als Kunstprodukt und verweist somit auf seine Inszeniertheit. Beim auto vermeiden die allegorischen Figuren ohnehin die Entstehung eines mimetisch-illusionistischen Bühneneffektes. Die relativ offene Grenze zwischen Bühnen- und Zuschauerraum wird mittels diverser de-dramatisierender Techniken betont. Die metadiskursive und somit illusionsstörende Funktion dieser liegt darin, einen doppelten Bezug der Replik auf das innere und zugleich auch auf das äußere Kommunikationssystem herzustellen. Die weiter oben konstatierte Dominanz der assonanten Romanzenstrophe verdeutlicht den episch-narrativen Charakter der comedia. In jedem der drei Akte wird eine handelnde Figur zum Erzähler einer Geschichte. Diese Botenberichte übernehmen dabei doppelte Funktion. Innerhalb des inneren Kommunikationssystems informieren sie die zuhörenden Bühnenfiguren über zeitlich zurückliegende

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Ereignisse. Clotaldos Bericht über das Vorgehen, um Segismundo in Schlaf zu versetzen (v. 989–1094), sowie Rosauras Lebensbericht (v. 2690–2921) vermitteln insbesondere durch die Integration direkter Rede (v. 1045–1047, v. 1055–1063 und v. 2843–2849) den Eindruck einer belebten Erzählung. Gleichzeitig brechen die Erzählerfiguren aus der Bühnenfiktion heraus und scheinen den Zuschauer direkt anzusprechen, liefern sie ihm doch zum Verständnis der Handlung wichtige Hintergrundinformationen und berichten nachträglich von szenisch nicht dargestellter, temporal zurückliegender Handlung. In diesem Zusammenhang ist insbesondere Basilios Erzählung zu nennen. Dreimal spricht er seine Zuhörerschaft direkt an und bittet sie explizit um Ruhe und Aufmerksamkeit. Die phatisch-appellative Funktion solcher Wendungen erinnert an jene, die in zahlreichen loas verwendet werden: »sólo os pido en la ocasión  /  silencio, que admiración  /  ha de pedirla el suceso.  /  Ya sabéis, estadme atentos,  /  amados sobrinos míos,  /  corte ilustre de Polonia,  /  vasallos, deudos y amigos« (v. 597–603). Ein vergleichbarer Appell an das Publikum manifestiert sich in Segismundos Abschlussrede: Darin bittet er die »pechos nobles« (v. 3318) um Verzeihung für seine Gräueltaten und spricht damit zugleich den Teil der Zuschauer an, die die Darstellung unschöner Szenen gemäß den Regeln der bienséance und dem gesitteten Verhalten ganz besonders erregt haben könnten. Nachdem Basilio das Zwiegespräch zwischen Clodado und Segismundo belauscht und die Bühne verlassen hat, äußert Clotaldo in einem Aparte: »(Enternecido se ha ido  /  el rey de haberle escuchado.)« (v. 2137 f.). Er tritt damit kurzzeitig in Distanz zu seiner eigentlichen Rolle und erfüllt dabei die Rollenfunktion einer intradiegetischheterodiegetischen Erzählerfigur, die dem Zuschauer wie ein omniszienter Erzähler von der sichtlich gerührten Ergriffenheit des Königs berichtet. Da dieser allerdings sein Gesicht verhüllt hatte, um unerkannt zu bleiben, weiß Clotaldo in diesem Moment mehr, als er in seiner Rolle wissen kann. Explizite Verweise auf das eigene Darstellungsmedium und insbeson­ dere die Verwendung der Theatermetapher machen La vida es sueño zum diskursiven bzw. adaptiven Metadrama. Die Funktion solcher Theatermetaphern liegt darin, dass die Bühnengestalten Ausdrucksweisen benutzen, »welche die jeweilige Situation metaphorisch als Theater zur Sprache bringen, aber gerade darum aus dem Blickwinkel der Zuschauerschaft immer auch als eigentliche gemeint verstanden werden können; dann aber haben sie nicht mehr die dargestellte Geschichte, sondern die Aufführung selbst zum Inhalt.«29 Schon zu Beginn der comedia nimmt Clarín explizit auf die Gattung des Fronleichnamsspiels Bezug: »Y si humilidad y sober29  Teuber,

»Calderón de la Barca«, 153.

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bia  /  no te obligan, personajes  /  que han movido y removido  /  mil autos sacramentales,  /  yo, ni humilde ni soberbio,  /  sino entre las dos mitades  /  entreverdado, te pido  /  que nos remedies y ampares.« (v. 347–354) Die Dramenfigur verweist explizit auf zwei typische Figurenstereotype des auto. Da die Spiegelung des Inszenierungsmotivs auf der Bühne in einer komischen Szene erfolgt, liegt hier eine gewisse (Selbst-)Ironie der Fiktion vor. Als Segismundo nach der Palastszene wieder im Turm ist, äußert der noch träumende Segismundo entsprechend der barocken theatrum mundiAuffassung, das Leben sei nichts als Theater (v. 2072–2074). Am Ende besitzen die Zuschauer einen Wissensvorsprung gegenüber Segismundo, denn sie wissen, dass seine Einsicht gerade nicht auf einem real erlebten Traum gründet, sondern auf dem Erleben einer als Traum inszenierten Realität. Segismundo erfährt keine Anagnorisis, welche ihm den vollen Aufschluss über sein Erleben gewähren könnte. Wie die Bühnenfiguren Clotaldo und Basilio, durchschauen die Zuschauer, dass Segismundos vermeintliche Einsicht in die Ununterscheidbarkeit von Traum und Wachzustand, von Abbild und Urbild nichts anderes als das Ergebnis einer geschickt inszenierten Täuschung ist. Segismundo entgeht damit, dass jene Lehre, die er aus Einbildung und Sinnestäuschung gezogen zu haben glaubt, keine naturgegebene Wahrheit des Traums ist, sondern eine kunstvoll hergestellte Fiktion. Auf die reale Lebenswelt des Menschen bezogen bedeutet dies, dass die menschliche Erkenntnis stets die Folge einer göttlichen Inszenierung ist. Im auto erweitert Calderón die Theatermetapher um eine weitere Komponente, die sie in direkten Zusammenhang mit der Trinität und dem Paradoxon der christlichen Heilslehre bringt (AS 1405): HOMBRE.

¿Quien me dirá si teatro, que a la vista representa viva muerte y muerta Vida, es Victoria o es Tragedia ?

SABID.

Victoria y Tragedia es […]

Das Leben wird auch hier als Theaterstück aufgefasst, in dem das Leben, genauer gesagt: der zu Fleisch und Blut gewordene Sohn Gottes stirbt; doch überwindet er den Tod und kehrt zurück in den Schoß Gottvaters. Daher löst sich in dem präsentierten Theaterstück auch die Antithese von Tod und Geburt, so dass Tragödie und comedia mit gutem Ausgang ineinander verschmelzen. Calderóns Theaterverständnis entspricht seiner Lebensauffassung. Sein Theater ist ein Theater, das dem Menschen Hoffnung gibt, denn der Tod,



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das Erwachen aus der Traumwelt, das Ende der irdischen Illusion der realen Welt münden nicht in einem nihilistischen Vakuum, sondern markieren den Beginn der wahren Existenz des Menschen in der transzendenten Welt Gottes. Die diversen Formen der (mitunter komisch wirkenden) Illusionsdurchbrechung und der ironischen Spiegelung des engaño der theatralischen Spielsituation sind Konventionen von Calderóns Theater. Sie stellen letzte Anleihen an die burleseke Farce dar, kommen der Forderung von Lope de Vegas comedia nueva nach und stehen im Dienste von Calderóns didaktischer Zielsetzung. Die Stoßrichtung dabei ist eindeutig: Dadurch, dass dem Publikum die Theatralität und Fiktionalität des Bühnengeschehens bewusst gemacht wird, soll der einzelne Zuschauer dieses Wissen über den Kunstcharakter des Theaters auf sein reales Leben übertragen und die Rollenhaftigkeit seines irdischen Daseins auf der großen Weltbühne erkennen. IV. Implizite und explizite Bühnenanweisungen in Haupt- und Nebentext Calderóns Nebentexte zur szenischen Umsetzung fallen allgemein recht knapp aus; besonders wichtig sind daher die impliziten Inszenierungsverweise im Haupttext. Der resultierende Redundanzeffekt bei gleichzeitiger optischer Konkretisierung der impliziten Inszenierungssignale verleiht den Stücken eine nachhaltigere Wirkung, sichert die Informationsvergabe doppelt ab und kann insofern als Antwort auf die Rezeptionsbedingungen bei Aufführungen der corral- und der carro-Bühne betrachtet werden. Über die Sprechweise der Bühnensprache des 17. Jahrhunderts lassen sich mangels Zeitdokumenten kaum gesicherte Aussagen machen. Auch der Dramentext gibt uns diesbezüglich keine expliziten Angaben im Nebentext. Allerdings lassen sich aus den Bühnenanweisungen »(En sueños)« und »(Despierta)« (161), die unmittelbar vor bzw. in die Replik Segismundos gesetzt sind, Rückschlüsse auf die Sprechweise ziehen. So liegt zunächst eine verträumte, monoton intonierte und gedämpfte Sprechweise nahe, während die Interjektion und die Frage Segismundos nach seinem Erwachen einen bestimmten, lauteren Sprechmodus vermuten lassen. Es manifestiert sich folglich lediglich eine Art impliziter Bühnenanweisung im Nebentext. Neben den spärlichen expliziten Verweisen finden sich in den Repliken zahlreiche implizite Hinweise auf mimische, gestische und proxemische Zeichen. Als Rosaura und Segismundo sich zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht begegnen, packt sie der ungestüme, tierisch erregte Segismundo gewaltsam mit seinen kraftvollen Händen: »Sólo porque me has oído,   /  entre mis brazos   /  tengo de hacer pedazos«

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(v. 183–185). Mit folgenden Worten sinkt Rosaura voller Ergebung und an seine Menschlichkeit appellierend vor ihm auf die Knie: »Si has naciendo  /  humano, baste le postrarme  /  a tus pies para librarme« (v. 187–189). Segismundo nimmt auf die Wirkung von Rosauras demütiger Haltung Bezug: »Tu voz pudo enternecerme,  /  tu presencia suspenderme,  /  y tu respecto turbarme« (v. 190–192). Deiktika in der Personenrede können ebenfalls gestisch realisierte Zeigebewegungen implizit signalisieren. Folgende Äußerung Clotaldos, der laut Nebentextanweisung mit einem Gewehr auftritt, legt ein auch gestisch artikuliertes Zeigen der Schusswaffe nahe: »rendid las armas y vidas,  /  o aquesta pistola, áspid  /  de metal, escupierá  /  el venero penetrante  /  de los balas, cuyo fuego  /  será escándolo del aire.« (v. 303–308). Im Gegensatz zu den wenigen Inszenierungsverweisen in der comedia fallen die Regieanweisungen im auto etwas detaillierter aus; so verweist der Nebentext z. B. dreimal explizit auf das Annähern bzw. Zurückweichen von Pecado an bzw. vor Spiegel (AS 1397), Schwert (AS 1397) und Vogel (AS 1398). Abgesehen von den Hinweisen auf Auf- und Abtritte, legt der frequente Einsatz von Musik und Gesang Tanzbewegungen nahe; gestützt wird diese Annahme durch den impliziten Verweis von Fuego auf die Realisierung der folgenden Handlung als Tanz: »[…] las cuatro /  organizadas debajo   /  de compás, métrico y ritmo,   /  Esferas fuimos   vaya de música y baile« (AS 1389). Die Regieanweisung »como asombrado« (129 und AS 1405) lässt vermuten, dass Segismundo respektive Mensch, Verstand und Willkür die Bühne wankenden und schleppenden Ganges betreten und mit langsamer Gestik und schlaffer Mimik artikulieren. Unmittelbar nach seiner Erschaffung verweist der Mensch selbst auf seine ersten stolpernden Schritte: »¡Oh, qué torpe el paso   /  promero doy!« (AS 1394), die − auf der Bühne in visuelle Bewegungszeichen transponiert − den Zustand seiner vollkommenen Verwirrung verdeutlichen. Wie auch in der comedia fallen Bühnenfiguren in dem auto auf die Knie, jedoch signalisiert dies hier der Nebentext: Voller demütiger Ehrfurcht fallen Sombra und Pecado nach der Überwindung des Todes Sabiduría vor die Füße (AS 1405). Die Clotaldo entsprechende Figur des auto ist die des Verstandes, die den Menschen jedoch vergeblich anfleht, sich nicht der Sünde hinzugeben und von dem Apfel der Versuchung zu essen (AS 1399). Wie Segismundo handelt der Mensch ohne Verstand, wenn er den Störenfried aus dem Raum wirft. Während der Wurf vom Balkon in der comedia hors scène erfolgt und per Botenbericht vermittelt wird, drängt der Mensch den Verstand weitaus publikumswirksamer coram publico von der Bühne: »(Arrójanle entre los dos el vestuario, como precipitado)« (AS 1399).



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Die Tatsache, dass die corral-Bühne weder über künstliche Lichteffekte noch über wechselnde Kulissen verfügte, verleiht der Wortkulisse sowie den Kostümen eine besondere Bedeutung.30 Ganz im Sinne der Repräsentationskultur, in der die Kleidung als Zeichenspender zur unmissverständlichen visuellen Präsentation der gesellschaftlichen Stellung funktionalisiert wurde, tragen die wechselnden Kostüme der Protagonisten Segismundo und Rosaura Zeichenfunktion und ersetzen damit z. T. die fehlende Bühnenkulisse. Die Makrostruktur wird so in szenische Darstellungsmittel transponiert und verdeutlicht dem Zuschauer auf visuelle Weise Ort und Ablauf der Handlung. Im ersten Akt tritt Rosaura als Mann auf. Segismundo erscheint als in Ketten gelegter Gefangener einem barbarisch-ungestümen Urmenschen gleich in Felle gehüllt. Seine Kleidung scheint sein Wesen nach außen hin transparent zu machen: »en el traje de fiera yace un hombre« (v. 96). Dass es sich auch hier um eine Verkleidung handelt, wird freilich erst dann klar, wenn man erfährt, dass Segismundo eigentlich der Sohn des Königs ist. Im zweiten Akt erscheinen beide Figuren in den ihrer sozialen Zugehörigkeit angemessenen Kleidungsstücken, Rosaura als Hofdame (141) und Segismundo in Königsgewändern.31 Schon gegen Ende des zweiten Aktes erscheint Segismundo erneut in Felle gekleidet. Die Bühnenanweisung des dritten Aktes gibt keinerlei Auskunft über Rosauras Kostümgestaltung, in ihr werden lediglich ihre eindeutig männlichen Attribute präzisiert: »Sale Rosaura con baquero, espada y daga« (186). Auch hier ist es erst die Figurenrede, die nähere Hinweise auf ihr Kostüm liefert: »Tres veces son las que ya  /  me admiras, tres las que ignoras  /  quien soy, 30  Durch die figurenperspektivisch vermittelte Präzisierung des Schauplatzes in dem beliebten Verfahren der Wortkulisse erfolgt eine Subjektivierung der Darstellung des fiktiven Raums, was dem Handlungsort häufig eine ambige Mehrdimensionalität verleiht. Die appellativ-phatische Funktion der verbalen Lokalisierungstechnik durchbricht gleichzeitig die Grenze zwischen innerem und äußerem Kommunikationssystem, was zu einer (meta)fiktional reduplizierten Subjektivierung des Schauplatzes führt. Die verbale Raumdarstellung fordert den Rezipienten dazu auf, die in seiner Vorstellung evozierte Szenerie als Folie auf den Bühnenraum zu projizieren, vor deren Hintergrund sich die szenische Transposition der Dramenhandlung abspielt. Die subjektivierte Schauplatzbeschreibung löst automatisch Empfindungen und Assoziationen beim Zuschauer aus, die seine Raumwahrnehmung nachhaltig steuern und ihn gewissermaßen direkt an der Bühnenhandlung teilhaben lassen. 31  In der expliziten Anweisung heißt es allerdings lediglich: »criados dando de vestir a Segismundo« (129). Komplettiert wird diese erst implizit in Segismundos Replik: »¿Yo entre telas y brocados?  /  ¿Yo cercado de criados  /  tan lucidos y briosos?  /  ¿Yo despertar de dormir  /  en lecho tan excelente?  /  ¿Yo en medio de tanta gente  /  que me sirva de vestir?« (v. 1229–1235). Der Verweis auf Seide und Brokat kann u. a. auf die königlichen Gewänder bezogen werden.

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pues las res me ha visto  /  en diverso traje y forma.  /  La primera me creíste  /  varón […]  /  La segunda ma admiraste  /  mujer […]  /  La tercera es hoy, que siendo / monstrua de una especie y otra,  /  entre galas de mujer / armas de varón me adornan.« (v. 2712–2717, v. 2720–2721 und v. 2724– 2727). Bei Rosaura fällt auf, dass die Handlungs- und Verhaltensweisen sich mit dem Kostüm verändern. Als Mann verkleidet, will sie den Verhaltenskonventionen entsprechend wagemutig Rache üben (v. 376 f.). Als Dame am Hofe verlangt sie, wie es sich für diese Rolle geziemt, von Clotaldo sie zu rächen (v. 2512–2515). Daran verdeutlicht sich ein wesentliches Funktionsprinzip der Repräsentationsgesellschaft, nachdem die äußere Erscheinung das Sein bestimmt, d. h., die Kleidung ist Index der sozialen Stellung innerhalb der Hierarchie der Repräsentationsgesellschaft und legt die dieser Rolle entsprechenden Verhaltensmöglichkeiten fest. Gemeinsam ist beiden Figuren ihre antithetische und heterogene Konzeption (Rosaura: Mann vs. Frau; Segismundo: instinktgelenkt, bestialisch vs. zivilisiert, vernunftgeleitet), welche die Zwiespältigkeit des menschlichen Wesens widerspiegelt. Der Nebentext des auto verweist explizit auf die kostümliche Gestaltung, wenn auch nicht im Falle des gesamten Bühnenpersonals: Die Macht tritt als Greis auf; die Liebe und zunächst auch die Weisheit tragen das Rollenkostüm eines galán (AS 1388), und der Mensch ist wie in der comedia in Felle gehüllt (AS 1394).32 Gegen Ende des auto erscheint die Weisheit in der Tracht eines Pilgers (AS 1403). Das auto übernimmt z. B. die Ankleidungsszene von Segismundo mit königlichen Gewändern. Wie in der comedia lässt sich die Pracht der Kleidungsstücke allerdings nur aus den Repliken erschließen. Der Príncipe de las Tinieblas kündigt die Szene mit folgenden Worten an: »¡Y aun en más le sublimaste,  /  pues siguiendo el esplendor  /  de la Gracia, de tu Honor  /  y Gloria le coronaste,  /  vistiendo su desnudez  /  rico, aparente vestido,  /  que en el mísico sentido  /  significará tal vez  /  la cándida estola hermosa,  /  que, de Virtudes tesoro,  /  será en el ropaje de oro,  /  que dé el esposo a la esposa!« (AS 1394). Kurz darauf gibt der Nebentext dann auch die konkrete Anweisung: »Salen los Elementos cantando, con los vestidos, y el ENTENDIMIENTO y ALBEDRÌO, la LUZ con la hacha y el HOMBRE detrás, y mientras cantan le van vistiendo, como dicen los versos.« (AS 1395). Die Äußerung des Menschen angesichts all des ihn umgebenden Prunks vermittelt den Eindruck einer Eins-zu-eins-Übertragung der Replik Segismundos: 32  Zur besonderen Verdeutlichungsfunktion von Kostümen und Requisiten siehe Cull, »Emblematic Representation«, 127.



Dramentext und Aufführungspraxis im Siglo de Oro209 ¡Válgame el cielo! ¿qué veo? ¡Válgame el cielo! qué miro? Con poco esperanto lo admiro, con mucha duda lo creo. Yo en palacios suntosos? ¿Yo entre telas y brocados? ¿Yo cercado de criados tan lucidos y briosos? (v. 1224–1231)

¿Cielos, qué es esto que veo? ¿Qué es esto, Cielos, que miro, que si lo dudo me admiiro y me admiro si lo creo? ¿Yo de galas adornado, de músicas aplaudido, de Sentidos guarnecido, de Potencias ilustrado? (AS 1395–1396)

Desweiteren impliziert der Haupttext eine ganze Reihe anderer eindrucksvoller Kostüme, insbesondere die Verkleidung von Sombra und dem Príncipe de las Tinieblas als Schlange (AS 1395). Da sie jedoch befürchten, erkannt zu werden, verkleiden sie sich obendrein mit dem typischen Kostüm eines villano (AS 1396), wobei hier die Ambiguität des Wortes villano sinnfällig ist, da es zugleich einen niederträchtigen Menschen bezeichnet. Die corral-Vorführungen fanden bei Tageslicht statt, da die künstliche Beleuchtung eine zu akute Brandgefahr bedeutet hätte. Die szenische Darstellung der Tageszeit der Handlung musste also über andere Verfahren erfolgen. Eine visuelle Vermittlungsmöglichkeit zum Ausgleich dieses bühnentechnischen Defizites stellt der Einsatz bestimmter konventionalisierter Requisiten dar. So evoziert die Fackel (»la luz«) als Index in der Vorstellung des Zuschauers den Eindruck einer die Dunkelheit erhellenden Lichtquelle. Auch im auto wird eine Fackel verwendet; allerdings war diese nicht nur ein Zeichen für Licht, sondern brannte auch tatsächlich: »Sale la LUZ con un hacha encendida« (AS 1399). Kurz darauf wird sie gelöscht, wodurch die Abkehr des Menschen von der erhellenden Kraft Gottes auch optisch und olfaktorisch durch den enstehenden Rauch, der zugleich auf das Fegefeuer verweist, umgesetzt wird. Der erste Teil des auto ist eine symbolische Bearbeitung des Schöpfungsaktes. Dargestellt wird die Ordnung des Chaos, welches im Kampf der Elemente um das Requisit Krone, das für Macht und Autorität steht, visualisiert wird. Statt Astolfos Amulett von Rosaura, reflektiert im auto ein Spiegel (AS 1397) das menschliche Antlitz. Der Spiegel, ein in der Barockkunst beliebtes Sinnbild für die menschliche Vanitas und Zeichen des memento mori, thematisiert zugleich die Problematik von Schein und Sein, der der Mensch in seiner sündhaften Eitelkeit der Verblendung zum Opfer fällt; denn er vermag in seinem Spiegelbild nur seine eigene Perfektion als Krone der Schöpfung zu sehen: »Si fuera primera, no  /  llegara a tener segunda.  /  Dices bien, la más perfecta  /  criatura soy« (AS 1397) − er erkennt nicht, dass er nur das Abbild einer unendlich gewaltigeren Allmacht ist: »Es sin duda,  /  supuesto que el Hacedor  /  te hizo a semejanza suya;  /  pero si de

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él recibiste  /  la perfección que te illustra.« (AS 1397). Calderón verbindet den Spiegel zudem mit dem christlichen Topos des speculum sine macula, einem biblischen Symbol für Unschuld und Reinheit, das häufig mit der María Immaculata Concepción in Verbindung gebracht wird; so etwa wenn er die Dunkelheit und die Sünde vor dem Spiegel zurückschrecken lässt: »De haber visto en el cristal  /  un rasgo, viso o figura  /  de un espejo no manchado  /  cuya siempre intacta luna  /  na ha de empañar el aliento  /  de la Sombra de la Culpa.« (AS 1397). Nachdem sich auch der Vogel als Emblem des Heiligen Geistes (AS 1398) und die Blumen Lilie und Rose als Symbole für die Jungfrau Maria (AS 1398) als unbrauchbar zur Verführung des Menschen erwiesen haben, verweist die Sünde auf den Apfel (AS 1398), den der Mensch laut Inszenierungsanweisung dann auch vor dem Publikum isst. Als sich Sombra und Pecado der Allmacht Gottes ergeben haben, erscheint Agua mit einer Muschel (AS 1405), einem ebenfalls ambigen Zeichenträger: Einerseits steht die Muschel für das Element Wasser; im Textkontext wird es zum Behältnis für das Wasser des Jordans, in dem Johannes zum Christentum bekehrte Menschen taufte. Nach der Wendung des Menschen zu Gott steht sie hier also im Sinne einer zweiten Taufe als Zeichen seiner Reinigung. Weiter steht sie in Bezug zum ebenfalls auf der Bühne inszenierten Ritual der Eucharistiefeier, bei der geweihtes Wasser als Erinnerung an die eigene Taufe verteilt wird und als Schutz vor allem Übel dienen soll. Schließlich spielt die Muschel auch auf das Attribut des Pilgers nach Santiago de Compostela an und verweist auf die Pilgerschaft des Menschen zu Gott. Klänge und Geräusche spielten im Theater des Siglo de Oro eine besonders große Rolle, und zwar nicht nur in den musikalischen Zwischenstücken, sondern auch bei der Aufführung des Hauptstückes. In der comedia erklingt das erste Mal Musik, als Astolfo und Estrella in der fünften Szene des ersten Aktes erstmals auftreten (103). Zum einen kündigt die Musik den Ortswechsel von der ersten zur zweiten Szenerie klanglich an: Der harmonische Wohlklang, der in Kontrast zu den unangenehmen Kettengeräuschen der ersten Kulisse steht, kennzeichnet den Palastraum. Zum anderen weist die Musik die auftretenden Personen als Mitglieder des Hofes aus. Kurz darauf ertönt erneut Musik und kündigt Basilios Auftritt an. Während die Musik hier von außerhalb der Bühne erklingt, treten Musiker und Sänger in der zweiten Szene der zweiten jornada Segismundo begleitend tatsächlich auf. Die Musik untermalt das Ankleiden von Segismundo. Dass es sich dabei um Gesang handelt, verleiht der Szene Feierlichkeit, verstärkt zugleich aber auch den Eindruck des Traumhaften. Das auto besteht grundsätzlich zu einem Großteil aus Gesang und musikalischer Begleitung. Damit wird der Bezug zur Kirchenpraxis ganz

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allgemein und zum Ritual der Verehrung Gottes in der Feier der eucharistischen Gaben mit Gesang am Fronleichnamstag im Speziellen hergestellt. Mit diesem indirekten Rückbezug auf den Spielanlass des präsentierten Stückes, das seinerseits die Glorifizierung göttlicher Macht in Szene setzt, verlässt das auto die Ebene des Fiktionalen, wird zum Metatheater. Mit der Verwendung disharmonischer, atonaler bzw. harmonisch-melodischer Klangfolgen verdeutlicht die musikalische Gestaltung des auto auf ihre Weise den sprachlichen Inhalt der Repliken und Lieder.33 Als Beispiel sei hier der Anfang des Stückes näher betrachtet: Die drei Gestalten Poder, Amor und Sabiduría verdeutlichen das Paradox der Trinitätslehre von der Einheit der drei Wesen eines sinngebenden Willens: »TIERRA. En Tres personas distinto.  /  AGUA. Y en sola Voluntad« (AS 1388). Die Einheit der drei Erscheinungsformen Gottes verdeutlicht sich, noch bevor sie die Bühne betreten, indem sie als Stimme Gottes aus dem Off im Chor sprechen. Die musikalisch gestützte gesangliche Wiederholung ihrer Worte leistet drei Dinge: Erstens vermittelt sie den Eindruck der sphärischen Klänge des göttlichen Mysteriums, zweitens verleiht sie dem Paradox der Trinität Nachdruck, und drittens sichert sie das Verständnis. Erst durch ihre freiwillige Unterordnung unter die göttliche Dreieinigkeit (AS 1388) schlichtet sich der chaotisch-sinnlose Kampf der Elemente und sie verbinden sich in sinnvoller Ordnung zu den göttlich geeinten Gegensätzen bzw. zu der Einheit ungleicher Elemente: »¡Qué contrariamente unidos!  /  ¡Y unidamente contrarios!« (AS 1388). Dieser Prozess der Vereinigung durch die Anerkennung Gottes spiegelt sich auch in der Mikrostruktur. So erfolgt ihre Anerkennung Gottes als höchster Macht in anaphorischen Stichomythien; dabei werden die ersten vier scheinbaren Aposiopesen chiastisch verschränkt in der Folge fortgeführt. Ferner verdeutlicht die Verwendung von vier synonymen Ausdrücken des Unterwerfens sowie das anschließende Sprechen im Chor, also das Sprechen mit einer Stimme, die Vereinigung des Differenten zu einem sinnstiftenden Ganzen und weist damit indirekt auf die Einheit des dreifaltigen Gottes, denn »Voz«, »Imperio« und »Dominio« stehen für den einen Gott; »Precepto« ist sein veräußerter Wille (AS 1388): AGUA. AIRE. TIERRA. FUEGO. AGUA. AIRE.

A esa Voz. A ese Precepto. A ese Imperio. A ese Dominio. Yo me humillo. Yo obezco.

33  Vgl. John E. Varey, »Calderón’s Auto Sacramental ›La vida es sueño‹ in Performance«, Ibero-Romania 14 (1981), 75–86, hier 84.

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Yo me postro. TIERRA. Y yo me rindo. FUEGO. LOS CUATRO. Y de la pasada lid en la pretensión desisto.

Der erste Teil der Exposition endet mit der harmonischen Vereinigung der antagonistischen Elemente in der audiovisuell dargestellten Adoration der Dreieinigkeit mittels eines Sing- und Tanzspiels, zu dem das personifizierte Feuer die anderen drei Elemente aufruft: »Sí haremos, porque en el Día  /  del Senor los regocijos  /  también son culto; y supuesto  /  que las cuatro Esferas fuimos  /  organizadas debajo  /  de comás, métrico y ritmo,  /  vaya de música y baile, diciendo todas conmigo:  /  Cuanto en Fuego, Aire, Agua y Tierra.« (AS 1389). Der Nebentext gibt an, dass das Feuer mit dem letzten Vers bereits in den folgenden Lobhymnus einstimmt. Es folgt sodann im steten Wechsel von Solo und Chor eine an die Messliturgie erinnernde Benedeiung Gottes. Die in diesem Zusammenhang am häufigsten verwendeten Stilmittel sind refrainartige Wiederholungsfiguren, die in deutlichen Zusammenhang mit der religiösen Zeremonie einerseits und den aus der konkreten Aufführungssituation bedingten Akustikproblemen andererseits zu bringen sind. Nachdem Rosaura und Clarín die grauenerregende Festung erblickt haben, kündigt sich das tatsächliche Erscheinen von Segismundo zweimalig an, obwohl das Tor des dunklen und gespenstischen Turmes geöffnet ist. Zunächst geschieht dies nur sehr vage, indem das Rasseln einer schweren Kette (88) ertönt, was Rosaura und den verängstigten Clarín mit noch mehr Schauder erfüllt. Rosaura läuft es wortwörtlich heiß und kalt den Rücken runter: »Inmovíl bulto soy de fuego y hielo.« (v. 74) Im dritten Akt werden zweimal kriegerische Geräusche verwendet. Im ersten Fall dient der »ruido de cajas« (168) dazu, einen Ortswechsel anzukündigen: Während die erste Szene Clarín im Turminneren zeigt, befinden sich die in der zweiten Szene auftretenden Soldaten vor dem Turm (v. 2227 f.). Im zweiten Fall liegt eine indirekte Form verdeckter Handlung vor: Der Waffenlärm deutet die nicht dargestellte parallel verlaufende Handlung akustisch an: »(Suena ruido de armas. Salen el REY, CLOTALDO y ASTOLFO, huyendo)« (18). Die dem Kampfgeschehen entflohenen Personen befinden sich etwas abseits der Kampfhandlung, die mittels der Geräusche hors scène angedeutet, weitergeht. Dies erklärt auch, dass der ebenfalls dort verschanzte Clarín verletzt wird und ihnen vor die Füße fällt. Neben dem Kettengerassel ist im Hinblick auf das auto hauptsächlich das Donnergrollen des Erdbebens (AS 1399 und 1405) zu nennen, das die Gewalt göttlicher Macht mit Nachdruck verdeutlichen soll.

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V. Die Gestaltung der Bühne: Hypothesen zur Inszenierung im Siglo de Oro Die Literaturhistoriker sind sich nicht ganz einig darüber, ob die Bühne für La vida es sueño überhaupt bemerkenswerte Dekorationen und Kulissen aufwies. Die wenigen Zeitzeugnisse hinsichtlich der Inszenierung zur Zeit Calderóns sowie die spärlichen Inszenierungsanweisungen lassen mehrere Hypothesen plausibel und zugleich widerlegbar erscheinen. Nach Shergold34 wies der Bühnenraum neben den Seitentüren, dem zentralen Vorhang vor der hinteren Bühnenwand, der ersten Gallerie und der Treppe bzw. Leiter keine zusätzliche Dekoration etwa in Form einer einfachen Hintergrundkulisse auf. Ruano35 geht davon aus, dass die Bühne neben der monte-Vorrichtung den Turm und den Felsen zumindest synekdochisch andeutete. Als Beleg dafür führt er den Gebrauch der Deiktika in den Repliken und Regieanweisungen an, die auf diese Szenerie verweisen. Im Gegensatz zu Ruano und Shergold geht Allen36 davon aus, dass die monte-Vorrichtung nicht nur eine konventionalisierte ikonische Andeutungskulisse war, die eher einer Rampe mit Stufen glich als einem Berg, sondern dass es sich um eine realistische Felsenrekonstruktion handelte. Er begründet seine Annahme damit, dass die corrales von denselben Truppen bespielt wurden wie die carro-Bühnen mit ihren raffinierten und aufwändig gestalteten Bühnenbildern. Während der gesamten Vorstellung blieb wahrscheinlich zumindest der monte auf der Bühne präsent, wurde aber wohl vom Publikum nur dann als Dekor wahrgenommen, wenn er den Hintergrund der Handlung bildete. Auf das Bühnenbild, das die beiden im fiktionalen Raum geographisch voneinander getrennten Handlungsorte parallel darstellt, verweist Astolfo implizit mit der chiastischen Verschränkung beider Räume mit den zu ihnen gehörigen Figuren: »Pues medid con más espacio  /  vuestras acciones severas,  /  que lo que hay de hombres a fieras,  /  hay desde un monte a palacio.« (v. 1432–1435). Auf das Nebeneinander von monte und Palast in dem geteilten Bühnenraum spielt ferner die Äußerung eines Soldaten an: »En lo intricando del monte,  /  entre sus espesas ramas,  /  el rey se enconde.« (v. 3136–3138). »La vida es sueño«. María Ruano de la Haza, »The Staging of Calderón’s ›La vida es sueño‹ and ›La dama duende‹ «, Bulletin of Hispanic Studies LXIV / 1 (1987), 51–63, hier 56–58. 36  John J. Allen, »Staging«, in: Frederick A. de Armas (Hg.), The Prince in the Tower, Lewisburg 1993, 27–38, hier 29. 34  Shergold, 35  José

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Für die Palastszenen gab es wahrscheinlich keine spezifische Dekoration. Es ist davon auszugehen, dass die Andeutungskulisse zugehängt wurde. Dies belegen die wenigen, eher beiläufigen Ortsbeschreibungen in der Figurenrede. Estrella erwähnt die »finezas tan cortesas« (v. 498) und die »cortés bizarría« (v. 565). Auch die Tatsache, dass zwar von dem Fenster bzw. Balkon die Rede ist, von dem Segismundo den unliebsamen Höfling ins Meer stieß, dass sich diese allerdings andererseits nicht im Bühnenraum, sondern hors scène befinden, stützt diese Annahme; mit anderen Worten, dienten die Galerien und Fenster des Bühnenhintergrundes wohl nicht der Darstellung. Überdies nimmt eine Inszenierungsanweisung explizit Bezug auf die Präsenz eines Vorhangs in den Palastszenen: »(Sale ROSAURA al paño)« (150). Mit den hier beschriebenen Techniken nutzte Calderón die wichtigsten konventionalisierten bühnenbildnerischen Möglichkeiten des kommerziellen corral-Theaters. Sie zeugen von enorm großer Flexibilität beim Einsatz, der allein auf den nicht-realistischen – im Sinne eines platten mimetischen Naturalismus – Umgang mit der Bühnendekoration zurückzuführen ist. Seit 1648 formierte sich der Bühnenraum der Fronleichnamsspiele nicht mehr nur aus zwei, sondern aus vier Wagenbühnen. Diese Entwicklung war verbunden mit der Einführung einer vorgelagerten Bretterbühne, die den eigentlichen Darstellungsraum bildete. Dies führte dazu, dass die vier linear aneinander gereihten carros zunehmend zur Kulisse wurden. Ferner manifestierte sich einhergehend damit eine gewisse Restriktion des Publikums: »[…] las obras dejaron de ser tan populares, poniéndose cada vez más énfasis en las representaciones ante la Corte, los Consejos y la Municipalidad.«37 Der zunehmende Einfluss der Hofbühne auf die Inszenierungen der carro-Bühne ließ die Aufführungen der autos vom Partizipationstheater zu einem immer stärker ausgeprägten Schautheater werden, ohne aber die Beteiligung des Publikums ganz aufzugeben.38 Im Gegensatz zur comedia geben die ausführlicheren Regieanweisungen und der zusätzliche Text Calderóns zur handwerklich-technischen Konstruktion und künstlerischen Ausgestaltung der Wagenbühnen für die Corpus-ChristiFeierlichkeiten von 1673 unmissverständliche Hinweise auf die Gestaltung 37  John E. Varey, Cosmovisión y escenografía: el teatro español en el siglo de oro, Madrid 1987, 364. 38  Die Vorstellung der autos war weiterhin integrativer Teil der spektakulären Fronleichnamsprozessionen mit gigantes, tarascas, Tanz- und Singspielen. Der ernsten Thematik des auto wurden unterhaltsame Farcenstücke entgegengesetzt; so verfasste Calderón für die Aufführung von La vida es sueño die autoparodistische Mojiganga de las visiones de la muerte. Vgl. Margaret R. Greer, » ›La vida es sueño−¿o risa?‹: Calderón Parodies the auto«, Bulletin of Hispanic Studies 72 (1995), 313–325.



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der carro-Bühne, die viele bühnenbildnerische Neuerungen der Hofbühne wie bemalte Kulissen und komplizierte tramoyas aufgreift und sich zu eigen macht.39 Nach der loa wird die Aufmerksamkeit des Publikums durch den spektakulären Auftakt der ›Vorhandlung‹ erregt: Das Spiel setzt mit der theatertechnisch komplizierten Öffnung aufwändig gestalteter Kugeln ein, die die vier Elemente versinnbildlichen. Calderón präzisiert in der Memoria de las apariencias, dass die eine Kugelhälfte nach vorne in Richtung des Publikums hin geöffnet wird.40 In den vier Kugeln erscheint je eine Schauspielerin, die auf einem plastisch ausgestalteten Tier sitzt. Bei den ›Reittieren‹ handelt es sich jeweils um dasjenige, das dem jeweiligen Element symbolisch zugeordnet ist (Erde  Löwe, Feuer  Salamander, Wasser  Delfin, Luft  Vogel). An diesen visuell eindrucksvollen Einsatz schließt sich der eigentliche Anfang des auto an. Dafür ist es erforderlich, dass sich die vier Schauspielerinnen auf die erste Bühnenebene begeben haben, wo sie dann den vorgelagerten Bühnenraum miteinander kämpfend betreten. Die vier Wagenbühnen symbolisieren dabei ebenfalls die vier Elemente. Die untere Spielebene des ersten carro diente zusätzlich der Darstellung der dunklen Felsgrotte, in der der Mensch von den Elementen erschaffen wird und die nach dem Sündenfall zum Gefängnis (»prisión fiera«, AS 1401) wird. Gegen Ende des auto erscheint die Felshöhle als Kalvarienberg: »Al Peregrino abrazado  /  a un cruzado leño, y puesta  /  la Sombra a sus pies, y el fiero  /  Príncipe de las Tinieblas.« (AS 1405). Aller Wahrscheinlichkeit nach stellte die untere Spielebene des vierten carro den Palast dar: »The cave is revealed in the bottom starey of one of these carts, probably that of Earth, for it is likely that one of the other carts was used, balanced at the other side of the stage by the palace.«41 Vareys Vermutung erscheint dahingehend plausibel, dass somit der illusionistische Charakter der Regentenschaft des Menschen als vermeintlich höchste Macht verdeutlicht würde, repräsentierte die vierte Wagenbühne doch die Luft, das Flüchtige, Unsichtbare und NichtFassbare. Neben den Globen, die geöffnet und geschlossen werden können, stellt das inszenierte Erdbeben (AS 1399 und 1405) zweifelsohne den eindrucksvollsten Bühneneffekt dar. Die Analyse der comedia- und auto-Fassung von La vida es sueño zeigte die starke Ausrichtung der Dramenkonzeption an die Gegebenheiten 39  Eine ausführliche Darstellung der Gestaltung der einzelnen Wagenbühnen aus der Lektüre der Memoria de apariencia heraus liefert Varey, Cosmovisión y escenografía, 365. 40  Vgl. Calderón de la Barca, »La vida es sueño«. 41  Varey, »Calderón’s Auto sacramental«, 85.

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und Konventionen des jeweiligen Bühnentyps und an den Geschmack des heterogenen Publikums. Es wurde deutlich, dass den besonderen Rezep­ tionsbedingungen der damaligen Aufführungspraxis im corral-Theater und auf der carro-Bühne im öffentlichen Raum durch einen ausgeprägten Einsatz von Wortkulissen und anderen theatralischen Zeichen Rechnung getragen wird. Die zum Teil redundanten Informationsvergaben per theatralischer Umsetzung und verbaler Kommentierung versuchen die Störfaktoren beim Rezeptionsprozess zu kompensieren und das Verständnis der (religiösen) Aussage zu garantieren.

Amor-Emblematik und liebestheoretischer Diskurs Funktion und Gestaltungsweise sinnbildlichen Raumdekors im Hamburg des 17. Jahrhunderts* Von Christa Schlumbohm

Der Zustrom niederländischer Glaubensflüchtlinge in den protestantischen Norden übte einen prägenden Einfluss auf die Stadt Hamburg aus, die »im 16. und 17. Jahrhundert mehr als jede andere deutsche Stadt im Banne der niederländischen Kunst und Architektur« stand.1 Viel zitiert wird in diesem Zusammenhang die Bewunderung eines Chronisten für die »Schildereien«, mit denen Hamburger Patrizier »nach der Holländischen Art« ihre Räume »aufgebuzt« haben.2 Ein konkreter fassbares Zeugnis für den sichtbaren Ausdruck niederländischen Geschmacks als die hierbei nicht näher bezeichneten Gemälde sind zwei Beispiele von Deckenbemalungen mit Emblemen einer spezifisch niederländischen Sparte der Sinnbildkunst: der liebestheoretischen Emblematik, vertreten durch die Amorum Emblemata des Otto van Veen. Diese waren im Jahre 1608 erstmalig erschienen und fanden nicht nur durch polyglotte Ausgaben, sondern auch durch spätere Neuauflagen weite und nachhaltige Verbreitung,3 was sich nicht zuletzt an ihrer mehrfachen Verwendung als Raumdekor ermessen lässt. Die Amorum Emblemata stellten 124 Embleme bereit, in denen Aspekte unterschiedlich ausgerichteter tradierter Amor-Konzeptionen ihre *  Überarbeitete und erweiterte Fassung zweier Vorträge, gehalten anlässlich der 10. Tagung der Society for Emblem Studies (Kiel, 27. Juli–01. August 2014). 1  Hermann Heckmann, Barock und Rokoko in Hamburg. Baukunst des Bürgertums, Berlin 1990, 28. 2  Kunrat von Hövelen, Der Uhr=alten Deutschen Grossen und des H: Röm: Reichs=Freien An=See und Handel=Stadt Hamburg Alt=Vorige und noch Iz Zu=Nämende Hoheit […], Lübeck 1668, 131. 3  Zur Liebesemblematik van Veens allgemein: Anne Buschhoff, Die Liebesemblematik des Otto van Veen. Die Amorum Emblemata (1608) und die Amoris Divini Emblemata (1615), Bremen 2004.

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sinnbildliche Darstellung fanden. Sie wurden in den picturae visualisiert und im auslegenden Textteil, Motto und subscriptio, in den entsprechenden Liebesdiskursen erläutert. Die Auswahl, die ein Auftraggeber für die Raumausstattung traf, konnte – insbesondere, wenn er ein kohärentes Bildprogramm zusammenstellte – Ausdruck seines Selbstverständnisses sein, sogar Anspielungscharakter haben oder, dem decorum entsprechend, auf einen bestimmten Raumtypus abgestimmt sein. In jedem Fall richtete sich eine emblematische Ausschmückung an einen elitären Kreis von Kennern, da Sinnbildkunst per definitionem zwar nicht allzu rätselhaft, aber doch nicht für jedermann sogleich verständlich sein sollte. Bei der Verwendung als Raumdekor kam erschwerend hinzu, dass von dem sinnerschließenden Textteil allenfalls die Motti übernommen wurden. Die beiden Hamburger Beispiele liebesemblematischer Deckenbemalung liegen zeitlich deutlich auseinander und erfassen ein Stadthaus in einem Viertel, das seinerzeit überwiegend von Niederländern bewohnt wurde, sowie ein »Lust- und Landhaus« auf der Marschinsel Billwerder, zu Hamburg gehörig, aber ehemals vor den Toren der Stadt gelegen. Hier hatten im 17. Jahrhundert wohlhabende Hamburger Kaufleute, Ratsmitglieder und deren Familien Landsitze erworben, wie dies schon zuvor in Hamburg ansässige Niederländer, getreu ihrer heimischen Gewohnheit,4 getan hatten.5 Im Jahre 1674 wird der Billwerder in einem Reisehandbuch dadurch gekennzeichnet, dass er »nach der Länge und Breite von schönen LustHöfen glänzet«.6 Prächtig ausgestattet boten sie den Rahmen für Gastereien, denn – so wird berichtet – die begüterten Hamburger Bürger, die für gewöhnlich nicht üppig speisten, »tuhn sich auf den Lusthöfen desto öfter etwas zu Ghute«.7 Und dies nicht nur an Sonn- und Feiertagen; in der schönen Jahreszeit sehe man sogar täglich die Karossen mit vornehmen »verlustierten Personen« abends von den Lusthöfen zurückkehren.8 Von dem einstigen Reiz solcher Anwesen zeugt die in situ bewahrte liebesemblematische Deckenbemalung des »Lustsaales« in einem der we4  Zu den »lusthoven« und »huizen van playsantie«: Ursula Härting, »Gärten und Höfe der Rubenszeit«, in: dies. (Hg.), Gärten und Höfe der Rubenszeit im Spiegel der Malerfamilie Brueghel und der Künstler um Peter Paul Rubens (Ausstellungs­ katalog), München 2000, 3–11, hier 5 f. 5  Ernst Finder, Die Landschaft Billwärder, ihre Geschichte und Kultur, Hamburg 1935, 154 f. 6  Georg Greflinger, Des Nordischen Mercurij Verbæsserter Wegweiser, Von Zehen Haupt-Reisen aus der Stadt Hamburg, Hamburg 1674, 74, 85. 7  Hövelen, Der Stadt Hamburg Hoheit, 131. 8  Ibid., 123.



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Abb. 1: Emblematisch bemalte Decke des Landhauses Moorfleet

nigen erhaltenen ehemaligen Landhäuser des Billwerder, heute im Hamburger Stadtteil Moorfleet gelegen, seit einigen Jahren wieder in Privatbesitz. Die Bedeutung dieser Deckengestaltung, die um 1660 zu datieren ist, wurde bislang verkannt. In den diversen Arbeiten zu den Bau- und Kunstdenkmalen der Region wurde die fälschliche Behauptung wiederholt, dass es sich bei den fünf figürlichen Darstellungen in den Feldern der Balkendecke um »Szenen mit Amor und Psyche« handle.9 Die Malerei 9  Günther Grundmann (Hg.), Die Bau- und Kunstdenkmale der Freien und Hansestadt Hamburg, bearb. Renata Klée Gobert, Bd. 1, Hamburg 1953, 203. Ebenso: Kai Mathieu, Manfred F. Fischer, »Baukunst und Architekten«, in: Gärten, Landhäuser und Villen des hamburgischen Bürgertums. Kunst, Kultur und gesellschaftli-

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geht jedoch evidenterweise auf Vorlagen aus den Amorum Emblemata zurück, die detailgetreu, in Grisaille-Technik, übernommen wurden (Abb. 1). Die getroffene Auswahl lässt einen deutlichen Sinnzusammenhang erkennen, zumal durch die Anbringung eine Blickrichtung vorgegeben ist: Die querformatigen Kartuschen mit den picturae sind parallel zu den sichtbaren Balken in die Deckenfelder gesetzt und bilden – will man die Embleme nicht über Kopf betrachten – eine Flucht, ausgehend von der linken hin zur rechten Seitenwand des Raumes. Die dadurch bestimmte ›Leserichtung‹ stellt die Embleme in eine leicht nachvollziehbare gedankliche Abfolge. Sie thematisieren die Macht der Liebe, das Liebesverlangen und dessen Erfüllung. In den ersten beiden Emblemen, die auch in der Buchvorlage aufeinander folgen, wird die Wirkung der Liebe als verändernde Kraft veranschaulicht. Das erste (Abb. 2 / 2a) zeigt eine Amorgestalt – zugleich Verkörperung der Liebe und des Liebenden – im Ringen mit dem Geiz, der in Frauengestalt personifizierten Avaritia, erkennbar an dem Geldbeutel, den Amor ihr mit aller Macht zu entwenden sucht, wobei Geld- bzw. Goldstücke herausfallen. Geiz versus verschwenderische Ausgaben gehören traditionell zur Liebesthematik. Im Geiste der idealisierenden höfischaristokratischen Liebeskonzeption gilt die Überzeugung, dass ein Liebender durch das Werben um eine Dame veredelt werde, was sich auch in großzügigen Ausgaben manifestiere. Auf diese Sinngebung heben die Motti in der Buchvorlage ab: AMANS SE SVAQVE PRODIGIT (Der Liebende verausgabt sich und seine Habe), »Spande è spende« (Er verschwendet und gibt aus), »Amour hayt l’auarice« (Amor hasst den Geiz).10 Ich wähle für die auslegenden Texte die lateinisch-italienisch-französische Edition der Amorum Emblemata,11 weil die hier visualisierten liebestheoretischen Aspekte – wie noch zu zeigen sein wird – in der italienischen und französischen Tradition der Liebesdiskussionen stehen. Während die lateinische subscriptio besagt, dass einem Liebenden große Reichtümer zuwider seien, er vielmehr glücklich sei, sein Geld für die Dame zu verschwenden und in seiner Gunstbezeugung alles gegeben zu haben, zielen ches Leben in vier Jahrhunderten (Ausstellungskatalog Museum für Hamburgische Geschichte), Hamburg 1975, 33. 10  Das Emblem enthält von daher keinen »inhaltlichen Widerspruch«; auch stellt das lateinische Motto kein »Paradoxon« dar, wie Buschhoff (Liebesemblematik, 111) meint, sondern eine tradierte liebestheoretische Feststellung zum Verhalten eines Liebenden. 11  Otto van Veen, Amorvm Emblemata Figvris Aeneis Incisa, Antwerpen 1608 (Neudruck Hildesheim / New York 1970, mit einem Vorwort von Dmitrij Tschi­ žewskij).



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Abb. 2: Landhaus Moorfleet, 1. Deckenfeld

Abb. 2a: Otto van Veen, Amorum Emblemata, S. 205

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Abb. 3: Landhaus Moorfleet, 2. Deckenfeld

Abb. 3a: Otto van Veen, Amorum Emblemata, S. 207



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die italienischen und französischen Vierzeiler darauf ab, dass derjenige, der vom Liebespfeil getroffen wurde, sich vom Geizigen zum Freigebigen wandle. Die Macht der Liebe und ihre verändernde Kraft veranschaulicht auch das folgende Emblem (Abb. 3 / 3a), das die letztlich auf Platon zurückgehende (Nomoi V, 4, 731e), aber längst sprichwörtlich gewordene Überzeugung thematisiert, dass Liebe blind mache: AMORI QVÆ PVLCHRA NON SVNT, EA PVLCHRA VIDENTVR (Was keine Schönheiten sind, erscheinen der Liebe als solche). Gemeint ist, dass jeder Liebende seine Angebetete als schön ansieht, was die neusprachlichen Motti kürzer fassen: »Nessuna amata è brutta« (Keine Geliebte ist hässlich), »Nulles laides amours« (Es gibt keine hässliche Geliebte). Dieser Grundsatz wird an ­einer Amorgestalt veranschaulicht, die wiederum ebenso den Liebesgott wie den Liebenden verkörpert und so in traditioneller Manier das literarische Motiv des »blinden Amor« mit dem Topos der Blindheit des Liebenden vereint.12 Die Blindheit Amors ist ebenso sein Attribut wie Flügel, Bogen, Köcher, Pfeile und steht zugleich für die Verblendung des Verliebten. Entsprechend ist in den erläuternden subscriptiones der Buchvorlage vom caecus furor (blinder Leidenschaft) die Rede, der Liebende ist »aueuglé« (verblendet). In van Veens Emblem hat er seiner Dame den ­ Arm gereicht, um sie stolz zu geleiten. Ihre prachtvolle Kleidung und insbesondere die Krone auf ihrem Haupt geben zu verstehen, dass sie seine Königin ist.13 Während der Dame der Buchvorlage mit einer recht langen Nase ein evidenter Makel beigelegt ist und der lateinische Text sogar vom Fehlen eines Auges spricht, hat die Angebetete in der Moorfleeter Wiedergabe ebenmäßig schöne Gesichtszüge. Das mag das trügerische Idealbild aus der Sicht des Liebenden unterstreichen – was allerdings die intendierte Demonstration des Emblems abwandeln würde, aber für eine Dekoration ästhetischer ist. Auch der Geiz ist nicht so alt und hässlich dargestellt wie in der Vorlage und der ikonographischen Tradition dieser Personifikation. Dass sich der Liebende etwas Wünschenswertes vorgaukelt, zeigt deutlicher noch das nächste, dritte, Emblem (Abb. 4 / 4a). Eine Amorgestalt, die den Liebenden darstellt, dem der Pfeil in der Brust steckt, liegt im Bett 12  Vgl. Erwin Panofsky, »Blind Cupid«, in: ders., Studies in Iconology, Oxford 1939, Neudruck New York / London 1972, 95–128. Solveig Malatrait, Die AmorMotive: ihre Rezeption, Gestaltung und Funktion in der französischen Renaissancelyrik, Frankfurt a. M. u. a. 1999, Kap. II, 71–101, insbes. 97 f. 13  Buschhoff (Liebesemblematik, 111) versteht die Art der Blindheit des Liebenden falsch, wenn sie erklärt, dass er sich von ihrem »Krönchen«, also von ihrem Stand, blenden lasse und dabei ihre Einäugigkeit übersehe.

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Abb. 4: Landhaus Moorfleet, 3. Deckenfeld

Abb. 4a: Otto van Veen, Amorum Emblemata, S. 167



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und streckt ebenso sehnsüchtig wie einladend den Arm nach einer nur spärlich verhüllten Frauengestalt aus, die an sein Lager tritt und die Bettdecke lüpft, so als wolle sie sich zu ihm legen. Diese Frau ist sein Traumgebilde, die Verkörperung seines Verlangens, wie die Motti und Epigramme deutlich machen: AMANS, QVOD SVSPICATVR, VIGILANS SOMNIAT (Der Liebende träumt im Wachen von dem, was er sich vorstellt), »Vani, e dolci sogni« (Eitle und süße Träume), »Songer esiouit« (Träumen erfreut). Mit solchem Wunschdenken ist die Hoffnung auf Erfüllung verbunden, die der Liebe Nahrung gibt. In diesem Sinne zeigt das vierte Emblem (Abb. 5 / 5a) die Personifikation der Hoffnung in Gestalt einer Amme, die Amor – hier die Verkörperung der Liebe und des Liebenden – an ihrem Busen nährt. In der linken Hand hält sie ein zartes Pflänzchen, das einen innerbildlichen Verweis auf die Hintergrundsfigur eines Sämannes auf dem Feld bildet, der Samenkörner in die Ackerfurchen streut und auf spätere Ernte hofft. Dieser ist seinerseits eine res significans, die Hoffnung zum Ausdruck bringt.14 Das lateinische Motto der Buchvorlage, SPES AMORIS NVTRIX OPTIMA (Hoffnung ist die beste Nährerin der Liebe), das in der italienischen Version »La speranza nutrisce« (Die Hoffnung nährt), in der französischen entsprechend als »Espoir nourrit« wiedergegeben ist, wird in den auslegenden Texten weiter ausgeführt. In letzteren wird auch die Zielrichtung der Hoffnung – die Ernte gleichsam, die Frucht, die den Genuss bringt – angesprochen: »L’Espoir poursuiure fait, iouyr, & acquerir« (Die Hoffnung lässt erstreben, genießen und erringen); die Hoffnung ›lehrt die Art und Weise zu gewinnen und genießen‹, »d’Acquistare, e godere il modo insegna«. Es ist die auf Liebesgenuss gerichtete Hoffnung. Diese erfüllt sich dann gemäß der Aussage des fünften Emblems (Abb. 6 / 6a). Es zeigt als Schauplatz einen verborgenen Ort, eine »spelunca«, »grotta oscura«, »grotte inombrée«, wie die polyglotten subscriptiones der Vorlage erklären. Im Dunkel dieser Höhle küsst Amor, der hier den Liebenden meint, heimlich seine Dame. Doch handelt es sich laut intendierter Sinngebung des Emblems nicht nur um einen verstohlenen Kuss. Das erklärt das lateinische Motto – ein Zitat aus Tibulls Liebeselegien (Elegia I, 2, 34) –: CELARI VVLT SVA FVRTA VENVS (Venus will, dass ihre verstohlenen Liebschaften geheim bleiben). Eine Höhle, in der ein 14  Vgl. Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hgg.), Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, 2. Aufl., Stuttgart 1976, Sp. 1095. Die Deutung Buschhoffs (Liebesemblematik, 281), dass van Veen mit dem Sämann im Hintergrund »allgemein auf die Nahrungsaufnahme des Menschen« verweise, ist abwegig.

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Abb. 5: Landhaus Moorfleet, 4. Deckenfeld

Abb. 5a: Otto van Veen, Amorum Emblemata, S. 59



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Abb. 6: Landhaus Moorfleet, 5. Deckenfeld

Abb. 6a: Otto van Veen, Amorum Emblemata, S. 113

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Liebespaar Zuflucht sucht, ist bekanntermaßen spätestens seit Vergils Aeneis (4, 123, 165 f.) ein Ort, an dem sich der Liebesvollzug abspielt. Ovid, der im Emblembuch fälschlich als Autor des lateinischen Mottos angegeben wird, lobt in seiner Ars Amatoria das Schamgefühl der Liebenden des Goldenen Zeitalters, die sich in Buschwerk und Höhlen verbargen, um sich an einem dunklen Ort in Liebe zu vereinen (II, 619–23). »Ama la notte Amore«, »Amour aime la nuit« (Liebe will Dunkelheit) lauten auch die neusprachlichen Motti; doch heben die erläuternden Verse weniger auf die gebotene Diskretion als auf das Vergnügen des Verstohlenen ab und erklären, dass heimliche Liebesfreuden die köstlichsten seien.15 Zweierlei ist an dieser Ausstattung mit Emblemen eher ungewöhnlich: das Fehlen von Motti und die Wahl der Grisaille-Technik. Was die monochrome graue Farbgebung anbelangt, so war durchaus die Meinung zu vertreten, dass für das Verständnis eines Sinnbilds »Farben nicht vonnöhten« seien, wie Georg Philipp Harsdörffer als Vermittler der romanischen Sinnbildkunst erklärt hatte.16 Er übernahm damit die Meinung einiger italienischer Impresentheoretiker, die mit Blick auf die unkolorierten Abbildungen in ihren gedruckten Traktaten und in Opposition zur Auffassung Giovios ausführten, dass eine gelungene Imprese nicht notwendiger Weise der Farbe bedürfe; Schwarz und Weiß einschließlich Schattierungen durchaus ausreichend seien. Harsdörffer verwies zudem – wie seine Gewährsleute – auf Sinnbilder, die in Marmor oder Stein gehauen seien. Die Grisaille-Malerei, die für den Moorfleeter Saal gewählt wurde, ist eine Technik, die solche steinernen Reliefs vortäuscht; und es ist dem Maler auch gelungen, den monochromen Emblemen durch differenzierte Grauschattierungen Plastizität zu geben. Als Rahmung der picturae wurde, abweichend von der ovalen Vorlage, eine achteckige Kartusche gewählt, die illusionistisch profiliert ist und eine Art Kassettierung vortäuscht.17 Auch die flankierende Akanthusornamentik weist Abschattierungen auf, die ihr ein gewisses, wenn auch nicht sehr ausgeprägtes und kunstvolles Relief verleihen, so dass insgesamt aber sehr wohl ein »trompe-l’œil«Veen, Amorvm Emblemata, 112 f. Philipp Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, Nürnberg 1643–49 (Neudruck der Ausgabe 1643–49, hg. Irmgard Böttcher, Tübingen 1968 / 69), I, XII, 82. Vgl. dazu den Discorso di Girolamo Rvscelli intorno all’Inuentioni dell’Imprese, dell’Insegne, de’Motti, & delle Liuree, in: Ragionamento di Monsignor Paolo Giovio sopra i motti e disegni d’arme e d’amore che communemente chiamano imprese. Con un Discorso di Girolamo Ruscelli intorno allo stesso soggetto, Venedig 1556, 192. 17  Eine achteckige Rahmung war für Embleme ebenso gebräuchlich und fachgerecht, wie Harsdörffer im Kapitel »Einfassung der Sinnbilder« ausführt (Gesprächspiele, IV, CLXXIII, 253). 15  Van

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Effekt erzielt ist. Er wird ergänzt durch eine materialillusionistische graue Marmorierung der tragenden Balken. Bemerkenswert ist zudem, dass der Auftraggeber offensichtlich der Meinung war, bei der Übernahme der liebestheoretischen Embleme aus der Buchvorlage auf jegliche Motti verzichten zu können. Eine textlose Anbringung setzt große Vertrautheit mit dem Sujet voraus und lässt zugleich einen größeren Spielraum für mögliche Auslegungen. Von daher spricht vieles dafür, dass die emblematische Dekoration der geselligen Unterhaltung dienen konnte und sollte. Ein derartiger Umgang mit der Sinnbildkunst ist durch Anleitungen zu einschlägigen Gesellschaftsspielen bezeugt. In Deutschland hatte hierfür bekanntlich der weit gereiste und belesene Patrizier Georg Philipp Harsdörffer mit seinen Gesprächspielen manche Anregung gegeben. Unter diesen Spielen, »so bey Ehr= und Tugendliebenden Gesellschafften  /  mit nutzlicher Ergetzlichkeit  /  beliebet und geübet werden mögen«,18 schlug er verschiedene Möglichkeiten vor, die »Betrachtung der Sinnbilde zu einem Spiel ausschlagen« zu lassen.19 So nennt er unter anderen die Aufgabe, zu einer vorgegebenen pictura ein geeignetes Motto zu finden, indem »man ein Bild wehlet  /  und mit gesamten einrahten eine Obschrift darzu aussuchet«.20 Embleme, die ohne Motto im Raum angebracht waren, hätten dafür einen geeigneten Ansatz geboten. In Anbetracht der speziellen Thematik der Embleme im Moorfleeter Saal ist allerdings mehr noch an ein anderes Spiel zu denken, das Harsdörffer aus romanischer Tradition übernahm und in Deutschland bekannt machte: ein Spiel mit »Liebsfragen«.21 Die dafür geeigneten Fragestellungen bezog er wiederum – wie für seine Gesprächspiele überhaupt – aus den italienischen Spielsammlungen und Spielanleitungen der Brüder Girolamo und Scipione Bargagli sowie Innocentio Ringhieris, dazu aus französischen Zusammenstellungen, die an die italienischen Vorbilder anschlossen.22 Darin wurden liebestheoretische Aspekte, die aus verschiedenen literari18  Ibid.,

I, Titelblatt; III, CXXV, 135. II, LII, 4. 20  Ibid., I, XI, 51. 21  Ibid., XXI, 130–135. 22  Harsdörffer (ibid., I, »Vorbericht An den Lesenden«) verweist auf La Maison des Jeux von Charles Sorel (Paris 1642) und auf Les Pensées du Solitaire von Adrien de Montluc, comte de Cramail (Paris 1629–30). Die darin enthaltenen »Thèses et Conclusions amoureuses«, die vielfältige Musterfragen und reichhaltige Vorschläge zu möglichst geistreicher Beantwortung bereitstellen, wurden von dem Spiele sammelnden und beschreibenden Sorel als besonders geeignet für Unterhaltungszwecke angesehen. 19  Ibid.,

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schen Traditionen des Liebesdiskurses bekannt waren, in Form von »Quistioni d’amore« bzw. »Questions d’amour« zum Zwecke gehobener spielerischer Unterhaltung bereitgestellt.23 Der Rückgriff auf diese Quellen Harsdörffers, die neben einschlägigen Fragen auch denkbare Antworten sowie Beispiele gänzlich durchgeführter Diskussionen enthalten, ermöglicht eine konkrete Vorstellung von der Art und Weise solcher Spielkultur. Da es sich bei den Liebesfragen inhaltlich um einen mehr oder minder überkommenen Kanon handelte, der sich gleichermaßen in der liebestheo­ retischen Emblematik niedergeschlagen hatte, wundert es nicht, dass sich unter den Beispielen, die Harsdörffer aus den italienischen Werken herausgezogen hatte, just solche befinden, die sich im Anschluss an die Embleme im Moorfleeter Saal für einen spielerischen Meinungsaustausch geeignet hätten. So hätte man angesichts des ersten Emblems dieses kleinen Bildprogramms, das Amor im Ringen mit dem personifizierten Geiz zeigt, die Frage aufwerfen können, »Ob ein Geitzhals lieben könne?«.24 Harsdörffer hatte diese Liebesfrage aus der Sammlung von Ringhieri übernommen.25 Ein weiterer italienischer Autor, Ortensio Lando, hatte an die Aufstellung Ringhieris angeknüpft und mit seinen Quesiti amorosi colle risposte zugleich mögliche Antworten dazugesetzt.26 Diese lassen bis zu einem ge23  Zur Tradition der Liebesfragendiskussionen: Christa Schlumbohm, Jocus und Amor. Liebesdiskussionen vom mittelalterlichen »joc partit« bis zu den preziösen »questions d’amour« (Hamburger Romanistische Dissertationen 14), Hamburg 1974. 24  Harsdörffer, Gesprächspiele, I, XXI, 133. Ein Standpunkt zu dieser Frage findet sich in den Gesprächspielen an anderer Stelle: »Wo die Liebe Hofmeister ist  /  da lösen die Krämer Gelt. Die Liebe sagt ich  /  die entblösset gemahlet wird  /  zu bezeugen  /  sie sey dem Geitze feind […]« (ibid., IV, CXCVIII, 422). Es mag ein Zufall sein, dass diese Erklärung in dem Kapitel »Die Gasterey« abgegeben wird und das Emblem van Veens mit der dazu passenden Liebesfrage in einem Ambiente figuriert, das wohlhabende Bürger für Gastereien nutzten (s. o.). 25  Dort lautet die Frage: »S’egli è possibile che un’Auaro ami« (Cento Giuochi Liberali, Et D’Ingegno, Nouellamente da M. Innocentio Ringhieri Gentilhuomo Bolognese ritrouati, & in dieci Libri descritti, Bologna 1551, Buch 1, Bl. 5v). Die Fragen Ringhieris und ihre Beantwortung waren ursprünglich dazu gedacht, Pfänder auszulösen, die bei dem vorangegangenen Spiel, in diesem Fall dem »Giuoco d’Amore«, abgegeben werden mussten. In der Folge schienen sie besser als die komplizierten Spiele geeignet, ihrerseits Konversationsspiele mit Liebesfragen zu bilden, und wurden als solche rezipiert. Harsdörffer (Gesprächspiele, III, CXXI, 122) schloss sich in diesem Punkt der Meinung von Charles Sorel (Maison des Jeux, Buch II, 248) an. Vgl. dazu auch Schlumbohm, Jocus und Amor, 88 f. 26  Landos Quesiti amorosi aus dem Jahre 1552 fanden durch französische Übersetzungen rasch weitere Verbreitung. Ich zitiere nach der Ausgabe: Qvestions Diverses, Et Responses D’Icelles […], Lyon 1558.



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wissen Grade erkennen, wie sich eine amüsante liebestheoretische Unterhaltung hätte entfalten können. Zur Frage des Kampfes zwischen Liebe und Geiz bot Lando die denkbare Muster-Antwort, dass die Kräfte Amors stets größer seien als die der Avaritia. Des weiteren führt er aus, dass Liebe nicht nur freigebig, sondern sogar verschwenderisch mache, der Geizige in seiner Maßlosigkeit von einem Extrem ins andere falle, vorausgesetzt – und dies ist die Pointe – er meine, durch Geld die Liebe seiner Angebeteten zu gewinnen.27 Das ist eine weniger idealisierende Begründung als sie der auslegende Text des Emblembuchs liefert. Sie entspricht eher der pragmatischen Liebeslehre eines Ovid, in der Gold als probates Mittel empfohlen wird, um die Gunst einer Dame zu erringen.28 An solchen Musterantworten wird erkennbar, wie unterschiedliche Standpunkte, die auf verschiedenen tradierten Liebeskonzeptionen beruhen, eine Diskussion auslösen und beleben können – ein Grundsatz, auf dem derartige gesellige Unterhaltungen beruhen. Auch für Harsdörffer geht es bei den Gesprächspielen wesentlich darum, »daß gute  /  lustige und scharffsinnige Reden fallen mögen«.29 Ebenso bot das zweite Moorfleeter Emblem Ansatz für die Erörterung eines geläufigen liebestheoretischen Aspekts, der Frage nämlich, warum Liebende die Unzulänglichkeiten ihrer Dame nicht sehen. Auch hierzu hielt Lando eine ebenso ernüchternde wie provozierende Erklärung bereit. Er begründete die Verblendung des Liebenden damit, dass die Leidenschaft den Geist verwirre und das Urteilsvermögen verhindere.30 In einem weiteren Vorschlag führte er an, dass Amor eben blind sei und die anderen blind mache.31 Mit diesem lapidaren Diktum musste man sich aber nicht gleich zufrieden geben. Man hätte weiter diskutieren können, etwa mit Ringhieris Frage, ob Amor – wie es heiße und gemalt werde – tatsächlich 27  »Les forces d’Amour ont tousiours esté plus bragardes, que celles d’Auarice. Par ainsi ie croy qu’Amour peut non seulement rendre l’auaricieux, liberal: mais le peut faire prodigue. Car cõme l’Auaricieux na point eu de mesure a aquerir le bien, aussi peu en aura il a de despendre: pour veu qu’il pense par arge˜t pouuoir iouir de ce qu’il ayme« (Lando, Qvestions Diverses, 29). 28  »[…] auro conciliatur amor« (Ars Amatoria, II, 278). Dieser Halbvers ist auch das Motto eines weiteren Emblems van Veens (Amorvm Emblemata, 128). 29  Harsdörffer, Gesprächspiele, I, XLIII, 223. 30  »D’ou vient que les Amans se cognoissent si peu es imperfections de leurs Dames? – Une grande emotion empeche l’autre. Estans donc tous Amans troublez d’esprit, le iugement de leurs sens est empeché: de sorte qu’ilz demeure[nt] aueuglez en la chose par eux aymée« (Lando, Qvestions Diverses, 28). 31  »D’ou vient que l’Amour empesche la cognoissance des imperfections de ce que nous aymons? – Amour est aueuglé, & aueugle les autres« (Lando, Qvestions Diverses, 57).

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blind sei oder doch viel und fein sehe.32 Hierfür wären gegebenenfalls Antworten zu finden gewesen, wie wiederum Lando sie vorschlug: nämlich, dass an der Blindheit nicht zu zweifeln sei angesichts der Erfahrung, dass die hässlichsten Kerle von den schönsten Frauen geliebt würden.33 Entsprechend wird die Frage, ob Liebe und gesundes Urteilsvermögen vereinbar seien, von ihm mit dem Argument verneint, dass andernfalls Hässliche niemals geliebt würden, was eben nicht der Fall sei.34 Gesprächsstoff konnte auch das vierte Emblem liefern, das die personifizierte Hoffnung als nährende Amme Amors zeigt und damit im Kern einer Darstellung der »Speranza« in Cesare Ripas Iconologia folgt.35 Abgesehen davon, dass für Harsdörffer unter Verweis auf Ripa auch ikonologische Auslegungen von Personifikationen und deren sinnbildlichen Attributen zu einem eigenen Gesprächspiel geraten konnten,36 wäre in Bezug auf das Emblem die komplexere, vielfach bezeugte liebestheoretische Frage zu erörtern gewesen, ob eine Liebe ohne Hoffnung von Dauer sein könne. Dies wird in der questions d’amour-Tradition mit denselben Standpunkten verneint, die Ripa für die Erklärung seiner Personifikation der nährenden »Speranza« anführt. Hoffnung – so heißt es dort – sei der eigentliche Ansporn der Liebe; fehle dieser, so habe die Liebe nicht lange Bestand: »doue manca la speranza, amore in un subito sparisce«.37 Als Begründung dient die habitualisierte Definition der Liebe als das Verlangen, etwas Geliebtes besitzen zu wollen. Im Geiste dieser Gleichsetzung von Liebe und Verlangen38 ist die bei Harsdörffer zu findende Frage, »Ob die Liebe ein Verlangen sey?«39, als eine rein rhetorische anzusehen, die insbesondere mit Blick auf das dritte 32  »Se Amore come si dice è ciecho o pur se egli molto & sottilme˜te uede« (Rin­ ghieri, Cento Giuochi, Buch 1, Bl. 5r). 33  »Pensez vous qu’Amour soit si aueugle qu’il est depeint, ou s’il a bonne veuë? – Pourquoy ne l’estimerois-ie aueugle, voyãt par tout mon voisinage les plus laiz quinaux, estre aymez de plus belles?« (Lando, Qvestions Diverses, 19). 34  »Croyez vous qu’Amour & bon iugement puissent estre ensemble? – Je croy que non: autrement iamais les laydes ne seroient aymées […]« (Lando, Qvestions Diverses, 31). 35  Cesare Ripa, Iconologia (Neudruck der Ausgabe Rom 1603, hg. E. Mandowsky, Hildesheim 1970), 469 f. 36  Harsdörffer, Gesprächspiele, I, XVI, 108 f. In der italienischen Spieltradition gehören insbesondere Fragen zur Ikonologie der Amor-Gestalt zu dem Kanon der Liebesfragen; so in Bargaglis »Giuoco della figura d’Amore« und, passim, in Landos Quesiti amorosi, die zu den Fragen nach der Bedeutung etlicher sinnbildlicher Requisiten Amors Musterantworten liefern. 37  Ripa, Iconologia, 470.



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Moorfleeter Emblem – die Wunschvorstellung des gemeinsamen Bettes – nur zu bekräftigen gewesen wäre. 38

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Die Möglichkeit zu kontroverser Diskussion bot hingegen das fünfte Emblem dieser Folge – die pictura mit dem Liebespaar in der »grotta oscura« –, wollte man daran die alternativ zugespitzte Fragestellung knüpfen, die Harsdörffer in der Formulierung präsentierte: »Ob besser  /  öffentlich= oder heimlicher weis lieben?« (ibid.); gemeint ist die Wahl zwischen dem allgemein bekannten oder geheim gehaltenen Liebesverhältnis. In Scipione Bargaglis Trattenimenti, aus denen Harsdörffer diese Frage bezogen hatte,40 befindet darüber eine nobel gesinnte Runde junger Leute, die sich im Geiste neuplatonischer Liebeskonzeption dafür entscheidet, dass eine edle und ehrenwerte Liebe, d. h. eine Liebe, die nicht allein auf körperlichem Verlangen beruhe, sich in aller Offenheit zeigen könne.41 Nur Unehrenhaftes spiele sich im Verborgenen ab, nur Tiere verkröchen sich in einer »grotta oscura«. Wollte man angesichts des Emblems mit dem so benannten Schauplatz eine andere Meinung geltend machen, wären allerdings die Argumente von Nutzen, die der Vertreter der Gegenposition, der Fürsprecher einer sinnlichen Liebe, vorträgt. Er gibt zu bedenken, dass ein bekannt gewordenes Liebesverhältnis nur Neider, Rivalen und wachsame Beobachter auf den Plan rufe. Das schaffe Unannehmlichkeiten und Gefahren oder führe nicht an das gewünschte Ziel.42 Die geheim gehaltene Liebe hingegen, die sich vor allem auf Wunsch der Damen im Schutze der Verborgenheit abspiele,43 biete durch diese Sicherheit unbeschwerten Genuss. Aufgrund der Polyvalenz dieses Emblems, das auch als 38  Diese Erklärung findet sich bei Ringhieri im Anschluss an den »Giuoco d’Amore« in der Frageform: »Se mancando il desio, manca l’Amore« (Ringhieri, Cento Giuochi, Buch 1, Bl. 5r). 39  Harsdörffer, Gesprächspiele, I, XXI, 132. 40  »Se copertamente o discopertamente si debba amare«, in: Scipione Bargagli, I Trattenimenti, hg. Laura Riccò, Rom 1989, 170–186. Harsdörffer führt im »Register etlicher Scribenten welcher sich der Verfasser zu Behuff der Gesprächspiel bedienet«, die Erstausgabe der Trattenimenti, Venedig 1587, an. 41  Marsilio Ficino, der Begründer der neuplatonischen Philosophie der Renaissance, bezeichnet amor divinus und amor humanus als ehrenhaft; unehrenhaft ist dagegen amor ferinus, die sinnliche Begierde. 42  Bei Ringhieri ist diese Überzeugung in die Liebesfrage gekleidet: »S’egli è uero che amore discouerto ò sia pieno di mille noie, ò non possa ad alcuno desiderato effetto peruenire« (Ringhieri, Cento Giuochi, Buch 1, Bl. 5v). 43  Lando stellt dazu die Frage, warum vor allem die Damen die Diskretion ihrer Anbeter wünschen und beantwortet diese mit denselben Gründen, wie sie der Fürsprecher der heimlichen Liebe anführt: »Pourquoy requierent les dames, sur toutes choses, que leurs seruiteurs soient secretz? – L’Amour descouuert ne rend point tant

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Sinnbild des Vergänglichen rezipiert wurde,44 hätte man das dargestellte Liebesglück freilich wiederum problematisieren können, und zwar mit der in liebestheoretischen Diskussionen konstant wiederkehrenden Frage, »Ob die Liebe durch die Besitzung abneme?«, die auch in den Gesprächspielen ausführlich erwogen wird.45 In Harsdörffers fiktivem Kreis typisierter Personen mit sprechenden Namen ist es ein »gereist= und belesener Student«, ein homo litteratus also, mit bürgerlichem Namen, dem eine Reihe denkbarer Liebesfragen aus den italienischen Spielsammlungen in den Mund gelegt werden.46 Ein »alter Hofmann« hingegen, der für die Spiel- und Gesprächskultur in Castigliones Libro del Cortegiano eintritt, urteilt über die Art der vorgeschlagenen Liebesfragen: »Diese Sachen gehören mehr für verliebte als verlebte Leute«.47 Im Übrigen hätten ihm solche liebesthematischen Spiele »niemals viel beliebet«, da sie ihm »sonderlich gemeint scheinen  /  um den Frauenzimmer zu höfflen / und zu unziemlichen Nachdenken zu reitzen«.48 Er sieht darin ein heikles Unterfangen, eine »kützliche« Aufgabe,49 und würde allenfalls eine Liebesfrage stellen wollen, die »Von der Lieb Volkommenheit« handelt, womit er an neuplatonische Liebestheo­ rie denkt.50 Der gebildete bürgerliche Repräsentant vertritt jedoch die de plaisir. Oultre ce vn Amour decelé ne peut apporter que dommage, trauail, & quelque fois mettre en danger de mort« (Lando, Qvestions Diverses, 56 f.). 44  Buschhoff (Liebesemblematik, 130 und Abb. 79) verweist auf ein niederländisches Vanitas-Stillleben von Edwaert Collier, in dem neben weiteren symbolischen Gegenständen des Vergänglichen die aufgeschlagenen Seiten der Amorum Emblemata mit diesem Emblem zu sehen sind. Ihre daraus abgeleitete Deutung, dass diese Seiten die »heimliche Erfüllung der Sehnsucht bei Nacht und damit die kurzweilige und vergängliche Liebe thematisieren«, ist jedoch nur eine der denkbaren Auslegungen, die je nach Kontext anzusetzen sind. 45  Harsdörffer, Gesprächspiele, VI, CCXXXI, 91–95. Vgl. auch Schlumbohm, Jocus und Amor, 12 f. 46  Dieser Mann mit Vornamen »Reymund« wird an späterer Stelle als »des Reyens Mund  /  oder der Vorsinger dieser Gesprächspiele« bezeichnet und meint damit zweifellos Harsdörffer selbst (Harsdörffer, Gesprächspiele, IV, CLXXV, 275). 47  Ibid., I, XXI, 133. 48  Ibid., III, CXXIII, 126. 49  Harsdörffers Meinung dazu mag man dem »Sinnbildbuchstaben« am Anfang des »Liebsfragen«-Spiels entnehmen. Der in der Initiale abgebildete Dornenstrauch mit dem Motto »Nichts als Kratzen« soll sagen: »Ohne die Rosen können die ­Dörner nichts als kratzen  /  wie die kützlichen Liebsfragen ohne reiffen Verstand« (ibid., I, »Ordnungsregister«, Bl. Ccv). 50  Seine Unterscheidung zwischen »Englisch«, »Menschlich«, »Viehisch« entspricht der Abstufung von amor divinus, amor humanus, amor ferinus (ibid., III, CXXIII, 126 f.). Vgl. auch Anm. 41.



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Meinung, dass die vorgetragenen Spielvorschläge »dem Frauenzimmer gemäß« seien und darauf ausgerichtet, dass »Frauenzimmer  /  mit guter Art  /  unterhalten« würden.51 Dieser Ansicht war auch der in Hamburg ansässige Dichter, Historiker und Übersetzer Georg Greflinger, der – wie eingangs zitiert – die schönen »Lusthöfe« des Billwerder preist. In seinem Complementier Büchlein aus dem Jahre 1649, in dem er Ratschläge gibt, »wie man im complementiren bey […] Gesellschaften  /  Frawen und Jungfrawen sich gebührlich verhalten müsse«,52 schlägt er vor: »Es können auch zierliche höffliche Fragen /  nebst richtiger bescheidentlicher Antwort […]«.53 angestellet werden   Sein diesbezügliches Beispiel – eine Frage zu Gefangenschaft und Befreiung Cupidos – zeigt, dass er dabei an liebesthematische Fragen denkt. Er ist übrigens der Überzeugung, dass Frauen recht wortgewandt seien, und »man offtmahls Jungfrawen findet  /  welche geschwinder vnd verschlagener sind  /  weniger Instruction zu geschwinder Rede bedürffen als manche Manns=persohn«.54 Liebesemblematischer Dekor, der zu geselliger Unterhaltung anregt, eignet sich zweifellos besonders für ein »Lust- und Landhaus«, ein Ambiente, das von der topischen Vorstellung einer heiteren, ungezwungenen Atmosphäre fernab der Zwänge einer Stadt geprägt ist.55 Doch hat es auch in einem Hamburger Stadthaus eine vergleichbare Decke mit Amor-Emblemen van Veens gegeben, die nicht nur derselben liebestheoretischen Ausrichtung folgte, sondern sogar in zwei der Embleme identisch war. Sie befand sich im Mittelbau des Hauses, einem Flügel, in dem für gewöhnlich die Repräsentationsräume untergebracht waren.56 Im Unterschied zu Gesprächspiele, III, CXXIV, 131 f. Greflinger, Complementier Büchlein, darin eine Richtige Arth abgebildet wird  /  wie man so wol mit hohen als mit niedrigen Personen  /  auch bey Gesellschaften und Frawen=zimmer hoffzierlich reden und umbgehen sol. […], Hamburg 1649, nicht paginiert, handschriftlich durchnummeriert: Bl. 7v. 53  Ibid., Bl. 45r. 54  Ibid., Bl. 47v. 55  Der französische Dichter Tristan l’Hermite evozierte 1626 in seiner poetischen Verherrlichung des Landschlosses Berny unter dem Titel La Maison d’Astrée eine Täfelung, bemalt mit Amorgestalten, die etlichen Emblemen van Veens entsprechen. Es ist nicht zu klären, ob es diese Embleme realiter gegeben hat oder ob sich der Dichter für die Stilisierung des Landsitzes geeignete liebestheoretische Aspekte aus den Amorum Emblemata zum Vorbild genommen hat. Vgl. dazu: L. W. Johnson, »Amorum Emblemata: Tristan l’Hermite and the Emblematic Tradition«, Renaissance Quarterly XXI.4 (1968), 429–441. 56  Wilhelm Melhop, Alt=Hamburgische Bauweise. Kurze geschichtliche Entwicklung der Baustile in Hamburg […], 2. Aufl., Hamburg 1925, Kap. VII, 299 f. 51  Harsdörffer, 52  Georg

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der Gestaltung des Moorfleeter »Lustsaales« waren die Embleme hier mit den italienischen Motti aus der mehrsprachigen Buchvorlage versehen, polychrom ausgemalt und mit ebenso bunter, vielfiguriger Groteskenornamentik umgeben worden, was insgesamt auf einen italienisch inspirierten Geschmack hindeutet.57 Mit der Groteskenornamentik wurde den Emblemen eine weitere Spielart verschlüsselter Ausdrucksformen hinzugefügt, will man sie, wie dies in humanistisch gebildeten Kreisen geltend gemacht wurde, als eine symbolisch codierte Kunst ansehen. Dies macht neben einer interpretierenden Betrachtung der Amor-Embleme und einer theoretischen Liebeserörterung auch Fragen zu der potentiellen Bedeutung der Groteskenmotive und ihrem Bezug zu den Emblemen denkbar. Die Decke des Stadthauses, die mit ihrer Ornamentik stilistisch in die Spätrenaissance zurückweist und daher zweifellos früher als die des Landhauses gestaltet wurde, ist lediglich in Fragmenten erhalten, die nach dem Abriss des Gebäudes im Jahre 1928 dem Museum für Hamburgische Geschichte übergeben wurden. Die zwei am besten erhaltenen Deckenfelder sind dort seit 1996, nach zweimaliger Restaurierung, als Dauerexponat zu sehen; Teilstücke in schlechterem Zustand waren von Anfang an eingelagert worden58 und blieben bis dato unrestauriert und mittlerweile unerkannt. Selbst in ihrem gegenwärtigen Erhaltungszustand ist jedoch sowohl die detailgetreue Wiedergabe der Buchvorlage als auch ihre Zugehörigkeit zu den beiden ausgestellten Deckenfeldern auszumachen, so dass sich mit Hilfe dieser zusätzlichen Fragmente aus dem bislang unberücksichtigten Depotbestand sowie zweier Photographien aus der Zeit des Abrisses ein gesichertes Ensemble von sechs der Amorum Emblemata samt ihrer Groteskenrahmung rekonstruieren lässt. Die Embleme ergeben einen stimmigen liebestheoretischen Zusammenhang, der in früheren Beschreibungen der Decke – und zwar nicht nur wegen der geringeren Zahl der darin behandelten Teilstücke – als solcher nicht gesehen wurde.59 Die Emblem57  Hierfür spricht bezüglich der Grotesken auch das motivische Detail von Figuren mit eingerollten Armstümpfen, die Warncke auf ein italienisches Vorbild zurückführt (Carsten-Peter Warncke, Die ornamentale Groteske in Deutschland, 1500–1650, 2 Bde., Berlin 1979, Bd. 1, 24). 58  Silke Beiner-Büth, »Der Weg ins Museum – Von Herstellung und Geschichte eingebauter Raumdekoration«, in: Jörgen Bracker (Hg.), Decken- und Wanddekoration in Hamburg vom Barock zum Klassizismus (Hamburg-Porträt 28), Hamburg 1997, nicht paginiert. 59  Gisela Jaacks, »Hamburger Zimmer vom Barock zum Klassizismus«, in: Bracker (Hg.), Decken- und Wanddekoration, hat zwar die Amorum Emblemata richtig als Quelle erkannt, diese Buchvorlage jedoch nicht für die Deutung herangezogen. Sie legt die Embleme nicht liebesthematisch, sondern allgemein moralistisch als »ethische Lehren« aus, bringt sie in Zusammenhang mit dem »Kanon der christli-



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folge ist indes ganz deutlich einer sinnlichen Liebeskonzeption verpflichtet und bringt die Überzeugung zum Ausdruck, dass ein zuversichtliches, beharrliches und konsequentes Bemühen um eine geeignete Auserwählte zum Ziel führe. Die heutige Montierung der beiden ausgestellten Deckenfelder ist durch eine alte Nummerierung der Bohlenbretter gesichert. Von der kohärenten Thematik her betrachtet haben sie mit Sicherheit den Anfang des Bildprogramms gebildet. Die Reihenfolge der übrigen lässt sich meistenteils nur aus der Logik des gedanklichen Zusammenhangs ableiten. Gemäß der üblichen ›Leserichtung‹ von links nach rechts hat das erste Emblem (Abb. 7 / 7a) den geflügelten Liebesgott gezeigt, auf sicherem Boden sitzend, als sinntragendes Requisit einen Zirkel in der Hand, Symbol für Maß und Mitte. Dem Betrachter zugewandt verweist er mit deiktischer Geste auf den fatalen Höhenflug des Ikarus im Hintergrund. Das imperativische Motto »Tienti al mezzo« (Halte dich in der Mitte) ist gleichsam warnend an einen Liebenden gerichtet; werden doch die Flügel Amors, sein ältestes Attribut60 und hier das tertium comparationis zu den Flügeln des Ikarus, auch in Fragespielen zur Ikonographie des Liebesgottes damit erklärt, dass sie für die hochfahrenden Wünsche eines Liebenden stehen.61 Die Wahl der italienischen Motti, die überdies die Kenntnis der »quistioni d’amore«-Tradition vermuten lässt, legt es nahe, auch für die Deutung vorrangig die italienischsprachige subscriptio heranzuziehen, die in diesem Falle, ausnahmsweise, etwas von der primären lateinischen abweicht. In dem lateinischen Text wird die Empfehlung, maßvoll den sicheren Weg der Mitte zu gehen, auf die Wahl einer angemessenen Ehefrau zugespitzt: chen Tugenden« und vermutet, dass die vollständige Deckenbemalung eine »kurze, einprägsame, christliche Lebenslehre« präsentiert habe. Auch von Anja Wolkenhauer werden sämtliche Embleme ohne sinnerschließende Einbeziehung der Textteile beschrieben. Sie verkennt die bei van Veen angelegte Polyvalenz der Amorgestalt und bezeichnet diese durchgehend als »Putto«, was zu eklatanten Fehleinschätzungen führt (im Einzelnen dazu s. u. Anm. 62, 65, 69, 70). Da laut ihrer tabellarischen Aufstellung der Embleme lediglich die lateinische Version der Motti in Betracht gezogen wurde, erscheint ihr die Verwendung der italienischen Sprache für die Motti »befremdlich« und lässt sie vermuten, dass das Italienische »als alternativer Weg der Verrätselung« diente und zudem als »Sprache der Liebe« anzusehen sei (»Fragment aus der Decke eines Hamburger Bürgerhauses«, in: Antje Theise, Anja Wolkenhauer [Hgg.], Emblemata Hamburgensia. Emblembücher und angewandte Emblematik im frühneuzeitlichen Hamburg, Kiel 2009, 83–86). 60  Vgl. Malatrait, Amor-Motive, 101–106. 61  »Pourquoy ont les Anciens & Modernes depeint Amour auec des aisles? – C’est pour monstrer que les desirs des Amanz sont haultz: & taschent de paruenir à choses haultes & grandes« (Lando, Qvestions Diverses, 21 f.).

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Abb. 7: Stadthaus Hamburg, 1. und 2. Deckenfragment

Abb. 7a: Otto van Veen, Amorum Emblemata, S. 43



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»nube pari«, heißt es. In der italienischen Version sowie in allen weiteren neusprachlichen subscriptiones geht es jedoch nicht um Heirat, sondern um Liebe und um den Rat, bei der Suche nach einer Erwählten weder zu hochfliegende noch zu niedrige Ambitionen zu haben, sondern eine gleichrangige Person zu lieben: »Il meglio è d’amar sempre il suo parecchio« (Das Beste ist, immer seinesgleichen zu lieben). Wer diesen Ratschlag beherzigt, so könnte man aus dem daneben angebrachten Emblem schließen, darf sich von Hoffnung nähren. Denn es folgt (Abb. 7 / 5a), unter dem Motto »La Speranza nutrisce«, das Emblem mit der Personifikation von Hoffnung in Gestalt einer Amme,62 das auch für den Moorfleeter Saal gewählt wurde (s. o.). Die bedeutungsvolle Hintergrundsfigur des Sämannes auf dem vorbereiteten Acker stellt in dieser Abfolge der Embleme einen Querbezug zu dem pflügenden Bauern im Hintergrund des ersten, linken, Emblems her. Auch dieser gilt, wie der Sämann, in der Emblematik als Sinnbild der Zuversicht63 und mag andeuten, dass bereits die Wahl der Richtigen Voraussetzung für Vertrauen in die Zukunft ist. Die weiteren Embleme führen die liebestheoretische Überzeugung vor Augen, dass es seitens eines Liebenden außer begründeter, weil genährter Hoffnung auch der Ausdauer bedürfe, um das Gewünschte zu erreichen.64 Als sinnvoller Anschluss kommt daher unter den erhaltenen Fragmenten das Emblem mit dem Motto »Fortuna specchio d’Amore« (Der Ausgang ist Spiegel der Liebe) in Betracht, in dem der Erfolg in der Liebe zum Gradmesser der Bemühungen gemacht wird (Abb. 8 / 8a). Nach der Personifikation der »Speranza« ist hier Fortuna – die Verkörperung günstigen wie widrigen Geschicks – in Form einer Statue in der Nische einer Säulenhalle präsent. Zu ihrem üblichen Attribut des Steuerruders ist ihr eine Waage beigegeben, so dass sie nicht nur als lenkende, sondern auch als abwägende und entscheidende Macht vorgestellt ist. Die Amorgestalt, die wie ein Standbild auf einem steinernen Sockel steht und von daher sicherlich das Abstractum Liebe verkörpert, hält einer Dame den Spiegel vor das Gesicht. Die Gleichsetzung von »fortuna« und »specchio d’Amore« im 62  Trotz der Identifikation der Frauengestalt durch die Bezeichnung spes bzw. »speranza« in den Motti gibt Wolkenhauer die wenig verständnisvolle Beschreibung: »Eine Frau säugt einen Putto« (Emblemata Hamburgensia, 84). Für Jaacks »wendet sich eine Frauengestalt in Form der nährenden Caritas dem vor ihr stehenden Amor zu« (Bracker [Hg.], Decken- und Wanddekoration). 63  Emblemata, Sp. 1091. 64  »Comment paruient on au fruit d’Amour? – Par Esperance & Perseverance« (Lando, Qvestions Diverses, 71), »Qual sia maggior segno ad una Donna d’essere amata oltra alla perseueranza?« (Ringhieri, Cento Giuochi, Buch I, Bl. 5v).

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Abb. 8: Stadthaus Hamburg, 3. Deckenfragment

Abb. 8a: Otto van Veen, Amorum Emblemata, S. 183



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Motto erklären die subscriptiones folgendermaßen: So wie ein Spiegel untrüglich offenbare, ob ein Gesicht schön oder hässlich ist, so sei guter oder schlechter Ausgang, Erfolg oder Misserfolg des Liebenden, Maßstab der Liebe. Worin Erfolg versprechende Bemühungen des Liebenden bestehen, veranschaulichen zwei Embleme, die, wie ein Photo aus der Abrissphase noch erkennen lässt, aufeinander folgten. Das erste, linke, dieser beiden (Abb. 9 / 9a) demonstrierte den festen Willen, jeglichen Rivalen fernzuhalten, denn – so besagt das Motto – Liebe und Herrschaft dulden keinen Nebenbuhler: »Amor, e signoria non vuole compagnia«. In diesem Sinne verjagt ein wütender Amor den zweifellos besonders gefährlichen Konkurrenten Jupiter aus dem Schlafgemach einer Dame, die nachdenklich auf der Bettkante sitzt. Dass es allerdings noch weiterer Anstrengungen bedarf, um durch zielstrebiges Handeln erfolgreich zu sein, visualisierte das rechts daneben /  10a) mit dem Motto: »Il fine corona angebrachte Emblem (Abb. 10  l’opere« (Das Ende krönt die Werke). Es basiert auf dem Vergleich zwischen der Amorgestalt im Vordergrund, die sich deutlich abmüht, die Zweige einer Palme zu ergreifen und festzuhalten,65 und einem Schiff im Hintergrund, das in bewegter See hin- und hergeworfen wird. Die auslegenden Verse beschränken sich auf die Gleichsetzung des Schiffes in stürmischem Meer mit dem gefahrenreichen Unterfangen eines Liebenden. So wie der Ausgang der Fahrt ungewiss sei, solange das Schiff nicht den angestrebten Hafen erreicht habe, so könne sich auch der Liebende erst in Sicherheit wiegen, wenn er an dem erhofften Ziel angelangt sei. Diese Bildlichkeit entspricht der einschlägigen liebesthematischen Metaphorik.66 Für das schwierige Unterfangen des Protagonisten, die Widerstandskraft der Palme zu überwinden, griff van Veen offenbar auf ein Emblem Alcia65  Für Buschhoff (Liebesemblematik, 86) »winkt« Amor dem Schiff zu, während er die Siegespalme erklimmt, für Wolkenhauer (Emblemata Hamburgensia, 84) »beobachtet« ein »Putto« ein Schiff. 66  Ausgehend von antiker Liebesdichtung (vgl. Ovid, Amores II, 4, 7 f.; Ars Amatoria II, 9 f.) findet sich diese Metaphorik in den vielfältigen Ausformungen des Liebesdiskurses: Eine »impresa d’amore« mit der pictura eines umhergetriebenen Schiffes als Ausdruck des elenden und gefahrvollen Zustands des Liebenden beschreibt Lodovico Domenichi in seinem Ragionamento […], Nel quale si parla d’Imprese d’armi, e d’Amore [1556], in: Dialogo dell’Imprese militari et amorose Di Monsignor Giovio […]. Con un ragionamento di M. Lodovico Domenichi […], Lyon 1574, 253 f. Und in der Tradition der Liebesfragendiskussion stellt Ortensio Lando zum Zwecke geselliger Unterhaltung das Frage-Antwort-Paar bereit: »Dou vient ce qu’on compare l’estat des Amãs, a vn Nauire estant sur Mer? – Pour les grans dangers es quelz ilz se trouu˜et tous les iours« (Qvestions Diverses, 38 f.).

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Abb. 9: Stadthaus Hamburg, 4. Deckenfragment

Abb. 9a: Otto van Veen, Amorum Emblemata, S. 182



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Abb. 10: Stadthaus Hamburg, 5. Deckenfragment

Abb. 10a: Otto van Veen, Amorum Emblemata, S. 109

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tos zurück, das einen Knaben zeigt, den es nach den Früchten der Dattelpalme gelüstet und der beharrlich versucht, die immer wieder hochschnellenden Palmzweige zu erhaschen. Van Veen übertrug die dadurch ausgedrückte Lehre, dass nur stetes Bemühen zum Erfolg führe,67 auf das Verlangen nach den Früchten der Liebe, wobei noch hinzu kommt, dass die Palme ein Sinnbild für Tugend ist, da ihre Zweige, die niedergebeugt werden, sich stets wieder aufrichten.68 Das Bestreben, nicht Schiffbruch zu erleiden, sondern in den ersehnten Hafen, den »amato porto«,69 einzulaufen, in Verbindung mit dem angestrebten Festhalten der Palmzweige, meint also den genussbringenden Sieg über die unbeugsame Tugend, mit dem, im Sinne des Mottos, alle Anstrengungen letztlich von Erfolg gekrönt werden. Dieses Ergebnis wird in einem sechsten Emblem vor Augen geführt, das – wie auch im Moorfleeter Saal – den Liebenden in Gestalt Amors mit seiner Dame im Dunkel einer Höhle zeigt (Abb. 11 / 6a) und unter dem Motto »Ama la Notte Amore« (Liebe will Dunkelheit) die verborgenen und deshalb umso köstlicheren Liebesfreuden zu verstehen gibt (s. o.).70 Im Unterschied zu der Deckenbemalung des Landhauses hat dieses Emblem hier nicht den Abschluss des Bildprogramms gebildet. Von dem rechts daneben befindlichen, zerstörten Abschnitt sind nur noch Relikte von Groteskenornamentik im oberen Segment dokumentiert, so dass der emblematische Schluss- und Höhepunkt dieser Folge ungeklärt bleibt. Doch auch ohne das fehlende Emblem ist die Kohärenz der erhaltenen evident. Sie beruht nicht zuletzt auf einer stimmigen Auswahl von Emblemen, deren inventio der Rhetorik und dem Geist der Liebeslehre Ovids verpflichtet ist. Die Bildmotive ihrer Hintergrundsgestaltung, die jeweils den Sinnbezug zu der zentralen Amorgestalt herstellen, gehen überwie67  Andrea Alciato, Emblematum libellus, Paris 1542, Nr. XXIIII, mit dem Motto Obdurandum aduersus urgentia, in der deutschen Ausgabe desselben Jahres: »Vest halten wider beschwernuß«. 68  Emblemata, Sp. 196–198. 69  Dieser ist nicht unbedingt der »Hafen der Ehe«, wie Buschhoff (Liebesemblematik, 86) und im Anschluss daran Wolkenhauer (Emblemata Hamburgensia, 85) meinen. Ihre Deutung steht in Zusammenhang mit der Auslegung des ersten Emblems der Decke, das laut Wolkenhauer »die Wahl einer gleichrangigen Gattin« empfiehlt und auch für Buschhoff auf Heirat bezogen ist. 70  Aufgrund der fälschlichen Beschreibung: »Zwei Putten küssen einander in einer Höhle«, ist für Wolkenhauer (Emblemata Hamburgensia, 84) dieses Emblem ausdrücklich nicht in den Zusammenhang mit den drei weiteren ihr bekannten zu integrieren.



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Abb. 11: Stadthaus Hamburg, 6. Deckenfragment

gend auf Beispiele, Bilder und Vergleiche sowie Grundsatzerklärungen aus der Ars Amatoria zurück.71 Die emblematisch verschlüsselte Liebeslehre mit ihrer verschmitzten Heiterkeit wurde ergänzt durch eine Einfassung aus ebenso spielerischer 71  Das Exempel des unvernünftig hoch fliegenden jungen Ikarus folgt zu Beginn des zweiten Buchs auf eine kurze Charakterisierung Amors als eines leichtsinnigen, überall umherschweifenden Knaben, der mit seinen Flügeln davonfliegen könne, und es sei schwer, diesen Flügeln das rechte Maß aufzuerlegen (II, 16 ff.). In Ovids Metamorphosen (II, 137), denen das primäre lateinische Motto Medio tutissimus ibis entnommen ist, schaut dem Flug von Daedalus und Ikarus ein pflügender Bauer zu (VIII, 218), wie er im Emblem als Hintergrundsfigur eingesetzt ist. Die Vergleiche mit Ackerbau und Seefahrt finden sich in der Ars Amatoria als Ausdruck des unsicheren Ausgangs aller hoffnungsvollen Bemühungen (I, 399 ff.; II, 513 f.). Der Liebende wird zudem mit einem Schiff verglichen, das auf offener See und weit vom Hafen entfernt treibt (II, 9 f.). Die Höhle ist der Ort wünschenswerter Verborgenheit des Liebesglücks (II, 619–23) und es gilt der Grundsatz, dass Herrschaft und Liebe keinen Nebenbuhler dulden (III, 564).

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wie hintersinnig anmutender Groteskenmalerei. Von einer solchen Kombination ist ein weiteres Beispiel erhalten, dies allerdings in einer anderen Kunstgattung, der Miniaturmalerei des Niederländers Joris Hoefnagel. Er hatte zehn Groteskenblätter aus den Jahren 1594 / 95 mit leeren Kartuschen hinterlassen, in die – so die Hoefnagel-Spezialistin Thea Vignau-Wilberg – nachträglich, von unbekannter Hand, jeweils zwei der Amorum Emblemata eingesetzt wurden.72 Solche gezielte Füllung eines vorgegebenen Groteskenrahmens mit Emblemen legt umso mehr die Vermutung nahe, dass eine derartige Verbindung für besonders passend gehalten und eine gewisse Affinität zwischen beiden Ausdrucksformen angesetzt wurde. Eine derartige Überzeugung geht auf das Bemühen zurück, die Gro­ teske,73 die durch die Kunstauffassung der nachtridentinischen Zeit in Misskredit geraten war, mit Hilfe theoretischer Argumente zu einer respektablen Kunstform mit verschlüsselter Sinngebung aufzuwerten, indem sie mit Emblemen auf eine Stufe gestellt wird. Für diese Position steht insbesondere der Maler und Kunsttheoretiker Giovan Paolo Lomazzo, der in seinem Trattato dell’Arte de la Pittura von 1584 den Standpunkt einer konzeptionellen Verwandtschaft von Groteske und Sinnbild vertrat und auch für die Groteske das Gestaltungsprinzip der visualisierten Metapher geltend machte. Unter Berufung auf humanistische Gelehrte und Literaten situierte er die Groteskenmalerei im Spektrum von Rätsel, Chiffre und Hieroglyphe und verglich sie mit den zeitgenössischen Emblemen und Impresen. Dabei bediente er sich der Terminologie der Impresentheoretiker – eines Capaccio,74 Palazzi,75 Bargagli,76 Tasso77 u. a. m. – und übertrug

72  Thea Wilberg Vignau-Schuurman, »Joris Hoefnagels Groteskenserie en de Amorum Emblemata van Otto van Veen«, in: Opstellen voor H. van de Waal, Aangeboden door leerlingen en medewerkers, 3 Maart 1970, Amsterdam / Leiden 1970, 214–232. 73  Vgl. dazu die umfassende Studie von Dorothea Scholl, Von den »Grottesken« zum Grotesken. Die Konstituierung einer Poetik des Grotesken in der italienischen Renaissance (Ars Rhetorica 11), Münster 2004. Dies., »Kunst und Kultur des Grotesken in der italienischen Renaissance«, in: Frühe italienische Malerei im LindenauMuseum Altenburg (Bulletin No1), hg. Lindenau-Museum-Altenburg, Altenburg 2010, 12–19. Dort jeweils Hinweise auf einschlägige Quellentexte und auf vorangegangene Forschungsliteratur. 74  Capaccio (Delle Imprese. Trattato di Giulio Cesare Capaccio […], Neapel 1592) definiert die Imprese als »vn’espression del Concetto, sotto Simbolo di cose natu­ rali« (Buch I, Bl. 1v); die Erfinder von Emblemen »han voluto con la varietà delle Figure abbellir quei loro pensieri« (Buch III, Bl. 2r). 75  Für Palazzi (I Discorsi di M. Gio. Andrea Palazzi sopra l’Imprese, Bologna 1575) ist die Imprese »un modo di esprimere qualche nostro concetto« (102); sie dient dazu, »per isprimere i nostri pensieri particolari« (104).



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auf die Groteske deren Definition der Imprese als eines »concetto o pensiero«, eines geistreichen Einfalls oder Gedankens, der mit Hilfe von »figure«, metaphorisch zu verstehenden Bildgegenständen, einen dahinter liegenden Sinn zum Ausdruck bringe.78 Er vertrat sogar die Meinung, dass die Groteske wie keine andere Kunstform dazu geeignet sei, einen bestimmten »concetto« auszudrücken, weil für dessen gestalterische Umsetzung alle erdenklichen Bildgegenstände erlaubt seien.79 Seine diesbezügliche Aufzählung nennt Bildmotive aus denselben Herkunftsbereichen, aus denen die Impresen- und Emblemkunst schöpfte: res significantes aus »Natur« und »Kunst« – Naturhaftem und Geschaffenem –, wobei zu den Werken der Kunst auch konventionalisierte, aus der Antike übernommene zwitterhafte Fabeltiere wie Sirenen, Satyrn, Harpyien und andere mythologische Wesen zählten,80 die auch Lomazzo anführt und unter »chimere« und »mostri« zusammenfasst.81 Bei allem theoretisch untersetzten Eintreten für die Sinnhaltigkeit und metaphorisch verschlüsselte Aussage der Groteskenmalerei war sie auch für Lomazzo letztlich eine Kunstkategorie, die nur attributiven Charakter hatte. Er würdigt sie – ihre kunstgerechte 7677

76  Bargagli (Dell’Imprese di Scipion Bargagli […], Venedig 1594) nennt das Prinzip der Imprese, »per opera di figure, e, di parole, occultamente sprimere vn concetto humano« (82). 77  »Diremo adunque che l’impresa è una espressione overo una significazione del concetto de l’animo, la quale si faccia con imagini somiglianti e appropriate.« (Torquato Tasso, Il Conte overo de l’imprese [1594], hg. Bruno Basile, Rom 1993, 110). 78  »[…] egli è parere di molti dotti et esperti nelle lettere, che queste grottesche […] a proposito venivano fatte non altrimente che enimmi, o cifere, o figure egizie, dimandate ieroglifici, per significare alcun concetto o pensiero sotto altre figure, come noi usiamo negli emblemi e nelle imprese« (Giovan Paolo Lomazzo, Trattato dell’Arte della Pittura […], in: Scritti sulle arti, hg. Roberto Paolo Ciardi, 2 Bde., Florenz 1973, Bd. 2, 369). Vgl. auch die Charakterisierung: »In queste grottesche il pittore esprime le cose ed i concetti, non con le proprie, ma con altre figure […]« (ibid., 367). 79  Ibid., 369. 80  Willkürliche hybride Zwitterwesen sowie unrealistische Konstrukte wurden hingegen abgelehnt. Scipione Bargagli (Dell’Imprese, 120) rügt ausdrücklich das Bildmotiv einer Schildkröte mit Flügeln oder eines ebenso a-mimetisch ausgestatteten Hirschs. Entsprechend wendet sich Harsdörffer gegen »mißgestelte oder abentheurliche Zusammensetzungen  /  welche der Natur nicht gemäß kommen«, nennt ebenfalls die »geflügelte Schildkrot« sowie weitere Beispiele, »welche zwar guter Deutungen nicht ermanglen  /  aber nach den Regelen nicht richtig sind« (Gesprächspiele, IV, Nürnberg 1644, CLXV, 195 f.). Damit zeichnet sich zwischen der nachtridentinischen Kritik an den skurrilen und disparat zusammengesetzten Gebilden der Grotesken und der Ablehnung widernatürlicher res pictae in der Sinnbildkunst eine deutliche Parallele ab. 81  Lomazzo, Trattato, 369.

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Komposition vorausgesetzt – als »ornamento« und »arricchimento«, als ausschmückendes Beiwerk zu gemalten Szenen, an geeigneten freien Flächen zwischen anderen Teilen eines Dekorationssystems. In dieser Funktion hatte sie zuvor schon der humanistisch gebildete Dichter und Literat Annibale Caro – im Übrigen gefragter Kenner und Erfinder von Impresen – in Bildprogramme integriert, denen Gombrich aus ikonologischer Sicht Paradigmencharakter zuerkannte.82 In den detaillierten Dekorationsentwürfen für Räume im Palazzo Caprarola, die Caro in den 1560er Jahren für Kardinal Alessandro Farnese konzipiert hatte, stellte er eindeutiger als Lomazzo einen Bezug zwischen den szenischen Darstellungen in abgegrenzten Feldern und den »ornamenti« mit »grottesche« her. Seine Auswahl der Groteskenelemente – wobei er terminologisch nicht ganz konsequent zwischen »grottesche« und »simboli« trennt83 – beruhte auf dem Prinzip, dass sie »conforme ai soggetti« sein sollten, eine Verbindung zu der Thematik der Gesamtdekoration aufwiesen und, in Wahrung des decorum, auf diese abgestimmt waren. Die Deckengestaltung des Hamburger Stadthauses ist vor dem Hintergrund dieser Wesens- und Funktionsbestimmung der flächenfüllenden ornamentalen Groteske zu sehen. Trotz ihres fragmentarischen Zustands zeichnet sich ein einheitliches, jedoch nicht schablonenhaft gestaltetes Bauprinzip ab. Die Embleme, eingepasst in jeweils variierende Rollwerkkartuschen, bilden das szenische Mittelstück in einer senkrecht aufgebauten Schweifwerkgroteske, deren Gerüst aus Blattranken mit einigen trichterförmigen Blütenkelchen besteht. Eingefügt sind zahlreiche Vögel, meist solche mit farbenfrohem Gefieder und dekorativen Schwanzfedern, aber auch unscheinbarere wie Eulen und Tauben, bei denen wiederum deutlicher von einer symbolischen Bedeutung auszugehen ist. Abgesehen von dem ästhetischen Reiz der polychromen Gestaltung erleichtert diese eine Identifizierung der Vögel und eröffnet damit ihre potentielle symbolische Konnotation; ist doch auch für Harsdörffer das »Geflügelwerk« in sinnbildlichen Darstellungen eingestandenermaßen »schwer zu erkennen«.84 Hinzu kommen weitere herkömmliche Groteskenmotive wie Früchte, zusammengefügt in Gehängen, Körben oder geschwungenen Füllhörnern, 82  Ernst H. Gombrich, Das symbolische Bild. Zur Kunst der Renaissance II, Stuttgart 1986, 20. 83  In seinem Entwurf für das Studio Farneses mit dem Bildprogramm »Solitudine« schlägt Caro vor: »Ci restano dodici altri vani minimi […]. Ed in questi, non potendo metter figure umane, farei alcuni animali, come per grottesche, e per simboli di questa materia della solitudine, e delle cose appartenenti ad essa« (Brief vom 15. Mai 1565, zitiert nach Gombrich, Das symbolische Bild, 236). 84  Harsdörffer, Gesprächspiele, IV, CLXVIII, 194.



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sowie kleine vierblättrige Blumen. Hier und da ist ein männlicher oder weiblicher Torso mit Flügeln platziert, auch einer mit kraftvollen Armen als mittlere Stütze, kleine Maskarons sowie Stoffdraperien. Neben natürlichen Tieren wie Hasen, Schnecken in ihren gedrehten Häusern sowie den genannten Vögeln sind spiegelsymmetrisch die Fabelwesen Einhorn, Sirene und Satyr eingefügt. Bei Bildprogrammen, die, wie die Hamburger Decke, als zentrale Darstellungen Embleme enthalten und somit den Betrachter zu einer Entschlüsselung auffordern, liegt es nahe, die umgebende Groteskenmalerei in ähnlicher Weise zu verstehen. Dies umso mehr, als der deutsche Theoretiker Harsdörffer – anders als ein Ruscelli85 – diejenigen »Einfassungen« als die besten befand, die »das Sinnbild zugleich ausdrucken und verstehen helfen«.86 Wie er sich eine solche »mitdeutende nachsinnige Einfassung« vorstellte, können die dreiständigen Sonn= und Festtag=Emblemata zeigen, die später in Zusammenarbeit mit Dilherr entstanden. Sie sind jeweils von einem Rahmenwerk umschlossen, das über den Charakter einer lediglich schmückenden Kartusche hinausgeht und sinnstiftend an der Gesamtkomposition teilhat. Auch hier gibt es – wie in den Grotesken – »Laub­ werck«, allerlei Tiere und Gegenstände, jeweils symmetrisch angeordnet, sogar groteskentypische Verbindungen von Tierköpfen mit Blattwerk sowie weibliche Oberkörper, deren Unterleib und Arme blattartig aufgelöst sind. Die Auslegung der »Einfassungen« entspricht in diesem speziellen Fall ihrem Bezug zu der Kategorie geistliche Emblematik: Eine Rahmung aus Flügeln beispielsweise soll den emblematischen Vergleich zwischen dem »himmelfahrenden« Christus und einem Paradiesvogel verdeutlichen,87 die zahlreichen Anordnungen von Früchten sollen je nach Zugehörigkeit zu verschiedenen Emblemen auf die Fruchtbarkeit des Gebets, der Arbeit, der Obhut Gottes und anderer ersprießlicher Dinge mehr verweisen. In einer von humanistischem Geist geprägten Konfiguration wäre mit denselben Bildmotiven eine andere sinnstiftende Bedeutung anzusetzen. So könnten in der Hamburger Decke die zahlreichen Vögel auf den geflügelten Gott Amor anspielen, der bereits in der hellenistischen Bukolik als 85  Ruscelli weist ausdrücklich darauf hin, dass bei den aufwendig gerahmten Abbildungen in seiner Sammlung als Imprese jeweils nur das Mittelstück gelte, die Einfassungen lediglich reines Ornament seien: »[…] in queste figure l’Impresa s’intende solo quella, che è nel mezo, essendo quello d’attorno fatto solo per ornamento« (Le Imprese Illustri del S or. Ieronimo Ruscelli, Venedig 1584, Buch I, 24). 86  Harsdörffer, Gesprächspiele, IV, CLXXIII, 254. 87  Johann Michael Dilherr, Georg Philipp Harsdörffer, Drei=ständige Sonn= und Festtag=Emblemata oder Sinne=bilder (Nachdruck der Ausgabe Nürnberg o. J. [um 1660], mit einem Nachwort von Dietmar Peil, Hildesheim u. a. 1994), 34.

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Vogel bezeichnet wird.88 Das Adjektiv penniger (geflügelt), das in der klassischen lateinischen Literatur zu den Epitheta Amors gehört, um die Ähnlichkeit des flügeltragenden Gottes mit einem Vogel auszudrücken, findet sich auch in einer der lateinischen subscriptiones der Amorum Emblemata. Rahmenartig konzentriert sind Vögel um das Emblem, das den geflügelten Amor in Beziehung zu den mit Flügeln versehenen Menschen Daedalus und Ikarus setzt. Hinzu kommen zwei achsensymmetrisch angeordnete zwitterhafte Torsi, die durch einen Spitzbart als männliche Oberkörper gekennzeichnet und nicht mit Armen, sondern mit Flügeln ausgestattet sind. Sie mögen die Verbindung von Mensch und Vogel sowie den Bezug zu dem flügeltragenden Gott ergänzen. Die Vögel, ein Papagei in der Mittelachse oberhalb des Emblems und zwei kleinere, plumpe braune Vögel unterhalb des Tondos, vermutlich Wachteln, könnten Nachahmung (Papagei) und Erdgebundenheit (Wachteln) bedeuten.89 Ebenso lassen sich die diversen Arrangements von Früchten, generell Symbole der Fruchtbarkeit, auf das Generalthema »Liebe« beziehen; und zwar nicht nur in den Armen der Satyrn,90 die Lüsternheit verkörpern und wohl nicht zufällig über dem Emblem mit der verschlüsselten Darstellung des Liebesvollzugs figurieren. Im Werk von Joris Hoefnagel, der sich selbst als exornator hieroglyphicus bezeichnete91 und seinen realistisch wiedergegebenen Gegenständen der Natur zuweilen durch Sinnsprüche oder andere Textelemente eine sinnbildliche Bedeutung beilegte, findet sich die Erklärung: Quod in fructibus humor, hoc in hominibus est amor (Was in den Früchten der Saft, ist in den Menschen die Liebe).92 Sirenen, die für Verführung stehen, oder, nach Lomazzo, für die Niedertracht der schönen Geliebten,93 ebenso Einhörner, die sich nur im Schoß einer Jungfrau fangen lassen, sind thematisch passende, allgemeine sinnbildliche Versatzstücke, die im Übrigen auch in der Emblematik ihren Platz haben. Stärker auf das Amor-Motive, Kap. III, 103–128. Hoefnagel hatte diese Vögel auf einem groteskenartig aufgebauten Titelblatt seiner Archetypa ebenso gegenübergestellt, hier allerdings mit der Auslegung unterschiedlicher Sprachbegabung (Archetypa studiaque patris Georgii Hoefnagelii, 1592. Natur, Dichtung und Wissenschaft in der Kunst um 1600, hg. Thea VignauWilberg, München 1994, 123). 90  Satyrn mit Füllhörnern in den Armen sind in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts habitualisierte Gestalten in allegorischen Darstellungen der Fruchtbarkeit, wofür insbesondere Gemälde von Jacob Jordaens typische Beispiele sind. 91  Thea Vignau-Wilberg, »Naturemblematik am Ende des 16.  Jahrhunderts«, Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 82 / 83 (1986 / 87), 145–156, hier 149. 92  Hoefnagel, Archetypa, 121. 93  Lomazzo, Trattato, 369. 88  Malatrait, 89  Joris



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spezielle emblematische Bildprogramm der Decke zugespitzt, das dem Liebenden die Wahl der Richtigen empfiehlt und versichert, dass beharr­ liche Verfolgung des Ziels Maßstab der Liebe sei und zum Erfolg führe, könnten dagegen die Hasen und Schnecken in den beiden vollständig erhaltenen Deckenfeldern sein. Seit den Hieroglyphica des Horapollo eine res significans, spielt der Hase in insgesamt fünf der Liebesembleme van Veens eine polyvalente sinnbildliche Rolle: In dem Ratschlag, nicht zwei Hasen zu gleicher Zeit zu jagen, geht es darum, jeweils nur einer einzelnen Dame erfolgreich nachzustellen,94 in weiteren Emblemen ist der Hase Inbegriff anfänglicher Scheu gegenüber der Dame (40 f.); dazu, bei anwachsender Liebe, Ausdruck zunehmender Furcht, den geliebten Menschen an Rivalen zu verlieren (186 f.), wobei diese Furcht allerdings durch wahre Liebe besiegt wird (101 f.), unstete Schnelligkeit jedoch nicht den gewünschten Erfolg bringt (98 f.). Die Schnecke wiederum, die im zweiten Feld der Decke ganz oben in der senkrecht aufgebauten Groteskendekoration platziert ist, steht in der Emblematik für umsichtige Stetigkeit und für Beharrlichkeit, die letztlich zum Ziel führt.95 Die Stimmigkeit der liebestheoretischen Emblemfolge in Verbindung mit diesen sinntragenden Groteskenelementen lässt die Vermutung zu, dass beides mit Bedacht ausgewählt und mit innerem Bezug gestaltet wurde. Von der ganzen Konzeption der Decke her ist der unbekannte Auftraggeber sicherlich im Milieu des humanistisch gebildeten Bürgertums zu suchen. Nicht nur die Wahl der Embleme van Veens, dessen Bildung und Kunst zutiefst humanistisch geprägt waren,96 auch die weitgehend symbolisch auszulegenden Grotesken deuten darauf hin. Betrachter, die mit der Materie vertraut waren, haben sicherlich Gefallen daran gefunden, in der Vielfalt der Groteskenelemente Dinge zu entdecken, über deren Sinngebung und Beziehungsreichtum man diskutieren konnte; andere sahen darin wohl nur eine amüsante Dekoration, die Heiterkeit und Leichtigkeit ausstrahlt und damit auch auf dieser Ebene sehr wohl zu der zentralen Liebesthematik passt. Die liebestheoretischen Bildprogramme in den Hamburger Häusern legen mit ihren Emblemfolgen jeweils Standpunkte einer Amor-Konzeption dar, die in ihrer konsequenten Ausrichtung auf physische Erfüllung im hedonistischen Liebesdiskurs verankert sind. Damit unterscheiden sie sich deutlich von der Auswahl aus den Amorum Emblemata, die für die »Bunte Kammer« des adeligen Herrenhauses Ludwigsburg in Schleswig-HolVeen, Amorvm Emblemata, 24 f. Sp. 620. 96  Buschhoff, Liebesemblematik, 53–56. 94  Van

95  Emblemata,

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stein getroffen wurde.97 Diese führen in unsystematischer Summierung eine idealistische Amor-Konzeption vor Augen, die überwiegend dem petrarkistischen und neuplatonischen Liebesdiskurs verpflichtet ist. Sie demonstrieren eine aristokratisch verfeinerte Liebesauffassung, die gleichermaßen der Idealsetzung und Selbstdarstellung dient und somit das Selbstverständnis einer weltmännisch-höfischen Gesellschaftsschicht zu verstehen gibt. Die liebestheoretische Raumdekoration im gehobenen städtisch-bürgerlichen Milieu mutet dagegen lebensnäher und weniger stilisiert an, eher darauf ausgerichtet, den anregenden Rahmen für eine vergnügliche Unterhaltung zu schaffen. Doch ist nicht zu verkennen, dass auch diese sinnbildliche Zurschaustellung die bildungsgemäße Präsentation eines Liebesdiskurses darstellt, der per traditionem gleichberechtigt neben den beiden anderen steht. Bildnachweis Abb. 1–6 mit freundlicher Genehmigung des Eigentümers Abb. 7–11 Museum für Hamburgische Geschichte (hamburgmuseum)

97  Vgl. hierzu: Christa Marquardt [=Schlumbohm], »Die Serie von Amor-Emblemen van Veens in Ludwigsburg im Zusammenhang mit dem europäischen Ideal des ›honnête homme‹ «, in: Wolfgang Harms, Hartmut Freytag (Hgg.), Außerliterarische Wirkungen barocker Emblembücher, München 1975, 73–101. Die vollständige Abbildung der Embleme in: Hartmut Freytag, Wolfgang Harms, Michael Schilling, Gesprächskultur des Barock. Die Embleme der Bunten Kammer im Herrenhaus Ludwigsburg bei Eckernförde, Kiel 2001.

Rückblick auf eine Vision Novalis: Die Christenheit oder Europa Von Michael Neumann Am 13. oder 14. November 1799, also kurz vor dem Anbruch eines neuen Jahrhunderts, trug Friedrich von Hardenberg im Jenaer Kreis seiner Romantiker-Freunde einen Text vor, der heftige Diskussionen auslöste. Laut Friedrich Schlegel handelte es sich um »einen Aufsatz über Christenthum«,1 laut Hardenberg selbst um eine Europa-Rede (IV 3172). Goethe riet von einer umgehenden Publikation in der Zeitschrift Athenäum ab, und so wurde dieses Prosastück erst ein Vierteljahrhundert später, in der vierten Auflage von Novalis’ Schriften, 1826 vor die Öffentlichkeit gebracht; den Titel Die Christenheit oder Europa formulierte dabei wahrscheinlich der Verleger Georg Reimer. Für die Aufnahme des Textes war das kein glücklicher Zeitpunkt: Die historische Konstellation hatte sich mittlerweile grundstürzend geändert, und so sahen viele eine Parteinahme für Restauration und ›Heilige Allianz‹, wo Hardenberg an ganz anderes gedacht hatte. Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf die Argumentation. Hardenberg gliedert die Geschichte des christlichen Europa in fünf Epochen: 1) Am Anfang steht der Preis des Mittelalters: Europa folgte der Leitung der Kirche. Der Papst vermittelte Frieden zwischen Königen und zwischen Völkern. Die Priester lenkten das Leben der einzelnen Menschen mit klugem Rat und sakramentaler Hilfe durch die Unbilden des Erdenlebens auf die jenseitige Heimat zu. − Aber: die Geschichte ist Oszillation, »Wechsel entgegengesetzter Bewegungen« (III 510). Die Priester richteten sich allmählich allzu irdisch ein in diesem katholisch1  16.11.99 an Schleiermacher: Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, hg. Ludwig Jonas, Wilhelm Dilthey, 4 Bde., Berlin 1858–1863, Bd. III, 133 f. 2  Seitenverweise im laufenden Text beziehen sich auf Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. Paul Kluckhohn u. a., 6 Bde., Stuttgart u.a 19773– 2006.

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europäischen Paradies; die Laien ersetzten »Glauben und Liebe« durch »Wissen und Haben«. 2) So kam es zur Reformation, die die christliche Einheit zerriss. Es begann die zweite Epoche der europäischen Geschichte. Der Verfall der katholischen Welt gab Luthers Aufbegehren jedes zeitliche Recht. Aber die Folgen für das Christentum waren fatal: Die Religion geriet unter die Herrschaft der Staatsinteressen; so zersplitterte die Christenheit wie Europa. Der Glaube geriet unter die Herrschaft der Philologie; so wurde der »Geist« in die Fesseln des »Buchstabens« geworfen. 3) In der dritten Epoche regenerierte sich das Christentum durch die Gegenreformation, die Hardenberg fast ausschließlich als ein Werk der Jesuiten betrachtet. Sie entfalteten wieder den ganzen Zauber des alten Glaubens. Sie retteten das Papsttum vor dem Ansturm der Protestanten. Sie trugen die Botschaft Christi bis an alle Enden der Erde. 4)  Doch auch die Samen der Reformation gingen insgeheim wieder auf. Aus ihnen erwuchs als vierte Epoche die Aufklärung. »Die guten Köpfe aller Nationen waren heimlich mündig geworden, und lehnten sich im täuschenden Gefühl ihres Berufs um desto dreister gegen verjährten Zwang auf.« (III 515). Für die Religion freilich war die neue Epoche verheerend – und nicht bloß für die Religion. Zwar brachte die Aufklärung Wissen und Freiheit, aber sie führte auch Religionshass herauf, Materialismus und Anthropozentrik, dazu den Hass gegen Phantasie, gegen Kunst und gegen Geschichte. 5)  Eine fünfte Epoche steht erst noch bevor. Hardenberg spürt bereits ihre Vorboten. Die Aufklärung hat die alte europäische Ordnung in Trümmer gelegt. Die Französische Revolution hat nicht nur die Staatsordnung umgeworfen, sondern auch die Ordnung der Kirche: Papst Pius VI. war von französischen Revolutionstruppen in Valence gefangengesetzt worden und dort am 29. August 1799 gestorben. Die Wahl eines Nachfolgers wurde verboten. Dies ist der unmittelbare Stand jener Gegenwart, in der Hardenberg seine Europa-Rede schreibt. Aber in der Zertrümmerung des Alten sieht der junge Geschichtsphilosoph vor allem die Chance für ein ganz Neues. Die Religion wird das niedergeworfene Europa wiederbeleben. Sie wird aus der Vereinigung von Wissenschaft und Phantasie eine neue Wissenschaft hervorbringen. Sie wird im Kampf zwischen den Völkern und Ständen einen neuen Frieden vermitteln. Aber sie selbst wird dabei in neuer Gestalt erscheinen. Die Ruinen der alten Kirche geben Raum für ein Reich des »Geistes«. In ihm wird die Aufklärung nicht eigentlich widerlegt, sondern aus ihrer selbstauferlegten Beschränkung aufs Irdisch-Ver-



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nünftige befreit werden. Jeder Mensch kann dann an jenem die Individuen und die Zeiten übergreifenden »Geist« partizipieren, den Hardenberg und Friedrich Schlegel auf neue Weise als den alten, ewigen Heiligen Geist grundegerichteten verstehen wollen. So wird einst, jenseits der alten, zu­ Institutionen, jeder Mensch ein Dichter und jeder Mensch ein Priester sein. Die Konturen dieses neuen Goldenen Zeitalters zeichnet Hardenberg allerdings nicht sonderlich deutlich; er deutet sie durch Bilder und Rätselworte nur an.3 So weit der große Gang der Argumentation. Sehen wir nun auf den ersten Absatz, mit dem der Zuhörer auf das Folgende eingestimmt wird (III 507): Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. – Ohne große weltliche Besitztümer lenkte und vereinigte Ein Oberhaupt, die großen politischen Kräfte. ­Eine zahlreiche Zunft zu der jedermann den Zutritt hatte, stand unmittelbar unter demselben und vollführte seine Winke und strebte mit Eifer seine wohlthätige Macht zu befestigen. […] – Wie heiter konnte jedermann sein irdisches Tagwerk vollbringen, da ihm durch diese heilige Menschen eine sichere Zukunft bereitet, und jeder Fehltritt durch sie vergeben, jede mißfarbige Stelle des Lebens durch sie ausgelöscht, und geklärt wurde. Sie waren die erfahrnen Steuerleute auf dem großen unbekannten Meere, in deren Obhut man alle Stürme geringschätzen, und zuversichtlich auf eine sichre Gelangung und Landung an der Küste der eigentlichen vaterländischen Welt rechnen durfte. Die wildesten, gefräßigsten Neigungen mußten der Ehrfurcht und dem Gehorsam gegen ihre Worte weichen. Friede ging von ihnen aus. […]

Hymnisch eröffnet Hardenberg seinen Text, und es schließen sich daran in rascher Folge Lobpreisungen der Marienverehrung, des Heiligenkultes, des Kirchenschmucks, der Reliquien, des Wunderglaubens, der Wallfahrten, der Mission und schließlich auch noch ein Lob der päpstlichen Verurteilung von Galileis Lehren. Wer das liest, der sollte sich daran erinnern, dass 1799, als diese Seiten geschrieben wurden, immer noch die Aufklärung das geistige Leben Deutschlands regierte. Was heute die Literaturgeschichten als ›Jenaer Frühromantik‹ verzeichnen, war damals ein kleiner Kreis wenig bekannter junger Literaten, der sich im Umfeld der Universität Jena zusammenge3  Siehe dazu Hans-Joachim Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Heidelberg 1965, bes. 372–385.

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funden hatte. Friedrich von Hardenberg war siebenundzwanzig Jahre alt, hatte zunächst Jura, dann an der berühmten Bergbau-Akademie von Freiberg studiert und nebenher ein Gedicht sowie zwei Sammlungen aus aphoristischen Fragmenten veröffentlicht – zum Schutz seines altadeligen Namens unter dem Pseudonym Novalis. Als er seine Europa niederschrieb, stand seine Ernennung zum Salinen-Assessor in Weißenfels kurz bevor. Hält man sich das vor Augen, so wird man diesen Aufsatz kaum für eine ernsthafte historische oder staatsphilosophische Studie halten können. In jugendlichem Auftrumpfen trägt hier einer mit sicherem Überblick all das zusammen, was Aufklärer und Protestanten als die allerschlimmsten Greuel verabscheuen; und indem er dieses Teufelszeug mit enthusiastischen Worten preist, behauptet der junge Mann zu beweisen, dass das finstere Mittelalter die Blütezeit der europäischen Menschheit war. Die Lust an der Provokation springt förmlich aus jeder Zeile. Hardenberg selbst hat, wie erwähnt, seinen Text ja auch nicht als Aufsatz, sondern als »Rede« bezeichnet (IV 317), und die Forschung hat die rhetorische Strukturierung des Textes en détail herausgearbeitet.4 Geplant waren weitere Reden, die dann zusammen mit »der Europa« veröffentlicht werden sollten (IV 317 f.): »Die Beredsamkeit muß auch gepflegt werden und der Stoff ist herrlich, z. B. Reden an Buonaparte, an die Fürsten, ans europaeische Volk, für die Poesie, gegen die Moral, an das neue Jahrhundert.« Aus all dem ist nichts geworden. Hardenberg will also nicht eine historische Studie vorlegen, sondern sich vehement und provokativ in die Diskussion der Zeit einmischen. Diesen provozierenden Gestus hat die Forschung vielleicht bis heute nicht ernst genug genommen.5 Dabei darf man die Provokation nicht bloß taktisch verstehen: als den Versuch, größere Aufmerksamkeit für den folgenden geschichtsphilosophischen Entwurf zu wecken. Dahinter steckt viel4  Siehe Richard Samuel, »Die Form von Friedrich von Hardenbergs Abhandlung Die Christenheit oder Europa«, in: Albert Fuchs, Helmut Motekat (Hgg.), Stoffe, Formen, Strukturen. Studien zur deutschen Literatur. H. H. Borcherdt zum 75. Geburtstag, München 1962, 284–302; Wilfried Malsch, ›Europa‹. Politische Rede des Novalis. Deutung der Französischen Revolution und Reflexion auf die Poesie in der Geschichte, Stuttgart 1965; Barbara Steinhäuser-Carvill, » ›Die Christenheit oder Europa‹. Eine Predigt«, Seminar 12 (1976), 73–88; Ludwig Stockinger, »Religiöse Erfahrung zwischen christlicher Tradition und romantischer Dichtung bei Friedrich von Hardenberg (Novalis)«, in: Walter Haug, Dietmar Mieth (Hgg.), Religiöse Erfahrung. Historische Modelle in christlicher Tradition, München 1992, 361–393, bes. 382–389; Ira Kasperowski, Mittelalterrezeption im Werk des Novalis, Tübingen 1994, 54–68. 5  Ähnlich Hermann Kurzke, Novalis, 2. Aufl., München 2001, 61 f.



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mehr eine grundsätzliche Technik des frühromantischen Intellektuellen. Ende 1798 hatte Hardenberg bei dem ihm befreundeten, älteren Kreisamtmann Just mit einem Brief um Verständnis für seine Blüthenstaub-Fragmente geworben. Er bezeichnet sie da als »Anfänge interessanter Gedankenfolgen − Texte zum Denken. Viele sind Spielmarken und haben nur einen transitorischen Wert. Manchen hingegen hab ich das Gepräge meiner innigsten Ueberzeugung aufzudrücken gesucht.« (IV 270 f.). Diese Worte treffen auch Die Christenheit oder Europa: Es geht um ein experimentierendes Schreiben, das im Durchspielen verschiedener Ideen erprobt, welche Möglichkeiten sich daraus gewinnen lassen. Besonders geschätzt hat Hardenberg dabei die Technik der Umkehrung.6 Indem der Schüler von Kant und Fichte das ›finstere Mittelalter‹ als Höhepunkt der Menschheitsgeschichte ausruft, indem der Sohn aus streng pietistischem Hause das katholische Mittelalter als »ächt christlich[e] Zeit« preist (III 509), probiert er aus, was passiert, wenn man in dieser Angelegenheit den denkbar ungewöhnlichsten Blickpunkt einnimmt. So bietet auch die Europa-Rede eine Mischung aus »Spielmarken« und »innersten Überzeugungen«. Für unseren Zweck kommt es jetzt nicht darauf an, die Spielmarken wieder von den Überzeugungen zu trennen – was übrigens gar nicht so einfach wäre. Stattdessen will ich fragen, was Hardenberg die Umkehrung der zeitgenössisch geläufigen Sehweisen eingetragen hat. Blickt man auf die geschichtsphilosophischen Entwürfe des achtzehnten Jahrhunderts, so bereitet Hardenberg seinen Zuhörern die größte Überraschung durch das, wovon in seiner Rede nicht gesprochen wird: durch das Verschweigen der Antike. Sie hatte seit langem fast allen historischen Spekulationen ihren selbstverständlichen Ausgangspunkt geboten. Zwar ließ sich schwer bestreiten, dass die Gegenwart im Bereich von Wissenschaft und Technik weiter gekommen war, aber für Poesie und bildende Kunst rief man die Antike immer noch weithin als unerreichbares Vorbild aus. Darüber stritt man heftig im Paris um 1700, und die französische Debatte wirkte über das ganze achtzehnte Jahrhundert auch in die deutsche Diskussion hinein. Winckelmann hielt kategorisch an der fraglosen Überlegenheit der antiken Kunst fest. Schiller und Friedrich Schlegel suchten der Moderne ihr Recht, ihre Notwendigkeit und auch ihre spezifischen Errungenschaften zu sichern, ohne die Singularität der Antike anzutasten. 6  Vgl. Michael Neumann, Unterwegs zu den Inseln des Scheins. Kunstbegriff und literarische Form in der Romantik von Novalis bis Nietzsche, Frankfurt a. M. 1991, 69. Zu Hardenbergs »Experimentalphysik des Geistes« siehe auch Jürgen Daiber, Experimentalphysik des Geistes. Novalis und das romantische Experiment, Göttingen 2001.

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Abweichungen von diesem Muster finden sich am ehesten dort, wo die Spekulation mit theologischen Modellen arbeitet. Lessing etwa, der als Kunstkritiker sehr wohl der Autorität der Antike folgte, griff geschichtsphilosophisch in seiner Schrift über Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777) auf das alte Drei-Reiche-Modell zurück. Im 12. Jahrhundert hatte der Abt Joachim von Fiore aus der Analogie zur Heiligen Dreifaltigkeit die welthistorische Abfolge dreier Reiche abgeleitet: Das erste Reich als das Reich des Vaters stand unter dem Gesetz des Alten Testaments. Das zweite Reich, das Reich des Sohnes, hat die Gestalt der von Christus gestifteten Kirche; deren Priester stellen durch ihre Lehre und durch ihr Leben − durch Zölibat und Sakramentenspendung − die Gegenwart des menschgewordenen Gottes vor Augen. Das dritte, zukünftige Reich aber wird das Reich des Heiligen Geistes sein. In ihm wird die äußere Bindung an Dogma und Institution abgelöst durch die Offenbarung in der intelligentia spiritalis.7 Joachim verstand darunter die Offenbarung des Heiligen Geistes, Lessing die innere Einsicht aus Freiheit. Der Unterschied zwischen Priestern und Laien fällt hinweg. Jeder Gläubige wird, bewegt durch die Gegenwart des Heiligen Geistes, in Freiheit das Rechte tun, das Christus einst in der Bergpredigt verkündet hat. Das dritte Reich wird ein Reich der Liebe und des Friedens sein. Lessing hat dieses Modell aufgenommen und neu interpretiert als den Fortgang der Aufklärung durch die Menschheitsgeschichte. Durch ihn wurde es an die prägenden Autoren des Deutschen Idealismus und der Jenaer Romantik vermittelt. Auch Hardenberg greift es auf. Manche Formulierungen seiner Europa-Rede klingen deutlich an Lessings Erziehung des Menschengeschlechtes an.8 In der Forschung wird diskutiert, inwieweit Lessing die theologische Redeweise aus taktischer Not gewählt, also nur ›exoterisch‹ gebraucht haben mag.9 Das verzeichnet wohl Lessings Posi­ tion im Szenarium der zeitgenössischen Debatten. Lessing hielt viel zu unbedingt am Fortschritt der Geschichte fest, als dass er auf die garantierende Instanz einer göttlichen Vorsehung hätte verzichten können. Die scharfen Auseinandersetzungen zwischen Aufklärung und Orthodoxie

7  Zit. nach Herbert Grundmann, Studien über Joachim von Fiore, Leipzig Berlin 1927, Neudr. Darmstadt 1975, 59. 8  Siehe Mähl, Idee, 245–251; Kenneth Calhoon, »The Bible as Fable. History and Form in Lessing and Novalis«, Lessing Yearbook 16 (1984), 55–78; Nicholas Saul, History and Poetry in Novalis and in the Tradition of the German Enlightenment, London 1984, 111–116. 9  Siehe etwa Eckhard Heftrich, Lessings Aufklärung, Frankfurt a. M. 1978, 47 f. u. pass.



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trieben ja mit zunehmender Deutlichkeit heraus, dass man eine solche Garantie von Natur oder Vernunft alleine nicht leicht erwarten konnte.10 Bei Hardenberg gehört die religiöse Fundierung fraglos zur Substanz der Argumentation. Sie ist geradezu die Pointe, auf welche seine »Umkehrung« des gängigen geschichtsphilosophischen Modells hinausläuft: Indem die Antike übergangen wird, kann das Mittelalter auf den Platz des anfänglichen Goldenen Zeitalters einrücken. Nun hätte das Gedankenexperiment die historische Macht der Religion freilich auch an der Antike durchspielen können: Die attische Tragödie aus ihrer Verwurzelung im Großen Dionysos-Fest und die Einheit der griechischen koiné aus der Gemeinsamkeit einer Mythologie heraus zu entwickeln, dazu wären auch schon die Jenaer Romantiker fähig gewesen. Wenn Hardenberg stattdessen auf das Christentum setzt, so tut er das, weil er eine lebendige, eine weiterhin geschichtsmächtige Kontinuität benötigt. Die antike Götterwelt ist im achtzehnten Jahrhundert nur mehr eine Bildungsmacht. Dem Christentum aber traut er eine »Auferstehung« als geschichtsprägende Religion zu (III 517). Dennoch haben Hardenbergs Gedanken nichts mit Restauration zu tun, so nahe diese Vermutung zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, 1826, auch liegen musste. Geschrieben wurde die Europa-Rede ja im Oktober und November 1799, also in einer völlig anderen und sehr eigentümlichen historischen Konstellation. Die Jahrhundertwende stand unmittelbar bevor. Mit mehreren Jahrzehnten einer voranschreitenden Aufklärung im Rücken, erwarteten viele Intellektuelle die neue Epoche mit hochfliegenden Hoffnungen und Visionen. Die Französische Revolution hatte eine ganz neue Erwartung erweckt: Vielleicht müssten die Menschen doch nicht auf ewig die bloßen Opfer der Geschichte bleiben; vielleicht könnten sie sich kraft ihrer Vernunft stattdessen nun zu Autoren, zu Schöpfern der Geschichte aufschwingen. Die Blutbäder der terreur erschütterten manche in dieser Erwartung, und auch die politischen Wechselbäder in den Jahren nach Robespierres Hinrichtung gaben wenig Anlass zur Zuversicht. Dass sich der General Napoleon Buonaparte am 18. Brumaire des Revolutionsjahres VIII, also am 9. November 1799 – unmittelbar bevor Hardenberg seine Rede im Jenaer Kreis verlas! –, mit einem Staatsstreich als Retter Frankreichs und der Revolution präsentierte, kann Hardenberg bei der Niederschrift der

10  Zur zeitgenössischen Diskussionslage siehe Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, München 1986, 471–477 u. (zum späten Lessing) 601–615.

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Rede noch nicht gewusst haben,11 doch mag er sich davon zunächst, wie viele seiner Zeitgenossen, eine Konsolidierung der revolutionären Errungenschaften erhofft haben. Insgesamt belebte der spektakuläre Zusammenbruch der alten Welt in den Jenaer Romantikern jedenfalls den Glauben an die Heraufkunft eines völlig Neuen. Die Französische Revolution hatte die alte Staats- und Standesordnung zerstört. Die neuen Kräfte lagen nun mit der alten europäischen Ordnung in einem Krieg, dessen Verlauf und Ergebnis kaum abzuschätzen war; auch hier weckten aber Napoleons italienische Erfolge zweifellos Hoffnungen (siehe IV 464). Zudem schien auch die uralte Ordnung der katholischen Kirche vernichtet: Die französischen Revolutionstruppen hatten 1798 den Kirchenstaat republikanisiert; Pius VI. war am 29. August 1799 im französischen Exil gestorben; die Wahl eines Nachfolgers hatten die Revolutionstruppen verboten. Es ist höchst interessant zu sehen, wie Hardenberg auf diese neueste Nachricht reagiert. Aus heutiger Sicht handelt es sich um eine kirchengeschichtlich unbedeutende, kleine Episode: Schon im folgenden Jahr wurde mit Pius VII. ein neuer Papst gewählt, der später dann Napoleon zum Kaiser krönen durfte. Davon aber konnte der Zeitgenosse Hardenberg nichts wissen. Er war bereit, in diesem alleraktuellsten Ereignis einen tiefen, welthistorischen Einschnitt zu erkennen: Die Kirche als irdische Institution war an ihr endgültiges Ende gekommen. Das dritte Reich des Geistes stand vor der Tür. Zu seiner, zu Hardenbergs, Lebenszeit würde sich dieser Umbruch der Weltgeschichte ereignen − und vielleicht würde er, poetisch wie philosophisch beflügelt vom Geiste, daran mitwirken können. Lessing hatte die Versuchung, den eigenen Ort in der Zeit für das Zentrum der Weltgeschichte zu nehmen, schon in Die Erziehung des Menschengeschlechtes treffend als Schwärmerei diagnostiziert:12 Der Schwärmer tut oft sehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nur nicht erwarten. Er wünscht diese Zukunft beschleuniget; und wünscht, dass sie durch ihn beschleuniget werde. Wozu sich die Natur Jahrtausende Zeit nimmt, soll in dem Augenblicke seines Daseins reifen. Denn was hat er davon, wenn das, was er für das Bessere erkennt, nicht noch bei seinen Lebzeiten das Bessere wird?

Nun wird man Novalis zugutehalten müssen, dass die Französische Revolution ihm einen höchst triftigen Anlass bot, den Anbruch einer ganz 11  Die Niederschrift dürfte schon am 9.11.1799 abgeschlossen gewesen sein, da Hardenberg an diesem Tag mit seiner Familie zur Hochzeit seiner Schwester auf das Gut Schlöben reiste (s. III 498). 12  § 90: Gotthold Ephraim Lessing, Werke, hg. Herbert G. Göpfert, München 1979, Bd. 8, 509.



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neuen Zukunft auf seine eigene Gegenwart zu datieren. Auch dem Rückblick des Historikers bietet sich die Zeit um 1800 als ein so tiefer Einschnitt dar, dass wir die Tragweite seiner Folgen vielleicht immer noch nicht angemessen einschätzen können. Dennoch hat Hardenberg Lessings Sätze wohl nicht aufmerksam genug gelesen. Und so ist bei seiner Suche nach Spuren der nun hereinbrechenden Zukunft seine Ungeduld immer wieder mit ihm durchgegangen. Unter den zu jener Zeit ungewöhnlich zahlreichen Visionären voller Hoffnung war Hardenberg einer der Verwegensten. Er erwartete von der Zukunft das Zusammentreten eines »neuen Consiliums«, in dessen Folge der Protestantismus verschwinden und eine »neue Kirche« gegründet werden würde (III 524). Das neue Christentum werde zwar die Säkularisierung, den Materialismus und den Atheismus überwinden, in welche sich die Aufklärung festgerannt habe. Aber sie werde nicht hinter die Aufklärung zurückfallen, sondern die von der Aufklärung beförderte Befreiung des Menschen erst an ihr wahres Ziel führen: zu jenem Reich des »Geistes«, das er − Joachim von Fiore aktualisierend − in seiner Europa-Rede entwirft. Auf dieses utopische Reich ist Hardenberg in verschiedenen Schriften zurückgekommen. Es ist allerdings nicht ungefährlich, deren Aussagen als wechselseitige Erhellungen eines einheitlichen Entwurfs zu interpretieren. Die Europa-Rede fasst das Reich des Geistes als eine zukünftige, irdische Realität; die utopischen Züge sind daher leiser instrumentiert. In anderen Texten erscheint es dagegen als eine transzendente Wirklichkeit, die der Mensch durch die Pforten von Poesie und Mystik jederzeit betreten kann. Und oft ist kaum zu entscheiden, ob Hardenberg gerade von Geschichte oder von Mystik spricht. Überdies darf man, wie oben erwähnt, den experimentierenden Charakter der Rede nicht unterschätzen. Beschränken wir uns also auf diese Europa-Rede. Was leistet hier das Konzept vom künftigen »Reich des Geistes«? Erstens verknüpft es Aufklärung und Religion. Die Emanzipation des Menschen zu freier Mündigkeit wird radikalisiert zur Partizipation am »Geist« Gottes. In diesem Sinne wird die Aufklärung über ihre eigenen Grenzen erhoben und hinausgetrieben. Aber die Reichweite des göttlichen Geistes greift doch unendlich über den Horizont jedes Menschen hinaus. Insofern sieht Hardenberg hier eine wahre: eine nicht auf den Menschen, sondern auf Gott gegründete Religion am Werke. An anderen Stellen hat er versucht, diesen Zusammenhang zwischen Gott und Mensch mit präziseren Begriffen zu formulieren; das kann hier beiseitebleiben. ›Christentum‹ jedenfalls ist für diese Gedanken ein gewagter Name. Zweitens befreit es die Aufklärung von der einseitigen Fixierung auf den Verstand. Hier führt Hardenberg eine Aufklärungs-Kritik fort, die

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– von der europäischen Strömung der Empfindsamkeit über Hamanns Sprachphilosophie bis zu Herders Anthropologie – zu seiner Zeit bereits wohl etabliert war. Die einleitende Hymne auf das goldene Mittelalter soll zeigen, dass der Mensch schon einmal »ganzer« Mensch gewesen sei. Das mittelalterliche Christentum habe nicht nur den Verstand, sondern all seine Vermögen in Bewegung gesetzt: Verstand und Vernunft, Einbildungskraft und sämtliche Sinne. Dass seine Schilderung des Mittelalters mehr Dichtung als Wahrheit war, wird er gewusst haben; im Vorfeld der Europa-Rede hatte er sich ausgiebig mit mittelalterlicher Geschichte befasst.13 Aber was er suchte, war ganz offenkundig ein Gegenbild zur eigenen Gegenwart. Und solche Gegenbilder holt man gerne von dort, wo die eigene Zeit ihre Feindbilder aufbewahrt: Das provoziert stärker und ist in seiner Neuheit unbestreitbar. Die farbige Beschwörung dessen, was angeblich schon einmal wirklich gewesen ist, soll alle Zweifel daran niederschlagen, dass das Ersehnte möglich werden kann. Zur Ganzheit des Menschen gehören für Hardenberg aber nicht nur die Vermögen in einem engeren anthropologischen Sinne. Es gehören dazu auch Erinnerung und Hoffnung, Erdenfreude und Himmelssehnsucht. Zu seinen schwersten Vorwürfen gegen die Aufklärung gehören das Vergessen der Geschichte und der Hass auf die Religion. Drittens skizziert die Rede eine Logik der Geschichte. Hardenbergs Geschichtsdenken steht auf dem Umstiegspunkt zwischen den älteren Fortschritts-Modellen und der künftigen Geschichtsdialektik, wie sie Hegel ausarbeiten wird. Hardenberg spricht noch nicht von Dialektik, sondern von »fortschreitenden, immer mehr sich vergrößernden Evolutionen«. Aber die beiden entscheidenden Ingredienzien der Dialektik sind schon vorhanden. Da ist erstens das Fortschreiten durch Gegensatzbildung – was Hegel die »Negativität des Begriffs« nennen wird, heißt bei Hardenberg »Oszillation, ein Wechsel entgegengesetzter Bewegungen«. Dazu tritt zweitens die Annahme, dass nichts verschwindet, was einmal historische Wirklichkeit gewonnen hat: »vergänglich ist nichts was die Geschichte ergriff, aus unzähligen Verwandlungen geht es in immer reicheren Gestalten erneuet wieder hervor.« (III 510). Hegel wird von der Aufhebung des antithetisch Überwundenen in der Synthese reden. Am Ziel steht allemal der göttliche Geist: das Reich des Geistes bei Hardenberg, der zu sich gekommene Geist bei Hegel. Natürlich lässt sich 13  Siehe Richard Samuel, Die poetische Staats- und Geschichtsauffassung Friedrich von Hardenbergs (Novalis). Studien zur romantischen Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1925 (Nachdruck Hildesheim 1975), bes. 230–262, und Kasperowski, Mittelalterrezeption, 68–132.



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Hardenbergs enthusiastische Skizze weder mit dem historischen Reichtum noch mit der spekulativen Kraft von Hegels Phänomenologie (1807) nur entfernt vergleichen. Aber der erste Schritt ist doch getan: Mit dem gottmenschlichen Geist hat die Geschichte eine Substanz gewonnen, deren Logik ihr Voranschreiten anvertraut werden kann. Aus solcher Logik kann man dann auch Hoffnung für einen ewigen Frieden im Staate und zwischen den Völkern ziehen. Viertens versorgt das Konzept der Rede den Menschen mit einem festen Punkt in den Umbrüchen der Geschichte. Aus dem Verlauf der Französischen Revolution leitet Hardenberg ab, dass keine staatliche Ordnung Bestand haben könne ohne ein transzendentes Fundament (III 517): Ruhig und unbefangen betrachte der ächte Beobachter die neuen staatsumwälzenden Zeiten. Kommt ihm der Staatsumwälzer nicht wie Sisyphos vor? Jetzt hat er die Spitze des Gleichgewichts erreicht und schon rollt die mächtige Last auf der andern Seite wieder herunter. Sie wird nie oben bleiben, wenn nicht eine Anziehung gegen den Himmel sie auf der Höhe schwebend erhält.

Ähnlich müssen die Vermögen des einzelnen Menschen auf einen religiösen Fluchtpunkt orientiert sein. Auch dies habe die Revolution gelehrt, die durch die »Vernichtung alles Positiven« nichts Irdisches übrig gelassen habe, an dem der Mensch Halt finden könnte: »Wie von selbst steigt der Mensch gen Himmel auf, wenn ihn nichts mehr bindet«. Spätestens hier wird sich freilich der heutige Zeitgenosse – ob Christ, Agnostiker oder Atheist – zum Widerspruch gedrängt fühlen. Was immer die Folgen der Französischen Revolution gewesen sein mögen – dass die Menschen sich in Massen zum Himmel gewendet hätten, hat man nicht beobachtet. Dennoch fällt die Bilanz von Hardenbergs Text im Rückblick komplizierter aus, als solche Diskrepanzen nahelegen. Die Auferstehung des Christentums als geschichtsbildender, einheitstiftender Macht hat im neunzehnten Jahrhundert offenkundig nicht stattgefunden. Stattdessen ist es in seinem allgemeinen Einfluss weiter abgedrängt worden; daran hat weder die Romantik noch die Restauration, noch das Bündnis zwischen ›Thron und Altar‹ etwas ändern können. Allerdings hat sich auch die Erwartung jener Erben der Aufklärung nicht bestätigt, die für das neunzehnte Jahrhundert ein baldiges Absterben des Christentums − als eines Relikts aus früheren Menschheitsstufen − erwarteten. Stattdessen blieb das Christentum das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch in breiten Bevölkerungsschichten verwurzelt und lebendig.14 14  Zur Kritik an der lange dominierenden Säkularisierungs-Erzählung vom 19. Jahrhundert siehe Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009,

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Ersetzt man den Begriff ›Christentum‹ allerdings durch ›Religion‹ und fasst letzteren Begriff weit genug, dann taucht im Horizont der Hardenbergschen Prophetie auch das auf, was Politologen von Eric Voegelin bis Hans Maier als ›politische Religionen‹ bezeichnet haben. Damit wird unter der beabsichtigten Vision eine dem Autor selbst verborgene Schreckensprophezeiung sichtbar. Hardenbergs Verachtung gegenüber den Institutionen, die dem Wehen des lebendigen Geistes nichts anderes bedeuten als tote Buchstaben, gerät da plötzlich in einen neuen Kontext; und der ist zwar unerfreulich, aber durchaus überzeugend. Das Reich des Geistes ist ein Entwurf, der auf einen Zustand jenseits der Geschichte weist. Sobald man seine Elemente in die irdische Wirklichkeit der Geschichte hereinholt, entfalten sie totalitäre Züge. Hardenberg hat dafür sogar schon ein packendes Bild gefunden. Seine Europa-Rede erwähnt als eine der Folgen des Religionshasses »fürchterliche Erzeugnisse eines Religionsschlafs«, »Träume und Deliria des heiligen Organs«: »Wo keine Götter sind, walten Gespenster« (III 520). Doch eine nähere Betrachtung dieser Gespenster hat er verweigert. So hat er auch nicht entdecken können, dass einige dieser Gespenster fatale Ähnlichkeiten zu seinen eigenen Visionen besitzen. Die politische Ambivalenz seiner spekulativen Entwürfe ist ihm selbst verborgen geblieben. Dies wird deutlich, wenn wir uns einige verdeckte Hinweise näher ansehen, die Hardenberg auf aktuelle Vorboten des erhofften Geist-Reiches gibt. Zunächst bezeichnet er die »sogenannten geheimen Gesellschaften« als einen »jetzt noch unreifen, aber gewiss wichtigen geschichtlichen Keim«. Dann überlegt er, ob sich die Jesuiten, die 1799 in ganz Europa − mit Ausnahme von Preußen und Russland − verboten waren, nicht einst, »vielleicht unter anderm Namen,« wieder ausbreiten werden (III 514). Die Jesuiten sind nach Hardenbergs Überzeugung als Reaktion auf die Reformation entstanden; könnten angesichts der Französischen Revolution jetzt nicht vielleicht neue, »weltliche Jesuiten« erstehen? (III 518). Von der Zukunft erwartet er die Wiederkehr einer geeinten »sichtbaren Kirche«, »die alle nach dem Ueberirdischen durstige Seelen in ihren Schooß aufnimmt« und zwischen alter und neuer Welt vermittelt. Das »Wesen« dieser Kirche »wird ächte Freiheit seyn« (III 524). Einige Seiten zuvor hatte er sie auch eine »friedenstiftende Loge« genannt (III 521). Dieses Ineinanderspielen von neuer Kirche und geheimen Gesellschaften klingt aus dem Abstand von zwei Jahrhunderten ziemlich obskur. Es bes. 703–730; zum Aufschwung der katholischen Volksfrömmigkeit im 19. Jahrhundert eine knappe Charakterisierung bei Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München 1995, 392.



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ist daher kurz daran zu erinnern, wie heftig das Phänomen geheimer Gesellschaften die europäische Öffentlichkeit am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts bewegt hat.15 Seit der Gründung der ersten Loge 1737 in Hamburg hatte sich die Freimaurerei in Deutschland sehr rasch ausgebreitet. 1790 schrieb der Freiherr von Knigge über »die Menge geheimer Verbindungen und Orden verschiedener Art«: »Man wird heutzutage in allen Ständen wenig Menschen antreffen, die nicht von Wissbegierde, Tätigkeitstrieb, Geselligkeit oder Vorwitz geleitet, wenigstens eine Zeitlang Mitglied einer solchen geheimen Verbrüderung gewesen waren.«16 Neben Salons und Akademien, Clubs und Kaffeehäusern, Tisch- und Lesegesellschaften hatten auch die Logen ihren Teil an jener neuen Öffentlichkeit, die sich als der Lebensraum der Aufklärung ausbildete. Die Geheimhaltung als oberstes Gebot widerspricht den aufklärenden Absichten nur scheinbar. Tatsächlich bedurfte die aufgeklärte Praxis − insbesondere das Absehen von Standesschranken und die religiöse Toleranz − einer Abschirmung gegenüber Staat und Kirche. Viele bedeutende Aufklärer sind den Logen beigetreten. Und noch heute kennt jeder Die Zauberflöte, mit der Mozart die Freimaurerei als eine Bruderschaft der Mitmenschlichkeit auf die Bühne stellte.17 Seit der Mitte des Jahrhunderts gewannen die sogenannten »schottischen Hochgrade« zunehmend an Einfluss, die in Wirklichkeit aus Frankreich kamen. Sie setzten auf die erfolgsträchtige Faszination des Mysteriösen. Die drei Grade der traditionellen englischen Maurerei wichen einem ausgeklügelten System aus geheimnisvollen Ritualen und vielfältig abgestuften Graden, das in geheimnisvollen unbekannten Oberen gipfelte. Eine Ursprungs-Legende verfolgte die Freimaurer in direkter, ununterbrochener Tradition bis zum Orden der Tempelritter zurück. Man sprach nun von einer Freimaurerei der »strikten Observanz«. Zu Anfang der achtziger Jahre geriet dieses System ins Kreuzfeuer der publizistischen Kritik. An der öffentlichen Debatte nahmen unter anderen Nicolai, Wieland und Herder teil; Lessing schrieb seine Freimaurer-Gespräche Ernst und Falk. 1782 wandten sich die auf dem Wilhelmsbader Konvent versammelten 15  Das Folgende greift zurück auf die Darstelllung in Michael Neumann, »Die Macht über das Schicksal. Zum Geheimbundroman des ausgehenden 18. Jahrhunderts«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N. F. 28 (1987), 49–84, bes. 57 ff. Dort nähere Literaturhinweise; siehe auch Hans-Jürgen Schings, Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten, Tübingen 1996. 16  Adolf Freiherr von Knigge, Über den Umgang mit Menschen [1790³], hg. Gert Ueding, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1979, 391. 17  Dazu Jan Assmann, Die Zauberflöte. Oper und Mysterium, Frankfurt a. M. 2008.

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Logen von der Strikten Observanz ab. Gleichzeitig wuchs jedoch die Bedeutung konkurrierender Gesellschaften, die dem Bedürfnis nach Mysterien ungehemmt entgegenkamen. Hier sind besonders die llluminaten und die Gold- und Rosenkreuzer zu nennen. Die Entstehung der Gold- und Rosenkreuzer liegt im Dunkeln. Historisch fassbar werden sie in den sechziger und siebziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts, in denen sie sich rasch verbreiten und an Einfluss gewinnen. Ihr System von Geheimnissen, Graden und Ritualen übertrifft an Kompliziertheit noch das der Strikten Observanz; auch ihre Oberen sind »unsichtbar« und verlangen unbedingten Gehorsam. Zunächst befasste man sich vor allem mit Alchimie. 1777 rückten dann politische Ziele in den Mittelpunkt: der Kampf gegen jene Aufklärung, die − in den Augen der Rosenkreuzer − Staat und Kirche durch Freidenkertum und Gott­ losigkeit zersetzte. Ihren größten Erfolg errangen sie durch die Einweihung des preußischen Kronprinzen, der dann als Friedrich Wilhelm II. auf Friedrich den Großen folgte. Nun führten Zensur- und Religions-Edikte eine Phase der Verbote, Beschlagnahmungen und Bestrafungen herauf. Die bedeutendsten Zeitschriften der Zeit18 mussten sich aus Preußen zurückziehen; sogar der alte Kant wurde gemaßregelt. Die von den Rosenkreuzern am schärfsten befeindeten Gegner waren die 1776 von dem Ingolstädter Universitätsprofessor Adam Weishaupt gegründeten Illuminaten. Ein Historiker hat sie als »die bedeutendste vorrevolutionäre Organisation in Deutschland« bezeichnet.19 Weishaupt − einst Jesuitenzögling, dann Jesuitenhasser − gab seiner Organisation Züge, in denen Beobachter manches Jesuitische erkennen wollten. Er verstand seinen Orden als eine Tugendelite, die, zunächst in Bayern und später auch darüber hinaus, die Schlüsselpositionen in Politik, Verwaltung, Rechtsprechung, Wissenschaft, Bildungssystem und traditioneller Freimaurerei besetzen sollte: Nicht durch eine gewaltsame Revolution, sondern über einen Marsch durch die Institutionen wollte er die Macht im Staate übernehmen. Die Durchsetzung einer radikal-aufklärerischen Moral sollte die Unterschiede von Ständen und Nationen überwinden und schließlich auch Staat und Religion überflüssig machen. Die Kenntnis dieser Pläne war jedoch den höchsten Graden des Ordens vorbehalten − das Kompliziert-Mysteriöse der Grade und Geheimnisse teilten die Illuminaten mit den Rosenkreuzern. Die Ordens-Mitglieder wurden über einen langen Stufenweg nur sehr allmählich in die Einsichten eingeweiht, Allgemeine Deutsche Bibliothek und die Berlinische Monatsschrift. Weis, Der Durchbruch des Bürgertums. 1776–1847 (Propyläen Geschichte Europas 4), Frankfurt a. M.  /  Berlin  /  Wien 1982, 40. 18  Die

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deren sie für die reformerischen Absichten ihrer Oberen bedurften; zudem lebten sie in ständiger Angst vor geheimer Überwachung und Bestrafung. In Weishaupts Schriften mischt sich das Gedankengut der Aufklärung mit zeitgenössischem Chiliasmus und der Tradition der Staats- und Gesellschaftsutopien. Im Zentrum seiner Rhetorik steht der mündige Mensch:20 »Die Moral ist also die Kunst, welche Menschen lehrt, volljährig zu werden, der Vormundschaft los zu werden, in ihr männliches Alter zu treten, und die Fürsten zu entbehren.« Hier wird noch einmal verständlich, warum Hardenberg bei seiner Suche nach einer Vereinigung von neuer Kirche und individueller Freiheit Hoffnungen an die aufgeklärten Geheimgesellschaften seiner Zeit knüpfte. Wieland, Herder, Goethe und viele andere bedeutende Zeitgenossen haben zeitweise geheimen Gesellschaften angehört. Gut ein Jahr nach der Niederschrift von Die Christenheit oder Europa verkündet Hardenberg seinem Freund Friedrich Schlegel, die »Errichtung eines litterairischen, republicanischen Ordens − einer ächten Cosmopoliten Loge« solle künftig das »Hauptgeschäft meines Lebens« sein.21 In dem Logenwesen sah er also vor allem die Seite einer freien Vereinigung ohne institutionelle Verfestigungen. Aufschlussreich ist freilich abermals, wovon er nicht redet. Die geheimen Gesellschaften waren Mitte der achtziger Jahre skandalös in die Schlag­ zeilen geraten. 1784 verbot der bayerische Kurfürst alle geheimen Gesellschaften in Bayern. 1785 unterwarf Kaiser Joseph II. die österreichischen Freimaurer-Logen einer strengen staatlichen Aufsicht, und die Republik Venedig verbot alle Logen. 1787 führte die bayerische Regierung einen entscheidenden Schlag: Man publizierte die konfiszierten Dokumente des Illuminaten-Ordens. Was dabei zutage kam, ließ manchem wohlmeinenden Aufklärer unter den Mitgliedern das Blut in den Adern gefrieren. Die Illuminaten erwiesen sich als eine straff geführte Geheimorganisa­ tion. Die höheren Grade hatten die niederen Grade systematisch manipuliert. Der Eifer, sein Fürsten und Nationen überwindendes Paradies auf Erden zu errichten, hatte Weishaupt an der Erkenntnis gehindert, dass absoluter Gehorsam, ständige Überwachung und demütig-ehrfürchtige Initiation in die Geheimnisse der ›Aufklärung‹ die sichersten Mittel waren, die vordergründig angestrebte Mündigkeit seiner Neophyten nachhaltig zu hintertreiben. Als zwei Jahre später die Französische Revolution losbrach, machten rasch Gerüchte Sensation, die darin ein Werk der im Untergrund 20  Zit. nach Richard van Dülmen, Der Geheimbund der Illuminaten: Darstellung Analyse Dokumentation, Stuttgart, Bad Cannstatt 1975, 180 u. 184. 21  10.12.1798 (Novalis, Werke, Bd. 4, 268 f.).

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fortexistierenden Illuminaten sahen − man behauptete eine direkte Verbindung von den Illuminaten zu den Jakobinern.22 Derlei Verschwörungstheorien sind seither nie wieder aus dem politischen Leben verschwunden. Aber schon die Veröffentlichung der Dokumente hatte nicht nur eine vehemente politische Diskussion ausgelöst, sondern auch eine intensive poetische Verarbeitung. Der Marquis Posa in Schillers Don Karlos (1785– 87) etwa trägt deutliche Züge eines Illuminaten:23 Er plädiert nicht nur bewegend für Gedankenfreiheit, sondern er verrät in seinem politischen Spiel auch jede menschliche Loyalität. Um des hohen, aufgeklärten Zieles willen hintergeht er das Vertrauen des Königs Philipp wie die Freundschaft des Prinzen Karlos, und wenn sich ihm am Ende die Fäden des allzu komplizierten Spieles verwirren, dann steht bereits eine andere, viel ältere Institution bereit, um den Zuschauer über das Wesen geheimer Organisation zu belehren: die Inquisition. Noch deutlicher behandelt Schillers Roman Der Geisterseher (1787–89) das Thema: Ein Prinz wird zum Spielball einer Geheimorganisation, die sich zunächst als aufgeklärte Gesellschaft darstellt, am Ende aber als eine Machenschaft reaktionärer Jesuiten enthüllt – Schiller teilte mitnichten Hardenbergs Bewunderung dieses Ordens, und er besaß ein scharfes Gespür für die politischen Implikationen der Manipulation. In der Trivialliteratur der Zeit bildete sich rasch ein eigenes Genre ›Geheimbundroman‹ aus, das die Möglichkeiten von Täuschung und Manipulation so systematisch wie phantasievoll durchspielte und einer breiten Leserschaft nahebrachte.24 In summa geben diese Werke eine ganz beachtliche Heerschau der totalitären Gefahren, die überall dort drohen, wo die »äußerlichen« Institutionen und Gesetze durch die Zumutung einer allgemeinen »inneren« Einheit des Geistes übersprungen werden − welch letztere freilich immer erst durch eine selbsternannte Elite durchgesetzt werden muss. All das übergeht Hardenberg mit Stillschweigen. Er konzediert, dass die geheimen Gesellschaften »jetzt noch unreif« seien, hält aber daran fest, in ihnen einen »wichtigen geschichtlichen Keim« zu sehen. Wie kommt es zu dieser partiellen Blindheit? Der Traum von einem Dritten Reich, einem Tausendjährigen Reich, in dem sich nicht nur Verstand und Poesie, Wissen 22  Siehe Johannes Rogalla von Bieberstein, Die These von der Verschwörung 1776–1945, Bern  /  Frankfurt a. M. 1976. 23  Siehe Schings, Brüder. 24  Vgl. Neumann, »Die Macht über das Schicksal«, und Michael Voges, Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozial­ geschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 1987.



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und Glauben, sondern auch Individualität und Sozialität zu einer freien Praxis vereinigen, die der Krücken von Gesetz und Institution nicht mehr bedarf, − dieser Traum hat es schwer, Ansatzpunkte in der zeitgenössischen Wirklichkeit zu entdecken. Die Freimaurer boten zumindest ihrem Programm nach einen solchen Anknüpfungspunkt in der Realität. Und von Lessing bis Mozart waren sie in diesem Sinne verklärt worden. Vielleicht wollte Hardenberg auf dieses einzige Stück Wirklichkeit nicht verzichten, das er für seine Hoffnungen vorweisen konnte. Dann wäre der Wunsch der Vater der Verblendung geworden. Hardenberg wischte als bloße Unreife einfach beiseite, was an den Entwicklungen der geheimen Gesellschaften bereits Einblick in die totalitären Gefahren einer utopisch zugespitzten Aufklärung gestatten konnte. Hier hat Schiller schärfer gesehen. Diese ideologische Blindheit färbt Hardenbergs Prophezeiungen und Spekulationen etwas unheimlich ein. Das ist lehrreich. Aber man sollte den Blick auf Die Christenheit oder Europa doch auch nicht auf dieses Moment der Blindheit verengen. In manchen Punkten, so meine ich, hat Hardenbergs provokative Technik der ›Umkehrung‹ auch Thesen ermöglicht, die dem mainstream der zeitgenössischen Sicht voraus waren. Als Beschreibung eines im Christentum geeinigten Europa taugt Hardenbergs Beschwörung des glücklichen Mittelalters zwar wenig; sie ist Gedankenexperiment, nicht Historiographie. Als Erinnerung an die Prägewirkung des Christentums auf die europäische Geschichte erhebt die Rede aber mit Recht Einspruch gegen eine verbreitete Neigung, die Rolle des Christentums in Europa auf das Angst- und Spottbild vom ›finsteren Mittelalter‹ zu reduzieren – man lese nur die europaweiten Bestseller der Schauerliteratur à la Ann Radcliffe, M. G. Lewis oder Charles Robert Maturin, um sich eine Ahnung von der Finsternis zu machen, in der sich viele Zeitgenossen nicht nur das Mittelalter, sondern auch den rezenten Katholizismus vorzustellen liebten. Mit der Behauptung, dass das Christentum nicht das absterbende Relikt einer vergangenen Entwicklungsstufe der Menschheit sei, sondern eine tragende Kraft der europäischen Zukunft, stellt Novalis sich also gegen eine mächtige Meinung in seiner Zeit. Historismus, Wissenschaftsgläubigkeit und Positivismus haben diese Überzeugung dann im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert zu einem weithin unbezweifelten Axiom erhoben. Erst seit wenigen Jahrzehnten beginnt sich jetzt auch außerhalb der christlichen Kirchen wieder der Verdacht zu regen, das Christentum könnte nicht nur ein unausrottbarer, sondern sogar ein legitimer Bestandteil der europäischen Moderne sein. Hardenbergs eigentliche Absicht zielte nicht auf die Rehabilitation des Mittelalters, sondern auf jene Zukunft, welche die frühromantischen Intel-

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lektuellen mitzugestalten hofften.25 Als Prophezeiung geht die EuropaRede freilich ziemlich fehl. Nicht eine »neue Kirche« ist erstanden, sondern die kirchliche Verfassung des Christentums hat sich in den folgenden Jahrhunderten verfestigt und versteift. Blickt man allerdings nicht nur auf das Christentum, sondern auf das Schicksal jener menschlichen Bedürfnisse, für welche über Jahrtausende hinweg die Religionen zuständig waren, so wird sichtbar, dass Hardenberg hier ein besseres Gespür besaß als viele seiner Zeitgenossen. Die Macht dieser Bedürfnisse hat sich in den folgenden zwei Jahrhunderten furchtbar bewiesen, in der Gewalt der Nationalismen ebenso wie in dem chiliastischen Verführungsglanz, mit dem Nationalsozialismus und Kommunismus diese Bedürfnisse auszubeuten wussten.26 Vor der Gefährlichkeit dieser Bedürfnisse hat Hardenberg freilich die Augen verschlossen. Das macht seine politischen Texte heute gerade dort schwer erträglich, wo wir Ähnlichkeiten zwischen romantischer Prophetie und späterer Realität erkennen. Der frühromantische Traum: Religion, Kunst und Gesellschaft zu einem Reich des Geistes verschmelzen zu können, hat sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem noch nie gesehenen Albtraum verzerrt. Blickt man allerdings von heute auf die Jahrzehnte seit 1945 zurück, so zeigt sich noch ein anderes Bild. Unter dem statistischen Schleier unaufhaltsamer Kirchenaustritte und sinkender Kirchgängerzahlen ereignet sich ein fundamentaler Umbau. In und neben den Kirchen steigt der Anteil derer, die ihr religiöses Leben nicht führen, weil sie hineingeboren wurden und dann den Konventionen ihres sozialen Umfelds folgten, sondern weil sie sich bewusst und frei dafür entschieden haben. Dieser Umbau hat Voraussetzungen, die weit zurückreichen.27 Aber sein Ergebnis sind die Christen der Moderne. In ihnen verwirklicht sich auch etwas von jener Utopie, die Hardenberg in Die Christenheit oder Europa entworfen hat.

25  Vgl. Malsch, Europa, 37 u. pass., und Hermann Timm, Die heilige Revolution. Das religiöse Totalitätskonzept der Frühromantik. Schleiermacher – Novalis – Friedrich Schlegel, Frankfurt a. M. 1978, 114–127, − mit sehr unterschiedlichen Gewichtungen, was den Stellenwert der Religion und die Ernsthaftigkeit in der Verknüpfung von Poesie und Geschichte angeht. 26  Dass damit weder Nationalsozialismus und Kommunismus gleichgesetzt noch eine zureichende Erklärung für deren jeweiligen historischen Aufstieg behauptet werden soll, versteht sich von selbst. 27  Siehe dazu Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeit­ lichen Identität, Frankfurt a. M. 1996, und ders., Zeitalter.

The Survival of the Poetic Muse in Sir Walter Scott’s Historical Novels By Oliver Bock and Wolfgang G. Müller I. The Problem There is a sharp caesura in Sir Walter Scott’s career between his earlier time as ›creative‹ collector of folk ballads in The Minstrelsy of the Scottish Border (1802–03) and his successive period as a writer of verse romances such as The Lady of the Lake (1810) on the one hand and his entirely unexpected turn to writing narrative prose works, the so called Waverley novels, on the other hand. It is indeed one of the miracles of British literature that a writer who was so much at home and successful in balladry and poetry should turn to a completely different kind of writing in which he was both innovative as the inventor of the historical novel and even more successful than in his earlier career. Although this is a well-known fact, it is useful to exemplify Scott’s change of genre by looking at two representative texts as a first step in the argument of the present study, which attempts to trace poetic elements in the Waverley novels.1 If we examine the following passages, a stanza from the metrical romance The Lady of the Lake (1810) and a paragraph from the novel The Bride of Lammermoor (1819), we can hardly believe that they were written by the same author. As Chief, who hears his warder call, »To arms! the foemen storm the wall,« The antlered monarch of the waste Sprung from his heathery couch in haste. But, ere his fleet career he took, The dew-drops from his flanks he shook; 1  A first version of this article was read at the 12th International Connotations Symposium, which took place from 28 July to 1 August 2013 at Mülheim an der Ruhr. The discussion subsequent to the reading of the paper yielded helpful comments. The authors are also indebted to the peer reviewers of the present journal, whose comments prompted us to revise and expand the article.

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Like crested leader proud and high Toss’d his beam’d frontlet to the sky; A moment gazed adown the dale, A moment snuff’d the tainted gale, A moment listen’d to the cry, That thicken’d as the chase drew nigh; Then, as the headmost foes appear’d, With one brave bound the copse he clear’d, And, stretching forward free and far, Sought the wild heaths of Uam-Var. (Canto First, Section 2, 208)2 Lucy had scarcely replied to her father in the words we have mentioned, and he was just about to rebuke her supposed timidity, when a bull, stimulated either by the scarlet colour of Miss Ashton’s mantle, or by one of those fits of capricious ferocity to which their dispositions are liable, detached himself suddenly from the group which was feeding at the upper extremity of a grassy glade, that seemed to lose itself among the crossing and entangled boughs. The animal approached the intruders on his pasture ground, at first slowly, pawing the ground with his hoof, bellowing from time to time, and tearing up the sand with his horns, as if to lash himself up to rage and violence. (55)3

There is no need to make a detailed comparative analysis of these two texts, which are similar in subject matter. The aesthetic difference between them is too obvious to require closer comment. The verse text is rich in metaphors which relate an animal – a stag – to the warlike milieu of the romance; the animal, »the antlered monarch of the waste«, who is alerted by the hunters’ noise, is likened to a warrior called to battle from his couch; it shakes its antlers, a head armour or »frontlet«, to the sky like the plumed helmet of a military leader. This poetic diction stands in the tradition of neo-Classicism which Wordsworth criticised in the Preface to Lyrical Ballads (1800). It must be seen that Scott’s verse narratives are, as romantic as they may seem in regard to theme and the expression of emotion, stylistically indebted to neo-Classicism to some extent. In the latter part of the passage under scrutiny verse and rhyme create, together with musical devices like anaphora, structural effects which are in this way alien to prose narrative. By way of contrast the passage from The Bride of Lammermoor, which describes the assault of a bull on William Ashton and his daughter Lucy, is almost devoid of metaphor and insinuating mu2  Sir Walter Scott, Poetical Works, ed. J. Logie Robertson, London / New York / Toronto 1967. All quotations from The Lady of the Lake are taken from this text and all page numbers are given in the text in brackets after the quotations. 3  Sir Walter Scott, The Bride of Lammermoor, ed. Fiona Robertson, Oxford 2008. All quotations are taken from this edition and all page numbers are given in the text in brackets after the quotations.



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sical effects. It begins with a long syntactic period which is introduced by a cum inversivum construction, proceeds in relative and participial clauses, and is rhetorically equipped with figures such as parallelism and climax. All this is in the tradition of the eighteenth-century novelist Henry Fielding, who has a predilection for the Ciceronian period and is, incidentally, fond of the cum inversivum structure.4 The passage from Scott’s novel is, in a word, as prosaic as prose may be and stylistically far removed from what we find in the verse romance. Contrasting the two passages from Scott’s works highlights the extreme contrast between the modes of writing in Scott’s middle period as a writer of romances and his final period as a novelist. This almost stunning change in the literary work of the Scottish author raises profound generic, literary-historical and cultural issues, some of which will be discussed in the examination of one formal element Scott has always been fond of, namely lyric insertion. This is a device which the writer uses in both of the genres, the verse romance as well as the novel. It can be looked at as a crucial connecting link between two genres, which are otherwise sharply separated. This fact has hardly ever been noticed and commented on. A full discussion of the intricacies of Scott’s shift to narrative prose is not possible in this study, but a few observations are necessary. A simple explanation of Scott’s generic innovation around 1810 would be that, despite his success, he had become tired of seeing the metrical romance as a genre in which he could realise his artistic vision. From his review of Byron’s Childe Harold III in Quarterly Review XVI (1816 / 17) we know that he was aware that fertility could wane and turn into sterility and that a new challenge was sometimes necessary. The most frequent of the explanations of Scott’s shift to narrative prose, which the author himself gave in the Introduction to the Edition of 1830 of his verse romance Rokeby (1813) is, of course, that in the figure of Lord Byron a formidable rival had advanced in the genre of the metrical romance to whose supremacy he had to bow. He is said to have acknowledged that »Byron bet [beat] me«.5 So, it is held, that Scott had to look for another field for his creative energies, a field in which he could better realise his qualities and ambitions as a writer. This argument, as plausible as it may be, is not quite watertight, because Scott had, according to his own chronology, started writing Waverley in 1805. Scholars such as Claire Lamont (1981) and Jane Millgate 4  See Wolfgang G. Müller, »Parataxe und Hypotaxe als stilbildende Elemente in der Erzählkunst«, in: Ulrich Breuer, Bernhard Spies (eds.), Textprofile stilistisch. ­Beiträge zur literarischen Evolution, Bielefeld 2010, 79–102. 5  A. N. Wilson, The Laird of Abbotsford, Oxford 1989, 26.

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(1984) see the years 1808–1810 as the time of the author’s active engagement with the novel, which would be the very time at which he reached the pinnacle of his fame as a poet.6 Be that as it may, there is evidence that Scott turned to writing historical novels at a time when his verse romances enjoyed the greatest popularity. The rivalry with Byron cannot have been the only reason for his decision to change his artistic agenda. Furthermore, the frequently alleged materialistic impulse that is said to have produced the Waverley novels – »He [Scott] had to write, of course, in order to pay off debts«7 – is much too superficial; it gained momentum only in the course of Scott’s later work on the Waverley novels, long after his concept of the historical novel had evolved. A reason for Scott’s switch from the metrical romance to the novel was, of course, that the more comprehensive plots »could no longer be contained in the verse stories«.8 And what is more important is that he developed a vision of a literary genre which gave him the scope to deal with the ›history‹ of the Highlands in their relation to the present. This double exposure – the turning to the past and the awareness of the changes having occurred on the way to the present – is well characterised by the subtitle of Waverley – ’Tis Sixty Years Since. He created in his novels, more so than in his verse romances, an image of Scotland centred on the Highlands as a disappearing culture, which he meant to preserve at least in his historical narratives. From a cultural-political vantage point James Buzard describes Scott as the inventor of Scotland, a »member of the Lowland elite putting himself forward as the autoethnographer of a Highland-emphasizing Scottishness«.9 Other critics refer to Scott as belonging to a project of forging »a Scottish national culture« and enlisting »imitations of ancient poetry into the service of a missing political referent, eventually sublated into historical romance«.10 6  See Claire Lamont (ed.), Waverley: Or ‘Tis Sixty Years Since by Walter Scott, Oxford 1981 and Jane Millgate, Walter Scott: The Making of the Novelist, Toronto 1984. 7  Valentina Poggi, »Walter Scott the Novelist: History in the Bones«, in: Marco Fazzini (ed.), Alba Literaria: a History of Scottish Literature, Venezia Mestre 2005, 343–354, quote 344. 8  Virgil Nemoianu, »From Historical Narrative to Fiction and Back. A Dialectical Game«, in: Gerald Gillespie, Manfred Engel, Bernhard Dieterle (eds.), Romantic Prose Fiction, Amsterdam / Philadelphia 2007, 527–536, quote 527. 9  James Buzard, Disorienting Fiction. The Autoethnographic Work of Nineteenth-Century British Novels, Princeton / Oxford 2005, 65. 10  Margaret Russett, Fictions and Fakes. Forging Romantic Authenticity, 1760– 1845, Cambridge 2006, 155. Russett refers to the studies of Katie Trumpener, Bardic Nationalism: The Romantic Novel and the British Empire, Princeton 1997, and Leith Davis, Acts of Union: Scotland and the Literary Negotiations of the British Nation, 1707–1830, Stanford 1998.



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In an article dealing with the problem of authorship in Scott, Margret Fetzer characterises Scott as an »icon of Scottishness«: One sometimes wonders if Scott was not indeed prior to the idea of Scotland in the European mind, if Scotland, as it has been known since the nineteenth century, should not rather be spelt Scott-land. Scott has authored Scotland, yet at the same time, it was Scotland, its myths, oral tales and folk legends, which turned him into the author he has become.11

A problem to be dealt with in this article is the question whether Scott, when turning to novel-writing, had completely done with Scottish balladry and poetry, which in the Minstrelsy and the verse romances had been conceived of as the essence of the Scottish tradition and history.12 In our attempt to deal with the question of the survival of the poetic muse in the Waverley novels we will focus on quotations from poetry in the form of lyric insertions and epigraphs. II. Lyric Insertion: Terminology The main object of investigation in this study is constituted by passages and snatches of lyric poetry inserted in the flow of the narrative of a novel.13 They are usually marked as distinctive textual elements different in nature from the embedding narrative text. Structurally they are entirely non-narrative, »totally apart from diegesis«.14 If a text of narrative prose is equipped with lyric inserts, the difference between the genres is highlighted. There would be no point in inserting a poem or part of a poem into a non-lyric text, if the specific generic status of the insertion were not perceptible. Words used to denote this phenomenon are in English ›lyric insertion‹, ›lyric insert‹, ›lyric inset‹, in German ›Lyrische Einlage‹.15 Scott’s 11  Margret Fetzer, »The Paradox of Scot(t)land: Authorship, Anonymity and Autobiography in Scott’s Redgauntlet«, ZAA 59.3 (2011), 227–246, quote 227. 12  An important question is how Scott was »historical before historical novels«. Maureen N. McLane, »The Figure Minstrelsy Makes: Poetry and Historicity«, Critical Inquiry 29.3 (2003), 429–452, quote 439. 13  A more comprehensive and wide-ranging treatment of the subject is to be found in Wolfgang G. Müller, »The Lyric Insertion in Fiction and Drama«, in: Eva Müller-Zettelmann, Margarete Rubik (eds.), Theory into Poetry. New Approaches to the Lyric, Amsterdam / New York 2005, 173–187. 14  Jane M. H. Taylor, »The Lyric Insertion: Towards a Functional Model«, in: Keith Busby, Erik Kooper (eds.), Courtly Literature: Culture and Context: Selected Papers from the 5th Triennial Congress of the International Courtly Literature ­Society, 9–16 August 1986, Amsterdam / Philadelphia 1990, 539–548, quote 539. 15  See, for instance, Gottfried Krieger, Gedichteinlagen im englischen Roman, Diss., Univ. of Cologne, 1969.

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use of lyric insertions in his historical narratives has not been given much attention. Moreover the terminology in the few studies dedicated to this topic tends to be unclear. Thus the term ›intertext‹ used in some otherwise valuable studies16 is not adequate, since its meaning is rather loose and was originally connected to Julia Kristeva’s concept of literature as a universe intersected by texts.17 Also the question if lyric insertions can be regarded as a variety of what Gérard Genette18 calls paratext requires a more thorough discussion. The fact that lyric insertions in a narrative text tend to have a deep generic impact is a key to the following analysis of the novels of a writer who had earlier been concerned exclusively with song, balladry and other types of metrical composition. An innovative aspect of this study is the comparison between the use of lyric insertions in Scott’s verse romances and his novels. III. Lyric Insertions in Scott’s Verse Romance The Lady of the Lake and the Novel The Heart of Midlothian So far we have apparently made a case for a strict separation between Scott’s poetry and his prose. We have to acknowledge Scott as a novelist in his own right, who established, with the historical novel, an entirely new genre of fiction in an extraordinary release of creative energy within a relatively short period of time.19 It is on this basis that we can ask the question whether the poetic muse is in any way retained or preserved in his fiction. But before looking at lyric insertion as a crucial element con16  Claire Lamont, »The Poetry of the Early Waverley Novels«, Proceedings of the British Academy 61 (1975), 315–336 and C. M. Jackson-Houlston, »An End of an Old Song? The Paratexts of the Waverley Novels and Reference to Traditional Song«, Working with English: Medieval and Modern Language, Literature and Drama 4.1 (2008), 1–18. 17  See Heinrich F. Plett, »Intertextualities«, in: the same (ed.), Intertextuality, Berlin / New York 1991, 3–29. 18  Gérard Genette, Paratexte: Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt 1989. 19  The Waverley novels, of course, had precursors such as the national historical tale in the manner of Maria Edgeworth’s Castle Rackrent, but attempts to deny Scott the role as the inventor of the genre are hardly convincing. Thus Nemoianu speaks of »the historical novel as revamped and reconstructed by Walter Scott«, but does not produce evidence for his opinion: Nemoianu, »From Historical Narrative«, 527. Much more to the point, in this context, is the following assertion: »Afterwards [after the verse romances], in the course of half a dozen years he [Scott] created, single-handed, a new narrative genre: the historical novel« in: Poggi, »Walter Scott the Novelist«, 347.



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tributing a poetic flavour to the Waverley novels, corresponding phenomena in Scott’s verse romances have to be looked at, an aspect to which criticism has so far not given much attention. For this purpose the above-mentioned work The Lady of the Lake will be referred to as an example. Though equipped with poetic devices such as meter, rhyme and specific sound effects, The Lady of the Lake tells an action-packed, if complicated, pseudo-historical story, dealing with the struggle between the Scottish king and one of the powerful clan chieftains and of rivalry in love. With the romantic story of King James V roaming incognito through the Highlands and falling in love with the daughter of a Highland chief by Loch Katrine, who finds herself the object of the rivalry of a rebellious and a loyal chieftain, and with its wildly romantic scenery (the Trossachs) and its apparently archaic manners of the clans in the sixteenth century,20 Scott had an unprecedented success all over Europe, creating a vision of Scottish culture and inspiring Highland tourism for a long time in the nineteenth century.21 Scott called the text a »poem«, but it is important to realise that the verse romance with its unique combination of narrativity and poeticity is a genre of its own. It is an interesting fact that lyrical passages – poems, ballads and songs, most of them sung aloud – are interspersed throughout Scott’s text. The most conspicuous examples of these are the songs of the chieftain’s enchanting daughter Ellen, whose speaking voice alone is pure music, »Those silver sounds, so soft, so dear« (212), the »mellow notes« of her speech prolonging »the cadence of the flowing song« (216). In his Liederzyklus vom Fräulein vom See, Franz Schubert set the romance’s songs, including the choral songs, to music. The most impressive of them is Ellen’s Ave Maria, which is, however, not identical with the Ave Maria we all know, which Schubert later adapted to the Latin text of the Catholic Ave Maria. If Schubert had gone along with the metrical form of the song in Adam Storck’s German translation of The Lady of the Lake, we would now have a Scottish-German Ave Maria.22 Here is the text of 20  Referring to the boatmen’s song in The Lady of the Lake Simon Dentith says: »So here is a scene indeed full of romantic interest but grounded on a particular historical understanding of clan society, and producing a ›boat song‹ that demonstrates both the romance and the ethnography« in: Dentith, Epic and Empire in Nineteenth-Century Britain, Cambridge 2006, 44. 21  Katherine Haldane Grenier, Tourism and Identity in Scotland, 1770–1914, Aldershot, Burlington 2005 and Nicola J. Watson, The Literary Tourist, Houndmills, Basingstoke / New York 2008. 22  See Walther Dürr, »Übersetzungen vertonter und Vertonungen übersetzter Texte: Mozarts La Finta giardiniera und Schuberts Lieder aus Walter Scotts Fräulein

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Scott’s song sung in the romance by Ellen in the wild landscape of the Highlands, overheard by her hopeless lover, the clan chieftain Roderick Dhu. It is a wonderful adaptation of the originally Latin prayer to Scottish Highland culture: Hymn to the Virgin. Ave Maria! maiden mild! Listen to a maiden’s prayer! Thou canst hear though from the wild, Thou canst save amid despair. Safe may we sleep beneath thy care, Though banish’d, outcast, and reviled; Maiden! hear a maiden’s prayer – Mother, hear a suppliant child! Ave Maria! Ave Maria! undefiled! The flinty couch we now must share Shall seem with down of eider piled, If thy protection hover there. The murky cavern’s heavy air Shall breathe of balm if thou hast smiled; Then, Maiden! hear a maiden’s prayer, Mother, list a suppliant child! Ave Maria! Ave Maria! stainless styled! Foul demons of the earth and air, From this their wonted haunt exiled, Beneath thy guidance reconciled; Hear for a maid a maiden’s prayer, And for a father hear a child!

Ave Maria!

(Canto Third, Section 29, 238–239)

The songs in The Lady of the Lake are no mere lyric additions to a basically narrative work. They must be seen as part of an essentially musical conception of the text. This is revealed already in the introduction to the first canto of the work, in which the narrator presents himself in the role of a minstrel who apostrophises the »Harp of the North«, whose »minstrelsy« had »in ancient days of Caledon« celebrated »knighthood’s dauntless deed,  /  and Beauty’s matchless eye« (206), but which has been am See«, editio 14 (2000), 41–53 and Frauke Reitemeier, »Scott, Sir Walter«, in: Ludwig Finscher (ed.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Vol. 15.2, neubearb. Ausg., Kassel / Stuttgart 2006, 469–472.



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mute for a long time. Now the harp is asked to wake up, even though the poet can offer only »Some feeble echoing of thine earlier lay« (206). Scott’s project is, in this verse tale, a revival of ancient Caledonian culture, which is to be effected by a recreation of the minstrel’s »ardent symphony sublime and high« (206). The songs in The Lady of the Lake, which are more oratorical than operatic, have to be seen in this context.23 They are for two reasons of great interest to the present study. First, they represent examples of lyric insertions in a fictional – albeit strongly poeticised – context. They show a great kinship of Scott’s romance with lyric poetry. His representation of a romantic story is, in this romance, always on the verge of turning into pure lyricism. If Scott’s romance is situated in the borderland between fiction and poetry, it can be said that the ubiquity of lyrical passages and songs tips the scales in favour of poetry. It must be stressed once again that the lyrical quality of the inserted poems in Scott’s verse romance is emphasised by the fact that they are sung. In fact, almost all the characters in The Lady of the Lake emerge as singers at one time in the text, the most important of them being Allan-Bane, a Lowland singer, who accompanies the female protagonist of the work and sings, among other songs, the ballad of Alice Brand.24 Second, if the insertion of poems and songs in The Lady of the Lake, as in Scott’s other metrical romances, is a means of heightening the poeticity and lyricism of the composition, we may assume that the use of poems and poetic passages in his later prose works can be understood as a kind of modified continuation of an artistic procedure he had applied in his earlier works. An impressive testimony to this assumption are the beautiful verses which are put into the mouth of the Highland Ophelia, the vagrant woman Madge Wildfire in The Heart of Midlothian, who turned mad after having been seduced and left by her lover. The ballad Proud Maisie, which she sings on her deathbed, belongs to Scott’s best-known poems: Proud Maisie is in the wood,    Walking so early; Sweet Robin sits on the bush,    Singing so rarely. »Tell me, thou bonny bird,    When shall I marry me?«– »When six braw gentlemen    Kirkward shall carry ye.« * 23  See 24  Cf.

Dentith, Epic and Empire, 43–47. ibid., 44–45.

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»Who makes the bridal bed,    Birdie, say truly?«– »The gray-headed sexton    That delves the grave duly.« * The glowworm o’er grave and stone    Shall light thee steady; The owl from the steeple sing,    »Welcome, proud lady.«25

This is the fragment of a ballad, which, because of the use of the present tense and the absence of physical action, has a strongly lyrical character. Its nature is of paradoxical ambivalence: on the one hand it seems to be entirely in the tradition of the British folk ballad, but on the other it is evidently the result of Scott’s art. Scott was so deeply immersed in folk poetry that at times it is impossible to decide whether a text from his collection in the Minstrelsy is taken from oral tradition or fabricated by the poet. An example would be the ballad The Twa Corbies, which also combines dialogue and a vision of a bleak future, a text to which we will come back later in this study. In the present context it is important that the ballad in The Heart of Midlothian is presented in a mild form of the Scottish dialect as distinct from Madge’s strong accent elsewhere in the novel.26 Putting songs and ballads into the mouth of his characters also has a characterizing function. Singing may accord with mental state, as holds true for the songs of Davie Gellatly in Waverley, »whose mental alienation allows him a measure of vatic status«.27 Interesting evidence for the connection between the inserted poems and songs in Scott’s verse romances and novels is the song of the mad woman Blanche of Devan in The Lady of the Lake, a lowland woman, whose bridegroom was murdered on her wedding day by the men of Clan Alpine, which caused her to lose her reason (246). The ballad Proud Maisie in The Heart of Midlothian and Blanche’s song in The Lady of the Lake, both sung by demented women of a similar fate, are clearly counterparts.

25  Sir

396.

Walter Scott, The Heart of Midlothian, ed. Claire Lamont, Oxford 1999,

26  The different intensity of dialect is highly interesting. Scott may already have thought of a later ›utilization‹ of the ballad, which, in fact, came to regularly appear in poetry anthologies. It is even maintained that the ballad became part of the folk-ballad tradition. See Peter-Jürgen Rekowski, Die Erzählhaltung in den historischen Romanen von Walter Scott und Charles Dickens, Frankfurt a. M. 1975, 26. 27  Jackson-Houlston, »An End of an Old Song«, 5.



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The inserts in the verse romance The Lady of the Lake and the poems in the novel are distinctly marked as insertions. In The Lady of the Lake they are characterised as such by titles such as »Hymn«, »Song« or »Ballad«. This is necessary in the genre because as a consequence of the general composition of the romance in verse, insertions have to be specially marked, while the layout of the novel highlights the difference between prose and verse more clearly. As far as Madge’s poems in The Heart of Midlothian are concerned, there are connections between them and the embedding text. The novel’s protagonist Jeanie Deans is deeply affected by the unhappy fate of the mad woman, who is in many ways connected with the novel’s plot. Of course, it is one of the functions of such poetic insertions to evoke the tradition of Scottish folklore. This tradition was immensely important to Scott. But the lyric insertions simultaneously serve the purpose of giving his prose works, which are basically realistically conceived historical novels, a romantic varnish or flavour, providing, at times, even moments of poetic intensity.28

IV. Evocation and Subversion of Romantic Feelings by Lyric Insertions in Waverley Earlier we said that before going into the romanticizing features of the Waverley novels, we have to accept these works for what they fundamentally are, namely realistically conceived historical novels. A look at the first of the series, Waverley,29 particularly at its use of verse insertions, can show that this opening work of the series is to some extent Scott’s swansong on his romantic period. To use Hegel’s terms, the conflict between the poetry of the heart and the opposed prose of the existing conditions (»die Poesie des Herzens und die Prosa der bestehenden Verhältnisse«) has been solved in the novel’s plot in favour of the latter.30 Since this topic has 28  The importance and significance of Scott’s reference to the ballad tradition in The Heart of Midlothian is not recognised by Poggi, who speaks of Scott’s »indulg[ing] in the pathetic (the interesting madwoman Madge Wildfire dies singing, like a swan or like a character in an opera)« in: Poggie, Walter Scott, 352. 29  Sir Walter Scott, Waverley, ed. Andrew Hook, London 1988. All quotations are taken from this edition and all page numbers are given in the text in brackets after the quotations. 30  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen zur Ästhetik, ed. Friedrich Bassenge, Vol. 1, Frankfurt a. M. undated, 567 f. See also Christoph Reinfandt, Englische Romantik. Eine Einführung, Berlin 2008, 150.

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been dealt with elsewhere,31 our approach will be quite brief and focussed. The novel’s protagonist, Waverley, a young English nobleman, is a reader and dreamer, a kind of romantic Don Quixote. As he travels to Scotland he finds himself confronted with a landscape and people who seem to fully correspond to his romantic expectations. The clan chieftain Fergus appears to him as the embodiment of the true heroic spirit of the Highlanders, while Fergus is in reality a clever and ambitious politician, a kind of Highland Machiavelli. Waverley idolises Fergus’ sister Flora as a Highland Muse, the ideal person for him to fall in love with. The two, Fergus and Flora, exploit his romantic enthusiasm, in order to bind him to the Scottish cause. It is above all Fergus who realises the propagandistic value of Waverley’s change to the Scottish fight for the Stuart dynasty. After all, Waverley is a young nobleman of one of the best English families. Fergus is aware of the social and economic advantages to be gained from a connection of his sister and Waverley. So calculation is involved when Fergus encourages Flora to introduce Waverley to Gaelic (Celtic) poetry.32 A climax of romantic feeling is reached in a picturesque scene by a waterfall, when Flora Mac-Ivor sings, accompanying herself on the harp, a patriotic Highland air in English translation to the novel’s English protagonist, which causes »wild feelings of romantic delight« to amount »almost to a sense of pain« (177–178). On the level of the novel’s fiction we have to take the existence of the poet Mac-Murrough and Flora’s singing his songs for granted. But on the authorial level her song is certainly a forgery and the supposed translation from a supposed Celtic original a parallel to Macpherson’s forged translation of Ossian’s Celtic epic poetry. A little earlier there is even an allusion to the sensation created by James Macpherson’s forgery, when Flora says of Mac-Murrough’s poems that »if they are ever translated into any of the languages of civilized Europe, cannot fail to produce a deep and general sensation« (173). The singing of the war songs of MacMurrough is designed by Fergus and Flora to entice Waverley into Celtic culture, which was in the pre-Romantic and Romantic periods regarded as the essence of the world of the Scottish Highlands. To characterise Scott’s procedure in this chapter as forgery is too simple, 31  Wolfgang G. Müller, »Romantische und realistische Gestaltungselemente in Sir Walter Scotts Waverley«, in: Rüdiger Ahrens, Fritz-Wilhelm Neumann (eds.), Fiktion und Geschichte in der anglo-amerikanischen Literatur, Festschrift für HeinzJoachim Müllenbrock zum 60. Geburtstag, Heidelberg 1998, 201–218. 32  For »the cultural formation of Scottish identity generated in Scott’s recuperation of the Celtic and Gaelic past« see George Watson, »Aspects of Celticism«, in: Liam McIlvanney, Ray Ryan (eds.), Ireland and Scotland: Culture and Society, 1700– 2000, Dublin 2005, 129–143, quote 135.



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because the whole scene is pervaded by irony, as Fergus’ explanation of the lack of comprehension on the part of Waverley indicates, who does not understand Gaelic, and on the part of the poet MacMurrough, who does not understand the English of the translation: I must tell you [Flora] that Captain Waverley is a worshipper of the Celtic muse; not the less so perhaps that he does not understand a word of her language. I have told him that you are eminent as a translator of Highland poetry, and that MacMurrough admires your version of his songs on the same prinicipal [sic] that Captain Waverley admires the original, – because he does not comprehend them. (171–172)

Emphasis is here on the strangeness and otherness of the cultures that are confronted, which is already apparent at the level of language. Irony resides in the assertion that incomprehension of the language does not prevent Waverley from worshipping »the Celtic muse«. He is a willing victim of Fergus and Flora’s manipulation. He surrenders entirely to the magic of the situation. The representation of Flora’s song as a lyric insertion in the text seems to be a repetition of a pattern known from Scott’s verse romance. It is characteristic of the romance as a genre that an intense emotional moment coincides with a lyric insertion or – to be more precise – the protagonist’s reception of a song. Exactly this seems to happen in the novel. It is highly interesting that Flora, who is responsible for the excess of emotions in Waverley, provides a kind of disillusionment after the arrival on the scene of her brother, the clan-chief Fergus Mac-Ivor. She now quotes English verses ridiculing the Scottish clans which were referred to in her song: »Our bootless host of high-born beggars,  /  MacLeans, Mac-Kenzies, and Mac-Gregors« (180). A romanticising lyric insertion is here countered by a satirical insertion, which contributes a realistic element to the scene by evoking a negative image of the Highland clans. Waverley, who is entirely enchanted, does not understand Flora’s irony, which will, however, not evade the reader. Another interplay of a romantic lyric insertion and a subversive realistic insertion is to be found at the beginning of Chapter 28, where the above-mentioned Davie Gellatly arrives at Fergus’ seat in the Highlands, delivering a letter from Rose Bradwardine to Edward Waverley, who is about to lose his heart to Flora Mac-Ivor. A quatrain starting with the words »My Heart’s in the Highlands«, which seems to refer to the protagonist’s passion for Flora, is followed by a quatrain in strong Scottish dialect from another song, which is »caustically satirical about highland poverty«,33 starting with the lines »There’s nought in the highlands but 33  Jackson-Houlston,

»An End of an Old Song«, 5.

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syboes [spring onions] and leeks  /  And lang-leggit callants [striplings] gaun wanting the breeks« (218). It is a significant fact, to which we will have to return later, that Scott attributes to each of these two quotations an ancient origin in a footnote, the first one forming »the burden of an old song to which Burns wrote additional verses«, the second one »also ancient […] to which Burns likewise wrote some verses« (218). To come back to the scene by the waterfall, a more fundamental irony is constituted by the fact that Fergus and his sister stage the whole romantic episode – with Flora’s recital of a song as its centre – as a bait for Waverley. Thus the romanticism of the novel is subverted in another way. This must be seen in the context of the novel’s whole plot. Its protagonist has to undergo a painful process of recognizing the folly of his romantic imagination and gaining a clear view of reality. Comparing the lyric insertions or songs in Waverley with those in the verse romances, we have to realise that in the Waverley novels Scott took a decided departure from the poetic genre which had brought him so much success and fame. This is also reflected in the role and extent of the poetic passages in the novel. In the Waverley novels lyric insertions may also contain satiric quotations which belie the narrative’s romantic scenes. V. Lyric Insertions and Other Poetic Elements in The Bride of Lammermoor: A Case Study As to the use of poetic elements, The Bride of Lammermoor shares two features with all the other works of the series, features which are highlighted in the printed text by their deviation from the text’s prose printing: first, a great number of the explicitly poetic quotations appear in the ­epigraphs of the individual chapters, a variety of what Genette calls the paratext, and, second, many of the lyric insertions within the narrative are characterised as poems or parts of poems by their printed form, which retains the structure of verse. Additionally, there are quotations of phrases and lines from poems integrated into the prose text. It is necessary to make a distinction between epigraphs and insertions. Epigraphs following the numbers or titles of chapters have to be recognised as paratextual ­elements.34 As a rule, the authority responsible for the use of chapter epigraphs is not the novel’s narrator figure, be it a first-person narrator or 34  See Genette’s definitive treatment of the topic. A shortcoming of his work is that he does not distinguish clearly between epigraphs preceding novels as a whole and those preceding chapters.



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an authorial (omniscient) narrator, but the author. Usually, the epigraph of a chapter is an allograph. Although it is quoted by the author, it is not of the author’s own making, but a quotation from another writer or source, a source which may be identified by the name of an author or a work or remain unidentified. However, Scott tends to smuggle in epigraphs of his own making, as we shall see. A chapter epigraph can have various functions.35 It may, for instance, prepare the reader’s attention for and provide comment on the following chapter. Since the epigraphs are usually taken from literature, they may also evoke a certain literary or cultural context, which may be, and in Scott’s case frequently is, of a poetic character. By way of contrast insertions are quotations as parts of the main text. Even when marked off by lay-out and printing, they are integral parts of the main text. This is shown already in a simple grammatical way when the insertions are presented as quotations uttered by characters of the novel (in the manner of »she / he sang …«, »she / he quoted the following lines …«, »she / he remembered the poem …«) or by the narrator. In Scott’s novels both chapter epigraphs and insertions can be of a poetic character and thus be used in order to add a poetic component to the narrative. When examining quotations from literature and poetry in Scott’s novels, one should be aware of whether they occur in epigraphs or insertions, because there may be profound differences in function as far as the type of quotation is concerned. Before looking at the text of The Bride of Lammermoor, it must be conceded that the novel is not entirely representative of the Waverley novels as a whole. Although the work is undoubtedly a historical novel and Scott claimed that the story was based on an actual incident, the text comes quite close to the genre of the romance. Here are the basic facts of the plot. The novel tells the story of the tragic love of Lucy Ashton and Edgar Ravenswood who belong to two families at enmity. Ravenswood, whose father lost his title for supporting the deposed King James II, wants to take revenge on the Ashtons for having usurped his family estate, but renounces his plans of vengeance after falling in love with Lucy. Their love is however thwarted by the intrigues of the haughty Lady Ashton. The romantic plot is enhanced by poetic passages, more so than in most of the other works of the series. If poeticizing effects are to be investigated in The Bride of Lammermoor, the epigraphs cannot be excluded, because a considerable number of them have lyric qualities. Thus some brief remarks on the epigraphs 35  See

Genette, Paratexte, 141–156.

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have to be made for the sake of our argument.36 The epigraphs in The Bride are taken from various sources: medieval texts (Chaucer), Renaissance romance and drama (Spenser, Shakespeare), Jacobean drama (Massinger, Beaumont / Fletcher), seventeenth-century poetry (Waller), and pre-Romantic and Romantic poetry (Mackenzie, Crabbe, Southey, Wordsworth, Coleridge and Joanna Baillie). Particularly frequent are Scottish poems and ballads. In Chapter 7 there is an epigraph taken from an »old ballad«, which is in fact a quote from Scott’s Minstrelsy of the Scottish Border (Graeme and Bewick). Scott does not reveal his own collection of ballads as the source from which he took the quote for three reasons. First, he obviously wants to conceal his own role as a collector of balladry and, second, he wants the quotes to look ancient. What is even more interesting is the fact that there are quotations marked »Anonymous«, which are not traceable. These are usually of Scott’s own making. Disguising their origins also serves Scott in a third way: it helps to foster the illusion of a particular mode of historical writing in which the author is not so much a creator but rather an editor who draws on primary historical sources.37 This particular pose of the author and the resulting apparent fusion of fiction and historical fact may well be one reason for the popularity of Scott’s novels among his contemporaries, as Hazlitt has observed. We quote the critic’s relevant passage in its entirety, because it wonderfully wavers between admiration and irony: Sir Walter has found out (oh, rare discovery) that facts are better than fiction; that there is no romance like the romance of real life; and that if we can but arrive at what men feel, do, and say in striking and singular situations, the result will be ›more lively, audible, and full of vent,‹ than the fine-spun cobwebs of the brain. With reverence be it spoken, he is like the man who having to imitate the squeaking of a pig upon the stage, brought the animal under his coat with him. Our author has conjured up the actual people he has to deal with, or as much as he could get of them, in ›their habits as they lived.‹ He has ransacked old chronicles, and poured the contents upon his page; he has squeezed out musty records; he has consulted wayfaring pilgrims, bed-rid sibyls; he has invoked the spirits of the air; he has conversed with the living and the dead, and let them tell their story their own way; and by borrowing of others, has enriched his own genius with everlasting variety, truth, and freedom. He has taken his materials from the orig36  There are some important studies on the subject, for instance Dieter A. Berger, » ›Damn the Mottoe‹. Scott and the Epigraph«, Anglia 100 (1982), 273–296 and Jackson-Houlston, »An End of an Old Song«, who looks at the epigraphs in the context of Scott’s use of paratexts. 37  See Ina Ferris, »Story-Telling and the Subversion of Literary Form in Walter Scott’s Fiction«, in: Harry E. Shaw (ed.), Critical Essays on Sir Walter Scott: The Waverley Novels, New York 1996, 98–108.



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inal, authentic sources, in large concrete masses, and not tampered with or too much frittered them away. He is only the amanuensis of truth and history.38

It seems that through concealing the attribution of some of the lyrical insets Scott tried to strengthen his novels’ claims to authenticity and unvarying truth usually reserved for non-fictional historiography. Occasionally, Scott even transfers this fictitious mode of editorial collecting from his attributions or notes into the narrative itself. One example would be The Antiquary, where Mr Oldbuck is keen to note down old Elspeth’s rendering of two ballads.39 Another example is the already mentioned Proud Maisie, of which »only a fragment or two could be collected by those who listened«.40 In both cases Scott deliberately styles the lyric insets, which are either completely or at least partly his own work, as authentic historic material collected from the mouths of those who preserved them through performance. On the other hand, some quotations with names affixed to them are of Scott’s invention as well. In the introduction to Chronicles of the Canongate (First Series) Scott confessed his practice of forging quotations in his epigraphs: The scraps of poetry which have been in most cases tacked to the beginning of chapters in these Novels are sometimes quoted either from reading or from memory, but, in the general case, are pure invention. I found it too troublesome to turn to the collection of the British Poets to discover apposite mottoes, and, in the situation of the theatrical mechanist, who, when the white paper which represented his shower of snow was exhausted, continued the storm by snowing brown, I drew on my memory as long as I could, and when that failed, eked it out with invention. I believe that in some cases, where actual names are affixed to the supposed quotations, it would be to little purpose to seek them in the works of the authors referred to. In some cases I have been entertained when Dr. Watts and other graver authors have been ransacked in vain for stanzas for which the novelist alone was responsible.41

The epigraphs, although belonging to the paratext, are an important part of Scott’s art. They are used to foreshadow action, situation and moods, and they provide indirect comment on the characters.42 Scott’s 38  William Hazlitt, The Spirit of the Age, Or, Contemporary Portraits, London 1825, 133–134. 39  See Lamont, »The Poetry«, 322–323. 40  Scott, The Heart of Midlothian, ed. Lamont, 396. 41  Sir Walter Scott, »Introduction«, in: the same, Chronicles of the Canongate, Vol. I, Edinburgh 1827, i-xxviii, quote xxi-xxii. 42  »Scott’s use of epigraphs to anticipate the action and to provide tangential comments on characters and situations was more systematic than had been known be-

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epigraphs are more or less mottoes to what happens in the ensuing chapter and, at times, they are strongly interrelated with events narrated in the chapter. As distinct from the »argument« – a summary of the events at the beginning of a chapter –, which the eighteenth-century novel favoured, the epigraph is a kind of appetiser, a poetic device enticing the reader into the mood and situation of the chapter. The epigraph to Chapter 20 of The Bride of Lammermoor is a good example. It is adapted from Wordsworth’s Poems on the Naming of Places, IV. Here are Wordsworth’s and Scott’s versions: Plant lovelier, in its own retired abode On Grasmere’s beach, than Naiad by the side Of Grecian brook, Lady of the Mere, Sole-sitting by the shores of old romance. (Wordsworth)43 Lovelier in her own retired abode ------- than Naiad by the side Of Grecian brook --- or Lady of the Mere, Lone sitting by the shores of old romance. (Scott, 204)

Scott deletes the word »Plant«, which refers to the fern named »Queen Osmunda«, and he evokes the presence of a human by substituting for the impersonal pronoun »its« the personal pronoun »her«. He also deletes the English place-name »Grasmere« which would not fit the Scottish scene, and the compound participle »Sole-sitting« is replaced by the /  phrases more affective »Lone sitting«. What he retains are the words  »Naiad« and »Lady of the Mere« because they connect with »Mermaiden’s Fountain« as the location where the two lovers meet in the chapter. This is – together with the evocative phrase »the shores of old romance« – probably the most important connection between the quoted and the quoting text. How well the epigraph and the ensuing chapter are interrelated is shown in Lucy’s comment on the beauty and folkloristic magic of the fountain: I like this spot, […] the bubbling murmur of the clear fountain, the waving of the trees, the profusion of grass and wild-flowers, that rise among the ruins, make it like a scene in romance. I think, too, I have heard it is a spot connected with legendary lore which I love so well. (206)

The poetry of the epigraph – Wordsworth adapted by Scott – is here the starting-point for a lyrical passage in the chapter. fore, and widely influential«: Editorial note in Robertson (ed.), The Bride of Lammermoor, 411. 43  William Wordsworth, The Poetical Works of William Wordsworth, ed. E. de Selincourt, Vol. II, Second Edition, Oxford 1969, 116 ll. 35–38.



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Scott’s use of poetic quotations within the text of the novel is in some ways analogous to that of the epigraphs. We will comment on a few exemplary instances. It is noteworthy that there are again poems or parts of poems inserted into the text which indubitably come from Scott’s pen, without the writer acknowledging his authorship. This is the case in the lyrical highlight which occurs in the third chapter, when Lucy Ashton, the female protagonist of the novel, is introduced. The lyricism of the passage is emphasised by the fact that Lucy is first presented as singing »an ancient air, to which ›some one‹ had adapted the following words«: »Look not thou on beauty’s charming, – Sit thou still when kings are arming, – Taste not when the wine-cup glistens, – Speak not when the people listens, – Stop thine ear against the singer, – From the red gold keep thy finger, – Vacant heart, and hand, and eye, – Easy live and quiet die.« (39)

The unknown poet (»some one«) who is supposed to have written the words to the melody is, of course, Scott himself. In his newly chosen role as a historical novelist he obviously does not wish to appear as a writer of lyric verse. There is fictional irony when the narrator, then, notes that »the words she had chosen seemed particularly adapted to her character […]«. It is Scott who has written the verse lines adapted to Lucy’s character. This poem, as many others from the Waverley novels, is included in the above-mentioned edition of Scott’s poetry as well as in Arthur Quiller-Couch’s Oxford Book of English Verse. The evocation of Lucy Ashton’s character as a singer of poetic songs and the description of her person in lyrical prose is, in aesthetical terms, one of the outstanding instances of the phenomenon that novelists may present poetry in narrative fiction. At the same time the poetic intensity of the passage in question is well adapted to Lucy as a reader who immerses herself in romantic literature and creates her own fantasy world, identifying with the protagonists she is reading about. In this respect she is a female equivalent of Waverley, the protagonist of Scott’s first novel. In contrast to Waverley, though, the treatment of her character remains free of irony. Another, still more intriguing example of a poetic insertion used to illustrate character and gender differences is to be found in Chapter 21, where the narrator deals with the complexity of the lovers’ relationship, relating the growth of their attachment but also the consciousness of their temperamental differences. Ravenswood reflects on Lucy’s »soft and flexible character«, thinking that »his own temper required a partner of a

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more independent spirit«, yet he realises that her feminine »softness of a mind, amounting almost to feebleness, rendered her even dearer to him« (216). It is worth noting that Scott uses a quotation from »our immortal Joanna Baillie« to describe Ravenswood’s feeling for Lucy: »__________ Thou sweetest thing, That e’er did fix its lightly-fibred sprays To the rude rock, ah! wouldst thou cling to me? Rough and storm-worn I am – yet love me as Thou truly dost, I will love thee again With true and honest heart, though all unmeet To be the mate of such sweet gentleness.« (216)44

This quotation is taken from a verse drama, but it is entirely lyrical in style. In view of the fact that Ravenswood is not at all a poetically-minded character, it is curious for Scott to describe the lover’s feelings with the help of an intensely lyrical quotation. The quotation has, perhaps, a compensatory function. It may be designed to make up for what the male protagonist of the novel lacks.45 Or its function may just be to poeticise a passage which belongs to the central parts of the novel’s love plot. That the quotation is fully integrated into the chapter’s argument is shown in the narrator’s comment immediately after the lyrical insert: »Thus the very points in which they differed, seemed, in some measure, to ensure the continuance of their mutual affection«. A decisive moment in the plot of the novel is marked by a quotation of a prophecy attributed to the thirteenth-century Scottish poet and prophet Thomas of Ercildoune, also known as »Thomas the Rhymer«. When Ravenswood is about to leave his estate, Wolf’s Crag, to ride to the seat of his family, now in possession of his enemy William Ashton, his old faithful servant Caleb Balderstone warns him of the danger he is courting by quoting prophetic lines, which »Thomas the Rhymer, whose tongue couldna be fause«, had spoken of his house: When the last Laird of Ravenswood to Ravenswood shall ride, And woo a dead maiden to be his bride, He shall stable his steed in the Kelpie’s flow, And his name shall be lost for evermoe! (185) 44  Joanna Baillie, Constantine Paleologus; or the Last of the Caesars: a Tragedy, II.2. 54–60. Quoted from Robertson (ed.), The Bride of Lammermoor, 423, note 216. 45  It is interesting that a half page later Ravenswood criticises Lucy for the poetry in the expression of her feelings – »This is poetry, Lucy […] and in poetry there is always fallacy, and sometimes fiction« – whereupon Lucy makes an effort to speak »honest« prose. The opposition male-female seems to correspond to the opposition prose-poetry.



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It is utterly implausible and historically impossible that a medieval Scottish poet like Thomas of Ercildoune should have made a prophetic pronouncement on the fate of the protagonist in Scott’s novel. The lines are evidently Scott’s and they are printed in the edition of Scott’s Poetical Works (775). But this fact does not detract from their ominous character and evocative force. Scott was familiar with Thomas of Ercildoune – he comments on him, for instance in the Minstrelsy of the Scottish Border, and was aware of the power and authenticity of his prophecies. So he capitalises on his name and the fame of the medieval poet in order to increase the power of the prophecy in his own text. Later in the novel the female protagonist is also confronted by the prophecy »concerning the dead bride, who was to be won by the last of the Ravenswoods« (312). And the prophecy »that the Lord of Ravenswood should perish on the Kelpie’s Flow« (347) is also fulfilled by the end of the novel’s protagonist. Thus the lyrical inset has in this case an important function with regard to the plot of the novel and its mood, which is to a great extent dominated by omens, legends and folklore. VI. The Problem of Authorship in Scott’s Dealing with Balladry: An Example from Minstrelsy of the Scottish Border Since we have in the course of our argument touched on the problem of authorship which emerges in Scott’s predilection for quoting from the popular tradition in epigraphs and poetic insertions in his novels, a glance at his treatment of traditional material in his Minstrelsy of the Scottish Border may be revealing. Our approach may be felt provocative and may annoy some lovers of Scott as a ballad editor, but we hope that there will be no doubt that the authors of this article have the highest respect for Scott’s achievement in everything he did in his astonishing career as translator, antiquarian editor and writer of romances and novels. As an example of Scott’s work in the Minstrelsy, his version of the English ballad The Three Ravens will be examined here.46 Before entering into a discussion of the English text and its Scottish counterpart in the Minstrelsy, it must be noted that textual analysis unfortunately tends to be absent from most studies of the problem of the authorship of Scott’s texts. In the frame of the present study we can only deal with one text, in order to describe Scott’s handling of balladry. 46  For the origin and textual history of this ballad see Wolfgang Schmidt-Hidding, Elisabeth Bouillon, English and Scottish Popular Ballads, Frankfurt a. M. / Berlin / München 1969, 51–52.

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The English ballad of the three ravens presents three birds sitting on a tree: »There were three rauens sat on a tree«.47 Two of them speak. They want to eat a slain knight. This opening of the ballad points back to a mythic Germanic world in which ravens, together with wolves, used to feed on the dead bodies after a battle. Such an event is here prevented by the fact that the knight is protected by his shield and guarded by dogs and falcons, animals traditionally associated with chivalry. The real action starts in stanza 6 after the dialogue of the ravens. A pregnant hind comes down into the valley, lifts the head of the knight, kisses his red wounds, heaves him onto her back and carries him to a pit, where she buries him at the time of early prayer (»prime«). Before »even-song« she is dead herself: »She buried him before the prime,  /  She was dead herselfe ere euen-song time«. The Christian-chivalric attitude expressed in the ballad is reinforced by the concluding prayer to God: »God send euery gentleman,  /  Such haukes, such hounds, and such a leman«. This Christian note is actually alien to British balladry, so that it is no wonder that in Scotland a sombre version of this ballad arose, The Twa Corbies, which Walter Scott published in Minstrelsy of the Scottish Border in 1803. Quoting Scott, the great American ballad collector Francis James Child calls it not a version but »a cynical variation of the tender little English ballad«.48 While the introduction to the situation is effected by the dialogue of the ravens in the English ballad, there is a brief occurrence of a first-person narrator at the Scottish ballad’s beginning, who listens to the dialogue of the ravens. The whole ballad, then, consists of the ravens’ speech. This means that the perspective of the birds of prey dominates the ballad. Accordingly, the Christian-chivalric dimension disappears from the poem: Man and animals follow their primitive instincts. The dog and the falcon go hunting. The woman has taken a new lover. The ravens picture in drastic words how they will plunder the dead knight. One will sit on his collarbone and feast on his nape. The other one will hack out his blue eyes. They will build their nest with his golden hair. The ballad ends on an apocalyptic vision. Nobody will know the knight’s abode. The wind will blow over his bleached bones:

47  Quoted from The English and Scottish Popular Ballads, ed. Francis James Child, Vol. I, Boston 1880, 254. 48  Ibid., 253. This statement goes back to Scott: »It is a singular circumstance, that it [›The Twa Corbies‹] should coincide so very nearly with the ancient dirge, called ›The Three Ravens‹, published by Mr. Ritson, in his Ancient Songs; and that, at the same time, there should exist such a difference, as to make the one rather a counterpart than copy of the other«; Sir Walter Scott, Minstrelsy of the Scottish Border, ed. T. F. Henderson, Vol. II, Edinburgh / London / New York 1902, 414.



The Survival of the Poetic Muse

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»Mony a one for him makes mane, But nane sall ken where he is gane; Oer his white banes, when they are bare, The wind sall blaw for evermair.«49

It is the present writers’ opinion that the text of The Twa Corbies, of which there is no printed version before Minstrelsy of the Scottish Border, is to a large extent of Scott’s own making. A detailed discussion of this problem would require a separate article. To concentrate on one point, it is simply impossible for the just-quoted last four lines of the poem to come from oral tradition. There is nothing in the whole corpus of ballads collected by Francis Child that is comparable to the evocativeness of landscape in this poem. The sombreness and wildness of the scenery is related to the pessimistic world picture of the ballad. This description recalls the depiction of landscape in James Macpherson’s Ossian, a great literary forgery which took all Europe by storm in the pre-Romantic period. Here is at least one similar passage from Macpherson’s poetry, The sons of Usnoth fell in blood. They fell like three young oaks, which stood alone on the hill: The traveller saw the lovely trees, and wondered how they grew so lonely: the blast of the desert came, by night, and laid their green heads low: Next day he returned: but they were withered, and the heath was bare!50

The parallel between the passage from Macpherson’s forged text and the stanza from the ballad in the Minstrelsy shows Scott in a revealing company. He obviously wanted to make his poem look as Scottish or, rather, Celtic as possible. In his edition of the Minstrelsy of the Scottish Border, Scott indicated that The Twa Corbies was »communicated [to him] by C. K. Sharpe, as written down from tradition by a lady«.51 There is no reason to doubt this statement and to assume the ballad to be Scott’s free invention, but the editor obviously worked on it. The whole extant corpus of British folk balladry can be ransacked without procuring something like the last stanza of Scott’s text. Scott himself denies that The Twa Corbies is in the tradition of The Three Ravens. He regards it rather as »a counterpart than a copy of the other«.52 Also the change of the title from The 49  Quoted 50  Quoted

404.

from English and Scottish Popular Ballads, ed. Child, 253. from Malcolm Laing, The Poems of Ossian, Vol. I, Edinburgh 1805,

51  English and Scottish Popular Ballads, ed. Child, Vol. I, 253. Scott’s statement runs: »This poem was communicated to me by Charles Kirkpatrick, Esq., jun. of Hoddon, as written down, from tradition, by a lady« (Minstrelsy, ed. Henderson, Vol. II, 414.). 52  Ibid.

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Three Ravens to The Twa Corbies with the substitution of the Scottish for the English bird name and the elimination of the inconsistency of the English ballad which refers to three ravens, but has only two birds as speakers, implies a deliberate decision on the part of an individual author and not a result of (oral) tradition. In so far Scott’s editorial practice may partly be in line with what the great ballad collector Joseph Ritson said on Scottish poetry in 1794, namely that it »exhibits a series of fraud, forgery, and imposture practised with impunity and success«.53 Scott himself admitted that »literary forgeries have been but too often and too justly imputed to the Scottish antiquaries«.54 There are grounds for assuming that in Minstrelsy of the Scottish Border Scott may himself have at times tampered with the material he discovered or that was submitted to him. As far as The Twa Corbies is concerned, antiquarians and folklorists may take issue with Scott’s practice, but there is no doubt that Scott’s poem is one of the great British ballads, although or, perhaps, just because it is not quite folk. Additionally, it has always been a problem for a poetically versed collector and editor to be confronted with incomplete and corrupted versions. Would a creative editor not be tempted and perhaps be justified to restore and improve a fragmentary and incomplete text? Looking at the ballad under discussion exclusively in terms of fakery would neglect Scott’s poetic achievement. For an evaluation of Scott’s insertion of pseudo-traditional poems and ballads in his novels it is important to realise that in doing so he continued to apply a method that had not been unknown to him. As far as Minstrelsy of the Scottish Border is concerned, a thorough text-based investigation of his editorial practice is a desideratum.55 VII. Results The comparison between the use of lyrical elements in Scott’s verse romances and in his historical novels proves to be enlightening. In romance as a genre of its own, which is suspended between narrative and poetry, the inserted poems, which are invariably sung, increase the lyricism and musicality of the composition. The inserted songs and ballads 53  Joseph Ritson, Scottish Songs, Vol. I, Glasgow 1869, 67. Quoted in Russett, Fictions and Fakes, 155. 54  Letter to R. Cleator. Quoted in Davis, Acts of Union, 145. 55  It is to be hoped that Sigrid Rieuwert’s »Walter Scott Minstrelsy Project«, a joint project run by the Johannes Gutenberg University Mainz and the University of Edinburgh, will provide a remedy for this dissatisfactory situation.



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tend to coincide with emotional climaxes in the text. It is interesting that in the metrical romances Scott pushes narrative fiction to an extreme of lyrical expression, so much so that the change to narrative prose in the Waverley novels comes all the more surprising. The novels are conceived as realistic historical novels. Yet Scott looks back to his earlier career as a poet and ballad-collector by inserting poems, songs, and ballads into the prose text. In doing so, he produces remarkable effects, some of which belong to the aesthetic highlights of the novels, for instance the insertion of the ballad Proud Maisie into the prose text of The Heart of Midlothian. However, it has been shown that a purely aesthetic approach is not sufficient to explain the generic and cultural significance of the poeticizing or romanticizing elements in the Waverley novels. There is, for instance, the interesting phenomenon to be noticed that Scott tends to conceal his own hand in the poetic insets as well as in the epigraphs, which corresponds at a higher level with his concealing his authorship of the Waverley novels for a long time. Although epigraphs are paratexts in which the writer usually does not quote himself, Scott smuggles in epigraphs of his own making, marking them as »anonymous«, »old ballad« or »old poem«. Also, in the main text of the Waverley novels he tries to avoid the impression that the narrator might be the author of inserted poems and songs. The self-image he wants to create is that of a historical novelist and not of a lyric poet, and it belongs to his project as a historical novelist to preserve as much of the culture of the past, including ancient songs, ballads and legends.56 Quoting verse texts from the past was part of the historical project. Scott saw Scottish culture on the decline, and he wanted to save as much of the literary heritage as he could. So much was he concerned with saving the tradition of Scottish literature that he, who was immersed in the literary tradition of Scotland to a greater extent than most, also took to fabricating ancient-looking epigraphs and insertions himself at the risk of turning folklore to fakelore.57 This rather mild practice of faking recalls the large-scale literary forgeries of pre-Romantic poets such as Thomas Chatterton and James Macpherson, whose medievalism made them cherish ›ancient‹ manuscripts more than individual creation. 56  Another extremely important aspect of Scott’s attempt to recover the past, with which we were not concerned in this article, is represented by the prose paratexts (prefaces, introductions, appendices, notes, afterwords etc.). 57  These terms are taken from Jack Truton, »Folklore and Fakelore: Narrative Construction and Deconstruction in the Scottish Novels of Sir Walter Scott«, in: J. H. Alexander, David Hewitt (eds.), Scott in Carnival: Selected Papers from the Fourth International Scott Conference, Edinburgh 1991, Aberdeen 1993, 122–132.

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As far as the history of literature is concerned, Scott’s career mirrors the whole period from the Age of Early Romanticism to Realism, or, to put it another way, from poetry to prose. The opposition of poetry and prose may seem and in fact is crude, but Scott himself believed that the Scottish highlands were originally the country of poetry. So he had to give poetry its due in prose narratives which dealt with the past. In the introduction to the edition of the verse tale The Lady of the Lake of the year 1830, he says, The ancient manners, the habits and customs of the aboriginal race by whom the Highlands of Scotland were inhabited, has always appeared to me peculiarly adapted to poetry. The change, in their manners, too, had taken place almost within my own time, or at least I had learned many particulars concerning the ancient state of the Highlands from old men of the last generation. I had always thought the old Scottish Gael highly adapted for poetical composition.58

Although the Waverley novels are to a great extent set in Scotland and conjure up the past of the country, they relinquish verse as the primary medium of composition. The use of narrative prose as a medium of dealing with history marks a new departure, a decisive step in a new direction, an innovation not only for British literature. Yet as innovative as Scott’s novels are, his Waverley series does not yet represent fully realised realistic novels, for the romantic heritage is, in a perceptible measure, still present. This holds true for the plots of the novels, which in addition to historical events are derived from legends and tales of the Highlands, but the romantic and poetic element is most conspicuous in lyrical insertions and in passages written in poetic prose. The age-old controversy whether the Waverley novels are novels or romances cannot be taken up here.59 But if they are novels, as we believe they are, they contain moments of poetical intensity, even though Scott tends to deny authorship of the lyric inserts which are basically responsible for the poetic effects. To sum up, the poetic muse is to some extent preserved in the Waverley novels, serving both text-intrinsic purposes through their various semantic and aesthetic functions as well as Scott’s overall project of historical writing, for which history is not only constituted by facts and events, but also by the tradition of legends, ballads and songs.

Poetical Works, 274. Müller, »Romantische und realistische Gestaltungselemente«.

58  Scott, 59  See

Eugène Delacroix: vom peintre écrivant zum peintre écrivain Von Sylvia Schreiber Que je voudrais être poète! Tout me serait inspiration ….1

Neben einem bedeutenden künstlerischen Werk, das in Museen und vielen öffentlichen Gebäuden zu finden ist, hinterlässt der französische Maler Eugène Delacroix auch ein wertvolles schriftliches Erbe. Das umfangreiche Tagebuch, der reichhaltige Briefwechsel,2 zahlreiche kunsttheoretische und kunstkritische Reflexionen, die erst spät entdeckten Souvenirs d’un voyage dans le Maroc,3 unzählige Notizen in kleinen Heftchen oder auf losen Blättern weisen ihn als eifrig schreibenden Maler aus, der sich einer fächerübergreifenden Betrachtung öffnet. Die exzellente wissen1  Eugène Delacroix, Journal I (1822–1857), II (1858–1863). Nouvelle édition intégrale, hg. Michèle Hannoosh, Paris 2009; nach dieser Ausgabe wird, wenn nicht anders angegeben, zitiert. Aktuelles Zitat: Journal, I,148. Die erste gedruckte Ausgabe erschien unter dem Titel: Eugène Delacroix, Journal. 1822–1863 in Paris, Plon, 1893; in durchgesehener Auflage von André Joubin 1932, mit einem Vorwort von Hubert Damisch 1980 und in einer édition revue par Régis Labourdette 1996. Die akribisch genaue, kritische Neuausgabe von Michèle Hannoosh, mit Berücksichtigung der rezentesten Entdeckungen, erleichtert die Auseinandersetzung mit Delacroix, ja macht eine wissenschaftliche Behandlung überhaupt erst möglich. 2  Die Correspondance Delacroix’ ist neuerdings im Rahmen eines groß angelegten Experiments auf der Website des Musée Delacroix in elektronischer Form zu konsultieren (http: /  / www.correspondance-delacroix.fr / ). Über die Probleme und Mängel dieser Quelle vgl. http: /  / johannadaniel.fr / isidoreganesh / 2014 / 08 / edition-electro nique-correspondance-eugene-delacroix / . Attraktiv erscheint die Möglichkeit, neu entdeckte Briefe jederzeit hinzuzufügen. Die gedruckte Version von André Joubin: Eugène Delacroix, Correspondance générale, hg. A. J., 5 Bde., Paris 1935–1938, ist nach wie vor verbindlich; ergänzend dazu: Eugène Delacroix, Nouvelles Lettres, hg. Lee Johnson, Michèle Hannoosh, »avant-propos« von Sophie Join-Lambert und Bernard Asselain, Bordeaux 2000. 3  Laure Beaumont-Maillet, Barthélémy Jobert, Sophie Join-Lambert (Hgg.), Souvenirs d’un voyage dans le Maroc (Art et Artistes), Paris 1999.

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schaftlich-kritische Neuausgabe des Journal durch Michèle Hannoosh von 2009 und die Ausstellung Delacroix écrivain im Pariser Musée Delacroix 20134 lenken das Interesse verstärkt auf den schriftlichen Nachlass des Malers. 2014 erscheint die Anthologie Eugène Delacroix. Écrivain, témoin de son temps5 mit dem dringenden Appell, sich mit dem »Schriftsteller« Delacroix auseinanderzusetzen. Der vorliegende Beitrag versteht sich als Schritt in diese Richtung. Abgesehen von frühen dichterischen Versuchen und dem poetischen Anspruch mancher Passagen seines Journal und seiner Lettres schlägt Delacroix die Brücke zur Literatur durch das häufige Aufgreifen literarischer Sujets in seinen künstlerischen Arbeiten. Umgekehrt inspiriert er als Künstler namhafte zeitgenössische Dichter und Schriftsteller zur Auseinandersetzung mit seinem Werk. Delacroix soll zunächst gezögert haben, ob er sich der Dichtung oder der bildenden Kunst zuwenden sollte. Anne Fontaine bezeichnet den Maler als »poète«6 und spricht von Jugendversen, die er in einer Revue publiziert habe. Wörter und Reime hätten ihn mehr beschäftigt als Linien und Farben.7 Im Alter von etwa siebzehn Jahren verfasst er drei Erzählungen, die mit ihrer historischen Thematik dem Stil der jungen Romantiker entsprechen: Alfred, Victoria und Les Dangers de la cour.8 Schließlich begibt sich Delacroix 1815 in die künstlerische Lehre des Malers Pierre Narcisse Guérin, bei dem bereits Théodore Géricault studiert.9 Der Bezug zur Literatur bleibt aber konstant, sowohl in seiner künstlerischen Arbeit wie auch in den schriftlichen Aufzeichnungen. 1822 präsentiert Delacroix mit La Barque de Dante (auch Dante et Virgile aux 4  Die Ausstellung wurde anlässlich des 150. Todesjahres des Künstlers organisiert: Musée Eugène-Delacroix, 15. Juni bis 23. Sept. 2013. 5  Siehe Eugène Delacroix, écrivain, témoin de son temps. Ecrits choisis, hg. Catherine Adam-Sigas, Arlette Sérullaz, Dominique de Font-Réaulx, Marie-Christine Mégevand, Paris 2014. 6  Anne Fontaine, Delacroix, poète, Paris 1953, 103. Die Verse am Beginn eines Carnet aus den Jahren 1817–1818, die zunächst Delacroix zugeschrieben wurden, erwiesen sich als Zitate des Dichters und Romanciers Jacques Cazotte (vgl. Journal II, 1418–1423). 7  Vgl. Hubert Damisch im Vorwort zur Ausgabe des Journal von 1996, XXI. 8  Das Musée Eugène-Delacroix war erst 2012 in den Besitz der drei Manuskripte gekommen. Die Erzählung Alfred findet sich in gekürzter Version in Eugène Delacroix, écrivain, témoin de son temps, hg. Adam-Sigas et al., 26–29. 9  Géricault ist Schöpfer des berühmten Gemäldes Le Radeau de la Méduse (1818– 1819), das Delacroix bei seinem ersten großen Bild Dante et Virgil aux Enfers deutlich beeinflusst hat.



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Abb. 1: Dante et Virgile aux enfers, auch La Barque de Dante (1822), Öl auf Leinwand, 189 × 241 cm Louvre, Paris: http: /  / www.louvre.fr / en / oeuvre-notices / barque-dante

Enfers) im Pariser Salon ein großformatiges Gemälde mit literarischer Thematik.10 Delacroix zeigt hier zwei Größen der Weltliteratur in einer Szene aus Dantes Divina Commedia. Es handelt sich um die Überquerung des Höllensumpfes Styx im 8. Inferno-Gesang. Das Bild wird vom französischen Staat angekauft und im Palais du Luxembourg aufgehängt.11 Delacroix greift später auch andere Szenen aus der Divina Commedia auf – etwa die Episode um Paolo und Francesca aus Inferno V12 oder die dramatische Geschichte des Grafen Ugolino aus Inferno XXXIII13 – und fügt sich damit in die lange Reihe der Dante-Illustratoren. 10  Gemälde in diesem Format (189 × 241 cm) waren bis dahin historischen bzw. mythologischen Sujets vorbehalten gewesen. 11  Angeblich hat sich der Maler die Göttliche Komödie vorlesen lassen, während er die Szene malte (vgl. 22. Feb. 1849, Journal I, 422, detaillierter am 24. Dez. 1853, Journal I, 727. Bei einem Maskenfest soll sich Delacroix sogar als Dante verkleidet haben. 12  Paolo e Francesca, 28 × 21 cm, ca. 1826, Col. Peter Natham, Zürich. 13  Ugolin et ses fils dans la tour, 50 × 61 cm, Kopenhagen, Ordrupgaardsamlingen.

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Als »premier des poètes«14 ist Dante Alighieri auch im Journal ständig präsent. Schließlich war er es, der dem Maler ersten Ruhm eingebracht hat. Delacroix kennt die Verehrung Michelangelos für den Dichter, der seine Sonette nachahmte, und, so schreibt er, »[s]ans le Dante, Giotto ne compte pas«.15 In kritischen Zeiten von Krankheit oder schöpferischer Blockade gibt ihm die Dante-Lektüre neuen Ansporn: »[…] seggendo in piuma,  /  in fama non si vien«16 (auf Daunen sitzend kommt man nicht zu Ruhm), heißt es im XXIV. Inferno-Gesang; diese Aufforderung Vergils an Dante, den beschwerlichen Weg durch die Hölle fortzusetzen, scheint Delacroix aufzugreifen, wenn er wenige Tage nach einer vorübergehenden Indisposition im März 185517 verkündet: »Je vais mieux: J’ai repris mon travail.«18 Von Torquato Tasso fasziniert den Künstler neben der Gerusalemme liberata19 vor allem die tragische Biographie, die er über Byrons The Lament of Tasso (1817) kennengelernt hat. Sein Tasse dans l’hôpital SaintAnne à Ferrare bzw. Le Tasse dans la maison des fous20 inspiriert Baudelaire zu dem Sonett Sur le Tasse en prison.21 Lord Byron begegnet Delacroix auf seiner Londonreise 1825. Das dramatische Gemälde Mort de Sardanapal (1827) ist zweifellos auf dessen Tragödie Sardanapalus (1821) zurückzuführen, Le Naufrage de Don Juan oder La barque de Don Juan (1841) auf eine Szene aus Byrons gleichnamigem Epos.22 In London besucht der Maler auch eine Reihe von Shakespeare-Aufführungen. Der Hamlet-Stoff inspiriert ihn zu einer eindrucksvollen Lithographie-Serie, die das Pariser Delacroix-Museum 2014 anlässlich des 450. Geburtstags von Shakespeare in einer eigenen Ausstellung zeigt. Delacroix wird als »le plus légitime des fils« des Dramatikers gewürdigt.23 14  Journal

I, 156. I, 648, 4. Mai 1853. 16  V. 43–57, Journal I, 895, 26. März 1855. 17  Vgl. Journal I, 887 (16. März 1855). 18  Journal I, 895, 26. März 1855. 19  Vgl. Renaud et Armide, Olinde et Sophronie, Herminie et les bergers. 20  Es gibt zwei Fassungen zu diesem Thema, eine von 1824 und eine spätere von 1839, außerdem eine Zeichnung von ca. 1825. 21  Sur le Tasse en prison, in: Charles Baudelaire, Œuvres complètes, hg. Y.-G. Le Dantec, rev. Claude Pichois, Paris 1961, 152 (»Les Épaves«). 22  Vgl. Journal II, 1613 f. 23  Eugène Delacroix, le plus légitime des fils de Shakespeare, 26. März bis 27. Okt. 2014. Das Museum besitzt sämtliche Original-Lithographie-Steine, die der Künstler zwischen 1834 und 1843 für den Hamlet bearbeitet hat, sowie die entsprechenden 15  Journal



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Für das erste bekannte Selbstportrait stehen gleich zwei literarische Gestalten Modell, Shakespeares Hamlet und Walter Scotts Edgar Ravenswood, eine Figur aus dem historischen Roman The Bride of Lammermoor (1819). Sind es bei Byron und Shakespeare die Theaterstücke, so interessieren Delacroix von Walter Scott vor allem die Romane und die Gedichte. Auch die deutschsprachige Literatur ist dem Maler nicht fremd. Bereits 1824 legt er ein eigenes Heft an, in dem Passagen aus der Faust-Übersetzung von Saint-Aulaire kopiert werden.24 Die Londoner Aufführung von 1825 wird in einem weiteren Cahier ausführlich besprochen25; in den Jahren danach, zwischen 1825 und 1828, entsteht die Illustrationsserie des Faust im Umfang von 17 Lithographien.26 Dass Delacroix auch die französischen Dichter kennt, ist naheliegend. Ab 1826 frequentiert er den Cénacle um Victor Hugo. La Chanson du Pirate aus den Orientales hat wohl das Bild Les Pirates africains enlevant une jeune femme (1852, Louvre, Paris) angeregt. Durch die regelmäßige Präsenz in den Ausstellungen des Salons und die Realisierung öffentlicher Aufträge wird der Maler zum interessanten Objekt der Kritik. Zwischen Charles Baudelaire und Théophile Gautier entwickelt sich ein eigener Briefwechsel mit häufig divergierenden Meinungen über sein Werk.27 Baudelaire widmet ihm 1846 einen eigenen Salon28 und würdigt ihn in den Fleurs du Mal auf einer Ebene mit Rubens, Leonardo, Rembrandt, Michelangelo usw. als einen der Leuchtpunkte der Malerei.29 Abzüge. Neben der Hamlet-Serie zeigt die Ausstellung auch das Gemälde Roméo et Juliette au tombeau des Capulet (Louvre). Siehe auch die schöne Ausgabe: William Shakespeare, Hamlet – illustriert von Eugène Delacroix (mit 21 Lithographien), Darmstadt 2012. 24  Anhang zum Journal, 1457–1463; die Faust-Übersetzung war 1823 in der Reihe der Chefs-d’œuvre des théâtres étrangers, Bd. XXV, erschienen. 25  Cahier de notes sur le Faustus anglais, ibid., 1463–1465. Hier findet sich auch eine Besprechung zur Pariser Faust-Aufführung einer deutschen Theatergruppe im Théâtre Italien im April 1830 (1466 f.). 26  Im Journal berichtet er darüber unter dem Datum 28.–29. Juli 1855 (vgl. Journal I, 918). 27  Charles Baudelaire, Théophile Gautier, Correspondances esthétiques sur Dela­ croix, Paris 1998. 28  Vgl. auch Elisabeth Hirschberger, Dichtung und Malerei im Dialog. Von Baudelaire bis Eluard, von Delacroix bis Max Ernst (Münchener Universitätsschriften, Romanica Monacensia 42), Tübingen 1993. 29  Charles Baudelaire, Les Phares, in: ders., Œuvres complètes, hg. Le Dantec, 12–14, V. 29.

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Die Spirale wechselseitiger Anregungen ließe sich beliebig weiterdrehen. Der intensive Bezug des Malers zur Literatur und zur Bühne scheint aber hinlänglich demonstriert; nun gilt es, Delacroix selbst als Schriftstellerpersönlichkeit darzustellen. »Pourquoi ne suis-je pas poète!«30 oder »Que je voudrais être poète!«31 sind Sätze, die – bei aller Klischeehaftigkeit – von der Auseinandersetzung des Malers mit einem Medium zeugen, das ihm letztlich nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck dienen sollte, als Auslöser für den Akt des Malens,32 vor allem aber als aide-mémoire und Inspirationsquelle für schöpferische Situationen. Allerdings ist es oft nur die erste, spontane Inspiration, die tatsächlich zum Beginn eines Kunstwerks führt. On oublie, ou ce qui est pis, on ne trouve plus aucun intérêt à ce qui vous avait paru propre à inspirer. […] Il arrive que j’ai nombre de sujets. Eh bien, qu’en faire? Ils seront donc là en magasin à attendre froidement leur tour: et jamais l’inspiration du moment ne les animera du souffle de Prométhee; il faudra les tirer du tiroir quand la nécessité sera de faire un tableau. C’est la mort du génie.33

Schreibende Künstler gehören lange schon zur Tradition und sind Delacroix bestens bekannt. Michelangelo und Leonardo sind nur zwei prominente Beispiele, die ihm als Muster vorschweben: »Le véritable grand homme est à voir de près«,34 schreibt er in sein Tagebuch, woraus zu schließen ist, dass seine intimen Aufzeichnungen durchaus nicht geheim bleiben sollten. Das Journal beginnt am 3. September 1822, am Tag, als die Dantebarke im Palais du Luxembourg aufgehängt wird.35 Der Maler beginnt zu schreiben mit der Intention, sich mit diesen Aufzeichnungen zu organisieren, zu disziplinieren und dadurch zu wachsen: »Je serai donc vrai, je l’espère; j’en deviendrai meilleur«,36 denn, so heißt es später, »[l]a gloire n’est pas un vain mot pour moi.«37 Daher ruft er sich auch zur Selbstdisziplin, wenn er seine Tage zu sehr mit diversen gesellschaftlichen Ablenkungen verbringt. Die Hannoosh-Ausgabe des Journal beinhaltet ein eigenes Carnet Byron, in dem Delacroix u. a. lange Passagen aus den Memoiren des Dichters zitiert (Journal II, 1613–1627). 30  25. April 1824, Journal, 147. 31  26. April 1824, ibid., 148. 32  25. April 1824, vgl. ibid., 147. 33  11. April 1824, ibid., 137 f. 34  Journal I, 544 (11. Aug. 1850). 35  Es ist gleichzeitig der Todestag seiner Mutter. 36  Journal I, 77, Mittwoch, 3. Sept. 1822. 37  Journal I, 150, 29. April 1824.



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Das Tagebuch ist künstlerische und poetische Selbstreflexion. Es ist Schreiben über das Malen, aber auch Schreiben über das Schreiben oder beides im Vergleich, mit variierenden Bewertungen, da sich Auffassungen und Einschätzungen ändern können. Es ist aber vor allem Gedächtnisprotokoll zur Wahrung des Erlebten, Archiv von Situationen, Gedanken, Zitaten, Urteilen usw., die dem Künstler bei Bedarf zur Verfügung stehen sollen. Die Aufzeichnungen werden etwa zwei Jahre lang geführt und brechen dann überraschend am 5. Oktober 1824 ab. Erst 1847 wird das Journal in anderem Format weitergeführt, ohne jegliche Erklärung, so als ob dazwischen nichts gewesen wäre. Daraus ergibt sich die naheliegende Vermutung, dass nicht alles überliefert ist, und es bleibt zu hoffen, dass die Lücke eines Tages mit Aufzeichnungen aus den fehlenden Jahren ausgefüllt wird. Briefe, Zeitschriftenaufsätze, vor allem aber die Dokumente der Marokko-Reise zeugen davon, dass Delacroix in dieser Zeit, was das ­Schreiben betrifft, nicht untätig war. Durch die Unterbrechung teilt sich das Tagebuch in ein »journal de jeunesse« und in ein »journal de la maturité«. Formal unterscheiden sich die beiden Teile dadurch, dass die ersten Aufzeichnungen in ein glattes, formloses Heft geschrieben wurden, während ab 1847 ein Jahreskalender (AGENDA, Memento journalier) verwendet wird (siehe Abb. 2 und 3a–c). Was die komplizierte Editionsgeschichte des Journal betrifft, sei auf die aufschlussreiche Einleitung von Michèle Hannoosh zur kritischen Ausgabe von 2009 verwiesen.38 Erstaunlicherweise hat der Künstler hinsichtlich seiner unzähligen Manuskripte keinerlei testamentarische Anordnung getroffen. Ob die Tagebücher tatsächlich nach seinem Tod verbrannt werden sollten,39 ist zu bezweifeln, hat er doch große Sorgfalt auf alles Geschriebene verwendet: »Il ne faut pas écrire à la légère. On collectionne les ­autographes. Il faut peser ce qu’on dit.«40 Auch wenn Delacroix sich tatsächlich vornahm, das Journal zunächst für sich selbst zu schreiben – »je l’écris pour moi seul«,41 und wenn er 38  Siehe Anm. 1. Die erste gedruckte Ausgabe erschien bei Plon 1893, wurde 1932 von André Joubin in durchgesehener Form neu herausgegeben und 1980 nochmals bei Plon mit einen Vorwort von Hubert Damisch publiziert. Erst Michèle Hannoosh hat 2009 bei José Corti eine monumentale kritische Version nach den Originalmanuskripten und mit den rezentesten Entdeckungen herausgebracht. 39  Delacroix soll seine Haushälterin Jenny Le Guillou darum gebeten haben. 40  Zit. nach Hannoosh, »Introduction général«, in: Journal I, 41. 41  Journal, 3. Sept. 1822, 77.

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Abb. 2: Eugène Delacroix, 1. Carnet des Journal, Eintrag vom 3. September 1822 Paris, Institut national d’histoire de l’art, Bibliothèque, collections Jacques Doucet Ms 247 / 1

nicht an eine Veröffentlichung zu Lebzeiten dachte, so war er doch vom Interesse seiner Aufzeichnungen für die Nachwelt überzeugt. Dies gilt auch für seine Briefe,42 die Aufschluss geben nicht nur über seine sozialen Kontakte auf allen Ebenen, sondern auch über seine kritischen Stellungnahmen zum kulturellen und gesellschaftlichen Geschehen seiner Zeit. Die Correspondance stellt eine wertvolle Ergänzung zum Tagebuch dar. Jeweils an konkrete Adressaten aus unterschiedlichen Gesellschaftskreisen gerichtet, sind die Briefe stilistisch naturgemäß anders gestaltet als die Tagebucheinträge, in denen ein permanenter Dialog des schreibenden Ichs mit sich selbst stattfindet.43 42  Zur

Korrespondenz vgl. Anm. 2. von ihrem sehr eleganten Schreibstil sind die Briefe auf Grund ihrer Farbexperimente und der aquarellierten Skizzen ähnlich wie die handgeschriebenen Carnets von großem künstlerischem und kunsthistorischem Wert. 43  Abgesehen

Abb. 3a–c: Agenda du Journal 1847. Tagebuch in Kalenderform Paris, Institut national d’Histoire de l’art, Bibliothèque, collections Jacques Doucet Ms 253

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Trotz des Titels Journal besteht weder der erste, »unformatierte«, noch der zweite, kalendarische Teil aus regelmäßigen täglichen Aufzeichnungen. Es handelt sich vielmehr um diskontinuierliche, unzusammenhängende Notizen, in denen selbst die chronologische Folge des Kalenders immer wieder unterbrochen wird. Oft sind unterschiedlich datierte Einträge auf ein und derselben Seite zu finden, weil das Thema ergänzt wurde oder gerade ein freier Platz zur Verfügung stand. Oft werden Notizen auch einfach auf ein Blatt Papier geschrieben oder in ein eigenes Heft. Dela­ croix nimmt sich seine Aufzeichnungen immer wieder vor, korrigiert, ergänzt, kommentiert, ohne etwas zu streichen, was das Journal zu einem entsprechenden Umfang anwachsen lässt. »Je viens de relire en courant tout ce qui précède. – Je déplore les lacunes. Il me semble que je suis encore le maître des jours que j’ai inscrits, quoiqu’ils soient passés«, schreibt er am 8. April 1824.44 Michèle Hanoosch trägt mit ihrer Neuausgabe diesem Umstand im Gegensatz zu früheren Editionen Rechnung und kann damit Missverständnisse und Sinnlosigkeiten ausräumen, die ein striktes Einhalten der Chronologie mitunter mit sich gebracht hatte.45 Es handelt sich um experimentelles Schreiben, ohne Narrativität, das einen jederzeitigen Abbruch erlaubt. Auch dem Leser steht es frei, wo er seine Lektüre ansetzt und wo er sie unterbricht. Gegenüber der Geschlossenheit eines Romans, einer Erzählung oder auch eines Traktats bevorzugt der Maler die offene, diskontinuierliche, fragmentarische Form des Tagebuchs. Was er zu einem später geplanten Dictionnaire feststellt, gilt auch für die Form des Journal: »on le prend, on le quitte, on l’ouvre au hasard.«46 Das Journal enthält in unregelmäßigen Abständen Berichte über Tätigkeiten und Geschehnisse des täglichen Lebens, wobei immer wieder Tage übersprungen werden. Es informiert über empfangene und abgestattete Besuche, über Aufenthalte bei Verwandten und Freunden, über Sommerfrischen und Spaziergänge in der Natur, es enthält Eisenbahn- und Omnibusfahrpläne, Ausgabenlisten, Berichte über Einkäufe und Rechnungen, asyndetische Farbenreihen, Briefe und Brieffragmente, Verzeichnisse abgeschickter Briefe, Adressen, Zitate, Zeitungsausschnitte, Sinnsprüche, Maximen, Sprichwörter u. dgl. m. Kunst- und literaturtheoretische Abhandlun-

44  Journal

I, 135. Hannoosch, »Introduction générale«, 14. 46  Journal II, 1292, 16. Jänner 1860, aus einem Préface-Entwurf für den geplanten Dictionnaire. 45  Vgl.

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gen bieten – wenn auch aus subjektiver Sicht – Einblick in die kulturellen Entwicklungen am Übergang von der Romantik zum Realismus. Berichte über Ausstellungs-, Opern-, Konzert- oder Theaterbesuche mit den entsprechenden Kommentaren weisen den Diaristen als profunden Literatur-, Kunst- und Musikkritiker aus. Das Journal ist also nicht etwa ein durchgehender innerer Monolog, der nur durch den Datumswechsel unterbrochen wird, sondern ein ständig fortschreitender Dialog mit sich selbst, ein emotionales Frage- und Antwortspiel ohne Endgültigkeit. Litotes und rhetorische Fragen gehören zu den häufigen Gesprächsmustern. Gedankenfragmente wechseln mit sorgfältig ausgeformten Reflexionen, Naturbeobachtungen mit Berichten über künstlerische Gestaltungsfortschritte. Poetische Beschreibungen finden ebenso ihren Platz wie die Wiedergabe mitunter komischer Episoden. Der Kampf der Fliege mit einer Spinne – »petit duel homérique«47 – findet unter den Arbeitsprotokollen genauso Platz wie ein »[r]ecette pour les cornichons«.48 Das Schreiben scheint dem Maler in der Regel leicht von der Hand zu gehen: »Je n’éprouve pas, à beaucoup près, pour écrire, la même difficulté que je trouve à faire mes tableaux«, stellt er am 27. Jänner 1853 fest,49 und am 8. Mai 1853: »j’écris avec une grande facilité; […] j’y trouve plus de facilité que dans mon métier.«50 Das lässt darauf schließen, dass der schöpferische Prozess des Malens eindeutig höher und anspruchsvoller eingeschätzt wird als der des Schreibens. Überhaupt sei die Kunst nur unzureichend in Worte umzusetzen.51 Am Problem der Ekphrasis erkennt der Maler jedoch die Grenzen des sprachlichen Mediums, aber auch seine Grenzen als Schriftsteller: »La plume […] n’est pas mon outil«,52 soll er – ob mit oder ohne rhetorischer Bescheidenheit – Baudelaire gegenüber geäußert haben. Für den Dichter und Kunstkritiker ist Delacroix in erster Linie ein »poète en peinture«.53 Die Gegenüberstellung von Dichtung und Malerei ist ein Thema, das Delacroix immer wieder beschäftigt. Während das Material eines Malers

Journal I, 510, 17. Mai 1850. I, 513, 4. Juni 1850. 49  Journal I, 624. 50  Journal I, 650. 51  Vgl. Journal I, 637 f. 52  Charles Baudelaire, L’œuvre et la vie de Delacroix, in: ders., Œuvres complètes, hg. Le Dantec, 1126. 53  Salon 1846, in: Baudelaire, Œuvres complètes, hg. Le Dantec, 890. 47  Vgl.

48  Journal

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– sprich die Farbe – schon für sich selbst Ausdruckskraft besitze, bleiben die einzelnen Buchstaben des Alphabets in isolierter Form abstrakt, ohne Ausdruck, ohne Sinn. Ein narrativer Text, wie im übrigen auch ein Musikstück, könne nur sukzessive wiedergegeben werden, verlange dem Leser oder dem Zuhörer viel Zeit ab, während zum Erfassen eines gemalten Bildes ein einziger Blick genüge: »Heureux la peinture de ne demander qu’un coup d’oeil pour attirer et pour fixer l’attention.«54 Jegliches Kunststück, ob es sich um eine Symphonie oder um ein Gemälde handelt, könne nur mit dem entsprechenden Sinnesorgan exakt erfasst werden: »Il faut voir ce qui est fait pour les yeux; il faut entendre ce qui est fait pour les oreilles.«55 Im letzten Eintrag des Tagebuchs am 22. Juni 1863 findet sich nochmals ein Vergleich der Malerei mit der Poesie: »Le premier mérite d’un tableau est d’être une fête pour l’œil. Ce n’est pas à dire qu’il ne faut pas de la raison: c’est comme les beaux vers; toute la raison du monde ne les empêche pas d’être mauvais, s’ils choquent l’oreil.« (1412). Jenseits des künstlerischen Anspruchs ist für Delacroix das Medium Schrift zweifellos ein unentbehrliches Instrument der Selbstdarstellung, des Bildungsnachweises, aber auch der Aneignung von Bildung. Er ist ein passionierter Leser, »un lecteur boulimique«, wie Guillerm feststellt,56 und sein Journal ist Protokoll der täglichen Lektüren, mit denen er sowohl seine profunde klassische Bildung wie auch sein zeitgenössisches Wissen laufend ergänzt. Er kopiert ganze Passagen aus Büchern oder Zeitschriften, um sie zu »speichern« und jederzeit abrufbar zu haben. Manche Zitate werden einfach mit kurzer Quellenangabe, ohne jeglichen Kommentar in das Tagebuch geschrieben, andere werden wiederholt und mit Anmerkungen versehen. Das Schreiben ist in diesem Kontext nicht als schöpferischer, sondern als rein graphischer Akt zu sehen, wie Jean-Pierre Guillerm in seiner psychokritischen Analyse des Journal feststellt. »Il [Dela­ croix] lit pour rendre le texte imprimé au trait de l’écriture qui est le sien«57. Delacroix hat sich bereits 1824 mit dem Gedanken getragen, »une sorte de mémoire sur la peinture« zu verfassen.58 Lange vor dem Projekt eines Dictionnaire des Beaux Arts schreibt er ab 1829 kunsttheoretische Aufsät54  Journal II, 1779, Carnet de Bade / Strasbourg, 1855–1862, unter dem Stichwort »Réalisme«. 55  Journal I, 662, 26. Mai 1853. 56  Jean-Pierre Guillerm, Couleurs du noir. Le Journal de Delacroix, Lille 1990, 49. 57  Ibid., 32. 58  Journal I, 118 (26. Jänner).



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ze und biographische Artikel über berühmte Künstlerpersönlichkeiten59 für Zeitschriften wie die Revue des Deux Mondes oder die Revue de Paris.60 Anlässlich der Aufnahme in die Académie des Beaux-Arts (am 10. Jänner 1857) sieht er sich dann verpflichtet, eine Art künstlerisches Lehrwerk zu verfassen. Viele Tagebucheintragungen ab dem Jahr 1857, die schon durch ihre schlagwortartigen Überschriften in graphischer Hervorhebung von den ›normalen‹ Einträgen abweichen, sind als Vorbereitung für den geplanten Dictionnaire des Beaux-Arts zu lesen, der allerdings zu Lebzeiten nicht veröffentlicht wird. Kein geringeres Werk als die Essais von Montaigne nimmt sich der Maler als Vorbild: »Faut-il absolument faire un livre dans toutes les règles? Montaigne écrit à bâtons rompus.«61 Die Kunsthistorikerin Anne Larue hat die betreffenden Einträge zur Kunst aus dem Journal herausgefiltert, alphabetisch geordnet und 1996 publiziert.62 Der Dictionnaire des beaux-arts stellt also eine Retrospektive des Journal dar.63 Dies bedeutet, dass es sich trotz der konventionellen Ordnung des Wörterbuchs nicht um traditionelle Lexikoneinträge handelt, sondern um eine Sammlung unzusammenhängender, zum Teil fragmentarischer, oft widersprüchlicher Gedanken zu vorwiegend kunsthistorischen und kunsttheoretischen Themen. Methodischer Zweifel schien Delacroix näher zu liegen als die universalisierende Rhetorik gelehrter Abhandlungen. Von Anfang an ist er gegen die strenge Form des Traktats, der keinen Platz lässt für persönliche, individuelle, divergierende Meinungen.64 Abgesehen von seiner Unabgeschlossenheit ist dies wohl als Grund dafür zu sehen, dass Delacroix den Dictionnaire nicht der Öffentlichkeit preisgab, auch wenn er dafür bereits ein ausführliches Vorwort konzipiert hatte. Anne Larue ist es zu verdanken, dass wir mit dem Dictionnaire ein Nachschlagewerk zur Hand haben, das die Themen der Kunst am Übergang 59  Darunter finden sich Aufsätze über »Des critiques en matière d’art« (1829), über »Michelangelo« (1830), über »Gros« (1848), über »Questions sur le Beau« (1857) usw. 60  Diese Aufsätze wurden 1923 unter dem Titel Études esthétiques (1829–1863) von Élie Faure publiziert: Eugène Delacroix, Œuvres littéraires. I: Études esthétiques, II: Essais sur les artistes celèbres, hg. Élie Faure, Paris 1923. In elektronischer Version: http: /  / gallica.bnf.fr / ark: / 12148 / bpt6k5651929q oder http: /  / dx.doi.org / doi: 10.1522 / cla.dee.oeu. Eine neuere gedruckte Version unter dem Titel: Eugène Dela­ croix, Ecrits, I: Études esthétiques, II: Essais sur les artistes, erschien in Paris bei Du Sandre 2006. 61  Journal I, 7. Mai 1850. 62  Dictionnaire des beaux-arts d’Eugène Delacroix, hg. Anne Larue, Paris 1996. 63  Vgl. Journal I, 1057, n. 35. 64  Vgl. Journal I, 611, 1. Nov. 1852.

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von der Klassik zur Romantik aus der subjektiven Sicht des Künstlers nachvollziehen lässt. In die zeitliche Lücke zwischen dem »journal de jeunesse« und dem »journal de la maturité« fallen auch die Aufzeichnungen und Notizen zu Delacroix’ unverhoffter Marokko-Reise im Jahr 1832. Der Maler hatte Ende 1831 die Einladung erhalten, eine diplomatische Mission als »peintrereporteur« nach Nordafrika zu begleiten, was zu einer Zeit, da die Fotografie gerade erst erfunden worden war, keine Seltenheit war. Delacroix ließ sich diese Chance nicht entgehen, denn abgesehen von seinem London-Aufenthalt 1825 war er bis dahin nicht viel und vor allem nicht weit weg gereist. Graf Mornay war von Louis Philippe zum Sultan von Marokko beordert worden, um die nach der Einnahme von Algerien durch die Franzosen entstandenen Schwierigkeiten diplomatisch zu bereinigen. Die Reise gestaltete sich langwierig und war politisch nur beschränkt erfolgreich, denn sehr bald führte die Allianz zwischen dem marokkanischen Sultan Muley-abd-el-Rahman mit dem algerischen Emir Abd el Kader zu einer Serie von Kämpfen auf algerischem und marokkanischem Boden, die erst 1847 ein Ende fand. Für den Maler stellt die sechs Monate dauernde Reise, die ihn auch nach Spanien und nach Algerien führt, eine entscheidende Etappe in seiner schöpferischen Entwicklung dar. Völlig neue Inspirationsquellen tun sich auf. Das legendäre Licht des Orients, die Farben, Landschaft und Architektur, Menschen und Tiere, all das betrachtet Delacroix nun mit eigenen Augen und nicht mehr wie bisher über die Vermittlung durch die Literatur. Der Maler scheint jetzt alles mit der Technik eines modernen Fotografen festhalten zu wollen.65 Unter schwierigsten Bedingungen füllt er eine Reihe von Carnets und zahlreiche lose Blätter mit raschen Zeichnungen und Notizen, die ihm mehr als genug Stoff für seine späteren Arbeiten liefern sollten. »Le pittoresque abonde ici. À chaque pas il y a des tableaux tout faits qui feraient la fortune et la gloire de vingt générations de peintres«, schreibt er aus Meknès66 (Abb. 4). Auf den aquarellierten Skizzen finden sich oft umfangreiche handschriftliche Anmerkungen mit genauen Angaben zu diversen Kleidungs65  Delacroix stand dem neuen Medium sehr positiv gegenüber. Er gehörte zu den ersten Mitgliedern der Société Française de Photographie und benutzte ab den Fünfzigerjahren auch Fotografien als Vorlagen für seine Bilder. 66  Brief an Armand Bertin vom 2. April 1842, in: Eugène Delacroix, écrivain, témoins de son temps, hg. Adam-Sigas.

Abb. 4: L’arrivée à Meknès (1832), Aquarell, Bleistift, zwei Blätter aus einem der Marokko-Alben. Jedes Blatt 19,3 × 12,7 cm. Paris, Louvre, département des Arts graphiques. Aus: Barthélémy Jobert, Delacroix. Paris, Gallimard 1997, 146.

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stücken und Accessoires. Ein Ausschnitt aus der Beschreibung der Audienz bei Moulay Abd er-Rahman am 22. März 1832 mag dies verdeutlichen: De la porte mesquine et sans ornements qui est ci-dessus [Croquis] sont sortis d’abord à de courts intervalles de petits détachements de huit à six soldats noirs en bonnet pointu qui se sont ragés à gauche et á droite. Puis deux hommes portant des lances. Puis le roi qui s’est avancé vers nous et s’est arrêté très près. Grande ressemblance avec Louis-Philippe, plus jeune. Barbe épaisse, médiocrement brun. Burnous fin e presque fermé par devant. Haïk par-dessous sur le haut de la poitrine et couvrant presque entièrement les cuisses et les jambes. Chapelet blanc à soies bleues autour du bras droit qu’on voyait très peu. Étriers d’argent. Pantoufles jaunes non chaussées par derrière.67

Aus Tanger nimmt Delacroix eine ganze Reihe orientalischer Accessoires mit, »babouches« (seidene Pantoffeln), Wasserpfeifen, Teppiche und dgl., Versatzstücke, die sich bei Bedarf einsetzen lassen, um ein orientalisches Ambiente zu kreieren.68 Von den sieben Reisealben sind inzwischen erst fünf wieder aufgetaucht.69 Michèle Hannoosh lässt uns anhand der bisher aufgefundenen Dokumente die Stationen der Reise nachverfolgen: Tanger, Meknès, Andalusien, Oran, Algier. Weitere Informationen finden sich in den Briefen. Das reiche schriftliche und bildnerische Material hat Delacroix im Anschluss an die Reise zunächst vor allem künstlerisch aufgearbeitet. Man denke nur an das berühmte Gemälde der Femmes d’Alger dans leur appartement, das 1834 im Salon präsentiert und von Louis-Philippe angekauft wurde. Baudelaire nennt das Bild ein »petit poëme d’intérieur, plein de repos et de silence, encombré de riches étoffes et de brimborions de toilette, [qui] exhale je ne sais quel haut parfum de mauvais lieu qui nous guide assez vite vers les limbes insondés de la tristesse«70. Die algerische Schriftstellerin Assia Djebar übernimmt für ihren Erzählband Femmes d’Alger dans leur appartement71 Titel und Umschlagbild von Delacroix’ Gemälde. Sie betrachtet die dargestellte Situation als ein Eindringen in die Privatsphäre der algerischen Frauen und spricht unter 67  Journal

I, 224. Guy Dumur, Delacroix et le Maroc, Paris 1988, 88. Hier findet sich eine Liste der Gegenstände, die Delacroix in Tanger gekauft hatte. – Die Ausstellung im Pariser Musée Delacroix befasste sich kürzlich mit diesem Thema: Objets dans la Peinture, souvenir du Maroc, 5. November 2014 bis 2. Februar 2015. 69  Vgl. die detaillierte Beschreibung von Hannoosh, Journal I, 178 f. 70  Ch. B., Pour Delacroix, hg. Bernadette Dubois, Bruxelles 1986, 95. 71  Paris 1980; später auch Paris 2002. 68  Vgl.

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der Überschrift »Regard interdit, son coupé« von einem »regard volé«72. Auf die Orientalismusdiskussion kann hier nicht näher eingegangen werden. Es sollte lediglich auf eine Reaktion neuerer Literatur auf Delacroix’ Werk verwiesen werden. Auf die schriftlichen Skizzen der Orientreise folgen in der JournalAusgabe zwei Dokumente, die von fundamentaler Bedeutung für Delacroix als Schriftsteller sind: die erst 1997 entdeckten und 1999 publizierten Souvenirs d’un voyage dans le Maroc73 und die bis dahin unveröffentlichte schriftliche Darstellung einer jüdischen Hochzeit in Marokko,74 die in dem berühmten Gemälde Noce juive dans le Maroc dargestellt worden war. Im Gegensatz zu den spontanen und flüchtigen Notizen der Carnets arbeitet der Maler hier retrospektiv und in der zusammenhängenden Form eines Reiseberichts die wechselnden Eindrücke seiner Orientexpedition auf. Aus dem peintre-reporteur wird in den zwölf Jahre nach der Reise verfassten Souvenirs ein peintre-écrivain. Er zeichnet kein durchgehend idyllisches Orientbild, wie es die bunten Skizzen und das friedliche Ambiente der Femmes d’Alger erwarten ließen. Das öffentliche Erscheinungsbild der Frauen ist ein völlig anderes.75 Der staatlich unterstützte Maler scheut sich auch nicht, Situationen aufzuzeigen, die auf die französische Kolonialpolitik zurückzuführen sind.76 Die Reiseerinnerungen Delacroix’ durchbrechen an vielen Stellen das geschönte Orientbild westlicher Vorstellung. Als Maler hat ihn die Reise einen großen Schritt weitergebracht. Zu den literarischen Inspirationsquellen kommen Motive, die der Künstler aus eigener Erinnerung kennt und die er sein Leben lang ausschöpfen wird. Mit den Souvenirs d’un voyage dans le Maroc hat sich Delacroix letztlich aber auch als Schriftsteller etabliert. Die vielschichtigen Bezüge des Malers zur Literatur, vor allem sein eigenes schriftliches Œuvre konnten in diesem Rahmen nur in Ansätzen präsentiert werden, sie mögen aber Anregung und Anstoß für eine weitere und ausführlichere Beschäftigung mit Delacroix-écrivain sein.

Femmes d’Alger (1980), 229. Anm. 3. 74  Der Bericht über Un mariage juif dans le Maroc war 1842 im Magasin pittoresque (X,1, 1842) publiziert worden. 75  Vgl. z. B. die Beschreibung der verschleierten Frauen in Journal I, 297. 76  Vgl. z. B. Journal I, 283 f. 72  Djebar, 73  Siehe

Le parole avviluppate. Virgilio, Manzoni e un’immagine di Ognissanti Di Ottavio Ghidini È la sera del lunedì 3 settembre: poco dopo le sette ore il Manzoni compare in quella sala; tutti lo accolgono con grandi ovazioni, e tutti gli si stringono intorno, e gli fanno mille elogi, e gli chiedono mille cose: e il Manzoni, impacciato oltremodo, risponde con parole poche e avviluppate.1

Leggendo il secondo libro dell’Eneide, è facile constatare quanto quei celebri esametri abbiano offerto più di un suggerimento alla scrittura in versi e in prosa di Alessandro Manzoni. Si tratta, infatti, di luoghi testuali mandati un tempo a memoria e che si era soliti frequentare con assiduità per l’apprendimento della lingua latina. Dell’autore milanese è rimasto un frammento di traduzione dedicato a tali pagine virgiliane, steso durante gli anni trascorsi in collegio a Lugano, attorno al 1797: pochi versi, che tuttavia rappresentano la prima testimonianza superstite in poesia del nostro autore, l’inizio di una lunga personale fedeltà al poeta latino, attestata anche, di lì a pochi anni (siamo probabilmente nel 1800; Manzoni si trovava allora presso il collegio milanese dei Nobili poi collegio Longone), da un’ulteriore prova di traduzione, dedicata al v libro virgiliano (v. 286– 361), dove – com’è noto – vengono descritti i giochi funebri in onore di Anchise, in un momento di attenuazione patetica dunque, tra il iv libro, quello di Didone, e il vi, con la nèkyia di Enea.2 1  L’aneddoto di Terenzio Mamiani (»Manzoni e Leopardi«, Nuova Antologia 23 (1873), 757–782; citazione alle pagine 758–759) si riferisce al ricevimento dato nel 1827 presso il Palazzo Buondelmonti, allora sede del Gabinetto Vieusseux, per accogliere Alessandro Manzoni durante il suo primo viaggio a Firenze. 2  È possibile leggere i due testi in Alessandro Manzoni, Poesie e tragedie, hg. Valter Boggione, Torino 2002, 261–268 (per quanto riguarda la datazione seguo quanto proposto ibid.). Proprio di letture scolastiche del libro v si parla nel Fermo e Lucia II viii, 76: il Conte Zio, infatti, »era solito di fare intendere la sua teoria con una frase di Virgilio che gli era rimasta in mente dalla scuola, e che egli interpretava a suo modo: possunt quia posse videntur«. Il verso citato è Aen. v, 231, come si segnala in

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Nelle pagine manzoniane dichiarazioni di deferenza nei confronti di Virgilio non mancano e non pare certo necessario riprodurle qui nella loro interezza; è però opportuno ricordare – anche per quanto diremo in seguito – ciò che Manzoni afferma in un passo del suo saggio sul romanzo storico, dove le opere di Virgilio vengono elogiate per la loro eccellenza stilistica: i virgiliani »accozzi inusitati di vocaboli usitati« (scrive Manzoni ricollegandosi ai precetti del Sublime longiniano, cap. x, »τὸν ἀκροατὴν τῶν λημμάτων«, probabilmente letto nella traduzione fortunatissima di Anton Francesco Gori, dove si parla appunto dell’opportunità di un »accozzamento« delle parole per attingere il sublime)3 dimostrano che »la virtù propria della parola poetica è d’offrire intuiti al pensiero, piuttosto che istrumenti al discorso«. Manzoni sostiene che in Virgilio la lingua ambisce ad essere non soltanto un elemento funzionale del discorso, ossia uno strumento, semplicemente mezzo, d’importanza dunque solo transitiva (il che vuol dire essere trasparenza assoluta di un concetto già acquisito in precedenza dal parlante). Secondo Manzoni vi è infatti una differenza tra l’»uso comune di una lingua«, destinato ad esprimere le »qualità più essenziali e più manifeste delle cose«, ossia »le loro relazioni più immediate e più frequenti«, e lo stile poetico, volto invece a porre in luce, »nelle cose di cui tutti parlano«, »relazioni più recondite e meno osservate o non osservate«. Lo stile poetico è destinato, infatti, »non tanto [a] insegnar cose nove, quanto [a] rivelare aspetti novi di cose note«. Questa diversità di obiettivi implica anche una diversità di strumenti: se – afferma Manzoni – »i trovatori di verità scientifiche«, per potersi esprimere, devono Ettore Paratore, »Manzoni e il mondo classico«, Italianistica 2 (1973), 106, saggio nel quale vengono messe in luce (soprattutto alle pagine 95–96 e 116–121) numerose citazioni-allusioni virgiliane nelle opere di Manzoni. Seguo il testo del romanzo manzoniano proposto nelle seguenti edizioni: Alessandro Manzoni, I promessi sposi, edizione critica diretta da Dante Isella, Prima minuta (1821–1823), Fermo e Lucia, a cura di Barbara Colli, Paola Italia, Giulia Raboni, Milano 2006 (abbr.: FL); Alessandro Manzoni, I promessi sposi, a cura di Salvatore Silvano Nigro, collaborazione di Ermanno Paccagnini per la »Storia della Colonna infame«, volume ii, tomo i, I promessi sposi (1827), Milano 22006 (abbr.: PS 1827); Alessandro Manzoni, I promessi sposi. Storia milanese del secolo XVII scoperta e rifatta da Alessandro Manzoni, edizione riveduta dall’autore. Storia della Colonna infame, inedita, Milano 1840–1842, 2 voll., a cura di Luca Badini Confalonieri, Roma 2006 (abbr.: PS 1840). In questo saggio il corsivo nelle citazioni è sempre mio. 3  Ma »accozzamento di parole« è anche espressione di Cesare Beccaria, impiegata, ad esempio, nel capitolo xvi (Del principio generale per lo studio dello stile) delle Ricerche intono alla natura dello stile, che possono essere lette nell’Edizione Nazionale delle Opere di Cesare Beccaria, diretta da Luigi Firpo, volume ii, Scritti filosofici e letterari, a cura di Luigi Firpo, Gianni Francioni, Gianmarco Gaspari, Milano 1984, 25, 200.



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»inventar vocaboli novi«, Virgilio invece caratterizza il proprio stile poetico non tanto in questo modo, quanto operando piuttosto sul piano della synthesis verbale, della compositio verborum. Così facendo, lo stile poetico (e quello di Virgilio in particolare) è in grado di »estend[ere] effettivamente la cognizione«.4 La posta in gioco per Manzoni è alta: conferire alla poesia uno statuto veritativo, dimostrando la sua capacità di concedere un’autentica dilatazione delle potenzialità conoscitive. Si faccia attenzione però che nella pagina che stiamo commentando Manzoni pone subito siffatto legame istituito tra poesia e intelligere in relazione con la dimensione emotiva dell’autore (oltre che del lettore) e, più in generale, con il piano della pregevolezza estetica: i concetti della poesia devono essere infatti »veri insieme e pellegrini«. Secondo Manzoni, l’abilità di Virgilio è straordinaria per la sua capacità di trovare »in una contemplazione animata e serena, nell’intuito ora rapido, ora paziente (appunto perché vivo) delle cose da descriversi, nel sentimento effettivo degli affetti ideati, il bisogno e il mezzo di nove e vere e pellegrine espressioni«. L’eccellenza di Virgilio (e quindi – verrebbe da dire – il criterio stabilito per parlare di eccellenza a proposito di qualsiasi stile poetico, secondo Manzoni) consiste nella sua capacità di offrire al lettore un aumento di conoscenza del reale, aumento raggiunto operando su un piano diverso rispetto a quello della comunicazione discorsiva quotidiana, con una spiccata attenzione alla dimensione emotiva. Questo è lo specifico dell’arte virgiliana per Manzoni: l’interrelazione stabilita, grazie allo stile, tra pensiero e pathos. In Virgilio poi lo scarto tra linguaggio comune e stile poetico5 non è mai troppo violento, scrive Manzoni: vi è una distanza, certo, rispetto alla lingua d’uso, ma perlopiù Virgilio realizza tale distanza utilizzando appunto »vocaboli usitati«. L’accozzo dei vocaboli è inusitato, il lessico no. Questo aspetto, inerente la scelta delle parole, è strettamente correlato con un altro elemento messo bene in luce da Manzoni nelle stesse pagine 4  Alessandro Manzoni, Del romanzo storico e, in genere, de’ componimenti misti di storia e d’invenzione, a cura di Silvia De Laude (Edizione Nazionale ed Europea delle Opere di Alessandro Manzoni 14), Milano 2000, 40. Su tali passi manzoniani si veda inoltre, quale voce bibliografica recente, Rita Zama, Pensare con le parole. Saggio su Alessandro Manzoni poeta e filosofo, Milano 2013. 5  Uso il termine scarto senza particolari implicazioni teoriche, attribuendo ad esso – come suggeriva anni fa Gian Biagio Conte – un valore puramente operativo: il lettore deve avvertire nel testo che sta leggendo eventuali forme straniate dell’es­ pressione. Per meglio esaminare l’importanza del magistero virgiliano in Manzoni ho trovato di grande aiuto le pagine acutissime dedicate all’epico latino da Conte, in particolare il suo saggio »Anatomia di uno stile: l’enallage e il nuovo sublime«, in: Gian Biagio Conte, Virgilio. L’epica del sentimento, nuova edizione accresciuta, Torino 2007, 5–63.

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del discorso sul romanzo storico, ossia con il fatto che Virgilio opera in tal senso desiderando diventare a tutti gli effetti poeta epico, ossia poeta in grado di celebrare la città di Roma, »soggetto ulteriore del poema«, realizzando così un’opera realmente emulativa nei confronti di Omero. Insomma, il fatto che Virgilio utilizzi un lessico usitato è ciò che gli consente di creare un poema celebrativo della grandezza di Roma, un poema del popolo romano, capace di stabilire pertanto un legame strettissimo, come in Omero, tra un popolo e il suo testo epico. La pagina di Manzoni è senz’altro memorabile; anche per il fatto che in essa la riflessione critica a proposito di un altro autore rappresenta al contempo un chiarimento degli obiettivi teorici idealmente perseguiti e delle strategie espressive impiegate da Manzoni stesso nella propria scrittura letteraria. A dimostrazione concreta di tale proclamata esemplarità virgiliana valgono soprattutto le intertestualità diffuse, quando la poesia latina affiora nelle parole dell’autore nuovo, come accade, ad esempio immediato, nel Natale del 1833, incompiuto inno sacro in morte di Enrichetta Blondel, dove compare quel cecidere manus che in Virgilio (Aen. vi,33) è legato alla vicenda di Icaro e in particolare al dolore del padre, incapace di effigere in auro la drammatica dipartita del figlio. In questo caso abbiamo una vera e propria citazione letterale: le parole dell’autore antico vengono chiamate in causa nel momento in cui il poeta non riesce a trovare espressioni adeguate per esprimere l’inesprimibile; è come se il pathos travalicasse il discorso testuale, bloccandolo, e imponesse all’autore, per esprimersi, il ricorso alla citazione letterale. Leggendo questo passo, possiamo toccare con mano l’intensità del legame stabilito da Manzoni nei confronti di Virgilio: sembrerebbe infatti che tale rimando intertestuale sia stato attivato e reso presente nel testo manzoniano in modo quasi immediato, oserei dire patetico, da parte dell’autore: si tratta infatti di un lacerto testuale lasciato nella sua forma, anche linguistica, originaria, senza alcuna rielaborazione minima. Si badi inoltre che tale citazione intertestuale, nell’incompiuto inno sacro, descrive innanzitutto un atto dello scrivente Alessandro Manzoni, ossia un gesto dell’autore empirico, che ‹preme› per entrare in quel testo, Il Natale del 1833, nel quale si vorrebbe offrire una risoluzione (poetica, teologica, ma anche soltanto verbale) di un lutto privato. Come si diceva all’inizio, il secondo libro dell’Eneide è speciale nucleo generativo di scrittura per Alessandro Manzoni, poeta e prosatore. La folla di Milano in rivolta, durante il primo viaggio di Renzo nella città lombarda, reimpiega gli strumenti dell’assedio. L’intertestualità è evidente (ad esempio, lo scandit fatalis machina muros di Aen. ii,237 ricompare nella scala utilizzata dai rivoltosi presso la casa del vicario di provvisione:



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»La macchina fatale s’avanza balzelloni«, PS 1840 xiii,18).6 Non così palmari invece i legami tra la fuga di Enea da Troia e quella di Renzo, Lucia e Agnese durante la notte degli imbrogli e dei sotterfugi: era necessaria la finezza di un lettore come Giovanni Pascoli per cogliere l’ipotesto virgiliano attivo nella pagina dei Promessi sposi.7 D’altronde, l’interesse di Manzoni per la dimensione del tragico doveva necessariamente, periodicamente condurlo a quel secondo libro eneadico, nel quale si rappresenta l’annichilazione di una grandezza terrena, la città di Troia, un tempo ritenuta invincibile: Urbs antiqua ruit multos dominata per annos, si compendia in Aen. ii,363. Il tema è centrale in Manzoni, attento a mostrare la relatività delle imprese umane e a giudicarle in modo pluriprospettico: pensiamo al Cinque Maggio, celebrazione di Napoleone quale imperatore esiliato, imperatore naufrago e infine »superba altezza« chinata dinanzi al »disonor del Golgota«. Già Carlo Annoni ha proposto di considerare come possibile ipotesto dell’incipitario »Ei fu« le parole rivolte a Enea dal sacerdote troiano Panto, in fuga durante quella notte mitica: Venit summa dies et ineluctabile tempus  /  Dardaniae. Fuimus Troes, fuit Ilium et ingens  /  gloria Teucrorum (Aen. ii,324–326). A tale proposta esegetica, offerta da Annoni in un saggio senz’altro tra i più decisivi della recente bibliografia critica manzoniana,8 noi aggiungiamo, per cercare di ricostruire in modo integrale una filiera di testi insigni, un passo della tassiana Gerusalemme liberata (che vede nell’Eneide il suo modello letterario principe), quando Aladino, re musulmano della Città Santa, presago dell’imminente definitiva sconfitta, afferma: Ohimè, […] ohimè, che la cittade strugge dal fondo suo barbaro sdegno, e la mia vita e ’l nostro imperio cade. Vissi, e regnai; non vivo più, né regno. Ben si può dir: »Noi fummo«. A tutti è giunto l’ultimo dì, l’inevitabil punto (Gerus. lib. xix,40,3–8).9 6  Il sintagma era già stato impiegato nel manzoniano Sermone quarto [Sulla poesia], v. 105, come viene sottolineato in Guido Bezzola, Schede critiche, Milano 1989, 27. 7  Al riguardo, si veda Gilberto Lonardi, »Le stelle, l’intrigo: appunti su Leopardi Manzoni e il secondo libro dell’Eneide«, in: Miscellanea di studi in onore di Vittore Branca (iv, Tra Illuminismo e Romanticismo), Firenze 1983, 663–676; Massimo Castoldi, » ›Dunque io torno al Manzoni e al suo immortale romanzo‹. Rileggendo Eco d’una notte mitica di Giovanni Pascoli«, Studi sul Settecento e l’Ottocento 1 (2006), 57–69. 8  Carlo Annoni, »La superbia e l’altezza. Saggio critico sul Cinque Maggio«, in: Eraldo Bellini, Maria Teresa Girardi, Uberto Motta (a cura di), Studi di letteratura in onore di Claudio Scarpati, Milano 2010, 709–713. 9  Da qui potrebbe derivare anche il passo di Sur la mort de l’empereur Charles vi di Voltaire (»Il regnait, il n’est plus«) segnalato in Salvatore Nigro, Manzoni, Ro-

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Nel capitolo xiii della Poetica, Aristotele sostiene che la caduta dell’individuo metax`y (né completamente buono né completamente malvagio) dalla buona fortuna all’infortunio è argomento proprio della tragedia e diversi esempi di un siffatto mutamento di condizione, da Aristotele definito peripéteia (per cui si veda anche il capitolo xi della Poetica), possono essere di certo avvertiti pure nelle pagine di Virgilio dedicate al racconto della distruzione di Troia, nelle quali troviamo in aggiunta un ulteriore meccanismo impiegato abitualmente nel tragico e individuato in sede teorica da Aristotele, ossia il riconoscimento, inteso quale passaggio dall’ignoranza alla conoscenza (si veda ancora Poetica, capitolo xi): i personaggi protagonisti del libro eneadico, infatti, mentre suppongono di essere in cammino verso il raggiungimento dei propri obiettivi, in realtà si stanno muovendo inconsapevolmente verso l’abisso (in termini aristotelici verso la catastrofe).10 Siffatte dinamiche si presentano con chiarezza nella vicenda più nota delle pagine virgiliane (i troiani introducono il cavallo all’interno delle mura, pensando che ciò li renderà invincibili, e la sera festeggiano, ignari della sciagura imminente, la partenza dei greci), ma osservando con maggiore attenzione vi sono altri analoghi ribaltamenti tragici nel libro eneadico. Ad esempio, mentre si aggirano per la città, Enea e i suoi compagni incontrano un gruppo di soldati greci guidati da Androgeo, il quale, tragicamente inscius, scambia i troiani per greci e li sollecita a proseguire nell’opera di guasto: Festinate, viri; nam quae tam sera moratur  /  segnities? alii rapiunt incensa feruntque  /  Pergama; vos celsis nunc primum ma-Bari 1988, ad locum. Si tratta di un »modulo topico dell’oratoria funebre«, come afferma Gianmarco Gaspari (Antologia della poesia italiana, vol. iii, Ottocento-Novecento, Torino 1999, 152), il quale ricorda l’esordio della Lamentazione poetica di Giuseppe Colpani in morte di Paolo Frisi (1778): »Ei non è più: di lacrime  /  l’urna, ove Frisi giace,  /  spargiamo, e al freddo cenere  /  preghiamo riposo, e pace« (Opere, iii, Vicenza 1784, 93). Una mappa della fortuna di questo modulo da iscrizione funeraria dovrebbe tenere conto anche del Coro di morti nello studio di Federico Ruysch, nelle Operette morali leopardiane (»Vivemmo: e qual di paurosa larva,  /  e di sudato sogno,  /  a lattante fanciullo erra nell’alma  /  confusa ricordanza:  /  tal memoria n’avanza  /  del viver nostro: ma da tema è lunge  /  il rimembrar. Che fummo?  /  Che fu quel punto acerbo  /  che di vita ebbe nome?«), a commento del quale è stato convocato un canto carnascialesco machiavelliano, il Canto di diavoli scacciati di cielo: »Già fummo, or non siam più, Spirti beati;  /  per la superbia nostra dal ciel tutti scacciati« (Massimo Natale, Il curatore ozioso. Forme e funzioni del coro tragico in Italia, Venezia 2013, 369). Non mi pare vi sia un rimando a questo testo di Machiavelli nelle edizioni commentate del Cinque maggio. Eppure tali strofe carnascialesche compaiono anche nel Trattato della letteratura italiana dal secolo xiv fino al principio del secolo xix di J. C. L. Simonde De Sismondi, tra l’altro pubblicato in traduzione italiana nel 1820, a Milano, presso Giovanni Silvestri (tomo i, capitolo vii, 285). 10  Per un’analisi approfondita e chiarissima del testo antico si veda l’Introduzione di Pierluigi Donini ad Aristotele, Poetica, Torino 2008, vii–clxxxii.



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a navibus itis?, Aen. ii,372–375. Una volta accortosi del proprio errore, Androgeo è immobilizzato dalla paura:         Sensit medios delapsus in hostis. Obstipuit retroque pedem cum voce repressit. Inprovisum aspris veluti qui sentibus anguem pressit humi nitens trepidusque repente refugit attollentem iras et caerula colla tumentem: haut secus Androgeos visu tremefactus abibat (Aen. ii,378–382).

I troiani dunque, dopo aver ucciso Androgeo e i suoi, decidono di indossare le armi dei greci per ingannare altri soldati. È Corebo a esortare i compagni ad operare in tal senso: »O socii, qua prima« inquit »fortuna salutis monstrat iter quaque ostendit se dextra, sequamur; mutemus cliopeos Danaumque insignia nobis aptemus. Dolus an virtus, quis in hoste requirat? Arma dabunt ipsi« (Aen. ii,387–391).

L’appropriazione delle armi rappresenta il corrispettivo narrativo dell’assunzione da parte dei troiani del medesimo atteggiamento morale dei loro avversari: i greci, infatti, sono riusciti ad espugnare la città di Troia soltanto grazie al dolus del cavallo di legno. Per tale ragione, in una logica di reciprocità al negativo, Corebo si sente legittimato a compiere a sua volta un atto di per sé moralmente biasimevole: Dolus an virtus, quis in hoste requirat? I troiani decideranno di assecondare la proposta di Corebo e tuttavia essa si rivelerà infruttuosa: Enea e i suoi compagni saranno scambiati per nemici da altri troiani e pertanto colpiti dalle armi dei propri concittadini. La nuova situazione tragica è senz’altro determinata da una scelta precisa dei troiani, eppure bisogna riconoscere che una lettura in senso morale di tali vicende sarebbe probabilmente inopportuna, poiché nella visione fatalistica di Virgilio la caduta di Troia è già stabilita da tempo e l’uomo, in un mondo fatalisticamente determinato, non ha alcuna possibilità di incidere realmente sul corso della storia. Pochi versi dopo il poeta latino è esplicito: Cadit et Ripheus, iustissimus unus  /  qui fuit in Teucris et servantissimus aequi  /  (dis aliter visum), Aen. ii,426–428. Da questo punto di vista va messa in rilievo, tra tanti elementi di vicinanza, anche una certa inattualità di Virgilio per l’illuminista cristiano Manzoni, intento a conferire, nella propria riflessione sul tragico, particolare rilievo al problema morale e a svolgere, nelle sue opere, un approfondimento »intorno alle forze anarchiche dell’odio o dell’orgoglio da cui è sconvolta la storia sempre insicura dell’uomo«.11 11  Ezio Raimondi, Metafora e storia. Studi su Dante e Petrarca, Torino 1970, 148. Per quanto riguarda la riflessione di Manzoni attorno alla Poetica aristotelica segna-

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Abbiamo parlato prima di una lunga fedeltà di Manzoni a Virgilio e alle numerose reminiscenze già avvertite dai critici desideriamo aggiungerne una nuova, ascoltando, in alcuni versi dell’incompiuto inno sacro di Ognissanti, una eco del passo virgiliano citato sopra (Aen. ii,387–391). Nelle ultime strofe del componimento l’io poetico si rivolge alla Vergine Maria con queste parole: Te sola dell’angue nemico non tocca né prima né poi: dell’angue che appena su noi l’indegna vittoria compiè, traendo l’oblique rivolte, rigonfio e tremante, tra l’erba, sentì sulla testa superba il peso del puro tuo piè (v. 49–56).

In queste quartine, fondate dal punto di vista teologico su Gen. 3,15 (Inimicitias ponam inter te et mulierem, et semen tuum et semen illius; ipsa conteret caput tuum, et tu insidiaberis calcaneo eius),12 origine di una serie ininterrotta di riprese anche figurative (pensiamo alla caravaggesca Madonna dei Palafrenieri), i riferimenti scritturistici si accompagnano a quelli dei testi profani, classici e volgari: i commentatori, per quanto riguarda la tradizione letteraria in lingua italiana, abitualmente ricordano un passo dell’Inferno dantesco (Occulto come in erba l’angue, vii,84), mentre, per quanto riguarda i testi latini, è naturale il rimando a un passo delle Bucoliche: Qui legitis flores et humi nascentia fraga,  /  frigidus, o pueri, fugite hinc, latet anguis in herba, Buc. iii,92–933. Un commento intertestuale adeguato a questi versi di Ognissanti deve però tener conto anche di altri passi virgiliani, non solo convocando la quarta Bucolica, v. 24–25, e i suoi toni profetici (Occidet et serpens, et fallax herba veneni  /  occidet; Assyrium vulgo nascetur amomum),13 ma anche e soprattutto – il suggerimento è di Franco Fortini – un passo delle Georgiche (iv,457–459), nel racconto del mito di Orfeo ed Euridice: Illa quidem, dum te fugeret per flumina praelo due contributi di particolare interesse: Claudio Scarpati, »Pietà e terrore nell’Adelchi«, in: Invenzione e scrittura. Saggi di letteratura italiana, Milano 2005, 265– 287; Carlo Annoni, Lo spettacolo dell’uomo interiore. Teoria e poesia del teatro manzoniano, Milano 1997, in particolare le pagine 23–42. 12  Il passo veterotestamentario viene ricordato da Manzoni stesso in nota ai v. 73–76 de Il nome di Maria: »con Lei  /  era il pensier de’ vostri vati,  /  quando annunziâro i verginal trofei  /  sovra l’inferno alzati«. 13  Per i legami tra quest’ecloga virgiliana e i testi di Manzoni (soprattutto La Pentecoste) si veda Aurelia Accame Bobbio, La formazione del linguaggio lirico manzoniano, Roma 1963, 111–115, e Giuseppe Langella, Manzoni poeta teologo (1809– 1819), Pisa 2009, 166–196.



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ceps,  /  immanem ante pedes hydrum moritura puella  /  servantem ripas alta non vidit in herba.14 A tal proposito, ricordo che in un altro inno di Manzoni, Il nome di Maria, sempre dunque in un contesto mariano, si fa riferimento al medesimo episodio narrato nel poema didascalico latino: »Te, quando sorge, e quando cade il die« (Il nome di Maria, v. 41) riascolta chiaramente Ipsa cava solans aegrum testudine amorem  /  te, dulcis coniux, te solo in litore secum,  /  te veniente die, te decedente canebat (Georg. iv,464–466), magari contaminando anche i v. 9–12 dei Carmina oraziani (ii,9): Tu semper urges flebilibus modis  /  Mysten ademptum, nec tibi Vespero  /  surgente decedunt amores,  /  nec rapidum fugiente solem. Nelle sue pagine mariane Manzoni attua insomma quasi una riscrittura della vicenda mitica di Euridice, mutandone l’esito però, secondo la prospettiva di risurrezione propria del cristianesimo. Nel passo eneadico menzionato poc’anzi compaiono inoltre numerose tessere lessicali riecheggiate da Manzoni, come il caerula colla tumentem che diventerà il rigonfio dell’inno sacro. Così, il tremante di Ognissanti non è che una trasposizione dall’assalito all’assalitore (trasposizione invero significativa: è il serpe a dover temere nella nuova paradossale logica della redenzione) del trepidus e del tremefactus di Virgilio. La testa superba poi, se da un lato recupera tutta una simbolica cristiana (per cui si veda il passo agostiniano segnalato da Clara Leri nel suo commento all’inno: »Pectore et ventres repes. Nomine enim pectoris significatur superbia, quia ibi dominatur impetus animi«),15 dall’altro lato è una traduzione dell’attollentem iras del serpe di Virgilio. Il poeta latino inoltre, come si è ricordato prima citando il saggio Del romanzo storico, è maestro di elocuzione e pertanto ha di certo influito su Manzoni non solo dal punto di vista prettamente lessicale, ma anche da quello fonico e retorico (si vedano, ad esempio, le allitterazioni e le annominationes), come può dimostrare il confronto sinottico tra i versi dell’Eneide di cui stiamo discorrendo e la strofa conclusiva di Ognissanti: Traendo l’oblique rivolte, rigonfio e tremante, tra l’erba, sentì sulla testa superba il peso del puro tuo piè

Con tali rilievi intertestuali non si intende affatto ridimensionare l’originalità dei versi di Manzoni, ma soltanto riconoscere nella tradizione letteraria una dimensione che si configura nel poeta nuovo quale »condi14  Franco Fortini, »L’Ognissanti e l’›animo verginale‹ «, in: Nuovi saggi italiani, ii, Milano 1987, 50. 15  Alessandro Manzoni, »Inni sacri« e altri inni cristiani, a cura di Clara Leri, Firenze 1991, 252.

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zionamento e aiuto al dire«.16 In tal senso, va ricordata anche una similitudine virgiliana, alcuni versi dopo quelli citati, impiegata per descrivere la violenza di Pirro nella notte della presa di Troia: Qualis ubi in lucem coluber mala gramina pastus, frigida sub terra tumidum quem bruma tegebat, nunc, positis novus exuviis nitidusque iuventa, lubrica convoluit sublato pectore terga arduus ad solem, et linguis micat ore trisulcis (Aen. ii,471–475).

In questo passo ritroviamo nuovamente il riferimento al gonfiore del serpe (il »rigonfio« di Manzoni), vero e proprio topos, letterarissimo, e dove troviamo, inoltre, l’arduus che richiama l’attollentem del passo citato prima, dal quale dipende la testa superba del serpe di Ognissanti.17 Allo stesso modo, le »oblique rivolte« richiamano un tratto formidabile del serpente di certo archetipico e per questo motivo assai diffuso in lettera16  Gian Biagio Conte, Memoria dei poeti e sistema letterario. Catullo, Virgilio, Ovidio, Lucano, nuova edizione, Palermo 2012, 169–178. Per altri testi qui riecheggiati da Manzoni si veda Bobbio, La formazione del linguaggio lirico manzoniano, 144–145, con i rimandi ai sonetti ix e xv del Frugoni (»Ella col bianco piè l’orrida preme  /  superba testa« e »E vinte dando al suol le terga  /  frema sotto il bel piè l’angue nemico«). Molto opportunamente Pierantonio Frare (»Dalla ›splendida bile‹ alla ›socratica ironia‹: Parini e Manzoni«, in: Bortolo Martinelli, Carlo Annoni, Giuseppe Langella (a cura di), Le buone dottrine e le buone lettere. Brescia per il bicentenario della morte di Giuseppe Parini. 17–19 novembre 1999, Milano 2001, 229–255) sottolinea alcuni legami tra questo passo e la favola di Amore e Imene narrata nel Mezzogiorno (v. 416–427) di Parini (Meriggio 414–425, con qualche variante). 17  Oltre al notissimo passo a descrizione della morte di Laocoonte (Aen. ii,203– 257), altri luoghi dell’Eneide vanno ricordati a tal proposito: Qualis saepe viae deprensus in aggere serpens,  /  aerea quem obliquum rota transiit aut gravis ictu  /  seminecem liquit saxo lacerumque viator;  /  nequiquam longos fugiens dat corpore tortus  /  parte ferox ardensque oculis et sibila colla  /  arduus attollens, pars volnere clauda retentat  /  nexantem nodis seque in sua membra plicantem (Aen. v,273–279; passo che viene citato in modo esplicito da Manzoni nella sua lettera al marchese Alfonso della Valle di Casanova del 30 marzo 1871; Alessandro Manzoni, Tutte le lettere, a cura di Cesare Arieti, Con un’aggiunta di lettere inedite o disperse, a cura di Dante Isella, Milano 1986, volume iii, 393) e Utque volans alte raptum cum fulva draconem  /  fert aquila implicuitque pedes atque unguibus haesit,  /  saucius at serpens sinuosa volumina versat  /  arrectisque horret squamis et sibilat ore  /  arduus insurgens, illa haud minus urget obunco  /  luctantem rostro, simul aethera verberat alis (Aen. xi,751–756). Marco Corradini, commentando Il ritratto del Serenissimo don Carlo Emanuello di Giovan Battista Marino, offre altre testimonianze della convenzionalità di alcuni elementi nella descrizione letteraria del serpe, ricordando, oltre a diverse opere mariniane (Sampogna i, Orfeo, v. 55–79 e Adone iv,135–142), anche Gerus. lib. xv,48, dove si parla del serpente posto a sorveglianza del palazzo di Armida; si veda Marco Corradini, In terra di letteratura. Poesia e poetica di Giovan Battista Marino, Lecce 2012, 47–51.



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tura (e anche in Virgilio). Il quinto libro dell’Eneide, sul quale il Manzoni scolaro si era soffermato per l’esercizio di traduzione, presenta il celebre episodio del serpe lubricus che si nutre delle vivande preparate da Enea per il sacrificio in onore del padre: Adytis cum lubricus anguis ab imis septem ingens gyros, septena volumina traxit amplexus placide tumulum lapsusque per aras, caeruleae cui terga notae maculosus et auro squamam incendebat fulgor, ceu nubibus arcus mille iacit varios adverso sole colores. Obstripuit visu Aeneas. Ille agmine longo tandem inter pateras et levia pocula serpens libavit dapes rursusque innoxius imo successit tumulo et depasta altaria linquit (Aen. v,84–93).18

La figura simbolica del serpe è dunque centrale nell’inno sacro di Ognissanti, componimento caratterizzato, come ha scritto Franco Fortini, da un alto grado di impasto fonico e semantico.19 Considerando in modo esclusivo le due quartine finali dell’inno, si noti che l’angue manzoniano è posto 18  Di questi passi offro la traduzione di Annibal Caro: »E come attonito  /  restando, con la voce il piè ritrasse.  /  Come repente il vïator s’arretra,  /  se d’improvviso fra le spine un angue  /  avvien che prema, ed ei premuto e punto  /  d’ira gonfio e di tosco gli s’avventi;  /  così dal nostro subitano incontro  /  sovraggiunto in un tempo e spaventato,  /  Andrògeo per fuggir ratto si volse« (Eneide ii,621–629); »Tale un colúbro mal pasciuto e gonfio,  /  di tana uscito, ove la fredda bruma  /  lo tenne ascoso, a l’aura si dimostra,  /  quando, deposto il suo ruvido spoglio,  /  ringiovenito, alteramente al sole  /  lubrico si travolve: e con tre lingue  /  vibra mille suoi lucidi colori« (Eneide ii,769–775); »Mentre così dicea, di sotto al cavo  /  de l’alto avello un gran lubrico serpe  /  uscio placidamente; e sette volte  /  con sette giri al tumulo s’avvolse.  /  Indi, strisciando infra gli altari e i vasi,  /  le vivande lambendo, in dolce guisa,  /  con le cerulee sue squamose terga  /  sen gio divincolando, e quasi un’Iri  /  sole avverso scintillò d’intorno  /  mille vari color di luce e d’oro.  /  Stupissi Enea di cotal vista; e l’angue  /  di lungo tratto infra le mense e l’are,  /  ond’era uscito alfin si ricondusse« (Eneide v,121–133). Svolgendo una riflessione complessiva sull’endecasillabo sciolto, nella lettera a Claude Fauriel del 9 febbraio 1806, Manzoni elogia Virgilio e Annibal Caro: »Lo Sciolto parmi veramente il più bello dei nostri metri, quando è ben maneggiato. Parmi ch’esso abbia, come l’esametro latino, il pregio di prendere ogni colorito. Virgilio ha dato a quello semplicità delicatezza eleganza nelle bucoliche, soavità mollezza esattezza spirito poetico nelle georgiche, maestà passione evidenza nell’epico, armonia e varietà sempre. Orazio lo ha fatto gentile familiare arguto, fedele sempre al pensiero. Noi abbiamo una prova della flessibilità dello sciolto nella traduzione che il Caro ha fatto dell’Eneide, nella Coltivazione dell’Alamanni (monotona però sovente, ma per difetto dell’autore non della natura del verso), e in quel modo di satireggiare del Parini, tutto suo proprio« (Manzoni, Tutte le lettere, volume i, 18). 19  Fortini, »L’Ognissanti e l’›animo verginale‹ «, 36–55.

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»tra l’erba«. Il sostantivo erba era già comparso in questo componimento al v. 9: »A Lui che nell’erba del campo  /  la spiga vitale nascose,  /  il fil di tue vesti compose,  /  de’ farmachi il succo temprò«. Nell’erba si trovano dunque la spiga vitale, il fil delle vesti dell’uomo, il succo dei farmaci, ma anche l’»angue nemico« del verso 49 e da questo punto di vista possiamo notare che qui la poesia di Manzoni tenta di svolgere una riflessione sulla realtà creaturale, voluta da Dio, e sulla presenza, nel reale, del mysterium iniquitatis. A tale proposito, Manzoni sembra essere in linea con la tradizione giudaico-cristiana secondo la quale il male non viene da Dio ed è destinato a essere sconfitto definitivamente alla fine dei tempi. Nella teologia cristiana anzi la vittoria di Cristo sul male e sul peccato è già avvenuta ed è per tale motivo che nelle ultime quartine di Ognissanti vengono impiegati soltanto verbi di tempo passato (variando dunque rispetto alla fonte veterotestamentaria). Se nella dimensione storica della vita terrena l’essere umano è ancora abitato da questo conflitto tra bene e male, tuttavia, nella logica redentiva di Dio, anche il male, inteso come debolezza fisica e come debolezza morale, può diventare strumento per la vittoria del bene. È quanto sembrerebbe emergere dalla lettura di un altro passo di Ognissanti: E, come l’umor, che nel limo errava sotterra smarrito, da subita vena rapito che al giorno la strada gli fa, si lancia e, seguendo l’amiche angustie, con ratto gorgoglio si vede d’in cima allo scoglio in lucido sgorgo apparir, sorgeste già puri, e la vetta, sorgendo, toccaste, dolenti e forti, a magnanimi intenti nutrendo nel pianto l’ardir, un timido ossequio non veli le piaghe che il fallo v’impresse: un segno divino sovr’esse la man, che le chiuse, lasciò (v. 29–44).

Nelle prime quartine citate si fa riferimento al fenomeno dei fiumi carsici e dell’acqua che spinta dalle »amiche  /  angustie« viene sollecitata a sgorgare in superficie. Pierantonio Frare, che per primo ha sostenuto questa proposta esegetica,20 sottolinea che l’»angue nemico« delle quartine conclusive di 20  Pierantonio Frare, » ›L’amiche angustie‹. Saggio su Ognissanti«, in: I cantici di Manzoni, Atti del Convegno di Ginevra (15–16 maggio 2012), in corso di pubblica-



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Ognissanti è fonicamente e lessicalmente prossimo alle »amiche  /  angustie« dei versi ora ricordati. Il legame tra questa immagine liquida e quella finale del serpe può essere suffragata anche dal fatto che nelle carte preparatorie di queste quartine, leggiamo le seguenti varianti d’autore: E come sotterra smarrito umor, che rigonfio di limo, per vani di tenebre all’imo con sordo muggito sen va.21

In questi versi troviamo riferito all’umor il rigonfio che nell’ultima stesura del componimento descrive l’»angue nemico«. Coerentemente in Ognissanti si afferma che la memoria del peccato può essere impiegata in modo proficuo nel cammino di conversione, poiché essa ricorda al credente il dono della grazia: le »piaghe« »impresse« dal »fallo« nel corpo dei santi penitenti non vanno velate da un »timido ossequio« poiché »un segno divino, sovr’esse  /  la man, che le chiuse, lasciò« (e si noti la dispositio verborum di quest’ultimo verso, tesa a rendere visivamente l’immagine delle mani divine che chiudono, abbracciandole, le ferite del peccato, indicate dal pronome posto al centro del novenario: la proposizione reggente apre e chiude il verso, tenendo al suo interno una relativa al cui centro abbiamo il le che indica le ferite; ma si vedano anche le figure di suono, che quasi disegnano due cerchi concentrici: »la man, CHe le CHiuse, lasciò«). Non credo sia mai stato sottolineato, ma ritengo probabile che in questo passo la poesia di Manzoni stia alludendo a un’opera tra le più celebri della tradizione letteraria italiana, Il mattino di Giuseppe Parini; si tratta dei primissimi (e quindi notissimi tra gli altri) versi del poema: Già l’are a Vener sacre e al giocatore Mercurio ne le Gallie e in Albione devotamente hai visitate, e porti pur anco i segni del tuo zelo impressi (v. 16–19).

Il »giovin signore« porta ancora su di sé le tracce del vizio, coltivato tra le case di piacere e nel gioco d’azzardo, tra Francia e Inghilterra. È anche su queste piaghe che nella prospettiva dell’inno sacro di Manzoni Dio ha lasciato il segno della redenzione. Allo stesso modo, in Ognissanti 25–28, notiamo che la dimensione tragica del peccato subisce – senza alcun rapzione. Dello stesso autore si veda inoltre »Le angustie dei santi. Modelli danteschi per l’Ognissanti manzoniano«, in: Sabrina Fava (a cura di), … Il resto vi sarà dato in aggiunta. Studi in onore di Renata Lollo, Milano 2014, 69–80. 21  Alessandro Manzoni, Poesie e tragedie, volume i, a cura di Fausto Ghisalberti, in: Tutte le opere, a cura di Alberto Chiari, Fausto Ghisalberti, Milano 1957, 258.

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porto di causalità, senza che l’uomo possa vantare alcun merito – un insperato meccanismo di dissoluzione: E voi che gran tempo per ciechi sentier di lusinghe funeste correndo all’abisso, cadeste in grembo a un’immensa pietà.

Nell’abisso i santi peccatori hanno incontrato il grembo della pietà divina, risorgendo »già puri« (v. 37) alla vita eterna. Questa ultima possibilità di salvezza inserisce i credenti peccatori nell’evento pasquale, come si nota leggendo i v. 108–112 della Risurrezione: Ma che fia di chi rubello torse, ahi stolto! i passi erranti nel sentier che a morte guida? Nel Signor chi si confida col Signor risorgerà.

Il verbo sorgere è il verbo della salvezza. »All’uom la mano Ei porge,  /  che si ravviva, e sorge  /  oltre l’antico onor«, si afferma nel Natale, v. 33–35, dove inoltre la rinascita spirituale alla grazia viene espressa attraverso l’immagine del fiore: »Ove copriano i bronchi  /  ivi germoglia il fior«, v. 41–42. Notiamo come questa dinamica verticale, di ascesa, sia opposta a quella delle »oblique rivolte« del serpe ricordate al v. 53 di Ognissanti, nelle quali si esprime una caratteristica precipua del male per Manzoni, ossia la sua ripetitività compulsiva e di fatto regressiva. Il male è un groviglio avviluppato, che non è in grado di svolgersi e di progredire in alcun modo, destinato all’infecondità.22 Ciò emerge in molti passi di Manzoni, a cominciare dai Promessi sposi, dove troviamo la »notte dei viluppi e delle infinte« della Ventisettana (viii,79; la »notte degli imbrogli e de’ sotterfugi« in PS 1840 viii,79), così come la scala d’assedio alla casa del vicario (la »macchina fatale« che in PS 1827 xiii,18 »procede a balzi, a rivolte, per dritto e per isbieco« – e al riguardo si ricordino le rivolte di Ognissanti –, mentre in PS 1840 xiii,18 essa »s’avanza balzelloni, serpeggiando«), fino agli »affari un po’ imbrogliati«, PS 1840 xvii,33) e al »nastro serpeggiante« cui viene rassomigliato nella prosa del narratore il sentiero che conduce al castellaccio dell’innominato (PS 1840 xx,3). 22  A tal proposito si veda anche Monica Bisi, Poetica della metamorfosi e poetica della conversione: scelte formali e modelli del divenire nella letteratura, Berna 2012. Di questo volume ho offerto un’ampia recensione nel mio »Cultura pagana e cultura cristiana, metamorfosi e conversione. A proposito dello studio critico di Monica Bisi, Poetica della metamorfosi e poetica della conversione«, Annali di storia dell’esegesi 31 (2014), 233–250.



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Espressioni analoghe appaiono a più riprese soprattutto nelle pagine della Milano appestata, come nella descrizione di un carro dei monatti, dove troviamo un accostamento tra le serpi e le chiome virginali, a rendere figurativamente la dimensione storica in cui si giocano le vicende umane, in attesa della vittoria del puro piede della Vergine sul serpe, secondo quanto abbiamo letto in Ognissanti: Erano que’ cadaveri, la più parte ignudi, alcuni mal involtati in qualche cencio, ammontichiati, intrecciati insieme, come un gruppo [nella Ventisettana »quasi un viluppo«] di serpi che lentamente si svolgano al tepore della primavera; ché, a ogni intoppo, a ogni scossa, si vedevan que’ mucchi funesti tremolare e scompaginarsi bruttamente, e ciondolar teste, e chiome verginali arrovesciarsi, e braccia svincolarsi, e batter sulle rote (PS 1827 xxxiv,26).

Così, sempre nella Milano appestata, è possibile vedere roghi accesi con vestiti, letti e masserizie infette a bruciare e il fumo che »s’allargava e s’avvolgeva in ampi globi, perdendosi poi nell’aria immobile e bigia« (PS 1840 xxxiv,3). Tale linguaggio metaforico costante nelle opere manzoniane tocca due diversi ambiti, che nella visione di Manzoni vengono concepiti come strettamente interconnessi: l’ambito morale e quello più specificatamente letterario. La ciclicità del peccato implica una scrittura incapace di svolgimento, di progressione, di discorso. Al riguardo, viene in mente l’»eloquenza appassionata e avviluppata di Renzo« presso l’osteria milanese della Luna piena (xiv,59; nella Quarantana diventerà »appassionata e imbrogliata«), dove si noti la relazione tra dimensione morale (appassionata) e retorica (avviluppata). La mancanza di svolgimento discorsivo come equivalente, nella comunicazione interpersonale, di involuzione morale si rivela nelle parole di Don Rodrigo, mentre impreca contro fra Cristoforo: » ›Quel frate!‹ la parola gli usciva arrantolata dalla gola, e smozzicata tra’ denti, che mordevano il dito: il suo aspetto era brutto come le sue passioni«. Don Rodrigo è un iracondo. Nell’edizione Ventisettana del romanzo troviamo come variante di gola il termine strozza (»la parola usciva arrantolata dalla strozza«) che rimanda ai versi infernali della Commedia dedicati ai peccatori immersi nella palude stigia: »Quest’inno si gorgoglian ne la strozza  /  ché dir nol posson con parola integra« (Inf. vii,125–126), con la stessa identità tra la mancanza di svolgimento integrale della parola e regressione passionale, unita, quest’ultima, all’inconscio meccanismo autocensorio proprio degli iracondi tristi o degli accidiosi.23 Analoga situazio23  Nel commento alla Commedia di Anna Maria Chiavacci Leonardi (vol. i, Inferno, Milano 1991, 235) si rimanda a due testi medievali: Ira, cum non potest se vindica-

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ne (ma forse stiamo indicando una fonte della fonte) era capitata ai contadini della Licia, che, secondo il racconto delle Metamorfosi ovidiane, avevano intorbidato l’acqua alla quale Latona voleva dissetarsi e dissetare i suoi figli e che pertanto erano stati trasformati in rane:               Sed nunc quoque turpes litibus exercent linguas, pulsoque pudore, quamvis sint sub aqua, sub aqua maledicere temptant. Vox quoque iam rauca est, inflataque colla tumescunt, ipsaque dilatant patulos convicia rictus. […] Limosque novae saliunt in gurgite ranae (Met. vi,374–381).24

Al contrario, lo svolgersi, il dispiegarsi ha un valore positivo in Manzoni, come leggiamo in una pagina del romanzo, a descrizione dei gesti compiuti dall’innominato la sera della conversione: Trovò in fatti in un cantuccio riposto e profondo della mente, le preghiere ch’era stato ammaestrato a recitar da bambino; cominciò a recitarle; e quelle parole, rimaste lì tanto tempo ravvolte insieme, venivano l’una dopo l’altra come sgomitolandosi. Provava in questo un misto di sentimenti indefinibile; una certa dolcezza in quel ritorno materiale all’abitudini dell’innocenza; un inasprimento di dolore al pensiero dell’abisso che aveva messo tra quel tempo e questo; un ardore d’arrivare, con opere di espiazione, a una coscienza nuova, a uno stato il più vicino all’innocenza, a cui non poteva tornare; una riconoscenza, una fiducia in quella misericordia che lo poteva condurre a quello stato, e che gli aveva già dati tanti segni di volerlo (PS 1840 xxiv,95).

Gilberto Lonardi ha sottolineato che questo nesso tra etica e scrittura letteraria, con l’impiego del medesimo linguaggio metaforico, è presente anche nella manzoniana lettera a Chauvet sull’unità di tempo e di luogo nella tragedia: la caratteristica propria della tragédie classique francese, soprattutto raciniana, è il ripiegarsi, mentre quella propria del dramma storico (Shakespeare) è lo srotolarsi. Manzoni pertanto, fin dalla sua prima tragedia, il Conte di Carmagnola, intende offrire un testo teatrale dove l’azione »se déroulera d’une manière plus conforme à la réalité«. La tragedia francese invece, secondo Manzoni, si muove sempre sugli stessi passi, diventando ripetitiva. Per tale motivo Lonardi, commendando queste osre, tristatur, et ideo ex ea nascitur accidia (Compendium Theologicae Veritatis, l. iii, c. vii) e In ira nasce e posa  /  accidia neghittosa (Brunetto Latini, Tesoretto 2683–2684). 24  Ma si veda anche Aen. vii,460–466, a descrizione dell’ira crescente di Turno: Arma amens fremit, arma toro tectisque requirit;  /  saevit amor ferri et scelerata insania belli,  /  ira super: magno veluti cum flamma sonore  /  virgea suggeritur costis undantis aeni  /  exsultantque aestu latices, furit intus aquai  /  fumidus atque alte spumis exuberat amnis,  /  nec iam se capit unda, volat vapor ater ad auras.



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servazioni metaletterarie, parla di una tragedia-serpente, che persegue un »movimento ossessivamente circolare, insidioso«.25 Nella Lettre tale opposizione manzoniana, che identifica nella tragedia classica francese la trasposizione letteraria del principio di cieca ripetitività delle passioni, ha un corrispettivo teorico nella lotta di Manzoni contro la ripetizione acritica di una serie di norme estetiche come quelle di unità di tempo e luogo, accolte da alcuni lettori senza alcun vaglio dialettico. Per rimanere sempre nell’ambito della riflessione metaletteraria, leggendo la Lettera sul romanticismo del 1823, notiamo che allo stesso modo tale tendenza ad un’acritica reiterazione viene ravvisata da Manzoni pure nel continuo impiego della mitologia all’interno delle opere letterarie. Secondo l’autore milanese, infatti, non è possibile utilizzare il linguaggio della mitologia senza che ciò non implichi anche un accoglimento, sia pure implicito, delle idee (principi, valori) sottese a tale linguaggio. Nella lotta contro i postulati di un certo aristotelismo e nell’avversione nei confronti della mitologia nelle opere letterarie Manzoni mostra un’attenzione particolare nei riguardi della tradizione, che proprio per la sua importanza deve essere esaminata con atteggiamento dialettico. In Ognissanti al serpe quale simbolo di cieca ripetitività si oppone l’immagine del fiore: A Quello [sc. a Dio] domanda, o sdegnoso, perché sull’inospite piagge, al tremito d’aure selvagge, fa sorgere il tacito fior, che spiega davanti a Lui solo la pompa del pinto suo velo che spande ai deserti del cielo gli olezzi del calice e muor (v. 17–24).

Il fiore sorge (si ricordino i versi del Natale e della Risurrezione prima citati) e spiega davanti a Dio »la pompa del pinto suo velo«. Questa immagine del fiore era già apparsa, oltre che nel Natale, anche nella Pentecoste (v. 103–112). Nei versi di Ognissanti Manzoni sta esprimendo la propria avversione nei riguardi della dottrina utilitaristica; la cosa è ben nota, eppure bisogna riconoscere che tale condanna dell’utilitarismo implica anche una difesa, da parte dell’autore milanese, del valore della poesia, rappresentata 25  Gilberto Lonardi, Ermengarda e il pirata. Manzoni, dramma epico, melodramma, Bologna 1991, 97. Sulla Lettre si vedano anche le belle pagine di Carlo Annoni, »Manzoni e la critica della ragion teatrale«, in: Paola Ponti (a cura di), Letteratura e oltre. Studi in onore di Giorgio Baroni, Pisa  /  Roma 2012, 101–105.

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spesso nelle opere di Manzoni proprio con l’immagine del fiore. Se il simbolo del serpente è legato, infatti, secondo il nostro percorso intratestuale, a un’idea di scrittura e di letteratura, non sarebbe forse da escludere che analogamente il fiore possa essere opposto al serpe anche perché simbolo non solo della virtù sconosciuta in genere, ma anche dello svolgimento interdiscorsivo della parola, o meglio, secondo una lunghissima tradizione, della poesia stessa, così come Manzoni la intendeva. Si tratta di un topos letterario, quello della poesia come fiore, attestato in diversi punti delle opere di Manzoni, come possiamo leggere in un sonetto indirizzato a Francesco Lomonaco (»Francesco, e’ non fu mai chi per sentiero  /  sparso di fronde e fior fino a verace  /  gloria franco poggiasse«, v. 1–3), nell’ode amorosa Qual su le cinzie cime (»Mentr’io per le fiorenti  /  ascree piagge scorrea lungo l’aonïe  /  secrete acque, onde a me l’adito schiuse  /  il favor delle muse«, v. 39–42) e in Urania, dove i fiori sono precisamente la forza poetica di Corinna, a lei donata dalla seconda delle Grazie, Eufrosine: Aglaja in pria su la virginea gota sparse un fulgor di rosea luce, e un mite raggio di gioja le diffuse in fronte: ma la fraganza de’ castalj fiori che fanno l’opra de l’ingegno eterna, Eufrosine le diede (v. 64–69).

Non si dimentichi inoltre che il passo di Ognissanti ora a commento si ricollega ad Urania anche perché in questo poema neoclassico Manzoni intendeva rispondere al volgo »che le Dive sorelle osa insultando  /  interrogar che valga a l’infelice  /  mortal del canto il dono« (v. 39–41). Dobbiamo tornare al saggio Del romanzo storico, proseguendo la lettura del passo di questo trattato ricordato all’inizio del nostro percorso. In esso vengono riportati alcuni versi del terzo libro delle Georgiche, sicuro antecedente (si noti il riferimento alla fonte Castalia) dei versi 64–69 di Urania: Sed me Parnassi deserta per ardua dulcis raptat amor: juvat ire jugis qua nulla priorum Castaliam molli devertitur orbita clivo (Georg.

iii,291–293).

Virgilio dichiara che il dolce amore lo rapisce attraverso i »Parnassi deserta […] ardua« e pertanto si dimostra fiducioso nelle potenzialità della parola poetica di trattare in modo adeguato anche un tema umile come quello pastorale: Nec sum animi dubius verbis ea vincere magnum  /  quam sit, et angustis hunc addere rebus honorem (v. 289–290).26 Come si può 26  Entrambe le citazioni delle Georgiche sono tratte dall’ed. Manzoni, Del romanzo storico, 41 (ma correggendo l’evidente errore di molti per molli).



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notare, i Parnassi deserta […] ardua si collegano alle »inospite piagge« del fiore di Ognissanti (e, come suggerisce Frare, ai »deserti del cielo« del v. 23),27 ma forse anche il sintagma angustis […] rebus può essere riascoltato nelle »amiche  /  angustie« dell’inno sacro. Senza voler restringere la forza simbolica, quindi comprensiva, dell’immagine manzoniana, tesa a difendere contro la visione utilitaristica le virtù di tutti i »pieux solitaires«,28 si potrebbe ipotizzare che in questi versi Manzoni volesse offrire in aggiunta una difesa della poesia, lasciando a noi lettori una memorabile immagine di sé in quanto poeta, cultore della parola.

27  Frare, »L’amiche angustie«. Per un’approfondita analisi intertestuale di queste strofe si veda inoltre Giuseppe Sandrini, Il fiore del deserto e altri studi su Leopardi, Padova 2007, 7–79. Mi permetto inoltre di segnalare un mio contributo: »Leopardi e l’umanesimo cristiano di Manzoni: il Canto notturno, La ginestra, Ognissanti«, in: Francesca D’Alessandro (a cura di), »Una civilizzazione che diventerà europea«. A proposito dell’umanesimo cristiano di Manzoni, Roma 2014, 93–128. 28  Manzoni, Tutte le lettere, volume iii, lettera del 2 febbraio 1860 a Louise Colet, 199.

Come in uno specchio. Sereni, Dante e la poesia del dialogo Di Elisa Faustini di vite trascorse qui la brezza è loquace per te?

»Se l’idea di poesia che ogni poeta porta con sé fosse raffigurabile in uno specchio, noi vedremmo quello specchio assumere di volta in volta tutti i colori possibili, riflettere non un’immagine, ma una battaglia di immagini«.1 È in questi termini che in Esperienza della poesia, una di quelle occasioni in cui si manifestano nella produzione di Sereni le »necessarie vendette della prosa«,2 ci viene svelato, attraverso un’immagine di ascendenza biblica recuperata e resa viva nei nostri ricordi dalla sapienza registica di Ingmar Bergman, cosa si debba intendere per poesia secondo il poeta. L’idea cui si accenna è in fondo tutta concreta: è il fare discorso poetico, categoria d’azione prima ancora che principio ispiratore, del Sereni fabbro e dei suoi strumenti innanzitutto. Questa »idea di poesia«, che ci è dato di scorgere solo in battaglia, ovvero in un confronto serrato, è pensiero in potenza, già forma in movimento nell’esperienza pregressa che non acquisisce stabilità se non nella sua manifestazione icastica, se non nella comprensione che richiede una trasposizione al di fuori del sé. La poesia è per Sereni esistenza in dialogo, fatta di voci differenti, che provengono da tempi e spazi diversi, ma che si rifugiano tutte nella mente e nell’animo del poeta che le fa parlare per altri. In questa visione dialogica della creazione poetica, dove l’ascolto e la parola assumono un’importanza straordinaria, Sereni include, al pari dei ricordi di vita, anche quelli letterari, sempre da rintracciare, per la costruzione criptata del dettato, come in uno specchio. 1  Vittorio Sereni, Esperienza della poesia, in: Poesie e prose, a cura di Giulia Raboni, con uno scritto di Pier Vincenzo Mengaldo, Milano 2013, 581 (il saggio risale al 1947). 2  Pier Vincenzo Mengaldo, Il solido nulla, in: Vittorio Sereni, Poesie, a cura di Dante Isella, Milano 1995, lxxvi (ed. or. 1986). Da questa edizione verranno citati tutti i testi poetici sereniani.

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Necessariamente deformati e deformanti, questi secondi ricordi risuonano alle orecchie del lettore come allusioni travestite da reminiscenze, che hanno la parvenza di semplici richiami sonori o di riproposizioni apparentemente involontarie di immagini, senza scopi sovrastrutturali, ma che in realtà non sono per nulla ingenue e tanto meno casuali, nella loro prerogativa di aprire il testo, renderlo dinamico e riproporlo nel tempo.3 A voler dare una definizione più precisa a tali allusioni, per la loro capacità di apparire come illuminazioni improvvise, identità svelate sulla scena, bisognerebbe focalizzare l’attenzione sul fruitore del testo, e chiamarle, come ha suggerito Nencioni, agnizioni di lettura, in grado non solo di instaurare una forte complicità tra autore e lettore, ma altresì di emozionare chi legge rendendolo protagonista quasi quanto il creatore, perché artefice del senso a sua volta. La creazione poetica di Sereni, nel suo manifestarsi essenzialmente e potremmo dire programmaticamente aperta, parrebbe fondarsi sulla figura stessa del dialogo ed esso è in modo innegabile categoria che informa l’opera del poeta a vari livelli: costruttivo-strutturale, formale e del contenuto. La propensione al dialogo, inteso come capacità di aprirsi alla vastità e varietà del mondo, segno di quella feconda umanità che rende più viva e solida l’arte del poeta di Luino, non è che la forza scatenante del fare poesia da parte di Sereni, circostanza che induce il lettore a riandare alla sua opera come si farebbe per il »giornale di bordo di una lunga esplorazione«.4 Al centro dell’indagine conoscitiva intrapresa dalla poesia di Sereni è ravvisabile infatti un processo che Isella ha definito di »sospesa, perplessa decifrazione della vita«,5 la capacità dell’uomo di nominare ciò che lo circonda identificandolo, vale a dire il dialogo tra l’idea di realtà del poeta con la realtà vera e propria, dell’ideale con il reale. Questa fluidità nella visione del mondo non manca di trovare riflesso nei potenziali sviluppi offerti dalle testimonianze manoscritte dell’opera di Sereni, le quali, attraverso »modifiche, aggiunte, deviazioni e articolazioni successive«,6 manifestano l’incessante battaglia delle immagini, stratificate nell’esperienza e nei ricordi, coesistenti in un vorticoso movimento che il poeta non fa cessare perché possibilità di scelta perennemente a disposizione. La dialogicità entra in maniera definitiva a far parte dell’opera di Sereni nel momento stesso in cui il poeta riesce a vincere »l’evasività sociale«7 di 3  Gianfranco Contini, Filologia, in: Breviario di ecdotica, Torino 1990, 9–10 (ed. or. 1977). 4  Dante Isella, Prefazione, in: Sereni, Poesie, xii. 5  Ibid., xiii. 6  Ibid., xii. 7  Giacomo Debenedetti, Il poeta da giovane, in: Sereni, Poesie, xx (ed. or. 1974).



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quel linguaggio puro che, nei componimenti giovanili, l’aveva avvicinato all’ermetismo: la comparsa felice delle trame di una storia personale nei testi poetici, in corrispondenza di una contaminazione della poesia con la prosa, o meglio, di un linguaggio poetico selettivo in senso petrarchesco con uno più autenticamente prosastico, in quanto descrittivo dell’esperienza, segna l’ingresso in poesia del dialogo come forma del discorso e delle figure altre del poeta che comunicano con lui attraverso i testi. Con la storia personale entra poi nella poesia di Sereni anche la storia tout court e lo fa attraverso l’instaurazione di un colloquio, quella speciale forma di colloquio cui il monologo solitario di un’opera diaristica come il Diario d’Algeria sa far appello, tramite l’implicita richiesta dell’ascolto altrui.8 A sua volta, si presta a divenire raffigurazione della storia italiana anche un’altra raccolta di Sereni, quella dialogica per eccellenza: Gli strumenti umani. Pur segnata da una certa esitazione (ravvisabile, come ha ben visto Fortini, anche nell’impiego di ripetizioni e reticenze, le due figure più usate), questa raccolta poetica presenta »significativi momenti interlocutori« (con una conseguente prevalenza del parlato) caratterizzati anche da »nervose contraddizioni«, in un »sistema di intoppi e arresti accuratamente predisposto«.9 Alcuni componimenti mostrano una certa familiarità coi sistemi di scrittura dei testi teatrali proprio grazie alla partecipazione di una seconda o terza voce nel dialogo, mentre si incontrano poesie che tecnicamente sono dei mimi. In questa complessa rete di rimandi alla dialogicità la raccolta poetica intreccia un solitario colloquio con l’opera di Dante e, in particolare, con alcuni personaggi della Commedia e con i temi, i valori e i disvalori di cui essi si fanno portavoce, attraverso frequenti criptocitazioni non ancora compiutamente rintracciate o esplicitate nella loro forza illuminante sul significato di alcuni passi. Ulteriore forma di dialogo, anche se non potrà essere analizzata nella sua interezza in questo saggio, è quella instaurata da Sereni con i poeti che traduce, capace di porre in autentica relazione di corrispondenze morti e vivi, antichi e moderni. Qui la conversazione si fa amabile quanto più inconsciamente partecipata: Sereni accoglie e rinnova sollecitazioni provenienti da culture anche molto distanti dalla sua e realizza, appropriandosi della voce altrui, il compimento della possibilità mancata nei suoi testi. È il caso delle variazioni (il termine, quanto mai opportuno, è di Fortini)10 da Char, grazie alle quali il poeta di Luino recupera la dimensione dell’eroismo, ma anche quello delle traduzioni da Apollinaire, attraverso le 8  Si

veda ibid., xxvi. Fortini, «Gli strumenti umani», in: Sereni, Poesie, xxxiii (ed. or. 1966). 10  Ibid., xl. 9  Franco

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quali Sereni instaura una più limpida relazione con il passato in una tensione straordinariamente prolifica verso l’eterno. Pare significativa poi, rispetto alle citazioni dantesche e al modo in cui esse si realizzano nell’opera di Sereni, la traduzione da parte di quest’ultimo del binomio di Apollinaire légers et prestes, riferito ai passi delle giovani donne protagoniste di Le musicien de Saint-Merry.11 Sereni traduce »lesti e leggeri«, con una precedenza del secondo aggettivo rispetto al primo a fronte dell’originale francese per ragioni metrico-retoriche, come spiega bene Fortini.12 Non sarebbe ozioso, al fine di intensificare la riflessione sul tema proposto in questo saggio, soffermarsi su quella possibilità mancata di una traduzione più letterale di Apollinaire (*»leggeri e presti« di memoria dantesca: Inferno i,31). Il guadagno ricavato dal verso nella riscrittura di Sereni starebbe tutto nell’andamento allitterante dello stesso, mentre la creazione di »doppi quinari con un chiasmo di 3 / 2 contro 2 / 3 sillabe ma tutti e due con esiti da gliconio (dattilo più spondeo)«13 non verrebbe affatto inficiata dall’utilizzo di presti in luogo di lesti. Si potrebbe ipotizzare allora che ci sia stata da parte del poeta l’esigenza di celare una troppo esplicita citazione dal testo della Commedia, qui inopportuna e inutile ai fini della traduzione da Apollinaire. Nella produzione di Sereni, riscritture comprese (perché di semplici traduzioni non si può parlare, a meno di togliere alla parola la sua componente di emulazione implicita), la criptocitazione è programmatica e ricercata; la citazione evidente è ingenua, inservibile per il poeta se non a scopo puramente magari malinconicamente parodico dell’esperienza poetica stessa, sovrapponibile in alcuni casi a quella umana, come in Una visita in fabbrica, riascoltando Leopardi (iv,16: »E di me si splendea la miglior parte«).14 La tensione percepibile nelle poesie così come nelle prose di Sereni, e alla quale si accennava a proposito del suo lavoro di traduttore, si rende evidente anche nelle frequenti antinomie che campeggiano nei componimenti degli Strumenti umani; ne è un esempio su tutti l’opposizione luce / oscurità all’interno del testo Nella neve, attraverso cui si allude alla continua e ossessiva domanda di provocazione dell’esistenza, il »caro enigma« (v. 9). Emerge chiaramente, in questa poesia e in altre della raccolta, quella »forza di dislocazione« di cui Sereni parlava a proposito 11  Vittorio Sereni, Il musicante di Saint-Merry e altri versi tradotti, Torino 1981, 126–127. 12  Franco Fortini, «Gli strumenti umani», xxxiii. 13  Ibid., xliii. 14  Ma si veda, poco più avanti (v, v. 3–4), la ripresa insieme dantesca (Paradiso xvii,58–59) e foscoliana (dall’Ortis, lettera del 17 Aprile) di »lieto dell’altrui pane  /  che solo a mente sveglia sa d’amaro«.



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della funzione poetica: viene offerta al lettore la possibilità di scorgere l’eternità nell’immanenza, e insieme il trasferimento dei solidi e quotidiani oggetti poetici dal quotidiano vissuto qui e ora all’ambito dell’oltretempo, che è il tempo »non morto«; ciò equivale a convalidare ed eternare l’esperienza, la vita, con la poesia, a farla rivivere in futuro in altro e per altri. Si è parlato degli Strumenti umani come della più genuinamente dialogica raccolta del poeta di Luino, forse quella del ritorno al mondo attraverso la speranza prima, l’odio generato dalla disillusione poi e infine la protesta e il rimorso. Gli anni degli Strumenti umani sono infatti quelli dell’abbandono dell’insegnamento e del lavoro in fabbrica, del sentimento di insicurezza che pervade la società e le stesse poesie di Sereni. Appaiono però su questo sfondo desolante, fatto di rinunce e di incertezze, i temi dell’amore e dell’amicizia, appigli di salvezza per l’esistenza turbata, come quando il poeta reclama »un grande amico che sorga alto su me  /  e tutto porti me nella sua luce« (Il grande amico, v. 1–2), versi che riecheggiano i danteschi »se fosse amico il re dell’universo  /  noi pregheremmo lui della tua pace« (Inferno v,91–92). Vi viene resa esplicita, come forma suprema di solidarietà e cura, quella della preghiera per il prossimo (cui rimanda la presenza di una catena di pronomi che si richiamano specularmente nell’uno e nell’altro testo), da rileggere in Sereni in relazione alla testimonianza forte della ricerca disperata, da parte del poeta, della pace in Dio, una sete tuttavia insoddisfatta perché arresasi alla forza del rimorso. Il ricordo dei versi danteschi è fortissimo dal punto di vista ritmico (il sistema di accentazione del secondo verso di entrambe le citazioni è il medesimo), lessicale (con la ripresa del termine amico associato abbastanza evidentemente nei due testi alla figura divina) e fonico (in particolare nella rima imperfetta »pace« / »luce«, nella rima interna, per dir così, »re« / »me« e nella ripresa dell’aggettivo possessivo con variatio). Potremmo identificare in questa forma di protesta contro la desolazione dell’esistenza (il rifarsi viva e forte della voce della speranza) la resistenza attiva, la rivolta contro la sopraffazione da parte di Sereni, e infine una riconciliazione, non più una resa, con l’»inflessibile memoria« (Dall’Olanda, L’interprete, v. 7); in altri termini una nuova rinascita alla vita, qualcosa che il poeta ha »imparato lavorando« (A un compagno d’infanzia, v. 30), ma ancora incapace a quest’altezza di procurargli una risposta esaustiva al perché dell’esistere e della poesia. È proprio sul ritorno della memoria che conviene riflettere, in prima istanza, per comprendere a fondo il significato di una raccolta così densamente strutturata come Gli strumenti umani; il fitto rincorrersi di esperienze, che, nel momento della fissazione per quanto provvisoria della scrittura, acquisiscono un valore illuminante nella vita del poeta, instaurano legami forti con avvenimenti, ricordi, immagini stratificati e provenien-

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ti dal passato; non poco, a tal proposito, deve avere influito su Sereni la poesia dell’amato Rimbaud. Osserva bene Mengaldo quanto il riaffiorare continuo di queste »emergenze del passato nel presente« trovi corrispondenza formale in »elementi che esprimono iterazione, specularità, ricorrenza« e tematica nei motivi »del ripresentarsi, del riemergere all’esperienza o alla coscienza di eventi, oggetti, personaggi«, »del rispecchiamento, o sdoppiamento, dell’io«.15 Ed eccoci ancora una volta di fronte a questa sorta di correlativo oggettivo dello specchio, richiamato significativamente, tra le altre, in due poesie della raccolta (Un ritorno e Viaggio all’alba), nelle quali una visione paesaggistica da un lato, il medesimo volto di Dio dall’altro, diventano per il poeta i luoghi di una ricerca di senso che riconducono al sé. Mentre in Un ritorno il lago si fa »specchio di me«, »lacuna del cuore« (v. 4, con ripresa esplicita dal primo canto dell’Inferno) di rimando all’iniziale mancanza di sintonia tra il poeta e »il compatto poema« (v. 1) delle vele sull’acqua, in Viaggio all’alba il tema del rispecchiamento è artificio che consente alla domanda di senso e al desiderio di salvezza di essere espressi in via non troppo diretta. Qui il poeta si rispecchia nel volto di Dio che è un volto »brullo« (v. 6): la luce della rivelazione, della fede, tarda a raggiungere Sereni, il quale invoca tuttavia la salvezza nei due versi di chiusura, che riprendono la formula liturgica Sed tantum dic verbo, et sanabitur anima mea e insieme riservano alla parola divina la prerogativa della creazione, dell’attribuzione di un’identità specifica ad ogni realtà esistente, compreso il poeta stesso (serena: Sereni): »Ma dimmi una sola parola  /  e serena sarà l’anima mia« (v. 8–9). Un’altra grande novità degli Strumenti umani, determinata se non in tutto almeno in parte dall’uso di moduli iterativi, è l’impiego del parlato a fini mimetici, in cui le parti dialogate (talvolta mute, implicite, fatte di traiettorie e sguardi incrociati) sono preponderanti rispetto alle altre raccolte poetiche quali rassicuranti strumenti di rimando e verifica dell’esistenza in altri fuori da sé. Lo spostamento del baricentro sogno-realtà ne è, in un certo senso, la cartina di tornasole: il poeta affronta la realtà di paure, angosce, interrogativi irrisolti in altro oltre sé, uno spazio fatto di visioni rivelatrici della realtà nel quale Sereni risolve, con i mezzi della poesia, l’incubo del ritardo e dell’estraneità rispetto agli eventi della storia. Si deve a Dante Isella l’individuazione, all’interno della raccolta Gli strumenti umani, della proficua coesistenza di una »linea lirica alta«16 e Vincenzo Mengaldo, Iterazione e specularità in Sereni, in: Sereni, Poesie, (ed. or. 1972). 16  Dante Isella, La lingua poetica di Sereni, in: Sereni, Poesie, lxxxiv (ed. or. 1985). 15  Pier

liv, lvii–lviii



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della prosa, a livelli differenti; tale »dialettica«, osserva acutamente Mengaldo, »è organica all’atteggiamento specifico di questo Sereni […], cioè il compenetrarsi e scontrarsi di un’enunciazione metafisica […] e di una esistenziale, o storico-esistenziale«.17 Un’escursione siffatta rivela anche l’uso sapiente del linguaggio, col tentativo di rendere prosastico, nei termini di una correzione o di un autocontenimento, l’anelito alla verticalità. Si potrebbe allora rintracciare proprio in questo movimento l’origine dell’avvicendarsi e della coesistenza in Sereni di una poetica degli oggetti e di una poetica della parola, per le quali l’utilizzo di un linguaggio puro (non tanto prezioso), ma accuratamente selezionato (con un vocabolario ridotto e chiuso), serve a fare ordine nella multiforme realtà, a comporre una melodia rassicurante, capace di governare il reale. Per dirla con Dante Isella, il quale si riferiva all’uso di un termine ben preciso (s’addolce) e relativamente al componimento Diana, la memoria di Dante nell’opera di Sereni è »sommessa ma tenace«18 e, si potrebbe aggiungere, non sempre e non tanto legata alla linea lirica alta della raccolta; a fronte di richiami più evidenti ai testi montaliani e a quelli rimbaldiani, per riuscire a intravedere le criptocitazioni cui si accennava, il lettore deve aguzzare l’ingegno e »indugiare«, attraverso testi lirici di forza melodica straordinaria ormai conquistati dalla dimensione narrativa, »a mettere d’accordo l’occhio con l’orecchio«.19 È ciò che ci viene suggerito anche dalla lettura di Via Scarlatti, un componimento che si trova all’interno della sezione Uno sguardo di rimando, titolo quanto mai significativo per il tema della specularità. Il motivo dell’immagine riflessa e del muto dialogo degli sguardi informa interamente anche il ix canto del Paradiso e lo lega, attraverso una serie di interessanti rimandi lessicali, alla poesia di Sereni;20 nei versi danteschi le anime dei beati, che riflettono la luce divina e quindi la grazia, si rendono infatti protagoniste di un dialogo d’elezione, in una sorta di gioco di riflessi gerarchici. I due versi iniziali di Via Scarlatti (»Con non altri che te  /  è il colloquio«), staccati dal resto del corpo del componimento e richiamati in chiusura da quell’ultimo »E qui t’aspetto«, paiono a loro volta aprire ad un’immediata ed esclusiva possibilità di dialogo. S’insinua così, nella poesia di Sereni, l’imago di una mediatrice di dantesca memoria per le attese ontologiche dell’io che qui però vengono in qualche modo frustrate; confermata resta solo, come si diceva, la preIterazione e specularità in Sereni, lxx. Isella, La lingua poetica di Sereni, lxxx. 19  Eugenio Montale, Strumenti umani, in: Il secondo mestiere. Prose 1920–1979, a cura di Giorgio Zampa, tomo ii, Milano 1996, 2748–753, in particolare 2751. 20  Si vedano, al proposito, i v. 21, 61–62, 69, 73 e 81 del canto dantesco. 17  Mengaldo, 18  Dante

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senza di un tu, destinatario, per merito, dell’attesa del poeta. La figura del dialogo viene corrisposta dalla creazione di una dualità, che è specularità, abbastanza diffusa nel testo: la via si stende »tra due golfi« e al verso 15 si assiste all’»improvviso sgolarsi di un duetto d’opera«; è peraltro ben visibile la suddivisione del componimento (o meglio del suo corpo centrale) in due sequenze, in ognuna delle quali è ravvisabile la scansione di una parte espansa e circolare costituita da proposizioni affermative (v. 3–4 e 8–10), seguita da una sezione più lineare e contratta espressa dall’avversativa (il ma rispettivamente ad inizio di v. 5 e di v. 11), all’interno della quale si ritrovano i temi dello squarcio e dello scatto, rapidi e improvvisi cambiamenti della situazione enunciata. La presenza di questa dualità si verifica anche a livello lessicale, nei binomi aggettivali e in quelli sostantivali (»cenere e fumo«, »di fatica e d’ira«, v. 10 e v. 12) e nella figura della ripetizione (»i volti i volti«, »ombra più ombra«, v. 11–12). Il lessema che subito rimanda al testo dantesco è il riflessivo s’abbuia (Paradiso ix,71) posto significativamente in rima, in posizione forte, proprio al centro del componimento, ad introdurci alla lettura della contrapposizione luce / ombra di cui è informata l’intera poesia e che fa parte, di rinforzo, di quello stesso principio di dualità cui si accennava poco sopra. Ritroviamo, infatti, termini appartenenti al campo semantico della luce, che corrisponde alla vitalità, alla giovinezza e alla gioia (il sole e la primavera al v. 7, irride al v. 13, adolescenti al v. 14), e parole ascrivibili invece al campo semantico dell’oscurità, della tristezza e del dolore (sera al v. 8, s’abbuia al v. 9, cenere e fumo al v. 10, ombra ripetuto al v. 12, pena al v. 13). La medesima opposizione si ritrova tra i versi 67–71 del canto dantesco, dove compaiono altresì i lessemi sol e ombra; l’antinomia luce / oscurità viene in qualche modo risolta nell’accostamento di pena e irride al v. 13 di Via Scarlatti, nel momento in cui si assiste all’improvvisa comparsa e all’immediato trionfo dell’elemento vitale sul buio e sul dolore. Si potrebbe ipotizzare ancora un ricordo, da parte di Sereni, del v. 103 dello stesso canto di Paradiso: »Non però qui si pente, ma si ride«, memoria confortata, per il lettore, dalla forte avversativa dantesca, rintracciabile nel repentino mutamento della situazione poetica anche in Via Scarlatti, dove la contrapposizione non è più, come in Paradiso ix, tra un su e un giù, ma tra l’ora, il qui e l’oltre. Le allusioni ravvisabili nella poesia di Sereni, non soltanto o propriamente ricordi sonori e solo di rado riprese in forma parodica, si devono mettere in relazione all’atteggiamento di continua ricerca che trova un corrispettivo formale nella ripetizione, talvolta tentativo del poeta di far presente a se stesso, fermandola, una realtà inafferrabile, talaltra assillo del dubbio nel ricordo o ossessivo ritorno del passato. La ripetizione è lo stallo del ragionamento che torna su se stesso ed è insieme lo spaventoso



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affacciarsi del vuoto e dell’assenza, del trionfo della negazione nell’ultima poesia di Sereni, quella di Stella variabile, in particolare della sezione quinta, in cui sono stati inseriti due componimenti che aprono alla possibilità di un altro ascolto dantesco. Si tratta di Paura prima e Paura seconda, precedute, con mirabile proposito di guida alla lettura, dal testo incipitario Requiem, che subito ci introduce al tema della morte. Essa appare sospirata perché meta necessaria, identificata con un riposo benefico, la cessazione dell’anelito frustrato ad una vita più soddisfacente, ma anche temuta perché possibile frutto di libero arbitrio, e, infine, ancora una volta pretesto di un’autoaccusa: l’inerzia di fronte all’esistere, l’incapacità all’azione, perfino nel gesto più estremo, quello del suicidio. Al verso che chiude il componimento Paura prima »Da solo  /  non ce la faccio a far giustizia di me« ritroviamo proprio questo tema riletto attraverso la tragica figura di Pier delle Vigne, che di ingiustizia parla a Dante in merito alla causa del proprio suicidio. La visione del gesto estremo tuttavia pare ribaltata: Sereni non riesce a far giustizia; se c’è una colpa qui semmai può essere ravvisata nella presunta codardia di cui il poeta sembrerebbe accusarsi, non tanto nel gesto in sé. La presenza in filigrana del testo dantesco per questo componimento trova conferma in alcune riprese sonore (la preponderanza di suoni nasali, i versi allitteranti sulla labiodentale sorda »offrendomi […]  /  di fronte di fianco […]  /  facciamola finita fammi fuori« (v. 5–7) che rimandano alla medesima allitterazione in Dante: »infiammò contra me gli animi tutti,  /  e gl’infiammati infiammar sì Augusto«, v. 67–68), ma soprattutto nel richiamo degli ultimi due versi del componimento di Sereni che nella raccolta segue Paura Prima e che con quest’ultimo fa il paio, vale a dire Paura Seconda (»mi disarma, arma  /  contro me stesso me«, v. 11–12), versi che nella loro struttura chiastica e nella ripetizione delle particelle pronominali riprendono il dantesco »ingiusto fece me contra me giusto«. Sereni non attribuisce alla fedeltà che lo lega ad una persona (fede è termine che tante volte ritorna nel discorso curato di Pier delle Vigne) né all’invidia, che è causa di rovina, la decisione di un gesto estremo; il suicidio non viene sublimato, ma il poeta ne avverte l’oscura attrazione, allontanata semmai dalla paura e da una nuova consapevolezza di sé, preludio ad una riappacificazione dell’io con se stesso. Emerge infatti in questi due componimenti uno dei temi centrali della raccolta, quello dello sdoppiamento dell’io, tradotto nell’aperto conflitto di Paura prima: la struttura franta del verso, e bipartita nella maggior parte dei casi, come in »facciamola finita fammi fuori«, e la ripetizione (»sparami sparami«) fungono da corrispettivo stilistico all’opposizione istituita tra un io killer e un io vittima che fanno parte di una medesima identità, il »me solo« al v. 8, rinforzato dal »da solo« al v. 10, un’identità ricomposta nella parte conclusiva del componimento ma ancora non riappacificata.

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Altre tessere dantesche sono ravvisabili in Paura seconda, a partire, ad esempio, dal »breve risveglio di vento«21, ricordo probabile della voce del tronco di Pier delle Vigne (»Si convertì quel vento in cotal voce«, Inferno xiii,92), per continuare con altri lessemi, indizi sparsi nel testo di una ricollocazione studiata degli elementi lessicali del canto: la voce che chiama Sereni al v. 2, l’aggettivo breve, ripresa in nuova forma dell’avverbio dantesco brevemente al v. 93. Tuttavia il riascolto di Dante è particolarmente esplicito nei tre versi finali della poesia: »Con dolcezza (Vittorio,  /  Vittorio) mi disarma, arma  /  contro me stesso me«, dove la dolcezza della voce che chiama il poeta rimanda al »dolce dir« nell’incipit del discorso del suicida a Dante, il quale aveva promesso di ripristinare la buona fama di cui il dannato avrebbe dovuto godere tra i vivi. Rispetto a Paura prima questi tre versi sottopongono al lettore una situazione affatto diversa: la presenza di una terza individualità, identificata con una voce proveniente da una strada, restituisce all’io lirico la sua propria, chiamandolo per nome due volte. La struttura insieme piana e segmentata, caratterizzata dalla brevitas, con la ripetizione del nome proprio, il gioco etimologico »disarma arma«, i forti enjambements, l’accostamento di suoni duri, come la rotante e la palatale, e di suoni dolci come le nasali e le fricative, parrebbero voler confermare un’opposizione radicale sigillata dal verso di chiusura (»contro me stesso me«); al centro di questi tre versi conclusivi campeggia tuttavia quella che, in forma di anticipazione all’affermazione finale, sembrerebbe la chiave di lettura dell’intero componimento: »mi disarma«, cioè l’idea di una riappacificazione dell’io con se stesso. La voce, che con la sua dolcezza non enumera i torti e non rinfaccia il passato, sarebbe allora in grado di rendere inoffensivo l’io killer, per armare nella difesa l’io vittima. Alcuni artifici stilistici darebbero forma al nuovo sentimento di resa cui si dispone il soggetto lirico, pur in presenza di una palese contrapposizione: il nome del poeta ripetuto due volte è racchiuso, riunito, tra due parentesi tonde, benché separato da una virgola e 21  Il risveglio richiama quell’idea di futuro positivo »disperatamente utopico dei risorti« che Mengaldo, parlando di due concezioni di futuro presenti nell’opera di Sereni, ha abbinato a quella della città socialista, contrapponendola invece al futuro »che risucchierà nel niente i falliti, gli irrealizzati, gli sconfitti«. Parrebbe utile allora, per consentire una lettura aperta del componimento, accostarlo alle Arie del ’53-’55, dove si legge »E poi, nella notte tra il venerdì e il sabato santo, mi pare di sentire distintamente il mio nome pronunziato in tono normale nella strada di sotto« (Vittorio Sereni, Arie del ’53-’55, in: Poesie e prose, 597, ed. or. 1954. Il saggio di Mengaldo citato è Ricordo di Vittorio Sereni, in: Sereni, Poesie e prose, v–xx, ed. or. 1983). Il dialogo istituito tra i due testi è evidente, mentre il secondo investe il primo di una nuova luce, facendovi comparire in filigrana il tema dell’attesa di salvezza, già altre volte incontrato nella poesia di Sereni.



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dall’enjambement; lo stesso verbo disarma contiene arma, lo anticipa e nel medesimo tempo lo contraddice. In un’altra poesia Sereni torna a fare i conti con il protagonista del xiii dell’Inferno e questa volta lo fa prendendo una posizione netta e radicale sul destino dell’uomo oltre l’esistenza, sul tema della memoria e, di nuovo, come dichiara il titolo stesso, su quello del suicidio; si tratta per l’appunto di Intervista a un suicida, componimento degli Strumenti umani (cronologicamente anteriore ai due testi incrociati nella lettura precedente) che inscena un colloquio tra l’io poetico e l’anima di un suicida in un cimitero (»il pubblico macello discosto dal paese  /  di quel tanto«, v. 13–14). Nelle domande rivolte e nelle risposte date dall’anima per se stessa e per il poeta, »per lei (per me)« (v. 17), si stratificano i ricordi danteschi di Sereni legati al canto di Cacciaguida (presente con la citazione esplicita di un intero verso: »mia donna venne a me di Val di Pado«, v. 31, ad introdurre il tema della discendenza, del perpetuarsi della stirpe e insieme degli affetti), a quello di Ulisse (come suggeriscono le »voci lingueggianti in fiamma«, v. 21, e la presenza della figura di un cane, v. 35–37) e, come si diceva, a quello di Pier delle Vigne. L’anima ha infatti l’aspetto di una »siepe di fuoco  /  crepitante lieve, come di vetro liquido« (v. 17–19), che richiama alcune immagini provenienti da Inferno xiii: il gran pruno (v. 32), dal quale, una volta spezzato un ramicel, Dante vede e sente uscire parole e sangue (si tratta forse del »rosso su rosso«, v. 45, dell’aspetto dell’anima in Intervista a un suicida), è legato ad una similitudine nel testo della Commedia che pare aver suggerito a Sereni l’immagine efficace del vetro liquido (v. 40–42) e il tema del dolore al verso seguente. La presenza del fuoco potrebbe derivare invece sia da una rilettura incrociata delle due figure di dannati fraudolenti, Ulisse e Guido da Montefeltro (rispettivamente Inferno xxvi e xxvii), sia dalla plausibile influenza dei versi centrali del discorso del suicida dantesco in cui questi fa sfoggio di tutta la sua ars rhetorica (il »parlando ornato« che Sereni attribuisce all’anima intervistata, v. 30) e in cui motivo fondamentale è l’immagine della fiamma (»infiammò contra me gli animi tutti,  /  e gl’infiammati infiammar sì Augusto«). In entrambi i testi poi si desume che al suicida sia stata imputata ingiustamente una colpa, causa dello stesso estremo gesto in Dante e probabilmente anche in Sereni (dove si fa riferimento a un torto preciso), quando il poeta fa ricordare all’anima, in forma di iscrizione sulla lapide che vorrebbe le spettasse, che »non nelle casse del comune  /  l’ammanco  /  era nel suo cuore« (v. 40–42). L’epigrafe, che contiene un altro lessema significativo per la ripresa del testo dantesco (il cuore, che in Dante era quello di Federico ii), mi pare metta a disposizione del lettore la risposta ad una delle due domande esplicite che l’io poetico rivolge all’anima: »per-

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ché l’hai fatto?« (v. 20), riferendosi evidentemente al suicidio. La circostanza che questo venga attribuito ad un grave difetto del cuore e non tanto a motivi estrinseci alla persona parrebbe prudentemente suggerire una rilettura da parte di Sereni dell’attribuzione delle colpe nel discorso di Pier delle Vigne a Dante, laddove la colpevolezza veniva imputata in toto all’invidia (»morte comune, delle corti vizio«, Inferno xiii,66). Alla prima domanda rivolta dall’io lirico all’anima del suicida nel componimento di Sereni (»In che rapporto con l’eterno?«, v. 14) viene data soddisfazione dal poeta stesso, al termine dell’intervento confuso e allusivo dell’anima, nei versi finali della poesia, dove si assiste al trionfo della negazione della memoria oltre il tempo, che nel canto xiii diventa invece questione di giustizia resa, di onore restituito al ricordo di un defunto. Questi, infatti, viene prima indotto a parlare dal »dolce dir« di Dante (»sì che […]  /  […] tua fama rinfreschi«, v. 52–53) e termina poi il suo discorso con l’estrema volontà di ottenere ammenda presso i vivi: »e se di voi alcun nel mondo riede,  /  conforti la memoria mia, che giace  /  ancor del colpo che invidia le diede« (v. 76–78), quasi fosse la memoria stessa ad essere stata calpestata e uccisa tanto grande è il valore che Pier delle Vigne, e Dante con lui, le attribuisce. Perdendosi nel non-tempo e nel non-spazio, oltre lo squallore dei luoghi (la città, il paese, il cimitero), l’anima di Intervista a un suicida non lascia traccia di sé (»spariva per l’eterno.  /  Era l’eterno stesso«, v. 43–44) e, tra i noncuranti sopravvissuti, l’uomo che era stata, irrealizzato, fallito, va incontro alla dimenticanza (»dentro una polvere di archivi  /  nulla nessuno in nessun luogo mai«, v. 63–64), senza aver affidato al mondo una storia da tramandare per altri e altrove. Sereni estende la forza negatrice di cui si parlava all’anima del suicida, a ciò che resta (se resta) dell’uomo che ha negato se stesso, trovandole corrispondenza formale nel testo in un continuo ricorrere alla precisazione, o meglio, all’autocorrezione dell’enunciato (»L’anima, quello che diciamo l’anima e non è  /  che una fitta di rimorso«, v. 1–2, »Mi volsi per chiederlo alla detta anima, cosiddetta«, v. 15, »indolore, con dolore«, v. 19, »spariva per l’eterno.  /  Era l’eterno stesso«, v. 43–44) e alla forma negativa (»Ma non svettarono voci lingueggianti in fiamma,  /  non la storia di un uomo:  /  simulacri,  /  e nemmeno, figure della vita«, v. 21–24, »non quaglia con me«, v. 32, »non quagliano«, v. 33, »NON NELLE CASSE DEL COMUNE«, v. 40–42, »ma non se ne curano«, v. 52). Risulta abbastanza evidente, attraverso le riletture dei testi proposti, come la maggior parte delle riprese che si è creduto di ravvisare nei componimenti di Sereni sia il frutto della volontà del poeta di istituire una certa complicità con il lettore. Chiamato ad interrogare l’opera non solo per rintracciarne esperienze e valori extraletterari, questi ne recupera infat-



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ti, attraverso i suoi ricordi letterari, la dimensione allusiva. Sereni la costruisce basandosi essenzialmente sulla dissimulazione, spargendo indizi nel testo, grazie ad una straordinaria abilità di depistamento e ad un’indiscutibile capacità innovativa. Si vorrebbero così ricondurre i riverberi di poesia dantesca rintracciati e, insieme ad essi, il valore della memoria, congiuntamente a quello della memoria poetica, proprio all’»umanissimo senso dialogico del far poesia«22 da parte di Sereni, non certo attribuendogli una vena manieristica o una tendenza al culturalismo tout court, quanto piuttosto esaltando come per lui, lettore e poeta, la poesia fosse in grado di essere immediatamente esperienza di vita vissuta e condivisa, ma al contempo mezzo per esprimere fedeltà a vivi e morti, quella fedeltà che innerva la sua opera e la fa poesia civile fin dai componimenti giovanili e le cui altre forme sono la coerenza, l’integrità morale, l’istanza etica della sua stessa esistenza.

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Vincenzo Mengaldo, Ricordo di Vittorio Sereni, xx.

Visual Narratives: Narration in Paintings and Photographs By Peter Hühn I. General Remarks on Narrativity Stories do not occur in the world by themselves; they are always constructed by someone, i. e. put together on the basis of selected materials (circumstances, persons and their changes) from a real or fictive world by an observer and transmitted through some kind of semiotic medium. Stories thus constituted always comprise meaningful changes of state with regard to human protagonists, who are endowed with an inner dimension – either as agents or as patients, actively achieving or passively undergoing changes. As a consequence, stories presuppose temporal sequentiality and semantic (i. e. some kind of causal) coherence within the succession of happenings as well as mental interiority on the part of the protagonists.1 The internal dimension is a necessary component as it contains causes for, and reactions to, the changes of state and forms the basis for the meaning of stories. Furthermore, the meaning of a story ultimately rests on its eventfulness, i. e. the occurrence of an unexpected turn, a clue or ›point‹, a decisive or significant change of state.2 Narrative mediation of stories can be achieved in two manners in accordance with the two basic types of sign systems. Stories can be narrated either diegetically, i. e. by means of digital signs such as language, in a 1  See Marie-Laure Ryan (ed.), Narrative across Media: The Languages of Storytelling, Lincoln / London 2004, 8–9. 2  See Peter Hühn, »Functions and Forms of Eventfulness in Narrative Fiction«, in: John Pier, José Ángel García Landa (eds.), Theorizing Narrativity, Berlin / New York 2008, 141–163; the same, »Event and Eventfulness«, in: the same et al. (eds.), Handbook of Narratology, Berlin / New York 2009, 80–97; and Ryan (ed.), Narrative, 9–11. In order to account for the phenomenon of narrativity across media one has to extend the notion of narrative from its narrow definition as an act of semiotic representation. In a wider sense, narrative has to be understood as a cognitive representation, a mental image, which also constitutes a form of mediation.

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verbal text, or mimetically, i. e. by means of analogue signs, in the form of bodily enactment by actors or by visual representation in pictures, in other words – to use the common formula – either by ›telling‹ or by ›showing‹. Media range from the sole use of language in narrative fiction, everyday conversation, diaries, histori­ography, news-reports on the radio to performative or visual representation in combination with language in dramas, cinema films, television shows or combined with language as well as music in operas or without language in pantomime and ballet, to purely visual representation in still pictures such as paintings and photographs.3 Although this wide range of media might suggest that stories are essentially independent of the medium through which they are transmitted, the nature of each medium has in fact an impact on the way in which stories are communicated and, moreover, on the type of story that can be communicated.4 Adventure plots, for instance, lend themselves to pictorial representation, while stories involving psychological conflicts can best be mediated verbally. Among these media, language can claim primacy as a mode of mediating narrative: telling stories came first, both in historical terms of origin and development and in terms of choice of medium. While language is able to convey all features of narrative directly, namely diegetically, other story-media such as visual representation in films and graphic novels or live per­formance of dramas on stage rely on a combination: mimetic presentation of happenings together with language, mainly in the form of dialogue. Although such renderings of happenings can easily mediate the sequential dimension of stories and directly depict the external details of setting, characters and physical actions, they have to resort to indirect means to convey mental states, such as motives, attitudes or reactions, by obliquely reflecting them in the characters’ posture, gesture or facial expression. The inherent restrictions on the transmission of stories are even greater in the case of the solely visual medium of isolated, single pictures such as narrative paintings and photographs. The purely mimetic representation of a scene can graphically capture the spatial dimension of characters, settings 3  For a general detailed overview, see Ryan (ed.), Narrative, 1–40 and esp. Ryan, »Narration in Various Media«, in: Peter Hühn et al. (eds.), Handbook of Narratology, Berlin / New York 2009, 263–281. For photography and painting, see the overview in Emma Kafalenos, »Photographs«, in: David Herman, Manfred Jahn, Marie-Laure Ryan (eds.), Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, London 2005, 428–430 and Werner Wolf, »Pictorial Narrativity«, in: Herman, Jahn, Ryan (eds.), Routledge Encyclopedia, 430–435 respectively. 4  Ryan (ed.), Narrative, 17–18.



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and objects, their shape, colour and arrangement at one particular moment but it neither possesses the ca­pacity to present the temporal succession of the happenings nor can it explicitly convey the mental interiority of the depicted characters – it can do so only indirectly and by implication. For these reasons, a narrative picture, strictly speaking, cannot be said to narrate a story.5 In order to qualify as narrative, the picture has to display special signals which are meant to induce the viewer to read it narratively and thus construe a story in his or her mind.6 Depending on the nature and the explicitness of such signals – the extent to which the dramatic form of the depicted scene is stressed and a course of action implied – one can distinguish degrees of narrativity in narrative pictures, instances of high and low or weak narrativity.7 To be sure, not all paintings and photographs are narrative in this sense. Portraits, landscapes, still lifes and abstract paintings usually lack such narrative potential.8

A. Kibédi Varga, »Stories Told by Pictures«, Style 22 (1988), 194–208. Helge Gerndt, »Können Bilder erzählen? Bemerkungen zur ›Visualisierung des Narrativen‹ «, in: Thomas Hengartner, Brigitta Schmidt-Lauber (eds.), Leben− Erzählen: Beiträge zur Erzähl- und Biographieforschung. Festschrift für Albrecht Lehmann, Berlin / Hamburg 2005, 99–117 and Burkhard Fuhs, »Narratives Bildverstehen. Plädoyer für die erzählende Dimension der Fotografie«, in: Winfried Marotzki, Horst Niesyto (eds.), Bildinterpretation und Bildverstehen: Methodische Ansätze aus sozialwissenschaftlicher, kunst- und medienpädagogischer Perspektive, Wiesbaden 2006, 207–225. Yeshayahu Shen and Efrat Biberman conducted an interesting empirical study »A Story Told by a Picture«, Image & Narrative 11 (2010), 177–197 on the extent to which readers are actually inclined to read pictures narratively, differentiating among several parameters of narrativity: temporal organisation, causal organisation, organisation according to complicating and resolving events. 7  Brian McHale has proposed the term »weak narrativity« in »Weak Narrativity: The Case of Avant-Garde Narrative Poetry«, Narrative 9.2 (2001), 161–167 to describe the phenomenon of minimal or inconclusive indications of narrative content in postmodern poetry. Uwe Fleckner, »Historie ohne Handlung: Asmus Jakob Carstens und das Ende der Bilderzählung im europäischen Klassizismus«, in: Steffen Bogen, Wolfgang Brassat, David Ganz (eds.), Bilder. Räume. Betrachter: Festschrift für Wolfgang Kemp zum 60. Geburtstag, Berlin / Hamburg 2006, 184–201 analyses a similar phenomenon in the mythological paintings of the German classicist painter Asmus Jakob Carstens, which deliberately downplay the narrative implications for aesthetic purposes. 8  However, even in the absence of such signals, viewers may always contrive – if so disposed – to narrativise pictures. 5  Cf. 6  Cf.

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II. The Technique of Visual Narration One essential difficulty in reading pictorial narratives is the fundamental polysemy of all isolated visual representations. The polysemy is reduced if the viewer is able to ›frame‹ the picture, that is to say, to relate it to a specific thematic context, on account of clear indications within the depicted scene or references contained in a caption or title. To contextualise a picture and extend the scene backwards and forwards for the construction of a narrative sequence, viewers have to draw on their world knowledge,9 which includes, among other things, knowledge of literature and the arts, mythology and, e. g., the Bible. World knowledge can be described as familiarity with cognitive schemata available at a particular point in time in a particular culture. These consist primarily of frames, i. e. thematic or situational contexts, and scripts, i. e. established procedures or sequences.10 In principle, one may further distinguish between general schemata, which refer to common human patterns of experience, behaviour and activity, and specified schemata, which are culturally, socially and historically specific. As for the nature of the depicted scene, the 18th-century German playwright and critic Lessing – in his essay Laocoon (of 1766) about the difference between visual and verbal works of art – argued that pictures tend to select a suggestive »pregnant moment« from a story allowing the viewer to infer both the preceding and the succeeding actions.11 In what follows I will apply a narratological approach to analyse the ways in which pic­tures present stories. There exists an extensive amount of iconographic literature, mainly by art historians, on the narrative content of paintings and photographs. But most of these works discuss the narrative reading of individual pictures and specific topics12 or concentrate 9  In principle, world knowledge is of course also required for the understanding of verbally transmitted stories (as of any kind of utterance), but texts contain more as well as more explicit indications of the type, the relevance and especially the sequence of the happenings as a basis for the construction of (even previously unknown) stories. 10  Cf. Roger C. Schank, Robert P. Abelson, Scripts, Plans, Goals and Understanding: An Inquiry into Human Knowledge Structures, Hillsdale 1977. For a detailed comprehensive discussion of the concept of ›frame‹, see also Erving Goffman, Frame Analysis: An Essay on the Organization of Experience, Boston 1986 [11974], 6–11 and 21–39. 11  Gotthold Ephraim Lessing, »Laocoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie« [11766], in: the same, Werke, Bd. 6: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, ed. Albert von Schirnding, München 1974, 7–186, quote 25 f. and 103. 12  E.g. Felix Thürlemann, »Geschichtsdarstellung als Geschichtsdeutung: Eine Analyse der Kreuztragung (fol. 19) aus dem Pariser Zeichnungsband des Jacobo



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on the description of the pictorial devices for creating and conveying meaning as well as their historical development and cultural or individual variation.13 These concern, for instance, the internal organisation of the /  left, background  /  foreground, the picture’s space, with respect to right  arrangement of architectural elements, the constellation of inside / outside;14 the construction of perspectives, the rendering and arrangement of figures regarding facial expression, gesture, clothing; the use of emblems and symbols or the employment of ›blanks‹ in the depiction of scenes to engage the viewer’s imaginative activity and participation.15 What is only passingly addressed (if at all) are, on the one hand, the structure of the implied story and the precise position and relevance of the depicted scene within its sequential course16 and, on the other, the precise extent to which a narrative reading can be deduced from the details of the depicted scene alone or whether recourse to external materials, such as texts and prior special knowledge on the part of the viewer, has to be taken:17 in short, Bellini«, in: Wolfgang Kemp (ed.), Der Text des Bildes: Möglichkeiten eigenständiger Bilderzählung (edition text + kritik), München 1989, 89–115. 13  E.g. Ralph Pordzik, »Der verkörperte Augenblick. Überlegungen zum Ursprung und Wandel erzählerischer Strukturen in der viktorianischen Malerei zwischen 1840 und 1860 (Narrative Painting)«, Anglia 124 (2006 / 7), 407–431. 14  E.g. Wolfgang Kemp, Die Räume der Maler: Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996. 15  Cf. Wolfgang Kemp, »Ellipsen, Analepsen, Gleichzeitigkeiten: Schwierige Aufgaben für die Bilderzählung«, in: the same (ed.), Der Text, 62–88. 16  Even in the relatively rare case, when the temporal relations (in a sequence of pictures) are investigated, as in Kemp, »Ellipsen«, the main emphasis is placed on the devices of manipulating time (such as ellipsis, analepsis, simultaneity) rather than on the nature and structure of the story and its mediation. 17  Whereas some critics tend to insist on the autonomy of the picture’s narrative meaning, e. g. Thürlemann, »Geschichtsdarstellung« and Johann Wolfgang Goethe, »Über die Gegenstände der bildenden Kunst« [11798], in: Victor Lange et al. (ed.), Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, München 1988, Bd. 6.2, 27–68, most scholars are aware of the dependence on some prior source (e. g. Fuhs, »Narratives Bildverstehen«), without, however, thematising the exact relation and the way the structure of the story is mediated. Wolfgang Kemp, »Death at Work: A Case Study on Constitutive Blanks in Nineteenth-Century Painting«, Representations 10 (1985), 102–123 refers to the idealist theory of art, according to which historical paintings were meant to be grasped by the viewer in their universal significance without recourse to previous knowledge and implies that this aim was in fact achieved in 19th-century France. But he seems to underrate the extent to which an understanding of these pictures requires prior historical knowledge. Furthermore, what sometimes is not made sufficiently clear is the fact that acknowledging a reference to a source story does by no means presuppose its faithful imitation in the picture. Even the distortion or subversion of a pre-existing story in its pictorial representation cannot be understood without the knowledge of the source (see Peter Geimer,

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whether the stories presented through a purely visual medium are autonomous or merely illustrative.18 I will discuss these two aspects on the basis of three examples from different periods and from different genres, a 20th-century photograph (exemplifying the autonomous type) and a late-medieval as well as a Renaissance painting (exemplifying two versions of the illustrative type), also touching on the mediation and relevance of the characters’ internal dimension. In order to focus more rigorously on the problem, at first only the dates of these pictures will be given, but not the titles or captions. III. First Example: A Photograph My first example is a photograph (of 1945) by Henri Cartier-Bresson19 – a picture that clearly induces a narrative reading. The dramatic confrontation of the two women in front of the man at the desk functions as a signal triggering such a reading. On the basis of their world knowledge contemporary viewers could be induced to construe the scene (the constellation of the characters, their facial expression and body language) and expand it into a narrative sequence. The situational frame might be interpreted as a public indictment or trial; the script, directly linked to this frame, would accordingly consist in the accusation of someone for an alleged misdeed before some kind of investigative authority (a recorder or possibly a judge), in public, in front of an audience. The woman on the left, looking guilty and cowed, can be identified as the accused person, the defendant, the woman on the right as the accuser, triumphantly presenting her to the man at the desk. His role and task – indicated by pen and notebook – seem to be to take down the statements, assess the evidence and possibly pronounce or propose some verdict in the end. Certain visual details in the posture and expression of the characters clarify the basic structure of the constellation, the script of accusation and judgement within the trial frame. While the accused woman’s clenched fist and bowed head betray inner tension and anxiety and the accuser’s bared teeth and gesture of gripping the other woman’s arm express aggressive satisfaction about having her under control, the unmoved, expressionless face and attentive look of the man behind the desk seem to signal unemo»Delacroix’ Marino Faliero: Vierzehn weiße Stufen und kein Held«, in: Bogen, Brassat, Ganz (eds.), Bilder. Räume. Betrachter, Berlin / Hamburg 2006, 202–211.). 18  Cf. Ryan (ed.), Narrative, 14 and 139–144. 19  Henri Cartier-Bresson, Die Photographien. Mit einem Text von Yves Bonnefoy, München 1992 [French 11979], 68.



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Fig. 1 (In: Henri Cartier-Bresson, Die Photographien. Mit einem Text von Yves Bonnefoy, München 1992 [French 11979], 68)

tional detachment and, possibly, unbiased impartiality. The audience shows a hostile, cold or reserved attitude towards the accused woman, especially the man in prison clothes at the left, who is carrying a stick, suggesting threatened violence. The photograph contains some additional visual clues which might allow contemporary viewers to specify the situation a little further. In order to do so, however, they have to draw on specific knowledge about the so called Third Reich in Germany between 1933 and 1945, its oppressive political system and its defeat. The objects on the desk are passports or identity cards displaying the official emblem of Nazi Germany, the eagle with a swastika. Since there are no Nazi uniforms in evidence and since the man on the far left wears vertically striped prison clothes (as used in concentration camps) but is now free, the setting of the scene can be located at the time immediately after the collapse of Nazi rule in Germany: possibly the indictment of an adherent of the Nazi regime in front of former victims or opponents and, presumably, the defendant’s imminent arrest or punishment. Though the scene depicts only a moment, it contains implications about the past and the fu­ture and thus a story, if only in general terms.

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The caption »A Gestapo informer is recognised by a woman she had denounced. Deportation Camp, Dessau, Germany. 1945«20 summarises the implied story and adds a few details not contained in the picture itself, which allow for a more specific narrativization. A victim, presumably an opponent of the Nazi regime, identifies the person responsible for her former persecution and can now – on account of the changed political situation and the changed legal system – revenge herself on her. This is the ›pregnant moment‹ or, as Cartier-Bresson (1952) calls it, the »decisive moment« of the implied story.21 Narratologically, the scene constitutes an event – the eventful change, the decisive turning-point in both the victim’s and the perpetrator’s life-stories, constituting the downfall and punishment of the latter and the revengeful triumph and rehabilitation of the former.22 The preceding and successive story sequences, however, remain somewhat vague and can only be inferred speculatively. This state of affairs is typical of pictorial narratives: they convey neither the detailed circumstances of the story development nor its concrete causes and results. As for the interiority of the persons involved, their feelings and mental reactions are indicated – obliquely – by facial expression and body language in the form of general emotions such as resignation, anxiety and despair or triumph and rejoicing on the part of the two protagonists. The turning point is thus vividly pictured and the scene is full of suggestiveness, inducing the viewer to construe the story by interpreting the details and inferring antecedents and consequences. This seems to be the main benefit of narratives in documentary photography, the vivid suggestions of a memorable, significant or decisive change or event.23 Such suggestive elements here include the expressiveness of the two protagonists’ and the judge’s stances as well as the faces of the onlookers and their differing expressions.

20  Ibid.

The Decisive Moment, New York 1952. radically broadened in significance and reference, the scene and its implied narrative can be read symbolically as the turning point in the national history of Germany – the transition from Nazi dictatorship to democracy, freedom and justice. 23  Roland Barthes, Camera Lucida: Reflections on Photography, trans. R. Howard, New York 1994 [11980], 26–28 and 42–43 describes the affective impact of a photograph on the spectator as a complex combination of what he terms studium (the culture-specific human interest of the scene) and punctum (the disturbing effect of an incongruous detail), without, however, thematising the narrative dimension possibly suggested by the scene. 21  Cartier-Bresson, 22  If



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IV. Second Example: A Religious Painting Whereas in photography such a clear, dramatic implication of a story is relatively rare, the art of painting – during certain epochs in Europe, notably the late Middle Ages, the Renaissance and the Baroque period – used stories extensively, taking their subject matter, i. e. their frames and scripts, predominantly from two sources, the Bible and Christian religion on the one hand and Greek and Roman mythology on the other. The extensive use of Biblical stories (as scripts) in visual art testifies to the central cultural function of the Christian religion as an all-pervasive meaning system in these periods but also to the fact that the Christian religion is in itself largely narrative. Although classical mythology had had a similar function in the Greek and Roman cultures in antiquity, during the Renaissance (and after) such mythological motifs had lost this immediate religious meaning and assumed a different significance: they were used as a reservoir of generally significant situations and stories (frames and scripts). Both religious and mythological paintings are usually of the illustrative kind. In order to explore the conditions, modalities and prerequisites of visual narration in such paintings, I will first discuss a complex example of a religious motif by the fairly unknown Italian painter Tiberio d’Assisi (1510),24 a motif which was popular in various parts of Italy at that time. The dominant figure in the picture can be identified as Mary, the mother of Christ, which is indicated by the traditional emblems of halo, crown and rich dark cloak decorated with the symbol of a radiant star. Her dominant status is visually stressed both by her conspicuously larger size and by the fact that all the other figures are looking at her. What is unusual is the club she is wielding in her right hand. Of the three smaller figures only one is readily recognisable – the devil on the right, marked by the conventional attributes of horns, goat’s feet and tail, snake as belt, hateful ugly face and dark skin. To recognise and interpret these attributes requires a fundamental familiarity with the Christian religion and a general knowledge of Christian (Catholic) iconography.

24  Tiberio d’Assisi, Madonna del Soccorso, 1510, Chiesa di San Francesco (Montefalco, Province Perugia, Italy) [Painting photographed in the museum by the author (P. H.). I know of no printed source]. Other painters of the same scene, with remarkable similarity in arrangement, emblematic details and gestures, are Cosimo Rosselli (1439–1506), Giovanni Pagani (ca. 1465–post 1545), Francesco Melanzio (1465–1530), Bernadino di Mariotto. The underlying cult (and the existence of similar paintings) was widespread in Sicily, Umbria and Marche.

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Fig. 2 Tiberio D’Assisi, Madonna del Soccorso, 1510, Chiesa di San Francesco (Montefalco, Province Perugia, Italy)

Though the attitudes of the two human figures can be understood from their visible actions, their relationship and the motives for their behaviour remain entirely obscure – as does Mary’s gesture: her raised arm with the club and the direction of her gaze at the child, presumably a boy, might be taken as an indication that she is about to hit him, which, however, would be completely at odds with her emblematic merciful nature. The figure on the left is a young woman on her knees, humbly praying to Mary, the figure of the boy at the centre is struggling to escape from the devil, obviously appealing to Mary for help, who has seized his right hand. This constellation of the two praying or imploring figures vis-à-vis the devil generally points to Mary’s traditional role as a quasi-divine helper and can thus be utilised as a point of departure for a tentative identification of the appropriate frame and script, which, as in the case of Car­



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tier-Bresson’s photograph, forms the prerequisite for an understanding of the picture. As overall frame, divine intervention and assistance by Mary may be assumed and as the script, though only in its abstract structure, the appeal to her for help and her positive response. That assumption is indeed confirmed by the title of the painting, which should be mentioned at this point: Madonna del Soccorso, i. e. »My Lady of Help«.25 But this general designation of Mary’s role and power as helper adds no new information towards a clarification of the obscure features of the scene and its narrative implications. For a complete understanding of the implied story the viewer needs to know the concrete background story – a legend – as the script. This legend, which d’Assisi’s contemporaries must have been familiar with and which today’s viewer has to re-construct from written sources,26 can be summarised as follows: a mother was so infuriated by her misbehaving son that she shouted »go to the devil«, whereupon the devil immediately did appear grabbing the child. The mother, overcome with remorse and anxiety for her child, prayed to Mary for help, who came, thrashed the devil with a club and rescued her son. Against the superficial visual impression, it is not the child that Mary is about to beat but the devil, which is in keeping with her conventional nature. Strictly speaking, the painting does not present only one single moment but comprises three distinct situations and, moreover, presupposes a fourth one, namely the initial impulse of the mother’s rage and her curse upon her son, which triggered the story in the first place. The picture shows three moments at the same time, which in the represented world are supposed to have occurred in temporal and causal succession: first, the fulfilment of the malediction – the devil appears and grabs her child; second, the mother’s desperate prayer to the Madonna del Soccorso asking for help; third, Mary’s appearance and (imminent) action. Thus the painting represents a polyphase picture, i. e. a picture that contains successive phases of an on-going narrative sequence.27 As in Cartier-Bresson’s photograph, these various phases are centred on the eventful moment of the story as a whole, which is the third and final one of the enumerated three situations: Mary appears and helps a human being against the threatened destruction by the evil one. 25  Tiberio d’Assisi, Madonna del Soccorso, 1510, Chiesa di San Francesco (Montefalco). 26  Cf. e. g. http: /  / www.fishermansfeast.com / who_is_the_madonna_del_soccorso. htm (3 June 2014). 27  Cf. Wolf, »Pictorial Narrativity«.

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The story illustrated by the painting possesses a particular consoling significance to the viewer: Mary can be trusted to come to the assistance also of other people in distress, possibly the viewer him- or herself, even in cases where the painful situation is of their own making and due to personal misbehaviour. The viewer thus may hope to be a participant in another such miraculous story. This exemplifies the function of religious narrative pictures: their stories potentially apply to the viewer, too. In this respect, there is a difference between mythological and religious paintings for Christian viewers. Whereas the latter may function as illustration and confirmation of a hope for the viewer, the former lack such direct applic­ ability in the early-modern context, which they may have possessed in ancient Greece and Rome. What are the particular benefits of this visual narration? Unlike Cartier-Bresson’s photograph, d’Assisi’s painting mediates the internal state of the characters only in a general form. The emotions and intentions of mother and son are rather vaguely indicated as anxiety and fear. These do not seem central. Instead, the picture specifically highlights the violence and terror of the diabolic attack in contrast to the superior power and merciful attitude of Mary in protecting the child and threatening to club the devil. Specific visual details illustrate this opposition. Both figures touch the boy, but in graphically different ways: while the devil grabs at the boy’s garment (merely gaining a superficial hold on him), the Madonna takes his hand, signifying a loving intimate relationship. What the painting is thus meant to convey is the emotional reassurance in the merciful attitude, readiness to help and powerful attention of Mary. V. Third Example: A Mythological Painting My third example is a famous painting by the Flemish painter Pieter Brueghel the Elder, presumably of the 1560s.28 At first sight this seems to be a pure landscape painting with a genre scene: a bay flanked by craggy mountains with a harbour-town in the distance to the left, several smaller ships in the middle-ground and a big ship to the right sailing towards the rising or setting sun, in the foreground three men, a ploughman, a shepherd and an angler at work, totally preoccupied with their respective tasks, which for the shepherd means merely standing, gazing and waiting, while the sheep are grazing in the 28  Pieter Brueghel the Elder, The Fall of Icarus, Brussels, Musées royaux des Beaux Arts de Belgique. Printed source: Philippe and Françoise Roberts-Jones, Pieter Brueghel der Ältere, München 1997, 288–289.



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Fig. 3 Pieter Brueghel the Elder, The Fall of Icarus, Brussels, Musées royaux des Beaux Arts de Belgique. Printed source: Philippe and Françoise Roberts-Jones, Pieter Brueghel der Ältere, München 1997, 288–289

meadow. The scenery is rich in further details – furrows in the half-tilled field, trees, shrubs, small birds in the distance and a bigger one roosting on a bough in the foreground, apparently a partridge. Only at second glance does one notice an element that is at variance with the dominant peaceful atmosphere of the picture: two helplessly flapping legs above the surface of the bay a little distance behind the stern of the ship, indicative of a man crashing into the water and drowning but too far away as to suggest that he has fallen from the ship. Viewed in isolation and without knowledge of the mythological story it refers to (as frame and concomitant script) this painting could merely be interpreted as showing an idyllic scene (indicating landscape painting as the frame) with an incongruous mysterious accident, which might be considered either as marginal and insignificant or as surreptitiously undermining and counteracting the pervasively peaceful atmosphere but which could not be drawn out into a narrative. Now, the title normally accompanying Brueghel’s painting – Landscape with the Fall of Icarus29 – names 29  Pieter Brueghel the Elder, The Fall of Icarus, 1560s, Musées royaux des Beaux Arts de Belgique (Brussels).

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the mythological source of the motif, as the frame, which an educated viewer at that time and later would have been familiar with: the story of Daedalus as told by Ovid in his Metamorphoses (its course functioning as the script).30 Daedalus and his son Icarus managed to escape from captivity on the isle of Crete by constructing wings to fly; but Icarus, not heeding his father’s warning, flew too high so that the heat of the sun caused the wax in his feathered wings to melt, and as a result he plunged into the sea and drowned. In Ovid’s version, this story thus features a double event – a positive event in Daedalus’s construction of wings and his successful escape, evidence of his superior technical ingenuity, and a negative one, in Icarus’s fall on account of incaution and, in fact, hubris (Ovid calls him »bold in vanity«). There is a kind of coda to, and comment on, these events by the subsequent story of the partridge (Latin perdix):31 Perdix, son of Daedalus’s sister, had been a former pupil of his, whose ingenuity and excessive ambition had roused Daedalus’s envy so that he had tried to kill him, but Perdix was saved by a goddess and transformed into a bird (the partridge). As a consequence, the partridge, mindful of his former fall, is very cautious, never flying too high nor too low. When observing Daedalus bury his son, Perdix feels delight and satisfaction. This brief tale corroborates the significance of the negative event, foregrounding and criticising the hubris not only of the son but also of the father, who ultimately was responsible for his son’s fatal accident by arrogating divine powers. This critique of hubris had obliquely been expressed before in Daedalus’s tale when the narrator mentions that ploughman, shepherd and angler – seeing father and son flying in the sky – mistook them for gods.32 Brueghel allusively evokes – and illustrates – Ovid’s mythological tale by depicting several of its characters or figures in his painting: Icarus, the three witnesses (ploughman, shepherd, angler) and the partridge. But he significantly modifies the implied story completely omitting Daedalus’s positive achievement and selecting the negative event of Icarus’s fall as the decisive, pregnant moment in the course of the story as he construes it. The picture contains two elements which serve as indirect comments on the fall defining the particular significance of the event as a just punishment for human hubris: the partridge as a kind of counter-example (someone who learned his lesson) and especially the ship close by proudly and 30  Ovid, The Metamorphoses, trans. Allen Mandelbaum, New York / London / Toronto 2013, book VIII, ll. 183–235. 31  Ibid., ll. 236–59. 32  Ibid., l. 220.



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safely sailing into the sun (as an example of humanly adequate means of travel). This evaluative perspective on the event, though in principle taken over from Ovid, has been intensified considerably and memorably. But in another aspect, Brueghel shifts the focus and the meaning of the story, thus deviating from the literary script. Not only is Icarus’s catastrophic fall pushed into the distance and sarcastically ridiculed by showing merely his kicking legs in the water, but in addition the accident is radically marginalised by the spatial perspective of its presentation: the tiny remnant of Icarus’s body is vastly overshadowed by the looming figures of ploughman, shepherd and also angler and it is further obliterated by the foregrounded fact that the attention of all three is pointedly directed elsewhere. In conjunction with this shift in perspective the internal (mental) dimension of the protagonist is here completely hidden. What is relevant here are the actions as such, which are clear manifestations and results of certain attitudes and motives such as ambition and incautious arrogance. Against Ovid, who balances eventful achievement and tragic failure, Brueghel in addition to omitting Daedalus’s eventful achievement thus deliberately minimises the (negative) eventfulness of Icarus’s crash by emphasizing its total irrelevance and complete non-perception in the world.33 This can be interpreted as an emphatic indication that the normal course of human existence in nature continues entirely unaffected by the technological exploits and catastrophes of Daedalus and Icarus, which in the contemporary context of dynamic developments and new discoveries may be taken as expressive of a profoundly conservative attitude. In the last analysis, Brueghel’s painting deprives Ovid’s mythological tale of its eventfulness – changing Ovid’s two events into a non-event, which, however, in its deviation from the expectation has in itself to be read as eventful, an event in its own right.

VI. Some Tentative Conclusions The comparison of these three examples can finally be used to draw some tentative con­clusions about different conditions and modes of con33  W. H. Auden, in his ekphrastic poem »Musée des Beaux Arts« (1938; in Auden, Collected Poems, ed. Edward Mendelson, London 1994, 179), offers a slightly different interpretation of the story depicted in this painting, owing to the specific frame he chooses and names at the beginning (»They were never wrong about suffering, / The Old Masters«, ll. 1–2): the solitariness and isolation of human suffering in society, here of falling Icarus. This is a clear example of the shaping force of framing for the meaning of a story.

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veying narratives in still pictures independent of genre and period. Among the selected examples a broad distinction may be drawn with respect to the ways in which the pictures project narratives. Cartier-Bresson’s documentary photograph claims to depict objects that actually exist in the world, whereas d’Assisi’s religious and Brueghel’s mythological painting imaginatively create their objects and compose the pictures artificially. While these narrative paintings draw their topics from a reservoir of existing narratives (ancient mythology, Christian religion) and translate verbal stories into pictures, the narrative photograph takes a scene or constellation seen in the world and makes it tell an original story. But this distinction seems to be less determined by the media and genres themselves, and instead seems to constitute two distinct general types of visual narrative across genres and historical periods. For, on the one hand, photographs may, like paintings, artificially manipulate and deliberately arrange the represented situation (as, presumably, in Robert Capa’s famous photo of the falling soldier in Spain, 1936), and, on the other hand, a painting, in a documentary manner, as it were, may depict a scene which actually occurred in the world – a frequent topic of paintings since the beginning of the 19th century, e. g. Goya’s The Third of May (1808), Géricault’s The Raft of the Medusa (1819), Delacroix’s Massacre at Chios (1819), von Menzel’s The Lying-in-State of the Fallen of the March Revolution (1848), Westall’s Nelson wounded at Tenerife, 24 July 1797 (1806), Turner’s The Slave Ship (1840). However, the contrast between these two types is not intended as an absolute opposition but rather as a distinction of degree between ›ideal types‹ or prototypes, which may serve as a broad parameter for classifying narrative pictures. This distinction has essential consequences for the viewer and presupposes different audiences. The first – documentary – type requires general and specific knowledge of the contemporary world for an understanding but not necessarily prior familiarity with the story itself, which viewers may infer from the details in the picture. This type can be classified as autonomous narration. Religious and mythological paintings, by contrast, presuppose very specific knowledge, the prior acquaintance with the story,34 on the basis of which viewers can understand the picture as a re-production and illustration of what they already know. This type can be classified as illustrative narration. 34  This kind of knowledge could be taken for granted for the contemporary audience of such paintings. But later viewers must specifically inform themselves about these underlying narratives by using sources like Heinrich Krauss and Eva Uthemann, Was Bilder erzählen: Die klassischen Geschichten aus Antike und Christentum in der abendländischen Malerei, München 1987.



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What both types of visual narratives seem to have in common is the predilection for an event, for the eventful turning point of the implied story as the chosen pregnant moment, which constitutes its meaning. While documentary photographs and realistic (›documentary‹) paintings focus on a significant moment from a changing scene, freezing the development at a decisive point in time, mythological and religious paintings typically take the most telling moment from a pre-existing story, thereby implying the preceding and succeeding parts. Furthermore, as the two examples of illustrative narration have shown, such paintings can either mediate the pre-existing story without any alteration, typically as a strikingly vivid illustration of its eventfulness and corroboration of its meaning (as in the case of the Madonna del Soccorso) or they can substantially shift the focus and modify its eventfulness and meaning (as in the case of the Fall of Icarus). The examples – finally – differ as to the extent to which they mediate the mental dimension of their protagonists’ behaviour (their emotions, reactions, motivations etc.), which is generally difficult to achieve in visual narration. As became apparent in the analyses, the relevance of the internal dimension is dependent on the type of story implied in the picture and its meaning: the expression of the characters’ mental state is irrelevant for Brueghel’s re-interpretation of a mythological tale, because the acts as such clearly presuppose the underlying attitudes; for d’Assisi’s religious topic, the internal dimension is relevant only in general terms, namely in the emphasis on Mary’s fundamentally merciful and loving attitude; but psychological aspects are specifically important for Cartier-Bresson’s presentation of reactions to a reversal of the political situation, in the expression of satisfaction and triumph on the part of former victims against the guilty feelings and a sense of defeat on the part of former perpetrators.

Buchbesprechungen Hagiographies. Histoire internationale de la littérature hagiographique latine et vernaculaire en Occident des origines à 1550, sous la direction de Monique Goullet, VI [Corpus Christianorum], Turnhout, Brepols, 2014, 917 S.  Wie ein Blick in den Gesamtindex zeigt, werden mit dem vorliegenden sechsten Band (mit dem Monique Goullet Guy Philippart als Herausgeber ablöst) der monumentalen Literaturgeschichte der lateinischen und vernakularen Hagiographien des mittelalterlichen Okzidents zahlreiche weitere weiße Flecken der historisch-geographischen Landkarte dieser international-komparatistischen hagio-géographie mit wertvollem Material für die somit erwachsende Typologie des Genres gefüllt. Zu Beginn steht Rosa Manfredonias Katalog der lateinischen Hagiographien Süditaliens und Siziliens von der Schlacht bei Benevent (1266) bis zum Thesenanschlag Luthers (1517), für den Kontinent zusätzlich (mit fließenden Übergängen) unterteilt in unter angiovinischer und unter aragonesischer Herrschaft entstandene Werke. Diese chronologische Strukturierung erklärt sich aus der erst mit dem Haus Anjou im Meridione erfolgten Implementation der Mendikanten, die mit dem offenkundigen Desinteresse der Aragoneser gegenüber den neuen Ordensgemeinschaften kontrastiert. Der sorgfältig recherchierte Katalog eröffnet immer wieder interessante Querverbindungen zwischen den schreibenden und den beschriebenen Protagonisten. Angegeben werden die jeweiligen BHL-Einträge (die Bibliotheca hagiographica latina antiquae et mediae aetatis der Bollandisten) sowie alle publizierten Editionen. Am Ende steht eine präzise Bilanz des untersuchten Materials, aus der eine große Kohärenz des erfassten Zeitraums resultiert: Überwiegend handelt es sich um nicht-anonyme, zumeist von einem Kleriker verfasste Werke, die, meist als Vitae konstruiert, Leben und Wirken eines Ordensgeistlichen, überwiegend eines Mendikanten, behandeln. Die Handschriftentradition ist recht gering, nur für Sizilien liegen immerhin 1,6 Mss. pro Text vor. Auffallend, und sicherlich bezeichnend für den Bruch zum süditalienischen Religiosentum vorheriger Jahrhunderte und seinen hagiographischen Traditionen, ist das völlige Fehlen von Kodizes aus Monte Cassino.

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Es folgt Edoardo d’Angelos Bibliotheca Hagiographica Umbriae (1130– 1500), welche für den angegebenen Zeitraum eine auf der tatsächlichen Beschaffenheit der einzelnen Texte basierende Neusystematisierung des in der BHL gesammelten und hier gegebenenfalls korrigierten und ergänzten Materials liefert. Trotz aller Definitionsschwierigkeiten der Region erweist sich dabei die gesonderte Behandlung Umbriens aufgrund der Bedeutung und Originalität seiner Spiritualität als vollkommen gerechtfertigt. D’Angelos Einleitung umreißt konzise diese zentrale Stellung der Region bezüglich fundamentaler Umbrüche und Innovationen innerhalb des okzidentalen religiös-kulturellen Lebens und Denkens zwischen dem Ende des 12. und dem 14. Jahrhundert, wie sie von Claudio Leonardi herausgestellt wurde. Faktoren wie das Aufkommen der Mendikantenorden, der Übergang von der Kontemplation zur Mystik, die Idee der auch den Laien möglichen christlichen Perfektion sowie die stark wachsende Bedeutung weiblicher religiöser Protagonisten erscheinen so nicht nur in ihrer Entstehung unmittelbar mit Umbrien verhaftet, sondern auch als direkte Motoren der Heiligenviten des Gebietes. Diese erweisen sich als Umsetzung einer dieser neuen Vorbilder gemäßen geistlichen Programmatik nach der präzisen Konzeption der Bettelorden: Die imitatio Christi ersetzt als Heiligenmodell dasjenige der contemplatio. Die inventarisierten Hagiographien bestätigen diese Entwicklung, wobei die herausragende Rolle bestimmter Heiliger im 13. Jahrhundert zu einem proportionalen Übergewicht der Werke gegenüber den in ihnen behandelten Protagonisten führt. Das alphabetisch nach Heiligen (und sodann chronologisch) geordnete Repertorium versieht jeden Text mit einer BHU-Nummer, unter der die erschienenen Editionen aufgeführt und die Anzahl der erhaltenen Manuskripte sowie die jeweilige BHL-Zuordnung genannt werden. Es ist zu erwarten, dass die somit eingeführte, übersichtliche Systematik zum neuen Referenzstandard zukünftiger Studien umbrischer Hagiographien werden wird. Dietrich Briesemeister gibt sodann einen inhaltlich gegliederten Überblick über die lateinische und volkssprachliche Hagiographie auf der Iberischen Halbinsel zwischen 1350 und 1500, unterteilt in drei Kapitel, die jeweils den portugiesischen, kastillisch- und katalanischsprachigen Raum behandeln. Dabei liegt mit der Datenbank PhiloBiblon der Universität Berkeley für die romanischen Texte dieser Gebiete ein überaus funktionales digitales Arbeitsinstrument vor, das schon einen detaillierten Katalog, inklusive vorhandener Editionen und einer stets aktualisierten Bibliographie repräsentiert. Da in allen drei Sprachgebieten im Spätmittelalter die Anzahl der vernakularen Hagiographien die der lateinischen bei weitem übersteigt, ist somit der Großteil der iberischen Heiligenliteratur dieses



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Zeitraums bereits erschöpfend inventarisiert. Aus Briesemeisters thematisch untergliederter Darstellung resultiert immer wieder die grundlegende Bedeutung der Legenda Aurea als stets Veränderungen und Bearbeitungen unterworfene Quelle. In ihrer auch hierin erkennbaren Breite von Funktionen und evozierten Themen reflektieren die iberischen Hagiographien somit die gesamte Vielseitigkeit des religiösen Lebens der Epoche. Der Hagiographie im Deutschen Raum (1125–1220) ist Monika Reners Beitrag gewidmet. Ebenfalls thematisch unterteilt und stets unter Anführung der aktuellen Forschungsliteratur, präsentiert die Autorin den Inhalt der verschiedenen hagiographischen Texte in Kurzform. Das hervortretende religiöse Panorama bestätigt die eingangs von ihr für das zwölfte Jahrhundert postulierte Gesamttendenz einer Dominanz der Bischofsviten anstelle der zuvor populären Schilderungen des Lebens von Ordensleuten. Sehr deutlich zeigt sich so die Verhaftung der hagiographischen Texte des behandelten Zeitraums mit ihrem historischen und ideengeschichtlichen Kontext: Die politischen Themen, insbesondere natürlich der schwelende Konflikt zwischen Krone und Altar, erweisen sich in fast allen präsentierten Viten als auffallend bedeutsam. Die historische Gebundenheit an eine letztlich partikulare Situation führe dazu, so subsumiert Rener, dass die Bedeutung der dargestellten modellhaften Lebensentwürfe auf das deutsche Reichsgebiet begrenzt bleibe und die Gesamtkirche nur in Einzelfällen (etwa Norbert von Xanten als Ordensgründer) tangiere. Anne-Marie Bultot-Verleysen beleuchtet sodann die hagiographischen Texte Aquitaniens für die Jahre 750–930 sowie (als Ergänzung zum entsprechenden Artikel in Bd. I der Reihe) 930–1130 aus einem vorrangig historischen Blickwinkel. Folglich wählt die Autorin für ihren Überblick über die zumeist anonym verfassten und weit vor diesem Zeitraum aktive Heilige thematisierenden Texte (eine Ausnahme bildet allerdings Benedikt von Aiane), eine Untergliederung nach Kirchenprovinzen und Diözesen. Gerade weil Jean-Claude Poulins Standardwerk bezüglich der aquitanischen Hagiographien des Hochmittelalters einen ständigen Bezugspunkt darstellt, stechen die ständigen Verweise auf aktuelle Forschungen als vertiefende Elemente äußerst positiv hervor. Bultot-Verleysen attestiert dem gros der etwa 45 von ihr für die Karolingerzeit zusammengestellten Dossiers (mit deutlichem Schwerpunkt im Poitou), ebenso wie den ca. 30 als später klassifizierten Texten, eine recht geringe Originalität. Mit diesem nachvollziehbaren Befund – es überwiegen schematische Erzählungen über die das hagiographische Werk hervorbringenden Abteien und ihre Reliquien – kontrastiert in gewisser Weise das historische Interesse der karolingischen Heiligenlegenden Südwestfrankreichs, welche die spirituellen und materiellen Probleme ihrer Entstehungszeit, etwa die oftmals genannten

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Normanneninvasionen, auf erhellende Art widerspiegeln. Am Ende steht ein zur zukünftigen raschen Orientierung sehr valides alphabetisches Repertorium der Dossiers, das jedes von ihnen mit von der Autorin zugeteilter Nummer, BHL-Ziffer und Titel ausweist und eine entsprechend übersichtliche Zuordnung der verschiedenen Texte zur Hand gibt. Die nachfolgende Periode von 1130 bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, beschränkt auf die Kirchenprovinzen Bordeaux (nur die südlichen Diözesen), Auch und Narbonne, behandelt der Beitrag von Christophe Baillet und Patrick Henriet. Die beiden Forscher präsentieren ungefähr 30 (insgesamt 60 Texte umfassende) Heiligendossiers, die überwiegend Leben und Taten ›traditioneller‹ Protagonisten (Märtyrer) der Region nachzeichnen und größtenteils von Benediktinern verfasst sind. So unterscheidet die Strukturierung der Darstellungen einerseits nach geographischen (Bordelais  /  Narbonne und Gascogne), andererseits nach inhaltlichen Kriterien (›frühere‹ Heilige in den genannten Gebieten, ›moderne‹ Heilige und Mirakelberichte), wobei die geringe Anzahl zeitgenössischer Akteure und reformorientierter Themen in der Tat ins Auge fällt. Die Autoren konnten auf nur wenige moderne kritische Editionen der Texte zurückgreifen, weshalb ihre zahlreichen Manuskriptdatierungen extrem hilfreich für zukünftige Studien auf diesem Gebiet sein werden, dessen Forschungsdesiderate (etwa bezüglich der komplexen Tradition der Viten des Hl. Antonin von Pamiers) das vorliegende Inventar exakt benennt. Baillet und Henriet beschränken sich nicht auf eine reine Bestandsaufnahme, sondern präsentieren in einigen Fällen sogar aus ihrer Analyse der Manuskripttraditionen resultierende neue Forschungsergebnisse, so etwa wenn sie die Abhängigkeit der von Bernard Gui verfassten Vita des Hl. Papoul von der des Pseudo-Anselm aus Le Bec nachweisen. Dies macht die Studie, die mit einem nützlichen alphabetischen Verzeichnis der untersuchten Texte und ihren BHL-Nummern schließt, zu einem für künftige Recherchen und kritische Textausgaben des Untersuchungsgegenstandes wohl als grundlegend zu bezeichnenden Instrumentarium. Aufgrund der europaweiten Bedeutung der Stadt und ihrer Institutionen als kulturelles und intellektuelles Aushängeschild Lothringens im elften Jahrhundert, ist der von J. R. Webb verfasste abschließende Beitrag allein der Stadt und Diözese Lüttich gewidmet. Diese exponierte Stellung findet auch in den Heiligenviten des Territoriums ihren Niederschlag, sowohl bezüglich der Manuskripttradition und des Einflusses der Texte, als auch hinsichtlich deren literarischer Qualität. Der nur die lateinischen Texte behandelnde Artikel stellt eine Ausnahme innerhalb des Gesamtprojektes der Hagiographies dar, weil hier eine politische anstelle einer linguistischen Einheit das Untersuchungsgebiet definiert, was sich durch die



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sprachliche Partikularität der behandelten Region erklärt. Letztere gibt auch die Gliederung (Stadt Lüttich, romanisches und germanisches Territorium) vor, während die einzelnen Texte sodann nach den jeweiligen religiösen Institutionen geordnet sind. Diese Strukturierung korrespondiert mit den inhaltlichen Forschungsresultaten, welche die Hagiographien überwiegend als lange vor ihrer Niederschrift situierte »Gründungshistorien« der sie produzierenden religiösen Gemeinschaften identifizieren. Wie für die Reihe üblich rundet auch diesen Beitrag ein Autor, Heiligen, Werk und BHL-Ziffer zuordnender Index. Matthias Bürgel, Köln Dictionnaire raisonné de la caducité des genres littéraires. Dirigé par Saulo Neiva et Alain Montandon [Histoire des idées et critique littéraire 474]. Genf, Droz, 2014. 1171 S. Saulo Neiva und Alain Montandon von der Université Blaise-Bascal (Clermont II) haben dort gemeinsam das Forschungsprojekt »Dynamique des genres littéraires« geleitet. Daraus ist vermutlich auch das vorliegende Dictionnaire raisonné de la caducité des genres littéraires hervorgegangen. Der Titel legt nahe, dass es sich um die Beschreibung der »Hinfälligkeit«, des »Verfalls«, des »Niedergangs« von literarischen Gattungen handelt, was nicht unbedingt ihr völliges Verschwinden bedeutet, da einige Spuren hinterlassen haben oder, abgewandelt, wieder auferstanden sind. Die Herausgeber machen letztlich einen Gedanken Michel Foucaults fruchtbar, der bei der Erforschung der modernen Geschichte auf die Bedeutung der »Transformationen« hingewiesen hat, einen Begriff, den er dem des »Wandels« vorzog.1 Neiva schreibt in diesem Sinne in der »Introduction«, ohne sich explizit auf Foucault zu beziehen: »Nous nous intéressons à la caducité des genres sans établir aucune analogie avec un processus de ›dégéné­ rescence‹ qui serait contraire à celui de la ›génération‹ … A la différence de la projection rétrospective qui se dégage des modèles essentialistes, nous entendons que lorsqu’un genre ›décline‹«, il atteint un stade de déclinaison, ou d’infléchissement – qui signifie mutation, donc ›pertes‹ et ›gains‹ – plutôt qu’un état irréversible et terminal de déclin« (15). Diese offene Definition von caducité erlaubt es, gleichermaßen untergegangene, abgelegene oder wiederbelebte Genera in den Blick zu nehmen, wobei die Abgrenzung gegen Titel, die man auch als Gedichtformen bezeichnen könnte (Alba, Ballade, Blason, Chant royal, Eglogue, Epigramme, Idylle, Ode, 1  Vgl. Michel Foucault, L’Archéologie du savoir, Paris 1969, 224; Helge Jordheim, Der Staatsroman im Werk Wielands und Jean Pauls (Communicatio), Tübingen 2007, 1–2.

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Pantoum, Renga, Riqueracque, Rondeau, Sextine, Sirventès, Triolet), fließend ist. Insgesamt werden 82 »genres littéraires« behandelt, Vollständigkeit ist jedoch nicht intendiert, denn »ce serait naïf et superflu de notre part que d’aspirer à établir une liste exhaustive de ces genres« (12). So hat die Auswahl der Lemmata etwas Zufälliges, da nicht versucht wird, sie näher zu begründen, indem zum Beispiel Exemplarität, Bedeutung oder Verbreitung der behandelten Genera herausgestellt wird. Auch die unterschiedlichen Grade der Normierung bzw. der Offenheit könnten als Indikatoren für eine Aufnahme in die Sammlung gelten. Den insgesamt 67 Verfassern der einzelnen Artikel wurde von den Herausgebern im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen und Themen Gestaltungsspielraum eingeräumt. Die Herausgeber legen zwar Wert auf Internationalität, doch mehrheitlich entstammen die Beiträger dem französischen Universitätssystem, in dem sie zumeist auch unterrichten. Zwar ist das Unternehmen komparatistisch angelegt, doch dominieren Vertreter der klassisch-antiken und der französischen Literaturen, wobei die stattliche Zahl von Mediävisten und Renaissancisten auffällt. Wenngleich keine Anglisten, Amerikanisten, Slawisten, Nordisten, Orientalisten usw. mitgewirkt haben, wird versucht, soweit eine Gattung dies erlaubt oder nahelegt, die wichtigsten Werke der Weltliteratur einzubeziehen. Im Prinzip setzt sich jeder Eintrag aus einer Definition der Gattung, der Herleitung ihres Namens, der Nennung des Zeitpunkts ihres Aufkommens, der Bestimmung ihrer Dauer, den vorkommenden Varianten sowie der Vorstellung der bedeutendsten oder typischsten Vertreter zusammen und wird von einer Auswahlbibliographie abgeschlossen, die Primär- und Sekundärwerke umfasst. Das Dictionnaire raisonné würde zweifellos einen größeren Benutzerkreis finden, wenn die Gattungstermini, soweit dies möglich ist, mehrsprachig verzeichnet worden wären. Der zugrunde gelegte Gattungsbegriff wird, wie gesagt, breit gefasst: »[N]ous pouvons déceler trois grands modèles théoriques dans le panorama de réflexion sur les genres littéraires. Le normativisme qui sert de paradigme à l’âge classique et deux grandes tendances qui se dégagent et s’affirment après le romantisme: un modèle essentialiste et un modèle nominaliste« (12). Mit diesem Hinweis ersparen es sich die Herausgeber, auf die wichtigsten gattungsgeschichtlichen wie -theoretischen Auseinandersetzungen einzugehen, die die Literaturbetrachtung zu allen Zeiten bewegt haben. Trotz der Beteiligung von sieben Deutschen Romanisten (Michael Bernsen, Béatrice Jakobs, Volker Kapp, K. Alfons Knauth, Beate Langenbruch, Miriam Lay Brandner und Dietmar Rieger) wird man, was die Einbeziehung einschlägiger Sekundärliteratur zu Gattungstheorie und Gattungsgeschichte angeht, ein germana sunt, non leguntur konstatieren müs-



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sen. Dabei kann man einen Bogen von Jolles2 über Nies3 bis hin zu Hempfer,4 Horn5 und Lamping6 spannen, die wichtige Vorarbeiten geleistet haben und noch leisten. Und dies ist nur eine kleine Auswahl wichtiger Namen. Der einleitende Beitrag von Dominique Maingueneau (»Les genres: unité et diversité, positionnement et investissement générique»«, 17–33) bietet keinen Ersatz für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gattungsbegriff, da sein Verfasser diskursanalytisch argumentiert (»Les quatre modes de généricité«) und letztlich für ein (pragmatisches) Textsortenmodell plädiert. Sein Beitrag hat jedoch insofern Auswirkungen auf den vorliegenden Band, als auch »Gebrauchstexte« behandelt werden (im engeren Sinne sind dies Dialogue philosophique, Dispute, Epitaphe stélaire, Manuel d’inquisiteur, Récit de conversion, Salon, Toast, Traité de Rhétorique, Traité de savoir-vivre; im weiteren kann man Ana, Oraison funèbre, Récit de voyage scientifique, Recueil de caractères, Thrène noch hinzuzählen). Eine Zusammenfassung ist häufig genauso nützlich oder wichtig wie eine Einleitung. So hätte der Benutzer dieses Dictionnaire gerne gewusst, welche Gründe es für den Niedergang oder das Wiederaufleben von Gattungen gibt. Dafür hätten die Beiträge, von denen einige wahre Kuriositäten behandeln, die allenfalls Spezialisten bekannt sind (Audengière, Baguenaude, Comédie saxonne, Greguería, Pantoum, Pont-neuf, Renga, Riqueracque, Rotrouenge u.  a.), zusammenfassend ausgewertet werden müssen, um mögliche Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen. Dies ist nicht einmal ansatzweise versucht worden. Dem Theologen Hermann Gunkel verdanken die Geisteswissenschaften die Erkenntnis vom »Sitz im Leben« der literarischen Gattungen,7 wobei 2  André Jolles, Einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 15), Tübingen 61982. 3  Fritz Nies unter Mitarbeit von Jürgen Rehbein (Hg.), Genres mineurs – Texte zur Theorie und Geschichte nichtkanonischer Literatur (vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart), München 1978, beschreibt 84 »genres mineurs«. 4  Klaus W. Hempfer, Gattungstheorie: Information und Synthese (UTB 133), München 1973. 5  András Horn, Theorie der literarischen Gattungen: ein Handbuch für Studierende der Literaturwissenschaft, Würzburg 1998. 6  Dieter Lamping, Handbuch der literarischen Gattungen, Stuttgart 2009, beschreibt 92 der gängigsten Gattungen. 7  Andreas Wagner, »Gattung und ›Sitz im Leben‹. Zur Bedeutung der formgeschichtlichen Arbeit Hermann Gunkels (1862–1932) für das Verstehen der sprachlichen Größe Text«, in: Susanne Michaelis / Doris Tophinke (Hg.), Texte – Konstitution, Verarbeitung, Typik (Edition Linguistik 13), München / Newcastle 1996, 117–129.

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das Wechselspiel von Schriftlichkeit und Mündlichkeit eine große, im Dictionnaire nicht eigens thematisierte Rolle spielt. Gunkel hatte seine Theorie an den biblischen Gattungen aufgezeigt, deren Bogen von der Schöpfungsmythe über Rechts- bzw. Weisungstexte und Chroniken bis hin zu prophetischen Verkündigungen und Liedern reicht. Ändert sich der Lebensvollzug, in dem Gattungen entstanden sind und gepflegt wurden, passen sie sich, je nach dem Grad ihrer Offenheit, den Veränderungen an und transformieren sich; tun sie das nicht, gehen sie unter und / oder werden durch neue ersetzt. Dies gilt nicht nur für biblische Gattungen, sondern für alle Gattungen, soweit sie menschliche Ausdrucksformen sind, auch für solche, die sich anderer als sprachlicher Mittel bedienen (Musik, Bildende Kunst). Der Roman liefert ein gutes Beispiel für Transformationen. Im vorliegenden Handbuch werden Roman colonial, courtois, d’aventures, de cape et d’épée, épistolaire, gothique, -dialogue behandelt; hinzufügen ließen sich antiker und byzantinischer Roman, Schelmen-, Schäfer-, makkaronischer, phantastischer, komischer und utopischer Roman, um nur einige Varianten (weitgehend) ›untergegangener‹ Romantypen zu benennen. Der Roman besitzt offenkundig ein besonders hohes Maß an Welthaltigkeit und Anpassungspotential. Am ehesten kommt ihm das Theater nahe, das im vorliegenden Dictionnaire mit Comédie ancienne, italienne, saxonne bzw. Drame allégorique, Drame de boulevard und Drame dramatique vertreten ist. Wenn das hier anzuzeigende Sammelwerk, das sachkundig über einen Fächer von Gattungen informiert, typographisch sorgfältig gestaltet und gründlich lektoriert ist, dennoch unausgereift wirkt, so ist das nicht den Beiträgern anzulasten, sondern der nicht wirklich überzeugenden Gesamtkonzeption. Wer sich jedoch über die darin behandelten Gattungen informieren will, wird auf seine Kosten kommen, so dass man trotz der gemachten Einschränkungen die Anschaffung dieses Bandes für jede öffentliche und private Bibliothek empfehlen kann. Frank-Rutger Hausmann, Wasenweiler a. K. Preghiera e liturgia nella Commedia. Atti del Convegno internazionale di Studi. Ravenna, 12 novembre 2011. A cura di Giuseppe Ledda [Quaderni della Sezione Studi e Ricerche V] Ravenna, Centro Dantesco dei Frati Minori Conventuali, 2013, 238 S.  Die Danteforschung habe die Bedeutung des Gebetes und der Liturgie in der Commedia bislang gewiss nicht vernachlässigt, so beginnt Giuseppe



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Mazzotta sein Schlusswort der vorliegenden Tagungsakten. In der Tat ließe sich mit Leichtigkeit eine ganze Reihe bekannter und einflussreicher Studien anführen, welche sowohl einzelne Gebete oder liturgische Elemente des Werkes, insbesondere natürlich die Preghiera alla Vergine in Par. XXXIII, aber auch die Gesamtheit dieser Formen innerhalb des sacro poema intensiv behandeln (man denke allein an die entsprechenden Beiträge Erich Auerbachs). Gerade in den letzten Jahren scheint dabei verstärkt die Pater Noster-Paraphrase in Purg. XI in den Fokus der Forschung zu rücken und die Präsenz der Liturgie der Kirche im Werk, insbesondere in der zweiten cantica, immer deutlicher systematisch herausgestellt zu werden. Ist für erstere Tendenz unter anderem auf die luziden Artikel Nicolò Maldinas [»L’»oratio super Pater Noster« di Dante tra esegesi e vocazione liturgica. Per ›Purgatorio‹ XI, 1–24«, in: L’Alighieri. Rassegna dantesca, 53, n. s. XL (2012), 89–108] und Andrea Mazzucchis [»Filigrane francescane tra i superbi. Lettura di Purgatorio, XI«, in: Rivista di Studi Danteschi VIII (2008), 42–82] zu verweisen, so kommen bezüglich der zweiten unweigerlich die Studie Francesco Mattia Arcuris [›Asperges me‹ sì dolcemente udissi‹. Il percorso liturgico di Dante alle origini dell’innocenza, Alessandria, 2008] und der grundlegende Band der selbst an der Ravennater Tagung beteiligten Erminia Ardissino [Tempo liturgico e tempo storico nella ›Commedia‹ di Dante, Città del Vaticano, 2009 – die Liturgie als »metafora fondamentale della visione dantesca«, so hier, 222, Mazzotta] in den Sinn. In der Tat schließt der Band nicht nur an jüngst durch die genannten und andere Beiträge geführte Forschungsdiskurse an, sondern fügt der behandelten Thematik – um an dieser Stelle wieder Mazzottas Konklusionen aufzugreifen – innovative und komplexe Aspekte und Problemstellungen hinzu: Die Spekularität von individuellem, aber stets im Namen anderer verrichteten »Gebet« und notwendigerweise ein Kollektiv voraussetzender »Liturgie« werde dabei, so Mazzotta, zum Ausgangspunkt einer vertieften Reflexion über das wechselseitige Verhältnis zwischen Poesie und Theologie in der Commedia. Betrachtet man zudem das in den Beiträgen von Giuseppe Ledda und Sergio Cristaldi hervortretende »continuum tra le due discipline (teologia e retorica)« (Mazzotta, ibidem), so tritt deutlich zu Tage, dass die von der Tagung gewählte Schwerpunktsetzung im Grunde die vom Werk in den jeweiligen Kontexten verwendete konkrete Sprachform selbst in den Vordergrund rückt. Wie Mazzotta aufzeigt, entspricht dies letztlich dem dem dantesken Gebet inhärenten Charakter einer transzendentalen Grundlage der Sprache und der Existenz, wie sie der Dichter selbst im De vulgari eloquentia (DVE I IV, 3–4) beschreibt: Die Begründung der menschlichen

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Sprache, die konkrete Verwendung dieses göttlichen Geschenkes, wird als dezidiert theologisches Problem begriffen, in dem gleichzeitig die Begegnung mit dem logos als Beginn einer Unterredung zwischen Gott und dem Menschen, also einer schon im Ursprung dialogischen Struktur, aufscheint. Mazzotta stellt Dante hinsichtlich dieser Konzeption in die ideale Nachfolge des hl. Franziskus als Autor der Laudes creaturarum, in welchen das Gebet als »performativer Sprechakt« das durch und in ihm Benannte zur unmittelbaren Wirklichkeit werden ließe. Die oratio dominica aus Purg. XI, eine asketische Demutsübung, verweise somit unmittelbar auf das Herz franziskanischer Spiritualität. In diesem Zusammenhang könnte gewiss ebenso Giovanni Pozzis Identifizierung der berühmten Komposition als volgarizzamento des biblischen Benedicite in seinem ein ähnliches Verständnis des Lobhymnus zugrundelegenden Sul cantico di frate sole. Di grammatica in preghiera [Bigorio, 1985] Erwähnung finden. Denn das Problem des Gebetes (und des liturgischen Textes) als literarischer Ausdruck verweist, bei Dante wie bei Franziskus, eben nicht nur auf die menschliche Sprechfähigkeit als solche, sondern, daran anschließend, auch auf die für seine poetische Verwendung zu treffende Wahl zwischen Latein und volgare (so betrachtet etwa auch Maldina im oben erwähnten Artikel das Pater Noster in Purg. XI explizit als volgarizzamento). Folglich behandelt das Thema des Bandes ein gleich dreifaches ineinander verschränktes Spannungsfeld zwischen den sich wie die Konzeptionen von Gebet und Liturgie selbst spiegelnden Polen von individuellem Ausdruck und kollektiver Bedeutung, Poesie und Theologie sowie vernakularer und lateinischer Sprachform. Die Beiträge sind, natürlich mit unterschiedlichen individuellen Schwerpunktsetzungen, in just diesem die linguistische und poetologische Essenz der Commedia selbst definierenden, und somit die exponierte Bedeutung der Tagung in Ravenna bezeugenden, Spannungsfeld zu verorten. Die von Mazzotta als den vorliegenden Studien gemeinsame Notion betonte Verknüpfung individueller menschlicher Begebenheiten mit dem Weltenlauf in der Liturgie, tritt dabei in dem eröffnenden Aufsatz »La Commedia di Dante e l’immaginario liturgico« von Matthew Treherne deutlich hervor und wird durch eine Nachzeichnung der Verbindung zwischen dem kirchlichen Ritual als temporär-räumlichen Zentrum des Kontaktes zwischen Gott und den Menschen und dem in der Poesie der Commedia fleischgewordenen theologischen Gedankengut theoretisch begründet. Treherne zeigt auf, wie die zyklische Ritualität des mittelalterlichen Liturgieverständnisses es ermöglicht habe, im Ablauf eines Tages, nicht nur ein ganzes Jahr, sondern auch einerseits das komplette Leben eines Menschen sowie, andererseits, die Zeit in ihrer Gesamtheit zu erbli-



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cken. So könne entsprechend ebenso das Leben des Pilgers Dante gerade durch textuelle Bezugnahmen auf die Liturgie als heilsgeschichtliche Figuration dargestellt werden. Insbesondere manifestiere sich dessen persönliche Einbezogenheit in der allegorischen Prozession des irdischen Paradieses, deren temporale Aspekte auf die Darstellung der Zeit in der Liturgie verwiesen. Evident werde so die Bedeutung der den liturgischen Praktiken des Purgatorio allgemein zugrundeliegende Konvergenz zwischen Heilsgeschichte und Leben des Einzelnen: Die – wie von Matthew Levering bemerkt – im Mittelalter zutiefst christologische Liturgie präsentiere sich als Ausdrucksform der Beziehung zwischen menschlichem und göttlichen Handeln. Noch unmittelbarer auf die Rolle Dantes selbst bezogen behandelt Ronald J. Martinez in »L’epistola perduta Popule meus e la liturgia degli Improperia nelle opere di Dante« die Verschränkung individuellen Schicksals mit kollektiver Geschichte in der Präsenz liturgischer Elemente in der Commedia. Der amerikanische Forscher analysiert verschiedene Anspielungen auf die Improperia des Karfreitags im Inferno (etwa in den Wortwechseln zwischen Dante und Farinata oder Sinone und maestro Adamo), die er als negative Parodien dieses liturgischen Textes liest. Die in den Invokationen angedeutete prozessuale Situation und die Präsenz der entsprechenden Verweise in canti, welche Dante selbst bei seiner Exilierung vorgeworfene Vergehen betreffen, konnotiere diese stark autobiographisch, was den Autor – wiederum als personaggio-poeta, so ist hinzuzufügen – in eine Ähnlichkeitsbeziehung zum Christus der Improperia rücke. Martinez schlussfolgert, dass sich dieses Vorgehen möglicherweise in stilistischer Kontinuität zum verlorenengegangen Briefe Dantes an die Bevölkerung von Florenz, Popule meus, konstituiere. Identifiziere sich Dante in der Epistel mit dem unschuldig verurteilten Christus, so sei hierin bereits ein Schritt zur Verknüpfung des Pathos seines Exils mit dem durch das Schrei­ ben der Commedia vollzogenen Bemühen um das kollektive Heil (wie sodann in der Epistola XIII ausformuliert) erkennbar. Ebenfalls auf Basis der persönlichen Dimension der geschilderten Jenseitsreise analysiert Francesco Santis »Il sorriso di Beatrice. Dante e la preghiera di intercessione« die heilbringenden Fürsprachegebete der Commedia: Es ist Beatrices Bitte, die Dantes Seelenheil, aber auch seine Pilgerreise und somit das Schreiben des Werkes selbst ermöglicht, sodass die Wiederbegegnung mit ihr im Garten Eden für Santi bedeutet, dass »il personaggio della Commedia è definitivamente raggiunto dall’autore stesso« (38). Wiederum rückt die individuelle Erfahrung also in eine Beziehung zur kollektiven Menschheitsgeschichte, versteht Dante doch somit auf dem Gipfel des Purgatoriumsberges, dass, so Santi, eine Brücke zwi-

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schen seiner historischen Liebe und der göttlichen, übergeschichtlichen existiere. Denn nur in dem die Vernunft übersteigenden Glauben an den menschgewordenen Gott könne das Fürbittgebet die Absolution des zu Recht Verurteilten bewirken, ohne dabei gegen die ewige Gerechtigkeit zu verstoßen, was sich auch in der Errettung Trajans, Ripheus’ und Catos zeige und in Par. XX, 94–99 (»Regno celorum vïolenza pate / da caldo amore e da viva speranza / che vince la divina volontate: / non a guisa che l’omo a l’om sobranza, / ma vince lei perché vuol esser vinta / e, vinta, vince per sua beninanza«) schlussendlich subsumiert werde. Der Gedanke, dass die Wirksamkeit dieses Fürsprachegebetes gemäß Joh 15, 15–16 (…»vos autem dixi amicos«) von der Freundschaftsbeziehung des Betenden zum Schöpfer abhänge, fungiert sodann als Ausgangspunkt von Erminia Ardissinos » ›Pregar pur ch’altri prieghi‹ (Purg. VI, 26). Richieste di suffragio nel Purgatorio«. Die im Gebet inhärente Reziprozität von Poesie und Theologie, bei der erstere in letzterer ihre Begründung erfährt, während die theologischen Erkenntnisse ihrerseits in einer poetischen Form Ausdruck finden können, manifestiert sich in diesem Beitrag besonders deutlich, da Ardissino auf Basis ihrer theoretischen Reflexion des Ablassgebetes das Augenmerk auf Guido Guinizelli und dessen Bitte um ein Vaterunser (Purg. XXVI, 130) lenkt und in dieser sodann eine Zusammenfassung der vorherigen Gebete des Läuterungsberges erkennt: »le preghiere hanno bisogno di essere pronunciate« (63). Das Wort, das menschliche Sprechen als solches, sei es, das die Freundschaft zu Gott somit in die Tat umsetze und seine exakteste Verwirklichung dabei im poetischen Ausdruck fände. Dantes »poesia degli affetti« (66) des stets in Gemeinschaft Fürsprache haltenden Gebetes drücke im Purgatorio so eine Bonaventuras Itinerarium mentis in Deum nachzeichnende aufsteigende Bewegung zum Schöpfer hin aus, welche den theologischen Text und seinen Inhalt in Dichtung umsetze. Das Wechselspiel zwischen Poesie und Theologie steht auch im Zentrum von Sandra Carapezzas »La preghiera a Beatrice tra modelli letterari e liturgici«, wobei die im Titel erwähnte letzte Begegnung des Pilgers mit der Geliebten in Par. XXXI bereits aufgrund der literarischen ›Vorgeschichte‹ dieser Beziehung als mit unweigerlich metapoetischem Wert aufgeladen verstanden wird. Höchst aussagekräftig sei in dieser Szene die Rolle des Beatrice ersetzenden hl. Bernhard, Verfasser des HoheliedKommentars und somit selbst Vorbild einer literarischen Reflexion der Verflechtung von Liebesthematik und spiritueller Interpretation. Carapezza verweist diesbezüglich auf Parallelen zwischen dem von Bernhard vertretenen Freiheitskonzept und dem in der Commedia präsenten. Die aus der Gnade (figural verkörpert durch Beatrice selbst) erwachsende



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Freiheit als Sieg über die Begehrlichkeiten des Fleisches begründe somit nicht nur die Überlegenheit des Christen Dante gegenüber dem Heiden (und somit der reinen Vernunft verhafteten) Vergil, sondern impliziere auch den Triumph einer neuen Form der Poesie, die nur dem sich im Status der libertas gratiae befindlichen christlichen Dichter möglich sei: eine Poesie, welche auch die vorhergehende literarische Erfahrung des stil novo übersteige, ohne sie auszulöschen. So könne Dante den Abschied und Höhepunkt der Beziehung zu Beatrice als bewegtes Gebet gestalten (Par. XXXI, 79–87), das die Unvergänglichkeit seines Gefühls ausdrücke, ohne je von Liebe zu sprechen, deren poetischer Ausdruck in den finalen Gesängen der Commedia einzig Bernhard, dem Autor des De diligendo Deo, vorbehalten sei. Inhaltlich und stilistisch genau entgegengesetzt, tragen freilich auch die liturgischen Verweissysteme des Inferno eine eigene metapoetische Aussagekraft – so zumindest die von Filippo Zaninis »Parodie liturgiche nell’Inferno: nota sulla confessione« bezüglich der Rolle der Beichte in der ersten cantica verfochtene und begründet dargelegte Forschungshypothese. Die zahlreichen Anspielungen auf die Doktrin und Praxis des Bußsakramentes (in der Begegnung Dantes mit Minos, seiner Unterredung mit Bonifaz VIII., der Erzählung Guido da Montefeltros…) präsentierten sich, so Zanini, als ironische, oft stark polemisch gefärbte Verkehrungen desselben und somit als wahrhafte Parodien: dem rhetorischen Pendant zum inhaltlichen »mondo alla rovescia che si chiama Inferno« (190). Als sehr aufschlussreich erweist sich die von Zanini evidenzierte parallele Bezugnahme auf die Schlüsselgewalt des Petrus durch Bonifaz VIII. (Inf. XXVII, 103) und Pier della Vigna (Inf. XIII, 60): Der in beiden Fällen unangemessene Gebrauch des sakramentalen und biblischen Konzeptes deute entsprechend auch im Falle des Logotheten Friedrich II., der in seinen Ausführungen das Privileg der höchsten kirchlichen Autorität auf eine säkulare Größe bezieht, auf eine bewusste Verzerrung der sakralen Rhetorik hin. Berücksichtigt man die vom Autor des Beitrags ebenfalls erwähnte Modellfunktion, die Pier della Vigna zur Zeit Dantes für die ars dictaminis einnahm, so geht aus Zaninis Analyse deutlich hervor, dass der liturgische Missbrauch des Sakralen für Dante eng mit dem rhetorischen Betrug der sophistisch-unaufrichtigen Rede (die orazion picciola des Odysseus in Inf. XXVI, 122 kommt hier unweigerlich ebenfalls in den Sinn) verbunden ist, was wiederum den Nexus zwischen Theologie und Rhetorik bekräftigt: Die Verwendung des Heiligen zu eigenen, weltlichen Zwecken und eine Verfälschung der Sprache, in der an sich richtige Konzepte eben nicht mehr mit der Realität übereinstimmen, bedingen sich gegenseitig.

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Dem entgegengesetzt stehen die aufrichtigen und, im Gegensatz zum überwiegenden Teil der übrigen liturgischen Stücke der Commedia, gerade deshalb in dem persönlichen, natürlichen (und deshalb, wie schon in DVE I, I 4 formuliert, edleren) volgare rezitierten Gebete des personaggio-poeta im Fixsternhimmel, die Elena Guriolis Beitrag »Le preghiere del Paradiso: Dante nel cielo delle stelle fisse« analysiert. In Dantes eigenen liturgischen Nachbildungen, vorgetragen als Antworten in den Prüfungen über die drei theologischen Tugenden, fokalisiere sich, so die Autorin, somit die autobiographische Dimension des Werkes durch eine Betonung des Leitthemas des doppelten Exils, dem politischen und dem an dieser Stelle überwunden werdenden theologischen. Der das Lateinische vermeidende Sanctus-Ruf in Par. XXVI, 69 präfiguriere die im folgenden Gesang stattfindende prophetische Investitur Dantes, ganz wie das alttestamentarische Vorbild des liturgischen Gebetes (Jes 6, 2–3) die entsprechende Einsetzung Jesajas (Jes 6, 8–9) vorwegnehme. So bestätigt der Beitrag Guriolis ebenfalls die den Tagungsband durchziehende wechselseitige Dialektik von lateinischer und vernakularer Sprachform einerseits und dadurch vollzogenem individuellen und gemeinschaftlichen Ausdruck andererseits: Die persönliche Geschichte Dantes schlage sich durch die ihm aufgetragene auf seine Mitmenschen gerichtete Mission in der Universalgeschichte nieder, wobei die Investitur wie die Erfüllung dieses Auftrags in dem dem Dichter von Natur aus mitgegebenen volgare vollzogen werden würden. Die gezielte Verwendung der Muttersprache in liturgischer Funktion an narrativen Schlüsselstellen der Commedia kristallisiert ebenfalls Sergio Cristaldis »Il Padre Nostro dei superbi« heraus. In den Fokus der Analyse rückt hier also jener Gesang, der in der Forschung der letzten Jahre immer wieder Anlass zur Reflexion gab und dem aufgrund seiner ›franziskanischen‹ Bezugsnahmen wohl in der Tat besondere Bedeutung im Hinblick auf die vorgenommene Aufwertung des volgare beizumessen ist (erinnert sei hier nur an die diversen Studien Corrado Bolognas über die Bedeutung der allgemein bei der Entstehung und Verbreitung vernakularer Literatur eingenommenen Rolle des Ordo fratrum minorum). Cristaldi betont die Ausnahmerolle der oratio dominica innerhalb Dantes Poem, insofern als diese nicht nur anzitiert, sondern komplett wiedergegeben werde, was zudem unter durchgängigem Verzicht auf das Lateinische geschehe. In diesem Zusammenhang müsse auf die sprachliche Verfasstheit der lateinischen Bibel verwiesen werden, welche diese selbst als Übersetzung kennzeichne und für die Augustinus bewusst die Kennzeichnung als sermo humilis angeführt habe, um auf den intrinsisch demütigen Charakter der durch sie dem Menschen verkündeten Offenbarung zu verweisen. Die Verwendung des volgare für eine Paraphrase des Pater



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noster an dieser Stelle bedeute, die ›vertikale‹ Bilingualität des Werkes durchbrechend, eine Erhöhung der ›natürlichen‹ Sprachform auf die Bedeutungsebene der Heiligen Schrift. Denn die Paraphrase sei schließlich nicht rein rhetorischer Natur, sondern ziele auf den inhaltlichen Kern des biblischen Textes selbst ab, sodass sie als expositio fungiere. Damit werde dem volgare eine Expressivität zugestanden, welche diejenige vorhergehender volgarizzamenti grundlegend überträfe, da es nunmehr eine den theologischen Diskurs selbst reflektierende Funktion erlange. Mehr noch: Aufgrund seiner situationsbedingten Anwendung fände ein wahrhaftes »adattamento« des Gebet des Herren statt, das sich in der Wiedergabe des »sanctificetur nomen tuum« mit »laudato sia ’l tuo nome«, niederschlage: einem Vers, in dem sich die Polarität des nunmehr allein Gott vorgebrachten Lobes zum irdischen Dasein der die ursprünglichste Verfehlung des Menschen selbst büßenden Seelen ausdrücke. Sei das danteske Padre Nostro somit auch sprachlich als Angelpunkt des Aufstiegs zu Gottvater, als die Reinigung der Seelen grundsätzlich prägendes (und die gesamte cantica durchdringendes) Gegenmittel zur aversio a Deo gekennzeichnet, schließt Cristaldi, so vollende sich dieser Weg in Form der Preghiera alla Vergine mit einem weiteren in volgare gesprochenen Gebet, das bezüglich seiner finalen Ausrichtung auf die Begegnung mit dem Schöpfer hin zwar mit dem Pater übereinstimme, in seiner persönlich-marianischen Hinwendung aber eher das dem Jenseitspilger vorbehaltene mystische Erleben betone. Dass die Preghiera alla Vergine in ihrer Hindeutung auf eine für den Menschen nicht mehr zu erfassende und somit auch sprachlich nicht mehr auszudrückende Realität tatsächlich den Kristallisationspunkt der wechselseitigen Spannung von Rhetorik und Theologie in der Commedia ausdrückt, manifestiert sich dann in Giuseppe Leddas »Invocazioni e preghiere per la poesia nel Paradiso«, der durch seine konzentrierte Herausstellung der mit der Rolle des Gebetes in der Commedia verbundenen poetologischen Funktionen den inhaltlichen Kern des vorliegenden Bandes bildet. Ledda verweist dabei zunächst auf die bereits von Erich Auerbach evidenzierte Entsprechung der vom hl. Bernhard gesprochenen Preghiera zur rhetorischen Strukturierung des klassischen Gebetes in seiner christianisierten Durchführung (Anrufung, Lob, Bitte). Diese werde in ihrer Substanz auch in den insgesamt neun in der Commedia präsenten Invokationen realisiert, also in Gebeten, in welchen der Dichter sich um Hilfe für seine eigene Poesie (und somit letztlich erneut die menschliche Sprache selbst thematisierend) an die Gottheit wende. Dies geschehe in äußerst präziser poetologischer Intention, so kehre Dante etwa in den die zweite und dritte cantica eröffnenden mythologisch ko-

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dierten Anrufungen das jeweils evozierte klassisch-pagane Modell bezüglich des menschlichen Hochmutes um, um seine eigene Identität als demütiger, sich seiner menschlichen Grenzen, welche natürlich insbesondere die Beschreibung des Paradieses beinhalten, bewusster Poet zu konstruieren. Dante bitte gerade in diesem Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit um göttlichen Beistand zur Durchführung der ihm aufgetragenen dichterischen Mission. Diese, den von Ledda in einer umfangreichen Monographie (La guerra della lingua. Ineffabilità, retorica e narrativa nella ›Commedia‹ di Dante, Ravenna, 2002) eigens behandelten, Topos der Unsagbarkeit unmittelbar tangierende Hilfe werde ihm zumindest teilweise dann auch gewährt, ganz so wie Gott in seiner Allmacht sogar Stummen und Säuglingen zu eloquentem Ausdruck verhelfen könne (cfr. Par. XXXIII, 106–108 in Verbindung mit Ps 8, 3 und Weish 10, 21). Schließlich käme ebenfalls die Preghiera alla Vergine selbst, so weiter Ledda, dem Ausdruck einer Invokation um Hilfe zur poetischen Schöpfung gleich. Das gesamte Paradies vereine sich zu dieser Bitte, die wohl nicht nur Dante als Individuum betreffe, sondern genauso die kollektive Dimension seiner heilsbringenden dichterischen Tätigkeit für die Welt beinhalte – auch dieser in den Gebeten der Commedia präsente Nexus tritt also ein weiteres Mal deutlich hervor. Es bedürfe eines weiteren Gebetes des Dichters selbst (Par. XXXIII, 67–75), dem die visio Dei nunmehr möglich geworden sei, um ihm die Vermittlung zumindest eines Funkens der göttlichen Herrlichkeit bei der Vollendung seiner poetischen Mission (ohne, dass er darüber seine menschliche Limitiertheit vergäße) zu ermöglichen, denn Gegenstand der Poesie seien in Par. XXXIII nach der Preghiera alla Vergine nicht mehr die Grenzen des Dante-personaggio, sondern ausschließlich die des Dante-poeta. »L’opera d’arte come preghiera diventa la via per costruire una nuova immagine del mondo, modellata su Maria, e sulle sue orme oltrepassa la condizione finita che è propria degli esseri umani,« konstatiert Mazzotta am Ende des Bandes. Es ist also – und dies belegen die hier gesammelten Beiträge sowohl in ihrer Gesamtheit als auch jeweils für sich genommen – der der Commedia zugrundeliegende poetische Schöpfungsakt selbst, den eine Untersuchung über Funktion und Gestaltung des Gebetes und der Liturgie im sacro poema fokalisiert. Dies gilt in formaler wie in inhalt­ licher Hinsicht, denn die Frage nach der konkreten Umsetzung der religiösen Ausgangformen betrifft sowohl die Problematik der sprachlichen Realisierung von eigentlich lateinischen Textelementen innerhalb eines vernakularen Werkes als auch die der intendierten heilsgeschichtlichen Dimension des Dargestellten und somit des Verhältnisses zwischen Autor und Protagonist. Die vorliegende Analyse der Bezugnahmen auf Gebet



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und Liturgie in der Commedia verdeutlicht und bestätigt den schon von Gianfranco Contini herausgestellten Ursprung dieser zweifachen Erzählschichtung der gleichzeitigen Präsenz von individuellem (historischem, im Literalsinn verstandenem) und kollektivem (spirituell-allegorischem, oder mystisch geschildertem) »Ich« in der biblischen Exegese [cfr. »Dante come personaggio-poeta della Commedia«, in: Varianti ed altra linguistica, Turin 1970, pp. 335–361, 337]. Der Band bietet somit weit mehr als eine Darstellung und Interpretation der verschiedenen dantesken Aneignungen der jeweiligen religiösen Textmodelle: In seiner konsequenten Berücksichtigung der sakralen Dimension der poetischen Repräsentation der Jenseitsreise und ihrer sprachlichen Konstituierung im Hinblick auf die verwendeten liturgischen Vorbilder stellt er in seiner Gesamtheit eine weitere grundlegende Erörterung »della particolare formulazione che assume il personaggio che dice ›io‹ presso un genio dell’estate del medio evo« [Contini, ibidem] dar. Matthias Bürgel, Köln

Elisabeth Winkler, ›Liberty! Freedom! Tyranny is Dead!‹ Die Debatte über die Monarchie und Freiheitsideen im politischen Denken und in der Literatur der englischen Renaissance [Jenaer Studien zur Anglistik und Amerikanistik, 14], Trier, Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2013. 206 S.  Politische ›Freiheit‹ ist ein problematischer verfassungsrechtlicher Begriff, der im Laufe der Geschichte immer wieder definiert worden ist. Insbesondere Krisensituationen fordern bzw. eröffnen neue und jeweils anders definierte Handlungsspielräume für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft, oder sie ziehen deren Einschränkungen nach sich. ›Freiheit‹ umfasst nicht zuletzt ein breites Spektrum räumlicher Dimensionen, die von ganz innen (Mentalität) nach ganz außen (Geographie) reichen: ›von innen‹ stellt sich das dialektische Problem einer Gewichtung von individueller Freiheit gegenüber den Anforderungen eines gesellschaftlichen ›Kollektivs‹ mit seinen politisch-systemischen Regularien, die ihrerseits eine Beschränkung des Freiheitsbegriffs verursachen und zugleich deren ständige Infragestellung provozieren. Stephen Greenblatt fand hierfür bekanntermaßen, im literaturwissenschaftlichen Bezugsrahmen des New Historicism, das Begriffspaar ›containment‹ und ›subversion‹. ›Nach außen‹ impliziert die Verteidigung einer wie auch immer definierten kollektiven Freiheit gegenüber zumeist geographisch lokalisierbaren (militärischen, politischen) Faktoren.

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Um derartige begriffliche ›negotiations‹ bezüglich des Verständnisses von Freiheit und, damit eng verbunden, die Ausübung von Macht geht es in Elisabeth Winklers Dissertation, die sich nach Zusammenstellung ihrer Textauswahl dem Problem der Freiheitsdefinition während der Zeit der Tudor-Herrschaft 1485–1603 zuwendet. Die Autorin widmet sich dem zeitgenössischen politischen und literarischen Schrifttum, das lange im Schatten der Erforschung der republikanischen Literatur des 17. Jahrhunderts stand. Gerade die virulente Königsmord-Debatte aber bedarf der eingehenden Reflexion der Texte schon aus dem 16. Jahrhundert, und diese gehen ihrerseits, wie Winkler zeigt, auf noch ältere Traditionen zurück und beschwören ihrerseits sogar »alte [konstitutionelle] Freiheiten« aus dem Mittelalter (vgl. 4). Winkler nimmt ihren Ausgang bei den juristischen Traktaten von J. Fortescue aus den 1470er Jahren, arbeitet sich zu den politisch motivierten Streitschriften schottischer und französischer Monarchomachen oder Kämpfer gegen die Monarchie vor (hierunter fällt G. Buchanan als eine der zentralen Gestalten) und wirft dann ihren Blick auf die zeitgenössische ›Literatur‹: Hier rücken maßgeblich Dramen wie Th. Nortons Gorboduc und besonders W. Shakespeares Werke in den Vordergrund. Die Epik wird mit Ph. Sidneys Arcadia im Textkorpus berücksichtigt, hätte aber mit einer Lektüre von J. Lylys Euphues in England (1582) ein weiteres, v. a. ›realistisches‹ Gegenkonzept verdient gehabt. Gleichwohl erfasst die Arbeit wesentliche Teile der zeitgenössischen Literatur zum Thema ›Freiheit‹, ohne den Anspruch auf Allgemeinheit oder Vollständigkeit zu erheben (vgl. 7). Generell zieht die Verfasserin über das Verhältnis von politischer Theorie und fiktionaler Transformation folgenden Schluss: »Zwar orientieren sich die fiktionalen Texte in ihrer Auseinandersetzung mit der Widerstandsfrage recht eng am politischen Schrifttum, andere politische Konzepte werden jedoch meist nur so genau wiedergegeben, wie für die fiktionale Welt nötig ist. Besonders der Begriff der Freiheit wird meist nur schlagwortartig in krisenhaften Situationen verwendet« (178). Im Folgenden seien die wichtigsten Ergebnisse der Studie wiedergegeben: So sprechen sich Fortescue und Th. Starkey in ihren Schriften für eine Regierungsform aus, die zwar eindeutig monarchistisch angelegt ist, zugleich aber die Erbfolge kritisch betrachtet und stattdessen entweder eine Wahlmonarchie favorisiert (wobei die Wahlberechtigten sich aus der Adelsschicht rekrutieren) oder zumindest einen Kronrat installiert, der dem Herrscher in wichtigen Fragen und nicht zuletzt als Kontrollorgan zur Seite steht. Ein absolutistisches Königtum soll auf diese Weise vermieden werden. Starkey (in A Dialogue Between Reginald Pole and Thomas Lupset) unterscheidet in seinem Entwurf drei unterschiedliche Formen der



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Freiheit, nämlich »liberty«, »true liberty« und »frank liberty«: »Wenn der König sich dem Gesetz unterwirft und durch Wahlen oder einen Rat kontrolliert werden kann, kann ›wahre Freiheit‹ erlangt werden. ›Frank liberty‹ schließlich kann als Manifestation der ›true liberty‹ angesehen werden.« (35). Die Lektüre von Gorboduc unterstreicht zunächst die Bedeutung des Rates, der jedoch seinerseits durch den König beurteilt wird; die Verfasserin deutet dieses Drama mit seiner wechselseitigen Kontrollfunktion von Krone, Rat und Parlament als Präsentation eines »Idealbild[es] einer Monarchie« (54). Th. Smith (De Republica Anglorum) und W. Harrison (Description of England) wenden sich ihrerseits der Rolle des Parlaments als der höchsten Machtinstanz im Staat zu und setzen somit die Überlegungen der beiden Vorgänger fort. So gesehen, erweisen sich auch die verschiedenen Traktate der Monarchomachen als Fortsetzung und Weiterentwicklung dieser früheren Auffassungen (vgl. 119), insbesondere im Hinblick auf die Ausübung eines Widerstandrechts gegenüber der Krone: »Buchanan greift ebenfalls den Vertragsgedanken [zwischen König und Parlament als adlige Volksvertretung] auf und stellt fest, dass ein Herrscher, der den Pakt mit seinen Untertanen bricht, ein Tyrann sei.« (118). Bezüglich der fiktionalen Werke, die diese Studie erörtert, ist festzuhalten, dass Sidneys Arcadia insbesondere die Idee des Widerstandsrechts aufgreift: »Es lassen sich Indizien dafür finden, dass in der Arcadia insgesamt die eingeschränkte Monarchie befürwortet wird.« (156). Zugleich schränkt die Autorin unter Verweis auf die Ambiguität des Textes ein: »Sidney hat sich offenbar dazu entschlossen, verschiedene politische Fragestellungen zu diskutieren, ohne dabei zwangsläufig eine eindeutige Position zu beziehen. In der Arcadia macht er vielmehr Gebrauch von den Möglichkeiten und der Freiheit der Literatur […]« (156, Hervorhebung JM). In Shakespeares Werken lässt sich an den Figuren Richards II und Heinrichs VI die Warnung vor einer schwachen Monarchie aufzeigen, die sich maßgeblich auf die Gottesgnade beruft und sich weder durch herrschaftliche Kompetenz noch durch konziliarische oder parlamentarische Kontrollmechanismen legitimiert. Beide Lancaster-Historien werden somit zum Zeugnis eines Entwurfs von säkularisierter Herrschaftsordnung (vgl. 83), jedoch warnt Shakespeare in 2 Henry VI gleichermaßen »vor der ungezügelten Freiheit der Volksmenge« und vor der »ungezügelten Freiheit einer Herrscherfigur« (100) – Themen, die ihrerseits in Julius Caesar durch den Verweis auf die »Mobgewalt nach Antonys Rede« (135) aufgenommen und weitergeführt werden. Ebenso wie Hamlet greift diese Römerhistorie Diskussionselemente der Monarchomachen auf und thematisiert neben der Frage nach der grundsätzlichen Berechtigung einer Auflehnung gegen den jeweiligen Herrscher (gegen Caesar bzw. Claudius) auch

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die klare Absage an volksherrschaftliche Formen des Staatswesen, wie sie in Hamlet durch die verbal rasch unterdrückte Laertes-Rebellion gegen einen zynischen Claudius dargelegt wird. Bei aller Würdigung der reichen Erkenntnisse dieser Studie müssen zwei vernachlässigte Aspekte angesprochen werden, die für die Literatur des 16. Jahrhunderts von prägender Bedeutung sind: Nicht problematisiert wird die Tatsache, dass doch alle Dialoge und Traktate fiktionale Elemente enthalten, ebenso wie die fiktionalen Welten der Epik und Dramatik politische Aspekte darlegen. Hier hätten Beobachtungen zur noch nicht vorhandenen Trennung von juristischer und literarischer Fiktionalität interessante Ergebnisse gezeitigt. Die Arbeit diskutiert nur marginal die Rezeption und Auseinandersetzung mit N. Machiavelli – hier wäre zumindest ein Vermerk angebracht gewesen, warum diese seinerzeit einflussreiche governance-Theorie jenseits der Fußnoten oder jenseits von Figurenzuordnungen als »machiavellistisch« keinen prominenten Stellenwert in dieser ansonsten komplexen wie informativen Studie erhielt. Jürgen Meyer, Halle-Wittenberg Frank Greiner (dir.), Fictions narratives en prose de l’âge baroque. Répertoire analytique (1611–1623) [Lire le XVIIe siècle 27. Série Romans, contes et nouvelles 7], Paris, Garnier, 2014, 1403 S., 29 ill. Frank Greiner setzt hier das von ihm herausgegebene und betreute analytische Verzeichnis von narrativer Prosa fort, dessen erster, damals noch beim Verlag Champion in der Bibliothèque de la Renaissance, 2005 erschienener Band die Jahre 1585–1610 erfasst hatte. Die hier anzuzeigende Fortsetzung umfasst die Jahre 1611–1623. Eine Rechtfertigung für die Beschränkung auf zwölf Jahre liefert die beeindruckende Fülle von Informationen, die schier den Rahmen eines Buches sprengt. Da viele Epen Prosaübersetzungen erhalten, trifft man auf Homers Ilias mit dem Titel L’Iliade d’Homere Prince des Poetes Grecs avec la suite d’icelle, Ensemble le Ravissement d’Helene (1614) von François Du Souhait (729–736) und auf seine Odysee unter dem Titel L’Odisée d’Homere (1617) von Claude Boitel oder Boitet (837–846). Ariostos Orlando furioso hat François de Rosset (1641) als Le Divin Arioste ou Roland le Furieux (441–451) ebenso wie Boiardos Rolando innamourato (919–926) übersetzt. Daneben findet man selbstverständlich von Cervantes die Novellas ejemplares (1614), den Don Quijote (1614, 1618) und Los trabajos de Persiles y Sigismunda (1618). Borja Mozo Martín und José Manuel Losada Goya machen in ihrer Studie (1103–1124) »Traductions et adaptations des œuvres espagnoles dans les



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romans français (1611–1623)« auf die Adaptation einer Episode aus dem Quijote in Vital d’Audiguiers Histoire tragi-comique de notre temps, sous les noms de Lysandre et de Caliste (1616) aufmerksam, die über verschiedene andere Übersetzungen von Episoden des Quijote, darunter eine zweisprachige Ausgabe, für den Übersetzer César Oudin »une sorte de préparation à son œuvre majeure : la traduction du roman de Cervantès« (1107) bildete. Die in diesem Band ins Auge gefasste Periode markieren die beiden Übersetzungen von Montemayors Los siete libros de la Diana (1611) von Jean D. Bertranet und Simon Goerges Pavillon sowie 1623 von Antoine Vitray, die beide nacheinander von Frank Greiner (385–405) besprochen werden. Das Jahr 1611 bietet mit Jean Baudoins Übersetzung von Della metamorfosi cioè trasformazione del virtuoso libri quatro (1582) von Lorenzo Selva ein Paradebeispiel für die nicht zu überschätzende Bedeutung dieses Repertoriums. Die deutsche Italianistik und die italienischen Spezialisten für den Barock meinen heutzutage, diesen Roman ignorieren zu können, weil er nicht in gängige Parameter der Forschung passt. Ist er deshalb unbedeutend? Doch wohl nicht, denn immerhin wurde er in Italien 1583, 1591, 1608, 1615, 1616 und 1818 nachgedruckt. Sicherlich entsprach er einem literarischen Muster, das an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert geläufiger als heute war. Die Übersetzung von Baudoin ist nochmals unter dem Titel Les Amours et visions du berger Aristée, où sous le nom d’Acrise et de Cloris sont comprises les transformations de la vraye vertu, pour subjuguer la fortune erschienen. Diesen Roman durch die französische Übersetzung kennenzulernen, scheint mir deshalb wichtig zu sein, weil einem damit die Andersartigkeit der literarischen Welt des 17. Jahrhunderts bewusst wird. Selva wurde zum Opfer des ungerechtfertigten Desinteresses am italienischen Roman der frühen Neuzeit, vielleicht auch an den vielen damals erschienenen religiösen Werken. Wer geistliche Literatur für obsolet hält, müsste aber zumindest eine Erklärung dafür liefern, dass Selva in Les Amours et visions du berger Aristée zutiefst vom intertextuellen Bezug zum Goldenen Esel von Apuleius zehrt, wie man ihn heute kaum einem religiösen Text zutrauen würde, es sei denn man behauptet, dass diese Intertextualität von der Heterodoxie des Autors zeuge. Haben solche Übersetzungen keine Bedeutung für die französische Literatur? Vito Castiglione Minischetti schließt seinen Beitrag »La fiction narrative italienne en prose de l’âge baroque. Les traductions françaises« (1125–1137) mit der Feststellung: »La pratique de la traduction du roman baroque italien ne semble pas avoir influencé le roman français« (1137), weil »[l]e choix des textes à traduire semble être dicté non pas tant par des considérations littéraires que par la demande du marché« (1137). Es fragt

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sich nur, wie es auf dem damaligen Büchermarkt möglich ist, dass italienische Werke vielfach noch im selben Jahr in französischer Übersetzung veröffentlicht werden. Es muss doch ein reges Interesse bestanden haben, das man als Bestandteil der damaligen literarischen Lebens ansehen und in die Überlegungen einbeziehen muss, wie immer die literarische Szene jener Epoche ausgesehen haben mag. Mir scheint diese Frage wichtiger als die Beurteilung nach irgendwelchen aktuellen Kriterien zu sein. Frank Greiner, der diesen Roman sehr informativ vorstellt (768–775), interessiert sich für ihn, weil er ihn für ein Vorbild einer Episode in d’Urfés Astrée hält, die eine Forschergruppe unter der Leitung von Delphine Denis derzeit neu kritisch ediert. Dabei wird von diesen Herausgebern das ganze literarische Feld, auf das sich Honoré d’Urfé bezieht, in die Analyse einbezogen, so dass das verdienstvolle Forschungsprojekt von Frank Greiner eine unersetzliche Voraussetzung für die Erschließung der bisher wenig erforschten intertextuellen Bezüge dieses Schlüsselwerk der französischen Literatur des 17. Jahrhunderts liefert. Greiners Schriftenreihe Mémoire des Lettres macht einen Teil der hier erfassten Texte neu zugänglich, etwa Le Silène Insensé von Hélie de Coignée de Bourron (981– 983). Diesen Roman hat Stéphane Macé 2011 dort in kritischer Edition herausgebracht. Man entdeckt in diesem wie in vielen andren Fällen Fundstücke, die der Ausrichtung auf irgendwelche Theorien zum Opfer gefallen sind, aber für eine angemessene literarhistorische Analyse unerlässlich sind. Die 38 Mitarbeiter dieses Verzeichnisses leisten vorbildliche Arbeit, denn sie vermitteln in den einzelnen Einträgen detaillierte Inhaltsangaben des jeweiligen Werks, die einen genauen Nachvollzug des ganzen Handlungsablaufs und eine rasche Orientierung über einzelne Episoden einschließlich der jeweiligen Seitenangabe im konsultierten Exemplar ermöglichen. Die Bearbeiter jedes Werkes legen Rechenschaft über dessen Vorkommen in französischen Bibliotheken ab und liefern überdies Hinweise auf Forschungsliteratur. Der deutsche Leser freut sich, dass besonders Anne-Élisabeth Spica, manchmal auch Frank Greiner, deutsche Forschungen berücksichtigt. Vielleicht sollten sich die Forschergruppe jedoch nochmals Gedanken darüber machen, welche Bibliotheken in ihrem Repertorium zu berücksichtigen sind. Beim Verzeichnis der vorhandenen Exemplare werden die deutschen Bibliotheksbestände unsystematisch ausgewertet, obwohl viele Informationen über den Karlsruher Virtuellen Katalog rasch zu gewinnen wären. Man wagt kaum auf das Zentrale Verzeichnis digitalisierter Drucke hinzuweisen, das hier völlig unberücksichtigt bleibt, aber vielleicht angesichts der von Google erfassten, umfangreicheren Bestände auch nicht unbedingt erwähnt werden muss. Wahrscheinlich lehnt sich das



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vorliegende Projekt einfach an die Kataloge der Französischen Nationalbibliothek an, deren Beschränkung auf Frankreich völlig einzusehen ist. Für die materielle Verbreitung uns heute unbekannter Werke ist es jedoch nicht unerheblich, dass z. B. die Bayerische Staatsbibliothek München ein Exemplar von Nicolas Piloust, Le Cercueil des Amans (1611) besitzt, das Frank Greiner (303) ebenso wenig verzeichnet wie das Exemplar der Universitätsbibliothek Erfurt / Gotha von Les Amoureuses Adventures de Mélysanthe et de Cléonice von Trophime Jacquin in der Auflage von 1620 (158). Eine andere diesbezügliche Problematik ergibt sich beim Artikel von Véronique Duché über Élise ou l’innocence coupable (1621) von JeanPierre Camus. Nur die Bayerische Staatsbibliothek besitzt in Deutschland die französische Originalausgabe von 1621 und die italienische Übersetzung von 1630, die Duché (463) verzeichnet. Doch ist ihr eine englische Übersetzung, die 1655 in London erschienen ist, entgangen, die in Deutschland offenbar weit verbreitet war. Mein Einwand sollte die Forschergruppe anregen, ihre diesbezüglichen Parameter zu überdenken, doch möchte ich damit keinesfalls die Qualität des ganzen Unternehmens anzweifeln. Das Repertorium ist eine wahre Fundgrube für Informationen. Der Recueil général des caquets de l’accouchée (1623) zeichnet sich durch »la peinture des mœurs […] racontant les affaires privés comme publiques de Paris sous Louis XIII« (905) aus, über deren Einzelheiten man sich hier rasch informieren kann. Der Thrésor d’histoires admirables von Simon Goulart, dessen dritter und vierter Band Romain Weber (1034–1041) vorstellt, ist auch in der Enzyklopädie des Märchens verzeichnet, doch wird hier jeder einzelne Eintrag dieser Enzyklopädie aufgelistet. Die Stichworte sind in alphabetischer Reihenfolge der Titel verzeichnet (25–1099). Danach werden die behandelten Werke nach Autoren (1157– 1164) und chronologisch (1165–1172) aufgelistet. Die illustrierten Werke (1173–1196), die nicht aufgefundenen oder behandelten Werke (1197–1206) sowie die »Canards«, Broschüren mit allen möglichen Meldungen (1207– 1228) und Illustrationen (1229–1260) werden gesondert registriert. Aufschlussreich ist die Dokumentation von Titelblättern der »littérature facétieuses« und Romane sowie von Illustrationszyklen. Diese Abbildungen sind gut gewählt. Wie im vorausgehenden Band behandelt Jean-Marc Chatellain die »Illustration de la fiction narrative en prose en France (1611–1623)« und vermag dabei auf engem Raum (1138–1156) Grundlegendes zur Herausbildung der Buchillustration in jenen Jahren zu sagen. Ein Verzeichnis der Namen (1287–1358), der Titel (1359–1368) und der Themen (1369–1399) erleichtert jeweils das gezielte Suchen nach bestimmten Informationen.

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Dieses Repertorium ist sehr hilfreich. Seine lesenswerten Artikel erschließen vieles neu und leisten künftigen Forschern unersetzliche Hilfestellung. Volker Kapp, Kiel Fabrice Preyat, Jean-Philippe Huys (dir.), Marie-Adélaïde de Savoie (1685–1712). Duchesse de Bourgogne, enfant terrible de Versailles [Études sur le XVIIIe siècle 41]. Brüssel, Éditions de l’Université de Bruxelles, 2014, 292 S, zahlreiche Abb. Die Frau, die im Zentrum dieser thematischen Nummer der Zeitschrift Études sur le XVIIIe siècle steht, ist ebenso bemerkenswert wie die Umstände ihres Lebens. Ihr Vater hat sie 1696 in Zusammenhang mit dem Pfälzischen Erbfolgekrieg sozusagen als Geisel nach Frankreich schicken wollen, wo sie zur früh verstorbenen Gemahlin des ebenfalls ganz jung verstorbenen duc de Bourgogne und eine von Frankreich an Savoyen nicht gezahlte Geldsumme ihre einzige Mitgift wurde. Ihre jüngere Schwester kam wenige Jahre später unter vergleichbaren Bedingungen im Rahmen eines politischen deals des Sonnenkönigs nach Madrid, wo sie als Frau des Bruders des duc de Bourgogne sofort Königin war, während Marie-Adélaïdes Ehemann erst später zum Thronprätendenten aufstieg. Der Sonnenkönig, der an Madame de Maintenon nach der ersten Begegnung schrieb: »[…] je la trouve à souhait, et serois fâché qu’elle fût plus belle« (zit. 8), war ihr sofort sehr gewogen und ließ es später zu, dass sie ihrer Freude am Tanzen und an Festen nachgab, womit sie das gesellschaftlich etwas farblos gewordene Versailles mit neuem Leben erfüllte. Zunächst wurde sie durch Madame de Maintenon vom Hof ferngehalten und in Saint-Cyr unter falschem Namen erzogen. Seit der vierbändigen Studie (1899–1908) von comte d’Haussonville, dessen Fehlurteil über die Kindheit in Turin Andrea Merlotti (»La courte enfance de la duchesse de Bourgogne (1685–1696)«, 29–46) mit vorzüglichen Materialien bzw. ausgewogenem Urteil korrigiert, hat die Forschung diese spannende politische Konstellation und die in sie hineingezogene Prinzessin nicht mehr eingehender studiert und damit die Chance verpasst, einem wesentlichen Moment der französischen Literatur- und Kulturgeschichte an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert die verdiente Aufmerksamkeit zuzuwenden. Olivier Chaline eröffnet die Reihe der Artikel mit einer ausgewogenen Gegenüberstellung der beiden Schwestern aus Savoyen (»Deux enfants terribles ? Les sœurs Marie-Adélaïde et Marie-Louise de Savoie, duchesse de Bourgogne et reine d’Espagne«, 15–28). Man übersieht häufig, dass



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Marie-Adélaïde, obwohl sie noch ein Kind und somit nicht heiratsfähig war, sofort »la première femme dans le cérémonial de la cour de France« (20) wurde. Der jeweils dritte Sohn beider Schwestern bestieg später den Königsthron. Chaline charakterisiert die Persönlichkeit der beiden Prinzessinnen auf dem Hintergrund der damaligen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse so, dass ein plastisches Bild von den Aufgaben und Wirkungsmöglichkeiten solch hochgestellter Frauen innerhalb der damaligen Mentalität und der politischen Strukturen entsteht. Als Marie-Adélaïde nach Versailles kam, wurde sie zur Konkurrentin von Louise-Bénédicte de Bourbon-Condé (1676–1753), die damals seit vier Jahren mit dem duc du Maine, einem inzwischen legitimierten Sohn aus der außerehelichen Verbindung des Sonnenkönigs mit Madame de Montespan, verheiratet war. Ihr hat Fabrice Preyat 2002 in derselben Zeitschrift eine monographische Nummer gewidmet. Catherine Cessac (»La duchesse du Maine et la duchesse de Bourgogne : d’une cour à l’autre«, 127–137) skizziert den Wettstreit der beiden Prinzessinnen auf gesellschaftlichem und kulturellem Terrain. Die duchesse de Bourgogne »reste dans les limites des divertissements de cour« (136), während die duchesse de Maine zwar bei politischen Intrigen scheitert und eher randständig, dafür aber freier und als Mäzenin angesehener ist. Diese Tatsache spricht jedoch keineswegs gegen den Rang Marie-Adelaïdes, die teilweise dieselben Persönlichkeiten engagiert bzw. gefördert, aber angesichts ihres frühen Todes nur wenige Jahre der Wirksamkeit zur Verfügung hatte. Insgesamt hängt die Bewertung dieses Mäzenatentums von der Einschätzung bestimmter literarischer Genera bzw. des Theaters und der Festkultur innerhalb des literarischen Kanons ab. Es steht jedoch außer Zweifel, dass hier viele wichtige Aspekte thematisiert werden. Man findet in diesem Band Erstaunliches. Fabrice Preyat und David Aguilar San Feliz reproduzieren und edieren zwei Briefe von Ludwig XIV (47–54). Jean-Philippe Huys (»Bruxelloise, la première impression autorisée et complète du Télémaque de Fénelon ?«, 87–92) bezweifelt Jacques Le Bruns These, dass die wohl Ende des Sommers 1699 in Brüssel bei François Foppens erschienene Edition des Télémaque in zwei Bänden von der von Valencienne abhängt (wobei er irrtümlicherweise Le Bruns Artikel auf das Jahr 2009 statt auf 2010 datiert (90)), und meint, diese sei »manifestement la première à avoir autorisée du vivant de l’auteur et complète de toutes ses parties« (ibid.) gewesen. So sensationell und verdienstvoll die Aufwertung dieser bisher unterschätzten vollständigen Ausgabe ist, übersieht doch Huys, der überdies noch eine gut dokumentierte ikonographische Studie beisteuert (»Marie-Adélaïde de Savoie d’après nature, allégorique ou mythologique. Note sur l’iconographie de la duchesse de Bour-

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gogne à la cour de France«, 251–264), dass einerseits seine These mit Le Bruns anderweitig vorgetragener Meinung übereinstimmt, der Erzbischof von Cambray habe selbst, entgegen seiner gegenteiligen Versicherungen, den Druck des Télémaque lanciert, um angesichts der Verurteilung seiner Maximes des saints durch Rom wieder in der öffentlichen Meinung Ansehen zu gewinnen. Andererseits steht die Argumentation von Huys auf einer dünnen Beweisbasis, da Fénelons nachweisbarer Aufenthalt von 1699 in den Spanischen Niederlanden und in Brüssel für sich allein kein hinreichendes Zeugnis für dessen persönliche Verbindung zum Verleger von Brüssel ist. Somit bleibt die Herkunft des dieser »Nouvelle Edition, divisée en dix Livres« zugrunde liegenden Manuskripts weiterhin im Dunkel. Fénelons pädagogische Werke spielen zusammen mit Vorstellungen von Claude Fleury und Bossuet eine eminente Rolle in der von Madame de Maintenon kontrollierten Erziehung der nach Frankreich geholten Prinzessin (vgl. 76), bei der überhaupt erst noch bestimmte geistige Interessen geweckt werden mussten, damit sie zu der Persönlichkeit aufstieg, deren Bedeutung in diesem Band gewürdigt wird. Fabrice Preyat vervollständigt Andrea Merlottis Skizze der Kindheit von Marie-Adélaïde durch eine Analyse der Prinzipien ihrer Erziehung in Frankreich (»L’Histoire à Madame la duchesse de Bourgogne. Préceptorats princiers et politique à la cour de Versailles«, 55–86). Dabei geht er von der Broschüre L’Histoire à Madame la duchesse de Bourgogne (1697) des von ihm schon in mehreren Studien behandelten abbé Charles-Claude Genest aus, um mit seiner präzisen Kenntnis der praktizierten Prinzenerziehung deren Grundlagen einschließlich der überlieferten Ikonographie darzulegen. L’Histoire ist ein didaktisches, auf die Person der Schülerin ausgerichtetes Werk. Die Prinzessin spielt bei der Aufführung eines biblischen Dramas von Racine in Saint-Cyr mit, in dessen Fortsetzung andere Stücke geschrieben werden, womit wir bei einer Episode der Geschichte des französischen Theaters im 17. Jahrhundert (59–61) sind, die in gängigen Literaturgeschichten übergangen wird. L’Histoire und Genests übrige allgemeinverständliche Geschichtswerke, seine Histoires de piété et de morale, tirées de l’Écriture sainte et des Auteurs profanes (1711) und Histoire de piété et de morale (1718) ordnet Preyat (74–82) in den Literaturbegriff und das Erziehungskonzept der Zeit ein. Er hat in der Pariser Bibliothèque Sainte-Geneviève Exemplare des letzteren Werks entdeckt, deren Einband auf Madame de Maintenon und Saint-Cyr verweisen. Eine Vorbemerkung des Verfassers nennt die Adressaten: »Le premier [volume] avait été fait pour un jeune Prince, et le second pour une jeune Princesse qu’un heureux mariage avait unis, et que la mort a séparé sur la terre pour les réunir dans le ciel« (zit. 78). Die Fokussierung der pädagogischen Aufmerksamkeit auf die Ge-



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schichte schreibt sich ein in »la condamnation de la nouvelle galante par la subversion d’un discours féminin qui, à travers la fiction, renversait les valeurs défendues par l’ordre masculin du pouvoir« (83). In diesem Kontext erscheint die Mode der Märchen in einem neuen Licht. Raymonde Robert (»La duchesse de Bourgogne en féerie. Les contes de fées et le pouvoir au XVIIe siècle«, 93–106) und Manuel Couvreur (»Chercher les femmes… La duchesse de Bourgogne, la marquise d’O et le traduction des Mille et une nuit par Antoine Galland«, 107–126) beleuchten die Bedeutung der Herzogin von Burgund für die damalige Begeisterung für Märchen. Robert zeigt anhand von drei Märchen, wie, anders als in der politischen Realität, »le mariage avec la fille du tumultueux VictorAmadée II de Savoie comme la cause première de la paix retrouvée« (98) erscheint. Madame de Murat, Mademoiselle de la Force und Madame d’Auneuil schlachten das ungewöhnliche Schicksal der Prinzessin, ihre Hochzeit und die Gunst des Sonnenkönigs zu einer spezifisch weiblichen Panegyrik aus, die Robert dem heutigen Leser verständlich zu machen weiß. Galland widmet seine Übersetzung von Mille et une nuit der Marquise d’O als »dame du palais de la duchesse de Bourgogne« (115), um vermutlich die Gunst der letzteren zu gewinnen, deren Interesse für Märchen bekannt war. Dem Tagebuch des Übersetzers ist zu entnehmen, dass er ein Exemplar für die Marquise, ein zweites für die Herzogin mit deren Wappen binden ließ (vgl. 117). So verwundert es nicht, dass sich bei ihm die weiblichen Besonderheiten mit »[l]es qualités spécifiques requises d’une princesse« (120) ergänzen. Galland interpoliert dazu in Le conte de Nouredin et de la belle Persienne Passagen, die im Original fehlen, um das Porträt einer idealen Gattin zu umreißen. Er schaltet sich damit in die damaligen Diskussionen über die Aufwertung der Frau in der Gesellschaft ein. Selbst die Menagerie von Versailles gehört in diesen Kontext. Die kleine Marie-Adélaïde bekommt sie zunächst von Ludwig XIV. als Geschenk und besteht später auf dem Einhalten dieses Versprechens, um dort u. a. Butter herstellen zu können, die dem Sonnenkönig zum Essen serviert wird. Joan Pieragnoli (»La duchesse de Bourgogne et la Ménagerie de Versailles«, 139–164) korrigiert landläufige Fehlinformationen zur Baugeschichte dieses Teils des Schlosses von Versailles (149–152) und überrascht mit einem Schreiben, in dem der Sonnenkönig für die Wandgemälde fordert, dass »[…] il faut qu’il y ait de la jeunesse meslée dans tout ce qu’on fera« (zit. 156), weswegen Hardouin-Mansart in Anlehnung an die Eclogæ piscatoriæ von Jacopo Sannazaro »la pêche« (157) mit Anspielung auf den Zeitvertreib der Prinzessinnen als Bildthema auswählt. Die Festkultur wird in vier Beiträgen thematisiert, wobei Pauline Ferirer (»La duchesse de Bourgogne et les épouses des ministres du roi dans

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le système de cour. Fêtes, honneurs et distinctions«, 163–174) gleichsam mit der Wahl der die junge Prinzessin betreuenden Damen den Rahmen umreißt, in den sich das ganze Programm solcher Festlichkeiten einschreibt. Don Faber (»La duchesse de Bourgogne, le mécénat des Noailles et les arts dramatiques à la cour autour de 1700«, 175–190) geht vom »désaccord« (170) über den moralischen Status der Vergnügungen zwischen dem Sonnenkönig und Madame de Maintenon aus, um das Mäzenatentum bzw. den bisher von der Forschung übersehenen Einfluss von Anne-Jules und Adrien Maurice de Noailles auf das damalige kulturelle Leben aufzuzeigen. Neben dem bereits erwähnten Genest profitieren von ihnen Jean-Baptiste Rousseau, Augustin Brueys und Joseph-François Duché de Vancy, der für sie Stücke und Fest-Libretti, aber auch drei OpernLibretti schrieb, obwohl Madame de Maintenon die Oper aus moralischen Gründen ablehnte (vgl. 185). Marie-Adélaïde ging bis zum Tod ihres Schwiegervaters 1711 regelmäßig in die Oper, besaß eine Bibliothek mit Noten von ihr teilweise gewidmeten Werken und förderte Jean-Baptiste de Bousset und André Campra, der ihr seine Oper Idoménée widmete (JeanPhilippe Goujon, »Marie-Adélaïde de Savoie, duchesse de Bourgogne puis dauphine de France : une princesse musicienne et mécène à la cour de Louis XIV«, 191–209). Zwei Höhepunkte im kurzen Leben der Herzogin finden ein lebhaftes Echos in der Literatur: die lange Festfolge des Karnevals von 1700 (Thomas Vernet, » ›Que Mme la duchesse de Bourgogne fasse sa volonté depuis le matin jusqu’au soir‹. La duchesse de Bourgogne et les divertissements du carnaval de 1700«, 215–232) und die prachtvolle Hochzeitszeremonie (Alexandre De Cram, » ›Conduire Adélaïde au pied de nos Autels‹. Marie-Adélaïde de Savoie et les œuvres pastorales d’Antoine Houdar de La Motte«, 233–250). Den jähen Tod des duc, dann der duchesse de Bourgogne empfindet der Sonnenkönig als eine Art Staatskrise, weswegen die Leichenreden auf sie von Éric van der Schueren (»Les palingénésies de la tristesse (de Bossuet à l’abbé Du Jarry). Éloges funèbres de Louis de France et de Marie-Adélaïde de Savoie«, 251–264) mit Recht im Kontext der Reden auf Henriette d’Angleterre, den Vater des Herzogs und auf den Sonnenkönig studiert werden. Fabrice Preyat hat hochqualifizierte Spezialisten für diese monographische Nummer gewonnen. Alle Beiträge ergänzen sich nicht nur bestens, sondern vermitteln darüber hinaus so tiefe Einblicke in eine politische, gesellschaftliche und kulturelle Situation, dass deren Besonderheiten überdies ein besseres Verstehen der Mentalität der Epoche Ludwigs XIV. ermöglichen. Volker Kapp, Kiel



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Katharina Rennhak, Narratives Cross-Gendering und die Konstruktion männlicher Identitäten in Romanen von Frauen um 1800 [Studien zur Englischen Romantik 13], Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2013. 387 S. Die von der Wuppertaler Anglistin Katharina Rennhak vorgelegte Untersuchung ausgewählter, mitunter wenig beachteter Romane von Frauen um 1800 verspricht der an Genderkonzepten interessierten Leserschaft neue Einsichten in die narrative Konstruktion männlicher Identitäten. Mit ihrer an der LMU München entstandenen Habilitationsschrift konzentriert sich die Verfasserin auf ein Textkorpus, das sich durch das Merkmal des cross-gendering auszeichnet: So interessiert sie sich für das Verhältnis von Autorin und männlichem Selbsterzähler, das sie als konstitutives Charakteristikum der von ihr untersuchten Romane erachtet. In diesem Sinne verbindet sie Fragen nach der Modellierung männlicher Identitäten mit der Analyse narrativer Strukturen. Das Durchspielen diverser Lebensentwürfe erschöpft sich dabei, so ihre zentrale These, keinesfalls in einer bloßen Wiederholung existenter Männlichkeitskonzepte. Vielmehr problematisieren die beleuchteten Texte gängige maskuline Identitäten oder entwerfen gänzlich alternative. Die in zwei Teile gegliederte Arbeit bietet zunächst einen Überblick über historische Kontexte sowie eine eingehende Diskussion der für die folgende Textarbeit dienlichen theoretischen Modelle. In diesem Zusammenhang setzt sich die Verfasserin zum einen mit einschlägigen Studien der Gender und Masculinity Studies auseinander, um sich an solche Untersuchungen anzulehnen, die den Konstruktcharakter und damit die Offenheit und Dynamik jeglicher Genderkonzepte − insbesondere jener des 18. Jahrhunderts als Phase eines auf diesem Feld tiefgreifenden Wandels − betonen. Zum anderen eröffnet sie im Anschluss an Judith Butler und Paul Ricœur das Spannungsfeld aus dem für ihre Studie zentralen Identitätsbegriff: Ein Selbst versteht sie dabei als Resultat performativer und narrativer Akte. Im Falle des für sie interessanten Phänomens des crossgendering heißt dies, dass männliche Erzähler ihr jeweiliges Selbst im unabschließbaren Prozess der Narration entfalten, das auch im Streben nach Stabilität letztlich stets instabil bleibt. Die in diesem ersten Teil der Arbeit stringent entwickelten analytischen Parameter werden nicht nur im textvergleichenden Resümee aufgegriffen, sondern bieten auch eine Perspektive auf die textnahen Lektüren, die sich für eine historische Dimensionierung als hinlänglich offen erweist. Im zweiten Teil der Studie, ihrem Kernstück, löst Katharina Rennhak ihr zu Beginn postuliertes Versprechen ein, indem sie sich dem »Phäno-

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men des women writing men, [der] Konstruktion von Männlichkeit in Romanen von Frauen« (4) in zehn textnahen, durchweg kontextualisierenden Lektüren widmet. Die chronologische Anordnung ihrer Untersuchungen folgt dabei einem weiteren wohl komponierten Muster: Die beiden Rahmenkapitel präsentieren je zwei Lektüren von Romanen, die keine alternativen Männlichkeitsentwürfe bereithalten, und die auf diese Weise eine eindrucksvolle Profilierung innerhalb der untersuchten Textsammlung ermöglichen. So legt die Verfasserin im Auftaktkapitel überzeugend dar, wie sowohl Eliza Fenwicks Secresy als auch Catherine Laras Louis de Boncœur verfügbare stock characters, wie den eitlen man of fashion, einen genusssüchtigen und gewieften rake oder aber übertrieben empfindsame und dabei realitätsferne männliche Figuren zur Schau stellen, deren von der Norm des polite gentleman abweichendes Verhalten letztlich destruktive Auswirkungen zeitigt. Ebenfalls erhellend sind die abschließenden Lektüren von Mary Shelleys Frankenstein und The Last Man, die laut Verfasserin den »Teufelskreis einer sich immer wieder selbst befruchtenden, monologhaft konstruierten, dekonstruktivistischen Männlichkeit« (295) entfalten. Vor diesen Negativfolien zeigt Katharina Rennhak in den beiden Binnenkapiteln mit je drei Lektüren sinnfällig auf, wie alternative männliche Identitäten innerhalb des häuslichen Rahmens sowie über die private Sphäre hinaus konstruiert werden. Nimmt sie zunächst mit Charlotte Smiths Desmond, Anne Plumptres Something New und Hannah Mores Cœlebs in Search of a Wife solche Romane in den Blick, die sowohl im dialogischen als auch im monologischen Modus Nobilitierungsprozesse männlicher Figuren schrittweise vorführen oder aber einen bereits idealisierten Helden zu Stabilisierungszwecken präsentieren, so verdeutlicht sie überdies, wie in Mary Robinsons Walsingham, in Sydney Owensons The Wild Irish Girl und in Maria Edgeworths Ennui der auf die Entwicklung eines tugendhaften Ideals ausgerichtete Romanzenplot klar erweitert wird. Denn hier verbindet sich, so die Verfasserin, die vorgeführte Liebesleidenschaft mit sozialen und nationalen Aspirationen, die Fragen der Macht nicht nur im häuslichen, sondern auch im öffentlichen Raum virulent werden lassen. Mit ihrem Schwerpunkt, den die Studie auf die Konstruktionsprozesse von Männlichkeit(en) in Romanen von Frauen um 1800 legt, leistet sie zweifellos einen bedeutsamen Beitrag innerhalb der Gender und Masculinity Studies. So verdeutlicht die Anordnung der Lektüren, inwiefern nicht nur Stereotype iteriert, sondern wie innovative Männlichkeitskonzepte entworfen werden. In diesem Zusammenhang überzeugen insbesondere nicht nur die differenzierten und flüssigen Untersuchungen bislang ver-



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nachlässigter Texte (wie z. B. die Romane von Catherine Lara und Anne Plumptre), sondern auch und vor allem die eingehende Betrachtung des von der neueren Forschung wiederentdeckten The Wild Irish Girl. So zeichnet sich gerade Sydney Owensons national tale durch die für Katharina Rennhak interessante Variante des cross-gendering aus, werden doch hier der Stimme des männlichen Erzählprotagonisten die Ausführungen der weiblichen Schriftstellerfigur an die Seite gestellt. Das sich hieraus entwickelnde Zwischenspiel ist wiederum konstitutiv für die Entfaltung alternativer Geschlechterkonzepte, die nicht nur einen Ausgleich der Machtbeziehungen auf Gender-Ebene implizieren, sondern im Sinne einer allegorischen Lektüre (die das Gesagte einerseits und das darüber hinaus Gemeinte andererseits gleichermaßen berücksichtigt) auch eine interkulturelle Annäherung zwischen England und Irland durchscheinen lassen. Indem die Verfasserin zeigt, wie an die Stelle binärer Oppositionen ein Denken in Möglichkeiten tritt, gelingt ihr hier eine genuine Erweiterung bisheriger Lektüren, die die national tale allzu schematisch auf Figurallegorien reduzieren. Verlässt man den Radius der von Katharina Rennhak untersuchten Texte, so hält die Studie weitere erhellende Einsichten bereit. Mit Blick auf Samuel Richardsons Clarissa verdeutlicht die Verfasserin so, wie die Romane von Frauen um 1800 mit diesem Intertext − der sich durch das komplementäre Phänomen des cross-gendering auszeichnet − kreativ umgehen, indem sie Männlichkeit auf andere Weise semantisieren (vgl. 87–89). Nicht zuletzt verweist die Verfasserin zu Beginn ihrer Studie auf einen anderen Anknüpfungspunkt (vgl. 8), der eine zeitliche wie qualitative Verschiebung der von ihr eingegrenzten Thematik beinhaltet, und der in dieser Hinsicht eine weitere Profilierung andeutet (wenn auch nicht einlöst): So kann im Anschluss an die Lektüre von Katharina Rennhaks Studie die Frage danach gestellt werden, wie sich die hier untersuchten Romane zu anderen, von Frauen verfassten Erzähltexten verhalten, die sich nicht durch das Merkmal des cross-gendering auszeichnen. Es ist beispielsweise durchaus denkbar, dass das Verhältnis von Tradition und Innovation hinsichtlich der Konzeption von Männlichkeit mit Blick auf Aphra Behns feminozentrische Erzählungen, die bereits am Ende des 17. Jahrhunderts alternative männliche Figuren imaginieren, neu definiert werden kann. Diese letzte Anmerkung soll nun keinesfalls das Verdienst der hier vorgestellten Studie schmälern, die sich den narrativen Konstruktionsmechanismen männlicher Identitäten in Romanen von Frauen um 1800 im Rahmen eingehender Lektüren sorgfältig und differenziert widmet und

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auf diese Weise einen relevanten literaturwissenschaftlichen Beitrag zu den derzeitigen Gender Studies und den Masculinity Studies leistet. Katalin Schober, Berlin Oliver Bock, Die Darstellung von Gewalt im Romanwerk Anthony Trollopes im Kontext juristischer und journalistischer Diskurse [Jenaer Studien zur Anglistik und Amerikanistik 15], Trier, Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2013. 266 S.  Anthony Trollope ist ein zu Unrecht in die zweite Reihe viktorianischer Schriftsteller verbannter Autor. Sein überaus umfangreiches Werk, das unter anderem 47 Romane umfasst, sein Status als einer der meistgelesenen Autoren des viktorianischen Englands, aber auch seine Fähigkeit, plausible Charaktere zu erschaffen, die weit von der Holzschnittartigkeit der Dickensschen Figuren entfernt sind, und zugleich sowohl das ländliche England in seinen Barchester-Romanen und das London der Mittel- und Oberschicht in den Palliser-Romanen glaubwürdig abzubilden, machen ihn einer Wiederentdeckung würdig. The Way We Live Now (1875) steht durch das enorme Spektrum seiner Erzählung in einer Reihe mit George Eliots Middlemarch (1874). Auch blicken viele seiner Werke in einer Weise über England hinaus, die Eliot nie wirklich und Dickens nur für Frankreich erreichte. So ist Irland Schauplatz von Trollopes ersten Romanen The Macdermots of Ballycloran (1847) und The Kellys and the O’Kellys (1848). Mit An Eye for an Eye kehrte Trollope 1879 wieder an einen irischen Schauplatz zurück. La Vendee (1850) spielt in Frankreich, Linda Tressel (1868) in Deutschland, The Golden Lion of Granpere (1872) im deutsch-schweizer Grenzland und Nina Balatka (1867) in Prag. The Bertrams (1859) führt gar in das zum Spielball imperialer Kräfte gewordene Palästina, Harry Heathcote of Gangoil (1874) und John Caldigate (1879) ins koloniale Australien. Trollopes zahlreiche Reisen, aus denen Reiseberichte entstanden, aber auch seine soziale Stellung, die ihn vom unbekannten Sohn einer schreibenden Mutter, Frances Trollope, zuerst zum Hilfslehrer und dann zum (durchaus international eingesetzten) Postangestellten machten, eine Position, die zunehmend von der des Schriftstellers überstrahlt wurde, gewährte ihm exzellente Einsicht in das britische Klassensystem, aber auch in koloniale Kontexte. Oliver Bocks Monographie nimmt sich eines Themas im Romanwerk Trollopes an, das nur auf den allerersten Blick entlegen erscheint: der Gewalt. In der scheinbar so zivilisierten Welt des ländlichen und kleinstädtischen Englands sowie im Umfeld des Parlaments in London scheint



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diese – zumindest im generell verklärenden viktorianischen Romanwerk – fehl am Platz. Und dennoch findet sie statt, und zwar, wie Bock überzeugend herausarbeitet, in sozial präzise koordinierten und symbolisch bewerteten Formen. Extreme Formen wie (versuchter) Totschlag und Mord sind allerdings selten und werden an ›unenglische‹ Orte wie Irland oder das europäische Festland verlegt und oft von Nicht-Briten ausgeführt. Aber auch Briten sind in Trollopes Romanen zur Gewalt fähig, auch wenn sich diese dann in Form des Duells oder seiner ›Schwundstufe‹, der demütigenden öffentlichen Züchtigung mit der Reitpeitsche, ausdrückt. Damit erscheint Gewalt klassenbasiert und gleichzeitig im Randbereich des gesellschaftlich Akzeptablen angesiedelt. Dies gilt auch für den Bereich des Geschlechts, der von Bock korrekt als ebenso wichtig für Gewalt erkannt wird. Zwar sind die Ausübenden von Gewalt in Trollopes Romanen fast immer Männer (die wichtigste Ausnahme, eine aus Rache mordende Mutter in An Eye for an Eye, ist bezeichnenderweise Irin). Dennoch sind auch Frauen in Gewalt involviert, und zwar nicht nur als Opfer, sondern auch als Auslöser männlicher Rivalität oder gar als Täterin. Bocks Studie nähert sich diesen Phänomenen besonnen und durch genaue Lektüre des Gesamtromanwerks Trollopes. Sie stellt ihre Erkenntnisse in den Kontext genau erarbeiteter historischer Diskurse, wie den von Kriminalstatistiken und juristischen Urteilen. Dies ist umso löblicher, als die Themenwahl natürlich potenzielle Untiefen der Analyse provoziert. Was ist Gewalt? Im letzten Teil seiner Untersuchung fügt Bock etwa – gerade im Kontext aktiv gewalttätig auftretender weiblicher Charaktere – psychische Gewalt dem Spektrum seiner Betrachtung hinzu. Wo beginnt diese? Diese durchaus spürbaren Unschärfen weisen von der historisch gut informierten Analysearbeit zurück auf die nicht wirklich gelungene theoretische (Selbst-)Einschätzung der Studie. Zuerst versucht sie sich dem New Historicism zuzurechnen (6), weicht dies aber sofort wieder auf, um sich mit Neumann und Nünning in den vortheoretischen Bereich der Kontextualisierung textimmanenter Strukturen zu begeben (7) und mit Nünning und Sommer in den der ebenso unscharf bestimmten der »kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft« (9). Tatsächlich bewegt sich Bocks Studie in einer im besten Sinne des Wortes konventionellen Mittelposition, in der close reading von Figuren und Handlung plausibel und gelehrt kontextualisiert wird. Ob man dafür »Ricoeurs mimetisches Modell der Beziehung zwischen Literatur und Wirklichkeit« (4–5) benötigt, bleibt aber fraglich. Anstatt zu marxistisch beeinflussten Positionen (die etwa im New Historicism mitschwingen) oder zu feministischen oder gar denen der Gender Studies tendiert die Arbeit zu essentialistischen Haltun-

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gen wie denen der Anthropologie, wenn sie Gewalt als »eines der anthropologischen Grundthemen« (5) bezeichnet und sie mit mittlerweile überholten Positionen wie Norbert Elias’ Prozess der Zivilisation zu greifen versucht. Dieser ist weder historisch noch spezifisch für Großbritannien im 19. Jahrhundert und widerspricht damit dem Ansatz der Studie. Erfreulicherweise befreit sich die Untersuchung aber schnell aus allgemeinen Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Gesellschaft und findet bei Kriminalstatistiken (40 ff.) wieder festen Boden für ihre Betrachtungen. Dennoch führt ihre Verweigerung einer wirklichen Anbindung des Gewaltdiskurses an spezifischere Theorien zu Schwächen in den Schlussfolgerungen. So verkündet die Arbeit bereits zu Beginn: »Aus diesen Gründen werden die punktuellen Darstellungen genuin krimineller oder politisch motivierter Gewalt außen vor bleiben« (4). Tatsächlich sind aber Duelle illegal und ebenso öffentliche Gewaltanwendung. Was meint die Arbeit mit »genuin kriminell«? Ist die Rache einer Irin am englischen Offizier, der ihre Tochter verführt hat, nicht auch politisch motivierte Gewalt? Die literaturwissenschaftliche Forschung verfolgt die Darstellung von Gewalt bisher meist unter spezifischen theoretischen Zugängen. Diese liegen vor allem in den Diskussionen über die sozialen Kategorien race, class und gender […] Die Darstellung von Gewalt als Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft ist jedoch außerhalb der genannten dominierenden Diskurse nur wenig berücksichtigt. (3)

Diese Eingangsthese ist widersprüchlich, ist doch Bürgerlichkeit durch eben jene Kategorien konstituiert, die die These als scheinbar außerhalb von ihr befindlich ansieht. Trollopes Romane sind Werke der bürgerlichen Gesellschaft, durchaus im von der Studie propagierten Ricoeurschen Sinn der kritisch auf sie rückwirkenden Abbildung. Damit müssen aber die Diskurse auch benannt werden, um in und aus ihnen Gewalt (und die dahinterstehenden Machtstrukturen) noch tiefgehender zu beschreiben, als dies Bocks in weiten Teilen gut gelungene und die Trollope-Forschung sicher erhellende Untersuchung tut. Rainer Emig, Mainz Heinz Hillmann / Peter Hühn (Hgg.), Lebendiger Umgang mit den Toten – der moderne Familienroman in Europa und Übersee [Europäi­ sche Schneisen Band 2], Hamburg, Hamburg University Press, 2012. 455 S. Der Band enthält insgesamt zwölf Beiträge, die in den Jahren 2005 / 06 als Ringvorlesung an der Universität Hamburg gehalten wurden. Sie zeigen kaum die für einen solchen Sammelband nahezu unvermeidliche He-



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terogenität, dafür aber in ihrem übereinstimmenden Verständnis dessen, was einen Familienroman ausmacht, eine Homogenität, die etwas schablonenhaft anmutet. Zwar bekennen die beiden Herausgeber in ihrer Einführung, dass der Band »auf Lücke gearbeitet« (18) ist, beziehen dies jedoch auf chronologische Leerstellen, da es nicht die Absicht war, die Genese des modernen Familienromans vollständig zu präsentieren. Schwerer als dieser eingestandene Mangel wiegt allerdings – zumal in einer Zeit, in der sich das Verständnis dessen, was eine Familie ist, wieder einmal wandelt (etwa ›Familie ist, wo Kinder sind‹ im politischen Diskurs) – die Übereinkunft aller Beiträger, dass der Familienroman im Normalfall vier Generationen umfassen müsse (7, 155, 171, 175, 389). An diesem Verständnis des Familienromans als Chronologie biologischer Generationen orientiert sich weitgehend die Werkauswahl aller enthaltenen Aufsätze, was zur Folge hat, dass die lebenswirkliche Übertragung des Begriffs ›Familie‹ auf andere soziale Zusammenhänge, wie sie etwa Mario Puzo in seinem Roman The Godfather beschreibt, unbeachtet bleiben muss. Innerhalb der auf diese Art eingeschränkten Textauswahl gelingt es in der Gesamtschau der Beiträge, die im Folgenden nicht alle gleichermaßen besprochen werden können, durchaus die weltliterarische Dimension des Familienromans zumindest anzudeuten. Im ersten Kapitel schlägt Heinz Hillmann einen weiten Bogen von den biblischen Patriarchengeschichten zu Nagib Machfus’ Die Kinder unseres Viertels, wobei der längliche erste Teil auf Grund der Herausarbeitung grundlegender Strukturen der Familienerzählung – dazu zählen etwa die Bedeutung der Wahl des Ehepartners, die gesicherte Nachkommenschaft und die Verortung der individuellen Lebenssituation in generationsübergreifenden Zusammenhängen – deutlich instruktiver ist als der daran anschließende inhaltliche Nachvollzug dieser Elemente an Machfus’ Roman. An allzu langen Inhaltsangaben der jeweils behandelten Bücher kranken einige der Kapitel. Zurückzuführen ist dieses Gewicht wohl auf den Ursprung der Beiträge in einer Vorlesung, wie auch die Herausgeber bemerken, den Ton des mündlichen Vortrags weitestgehend beibehalten zu haben (19). Warum dies in vielen Fällen aber letztendlich nicht nur für den Stil, sondern auch für den inhaltlichen ›Ballast‹ – der für den mündlichen Vortrag durchaus nötig sein kann – zutrifft, ist nur schwer nachvollziehbar. So liefern etwa der Beitrag von Heinz Hillmann zu Thomas Manns Buddenbrooks und Rudolf Herzogs Die Wiskottens, von Klaus Meyer-Minnermann über Gabriel García Márquez’ und Isabel Allendes bekannte Familienromane, oder der Aufsatz von Inge Hillmann über William Faulk­ ners Absalom, Absalom! im Wesentlichen ausführliche Einführungen in die Romaninhalte anhand der oben erwähnten Strukturmuster. »Urban«,

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»gesellig« und in einer »allgemeinere[n] Sprache« (19) sollen die Beiträge gehalten sein, was zwar größtenteils zutrifft, gelegentlich aber in allgemeineren Verirrungen mündet, die dem Rezensenten und auch der Zuhörerschaft besser erspart geblieben wären. Dazu zählt etwa Heinz Hillmanns im Ton der Vertraulichkeit geäußertes Bedauern, über das Leben der Cresspahls in Jahrestage nicht mit der »gleichen behutsamen Nähe« erzählen zu können wie Johnson selbst, worin Hillmann ein »Grundübel jeder literaturwissenschaftlichen Arbeit« (402) ausgemacht haben will. In seinem Beitrag zu slawischen Literaturen geht Robert Hodel den verschiedenen Ausprägungen des Familienromans in diesem Kulturraum im 19. und 20. Jahrhundert nach. Er macht dabei drei Tendenzen aus, die sich als konservativ (Laza Lazarevic´, Bora Stankovic´, Lev Tolstoj, Eliza Orzeszkowa), fortschrittlich oder alternativ-revolutionär (Andrej Platonov, Nikolaj Cˇernyševskij) und als restitutiv (Dziga Vertov, Galina Nikolaeva, Vladimir Agatov) charakterisieren lassen. Am interessantesten, weil am weitesten von dem ansonsten in dem Band vorherrschenden Konsens entfernt, erscheinen die beiden Letztgenannten. So führt die Diskussion der progressiv-revolutionären Ausprägung des Familienromans mitten in die familienpolitischen und sexualmoralischen Debatten der südslawischen und russischen Frühsozialisten und Oktoberrevolutionäre, deren programmatisch zu verstehenden Familienromane allerdings nur selten für die praktische Politik innerhalb der revolutionären Umgestaltung Russlands relevant wurden. Umso bedauerlicher ist es, dass Hodel in seinen kurzen Ausführungen zu Nikolaj Cˇernyševskij (127) dessen Roman Was tun? (1863) und die darin enthaltene Propagierung der Kommunalka – ein von mehreren Familien teilweise gemeinschaftlich genutzter Wohnbereich, der bis heute in russischen Großstädten anzutreffen ist – unerwähnt lässt. Die restitutive Tendenz des sowjetrussischen Familienromans schließlich zeigt wiederum eine ideologische Aufladung der nunmehr wieder traditionell verstandenen Familie, besonders in der Figur des Vaters. Hodel weist darauf hin, wie Lenin und Stalin innerhalb des um sie betriebenen Personenkults als Vaterfiguren etabliert werden, deren patriarchalische Wirkmächtigkeit national allumfassend verstanden wird und ihren Niederschlag in literarischen Texten findet. Ebenfalls über das rein schematische Referat hinaus gehen zwei Beiträge, die die Entwicklung poetologischer Gestaltungsprinzipien in Familienromanen untersuchen. In ihrem Aufsatz zum modernen französischen Familienroman beschreibt Solveig Malatrait die Abkehr moderner Texte – Beispiele sind Werke von Marguerite Yourcenars und Jean Rouaud – vom Großgemälde Zolascher Prägung hin zu einem fragmentierten Erzählen. Die innovativen Erzählformen dieser Autoren bauen traditionelle ge-



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nerische Makrostrukturen ab und fragmentieren auf der Konstruktionsebene der Erzählung Familiengeschichte durch chronologische Brüche, Perspektiv- und Fokalisierungswechsel und metaleptische Episoden. Für die Hochmoderne der englischen Literatur stellt Peter Hühn in einem Kapitel über Virginia Woolfs The Waves und The Years ähnliche Tendenzen der Multiperspektivität fest, die zwar moderner Individualisierung entsprechen, gleichzeitig aber auch die Familie nicht mehr als »Integrationsstruktur« (261) erscheinen lassen. So bedingen sich in Woolfs Romanen die Beobachtung moderner Familienverhältnisse und der Wille zum narrativen Experiment mit dem Ziel einer dem Erzählgegenstand angemessenen Technik gegenseitig. In einem weiteren anglistischen Artikel widmet sich Peter Hühn der Verbindung von Schauer- und Familienroman in Horace Walpoles The Castle of Otranto, Matthew Lewis’ The Monk und Mary Shelleys Frankenstein. Allen Texten ist dabei gemeinsam, dass die darin anzutreffenden Familien in ihren Strukturen und dynamischen Entwicklungen quer zu den zur Genüge ausgeführten Kategorien des »typischen« Familienromans liegen und damit ausnahmsweise einen in diesem Band seltenen Blick auf sich historisch verändernde Strukturen, Funktionen und Funktionszuschreibungen von Familien zulassen. So lässt sich Walpoles Roman in der Schilderung der letztlich erfolglosen Usurpation des Fürstenhauses von Otranto wahlweise als gescheiterte Familiengeschichte oder als erfolgreiche Restitution verstehen, während Lewis’ The Monk offen die menschliche Sexualität und die sie formenden und bisweilen unterdrückenden sozialen Normen und Institutionen in den Brennpunkt zweier tragischer Familiengeschichten rückt (97). Shelleys Frankenstein schließlich zeichnet nach Hühn ein pessimistisches Bild sowohl der individuellen Autonomie wie auch der Familie als »tragfähige[m] Organisationsprinzip« (101) einer sich modernisierenden Gesellschaft. Abgeschlossen wird der Band mit einem weiteren Beitrag Heinz Hillmanns, in dem er gegenwärtige Tendenzen des deutschen Familienromans herausarbeitet. Mit Blick auf nach der Jahrtausendwende entstandene deutsche Literatur wird hier die zunehmende Konvergenz von genuin literarischem Erzählen und historiographischer Darstellung einleuchtend beobachtet. Hillmann verweist auf frühere ähnliche Formen der »Väterromane« aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die den Konflikt der Generationen über die NS-Vergangenheit thematisierten. Demgegenüber tritt in den deutschen Generationen- oder Familienromanen des neuen Jahrtausends – als Beispiele dienen Wibke Bruhns’ Meines Vaters Land und Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land – die Familie stärker als historiographische Metonymie hervor. Beide Romantitel ver-

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weisen mit dem Wort Land auf eine Bedeutungsdimension, die über die eigene Familiengeschichte, wie sie in den jeweiligen Untertiteln (Bruhns: Geschichte einer deutschen Familie, Wackwitz: Familienroman) angedeutet wird, hinausgeht. Ähnlich wie auf sprachlicher Ebene ein hybrider Erzählstil aus fiktionaler Schilderung und quellengestützter methodengeleiteter Geschichtsschreibung in diesen Romanen zu beobachten ist (422), fungieren die den Inhalt bestimmenden Familiengeschichten sowohl als Einzelschilderung wie auch als beispielhafte Versuche einer Vergangenheitsbewältigung größeren Maßstabs, die längst in den weiteren Kontext einer landesweit wirkenden Erinnerungskultur eingebettet ist. Insgesamt führen die Beiträge des Bandes durchaus informativ in die Meilensteine des modernen Familienromans ein, eine wirkliche literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung und damit auch ein nachhaltiger Erkenntnisgewinn sind jedoch nur in einem Teil der Aufsätze anzutreffen. Dieser Eindruck verstärkt sich noch durch den mehrheitlichen Verzicht der Beiträger auf die Heranziehung oder sogar kritische Diskussion vorhandener Sekundärliteratur, sodass bis auf wenige Ausnahmen (Robert Hodel, Solveig Malatrait und die erwähnten Beiträge Peter Hühns) der Wert des Bandes als Einführung in das Forschungsfeld des Familienromans auch in dieser Hinsicht recht begrenzt ist. Oliver Bock, Jena Henri de Régnier et Francis Jammes, Correspondance (1893–1936), édition critique de Pierre Lachasse [Correspondances et Mémoires 10, série »Le dix-neuvième siècle« 5], Paris, Garnier, 2014, 246 S.  Si la publication d’une correspondance d’écrivains est souvent l’occasion de pénétrer dans le cabinet de travail d’un auteur ou de cerner la vie littéraire de son temps, la parution des échanges entre Henri de Régnier et Francis Jammes dessine pourtant une voie nouvelle dans la bibliothèque des relations épistolaires à l’âge symboliste. On chercherait vainement ici un éclaircissement sur les choix esthétiques des poètes ou un témoignage sur les réceptions circonstanciées des œuvres – seules quelques mentions de Jammes sur ses relations tendues avec la critique contemporaine ou sur ses tentatives infructueuses d’accéder à l’Académie peuvent en donner un indistinct climat. Mais c’est bien plutôt une admirable définition de l’amitié qui jaillit de toutes les pages de cette correspondance aux lettres courtes et ciselées. »Parce que c’était lui …«. Confondu par la bienveillante patience du poète parisien, on quitte en effet la lecture de cet échange de lettres avec



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le sentiment d’avoir réellement approché une définition de l’amitié toute pure, uniquement passionnée par le sens d’une œuvre commune et parfaitement dégagée du poids de leurs auteurs. Car aux requêtes démesurées de Jammes exprimées en un ton aussi dérangeant qu’impérieux correspondent toujours les réponses délicates de Régnier capables d’être érigées en véritables exemples. Le 17 juin 1929, le provincial affirme ainsi ne pas être assez présent dans les pages du Figaro et ne pas recevoir de réponses assez rapides de la part de ce journal, situation inadmissible pour un auteur de sa qualité ; tout en déclarant ne pas s’en formaliser puisque »personne au monde ne sait renoncer plus que [lui]«, il donne alors ordre à son correspondant d’obtenir pour lui la définitive assurance de publication d’»un poème d’une centaine de vers« et d’un »compte-rendu« du dernier congrès eucharistique (dont les épreuves devront bien sûr lui être remises à l’avance), lui demandant en outre de transmettre lui-même le bon à tirer après s’être assuré que l’imprimerie n’ait estropié aucun de ses vers. Le 19 juin 1929, Régnier répond à Jammes, et c’est alors qu’apparaît l’exemple sublime d’un ethos digne d’éloges et souligné par une concinnitas parfaite : »je transmettrai votre copie au Figaro dès qu’elle me parviendra et si l’on ne peut vous envoyer l’épreuve je la corrigerai de mon mieux, très heureux de pouvoir vous rendre ce bien léger service«. Osons dire que c’est pour de tels énoncés que nous pouvons lire avec grand profit cette correspondance qui, sans cela, risquerait de singulièrement assombrir le visage de Jammes – même lorsqu’il lit l’œuvre de Régnier, celui-ci ne demeure-t-il pas plein de lui-même, intéressé non par l’effort de signification de l’académicien mais par le rapport de ses textes aux siens (»Je pense que voilà bien deux mois que votre Flamma Tenax demeure à mon chevet auprès de mon Imitation, de l’Évangile, d’un traité du P. Laborde sur la Trinité. […] Et puis il y a ce rapport, entre ces livres et le vôtre, de la Divine Souffrance qui est le titre de mon dernier livre …« (192)) ? Sa soif de reconnaissance et ses incessantes relances auprès de son ami (pensons à l’injonction «je veux une date«, cinq fois répétée page 57, ou au refus de tout remerciement, exprimé page 100) nous le feraient du reste pratiquement prendre en antipathie. Remercions donc chaleureusement Proust d’avoir définitivement établi qu’œuvre et auteur ne se recouvraient pas. Or il conviendrait peut-être d’atténuer ici le léger tranchant de ces remarques. On reconnaîtra d’abord que la question financière n’est pas d’une importance mineure en ce siècle lorsqu’un auteur doit élever sept enfants et, comme Bernanos un peu plus tard, demeurer soucieux d’une juste rétribution de ses travaux. On s’avisera ensuite que la juste conscience de devoir rénover la poésie contemporaine hors des sentiers parfois artificiels de la technicité parnassienne peut aussi engager les auteurs vers un

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compréhensible sentiment d’élection, même s’il serait toujours souhaitable que la simplicité prônée dans l’écriture poétique s’unisse harmonieusement avec une humilité fondamentale de son créateur. On remarquera enfin que si l’échange épistolaire autour des œuvres semble souvent superficiel en ce qu’il n’aborde jamais un quelconque problème d’herméneutique, Régnier lui-même se montre en cette occasion le plus fuyant des auteurs, ne sachant employer, pour qualifier l’impression laissée en lui par la poésie de son destinataire, que le seul verbe »charmer« partout présent – les avis de Jammes possèdent en revanche plus de précision lorsqu’un sentiment que l’on voudrait dire phénoménologique parvient à se détacher d’une expression liminairement convenue et cerne la plus nette épure d’un symbolisme victorieux : »Il n’est que vous pour ainsi manier la plume d’aigle dont se servait Bossuet, qui le fassiez avec une aisance tout à fait éloignée du pastiche. Là est votre grand secret de construire des meubles magnifiques dans la tradition avec un bois où circule la sève des mêmes arbres qui ombragèrent vos ancêtres. Quant à ces lointains bleus que vous rapportez d’Italie, à ces fantoches, à ces comédiens tristes et parés d’oripeaux, ce sont paysages et personnages d’une douceur si mélancolique !« (139). Le talent de nos auteurs s’exprime, en somme, bien davantage en poésie que dans l’espace même de leur correspondance. Mais n’est certes pas Madame de Sévigné qui veut. L’essentiel demeure sans doute que la révolution poétique ait avec eux »restauré la musique dans le vers« et osé s’élancer dans »ses bouleversements prosodiques« (8). Régnier n’en reste pas moins »poète par l’idée et l’image« et »peintre par la richesse de couleur et l’exactitude de la nuance du terme employé«, ayant magnifiquement usé de »l’inspiration légendaire et médiévale« (9), quand Jammes conserve pour lui »l’idéal de simplicité« et »le vers libéré, volontiers impair et assonancé«, ou »l’évidence banale d’un univers rustique et provincial révélé par un langage quotidien« (9–10) – et l’admiration réciproque sauve tout. Le paradoxe de ces lettres aujourd’hui publiées est en tout cas d’offrir un singulier miroir à notre lecture : lorsque la simplicité des poèmes de Jammes se voit entravée par la lourdeur de son style épistolaire (l’effrayante convention de certaines formules ferait presque passer cette langue pour un exercice scolaire d’imitatio rhétorique : »Vous êtes un honneur pour la langue française […]. Votre ironie est grave et vous êtes amer à la façon d’un laurier qui nous embaume. Ce laurier, mon cher Henri de Régnier, sachez bien que je pense que nul plus que vous aujourd’hui n’a le droit d’en être couronné – car sur vous se reflète encore la splendeur de ce que fut notre pays« (125)), la préciosité de l’écriture de Régnier se voit quant à elle aplanie par le mouvement même de la correspondance (le ton de conversatio simplifie l’échange et se veut sans doute



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le garant d’une relation de confiance : »Vous êtes exquis pour mon petit livre que je n’aimais guère mais qui reprend, grâce à vous, parure dans mon esprit. […] Et puis, voyez-vous, quelqu’un qui n’a jamais demandé à un art autre chose que le plaisir qu’il y a à l’exercer pour soi, est, sinon inattaquable, du moins invulnérable à certains traits !« (127). Voilà qui nous révèle les transformations à l’œuvre non dans l’écriture d’un auteur en général mais dans la poétique de son genre de prédilection en particulier – »le paysage, pur symbole chez Régnier, dont la sensibilité à la nature, jamais immédiate, ne réagit de son propre aveu que par l’intermédiaire de sa mémoire inconsciente, s’impose au contraire chez Jammes comme l’objet d’une expérience directe et quotidienne« (11). Pour cette édition d’une correspondance qui n’a certes rien d’intime mais témoigne à tout le moins d’un »état spirituel« partagé entre les auteurs (7), osons pourtant noter qu’un certain effort de mise en page aurait tout de même pu être consenti – afin d’éviter notamment que la formule finale d’une lettre, assortie de sa signature, n’apparaisse au revers d’une page ou que la dernière phrase de la même lettre ne se trouve ainsi écrasée contre l’apparat critique (50, 52, 62, 65 ou 83). Osons aussi regretter que la mention de la préface selon laquelle »Régnier s’inquiète aussi du risque de gauchissement qu’encourt l’œuvre de Jammes en sacrifiant le point de vue esthétique au militantisme religieux« (25) ne trouve aucun écho dans l’apparat critique accompagnant le corps de l’échange épistolaire – on aurait en effet apprécié quelques exemples précis sur la question tout de même fondamentale de l’articulation entre éthique et stylistique, lorsque l’abandon du courant parnassien semble justement impliquer ce retour aux choses mêmes qui n’a rien d’une épochè désincarnée. Au terme de ce parcours, ne doutons cependant pas que résonne encore, comme témoignage de l’infinie délicatesse d’un poète, parisien et mécréant, désirant que la parole de son ami, provincial et croyant, ne quitte jamais sa vocation universelle, cette belle prière à saint Joseph qui se révèle exprimer en vérité une magnifique esthétique théologique de la finitude : »Je ne vous demande pas de détourner notre ami Francis Jammes du souci de son salut. […] Gardez-le dans vos voies, bon saint Joseph, mais ne lui en défendez pas, parfois, un petit écart. […] Redonnez-nous un peu le poète savoureux, rustique, élégiaque, pittoresque et, hélas ! profane que nous admirons tant … […] Il vous reviendra toujours« (13 juin 1921). Philippe Richard, Paris

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Sandra Martina Schwab, Of Dragons, Knights, and Virgin Maidens: Dragonslaying and Gender Roles from Richard Johnson to Modern Popular Fiction [Mainz University Studies in English 16], Trier, Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2013. 378 S. A fire-breathing creature bedecked in scales, a chivalrous man in shining armour, and a fair maiden in distress: it is a tale familiar to most readers. It is also, as Sandra Martina Schwab persuasively argues, a tale that has evolved to reflect key changes in society. In this respect, fictional texts become a means of both representing and influencing reality. Schwab’s extensive study Of Dragons, Knights, and Virgin Maidens: Dragonslaying and Gender Roles From Richard Johnson to Modern Popular Fiction (originally written as Schwab’s doctoral dissertation) was published in 2013 through the Wissenschaftlicher Verlag Trier as part of the Mainz University Studies in English series. It traces the development of the dragonslayer story – traditionally a narrative in which a brave knight defeats a fearsome dragon so as to rescue a helpless damsel – from the sixteenth century to the present day. Analysis focuses on the manner in which the story has been altered and adapted to suit, challenge, and promote certain attitudes towards gender; these evolving gender ideas are, in turn, contextualised in relation to broader historical issues and trends. The originality of the project is made abundantly clear: as Schwab highlights in her literature review, »A thorough study of the dragonslayer story as a mirror of the changing ideals of femininity and masculinity has not yet been published« (7). Of Dragons, Knights, and Virgin Maidens not only addresses that deficit in the scholarship, it also makes apparent the value of such a project. Schwab’s book is grounded in a strong awareness of intertextuality. Analysis spans several genres including fairy tales, folk literature, fantasy fiction, and popular romance. The incorporation of both German and English texts expands the scope of the book, with German texts, in particular, being important to the study of folk literature and fairy tales. The book also takes various modes of representation into account: whilst the primary focus is literature, the book’s argument is strengthened through references to art, theatre, societal events, and societal organisations. This heightens the already significant dialogue between reality and fiction, as imagination and real-life begin to intersect. The textual analysis undertaken, furthermore, highlights the self-referential nature of the evolving dragonslayer story: the texts in question consistently engage with their narratological roots. The broad nature of her approach allows Schwab to weave an intricate analytical web: she crosses genres, mediums, centuries,



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and even languages so as present the reader with an in-depth examination of the topic. Such an approach lends itself well to an examination of socie­ tal implications: Of Dragons, Knights, and Virgin Maidens functions as a window into the past and present, through which one can gain a better understanding of the relationship between representation and the real world. The book is of clear value to scholars who are interested in the broad topic of cultural legacies and aftermaths, the more specific topic of the dragonslayer story and its evolution, gender studies, and colonial studies. Overall, Schwab offers an insightful and well-researched examination that draws together its two topics – gender and dragon tales – in a fascinating and worthwhile manner. The book starts with a very detailed literature review and chapter overview in the form of the text’s introduction. Whilst such introductory material is, of course, vital to the overall study, its relation to the book as a whole is not always made apparent. This confusion raises one of the few criticisms to be made against the text: Schwab’s argumentative direction becomes a little vague as her own argument is occasionally lost in the midst of the supporting material. This issue occasionally resurfaces throughout the book, and is a result of the sheer volume of primary and secondary texts being discussed. These momentary losses of direction do not, however, detract from the book’s overall persuasiveness, and one can certainly consider the extent of research undertaken by Schwab to be very impressive. The body of the work is split into three parts. In line with the book’s prioritisation of textual legacy and context, discussion begins with foundational texts of the Medieval and Renaissance periods: whilst some of the earlier texts examined in this section do not fit into the timespan officially covered by the study, they are nonetheless highly relevant to the book’s overall agenda due to their role as foundational texts. As Schwab explains, »Dragons – mostly as the four-legged, winged and fire-breathing variety, but also as giant worms or winged snakes – have inspired the human imagination for centuries« (21). The second part deals with traditional retellings of the dragonslayer story in the nineteenth and early twentieth centuries so as to explore the link between gender, dragon depictions, and the imperialistic endeavours of Britain. Finally, the third part – which constitutes approximately half of the entire work – is dedicated to the discussion of revisionist works: in particular, Schwab focuses on Victorian counter narratives and parodies, twentieth-century revisionist fantasies, and historical romances of the twentieth and twenty-first centuries. Traditional attitudes towards masculinity, chivalry, empire-building, and femininity are challenged in these texts, as knights become cowardly,

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maidens become free-willed, and dragons are not always depicted as dangerous monsters. Schwab thus explores the roots and discourse of the traditional dragonslayer story, before then bringing to light the manner in which this template has been reinscribed and refashioned over time. The overall structure of the book allows for comparisons to be made and contrasts to be drawn between a myriad of texts. These textual connections lie at the heart of Schwab’s work, as they represent the power of an evolving narrative. Of Dragons, Knights, and Virgin Maidens consequently presents the reader with a survey of shifting ideologies as seen through the lens of the dragonslayer story. This lens allows great insight into representations of gender: Schwab’s analysis is consistently related back to relevant historical periods and moments such as Britain’s high imperialism, its aftermath, and women’s movements of the mid-to late-twentieth century. In Schwab’s words, »the dragonslayer story can serve as an indicator of social norms or ideals and their alterations« (338). Furthermore, as Schwab’s discussion of societal events and organisations (such as the Eglinton Tournament and the Boy Scout movement) makes apparent, the ideologies of dragon fiction have been routinely enacted in reality. Of Dragons, Knights, and Virgin Maidens thus highlights and investigates the link between the real word and the fictional realm of dragons; textual manipulation and evolution is key to that relationship. Britta Hartmann, Vechta

Namen- und Werkregister Von Ulrich Barton und Daniela Czink (Die Zahlen verweisen auf die Seiten, kursive Zahlen auf die Hauptstellen. Das Register wählt aus.) Acosta, José de  182–184 Agrippa von Nettesheim  161 Alanus ab Insulis  57 d’Angelo, Edoardo  368 Ariost – Orlando furioso  163, 386 Aristoteles  1 – Nikomachische Ethik  50 – Poetik  18–21, 28, 41, 320 Augustinus  73 Bargagli, Scipione  233, 246 Baudelaire, Charles  300–301, 312 Benoît de Sainte-Maure – Roman de Troie  40, 45 Beowulf  51–53 Bletz, Zacharias  127–131 – Narrenfresser  128, 131–133 Boccaccio, Giovanni – Dekameron  14 Boncompagno da Signa  31 Bracciolini, Poggio  63 Brant, Sebastian – Das Narrenschiff  77 Brueghel, Pieter, d. Ä. 360–365 Bruhns, Wibke – Meines Vaters Land  403–404 Byron, George Gordon Lord  274, 300 – Childe Harold’s Pilgrimage  273 Calderón de la Barca, Pedro  117 – La vida es sueño  191–216

Camões, Luís de – Os Lusíadas  163 Caro, Annibale  248 Cartier-Bresson, Henri  354–356, 359–360, 364–365 Cassiodor  29 Castiglione, Baldassare  170, 172, 234 Cervantes, Miguel de – Don Quijote  169, 386–387 Chrétien de Troyes  40, 46 – Erec et Enide  41, 45 Chrysostomos, Johannes  64 Cicero, Marcus Tullius  33, 167, 170, 273 – De inventione  29, 43 Coleridge, Samuel Taylor  286 Cysat, Renward       121–122, 124, 128, 130 – Convivii Process  128, 133 Dante Alighieri  300, 335, 343–344 – Commedia  299, 322, 329, 337–338, 340–342, 345–346, 374–383 Delacroix, Eugène  297–313, 364 Djebar, Assia  312–313 Donaueschinger Passionsspiel  128–129 Eliot, George  398 Erasmus von Rotterdam  167, 170, 173, 189 Fénelon, François – Télémaque  391–392

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Fenwick, Elisa – Secresy  396 Fichte, Johann Gottlieb  257 Fielding, Henry  273 Florus, Hercules  185–186 Gautier, Théophile  301 Geiler von Kaysersberg  57 Genesis  322 Geoffrey von Monmouth  46 Goethe, Johann Wolfgang  253, 267 – Faust  301 Gracián, Baltasar  171 Greflinger, Georg  235 Gregor von Tours  37–39, 42 Guevara, Antonio de  178–179 Guido de Columnis – Historia destructionis Troiae  40 Hamann, Johann Georg  262 Harrison, William – Description of England  385 Harsdörffer, Georg Philipp  228–234, 249 Hartmann von Aue  47 – Erec  44, 46 – Iwein  27, 44, 46 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  262–263, 281 Herder, Johann Gottfried  189, 262, 265, 267 Herrera, Fernando de  161, 168 Hoefnagel, Joris  246, 250 Homer  318, 386 Horaz  323 Hugo, Victor  301 Hus, Jan  61 Ignatius von Loyola  177, 180, 183–184 Isidor von Sevilla  29, 189 Jacobus de Voragine – Legenda Aurea  369

Jammes, Francis  404–407 Jesaja  380 Joachim von Fiore  258, 261 Johannesevangelium  141, 378 Juan de Ávila  176, 189 Juan de la Cruz  176, 189 Kant, Immanuel  257, 266 Knigge, Adolf Freiherr von  265 Konrad von Würzburg  31 Kreutzer, Johannes  57 Künzelsauer Fronleichnamsspiel  93, 113 Lando, Ortensio  230–232 Lara, Catherine  397 – Louis de Boncœur  396 Lazarillo de Tormes  172 Leonardo da Vinci  301–302 Lessing, Gotthold Ephraim  163, 269 – Ernst und Falk  265 – Die Erziehung des Menschen­ geschlechtes  258, 260–261 – Laokoon  352 Lewis, Matthew – The Monk  403 Lomazzo, Giovan Paolo  246–248, 250 Ps.-Longin – Peri hypsous  316 Ludolf von Sachsen – Vita Christi  103 Lukian von Samosata  170 Luther, Martin  116–117, 131, 139, 144–145, 153, 254, 367 – Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi  117 – Wider Hans Worst  116 Luzerner Osterspiel  127, 129–131 Machfus, Nagib – Die Kinder unseres Viertels  401 Macpherson, James  295 – Ossian  293



Namen- und Werkregister

Manzoni, Alessandro – Natale  328, 331 – Ognissanti  315–333 – Pentecoste  331 – I Promessi Sposi  319, 328 – La Risurrezione  328, 331 Martianus Capella  29 Matthäus von Vendôme  29 Melanchthon, Philipp  139, 188 Mennel, Jacob  57–58 Michelangelo Buonarroti  300–302 Milán, Luis  171–172 Montaigne, Michel de – Essais  178, 309 Mozart, Wolfgang Amadeus  269 – Die Zauberflöte  265 Münster, Sebastian  162–163 Murner, Thomas – Badenfahrt  55–80 – Die Geuchmatt  62 – Narrenbeschwörung  63–64 Nebrija, Antonio de  165–166, 175, 181 Nicolai, Friedrich  265 Norton, Thomas – Gorboduc  384–385 Novalis – Die Christenheit oder Europa  253–270 Ovid – Ars amatoria  228, 231, 244–245 – Metamorphosen  330, 362 Owenson, Sydney – The Wild Irish Girl  397 Palmireno, Juan Lorenzo  163, 167, 170, 186 Partonopeu de Blois  40–41 Petrus Lombardus  73 Piccolomini, Aeneas Sylvius  177 Platon  19 – Nomoi  223

413

Plautus  186 Plumptre, Anne  396–397 Puzo, Mario – The Godfather  401 Quintilian  166 Rebhun, Paul – Hochzeit zu Cana  137–159 – Susanna  140 Régnier, Henri de  404–407 Rhetorica ad Herennium  29 Richardson, Samuel – Clarissa  397 Rimbaud, Arthur  340 Ringhieri, Innocentio  230–231 Ripa, Cesare  232 Roman d’Eneas  43, 48 Salat, Hans  127, 130 Scaliger, Julius Caesar  161–162 Schiller, Friedrich  257, 269 – Don Karlos  268 – Der Geisterseher  268 Schlegel, Friedrich  253, 255, 257, 267 Schubert, Franz – Liederzyklus vom Fräulein vom See  277 Scott, Walter  271–296 – The Bride of Lammermoor  271– 272, 284–291, 301 – The Heart of Midlothian  276, 279–281, 295 – The Lady of the Lake  271, 276–281, 296 – The Minstrelsy of the Scottish Border  271, 275, 280, 286, 291–294 – Rokeby  273 – Waverley  271, 273–274, 280–284 Selva, Lorenzo  387 Seneca, Lucius Annaeus  166, 186 Sereni, Vittorio  335–347 Servet, Miguel  162

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Namen- und Werkregister

Shakespeare, William  286, 330, 384 – Hamlet  300–301, 385–386 – Henry VI  385 – Julius Caesar  385 – Richard II  385 Shelley, Mary – Frankenstein  396, 403 – The Last Man  396 Siculus, Lucius Marineus  163, 167 Smith, Thomas – De Republica Anglorum  385 Starkey, Thomas  384–385

Veen, Otto van – Amorum Emblemata  217, 220–227, 236–244, 246, 251 Vega, Garcilaso de la  161, 168 Vega, Inca Garcilaso de la  182–183 Vega, Lope de  205 Vergil  315–333 – Aeneis  40, 47–48, 58, 228, 315, 318–319, 321, 323–325 – Bucolica  322 – Georgica  322–323, 332 Vives, Juan Luis  162, 168, 173–174

Tasso, Torquato  246 – Gerusalemme liberata  300, 319 Terenz  140, 186 Teresa de Ávila  176, 180, 189 Thomas von Aquin  57 Thomas von England – Tristan  32 Thomas von Ercildoune  290–291 Tiberio d’Assisi  357–360, 364–365 Trollope, Anthony  398–400

Wackwitz, Stephan – Ein unsichtbares Land  403–404 Walpole, Horace – The Castle of Otranto  403 Weishaupt, Adam  266–267 Wernher der Gärtner – Helmbrecht  24 Wieland, Christoph Martin  265, 267 Wolfram von Eschenbach  47 – Parzival  44, 46 Woolf, Virginia  403 Wordsworth, William  286, 288 Wyclif, John  61

 ’Urfé, Honoré d – Astrée  388 Valadés, Diego de  181–182 Valdés, Juan de  169 Valla, Lorenzo  163

Zerbster Fronleichnamsspiel  81–118 Zwingli, Huldrych  131