Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 55. Band (2014) [1 ed.] 9783428544035, 9783428144037

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 55. Band (2014) [1 ed.]
 9783428544035, 9783428144037

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET VON HERMANN KUNISCH

IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON BEATRICE JAKOBS, VOLKER KAPP, NORBERT LENNARTZ, KLAUS RIDDER, RUPRECHT WIMMER

FÜNFUNDFÜNFZIGSTER BAND

2014

DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH FÜNFUNDFÜNFZIGSTER BAND

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET VON HERMANN KUNISCH

IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON BEATRICE JAKOBS, VOLKER KAPP, NORBERT LENNARTZ, KLAUS RIDDER, RUPRECHT WIMMER

FÜNFUNDFÜNFZIGSTER BAND

2014

DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 978-3-428-14403-7 (Print) ISBN 978-3-428-54403-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-84403-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Vorbemerkung Mit dem vorliegenden Band beendet Kurt Müller seine Tätigkeit als Mitherausgeber des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs. Er war seit 1979 mit der Redaktion des Jahrbuchs betraut, seit 1993 dessen Mitherausgeber (verantwortlich für den Bereich Anglistik und Amerikanistik) und von 1995 bis 2008 dessen federführender Herausgeber. Auch Jutta Zimmermann, die den Rezensionsteil des Jahrbuchs betreut hat, beschließt ihre Tätigkeit als Mitherausgeberin. Die Görres-Gesellschaft und die Mitherausgeber danken ihnen für ihr langjähriges verdienstvolles Engagement und für die effektive und freundschaftliche Zusammenarbeit. Mit diesem Band tritt Norbert Lennartz die Nachfolge von Kurt Müller an, und Béatrice Jakobs übernimmt die Verantwortung für den Rezen­ sionsteil des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs. Die Herausgeber im Namen der Görres-Gesellschaft

Inhaltsverzeichnis AUFSÄTZE Ulrich Barton (Tübingen), Vormoderne Tragik? Zur neueren Tragikdiskussion in Gräzistik und Mediävistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Arthur Groos (Ithaca, N.Y.), Ekphrasis, Landscape, and Power: Some Castles and Their Rulers in Wolfram’s Parzival . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Matthias Bürgel (Köln), Für eine Einordnung Uguccione da Lodis . . . . . . . . . . . . . 59 Dorothea Scholl (Kiel), Das Jenseits als Spiegel eines idealen Diesseits: Christine de Pizans Livre du chemin de long estude (1402–1403) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Agathe Sueur (Paris), Du stylus phantasticus aux chimères musicales. Culture de l’ingéniosité et musique instrumentale au XVIIe siècle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Heinz-Joachim Müllenbrock (Göttingen), Deutschland im Spiegel der öffentlichen Meinung Englands vor dem Ersten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung des Werks von H. G. Wells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Philippe Richard (Paris), Métamorphoses de la transgression. Bernanos et la résurrection de l’être . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Marcus Hartner (Bielefeld), Literarische und dokumentarische ›Authentizität‹. ­Medialität und Inszenierung am Beispiel englischer Golfkriegslyrik . . . . . . . . . . . 171 Till Kinzel (Paderborn), Probleme der Poetik des Schlüsselromans am Beispiel von Saul Bellows Ravelstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Wolfgang Klooß (Trier), Die englische Literatur und das Meer. Exemplarische Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Wolfgang G. Müller (Jena), Literary Figure into Pictorial Image. Illustrations of Don Quixote Reading Romances . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Kleine Beiträge Gertrud Maria Rösch (Heidelberg), »Wir fahren in die Hölle mit Pauken und Trompeten«. Die Jenseitsreise in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz . . . . . . . . 271 Beatrice von Matt (Dübendorf), Gesang als Revolte. Laudatio auf den Schriftsteller Herbert Meier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

6 Inhaltsverzeichnis Buchbesprechungen Magali Bélime-Droguet, Véronique Gély, Lorraine Mailho-Daboussi, Philippe Vendrix (Hgg.), Psyché à la Renaissance (von Volker Kapp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Heike Brandt, Invented Traditions: Die Puritaner und das amerikanische Sendungsbewusstsein (von Kurt Müller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Enno Ruge, Bühnenpuritaner: Zum Verhältnis von Puritanern und Theater im England der Frühen Neuzeit (von Jürgen Meyer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Volker Kapp, Dorothea Scholl, in Verbindung mit Georg Braungart und Bernd Engler (Hgg.), Literatur und Moral (von Nicolas Faguer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Thomas Strässle, Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt (von Gabriela Wacker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Rudolf Bader, Anja Schwarz (Hgg.), Australian, New Zealand and Pacific Literatures (von Norbert H. Platz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Canadian Literatures. Edited and Introduced by Konrad Gross and Jutta Zimmermann (von Wolfgang Klooß) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Die Wahlverwandtschaften. Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808–1832. Reprint der Erstausgabe mit neuen Funden als Anhang. Herausgegeben von Heinz Härtl (von Dieter Breuer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 René Sternke (Hg.), Böttiger-Lektüren. Die Antike als Schlüssel zur Moderne (von Brigitte Leuschner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Rolf Breuer, Englische Romantik. Literatur und Kultur 1760–1830 (von Norbert Lennartz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Ralph Pordzik, Victorian Wastelands. Apocalyptic Discourse in Nineteenth-Century Poetry (von Paul Goetsch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Dieter Schulz, Emerson and Thoreau or Steps Beyond Ourselves: Studies in Transcendentalism (von Jörg Thomas Richter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Hans Ulrich Seeber, Literarische Faszination in England um 1900 (von Elmar Schenkel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Stefan Lampadius, Elmar Schenkel (Hgg.), Under Western and Eastern Eyes: Ost und West in der Reiseliteratur des 20. Jahrhunderts (von Ulrich Steltner) . . . . . . 333 Nicolas Faguer, Un constant approfondissement du cœur. L’unité de l’œuvre de Péguy selon Hans Urs von Balthasar (von Philippe Richard) . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

Inhaltsverzeichnis7 Dominique Millet-Gérard, Émilie Bonnet, Philippe Richard, Claude Barthe, Ber­ nanos. Un sacerdoce de l’écriture. Préface de Claude Barthe (von Volker Kapp) 342 Stefan Hirt, Adolf Hitler in American Culture. National Identity and the Totalitarian Other (von Paul Goetsch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Axel Cherniavsky/Chantal Jaquet (Hgg.), L’Art du portrait conceptuel. Deleuze et l’histoire de la philosophie (von Frank Nagel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Frank-Rutger Hausmann, Die Deutsche Dante-Gesellschaft im geteilten Deutschland (von Joachim Leeker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Nora Berning, Towards a Critical Narratology. Analyzing Value Construction in Literary Non-Fiction across Media (von Wolfgang G. Müller) . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Namen- und Werkregister (von Ulrich Barton und Daniela Czink) . . . . . . . . . . . . . 365

Vormoderne Tragik? Zur neueren Tragikdiskussion in Gräzistik und Mediävistik Von Ulrich Barton I. Die Tragik, eine Grundkategorie der Literaturwissenschaft, ist in den letzten beiden Jahrzehnten wieder stärker in die Diskussion geraten. Das ist schon allein deshalb bemerkenswert, weil Tragikdiskussionen sich zu allen Zeiten als geistesgeschichtlich aufschlussreich erwiesen haben. Die hier interessierende Tragikdiskussion1 begann im ›Stammgebiet‹ des Tragischen: der Gräzistik. Hier versuchten Arbogast Schmitt2 und Eckard Lefèvre3, die griechischen Tragödien möglichst historisch adäquat, d. h. streng nach den Kategorien der aristotelischen Poetik und Ethiken, zu interpretieren – ein prinzipiell nachvollziehbares und philologisch vorsichtiges Vorgehen, um vermeintlich anachronistische Deutungen zu vermeiden. Doch schon hierbei kann eine unterschiedliche Gewichtung dieser Kategorien zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen: Da die Interpreten weniger rezeptionsästhetisch als handlungstheoretisch interessiert 1  Abzugrenzen ist sie etwa von der unter anderen Prämissen stehenden Neubestimmung des Tragischen durch Karl Heinz Bohrer, Das Tragische. Erscheinung, Pathos, Klage, München 2009. Anknüpfungspunkte gibt es dagegen zur philosophischen Tragik- und Tragödienreflexion von Christoph Menke, Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel (stw 1649), Frankfurt a. M. 2005. 2  Arbogast Schmitt, »Menschliches Fehlen und tragisches Scheitern. Zur Handlungsmotivation im Sophokleischen ›König Ödipus‹«, Rheinisches Museum für Philologie N.F. 131 (1988), 8–30; ders., »Bemerkungen zu Charakter und Schicksal der tragischen Hauptperson in der ›Antigone‹«, Antike und Abendland 34 (1988), 1–16; ders., »Aristoteles und die Moral der Tragödie«, in: Anton Bierl u. Peter von Möllendorff (Hgg.), Orchestra. Drama – Mythos – Bühne. FS Hellmut Flashar, Stuttgart / Leipzig 1994, 331–343; ders., »Wesenszüge der griechischen Tragödie. Schicksal, Schuld, Tragik«, in: Hellmut Flashar (Hg.), Tragödie. Idee und Transformation (Colloquium Rauricum, Bd. 5), Stuttgart / Leipzig 1997, 5–49. 3  Eckard Lefèvre, Die Unfähigkeit, sich zu erkennen: Sophokles’ Tragödien, Leiden / Boston / Köln 2001.

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waren, spielen in ihren Analysen Mitleid (ἔλεος, eleos), Furcht (φόβος, phobos) und die der Tragödie »eigene Lust« (οἰκεία ἡδονή, oikeia hêdonê)4 eine geringere Rolle als der tragische Fehler (ἁμαρτία, hamartia) und das Umschlagen (περιπέτεια, peripeteia) von Glück in Unglück. Auch daran ist methodisch so lange nichts zu beanstanden, wie diese Kategorien angemessen bestimmt und die anderen nicht völlig vernachlässigt werden. Spätestens hier jedoch zeigt sich die hermeneutische Gefahr dieser scheinbar vorsichtigen Methode: Die Interpretation der konkreten Tragödien hängt letztlich von der zutreffenden Interpretation der aristotelischen Poetik ab. Lefèvre, Schmitt und in dessen Gefolge Viviana Cessi5 und Gyburg Radke6 deuten die hamartia als einen durch Leidenschaften bzw. Charaktermängel bedingten Fehler, der vermeidbar sei und für den die jeweilige Figur somit die volle Verantwortung trage. Demnach führe beispielsweise Sophokles’ König Ödipus vor, wie Ödipus aus unkontrolliertem Jähzorn seinen Vater erschlagen hat7 bzw. aus unreflektiert-fixiertem Denken einen Fluch ausstößt, der ihn dann selbst trifft;8 das Unglück hätte jeweils verhindert werden können, wenn Ödipus seine Affekte gezügelt bzw. besser nachgedacht hätte. Eine solche Darstellung eines vermeidbaren Fehlers kann nur zum Ziel haben, den Rezipienten über die gefährlichen Konsequenzen mangelnder Affektkontrolle bzw. fixierten Denkens zu belehren und ihn so zur Vermeidung eigener Fehler zu befähigen, so dass der Tragödie eine praktisch-didaktische Intention zugeschrieben wird. Michael Lurje9 gebührt das Verdienst, die Fragwürdigkeit der Prämissen und Argumente aufgezeigt zu haben, auf denen diese Deutungen beruhen: 1. Sie problematisieren nicht das Verhältnis zwischen der aristotelischen Poetik und den konkreten Tragödien, sondern interpretieren jede Tragödie als Fallbeispiel der aristotelischen Tragödientheorie.10 2. Sie gehen schon Poetik, 1453b11. Cessi, Erkennen und Handeln in der Theorie der Tragischen bei Aristoteles (Beiträge zur klassischen Philologie, Bd. 180), Frankfurt a. M. 1987. 6  Gyburg Radke, Tragik und Metatragik. Euripides’ Bakchen und die moderne Literaturwissenschaft (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte, Bd. 66), Berlin / New York 2003. 7  Eckard Lefèvre, »Oidipus Tyrannos«, in: ders., Die Unfähigkeit, sich zu erkennen, 119–147. 8  Schmitt, »Menschliches Fehlen und tragisches Scheitern«. 9  Michael Lurje, Die Suche nach der Schuld. Sophokles’ Oedipus Rex, Aristoteles’ Poetik und das Tragödienverständnis der Neuzeit (Beiträge zur Altertumskunde, Bd. 209), Leipzig 2004. 10  Vgl. ibid., 255–277. 4  Aristoteles, 5  Viviana



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mit Aristoteles selektiv bis mutwillig um; nur mit Hilfe bestimmter Vorentscheidungen auch bezüglich der aristotelischen Ethiken können sie die hamartia als einen vermeidbaren, charakterbedingten Fehler interpretieren.11 3. Die Schlussfolgerung – oder wohl eher heimliche Voraussetzung –, die Tragödie müsse eine in diesem Sinne didaktische Intention haben, widerspricht nicht nur eklatant Platons Vorwurf gegen die Tragödie, sie führe zum moralischen Verderben der Zuschauer,12 sondern lässt sich auch durch Aristoteles’ Verteidigung der Tragödie in der Poetik nicht stützen.13 Außerdem weist Lurje minutiös nach, dass diese vermeintlich neuen Tragödiendeutungen in ihren Prämissen und Schlussfolgerungen denjenigen der frühen Neuzeit gleichen, was sie nur selten deutlich machen und reflektieren. Sie fallen hinter Forschungspositionen des 19. und 20. Jahrhunderts, die die alten Deutungen mit guten Gründen überwunden haben, zurück, ohne sich mit diesen Gründen ernsthaft auseinanderzusetzen. Für die Tragik-, nicht nur Tragödientheorie ist die hier referierte Diskussion deshalb von Belang, weil die Tragödiendeutungen des 19. und 20. Jahrhunderts von einem Tragikbegriff geprägt sind, der im 19. Jahrhundert, im Deutschen Idealismus, entstanden ist und zu dem die Vorstellungen von schuldloser bzw. unvermeidbarer Schuld sowie der Kollision gleichberechtigter Werte gehören. Das weckt den Verdacht, dass dementsprechende Tragödiendeutungen in die Dramen etwas hineininterpretierten, was erst seit dem 19. Jahrhundert gedacht werden konnte, also anachronistisch seien. Da die Darstellung schuldloser Schuld und moralischer Dilemmata sich nur schwerlich zur praktischen Didaxe eignet, könnten, so der Verdacht, derartige Vorstellungen nur der neuzeitlichen Autonomie­ ästhetik entspringen. Das ist denn auch die Stoßrichtung der genannten ›neueren‹ Interpretationen: Sie bestreiten, dass die neuzeitlichen Tragikkonzepte auf die antiken Tragödien anwendbar seien, und versuchen, den Begriff der Tragik zu historisieren, was schon deswegen schwierig ist, weil die Antike keinen in diesem Sinne handlungstheoretischen Tragikbegriff besaß und dieser erst durch die Interpreten konstruiert werden muss. Die Gefahr der Anachronizität ist dadurch nicht gebannt.14 11  Vgl.

ibid., v. a. 334–336, 374–383. Politeia, X, 605c–608b; vgl. dazu Lurje, Die Suche nach der Schuld, 29,

12  Platon,

272, 400. 13  Vgl. ibid., 387. 14  Schmitts Tragikverständnis ist merkwürdig zwiegespalten: Einerseits betont er für die griechischen Tragödien insgesamt zu Recht, dass sie den Menschen weder in absoluter Freiheit noch in absoluter Determination vorführten; dargestellt werde

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Die Grundfrage ist also: Kann und muss der Tragikbegriff historisiert werden? Peter Szondi hat 1961 die neuzeitlichen Tragikkonzepte von Schelling bis Scheler gesichtet und eine ihnen allen gemeinsame dialektische Struktur herausgearbeitet: Das Tragische sei ein Modus, eine bestimmte Weise drohender oder vollzogener Vernichtung, und zwar die dialektische. Nur der Untergang ist tragisch, der aus der Einheit der Gegensätze, aus dem Umschlag des Einen in sein Gegenteil, aus der Selbstentzweiung erfolgt. Aber tragisch ist auch nur der Untergang von etwas, das nicht untergehen darf, nach dessen Entfernen die Wunde sich nicht schließt. Denn der tragische Widerspruch darf nicht aufgehoben sein in einer übergeordneten – sei’s immanenten, sei’s transzendenten – Sphäre.15

Illustrieren lässt sich das – und Szondi tut das auch – wiederum an Ödipus: Er bewirkt sein Unglück (Ermordung des Vaters, Heirat der Mutter) gerade dadurch, dass er es zu vermeiden sucht (indem er nach dem Orakelspruch seine vermeintlichen Eltern verlässt), bzw. – auf die Handlung von Sophokles’ Tragödie bezogen – er kann als König seine Stadt nur dadurch von ihrem Unglück (der Pest) befreien, dass er sie von ihm, dem Laios-Mörder, selbst befreit; die ersehnte Selbsterkenntnis fällt bei ihm mit der Selbstvernichtung zusammen.16 Wenn man wie Szondi Tragik als Handlungsstruktur beschreibt, muss man die Frage nach der Historisierbarkeit des Tragikbegriffs grundsätz­ licher stellen: Kann man narrative Strukturen historisieren? Eine Struktur – etwa die Ursache-Wirkungs-Beziehung, der Gegensatz, die Wiederholung usw. – ist entweder auffindbar oder eben nicht; historisieren kann man nicht die Struktur als solche, sondern nur ihre jeweilige historische Semantisierung und Rezeption. Demnach müsste sich prinzipiell die genannte dialektische Struktur in allen Zeiten finden lassen können. Dass sie erst seit dem 19. Jahrhundert beschrieben und als Tragik bezeichnet wurde, bedeutet demnach nicht, dass sie vorher nicht denk- und darstellbar gewesen wäre. Bernd Seidensticker hat sogar nachgewiesen, dass die von Szon»vielmehr der endliche Mensch, der in größerer oder geringerer Abhängigkeit von einer Vielzahl von ihm nicht beeinflußbarer Faktoren die für das Erreichen einer gut und glücklich endenden Handlung nötigen Mittel ergreifen oder verfehlen kann« (Schmitt, »Wesenszüge der griechischen Tragödie«, 44); andererseits versucht er in seinen Einzelinterpretationen zu zeigen, dass Fehlhandeln durch umsichtiges Nachdenken jeweils hätte vermieden werden können, und vernachlässigt zu diesem Zweck die vom Menschen »nicht beeinflußbaren Faktoren«, so dass er die Tragödien mit einem platonisch-stoisch-neuzeitlichen Vernunft-Optimismus interpretiert. 15  Peter Szondi, »Versuch über das Tragische«, in: ders., Schriften (stw 2024), Bd. 1, mit einem Nachwort von Christoph König, Berlin 2011, 149–260, hier 209. 16  Ibid., 213–218.



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di herausgearbeitete dialektische Struktur dem entspricht, was Aristoteles in seiner Poetik als Peripetie, als überraschenden und doch folgerichtigen Umschlag vom Glück ins Unglück, beschreibt und als ein für die wirkungsvollste Tragödie notwendiges Handlungselement hervorhebt.17 Die Anhänger eines undialektischen Tragikbegriffs können sich in ihrer Orientierung an Aristoteles nicht darauf berufen, dass für diesen die genannte dialektische Struktur noch nicht denkbar gewesen sei. Wenn man die Struktur selbst nicht historisieren kann, aber partout beweisen möchte, dass sie für die Interpretation antiker Tragödien unangemessen ist, muss man die literaturwissenschaftliche Methode des Strukturalismus überhaupt ablehnen, wie es die Schmitt-Schülerin Gyburg Radke in ihrer Monographie Tragik und Metatragik tut, wo sie generell alle Methoden, die nicht nach der Autorintention und der Moral eines Werkes fragen, als für antike Texte unangemessen zurückweist. Die Intention des Autors Euripides, die sie aus ihrem Untersuchungsgegenstand, den Bakchen, herauslesen möchte, entspricht kaum zufällig genau der Tragödientheorie des Aristoteles, die wiederum – ebenso kaum zufällig – ganz derjenigen ihres Lehrers Arbogast Schmitt entspricht. Schon im Ansatz wird also die Notwendigkeit moderner, nicht-autor-orientierter Methoden ex negativo bestätigt. Weil Radke in den Bakchen nichts anderes als Schmitts Intentionen sucht, besteht ihre Interpretation darin, den tragischen Figuren ihre vermeidbaren, charakterbedingten Fehler (»Fixierung«) aufzurechnen. Dass, wie zu erwarten, die Tragödie eine erzieherische Wirkung (»Bildungswert«18) haben müsse, begründet sie damit, dass sie andernfalls nicht »die literarische Qualität ›ernster‹ Literatur im Unterschied zu seichter Unterhaltungsware«19 besäße. Nirgends zeigt sich deutlicher als hier, wie anachronistisch gerade dieser Ansatz ist: als ob mit der groben, neuzeitlichen Dichotomie E- vs. U-Literatur einem so hochliterarischen wie populären, außerdem religiösen und politischen Phänomen wie der griechischen Tragödie auch nur annähernd beizukommen wäre! Vor allem wird an dieser Aussage deutlich, was für ein Literaturverständnis im Hintergrund steht: Die Qualität eines literarischen Werkes bemesse sich danach, ob es eine praktische Lehre zu vermitteln vermag. 17  Bernd Seidensticker, »Peripetie und tragische Dialektik. Aristoteles, Szondi und die griechische Tragödie«, in: ders., Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen. Studien zum antiken Drama, hg. Jens Holzhausen, München / Leipzig 2005, 279–308. 18  Radke, Tragik und Metatragik, 212. Gemeint ist damit, dass sich aus den Fehlern der Figuren »Konsequenzen für das eigene Denken oder Handeln ableiten lassen« können (212). 19  Ibid., 215.

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Das ist symptomatisch für den Ansatz der ›neueren‹ Tragödiendeutungen insgesamt: Im Hintergrund steht ein Verständnis von Literatur und Literaturwissenschaft, das man nur als reaktionär20 bezeichnen kann. Das wäre nicht weiter beunruhigend, wenn die Thesen nicht innerhalb der (zumindest deutschsprachigen) Gräzistik erstaunlich große Zustimmung und Verbreitung gefunden hätten21 – jüngst erschien sogar eine von Arbogast Schmitt umfangreich kommentierte Übersetzung der Poetik,22 die nicht zuletzt Nicht-Gräzisten bevorzugt konsultieren werden – und wenn sie nicht beginnen würden, die Fächergrenzen zu überschreiten: Zusammen mit der germanistischen Mediävistin Regina Toepfer hat Gyburg Radke, jetzt Uhlmann, zwei interdisziplinäre Tagungen veranstaltet, in denen spezifisch vormoderne Tragikkonzepte in Abgrenzung von neuzeitlichen erarbeitet werden sollten.23 II. Regina Toepfer selbst hat mit ihrer Habilitationsschrift Höfische Tragik. Motivierungsformen des Unglücks in mittelalterlichen Erzählungen, die 2013 erschienen ist,24 die seit längerem stillgestellte Tragikdiskussion innerhalb der Mediävistik neu angestoßen; ihr Versuch soll im Folgenden ausführlicher behandelt werden. Sie verfolgt dabei eine zweifache Inten­ tion: Erstens will sie das in der Forschung herrschende Vorurteil, im 20  Dementsprechend erkennt Stephen Halliwell in Radkes Studie eine »avowedly reactionary agenda« (vgl. seine Rezension in: Gnomon 79 [2007], 481–484, hier 481). 21  Vgl. dazu Lurje, Die Suche nach der Schuld, 6–12. 22  Aristoteles, Poetik, übers. u. erl. Arbogast Schmitt (Werke in dt. Übersetzung, begr. Ernst Grumach, hg. Hellmut Flashar, Bd. 5), Berlin 2008, 2., durchges. u. erg. Aufl. Berlin 2011. Hier entfaltet Schmitt ausführlich seine eigenwilligen Deutungen von hamartia (450–476) und katharsis (333–348, 476–510), und er verteidigt sein moralistisches Literaturverständnis (440–443), wobei er selbst darauf reflektiert, dass seine Methode, den tragischen Figuren ihre Schuld nachzuweisen, aus der Perspektive eines modernen Literaturverständnisses leicht wie »das kleingeistige Denken eines bildungsbürgerlichen Philisters« (441) erscheinen mag. 23  ›Tragik vor der Moderne‹, FU Berlin, 17.–19. Februar 2010, und ›Tragik und Minne‹, Universität Frankfurt a. M., 16.–18. Februar 2012. Die Sammelbände zu den beiden Tagungen sind zum Zeitpunkt der Abfassung des vorliegenden Aufsatzes noch nicht erschienen. Zu den Konzepten vgl. http://userpage.fu-berlin.de / gr1 / tra gikvordermoderne_de.html bzw. http://userpage.fu-berlin.de / gr1 / tragikundminne_ de.html (letzter Zugriff: 13.2.2014). 24  Regina Toepfer, Höfische Tragik. Motivierungsformen des Unglücks in mittelalterlichen Erzählungen (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 144), Berlin / Boston 2013.



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Mittelalter könne es keine Tragik geben,25 widerlegen; zweitens möchte sie den Tragikbegriff historisieren. Die zweite Intention impliziert, dass die neuzeitlichen Tragikkonzepte für das Mittelalter unangemessen seien, und das – so viel sei vorweggenommen – sucht sie durch ihre Textanalysen auch zu beweisen: Dialektische Strukturen von schuldloser Schuld und unlösbaren Dilemmata gebe es im Mittelalter nicht. Damit bestätigt sie jedoch letztlich das herrschende Vorurteil vom untragischen Mittelalter, denn das bezog sich stets allein auf den dialektischen Tragikbegriff, und so ist ihre erste Intention weniger provokativ, als sie zunächst klingt. Ziel der Arbeit ist es nicht, die als Tragik bekannte dialektische Struktur in mittelalterlichen Texten nachzuweisen, sondern die Texte möglichst ›un­ dialektisch‹ zu lesen und stattdessen den Tragikbegriff neu zu definieren. Diese konzeptionelle Widersprüchlichkeit führt immer wieder zu der wahrhaft ›tragischen‹ Situation, dass man mit Toepfer gegen Toepfer argumentieren muss. Die Doppelausrichtung schlägt sich in der Neudefinition des Tragikkonzepts nieder: Da Toepfer Radkes Aversion gegen den Strukturalismus nicht teilt, entwirft sie mit Hilfe von Lotmans Raumsemantik die Struktur einer tragischen Handlung, wonach eine Figur die Grenze von einem Feld des Glücks zu einem Feld des Unglücks hin überschreitet (55–60). Hierbei ist die Motivation dieser Grenzüberschreitung entscheidend: Sie kann kausal sein, d. h. in der Figur selbst liegen, oder final, d. h. durch eine übergeordnete textinterne Instanz (z. B. Gott) gesteuert sein (61–63). Der große Wert eines solchen narratologisch-strukturalistischen Vorgehens liegt darin, dass es von den geistesgeschichtlich-weltanschaulich begründeten Argumenten der Tragikskeptiker nicht getroffen werden kann. Damit erfüllt es mustergültig die erste Intention der Studie. Die zweite, der ersten widerstreitende Intention, die der Historisierung, löst Toepfer dadurch ein, dass sie das strukturalistische Grundgerüst mit historischen Konzepten anreichert, und aufgrund des widersprüchlichen Ansatzes muss es hier zu Schwierigkeiten kommen. Das hegelsche Tragikkonzept, als Vertreter der besagten dialektischen Struktur, verortet Toepfer bei der finalen Motivation (77–82), was nicht falsch ist, aber auch nicht ganz richtig sein kann, weil das neuzeitliche Tragikkonzept von schuldloser Schuld – allein dadurch, dass Schuld dazugehört – immer auch von einer kausal in der Figur angelegten Motivation ausgeht. Toepfer sieht das zwar, argumentiert aber dafür, dass in Hegels Konzept die kausale der 25  Die geistes- und forschungsgeschichtlichen Hintergründe dieses Vorurteils stellt Toepfer in der Einleitung und in der theoretischen Grundlegung treffend dar (1–16, 22–45).

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finalen Motivation untergeordnet würde (81). Damit liest sie es schwächer, als es für einen anspruchsvollen neuzeitlichen Tragikbegriff gelesen werden könnte und müsste. Letztlich löst sie seine charakteristische Dialektik auf, denn die besteht gerade in der prekären, gleichgewichtigen Verknüpfung von kausaler und finaler Motivation, im Ineinander von Schuld und Unschuld. Eine hierarchisierende oder gar ausschließende26 Aufteilung von kausaler und finaler Motivation kann die als Tragik bezeichnete dialektische Struktur notwendig nicht erfassen. Sowohl Toepfer als auch Radke tendieren generell dazu, den Aspekt der Schuldlosigkeit in der Formel ›schuldlose Schuld‹ zu stark zu gewichten, so dass diese gleichbedeutend mit ›Unschuld‹ wird.27 Da die dialektische Struktur bei der Aufteilung in kausal und final motivierte Tragikkonzepte nicht mehr denkbar ist, findet sie sich folgerichtig in keiner der vier beschriebenen Konzepte, obwohl sie etwa, wie gesagt, in Aristoteles’ Peripetie bereits enthalten ist. Toepfer verortet Aristoteles bei der kausalen Motivation (64–67) – wiederum nicht falsch, weil ja laut Aristoteles die Ursache für den Umschlag vom Glück ins Unglück mit der hamartia in der Figur selbst liegt. Leider folgt sie aber beim Verständnis der hamartia ganz den Thesen Arbogast Schmitts, so dass hamartia zu einem moralischen Versagen wird: Weil die Figuren »ihre intentionale Handlungsweise auf eine augenblickliche Lust richten, wird ihr freier Blick eingeschränkt. Ihr Denken fixiert sich auf einen einzelnen Aspekt, so dass sie von ihrer generellen Verhaltenstendenz und von den verbind26  Toepfer gesteht zwar ein, dass sich »in den theoretischen Abhandlungen, noch vielmehr aber bei der literarischen Gestaltung […] verschiedene Motivierungsarten überlagern« können (83), schließt das aber durch ihre Aufteilung in kausale und finale Tragikkonzepte faktisch aus und zeigt solche Überlagerungen auch nicht in den Textbeispielen auf. 27  Vgl. Radke, Tragik und Metatragik, 77: »Es ist eine zumindest durch einige Indizien im Text abstützbare Hypothese, die Agaue-Handlung nicht als ein absolut von außen determiniertes Geschehen und die Tragik der Agaue nicht als ein ›schuldloses Schuldigwerden‹ zu begreifen, sondern Agaue an ihrem Handeln und Geschick einen gewissen, wenn auch stark eingeschränkten Anteil zuzuweisen.« Vgl. Toepfer, Höfische Tragik, 200: »in der deutschen Literatur- und Philosophiegeschichte seit 1800 [gilt] die sittliche Schuldlosigkeit als Voraussetzung für Tragik.« Ibid., 113: »Im Unterschied zur Philosophie des Tragischen kennen die antiken Theorien sehr wohl einen tragischen Helden, der durch eigenes Verschulden ins Unglück gerät […].« Vgl. auch Schmitt, Kommentar zur Poetik, 123: »[Der] tragische Fehler (Hamartia) hat mit der in der Neuzeit verbreiteten Vorstellung einer schuldlosen Schuld nichts zu tun. Eine solche schuldlose oder nur objektive Schuld gibt es nur, wenn der Handelnde keine wirkliche Wahl hatte. Im Konflikt zwischen ›Freiheit und Notwendigkeit‹ muss er vielmehr durch jede Entscheidung einen Fehler machen; er ist also nur frei, der Notwendigkeit zu folgen, nicht aber, das Unglück zu vermeiden.«



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lichen Werten abweichen.« (66 f.) Beispiele dafür seien »Antigones Hybris, soziale Regeln nicht zu achten, die sie vor ihrem Tod beweint, Ödipus’ grundlose Verfluchung des Mörders von Laios, mit der er letztlich sich selbst trifft, und Hektors Entscheidung, sich Achill im Kampf zu stellen, obwohl er um dessen Unbesiegbarkeit weiß.« (67) Dies sind ideale Beispiele für tragische Figuren, aber denkbar schlechte für das hier vorgestellte Verständnis von Aristoteles’ Tragikkonzept: Sie alle weichen in ihrem Handeln gerade nicht von ihrer Ausrichtung auf das Gute und von ihren Werten ab: Antigone achtet Kreons Regeln deshalb nicht, weil diese den verbindlichen göttlichen widersprechen; Ödipus verflucht als verantwortliches und anteilnehmendes Oberhaupt der Stadt denjenigen, der dieser die Pest verursacht hat;28 Hektor muss als Trojas stärkster Kämpfer seine Stadt verteidigen und außerdem für die Tötung des Patroklos die Verantwortung übernehmen. Man stelle sich vor, sie würden ihre hamartia vermeiden: Antigone würde zugunsten eines Tyrannen die Götter missachten; Ödipus ließe seine Stadt verderben; Hektor verlöre seine Kriegerehre. Bei keiner Figur lässt sich die Hingabe an irgendeine Lust oder eine irrationale Fixierung erkennen. Da diese Beispiele von Schmitt stammen, werden die abstrusen Konsequenzen seines hamartia-Verständnisses unmittelbar offensichtlich. Nur in einer pragmatistisch-opportunistischen Perspektive können die genannten Handlungen als vermeidbare Verirrungen erscheinen. Die Figuren sind zwar nicht von außen gezwungen oder determiniert, so zu handeln, wie sie handeln; handelten sie aber nicht so, gäben sie die Werte preis, für die sie stehen.29 28  Mal abgesehen davon, dass es selbstverständlich nicht der Fluch ist, der die Katastrophe in Sophokles’ Tragödie auslöst; vielmehr spiegelt er nur die eigentlich entscheidende Vorgeschichte der Dramenhandlung (Vatermord und Mutterinzest). Wenn Ödipus den Laios-Mörder nicht nur sucht, sondern gleich verflucht, dann nicht, weil sich darin diejenigen charakterlichen Fehltendenzen zeigten, die ihn auch zu Vatermord und Mutterinzest gebracht hätten (vgl. Schmitt, »Menschliches Fehlen und tragisches Scheitern«, 14), sondern weil der Fluch in tragischer Ironie die besonderen Umstände der Laios-Ermordung widerspiegelt: Ödipus muss sich später nicht nur als Königs-, sondern als Vatermörder erkennen. Die unwissentliche Verfluchung der eigenen Existenz entspricht dem unwissentlichen Mord an demjenigen, dem er die eigene Existenz zu verdanken hat. Der Rezipient weiß bei Ödipus’ Fluchrede, dass der Fluch nur allzu angemessen ist, und dürfte angesichts der tragischen Ironie eher schaudern als charakterliche Fehltendenzen aufrechnen. Zur tragischen Ironie gerade im König Ödipus und der darauf basierenden tragischen Ästhetik vgl. Menke, Die Gegenwart der Tragödie, 63–65. 29  Dass Toepfer von Schmitt auch die Deutung der griechischen Tragödie als Negativexempel übernimmt, zeigt sich an folgender Aussage: »Im Unterschied zu den antiken Tragödien begnügt sich der mittelalterliche Artusroman freilich nicht damit, ein abschreckendes Beispiel zu geben und die verheerenden Folgen eines Fehlverhal-

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Das zweite kausale Tragikkonzept entwickelt Toepfer aus Senecas philosophischem Dialog De ira (72–77), der an sich keinerlei poetologische oder tragiktheoretische Fragestellungen behandelt, sondern seiner stoizistischen Ausrichtung gemäß zeigt, dass Affekte letztlich in der Verfügungsgewalt des Menschen stehen, so dass ihre verderblichen Auswirkungen auch vom Menschen verantwortet werden müssen. Dieses Tragikkonzept entspricht demjenigen, das Lefèvre aus Aristoteles herauslesen möchte,30 und es scheint nur zu gut vereinbar mit Schmitts oben genanntem Verständnis von hamartia als einer Hingabe an eine »augenblickliche Lust«, einer punktuellen Unbeherrschtheit, so dass die beiden kausalen Tragikkonzepte letztlich auf dasselbe hinauslaufen: den durch richtigen Vernunftgebrauch vermeidbaren Fehler. Senecas Tragödien selbst werden von Toepfer nicht näher berücksichtigt.31 Das zweite finale Tragikkonzept neben dem hegelschen leitet Toepfer aus Boethius’ De consolatione philosophiae ab (72–77), wonach Unglück aus menschlicher Perspektive dem willkürlichen Walten der Fortuna, aus göttlicher Perspektive aber der Gerechtigkeit Gottes folgt. Damit ist ausgeschlossen, dass Unglück durch gerechtes Handeln verursacht werden könnte: »Das Unglück eines Gerechten könne aus göttlicher Perspektive dazu dienen, jemanden zu prüfen, ihn nicht träge werden zu lassen, seine Geduld zu stärken und ihn zur Tugend zu führen.« (75) Unglück ist damit zwar auch für den Gerechten unvermeidbar; Schuld aber kann und soll vermieden werden. Schuldlose oder unvermeidliche Schuld gerät auch hier nicht in den Blick. Wenn ein Gerechter leidet, dann immer unschuldig, denn alles andere würde Gottes Gerechtigkeit in Frage stellen. Es ergibt sich, dass die beiden kausalen Tragikkonzepte sich von den beiden finalen darin unterscheiden, dass erstere Unglück für vermeidbar, letztere für unvermeidbar erklären. Die Vermeidbarkeit von Unglück ist also das entscheidende Kriterium. Vermeidbarkeit wird mit kausaler, Unvermeidbarkeit mit finaler Handlungsmotivation verknüpft. Das heißt, alles Unglück, das durch eine Figur bewirkt wird, gilt als vermeidbar. Fälle, in denen eine Figur Unglück verursacht, weil ihr Einsicht in alle Handlungsbedingungen unmöglich war, weil ihre eigentlich positive Abtens darzustellen.« (123) Bei aller mediävistischen Liebe zum Artusroman ist es doch hart, die griechische Tragödie derart abgewertet zu sehen. 30  Lefèvre, Die Unfähigkeit, sich zu erkennen, 6–10. 31  Bemerkenswerterweise gerät etwa Ödipus in Senecas Tragödie nicht aus eigenem Fehlhandeln, sondern aufgrund des determinierenden fatum ins Unglück, so dass Seneca wegen der stoischen Prädestinationslehre genau so gut unter die finalen Tragikkonzepte eingeordnet werden könnte.



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sicht ins Gegenteil umschlägt oder weil sie in der Wahl zwischen zwei Übeln ein anderes oder größeres Unglück zu verhindern sucht, sind mit dieser Aufteilung in kausal-vermeidbare und final-unvermeidbare Fehlhandlungen nicht erfassbar. Nicht zufällig sind es genau solche Fälle, für die der dialektische Tragikbegriff üblicherweise verwendet wird. Wenn bei der Textanalyse keine in diesem Sinne tragischen Handlungen erkennbar werden, muss das nicht an den Texten liegen; vielmehr ist das Analyse­ instrumentarium so voreingestellt, dass es die dialektische Struktur nicht erkennen kann. Eingeteilt sind die Textanalysen in die Großkapitel ›Tragische Schuld‹, ›Tragischer Konflikt‹ und ›Tragische Liebe‹. Beispiele für ›Tragische Schuld‹ sind Erec, Parzival und Kriemhild. Methodisch geht Toepfer so vor, dass sie von einer kausal motivierten Schuld immer dann spricht, wenn eine Figur ihr vorheriges Handeln bereut und / oder eine andere Figur oder der Erzähler ihr Handeln tadelt. Dies ist bei allen drei Figuren der Fall, so dass das jeweilige Unglück kausal durch sie selbst motiviert sei: Ihre Schuld liege, der Schmittschen Diktion gemäß, in einer je bestimmten Form von »Fixierung«: Erecs Krise resultiere daraus, dass er aufgrund seiner Fixierung auf minne seine Reflexionsfähigkeit vermissen lasse (114–116); daraufhin werde er an Enite schuldig, indem »er sich nur auf seine Wut konzentriert« (117). Beide Fehler hätten sich vermeiden lassen, wenn Erec besonnener und rationaler gehandelt hätte. Ähnlich bei Parzival: Dieser verursache seine Sünden (den Tod seiner Mutter und Ithers, das Frageversäumnis) durch seine vermeidbare Fixierung aufs Rittertum (152–160). Kriemhild verursache Siegfrieds Ermordung dadurch, dass sie den Streit mit Brünhild provoziere und schüre (189) und Siegfrieds verwundbare Stelle an Hagen preisgibt; später sei sie die »Initiatorin und Verantwortliche des kollektiven Untergangs« (198), indem sie sich auf ihr Rachebedürfnis fixiere und sich ganz dem Zorn-Affekt hingebe. Toepfer versucht, ihre Interpretationen durch einen Blick auf die mittelalterliche theologische Diskussion über Schuld und Sünde zu stützen (199–210), derzufolge es die Vorstellung einer unvermeidlichen oder schuldlosen Schuld im Mittelalter nicht gegeben habe – womit sie die Meinung derjenigen wiederholt und fortschreibt, die dem Mittelalter wegen seines christlichen Weltbilds alle Tragikfähigkeit absprechen, und deren Prämisse übernimmt, in der Literatur könne nichts anderes gedacht werden als in theologischen Texten, so dass literarische Texte letztlich nur als Fallbeispiele theologischer Normen dienten. Indem Toepfer diese Ausführungen hinter ihre Textanalysen stellt, vermeidet sie den Eindruck, sie setze lediglich den von ihr zu Recht kritisierten »metaphysischen Vorbehalt der Forschung« (42) fort; faktisch tut sie es jedoch, und zwar mit denselben

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Argumenten wie die Tragikskeptiker. Das läuft offensichtlich der ersten Intention der Studie zuwider. Recht hat Toepfer mit der Herausarbeitung der kausalen Motivationen bei Erec, Parzival und Kriemhild – jedoch ist damit nichts über eine eventuelle schuldlose oder unvermeidliche Schuld ausgesagt, da diese, eben weil sie Schuld ist, stets eine kausale Motivation enthält. Deshalb sind die Interpretationen nicht von vornherein verfehlt, bleiben aber unzureichend und nur an der Handlungsoberfläche. Denn wichtiger als die Frage, ob sich eine Figur auf etwas fixiert, ist die Frage, warum sie es tut, also die Frage nach der Motivation hinter der Motivation. Es lässt sich nicht bestreiten, dass Erec in seiner Krise auf die minne fixiert ist. Aus der Tatsache, dass er zuvor als vorbildlicher, besonnener, affektkontrollierter Ritter dargestellt wurde, leitet Toepfer die volle Schuldfähigkeit ab: Er könnte sich zusammenreißen, wenn er nur wollte. Umgekehrt könnte man jedoch genauso gut sagen: Hieran zeigt sich die übergroße Macht der minne, dass sie selbst den Besonnensten überwältigt – ein Deutungsmuster, das Toepfer selbst im Kapitel über die ›Tra­ gische Liebe‹ anwendet.32 Warum soll es hier unangebracht sein?33 Mit denjenigen Forschungspositionen, die im Erec-Roman ein prinzipiell aporetisches Verhältnis zwischen minne und êre verhandelt sehen und damit dem ›modernen‹ Tragikbegriff nahekommen,34 setzt sich Toepfer nicht auseinander.35 Für die Frage, warum Parzival so sehr auf das Rittertum fixiert ist, muss sein art, seine Abstammung, berücksichtigt werden. Toepfer räumt dies eher abwehrend ein: »Obwohl seine Taten aufgrund seiner Abstammung und Erziehung verständlich sind, handelt es sich dennoch um große Feh32  Vgl. z. B. 431 bezüglich der als besonders verständig gezeichneten und dennoch gegenüber der Liebe machtlosen Medea bei Konrad von Würzburg. Hier räumt ­Toepfer auch ein, »dass die Gefahr eines unglücklichen Ausgangs aufgrund einer dialektischen Liebe potentiell auch in den Artusromanen angelegt ist« (443). 33  Als übermächtig und quälend für Erec und Enite wird die Liebe durchaus dargestellt, noch vor der Hochzeit: diu Minne rîchsete under in  /  und vuocte in grôzen ungemach (Hartmann von Aue, Erec, hg. Manfred Günter Scholz, übers. Susanne Held [Bibliothek des Mittelalters, Bd. 5], Frankfurt a. M. 2004, v. 1859 f.), was ­Toepfer auch zitiert (99). 34  Vgl. z. B. Walter Haug, »Für eine Ästhetik des Widerspruchs«, in: ders., Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, 172–184, hier 179 f. 35  Den mutmaßlichen Grund dafür liefert erst das Kapitel über den ›Tragischen Konflikt‹, demzufolge es aporetische Handlungsalternativen im Mittelalter nicht geben könne.



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ler.« (157) Warum »dennoch«? Warum sollten die Fehler dadurch weniger groß sein? Wenn man betont, dass seine Fehler durch seine Abstammung bedingt sind, spricht man ihm nicht ab, sie begangen zu haben; die Handlungsmotivation wird lediglich komplexer. Gerade aus mittelalterlicher Sicht ist der art ein wesentlicher Faktor, und für die Parzival-Figur ist es entscheidend, dass in ihr die Gralsdynastie und die ritterliche MazadanDynastie zusammenlaufen. Indem Herzeloyde ihren Sohn von seinem ritterlichen Erbteil abzuschneiden versucht, konstituiert sie einen Gegensatz zwischen den beiden Abstammungen, so dass Parzival, immer wenn er der einen folgt, an der anderen schuldig werden muss, und da die Grenze in ihm selbst verläuft, wird er stets auch an sich selbst schuldig. Die sich daraus ergebenden Fehler sind kausal motiviert und gleichzeitig nicht vermeidbar. Wie hätte er den Tod der Mutter vermeiden können, ohne sich selbst unglücklich zu machen, indem er sein ritterliches Streben unterdrückte? Woher hätte er wissen sollen, dass auf der Gralsburg gerade ein als unritterlich ausgewiesenes Verhalten gefordert war? Die Tötung Ithers wird ihm nur deshalb als Sünde angerechnet, weil er mit ihm verwandt ist;36 auch das konnte er nicht wissen. Gerade die Zwiegespaltenheit von Parzivals art beweist, dass die Alternative Freiheit oder Determination viel zu undifferenziert ist: Parzival ist in seinem Handeln nicht völlig frei, weil er durch seinen art bestimmt ist; da sein art aber zwiegespalten ist, enthält er immer bereits eine Handlungsalternative. Parzival ist nicht gezwungen, Ritter zu werden, da er auch mit der Gralsfamilie verwandt ist; zugleich würde er seinem art zuwiderhandeln, wenn er seinem ritterlichen Erbteil nicht folgte. Solange ein Gegensatz zwischen Grals- und Ritterwelt besteht, sind für ihn Fehlhandeln und Unglück unvermeidbar. Parzival ist also nicht absolut determiniert, aber auch nicht absolut frei. Der art-Aspekt impliziert gerade nach mittelalterlichem Verständnis eine gewisse Determination oder Finalität, so dass Parzivals Handeln sowohl kausal als auch final motiviert ist. Die nur kausale Motivation greift bei einer Figur wie Parzival zu kurz. Diejenigen Interpretationen, die im Parzival schuldlose oder unvermeidbare Schuld verhandelt sehen (vgl. 142–152), können sich zudem auf die Vorstellung vom sünden wagen37 in Trevrizents theologischen Erklä36  Da in Chrétiens de Troyes Conte du Graal keine Verwandtschaft zwischen Perceval und dem Roten Ritter besteht, gilt Percevals Tötung des Roten Ritters nicht als Sünde. Vgl. Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach, 8., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart / Weimar 2004, 128. 37  Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausg. Karl Lachmanns rev. u. komm. Eberhard Nellmann, übertr. Dieter Kühn, 2 Bde. (Bibliothek des Mittelalters, Bde. 8,1 / 2), Frankfurt a. M. 1994, hier Bd. 1, 465,5.

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rungen berufen, demzufolge alle Menschen durch ihre Verwandtschaft mit Adam der Sünde verfallen sind, aus der sie nur die Verwandtschaft mit Gott retten kann. Toepfer geht auf diese Vorstellung nicht ein; zumindest müsste begründet werden, warum sie für das Verständnis von Parzivals Schuld keine Relevanz haben soll. Auch bei Kriemhild greift man mit einer bloß kausalen Motivation zu kurz: Die Behauptung, dass Kriemhild den Streit mit Brünhild provoziert und schürt, lässt sich schon dadurch widerlegen, dass sie nach Brünhilds ersten beiden Erwiderungen kompromissbereit ist und Siegfried und Gunther für gleichrangig erklärt.38 Brünhild ist es, die sich damit nicht zufrieden geben kann, weil ihr von Siegfried selbst etwas anderes gesagt wurde. Dass es überhaupt zum Streit kommt, ist nicht durch Kriemhild verursacht, sondern durch Siegfrieds und Gunthers Betrug an Brünhild, der im Streit lediglich ans Licht kommt. Eine einzige treibende Kraft hinter dem Streit gibt es nicht: Brünhild hat Siegfried und Kriemhild nach Worms eingeladen, um die Widersprüchlichkeiten zu klären; Kriemhild eröffnet das Gespräch mit einer Tatsache, die seit der 3. Aventiure bekannt ist, aber absichtlich verheimlicht wurde: dass Siegfried der allen Überlegene ist. Hier wäre der Ansatzpunkt für Tragik: Siegfried bringt sich selbst in Schuld (Betrug an Brünhild), weil er nur dadurch Kriemhild gewinnen kann. Zudem lässt sich Siegfried wie Parzival als eine gespaltene Figur beschreiben: Einerseits vertritt er in der 3. Aventiure das Recht des Stärkeren auf die Herrschaft (und damit einhergehend auf die Braut), für das auch Brünhild mit ihrer Freierprobe steht; andererseits ist er bereit, Gunther um Kriemhilds willen zu dienen (explizit z. B. Str. 388), sich im Sinne höfischer zuht zurückzunehmen.39 Wenn er Brünhild betrügt, betrügt er also sich selbst, was sich folgerichtig dahingehend auswirkt, dass er sich selbst um Kriemhilds willen ins Unglück bringt, und auch dies ist folgerichtig, weil der allen Überlegene von niemand anderem besiegt werden kann als von sich selbst. Überdeutlich wird herausgestellt, dass es Siegfrieds eigene zuht ist, die ihn zu Fall bringt,40 und die hat er sich um Kriemhilds willen, aufgrund der Hohen Minne selbst auferlegt. Die Kata38  Das Nibelungenlied, nach der Ausg. v. Karl Bartsch hg. Helmut de Boor, 22., rev. u. v. Roswitha Wisniewski erg. Aufl., Wiesbaden 1996, 819,4. 39  Vgl. Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, 399–413; ders., Das Nibelungenlied (Klassiker-Lektüren 5), 3., neu bearb. u. erw. Aufl., Berlin 2009, 83–87. 40  Dass Siegfried überhaupt hinterrücks getötet werden kann, liegt nur daran, dass er sich zurückgehalten hat, aus der Quelle zu trinken, bevor Hagen und Gunther diese erreicht haben, und Gunther den Vortritt lässt. Der Erzähler bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: Do engalt er sîner zühte. (980,1)



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strophe des ersten Nibelungenlied-Teils wird nicht durch Kriemhild verursacht, sondern ergibt sich aus dem in der 3. Aventiure aufgeworfenen Konflikt zwischen dem Recht des Stärkeren und der höfischen zuht, zwei Modellen gesellschaftlicher Ordnung, die in der Siegfried-Figur aufeinanderprallen. Insofern ist nicht Kriemhild, sondern Siegfried die für den ersten Teil entscheidende, zudem im ›modernen‹ Sinne tragische Figur. Kriemhild verursacht Siegfrieds Tod höchstens auf der Handlungsoberfläche. Den Gedanken, dass der Stärkste nur durch sich selbst zu Fall gebracht werden kann, hält das Nibelungenlied in erstaunlicher Konsequenz durch. Alles weitere Handeln Kriemhilds – vom Verrat von Siegfrieds verwundbarer Stelle bis zum Mord an Hagen – kann nicht allein aus Kriemhilds Macht- oder Rachestreben, sondern nur im Zusammenspiel mit Hagen erklärt werden: Durch den Geheimnisverrat macht Hagen sie zur Mitschuldigen an Siegfrieds Tod; wie Toepfer richtig festhält (192), ist diese Mitschuld der Grund für die Maßlosigkeit von Kriemhilds Trauer (1112,1 f.), damit aber auch für die Maßlosigkeit ihrer Rache als der Wiedergutmachung ihres maßlosen Leids. Hagen ist es, der sie als handelndes und damit schuldfähiges Subjekt überhaupt erst ins Spiel bringt. Dass Kriemhilds eigentlich nur auf Hagen zielende Rache außer Kontrolle gerät und alle mit sich reißt, liegt nicht an ihrem zorn-Affekt, sondern an Hagens Gegenspiel: Nachdem er als einziger Kriemhilds Intentionen von Anfang an durchschaut und durch die Prophezeiung der Donaufrauen Gewissheit darüber erlangt hat, dass es für die Burgunden nach der Donau-Überquerung keine Rettung mehr gibt (Str. 1542), legt er es darauf an, dass, wenn Kriemhild schon den Sieg davontragen wird, ihr Schaden dabei möglichst groß sein soll. Dieses den ganzen zweiten Nibelungenlied-Teil bestimmende Spiel und Gegenspiel zwischen Kriemhild und Hagen ist im Schlussdialog zwischen den beiden (Str. 2367–2372) in nuce enthalten: Nachdem Kriemhild dem gefangenen Hagen die (Schein-)Bedingung gestellt hat, ihn freizulassen, wenn er ihr wiedergäbe, was er ihr genommen habe, legt Hagen diese Forderung gegen Kriemhilds Intention auf den Hort hin aus, wodurch er sie schließlich in die Situation bringt, sich für die Ermordung ihres Bruders zu entscheiden. Es ist Kriemhilds eigene Entscheidung, aber zugleich wird sichtbar, wie Hagen sie dorthin gelenkt hat.41 Toepfer deutet den Schlussdialog genau in dieser Weise (180), zieht daraus aber nicht den einzig folgerichtigen Schluss, dass Kriemhilds Handeln nur im Zusammenspiel mit Hagen verstanden werden kann. 41  Vgl.

Müller, Spielregeln, 147–151.

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Dass Kriemhild alle Rücksicht auf verwandtschaftliche Bindungen ihrem Rachebedürfnis opfert, führt Toepfer unmittelbar auf Kriemhilds Hingabe an ihren Affekt zurück. Doch die Auflösung aller verwandtschaftlichen Bindungen erfolgt keineswegs unmittelbar und affektgesteuert, sondern, wie alle entscheidenden Handlungswendungen im Nibelungenlied, in einem Dialog: Aus Rücksicht auf ihre Verwandtschaft macht Kriemhild in der 36. Aventiure ihren Brüdern das Angebot, sie zu verschonen, wenn sie Hagen herausgäben (Str. 2104), und es sind die Brüder, die sich für ihre triuwe zu Hagen und gegen ihre Bindung an Kriemhild entscheiden (und sie wiederum können kaum mehr anders, da Hagen inzwischen ihr aller trôst [1526,2] geworden ist). Nicht der zorn-Affekt Kriemhilds, sondern die Krieger-triuwe und -êre ihrer Brüder hebt die Sippenbindung auf: Weil sie sich hinter Hagen stellen, muss Kriemhilds auf Hagen zielende Rache sie mittreffen.42 Eine Affektkontrolle vonseiten Kriemhilds würde daran nichts ändern, es sei denn, Toepfer erwarte von Kriemhild, dass sie ihr Rachebedürfnis fallen lasse; damit bliebe aber Siegfrieds Tod ungesühnt und wäre handlungslogisch ein blindes Motiv, abgesehen davon, dass Kriemhilds Unglück damit nicht vermindert würde. Es lässt sich nicht bestreiten, dass Kriemhild das Untergangsgeschehen kausal (mit-)verursacht, aber auch hier ist nach den Motivationen hinter den Motivationen zu fragen: Die Handlung ist weder final determiniert (durch ein Schicksal, Verhängnis und dergleichen) noch allein durch Kriemhild kausal motiviert. Wieder ist die Alternative Freiheit vs. Determination zu grob. Man kann Hagens Gegenspiel, wenn man so will, als Kriemhilds ›Verhängnis‹ bezeichnen, das sie ohne ihr Wollen zu von ihr 42  Zur Mitbeteiligung der Burgunden an der katastrophischen Entwicklung vgl. Str. 1862–1865: Anstatt Etzel vom nächtlichen Anschlag Kriemhilds zu berichten, schweigen sie, angeleitet durch Hagen; het iemen gesaget Etzeln diu rehten mære,  /  er het’ wol understanden, daz doch sît dâ geschach.  /  durch ir vil starken übermuot ir deheiner ims verjach. (1865,2–4) Auf diese Stelle beruft sich die Klage in ihrem Bestreben, Kriemhild als von aller Schuld rein zu erweisen; vgl. Die Nibelungenklage, mhd. Text nach der Ausg. v. Karl Bartsch, übers. u. komm. Elisabeth Lienert, Paderborn u. a. 2000, v. 282–289. Die Klage ist gewiss kein verbindlicher Maßstab bei der Nibelungenlied-Interpretation, aber der Widerspruch zwischen der historischen Bewertung Kriemhilds im ältesten Zeugnis der Nibelungenlied-Rezeption und derjenigen in Toepfers historisierender Interpretation ist bemerkens- und reflektierenswert. Dass das Nibelungenlied (nicht nur in seiner C-, sondern auch in seiner B-Fassung) geradezu gegen ein (mündlich tradiertes) negatives Kriemhild-Bild anschreibt, zeigt Victor Millet, »Die Sage, der Text und der Leser. Überlegungen zur Rezeption Kriemhilts und zum Verhältnis der Fassungen *B und *C des ›Nibelungenliedes‹«, in: Gisela Vollmann-Profe u. a. (Hgg.), Impulse und Resonanzen. Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug, Tübingen 2007, 57–70.



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nicht beabsichtigten Entscheidungen lenkt, die dann gleichwohl von ihr verantwortet werden müssen. Jede Figur für sich handelt aus kausaler Motivation, bestimmt aber genau damit das Handeln der jeweils anderen. Damit ist jede Figur gleichzeitig selbst- und fremdbestimmt, nur dass hier nicht der art, das Schicksal oder Gott das Handeln der jeweiligen Figur von außen lenkt, sondern das ebenso kausal motivierte, aber gegenläufige Handeln der jeweils anderen Figur, so dass man das Zusammenspiel zweier kausal motivierter Handlungen, die sich gegenseitig determinieren, zu untersuchen hat. Eine Konzentration auf nur eine der beiden Figuren muss zu verzerrenden Ergebnissen führen. Kriemhild und Hagen lassen sich beide als (im ›modernen‹ Sinne) tragische Figuren beschreiben: Kriemhild ist durch Hagen unschuldig schuldig an Siegfrieds Tod geworden, und ihre schließlich gelingende Rache an Hagen gestaltet sich (wiederum durch Hagen) so, dass sie in ihrem Triumph alles verliert; Hagen dagegen ist zunächst der einzige, der Kriemhilds Racheplan durchschaut und die Burgunden vor der Gefahr warnt (24. Aventiure), dann jedoch, um sich nicht dem Vorwurf der Feigheit auszusetzen und seine êre zu bewahren, seine Herren ins Hunnenland begleitet und ihnen sogar die Überquerung der Donau überhaupt ermöglicht (25. Aventiure), so dass er den kollektiven Untergang, den er mit seiner Warnung ursprünglich verhindern wollte, nolens volens, schuldlos schuldig mitzuverantworten hat. Die Motivationen hinter den Motivationen aufzudecken, bedeutet nicht, die Figuren als unschuldig zu erweisen und damit einfach nur das Gegenteil dessen zu tun, was Toepfer tut, indem sie jeder Figur ihre vermeidbare Schuld aufrechnet. Es gilt, die Bedingungen zu klären, aufgrund deren eine vermeidbare Schuld nicht vermieden wurde, und auszuloten, was der Preis für eine Vermeidung wäre und ob eine Figur diesen Preis zahlen kann, ohne sich selbst zu verraten. Kriemhild müsste weiter den ungesühnten Tod ihres Mannes beweinen; Hagen verlöre seine êre und damit sein gesellschaftliches Sein; Parzival müsste seine ritterliche Veranlagung unterdrücken. Bei Erec hängt es davon ab, ob man von einem »absoluten Anspruch des Eros« (Walter Haug) und damit einem grundsätzlichen Dilemma zwischen minne und êre ausgeht; dann wäre es ebenfalls nicht damit getan, sich in der Liebe maßvoller zu verhalten, wie man bei Iwein sehen kann.43 An diesen Überlegungen zeigt sich, dass ›tragische Schuld‹ kaum ohne den ›tragischen Konflikt‹ gedacht werden kann: Hinter jeder tragischen Schuld steckt ein tragischer Konflikt, und der durch eine Figur ›durchlebte‹ tragische Konflikt reflektiert nur explizit auf die Bedingungen 43  Vgl. Walter Haug, »Chrétiens ›Yvain‹ und Hartmanns ›Iwein‹: Das Spiel mit dem arthurischen Modell«, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, 223–238.

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von tragischer Schuld. Weil Toepfer tragische Schuld von vornherein unabhängig von tragischen Konflikten definiert, teilt sie die beiden Aspekte in zwei verschiedene Kapitel auf. Da es für Toepfer gemäß dem Historisierungspostulat sowie gemäß der Aufteilung in kausale und finale Tragikkonzepte in mittelalterlichen Texten keine unlösbaren Dilemmata geben darf bzw. kann, ist das Kapitel über den ›Tragischen Konflikt‹ darauf angelegt nachzuweisen, dass Rüdigers Treuekonflikt, Giburgs Sippenkonflikt und Engelhards Pflichtenkollision keine echten Dilemmata seien, weil die in Konflikt geratenden Werte objektiv nicht gleichrangig seien: Bei Rüdiger wiege die Lehnsbindung an Etzel und Kriemhild von Anfang an schwerer als die triuwe gegenüber den Burgunden (234–241),44 bei Giburg die religiöse Bindung an den christlichen Gott schwerer als die verwandtschaftliche Bindung an die Heiden (267–273), bei Engelhard die freundschaftliche triuwe schwerer als die Verbundenheit den eigenen Kindern gegenüber (300–310). Weil alle drei durch einen absolut verbindlichen Wert determiniert seien, lägen hier Fälle finaler Motivation und damit finaler Tragikkonzepte vor. Insgesamt sind Toepfers Ausführungen nachvollziehbar, jedoch provozieren sie zwei grundsätzliche Fragen: Erstens: Genügt für ein tragisches Dilemma nicht die subjektive Einschätzung einer Figur, das Gefühl des moralischen Zerrissenseins, unabhängig von der objektiven Gültigkeit der betreffenden Werte? Wenn Rüdiger seinen Konflikt mit folgenden (von Toepfer selbstverständlich zitierten) Worten beschreibt: Swelhez ich nu lâze   und daz ander begân, sô hân ich bœslîche   und vil übele getân: lâze aber ich si beide,   mich schiltet elliu diet. nu ruoche mich bewîsen,   der mir ze lebene geriet. (Str. 2154)

dann reflektiert er, dass er, wie immer er auch handelt, falsch handelt und schuldig wird. Auch wenn die Lehnsbindung objektiv schwerer wiegen sollte und auch wenn Rüdiger schließlich gegen die Burgunden in den Kampf zieht, erklärt er hier beide Optionen gleichermaßen für bœslîche und vil übele gehandelt, ohne abzuwägen, die eine sei weniger schlimm als die andere. Die Figur erlebt sich selbst in einem moralischen Dilemma, und dafür ist es unerheblich, ob und wie der Konflikt gelöst wird45 und ob die Lösung bereits feststeht. 44  Mit demselben Argument spricht schon Peter Wapnewski, »Rüdigers Schild. Zur 37. Aventiure des Nibelungenliedes«, Euphorion 54 (1960), 380–410, Rüdigers Konflikt die Tragik ab. 45  Wirklich gelöst wird der Konflikt nicht dadurch, dass Rüdiger der vermeintlich gewichtigeren Lehnsverpflichtung folgt, sondern indem er diese durch die Schildga-



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Zweitens: Ist es für einen im neuzeitlichen Verständnis tragischen Konflikt überhaupt notwendig, dass die Werte genau gleichrangig sind? Das ist Hegels Tragikbegriff, und man darf ihn für einen zugespitzten Fall von tragischen Konflikten ansehen, der kaum einmal in Reinform verwirklicht ist, weil man in den meisten als tragisch empfundenen Konflikten eine irgendwie geartete Hierarchie der Werte feststellen wird. Hegels Musterbeispiel, Antigone, eignet sich genau genommen gar nicht als Beispiel für seine Tragikdefinition, weil Sophokles’ Tragödie deutlich macht, dass die göttlichen Gesetze, denen Antigone folgt, verbindlicher sind als Kreons Gesetz.46 Die Figur folgt der höheren Verpflichtung, auch um den Preis des eigenen Unglücks – genau so definiert Toepfer anhand der drei genannten Figuren die »spezifische Form höfischer Tragik« (241), womit schon widerlegt ist, dass ein in diesem Sinne tragisches Geschehen spezifisch höfisch sei: Es findet sich bereits in der Antike.47 Toepfer verweist in diesem Zusammenhang zu Recht auf Schillers Tragikbegriff (309), zu dem der Konflikt zwischen Sittlichkeit und Sinnlichkeit gehört, ohne dass beide als gleichrangig angesehen würden. Weil Toepfer einen solchen Tragikbe bricht; entsprechend deutlich ist dieser Bruch in Rüdigers Worten markiert: Zunächst zögert er im Blick auf Kriemhild, Hagens Schildbitte zu gewähren (2196,1 f.); dann rafft er sich mit einem doch dazu auf (2196,3 f.) und emanzipiert sich so von seiner Verpflichtung gegenüber Kriemhild. Löser des Konflikts ist also nicht die größere Verbindlichkeit der Lehnsbeziehung, sondern Hagen, der buchstäblich als deus ex machina erscheint, vgl. Str. 2192: Im ersten Vers der Strophe bittet Rüdiger resignierend ein letztes Mal um Gottes Gnade; im letzten Vers erhebt Hagen, geradezu als Antwort darauf, die Stimme, um seine Schildbitte vorzubringen. Die Konfliktlösung gestaltet sich nicht so, dass Rüdiger des Kampfes enthoben würde, sondern in der dialektischen Weise, dass Rüdiger im Dienst für Kriemhild dieser die triuwe bricht und im Kampf gegen die Burgunden seine Freundschaft mit ihnen beweist. Erst dieses Kräftegleichgewicht gibt ihm seine Selbständigkeit zurück und ermöglicht ihm seine letzte Aristie. Es ist eine spezifisch heroische Konfliktlösung: Dass er kämpfen und sterben müsse, bereitete Rüdiger keine Not, sondern dass er gezwungen war, im Kampf notwendig einer Seite die triuwe zu brechen und so seine sêle (2150,3) zu verlieren. Indem er beiden Seiten gegenüber triuwe beweist, vermag er seine sêle und seine Krieger-êre zu bewahren. Wenn Rüdigers Schildgabe bei Hagen und den anderen Burgunden erbarmen, trûren und weinen (2198, 2202,2) auslöst, scheint hier eine geradezu idealtypische tragische Rezeption in Szene gesetzt, die wohl die intendierte Reaktion der Nibelungenlied-Rezipienten vorgibt und spiegelt. – Toepfer hingegen sieht in der Schildgabe ausdrücklich keine Lösung des Konflikts (239 f.). 46  Paradoxerweise nähert sich Schmitt, »Bemerkungen zu Charakter und Schicksal«, indem er in Antigones Handeln eine »Tendenz zur Hybris« (15) erkennt, Hegels Interpretation an. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass Schmitt Antigones Hybris für unberechtigt und damit vermeidbar, Hegel dagegen für berechtigt und damit unvermeidbar hält. 47  Es sei denn, man liest Antigone mit den Augen Schmitts, vgl. Anm. 46.

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begriff für spezifisch höfisch hält, scheint ihr »Schillers Tragödientheorie noch an die mittelalterliche Konzeption anzuknüpfen« (311). Wenn man die zahlreichen antiken Beispiele für eine so gestaltete Handlung in Betracht zieht,48 kann man diese kühne These kaum aufrechterhalten und damit auch nicht eine solche Historisierung des Tragikbegriffs. Um es prinzipiell zu formulieren: Eine Handlung, bei der eine Figur sich freiwillig um eines Wertes willen für das eigene Unglück entscheidet, kann in unterschiedlichster Weise auserzählt werden, wobei es zwei Extrempositionen gibt: Sie wählt zwischen zwei Optionen, von denen nur die eine werthaft, die andere wertlos, schlecht oder böse ist, also zwischen einem absolut Positiven und einem absolut Negativen – das wäre eine Märtyrer- und damit untragische Handlung; in der anderen Extremposi­ tion sind die zur Wahl stehenden Optionen genau gleichrangig – das wäre eine in Hegels Sinne tragische Handlung. Dazwischen gibt es zahllose Abstufungen, und je werthafter beide Optionen jeweils sind, desto tragischer ist die Handlung. Das heißt: Hegels Tragikbegriff markiert nur den Extremfall einer tragischen Handlung (vielleicht die ›tragischste‹), er ist keineswegs der eine ›moderne‹ Tragikbegriff im Unterschied zu antiken oder mittelalterlichen. Um zu beweisen, dass Konflikte zwischen gleichrangigen Werten im Mittelalter undenkbar seien, zieht Toepfer praktisch ausgerichtete ethische, juristische und theologische Texte aus Antike und Mittelalter heran (312–317). Eben aufgrund ihrer praktischen Ausrichtung stehen in diesen Texten nicht unlösbare Dilemmata im Blickpunkt, sondern Verfahren, Konflikte zu lösen, etwa durch Güterabwägung. Toepfer schließt daraus jedoch, dass echte Dilemmata offenbar gar nicht denkbar gewesen seien. Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass Ratgeberliteratur versucht, Probleme zu lösen, statt ihre Unlösbarkeit zu problematisieren; sie muss ›optimistisch‹-pragmatisch sein. Wie im Kapitel zur ›Tragischen Schuld‹ geht Toepfer davon aus, dass in literarischen Texten nichts anderes zu finden sein könne als in theoretisch-normativen, so dass sie wie alle Tragikskeptiker unlösbare Konflikte fürs Mittelalter ausschließt, wiederum 48  Neben Antigone: Achilleus, der sich gegen ein langes glückliches Leben in seiner Heimat entscheidet, um durch einen frühen Tod vor Troja ewigen Ruhm zu gewinnen, und der seinen Freund Patroklos an Hektor rächt, obwohl er weiß, dass mit Hektors Tod sein eigener besiegelt ist; Agamemnon, der, um als Heerführer den Zug nach Troja zu ermöglichen, seine Tochter Iphigenie opfern muss; Orestes, der wiederum, um seinen Vater zu rächen, gegen alle inneren Widerstände seine Mutter töten muss; Medea, die ihrer Rache an Iason, ebenfalls gegen alle inneren Widerstände, die gemeinsamen Kinder zum Opfer bringt.



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auch aufgrund metaphysischer Vorbehalte (315), und somit ein weiteres Mal die erste Intention der Studie nicht erfüllt. Ein mögliches Gegenbeispiel thematisiert sie selbst: Iweins (von ihm selbst reflektiertes49) Dilemma, ob er die Bewohner der Burg, auf der er sich gerade befindet, gegen den Riesen Harpin schützen oder zum Gerichtskampf für Lunete eilen soll; eine Güterabwägung ist hier nicht möglich. Toepfer lässt diesen Konflikt nicht als unlösbares Dilemma gelten, weil er noch während Iweins Reflexionen durch Harpins rechtzeitiges Eintreffen gelöst wird, so dass Iwein nicht ins Unglück gerät (317 f.). Um ihre These zu retten, muss Toepfer sich hier selbst widersprechen, denn sie betont ansonsten zu Recht, dass ein positiver Handlungsausgang oder die Lösung durch einen deus ex machina nicht gegen die Tragik einer Handlung spricht50 (sie selbst hätte sonst Erec, Parzival, Engelhard usw. gar nicht in ihre Untersuchung einbeziehen dürfen). Gerade dass Iwein den Konflikt nicht selbst löst, zeigt, dass man es in diesem Fall mit einem echten Dilemma zu tun hat und mithin echte Dilemmata im Mittelalter durchaus denkbar waren. Statt alle Literatur den Maßstäben von Ratgeberliteratur zu unterwerfen (ähnlich wie Radke es mit den Tragödien tut), wäre besser zu fragen, ob es nicht gerade ein Charakteristikum und eine Qualität literarischer Texte ist, moralische Grenz- und Zweifelsfälle inszenieren und reflektieren zu können. Dass Literatur sich durchaus von allen anderen Diskursen unterscheiden und lösen kann, stellt Toepfer am Ende des Kapitels über ›Tragische Liebe‹ selbst fest (449). In der Literatur habe sich am Motiv der Minne »ein genuin höfisches Tragikkonzept« (449) entwickelt, das sogar Übereinstimmungen mit dem ›modernen‹, dialektischen Tragikbegriff aufweise. Grund dafür ist, dass Toepfer in der Minne eine dialektische Widerspruchsstruktur erkennt, die sie folgendermaßen beschreibt: »Wenn das Begehren erwidert wird, schenkt die Minne größte Freuden; bleibt eine Erfüllung jedoch verwehrt, verursacht sie schwere Qualen und führt im schlimmsten Fall zum Tod.« (455) Diese Eigenschaft der Minne demonstriert Toepfer an 49  er gedâhte: ›ich bedarf wol meisterschaft,  /  sol ich daz wægest ersehen.  /  mir ist ze spilne geschehen  /  ein zegâch geteiltez spil,  /  dazn giltet lützel noch vil,  /  niuwan alle mîn êre.  /  ich bedarf wol guoter lêre.  /  unde weiz wol, swederz ich kiuse,  /  daz ich daran verliuse. […]‹ (v. 4870–4878) Er hofft wie Rüdiger auf Gott als einen deus ex machina: ›[…] nû gebe mir got guoten rât,  /  der mich unz her geleitet hât,  /  daz ich mich beidenthalp bewar  /  alsô daz ich rehte var […]‹ (v. 4889–4892); zitiert nach der Ausgabe: Hartmann von Aue, Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein, hg. u. übers. Volker Mertens (Bibliothek des Mittelalters, Bd. 6), Frankfurt a. M. 2004, 317–767. 50  Toepfer, Höfische Tragik, 60, 299.

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Dido im Eneasroman, an Tristan und Isolde bei Gottfried und an Medea bei Konrad von Würzburg, wobei sie – ganz anders als im Kapitel zur ›Tragischen Schuld‹ – darum bemüht ist, die Figuren von aller Schuld frei zu sprechen und zu Opfern der übermächtigen Minne zu erklären. Mit dem Motiv der Minne greift Toepfer tatsächlich eine für die Frage nach Tragik in der mittelalterlichen Literatur höchst relevante Kategorie auf, doch wiederum stellen sich grundsätzliche Fragen: Ist ein Wert, der bei seiner Verwirklichung Freude, bei seiner Nicht-Verwirklichung Leid bringt, wirklich dialektisch zu nennen? Bei Dido und Eneas sowie bei Tristan und Isolde ist die Nicht-Verwirklichung nicht durch die Liebe, sondern durch die äußeren Umstände verursacht: Eneas’ politische Mission bzw. Isoldes Ehe mit Marke steht der Verwirklichung und damit der Freude im Weg; die Nicht-Verwirklichung erklärt sich durch den Konflikt zwischen Liebe und politischen bzw. gesellschaftlichen Werten (êre), so dass diese Handlungen besser der Kategorie ›Tragischer Konflikt‹ zuzuordnen wären. Dialektisch ist die Liebe dann und nur dann, wenn sie (auch) bei ihrer Erfüllung Leid bringt. Hierfür hält die höfische Literatur faszinierende Beispiele bereit, die Toepfer nicht übersieht, aber leider zu wenig vom nicht-dialektischen Liebesleid bei Nicht-Erfüllung abhebt: Gottfrieds Tristan-Prolog, demzufolge Liebe niemals ohne Leid ist und ideale Liebende (edeliu herzen) sich dadurch auszeichnen, gerade den leidvollen Aspekt der Liebe zu bejahen (390 f.), und die Hohe Minne im Minnesang etwa eines Reinmar, bei dem die Erfüllung notwendig die leidvolle Entehrung der Minnedame bedeutet, so dass der Minnende zwischen dem Leid der Nicht-Erfüllung und dem Leid der Entehrung der Dame zu wählen hat (444 f.).51 Toepfer sieht das lyrische Ich der Hohen Minne (zu Recht) in einer »dilemmatischen Situation« (444), obwohl sie im Kapitel zum ›Tragischen Konflikt‹ die Möglichkeit echter Dilemmata für die mittelalterliche Vorstellungswelt ausgeschlossen hat. Anhand des Minnemotivs gelingt es den höfischen Autoren tatsächlich besonders gut, tragische Konstellationen durchzuspielen. Da diese Konstellationen durch Dialektik und Dilemmatik gekennzeichnet sind und Minne lediglich ein Motiv, nicht selbst eine Konstellation oder eine Struktur ist, müssten auch aus diesem Grund die Minnehandlungen eigentlich im Kapitel zum ›Tragischen Konflikt‹ behandelt werden. Des Weiteren stellt sich die Frage, inwiefern es sich überhaupt erlaubt, von Tragik zu sprechen, wenn die Figuren nur unschuldige Opfer der übermächtigen Minne sind. Ein solcher Tragikbegriff passt weder zu den 51  Hinzuzufügen ist das Dilemma des lyrischen Ichs, sowohl lieben als auch singen zu wollen, wobei die Erfüllung des einen Wunsches die des anderen ausschließt.



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vermeintlich antiken noch zu den ›modernen‹ Tragikkonzepten. Während im Kapitel zur ›Tragischen Schuld‹ die Eigenverantwortung der Figuren zu sehr betont wurde, wird sie hier vernachlässigt, was beides auf Kosten eines anspruchsvollen Tragikbegriffs geht und außerdem nicht dem zeitgenössischen Diskurs entspricht: Die Tristanliebe war gerade deswegen umstritten, weil das Motiv des Minnetranks dem Ideal einer selbstbestimmten Liebe zuwiderläuft.52 Gottfried hat diese Schwierigkeit durch Tristans nachträgliche Zustimmung behoben, worauf Toepfer auch hinweist (374 f.). Andererseits bot der Minnetrank stets die Möglichkeit, dem zweiten moralisch anstößigen Aspekt der Tristanliebe zu begegnen: dem Ehebruch. Wenn Tristan nachträglich Verantwortung für seine Liebe übernimmt, muss er auch alle ihre schuldhaften Folgen verantworten, so dass er und Isolde durchaus relevant für das Kapitel ›Tragische Schuld‹ wären. Es ist interessant und aufschlussreich zu beobachten, wie ähnlich Ulrichs von Türheim Fortsetzung von Gottfrieds Tristan-Fragment und die Nibelungenklage vorgehen, um ihre jeweils sich an der Gesellschaft vergehenden Protagonisten moralisch zu verteidigen: Ihre Liebes-triuwe sei so rein und vollkommen, dass ihr Seelenheil nicht gefährdet sein dürfte und ihre Verstöße gegen die gesellschaftliche Ordnung gerechtfertigt seien.53 ­Toepfer übernimmt diese Argumentationsstrategie für Tristan und Isolde (375), nicht aber für Kriemhild, obwohl beide Fälle unter tragiktheoretischen Gesichtspunkten vergleichbar sind und offenbar im Mittelalter ähnlich umstritten waren. Doch man kann den vielbehandelten Aspekt der an der Gesellschaft schuldig werdenden Liebe auch einmal ausklammern und, eben weil die höfische Liebe selbst als ethischer Wert anzusehen ist, untersuchen, inwiefern die Liebenden an ihrer Liebe schuldig werden und dadurch ihren Untergang verursachen. Ein Beispiel dafür wäre Jason, den Toepfer im Zusammenhang mit Medea behandelt, allerdings nicht als tragische Figur, sondern als einen zu Recht durch Medea bestraften Minnefrevler (420– 422). Ist Jason schuldig zu sprechen, wenn die Minne als so übermächtig und widersprüchlich zu denken ist, dass sie ihn zum Treuebruch gegenüber Medea verleitet? Weil Medea weder zugrunde geht noch wie in der antiken Tradition ihrer Rache die eigenen Kinder opfert, ist in Konrads 52  Vgl. Volker Mertens, »Intertristanisches – Tristan-Lieder von Chrétien de Troyes, Bernger von Horheim und Heinrich von Veldeke«, in: Johannes Janota (Hg.), Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik, Bd. 3: Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis, Tübingen1993, 37–55. 53  Vgl. Ulrich von Türheim, Tristan, hg. Thomas Kerth, Tübingen 1979, v. 3649– 3657; Die Nibelungenklage, nach der Ausg. v. Bartsch, übers. u. komm. Lienert, v. 139–158, 569–586.

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Bearbeitung eigentlich nicht sie, sondern der für seine Minneschuld büßende Jason die tragikrelevante Figur.54 Auch Tristan wäre unter diesem Aspekt zu untersuchen: Es mag sein, dass Tristans Tod letztlich dadurch verursacht wird, dass er sich von Isolde verlassen glaubt, wie Toepfer schreibt (382, 398). Entscheidend ist aber doch, dass ihn zu diesem Glauben Isolde Weißhand bringt, die wie Marke durch ihn betrogen wird. Noch entscheidender aber ist, dass Isolde Weißhand überhaupt erst dadurch handlungsbestimmend werden kann, dass Tristan mit ihr seine Isolde betrügt und so am hohen Wert seiner Liebe schuldig wird. Tristan könnte ebenfalls als zu Recht bestrafter Minnefrevler angesehen werden. Genau hier aber zeigt sich die dialektische Gestaltungsweise Gottfrieds und damit auch die Angemessenheit eines dialektischen Tragikbegriffs: Tristan hätte sich Isolde Weißhand niemals zugewandt, wenn sie ihn nicht an seine Isolde erinnert hätte; er sucht ihre Gegenwart, weil er bei ihr seiner eigentlichen Isolde so nah sein kann wie nirgends sonst, ohne dass die schmerzvolle Distanz dadurch aufgehoben wäre, und er sucht genau diesen intensivierten Schmerz55 – ganz als edelez herze im Sinne des Prologs und so, wie Isolde das Zauberhündchen Petitcreiu verwendet hat (ze niuwenne ir senede leit, v. 16354), eben weil die Tristanliebe von der Dialektik zwischen Lust und Leid lebt. Sobald Tristan dann jedoch in Isolde Weißhand nicht mehr nur das verweisende Erinnerungszeichen sieht und alle Distanz und damit alles Leid aufzuheben versucht, wendet er sich ihr um ihrer selbst willen zu und betrügt seine Isolde – und damit notwendig sich selbst, wie seine Überlegungen am Schluss von Gottfrieds Romanfragment deutlich machen, in denen Tristan glaubt, ein triurelôser Tristan (v. 19464) werden zu können: Liebe ohne Leid ist keine Liebe, Tristan ohne Leid nicht Tristan. Dieser drohende 54  Bezüglich der Medea-Figur hat Werner Schröder also Recht, wenn er eine »Scheu vor der Tragik« in Konrads Bearbeitung feststellt; vgl. W. Schröder, Über die Scheu vor der Tragik in mittelalterlicher Dichtung. Jason und Medea im ›Trojanerkrieg‹ Konrads von Würzburg (Abhandlungen der Marburger Gelehrten Gesellschaft, Bd. 22), München 1992. Tragische Konstellationen sind aber nicht figurengebunden, so dass Konrad z. B. in der Achilles-Deidamia-Liebesgeschichte eine Tragik herausarbeiten kann, die in der antiken Vorlage (bei Statius) noch gar nicht enthalten ist, eben weil sie sich den Konzepten der höfischen und der Tristanliebe verdankt; vgl. dazu Ulrich Barton, »Manheit und minne. Achills zweifache Erziehung bei Konrad von Würzburg«, in: Henrike Lähnemann u. Sandra Linden (Hgg.), Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin 2009, 189–204, v. a. 200–204. 55  Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. Walter Haug u. Manfred Günter Scholz, 2 Bde. (Bibliothek des Mittelalters, Bde. 10, 11), Berlin 2011, hier Bd. 1, v. 18965–18992.



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Identitätsverlust weist bereits auf den sich notwendig daraus ergebenden Tod voraus. Tristans Untreue als Vergehen gegen seine ideale Liebe ist kausal durch ihn motiviert, weil er selbst seine Liebe auf Isolde Weißhand richtet; von einer höheren lenkenden Macht (wie etwa bei Jason) ist nirgends die Rede. Doch auch hier kommt es auf die Motivation hinter der Motivation an: Es ist seine triuwe, die ihn untreu werden lässt, weil erst sie ihn auf Isolde Weißhand aufmerksam macht. Tristan ist nicht unschuldig und sein Tod durch ihn selbst verursacht, aber seine Schuld ist in dem Sinne schuldlos, als erst seine triuwe sie ermöglicht. Eine solche Handlungskonstellation ist durch nichts angemessener aufzulösen und zu beschreiben als durch den dialektischen Tragikbegriff. Eine Analyse, die nur die Schuld oder nur die Unschuld betont, greift unweigerlich zu kurz. Da sich also derartige Handlungskonstellationen in mittelalterlichen Texten finden lassen, stellt sich die Frage, warum man für sie nicht einfach den literaturwissenschaftlich engen, dialektischen Tragikbegriff verwenden soll. Es kommt ja nicht auf die Bezeichnung ›Tragik‹ an, sondern auf die dialektische Struktur, die seit dem 19. Jahrhundert eben als ›Tragik‹ bezeichnet wird, die es aber in literarischen Texten seit der Antike gibt. Statt von vornherein zu behaupten, dass solche Strukturen im christlichen Mittelalter undenkbar seien, wie es die traditionellen Tragikskeptiker getan haben und nun auch Toepfer tut, und dann die Texte so zu interpretieren, dass das Vorurteil bestätigt wird, sollte man genau untersuchen, wie die Texte selbst funktionieren, was jeweils die Motivationen und was die Motivationen hinter den Motivationen sind. Nicht überall wird man dialektische Strukturen finden – und selbstverständlich darf man sie nicht hineininterpretieren –, aber wenn man sie findet, sollte man sie entsprechend benennen dürfen und nicht aus begriffsgeschichtlich begründeten Vorurteilen davor zurückschrecken. An sich besteht also gar kein Anlass, den Tragikbegriff, der ja, wenn man ihn als dialektische Struktur denkt, eigentlich ›nur‹ ein literaturwissenschaftliches Analyseinstrument und insofern zeitlos (bzw. wie alle Analyseinstrumente rückgebunden an das analysierende Subjekt) ist, zu historisieren und anderen Epochen anzupassen. Letztlich geht es, wie gesagt, nicht um die Rettung des Begriffs ›Tragik‹, sondern um die dadurch bezeichnete Struktur. Auf den Begriff käme es nur dann an, wenn Antike und Mittelalter ihn in einer ähnlich spezifischen, handlungstheoretischen Bedeutung verwendet hätten, was nicht der Fall ist. Durch die Historisierung erschafft man einen Tragikbegriff, der in den untersuchten Epochen überhaupt nicht verwendet wurde, entgeht also gar nicht der der modernen Begriffsverwendung attestierten Anachronizität. Man könnte, falls man aus geistesgeschichtlichen Gründen an der Bezeichnung ›Tragik‹ Anstoß nehmen sollte, die gemeinte dialektische

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Struktur auch anders benennen; die Bezeichnung ›Tragik‹ bietet jedoch den großen Vorteil, rezeptionsästhetische Aspekte (Mitleid, ›tragische Lust‹ usw.) miteinzuschließen und so Narratologie und Rezeptionsästhetik miteinander zu verknüpfen. Das große Verdienst von Toepfers Studie ist es, den Tragikbegriff in die mediävistische Diskussion zurückzuholen und ihn poetologisch-narratologisch zu definieren, und sie behandelt die für ihre Fragestellung relevantesten Werke. Bedauerlicherweise liest sie die im ersten Kapitel (›Tragische Schuld‹) behandelten Texte zu sehr, die im dritten Kapitel (›Tragische Liebe‹) behandelten dagegen zu wenig auf den Aspekt der Schuld hin – ›zu sehr‹ bzw. ›zu wenig‹ nicht nur bezogen auf den Tragikbegriff, sondern vor allem bezogen auf die Handlungsführung innerhalb der Werke selbst. Die im zweiten Kapitel (›Tragischer Konflikt‹) behandelten Texte interpretiert sie angemessen (wobei man zumindest bei Rüdiger anderer Meinung sein kann), versucht jedoch, aus ihnen ein historisiertes, spezifisch höfischmittelalterliches Tragikkonzept zu entwickeln, das sich, wenn man nicht nur vermeintlich tragiktheoretische, sondern auch literarische Texte aus Antike und Moderne in den Blick nimmt, als nicht spezifisch mittelalterlich erweist. Übernähme man Toepfers Konzeptionen, müsste das mittelalterliche Tragikkonzept sowohl negativdidaktische Exempelliteratur von (übermäßig) bestrafter Schuld (1. Kapitel) als auch Märtyrerlegenden und andere Darstellungen unschuldigen Leidens (3. Kapitel) umfassen, wäre demnach so offen, dass man die behandelten Phänomene kaum mehr präzise beschreiben könnte, jedenfalls nicht präziser als etwa mit den Begriffen ›Exempel‹ oder ›Märtyrerhandlung‹. Was Toepfer als tragischen Konflikt bezeichnet (2. Kapitel), hat bereits Schiller tragisch genannt, so dass hier der traditionelle Tragikbegriff beibehalten werden kann. Es ergibt sich, dass eine Historisierung des Tragikbegriffs – die zweite Intention von Toepfers Studie – weder praktikabel noch wünschenswert ist. Was dagegen historisiert werden kann und muss, ist, wie gesagt, die jeweilige Semantisierung und Rezeption der tragisch genannten dialektischen Struktur: Wie geht man in bestimmten Epochen mit dieser Struktur um? Verschleiert man sie oder stellt man sie aus, mit welchen Intentionen? Gibt es Begriffe, mit denen man sie zu fassen sucht (im christlichen Mittelalter z. B. felix culpa56)? Möglicherweise lassen sich sogar spezifisch mittelalterliche Gestaltungsweisen finden, z. B. die für neuzeitlichen Geschmack vielleicht zu schroffe Zweiteilung in der Figurenzeichnung bei 56  Hierfür kann man an Toepfers Deutung des Sündenfalls als eines »theologischnarratologische[n] Paradigma[s] für eine tragische Handlung« anknüpfen (45–50, Zitat: 45).



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Figuren wie Siegfried (Heros und Minnediener) und Parzival (Abkömmling der Grals- und der Ritterdynastie) oder der (nicht zuletzt theologisch bedingte) häufigere Einsatz des deus ex machina. III. Wenn man das dialektische Tragikkonzept narratologisch-strukturalistisch erfassen möchte, muss man prinzipiell durchaus so vorgehen, wie Toepfer es tut: Eine Figur gelangt vom Feld des Glücks ins Feld des Unglücks. Hierbei sollte Aristoteles’ Aussage, die wirkungsmächtigste tragische Handlung müsse überraschend und gleichwohl folgerichtig sein,57 als Maßgabe dienen: Nicht überraschend ist es z. B., wenn eine Figur aufgrund höherer Fügung oder des Zufalls ins Unglück gerät (Toep­ fers finale Tragikkonzepte). Der Gegenfall, dass eine Figur durch eigenes Handeln ins Unglück gerät, ist genau dann nicht überraschend, wenn sie es infolge moralischen Versagens oder vermeidbarer Unbeherrschtheit tut (Toepfers kausale Tragikkonzepte); dann wäre das Unglück die verdiente Strafe oder zumindest vorhersehbare Folge. Überraschend ist einzig der Fall, dass eine Figur, obwohl ihr Handeln58 darauf angelegt ist, das Feld des Unglücks zu vermeiden, durch eben dieses Handeln dorthin gelangt. Unglück meint eigenes und / oder fremdes Leid, wobei das fremde Leid, das die handelnde Figur verursacht, gleichbedeutend ist mit ihrer Schuld, denn Schuld ist nur ein Fall von Unglück, das eine Figur durch eigenes Handeln verursacht und für das sie deshalb verantwortlich gemacht wird, so dass sie die Schuld als Folge ihres Handelns übernehmen muss. Ein Handeln, das eigenes oder fremdes Leid zu vermeiden sucht, ist eben damit auf das eigene oder fremde Gute ausgerichtet. Die Handlungsmotivation ist gleichermaßen kausal und final: Die Figur handelt aus eigenem Entschluss und lässt ihr Handeln durch ein Gutes (Vermeidung / Beseitigung von Leid / Schuld oder Wiedergutmachung) bestimmen.59 Einzig in Poetik, IX, 1452a1–4. ist der entscheidende Unterschied zu Schmitts und Toepfers Definitionen: Nicht muss die Figur an sich gut und nur ihr tragisches Handeln punktuell einmal schlecht sein, sondern ihr Handeln selbst muss gut sein und die Figur als gut ausweisen. Schuld darf nicht in der Motivation, sondern muss in der Konsequenz der Handlung liegen; strukturalistisch formuliert: im Feld des Unglücks, nicht in der Überschreitung der Grenze zu ihm hin. 59  Schmitt unterscheidet dagegen bei der Ausrichtung der Figur auf ein Gutes zwischen einem vermeintlichen und dem wahren Guten: Der Fehler der tragischen Figur liege darin, das vermeintlich Gute nicht genauer zu prüfen und als nur vermeintlich zu entlarven, obwohl sie das Vermögen dazu hätte, was auf ein nicht intel57  Aristoteles, 58  Das

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diesem Fall versteht sich das durch die Figur verursachte Unglück nicht von selbst, und es bedarf einer Handlung, die diesen überraschenden Fall mit logischer Stimmigkeit, Folgerichtigkeit erklärt.60 Das ist zunächst einfach eine intellektuelle Herausforderung, und daraus erklärt sich die anhaltende intellektuelle Faszination solcher Handlungskonstellationen. Man denke an Ödipus: Die Handlung wäre trivial und langweilig, wenn Ödipus nur aus moralischer oder charakterlicher Schlechtigkeit (z. B. Neigung zum Jähzorn) oder nur wegen eines Verhängnisses zum Mörder seines Vaters und Ehemann seiner Mutter würde; überraschend und faszinierend ist sie deswegen, weil er, im Wissen um dieses drohende Unglück, so handelt, dass er es vermeiden müsste, indem er nämlich seine vermeintlichen Eltern verlässt, und er durch eben dieses Handeln das Unglück erst verursacht. – Eine andere Handlungskonstellation, die den nicht-selbstverständlichen Fall stimmig zu erklären vermag, ist der tragische Konflikt, in dem eine Figur, die Unglück vermeiden möchte, gezwungen ist, zwischen mehreren Unglücksoptionen zu wählen und dadurch unvermeidlich Unglück zu verursachen; dazu gezwungen ist sie, weil sich im Falle des Nichthandelns das Feld des Glücks selbst ins Feld des Unglücks verwandeln würde. – Wieder eine andere und doch verwandte Handlungskonstellation ist das felixculpa-Modell: Ein Handeln, das in Schuld führt, erweist sich als notwendige Bedingung für ein Gutes, so dass es sich nachträglich als gut herausstellt, dass Schuld nicht vermielektuelles, sondern charakterliches Versagen hinweise (vgl. Schmitt, Kommentar zur Poetik, 458–476; vgl. auch Cessi, Erkennen und Handeln, 260–262; Radke, Tragik und Metatragik, 51 f.). Ein Handeln, das in diesem Sinne aus vermeidbarer Denkfaulheit Unglück bewirkt, wird eher Nachsicht als Mitleid hervorrufen und erfüllt damit kaum Aristoteles’ rezeptionsästhetischen Anspruch an eine tragische Handlung. Wenn es eine Diskrepanz zwischen dem von einer Figur gewollten und dem für sie wahren Guten gibt, dann bleibt die Tragik nur insofern gewahrt, als die Handlung plausibel machen kann, dass die Figur gute (zwingende, nicht nur nachzusehende) Gründe (wie z. B. unvermeidbare [!] Affekte) hatte, das vermeintlich Gute nicht zu hinterfragen. 60  Schmitt und seine Nachfolgerinnen sehen in narrativen Kausalketten stets nur den Nachweis von Vermeidbarkeit, obwohl man sie mindestens ebenso gut als Nachweis von Folgerichtigkeit und logischem Zwang betrachten kann und sollte. Die Ursachen einer tragischen Handlung werden nicht zu dem Zweck dargestellt, dass der Rezipient lerne, welche Verhaltensweisen ins Unglück führen und wie dieses demnach zu vermeiden wäre, sondern damit er Mitleid empfindet, eben weil er sieht, dass ein Unglück aus guten Gründen nicht vermieden werden konnte. Rezeptionsziel einer tragischen Handlung sind (auch und gerade) nach Aristoteles Mitleid und tragische Lust, nicht das Lernen aus den Fehlern anderer. Es liegt also an der jeweiligen Rezeptionsperspektive, wie man die Kausalkette wahrnimmt: als Nachweis von Vermeidbarkeit (didaktische Perspektive) oder von Folgerichtigkeit (tragische Perspektive).



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den wurde, und man, wenn man es vorher bereits gewusst hätte, sich zumindest in einem tragischen Konflikt befunden hätte, da – ungeachtet der glücklichen Folgen – die Schuld nicht als Mittel zum Zweck verrechnet werden kann.61 Diese Handlungskonstellation lässt sich, abgesehen vom Sündenfall, auf den die Bezeichnung felix culpa ursprünglich bezogen ist,62 wiederum an Ödipus illustrieren: Bei seinen vermeintlichen Eltern war Ödipus zwar ohne Leid und Schuld, wusste aber auch nicht die Wahrheit über sich selbst; zur Selbsterkenntnis gelangt er erst über den tragischen Fehler, seine vermeintlichen Eltern zu verlassen bzw. den LaiosMörder zu suchen. Hierbei bietet das Feld des Unglücks ein Gutes, das demjenigen im Feld des Glücks überlegen ist.63 61  Dieser Aspekt ist entscheidend, da das Modell andernfalls nur einer MittelZweck-Relation gleichkäme, in der das Unglück immer schon einkalkuliert und legitimiert ist. 62  Zu Entstehung und Geschichte der felix culpa-Vorstellung vgl. Odo Marquard, »Felix culpa? – Bemerkungen zu einem Applikationsschicksal von Genesis 3«, in: Manfred Fuhrmann u. a. (Hgg.), Text und Applikation (Poetik und Hermeneutik IX), München 1981, 53–71; Georg Wieland, »Felix culpa – die philosophisch-theologische Sicht«, DVjs 82 (2008), 158–167. 63  Hier wäre auch Judas zu verorten, der heilsgeschichtlich in die tragische Situation versetzt wird, zwischen dem Übel des Gottes- und Freundesverrats und dem Übel der Heillosigkeit der Menschheit wählen zu müssen; da sich Judas in den Evangelien dieses Konflikts nicht bewusst zu sein scheint, ist hier von felix culpa zu sprechen. Matthäus, Lukas und Johannes verschleiern die Tragik dadurch, dass sie Judas’ Handlungsmotivation als ethisch minderwertig (Beeinflussung durch Satan, Habgier) bestimmen. Die heilsgeschichtliche Tragik des Verrats bleibt jedoch bestehen. Deshalb ist es überaus passend, dass im Mittelalter der Judas-Figur die ÖdipusTaten (Vatermord, Mutterinzest) als Vorgeschichte angedichtet wurden: Strukturell besteht eine Verwandtschaft zwischen der Ödipus- und der Judas-Tragik. – Da ­Toepfer der theologischen, seit Augustinus tradierten Argumentation, Judas sei nicht wegen des Verrats, sondern wegen seiner Verzweiflung zur Hölle verdammt, sowie der Schmittschen hamartia-Interpretation folgt, sieht sie Judas’ Tragik (zumindest in den mittelalterlichen Passionsspielen) im »vermeidbaren« Fehler der Verzweiflung, darin, dass er sich »einseitig auf einen Aspekt, den seiner Schuld«, konzentriere (vgl. Regina Toepfer, »Die Passion Christi als tragisches Spiel. Plädoyer für einen poetologischen Tragikbegriff in der Mediävistik«, in: Thomas Anz u. Heinrich Kaulen [Hgg.], Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Aspekte, Berlin / New York 2009, 159–175, hier 169). Judas’ Verzweiflung ist tatsächlich tragisch, aber nicht deswegen, weil sie durch ein weniger fixiertes Denken vermeidbar wäre, sondern weil Judas’ Fixierung auf seine Schuld durchaus folgerichtig und insofern unvermeidbar ist: Wie sollte der Gottesverräter, wenn er seine Schuld ernst nimmt, auf Gottes Vergebung rechnen? Dass Judas deswegen sein Seelenheil verspielt, weil er sich seiner Schuld nur zu sehr bewusst ist, ist eine bitterböse tragische Ironie, die den ganzen Zynismus der theologischen Argumentation offenlegt. – Nichtsdestoweniger besteht Judas’ eigentlich (auch für die Frage nach der Tragik) entscheidende Handlung im heilsgeschichtlich notwendigen Verrat, nicht im Selbst-

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Gemeinsam ist all diesen Handlungskonstellationen, dass das Feld des Glücks entweder nur ein vermeintliches oder minderwertiges Glück enthält (die Figur verlässt es durch ihr Handeln hin zu einem wahren oder höherwertigen Glück, das gleichwohl im Feld des Unglücks liegt) oder dass das Feld des Glücks sich selbst in ein Feld des Unglücks verwandeln würde, wenn die Figur nicht handelte (die Figur wird zur Überschreitung der Grenze gedrängt). Zu einer tragischen Handlung gehört demnach die Doppelbödigkeit64 in der raumsemantischen Aufteilung in ein Feld des Glücks und ein Feld des Unglücks, eine Doppelbödigkeit, die die Figur selbst nicht durchschauen oder beeinflussen kann: Das Feld des Glücks kann selbst Feld des Unglücks sein / werden und umgekehrt, und genau das muss eine auf ein Gutes ausgerichtete Figur zur Überschreitung der Grenze nötigen. Die Nötigung macht das Handeln der Figur plausibel, folgerichtig; die Doppelbödigkeit von Glück und Unglück verleiht der Handlung das für die Tragik nötige Überraschungsmoment. Kausale und finale Motivation, Freiheit und Determination spielen unauflösbar ineinander. Als Grundstruktur einer tragischen Handlung bleibt festzuhalten: Eine Figur verursacht durch ihr Handeln Leid bzw. Schuld, obwohl ihr Handeln darauf ausgerichtet ist, Leid bzw. Schuld zu vermeiden. Sie drückt eine Problematik aus, die man als auf den Menschen bezogene Theodizeefrage bezeichnen könnte: Wie kommt durch menschliches Handeln Leid in die Welt, wenn dieses Handeln solcherart ist, dass es Leid zu vermeiden sucht? Die Ähnlichkeit zur Theodizeefrage zeigt, dass eine so bestimmte tragische Handlung nicht nur eine intellektuelle Herausforderung darstellt, sondern eine grundsätzliche Sinnfrage enthält, mit der man nicht so einfach fertig wird. Sie lässt sich nicht durch praktische Handlungsanweisungen beantworten und dementsprechend nicht in moralische, juristische und dergleichen Systeme einordnen. So verstandene tragische Handlungen bieten keine Exempel für irgendwelche ethische Lehren, konfrontieren diese vielmehr mit ihren eigenen Grenzen. Weil sie sich nirgends einordnen und verrechnen lassen, sondern als intellektuelle und moralische Herausforderungen eine eigenständige, auch gerade ästhetische Faszination entwickeln, kann man über das Auffinden tragischer Strukturen Freiräume von Literatur bestimmen, insbesondere für Epochen, die noch keine Autonomieästhetik kennen und damit kein eigenes System Literatur ausgebilmord aus Verzweiflung. Der Gottes- und Freundesverrat bleibt ein Übel, das Judas, mit welcher Motivation und welchen Konsequenzen auch immer, vollbringen muss. Vgl. dazu Friedrich Ohly, Der Verfluchte und der Erwählte. Vom Leben mit der Schuld, Opladen 1976. 64  Diese Doppelbödigkeit ist die Bedingung der Möglichkeit von tragischer Ironie.



Vormoderne Tragik?

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det haben, in denen Literatur normalerweise im Dienst von Religion, Politik, Moral usw. steht. Wenn ein Text die beschriebene tragische Struktur enthält, ist er eben dadurch von allen nicht-literarischen Diskursen abgegrenzt und folgt nicht irgendwie didaktischen Zwecken. Er ist frei, eine genuin intellektuelle oder ästhetische Faszination zu entfalten.65 Genau deshalb ist Tragik ein Kernelement der Literatur und mithin eine Grundkategorie der Literaturwissenschaft. Weil die tragische Struktur eine Art Theodizee- oder Sinnfrage stellt, ist sie wohl am ehesten kompatibel mit dem religiösen Diskurs: Bei der griechischen Tragödie etwa kann beides untrennbar verbunden sein. Sopho­ kles’ König Ödipus lebt ästhetisch von der dialektischen Struktur und der entsprechenden tragischen Ironie und führt über die Darstellung eines Menschen, der beim Versuch, seine Stadt vom Übel zu befreien, erkennen muss, dass er selbst das Übel ist, bzw. dessen Streben nach Selbsterkenntnis zur Selbstvernichtung führen muss, die Begrenztheit alles Mensch­ lichen gegenüber dem Göttlichen vor. Vielleicht bezieht die ästhetisch-intellektuelle Faszination der tragischen Struktur mindestens einen Teil ihrer Kraft und existentiellen Wucht aus einer solchen im Hintergrund stehenden religiösen Selbstreflexion des Menschen.66 Die ›neueren‹ Tragikdeutungen im Gefolge Arbogast Schmitts scheinen es darauf anzulegen, den Texten alle ästhetische und intellektuelle Faszination auszutreiben. Hierbei gehen sie, weil sie ihren Tragikbegriff nicht aus den literarischen Texten selbst, sondern aus (selektiv bis mutwillig interpretierten) philosophisch-ethischen und theologischen Theorien heraus entwickeln, geradezu dogmatisch vor: Was sich nicht in den theoretischen 65  Zur dezidiert »apraktischen«, rein ästhetischen Dimension der Tragödienerfahrung vgl. Menke, Die Gegenwart der Tragödie, 116–120. Als kontemplativer und reflexiver Blick von außen auf die menschliche Praxis (insbesondere in ihren Aporien) erfülle die Tragödie selbst gerade keine praktische Funktion: »Der Preis für die ästhetische Aussetzung der Tragik (des Handelns) ist die ästhetische Aussetzung (der Tragik) des Handelns.« (118 f.) 66  Auf eine andere Weise führen Sigmund Freud, René Girard und Walter Burkert, je unterschiedlich, die spezifische Ästhetik der tragischen Dialektik sogar ganz auf die religiöse Dimension zurück, nämlich auf die Dialektik von Opferritualen; vgl. Sigmund Freud, Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, eingel. Mario Erdheim, Frankfurt a. M. 1991, 211 f.; René Girard, La violence et le sacré, Paris 1996; Walter Burkert, Homo Necans. ­Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, 2., erw. Aufl., Berlin / New York 1997. Wie auch immer man diese Erklärungsversuche im Einzelnen bewerten und das Verhältnis zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung bestimmen mag, kommen die genannten Versuche doch einer tragischen Ästhetik näher als moraldidaktische Lesarten.

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Texten finde, könne und dürfe es auch nicht in der Literatur geben. Die genuin ästhetisch-intellektuelle Dimension von Literatur wird von vornherein nicht berücksichtigt; der Literatur werden lediglich praktisch-didaktische Funktionen zugestanden. Die Ablehnung des dialektischen Tragikbegriffs geht mit einer Missachtung des Ästhetischen einher. Grundprämisse ist die moralisch-didaktische Funktion von Literatur; auf sie hin werden z. B. Aristoteles’ Schriften gelesen, wobei zwangsläufig Kategorien wie die tragödienspezifische Lust, Mitleid, katharsis usw. vernachlässigt oder missinterpretiert werden.67 Mit einem so zugeschnittenen, weder den aristotelischen Schriften noch den literarischen Werken gerecht werdenden Instrumentarium werden dann die einzelnen literarischen Texte analysiert. Wie schon in der gräzistischen Tragödieninterpretation haben die Thesen von Schmitt und seiner Schule nun auch in Toepfers wichtigem Versuch, einen narratologischen Tragikbegriff zu entwickeln und für die Mediävistik fruchtbar zu machen, mit ihrer ›Fixierung‹ auf die Vermeidbarkeit von Fehlhandlungen echte Tragik unvermeidbar verfehlt. Man möchte hoffen, dass sie sich nicht noch weiter verbreiten, ebenso wenig wie der damit verbundene reaktionäre Tragik- und Literaturbegriff, der nicht den vormodernen Texten selbst, sondern der Voreinstellung ihrer Interpreten geschuldet ist. Dass er heute wieder salonfähig wird, sagt mehr über unsere Zeit aus als über die Antike und das Mittelalter.

67  Die tragödienspezifische Lust meine dann die Lust an der Erkenntnis, wie Fehler zu vermeiden seien (vgl. Schmitts Kommentar zur Poetik, 510). – Mitleid, das laut Aristoteles die Reaktion auf unverdientes fremdes Leid ist, meine die Reaktion darauf, dass die Folgen eines charakterbedingten vermeidbaren Fehlers letztlich nicht unverdient, sondern nur unverhältnismäßig groß seien (vgl. Cessi, Erkennen und Handeln, 262; Toepfer, Höfische Tragik, 66, 207); nach dieser Erklärung müsste jeder Höllenbewohner, der für eine zeitliche Sünde ewige Bestrafung erleidet, eine tragische Figur sein. – Die katharsis meine eine Kultivierung der tragischen Affekte auf das rechte Maß, die Situationsangemessenheit hin, impliziert also eine ethische Reinigung, die den Menschen zum richtigen, Fehler vermeidenden Handeln befähige (vgl. Schmitts Kommentar zur Poetik, 500 f.; Radke, Tragik und Metatragik, 202). – Zum Verständnis der genannten Kategorien vgl. Ulrich Barton, ›eleos‹ und ›compassio‹. Mitleid im antiken und mittelalterlichen Theater, Diss. Tübingen 2012.

Ekphrasis, Landscape, and Power: Some Castles and Their Rulers in Wolfram’s Parzival 1 By Arthur Groos Scholarship frequently characterizes the relationship between Wolfram’s Parzival and Chrétien’s Conte du graal with designations such as ›adaptation‹ or ›loose translation‹.2 However, Wolfram’s insinuation that his principal source may not have done justice to the tale, but has instead disem mære […] u n r e h t getân (827.2), also challenges us to determine what narrative forces underlie his own r e h t i u mære (827.4). Some obvious differences come quickly to mind: the transposition from French to German horizons of expectation, from an implicitly clerical to a more overtly lay authorial perspective, and from a smooth rhetorical style to one that is idiosyncratically krump (Willehalm, 237.11). Genre differences within the romance mode also play a major role: the replacement of Chrétien’s anonymous and largely functional figures (Mother, Cousin, Fisher King, Hermit) by named characters with an extended genealogy and kinship ties marks a shift from adventure romance to family romance, while the dialogue with other genres such as saint’s life, epic, and chronicle, as well as the contrasting organization of Arthurian and Grail realms, along with ›orientalizing‹ episodes, creates something approaching novelistic discourse as conceived by Mikhail Bakhtin.3 1  Parts of this essay were first presented at a Medieval Academy of America session in Toronto (2007), others developed subsequently for talks at Oxford and Bamberg. I am grateful to Markus Stock, Nigel Palmer, Ingrid Bennewitz, and Andrea Schindler for helpful comments and criticism. 2  The Grail romances of Chrétien and Wolfram will be cited according to: Der Percevalroman (Li Contes del Graal), ed. Alfons Hilka (Christian von Troyes sämt­ liche erhaltene Werke 5), Halle (Saale) 1932; Wolfram von Eschenbach, ed. Karl Lachmann, 6th ed., Berlin 1965. 3  See Mikhail Bakhtin, The Dialogic Imagination: Four Essays, Austin 1981, 377, and my »Between Poetics and Prosaics: Parzival and Prenovelistic Discourse«, in: Romancing the Grail: Genre, Science and Quest in Wolfram’s ›Parzival‹, Ithaca 1995, 21–45; on the orient, cf. my »Orientalizing Wolfram’s Orient: The East in Wolfram

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But none of these extensive ›rehtifications‹ seems adequate to explain the radically different way in which Wolfram sometimes approaches individual episodes. A particularly striking example involves the descriptions of castles and their surrounding landscapes in the Grail hero’s first set of adventures. Chrétien seems to imagine Perceval’s itinerary as a journey along the seacoast in the wake of an earlier struggle for dominion over the Isles of the Sea, from which Arthur has recently emerged victorious. Perceval progresses along the seacoast from castle to castle, beginning with Arthur’s court at Carlisle, situated sor mer (863), proceeding to Gornemant’s fortress on a rocky slope at Goort, [Q]ui vers mer aloit desçandant (1322), and from there to the beleaguered city of Biaurepeire, surrounded by nothing but mer et eve et terre gaste (1709).4 Wolfram reimagines Parzival’s itinerary as an interior land journey from Nantes to Graharz, and from there to Belrapeire and Munsalvæsche. Scholars have often discussed the way Wolfram interrelates these episodes,5 but generally ignore the drastic relocation of Carlisle to Nantes and the renaming of Goort as Graharz, largely because their attention concentrates on the hero’s ›aventiure-Weg‹, and therefore primarily concerns the relationship between the hero and the landscape he traverses as an indicator of his progress. In Wolfram’s decentered narrative world, however, characters other than Parzival and Gawan can also claim a space of their own (e. g., Sigune and Schianatulander). After some introductory comments devoted to ekphrasis (I.), I want to suggest that Wolfram reconfigures the castles and their surroundings at Nantes and Graharz because he has also reconceptualized the lords who rule over those domains, Arthur (II.) and Gurnemanz (III.). A brief concluding section from the Gawan-books will suggest the carnivalizing of ekphrastic techniques in the presentation of Schampfanzun and its co-ruler, Antikonie (IV.).

von Eschenbach’s Parzival«, in: Arthur Groos, Hans-Jochen Schiewer (eds.), Kulturen des Manuskriptzeitalters (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit 1), Göttingen 2004, 61–86. 4  The ensuing episode seems strangely discontinuous, since Perceval intends to return to his mother but apparently sets out towards the interior, traveling until he comes to a river with no crossing for twenty leagues upstream or down (3021), before being directed to the Grail castle, which appears suddenly (parut, 3051) in a valley below him. 5  E. g., Marianne Wynn, Wolfram’s ›Parzival‹: On the Genesis of Its Poetry (Mikrokosmos 9), Frankfurt a. M. 1984, 84–133.



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I. Some theoretical considerations Before proceeding to discussing the relation between landscape and rulership in these episodes, I should mention in advance two complicating factors that require a brief detour into literary theory. The first complication is well-known and needs only be mentioned briefly at the outset: the intertextual ›feud‹ with Hartmann von Aue, whose Erec hovers in the background of the narrative – although as we will see, Chrétien’s romance of the same name also plays a significant role. The second complication involves current discussions involving the status of medieval ekphrasis. The problem that first drew my attention to this topic arose during a seminar discussion of the narrator’s puzzling reference to Parzival’s approach to Gurnemanz’s castle, which he refers to as d i r r e burc (162.7). Why refer to »t h i s castle«? Until recently, an answer might have involved Wolfram’s unusually prominent narrator or the performativity inscribed into medieval texts, both of which involve the audience, particularly in public recitations, a more common mode of literary experience around 1200 than reading in private.6 To take a familiar example: at the end of the hero’s first series of adventures in Hartmann’s Iwein, when Lunete rides towards Arthur’s court to accuse him of being triuwelôs, the narrator observes that sî gâhte über j e n e z velt (3107).7 This deictic reference is normally interpreted as part of a narratorial role, a gesture towards a landscape outside the reading / performing space in a castle or manor.8 A more famous example occurs during Parzival’s first visit to the Grail castle, when the narrator comments on the puzzling presence of huge fireplaces in the great hall: sô grôziu fiwer sît noch ê  /  sach nieman hie ze Wildenberc (230.12 f.), a reference that locates a recitation, perhaps even the composition of part of Parzival, »here« in the castle built around 1200 in the Odenwald by the lords of Dürn.9 Given the greater extent of the descrip6  A paradigmatic early example: Michael Curschmann, »Das Abenteuer des Erzählens: Über den Erzähler in Wolframs Parzival«, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), 627–67. 7  Cited according to Iwein, ed. G. F. Benecke, K. Lachmann, rev. Ludwig Wolff, 7th ed., Berlin 1968. 8  This may also be ekphrastic, evoking an earlier place evoked by the narrator: Gawein and Iwein have returned from a tournament to Arthur’s castle at Karidol, where sluogens ûf ir gezelt  /  vür die burc an daz velt (3067 f.). 9  The location of the castle and its date are controversial, though noone seems to doubt the reference to a historical performance situation. See the commentary on this passage by Eberhard Nellmann, in: Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausg. Karl Lachmanns rev. u. komm. Eberhard Nellmann, übertr. Dieter Kühn (Bibliothek deutscher Klassiker 110), Frankfurt a. M. 1994, II, 572.

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tion in Book III, however, our reference to Gurnemanz’s castle may be more complicated. Where, and perhaps more importantly, just how are we supposed to imagine dirre burc, this castle? I have phrased the question in this manner because such references may not only involve the performative relationship between narrator and audience, but also engage the workings of the medieval imagination and its connection to the type of description known since classical antiquity as ekphrasis. Modern discussions have tended to limit this trope to descriptions of works of art, such as Achilles’ shield in Homer or Keats’s Grecian urn, and consider it as a static form, in opposition to the impetus of narrative.10 More recently, though, scholars have observed that classical and medieval ekphrastic practice seems to have encompassed a much more diverse variety of subjects ranging from architecture to character portraits and battle scenes, while others emphasize that its distinctive feature is not really a particular subject matter at all, but rather an intensity of representation, called enargeia in classical sources, which evokes something with particular vividness and thereby transforms the audience from listeners or readers to eyewitnesses.11 This means that ekphrasis can be both a descriptive genre and a narrative technique. More sophisticated texts not only interrelate description and narration but also inflect them through focalization, adding the psychological point of view of a character or narrator to the elements in play.12 There is a further dimension to ekphrasis in premodern literature, namely the extent to which this process may be connected to theories of the imagination and memory as well as to the particularly visual emphasis 10  For example, Haiko Wandhoff, Ekphrasis: Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters (Trends in Medieval Philology 3), Berlin 2003; Britta Bussmann, Wiedererzählen, Weitererzählen und Beschreiben: Der ›Jüngere Titurel‹ als ekphrastischer Roman (Studien zur historischen Poetik 6), Heidelberg 2011. 11  See esp. Ruth Webb, »Ekphrasis Ancient and Modern: The Invention of a Genre«, Word and Image 15 (1999), 7–18, and Ekphrasis, Imagination and Persuasion in Ancient Rhetorical Theory and Practice, Farnham (UK) / Burlington (VT) 2009. 12  See D. P. Fowler, »Narrate and Describe: The Problem of Ekphrasis«, The Journal of Roman Studies 81 (1991), 25–35; Shadi Bartsch, Jas Elsner, »Introduction: Eight Ways of Looking at Ekphrasis«, Classical Philology 102 (2007), i–vi (introduction to an issue devoted to ekphrasis). On focalization in general, see Gert Hübner, »Fokalisierung im höfischen Roman«, Wolfram-Studien 18 (2004), 127–50. For a Bakhtin-influenced study of how character speech dialogizes narrative, see Martin Schuhmann, Reden und Erzählen: Figurenrede in Wolframs ›Parzival‹ und ›Titurel‹ (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 49), Heidelberg 2008.



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of pre-print cultures.13 As far as I know, most medieval theories of the psyche derive from St. Augustine’s trinitarian interpretation in terms of intellect, will, and memory, the latter of which has a particularly important function as the storehouse of images, and thus as the source of imagination. Haiko Wandhoff suggestively draws attention to a seminal passage in Alcuin, which – following St. Augustine – describes how one forms images of things, i. e., imagines them when hearing or reading. Not fortuitously, his example is an ekphrastic description:14 Et adhuc mirabilius est, quod incognitarum rerum, si lectae vel auditae erunt in auribus, anima statim format figuram ignotae rei. Sicut forte Jerusalem quisquam nostrum habet in anima sua formatam, qualis sit: quamvis longe aliter sit, quam sibi anima fingit, dum videtur. […] Muros et domos et plateas non fingit in eo, sicut in Jerusalem facit, [sed] quidquid in aliis civitatibus vidit sibi cognitis, hec fingit in Jerusalem esse posse; ex notis enim speciebus fingit ignota. And it is more remarkable, that with respect to unknown things, if they come to our ears from reading or hearing something, the mind immediately fashions a figure of the unknown thing. So perhaps one of us might have formed in his mind an image of a putative Jerusalem: however greatly different the actuality may be, as his mind has fashioned [its image] for itself so [Jerusalem] will seem to him. […] He does not imagine the actual walls and houses and squares of Jerusalem, but whatever he has seen in other cities known to him, these he fashions as being possibly like those in Jerusalem; from known shapes he fashions a thing unknown.

In narrating Parzival’s approach to »this castle«, then, Wolfram may in part be engaging his audience in constructing an image out of memories stored in their imaginations (whether these be of literary or biographical origin), and this engagement may often be lurking behind references to this, that, there, now, or us in longer narrative episodes. Of course, the crucial elements will be provided by the narrator, but for the moment it is important to emphasize that they are mutually engaged in the process of construction, which may be quite self-conscious and complex. Several prominent examples in Parzival come to mind. One of the most spectacular must surely be Wolfram’s description of the Grail procession in Book V, which begins just after the hero’s already unconven13  Wandhoff, Ekphrasis, esp. ch. 1, »Ekphrasis und visuelle Imagination im Mittelalter«, 3–35. 14  (Patrologia Latina, 101.642) Latin text and English translation cited from Mary Carruthers, The Craft of Thought: Meditation, Rhetoric, and the Making of Images, 400–1200 (Cambridge Studies in Medieval Literature 34), Cambridge 1999, 311 f. and 119 f.

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tional reception has been interrupted by a squire who bursts into the room with the bleeding lance and rushes out again.15 The narrator soothingly offers to put us back on track (232.5–8), but the ensuing representation of the procession’s comings, goings, and groupings is by no means straightforward. In fact, it plays with the opposition between conventional description and ekphrastic presence. On the one hand, this event lies in the distant past, and the narrator presents it in the preterite tense as a description of what man sach (234.16, 236.30), a task made more difficult by the fact that he claims merely to be reporting secondhand what he has been told, man sagte mir (236.19, 238.8). On the other hand, he takes great pains to make that event present in the imaginations of the audience, not only marshaling their attention at several points in the narrative / performance, nu hœrt (232.12, 234.30, 238.2), but also evoking it as something happening in their collective imaginations that they are presently witnessing: seht (233.12), and intensified bilingually shortly thereafter in avoy nu siht man (235.8). Several strategies assist this dialogue between past description and ekphrastic present. For one thing, the vocabulary in this scene is strangely imbalanced. A preponderance of substantives referring to the material culture of the high aristocracy around 1200 enables audience imagination to feast on the extraordinary richness of the clothing and surroundings, that is, to supply a vision of the experience from the images stored in their own memories. By contrast, the verbs identifying the participants and their actions are strikingly vague, almost exclusively forms of sîn and tragen, gên and komen. However, the narrator imposes a structure on the entire procession by carrying on a running count of the groups and confirming his math skills with the audience: ob i’z geprüevet rehte hân,  /  hie sulen ahzehen frouwen stên (235.6 f.). Note the emphasis on here, something we might want to identify, along with the invocation to ›look‹ or deictic references such as this, that, there, now, and us as potential signals of ekphrastic vividness. That vividness can also be self-conscious and even ironic: as the narrative culminates in the activation of the Grail’s magical power to provide whatever the participants want to eat and drink, the narrator outrageously plays with the ekprastic presence of the miraculous by invoking his audience not only as witnesses to the event, but also as accomplices in the creation of its epiphany:

15  For an alternate reading, see Bernd Schirok, »Die Inszenierung von Munsalvaesche: Parzivals erster Besuch auf der Gralsburg«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 46 (2005), 39–78.



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man sagte mir, diz sag ouch ich ûf iwer ieslîches eit, daz vorem grâle wære bereit (sol ich des iemen triegen, sô müezt ir mit mir liegen) swâ nâch jener bôt die hant […], (238.8–14)

With this in mind, let’s return to the relationship between castles and their lords, landscape and power, beginning with Arthur’s court at Nantes, where Wolfram’s most surprising narrative ploy is the avoidance of ek­ phrasis in order to underrepresent the capital city and thus imply this king’s relative lack of power. II. Arthur and Nantes As suggested above, Parzival’s journey to Arthur’s court at Nantes comprises one of the most surprising changes in Wolfram’s romance, reimagining Chrétien’s Carlisle in Wales as Nantes in Brittany, thereby transposing a seaside castle to an inland city designated as Arthur’s capital or houptstat (144.7). Inevitably, such a radical shift presupposes a rather different anterior order from Chrétien’s struggle between Arthur and Rion for dominion over the Isles of the Sea. In this particular instance, the background struggle is first and foremost literary, adding an intertextual dimension that reveals a drastic devaluation of the rex quondam et futurus. First of all: why move the court to Nantes?16 In twelfth-century French and German romance, Nantes figures only once, at the end of Chrétien’s Erec, where Arthur promises to crown the hero at Nantes an Bretaingne (6553).17 The coronation ceremonies comprise the most extended description of courtly splendor in all of Chrétien’s romances (6656 ff.),18 and represent Arthur as the ideal king, outdoing even Alexander the Great and 16  See Bernhard Schmitz, »Nantes: Spielfelder der Handlung in Wolframs Parzival«, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 133 (2004), 22–44, who notes the discrepancy between Carlisle and Nantes (28–30), but connects the latter with contemporary wars of succession in England and Brittany (30–33). 17  Cited according to the edition of Wendelin Foerster, Erec und Enide (Christian von Troyes sämtliche Werke 3), Halle (Saale) 1890, 234. Joseph Duggan, The Romances of Chrétien de Troyes, New Haven 2001, 11, draws attention to the correspondences to a court convened by Henry II at Nantes at Christmas 1169. Nantes is not mentioned in Perceval, but in the continuations it is part of the kingdom of Caradoc. See G. D. West, An Index of Proper Names in French Arthurian Verse Romances 1150–1300 (University of Toronto Romance Series 15), Toronto 1969, 121. 18  Duggan, Romances, 291 f.

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Julius Caesar, and thus implying his role as their successor. The historic city with its imposing castle and cathedral provides a large-scale architectural backdrop for la grant joie et la grant hautesce (6657) of a series of events on Christmas day: the dubbing and outfitting of four hundred knights; Erec’s coronation in the great hall as a kosmokrator, as suggested by a conventional ekphrasis of his regalia; the high mass in the cathedral with the assembled clergy led by the bishop; and finally the concluding feast for the invited kings, counts, dukes and barons at five hundred tables in five different halls, each with a thousand knights serving bread, wine, and food. It would be difficult to outdo this description designed to outdo all previous courtly feasts. In Chrétien’s first Arthurian romance, then, the resplendent city of Nantes provides an originary site for the reflection of Arthurian regal power. Somewhat surprisingly, Hartmann von Aue’s Erec deletes this episode entirely.19 Wolfram’s relocation of Arthur’s court to Nantes may thus represent first and foremost a retrospective correction or rehtification of Hartmann, constituting – as I have suggested elsewhere – part of a pervasive intertextual strategy instantiating his narrative as the ›correct‹ Arthurian history of events left unresolved or – as in this case – unrepresented in Hartmann’s romance.20 The intertextual agenda surfaces explicitly as soon as Parzival approaches Nantes: the narrator invokes mîn hêr Hartmann von Ouwe (143.21), threatening to punish Enite and her mother Karsnafide if the hero is not accorded the proper reception at Arthur’s court – a punishment that has in fact already begun, since Wolfram identifies Orilus’s wife Jeschute as Erec’s sister (and his harsh treatment of her pointedly recapitulates Erec’s punishment of Enite). Parzival’s other adversaries in his first set of adventures will also be connected to the posthistory of Erec and the consequences of its action. Equally important, however, is the fact that the relocation of Arthur’s court to a radically different Nantes from Chrétien’s foundational narrative also underscores a drastic devaluation of the king’s power and stature, destabilizing and even carnivalizing the king as a ruler isolated within his own capital city and not even in control of his own court.21 The first 19  On hearing of his father’s death, the German hero departs instead for his homeland of Destregales, where he and Enite are received by his subjects and crowned in the city of Karnant (10002 ff.). 20  Groos, Romancing the Grail, 70–73, 76–78, 116–118. 21  The mention of capital cities is rare before Wolfram, occurring as one might expect principally to designate Rome in the Kaiserchronik and in Veldeke’s Eneit. In contrast, the landscape of Parzival is scattered with kingdoms that also have a capital



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indication of the different situation is suggested by a scene Wolfram adds to his source: the arger wirt (142.15) with whom Parzival spends a night on the outskirts of Nantes. The nasty innkeeper’s insistence on receiving payment for his hospitality rather than practising milte explicitly contrasts the nascent urban money economy with the – for him – useless gift economy of the nobility. Indeed, the two classes are represented here as mutually exclusive: although Parzival encounters both knights and merchants on his way to Nantes (142.7), they do not seem to interact in the city. When asked to lead the hero to court, the innkeeper demurs: ›wie wol mîn lîp daz bewart! diu mässenie ist sölher art, genæht ihr immer vilân, daz wær vil sêre missetan.‹ (144.13–16)

This response may also have an intertextual dimension, referring either to the exclusion of peasants from Erec’s coronation in Chrétien’s Nantes or the more general exclusivity from Arthurian society posited at the beginning of Hartmann’s Iwein (38–42). Arthur’s court may be located inside his houptstat, but it is also isolated from it. Not surprisingly, Wolfram’s representation of Nantes has nothing of Chrétien’s power, splendor, and festive aristocratic crowds. Indeed, the only inhabitants we see appear in the form of a gang of children who mockingly follow the hero in fool’s clothing (147.13). The city itself is only vaguely perceptible through references to a moat (156.2) or the hero’s entrance and exit (147.11, 153.24), in part because the focus of this episode has shifted to the meadow outside the city walls, vor Nantes ûf dem plân, which is evoked six times throughout the narrative (153.24, 156.22, also 160.8, 165.21, 315.12, 559.9). On this generic patch of courtly meadow, Wolfram conjures up for his audience’s imagination something far more consequential, the challenge to Arthur’s tenuous dominion over this amorphous capital city by his nephew Ither, King of Cumberland and the tavelrunder hœhster prîs (160.6 f.), who is described with rhetorical virtuosity as an extraordinarily elegant but dangerous Red Knight (145.15– 146.3),22 and apparently superior to the hero both in terms of equipment and training. city: Barbygoel in Lîz (385.3), Kanvoleis in Wales (77.10), Kingrivals in Norgals (103.10, 140.30), Brandigan in Iserterre (178.20); Bealzenan in Anjou (261.20 f.), Schanpfanzun in Ascalun (321.19 f.), Caps in Terre de Labur (656.19); Rosche Sabbins in Gramoflanz’s kingdom (681.11 f.). 22  Cf. Andrea Schindler, »ein ritter allenthalben rôt. Die Bedeutung der Farben im Parzival Wolframs von Eschenbach«, in: Ingrid Bennewitz, Andrea Schindler (eds.), Farbe im Mittelalter: Materialität – Medialität – Semantik, Berlin 2011, 461–78.

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The situation inside the palace has also been devalued. Whereas in Chrétien’s narrative the court is relatively empty because many barons have returned home to the comfort of their own estates, Wolfram’s court is crowded and confused. Three motifs foreground the chaos. The episode is framed by references to the gedranc, the crowd or press of people, as Parzival enters and leaves the court (147.15, 153.19), where he is constantly jostled, gedrungen (148.20, 150.30). More importantly, whereas Perceval does not initially recognize the king, who has to be identified, Parzival twice expresses his inability to find him, first confusing the knights in the courtyard with Arthur, ich sihe hie mangen Artûs (147.22), then – after being promised the real king inside the palace – exclaims in frustration amid the general schalle (147.29) that he cannot tell who among the group is the host – a devastating comment in an aristocratic society that conventionally stages the centrality of the king’s presence to emphasize his power. Finally, Wolfram compounds this confusion by having Iwanet lead the hero to the interior rooms of the palace, where a low hedge enables him to see and be seen by the queen and her retinue at a window – a shocking penetration of internal security by an armed intruder in fool’s clothing. From the beginning of Wolfram’s narrative, then, the representation of Arthur and his retinue has devolved from Chrétien’s supreme ideal of European chivalry into a disorganized backwater court, isolated from the surrounding urban space and rent by internal dissention. Wolfram’s striking defense of Kay in Book VI by comparing Arthur’s retinue with Hermann of Thuringia’s famously unruly court will later provide the logical continuation of this carnivalizing portrayal (296.16– 297.30). III. Gurnemanz and Graharz Chrétien’s description of Perceval’s arrival at Gornemant’s castle in Le Conte du graal presents a tour de force of architectural ekphrasis in the more narrow modern sense, standing out among the initial set of adventures not only on account of its detailed description of the castle but also because of its gradual shift of perspective – a proto-cinematic panning shot – across the landscape from the hero to his host. It extends for over forty lines (1305–50), beginning with Perceval’s approach along a raging river on the other side of a high rocky cliff, follows his gaze to the slope from which the castle towers appear to grow out of the rock, pauses objectively on the interaction of the waters of the bay and the tide, then focuses on the castle’s barbican, walls and turrets before finally narrowing down to the round entrance tower and bridge, on which a prodon robed



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in ermine and holding a staff of authority, attended by two squires, awaits the approaching rider. That gentleman, Gornemant of Goort, has already made an appearance in Erec (1695), where he is ranked fourth among the members of the Round Table, a position of power and status confirmed not only by his dignified appearance, but also by the imposing ›foursquare‹ description of his castle. Although he later reveals his identity to Perceval (1548, 1892), attentive members of Chrétien’s audience may already have intimated it from the description of the bay, from which the name Goort derives (gort [1332], regort [1324] = bay).23 In terms of identity, then, Gornemant’s surname derives from this feature of the landscape, the bay and the castle situated there. Wolfram disregards all these details. Setting out from Nantes rather than Carlisle, Parzival’s journey towards his destination traverses an inland landscape rather than a coastline. As the hero approaches, the narrator begins the encounter by identifying the lord of this particular castle before mentioning the castle itself: Gurnemanz de Grâharz hiez der wirt  /  ûf dirre burc dar zuo er reit (162.6 f.). This lapidary statement conveys several important pieces of information. The given name Gurnemanz and the (French) surname de Graharz are imagined independently of the castle.24 In fact, the surname cannot derive from a long-standing dynastic association with this place, since Gurnemanz is unique among the principal characters in Parzival in having no named ancestors.25 His power and status thus appear to derive from personal merit, rather than ancestry. Accordingly, the surname Graharz seems less an adaptation of the variants for Chrétien’s Goort or Gohort than an etymology of Wolfram’s own invention, one derived not from the place but from the ruler himself, namely his grey hair (= Grâ-har[z]). The grey-haired lord of Graharz has already been introduced proleptically at the beginning of Book III by Herzeloyde’s advice to Parzival to let himself be instructed by ein grâ wîse man (127.21), and the hero obediently cites it in greeting his host: mich pat mîn muoter nemen rât  /  ze dem der grâwe locke hât (162.29 f.). The etymology of the name Grâharz, then, is subjective rather than objective: rather than devolving from the place to its ruling dynasty, as in Le Conte du graal, it devolves here from this individual to the place. As we will see, 23  See the variants listed for lines 1548 and 1892 in the edition of Alfons Hilka, Der Percevalroman, 68 and 84. 24  They occur together only four times: 68.22, 162.6, 189.18 f., 214.16. 25  See Werner Schröder, Die Namen im ›Parzival‹ und im ›Titurel‹ Wolframs von Eschenbach, Berlin 1981, 49 f., and the genealogical chart in Karl Bertau, Wolfram von Eschenbach: neun Versuche über Subjektivität und Ursprünglichkeit in der Geschichte, Munich 1983, 236 f. Another – antithetical – parvenu is Kay.

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Graharz is indeed entirely Gurnemanz’s dominion, and expressive of his unique personal circumstances: des was diu burc unt ouch daz lant (162.14). There is a further implication in our central statement that Gurnemanz de Grâharz hiez der wirt  /  ûf d i r r e burc dar zuo er reit (162.6 f.). The emphasis on »this castle towards which he rode« suggests ekphrastic prompting of the audience to re-create the scene in their visual imaginations. Indeed, as he did with the contrasting portraits of Parzival and Ither outside Nantes, Wolfram engages his audience in imagining two contrasting landscapes. The first, one of the most astonishing feats of focalization in premodern literature, expands a brief allusion by Chrétien (1326 f.) into an epistemologically laden scene, using perspective – not normally considered a component of the medieval imagination – to suggest Parzival’s foolishness as he perceives the turrets of Gurnemanz’s castle appearing to grow out of the ground, then exclaims that Arthur is a better farmer than his mother’s peasants: hin gein dem âbent er dersach eins turnes gupfen unt des dach. den tumben dûhte sêre wie der türne wüehse mêre: der stuont dâ vil ûf eime hûs. dô wânder si sæt Artûs: des jaher im für heilikeit, unt daz sîn sælde wære breit. Also sprâch der tumbe man, ›mîner muoter volc niht pûwen kan. jane wehset niht sô lanc ir sât, swaz sir in dem walde hât: grôz regen si selten dâ verbirt‹. (161.23–162.5)

Such, then, is this castle, dirre burc, towards which he rides. The subjective version of the hero’s misperception that we have shared will now be replaced by a more objective narratorial one. This second description begins – as in Chrétien – with Perceval’s approach and concludes with the waiting lord of the manor, but deletes the extended description of the castle and the focalization on the hero’s perspective. In representing Parzival’s arrival, the narrator emphasizes two important features, noting the hero’s lack of control (he is brought there by the horse and the road) and focusing on the grounds surrounding the castle rather than the building itself:



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Gurnemanz de Grâharz hiez der wirt ûf dirre burc dar zuo er reit. dâ vor stuont ein linde breit ûf einem grüenen anger: der was breiter noch langer niht wan ze rehter mâze. daz ors und ouch diu strâze in truogen dâ er sitzen vant des was diu burc unt ouch daz lant. (162.6–14)

But landscapes, like castles, are never neutral spaces. The green meadow contributing to the pleasance-like surroundings is of the most obvious interest, since it is a visible expression of the lord of the manor’s character and rule: its length and breadth are of proper proportions – everything seems to be ze rehter mâze. This intimation of proportion and consequently of propriety provides a foil to the foolish hero as he rides towards his host without being able to control his equipment: ein grôziu müede in des betwanc, daz er den schilt unrehte swanc, ze verre hinder oder für, et ninder nâch der site kür die man dâ gein prîse maz. Gurnemanz der fürste al eine saz: ouch gap der linden tolde ir schaten, als si solde, dem houbetman der wâren zuht. (162.15–23)

The manor grounds are proportionally reht, neither too breit nor too lanc, whereas the hero swings his shield unrehte, either too far hinder or für, behavior contrary to the precise observance of custom in this place that will be corrected by »the captain of true courtesy«. A second feature of Gurnemanz’s domain reveals something more than the measured order that initially meets the eye. The linden tree is mentioned twice during Parzival’s approach (162.8 / 21), the second reference even seeming to essentialize it as a simple provider of shade (als si solde). But lindens are – not coincidentally – a prominent feature of the landscape of Minnesang, and they also frame Parzival’s ensuing encounters with Condwiramurs in Book IV and Sigune in Book V. Although it seems more innocent than the shade-giving lindens of the Minnegrotto in Tristan, this tree also adumbrates a hidden agenda relating to the costume of this place. In contrast to his counterpart in Chrétien’s narrative, who is accompanied by two squires, Gurnemanz sits al eine under the linden tree – because he is truly alone. His three sons have already perished (and after

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them, his grieving wife) as a result of the events of Hartmann’s Erec and the chaotic aftermath that Wolfram imagines as extending into the action of his own narrative: Lascoyt has been killed by Ider in the sparrowhawk contest that opens Erec (178.11–13) and Gurzgri by Mabonagrin in its concluding episode at the Joie de la curt (178.15–23), while Schenteflurs dies defending Condwiramurs – whom we will meet in Book IV – against the siege of Clamide, the king of Brandigan, where the Joie de la curt took place (177.27–178.5). The consequences of Erec – Wolfram’s literary counterpart of the anterior war in Chrétien’s narrative – have devastated Lord Gurnemanz’s hopes of founding a dynasty. Grey-haired Gurnemanz’s only hope for the future now depends entirely on making the proper alliance for his only remaining child, his daughter Liaze, and thereby assuring the continuation of his lineage. Although it might be an overstatement to designate the linden tree outside the castle of Graharz as the signifier of a ›love trap‹, Gurnemanz and his court – in contrast to their counterparts in Chrétien’s narrative – are obsessively concerned with the suitability of visitors for Liaze, and thus highly attuned to the discourse of love.26 Hence the constant references in praise of Parzival’s beauty;27 Gurnemanz’s embarrassed assumption that Parzival wears fool’s clothing in the service of a lady after he dismounts and is disarmed (164.27 f.); the bath on the following morning, with rose petals in the water, maidens who come unbidden to wash and massage him and would like to see ob im dar under iht wære geschehen (167.28).28 Hence also the presentation of a new courtly outfit dominated visually by a white shift and red hose (the colors of love), which offsets his burning red lips (sîn munt dâ bî vor rœte bran, 168.20), and finally the evening in which the guest is allowed to kiss Liaze’s mouth (dem was wol fiwers varwe kunt, 176.10) as well as have an intimate meal without external dranc (176.14). All to no avail: Parzival’s departure the next morning raises the loss of Gurnemanz’s sons from three to four. IV. Antikonie and Schampfanzun Inasmuch as Wolfram emphasizes at the outset that his narrative will present the audience with joy as well as sorrow (3.30), it may not be amiss or even unreht to conclude my discussion with a carnivalizing ekphrasis 26  Not

surprisingly, the episode has a high incidence of French loan words. 165.2, 166.15 f., 167.17–20, 168.24–169.4. 28  Intertextually speaking, they seem to be expecting an Erec-tion. 27  164.12–20,



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that at first glance resembles the scene at Gurnemanz’s castle: Gawan’s arrival at the walled city of Schampfanzun in Book VIII.29 The narrator begins by following Chrétien, gearing up for a large-scale ekphrastic description of the setting, but the implied set-piece is soon parrieret by other issues, finally needing three starts to reach its outrageous conclusion. Wolfram launches the scene with a focalization on Gawan’s first glimpse of the castle. After directing the audience to notice its splendor and hear a tale of adventure, the narrator begins with neither of the discourses signaled by the appeal to sight and sound, description and narrative, suddenly directing the audience’s participation in a lament (note the invocation of ekphrastic presence, âvoy): dô nam er einer bürge war: âvoy diu gap vil werden glast: dâ kerte gegen des landes gast. Nû hœrt von âventiure sagen, und helfet mir dar under klagen Gâwâns grôzen kumber. (398.28–399.3)

A second attempt at description shortly thereafter returns to the castle’s numerous halls and towers and vast expanse, quickly devolving with each new detail into a mock ekphrasis: disiu burc was gehêret sô daz Enêas Kartâgô nie sô hêrrenlîche vant dâ froun Dîdôn tôt was minnen pfant. waz si palase pflæge und wie vil dâ türne læge? ir hete Acratôn genuoc, diu âne Babylône ie truoc ame grif die grœsten wîte nâch heiden worte strîte. si was alumbe wol sô hôch unt dâ si gein dem mer gezôch: decheinen sturm si widersaz, noch grôzen ungefüegen haz. (399.11–24)

In the first of many playful references to epic in Book VIII it begins with an arresting comparison to Dido’s Carthage – does the lament for Gawain presage an amorous entanglement, with potentially tragic consequences? – but then moves on to suggest Schampfanzun’s grandeur by comparing it 29  Cf. Manfred Eikelmann, »Schanpfanzun. Zur Entstehung einer offenen Erzählwelt im Parzival Wolframs von Eschenbach«, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 125 (1996), 245–63.

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with Acraton, a nonce city in the fabulous orient invented by Wolfram, admittedly only the second most extensive city after Babylon (although its dimensions are a matter of controversy even among the heathens, which further undercuts the laudatio of the city), before returning to Chrétien’s text in its concluding lines in 399.21–24. Unlike Parzival’s first set of adventures, this description seems focalized on Gawan’s approach to this capital city and conveys no information about Vergulaht, the ruler of Schampfanzun. Representations of the city will in fact not serve as an indicator of his character or rule at all, nor will the extensive description of his appearance establishing the connection to Parzival’s lineage (400.6–18). Instead, an unexpected feature of the landscape reveals what the visible manifestations of power and lineage do not. On the broad, uncultivated plain in front of the city (first innocently mentioned in 399.25), Vergulaht’s falcon has pursued a heron into a swamp and become entrapped; Vergulaht has pursued it and fallen in; and his falconers have laid claim to his clothes, as is their reht. This is not a wellordered kingdom.30 Unbeknownst to a first-time audience, however, Schampfanzun is ruled by a brother and a sister, Vergulaht and Antikonie.31 Indeed, the narrator’s fitful descriptions of the city have been preparing to suggest its connection not to Vergulaht but to Antikonie instead. The third attempt at an ek­ phrasis of the castle escalates the rhetoric and focuses on her. It begins with an architectural inexpressibility topos – an architect could speak better about this building’s solidity than I – and continues with an encomium of the city in terms of superlatives, the best ever named, immeasurably ample, etc. swer bûwes ie begunde, baz denne ich sprechen kunde von dises bûwes veste. dâ lac ein burc, diu beste diu ie genant wart ertstift: unmâzen wît was ir begrift. (403.15–20)

Having led the audience down this ekphrastic primrose path, the narrator abruptly breaks off by switching to the first person and changing the 30  See Rüdiger Schnell, »Vogeljagd und Liebe im 8. Buch von Wolframs Parzival«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 96 (Tübingen 1974), 246–69. 31  Herta Zutt, »Gawan und die Geschwister Antikonie und Vergulaht«, in: Rüdiger Schnell (ed.), Gotes und der werlde hulde. Festschrift für Heinz Rupp, Bern 1989, 97–119.



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topic to the king’s sister, only to make an outrageous metonymic shift from the lady back to the castle by means of a tertium comparationis – both are ›well built‹: der bürge lop sul wir hie lân, wande ich iu vil ze sagen hân von des küneges swester, einer magt. hie ist von bûwe vil gesagt: die prüeve ich rehte als ich sol. was si schœn, daz stuont ir wol […] (403.21–26)

The play with genre conventions will continue throughout the book. **** These observations have, I hope, suggested ways of thinking about castles and their surrounding landscapes in Parzival as spaces that are anything but neutral. In the three episodes at Nantes, Graharz and Schampfanzun discussed above, it seems that Wolfram diverges radically from Chrétien’s narrative in order to reflect his altered conception of the power, character, and costumes of their rulers in varied and subtle ways. After all, as the English saying goes, a man’s (or a woman’s) castle is his (or her) home – and thus a reflection of that person’s character. In terms of narrative theory, the representations of these spaces reveal a complex interplay between ekkphrasis as both description and narrative – the possibility to make a standard set-piece vivid by suddenly engaging the enargeia of ekphrastic presence, or shifting the focus to and between characters and the narrator, or indeed to ironicize them altogether. When it comes to unravelling the complexities of medieval narrative, we may still be, to quote Heinrich von Morungen, vil kûm an dem beginne.

Für eine Einordnung Uguccione da Lodis Von Matthias Bürgel I. Obgleich nunmehr beinahe 130 Jahre vergangen sind, seit Alfred Tobler erstmals das Buch Uguccione da Lodis edierte und somit einen der frühesten bezeugten Autoren eines norditalienischen volgare der Öffentlichkeit bekannt machte,1 wissen wir weiterhin nur wenig über dessen Person. Sein Name ist letztlich durch eine einzige Zeile auf uns gekommen: »Questo è lo començamento delo libro de Uguçon de Laodho«,2 den ersten Satz unter der Übertitelung »In Cristi nomine« auf dem Blatt 50r des ms. Hamilton 390 der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin (= Saibante). Auf den folgenden Seiten des Kodex (50r–83r) folgen zwei religiös-moralisch-didaktische Werke in Versform,3 deren Verschiedenheit und unterschiedliche Autorschaft zuerst von Vincenzo de Bartholomaeis ermittelt werden konnte.4 Bekräftigt wurde diese Erkenntnis durch die Untersuchung der beiden Sermone durch Romano Broggini im Rahmen seiner grundlegenden Ausgabe,5 dank welcher wir inzwischen auch, entgegen der früheren Vermutung Ezio Levis,6 konstatieren können, dass lediglich die erste der beiden Abhandlungen der einzige sicher von Uguccione erhaltene Text ist.7 1  A. Tobler, Das Buch des Uguçon de Laodho (Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1), Berlin 1884. 2  Vgl. Concordanze della lingua poetica italiana delle origini (CLPIO), I, a cura di D’Arco Silvio Avalle, Milano / Napoli 1992, 54. Dieser Ausgabe sind alle folgenden Zitate des Libro entnommen. 3  Ibid., 54–68. 4  Vgl. Il libro delle tre scritture e il volgare delle vanità di Bonvesin della Riva, editi a cura di Vincenzo de Bartholomaeis, Roma 1901, 23 f. 5  Vgl. R. Broggini, L’opera di Uguccione da Lodi [als fasc. XXXII (1956) von Studi romanzi], Roma 1956, 12–19. 6  Vgl. Ezio Levi, Uguccione da Lodi e i primordi della poesia italiana, Firenze 1921, sodann Venezia 1928, 13. 7  Vgl. Broggini, L’opera di Uguccione, 21 ff. Begründete Zweifel an der Autorschaft Ugucciones für die weiteren von Levi genannten Werke, insbesondere in Be-

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Nach allgemeinem Usus soll er im Folgenden unter der, gleichwohl zu seiner Entstehungszeit rein generischen, Bezeichnung Libro behandelt ­ ­werden.8 Das Libro ist also Teil jenes bedeutsamen, mehr und mehr in seiner Homogenität als Buch heraustretenden,9 Manuskripts, das beinahe zur Gänze die frühesten literarischen Zeugnisse des volgare Norditaliens vereint.10 Ohne an dieser Stelle die Forschungsdiskussion in all ihren Details zu entfalten, sei darauf hingewiesen, dass die jüngsten Erkenntnisse, nach denen sich das ms. Hamilton 390 zur Mitte des 14. Jahrhunderts in Besitz eines venezianischen Kaufmannes auf Zypern befand,11 nicht notwendigerweise Corrado Bolognas These, nach der seine Zusammenstellung und Organisation auf eine Entstehung unter Einfluss der Programmatik der Bettelorden, insbesondere der Franziskaner, hinweist,12 widerzug auf die Zuschreibung des Anticristo, hatten bereits Antonio Medin, »L’opera poetica di Uguccione da Lodi«, Atti del Reale Istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti LXXXI (1921–1923), 185–209, hier 198 ff., und Angelo Monteverdi, »Luoghi comuni nell’antica poesia italiana«, Giornale Storico della Letteratura Italiana LXXXI (1923), 200–202, geäußert. 8  Ibid., 22: »›Libro‹ è tutto, all’inizio del duecento; Salimbene p. es. parla di un ›liber tediorum‹ del Pateg, che non è altro che un ›enueg‹ o forse tutta la tenzone con Ugo da Perso«. 9  Vgl. G. Vinciguerra, »L’incanto del lotto Saibante-Hamilton 390. Coordinate per un manoscritto«, Critica del testo VII.1 (2004), 473–503. 10  Vgl. C. Bologna, »La letteratura dell’Italia settentrionale nel Duecento«, in: Letteratura italiana, diretta A. A. Rosa, I: Le origini, il Duecento, il Trecento. La storia e gli autori, Torino 1987, 109–228, hier 156. Es handelt sich um einen 270 × 170 Millimeter großen Pergamentkodex aus dem Veneto, datierbar auf die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts, der insgesamt 159 Blätter, in gotischer Schrift (littera textualis) umfasst; vgl. CLPIO, xxxix. Für eine genaue Beschreibung des Manuskripts ist auf M. L. Meneghetti, S. Bertelli, R. Tagliani, »Nuove acquisizioni per la protostoria del codice Hamilton 390 (già Saibante)«, Critica del testo XV.1 (2012), 75–126, hier 84–89 zu verweisen. Präsentiert werden dort die Ergebnisse der jüngsten Sichtung des Kodex im Dezember 2011; ibid, 83 ff. Neben den lateinischen Fassungen der Disticha Catonis und des Liber Panfili, den Sortes apostolice ad explanandum, einer Sammlung von exempla, drei medizinischen Rezepten nach einem Kalender, einem Ad explanandum sompnium und den Conplexiones et certa de hominibus beinhaltet der Kodex folgende volgare-Texte: Die volgarizzamento-Fassung der Disticha Catonis, das Libro, die Istoria (den zweiten, in der Vergangenheit ebenfalls Uguccione zugeschriebenen Verssermon), Girardo Patecchios Splanamento deli proverbii de Salamone, eine Paraphrase des Pater noster, die Proverbia quae dicuntur super natura feminarum sowie das volgarizzamento des Liber Panfili. Das Libro umfasst die Blätter 50r–62v. 11  Vgl. Meneghetti, Bertelli, Tagliani, »Nuove acquisizioni«, 92 ff. 12  Vgl. C. Bologna, »Poesia del Centro e del Nord«, in: Storia della letteratura italiana, diretta Enrico Malato, I: Dalle origini a Dante, I: Le origini, Roma 1995, 405–525, hier 460, und ders., »La letteratura dell’Italia settentrionale«, 156 f.



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sprechen.13 Sprachlich differiert das Libro nicht sonderlich von den anderen Texten des Saibante:14 In der lombardisch-venetischen mit Gallizismen durchsäten15 »Mischsprache«16 ergeben sich beträchtliche Schwierigkeiten, zwischen auf seinen (lombardischen) Autor und auf seinen (venetischen) Kopisten zurückgehenden Charakteristika zu unterscheiden.17 Broggini zufolge gehen die undeutlichen Unterscheidungen im Auslaut zwischen -e und -i (etwa v. 327: »le maladhe«, was kaum als Femininum zu deuten ist) höchstwahrscheinlich auf den Verfasser zurück und lassen sich den in der östlichen Lombardei gesprochenen Varietäten zuordnen.18 Da -e allerdings ebenso aus einer fehlerhaften Rekonstruk­ tion des entfallenen Endvokals resultieren könne,19 erlaube auch diese Beobachtung letztlich keine definitiven Rückschlüsse auf die präzise Herkunft des Autors. Ob solche überhaupt getroffen werden können, erscheint noch fragwürdiger, wenn man die – von Contini negierte – Existenz einer oberitalienischen Koinè annimmt und das Libro eben dieser 13  Eine toskanische Bearbeitung, deren Transkription auf das Jahr 1265 zurückgeht, beweist in jedem Fall eine recht schnelle und, im Verhältnis zu der uns vorliegenden Manuskripttradition, umfangreichere Verbreitung der beiden Sermone; vgl. Broggini, L’opera di Uguccione, 19: In der im ms. Campori I (γ.y.6.10) der Biblioteca Estense di Modena enthaltenen Bearbeitung der beiden Texte des Saibante entsprechen die Verse 406–452 den Versen 429–473 des Libro. Die Kompilation verwendet außerdem Material einer zuweilen ebenfalls Uguccione zugeschriebenen Contemplazione della morte; vgl. G. Bertoni, »Intorno alla così detta« Contemplazione della morte »attribuita a Uguccione da Lodi«, Giornale Storico della Letteratura Italiana XCIV.2 (1929), 197–200. 14  Vgl. Broggini, L’opera di Uguccione, 11. 15  Ibid, 6. 16  A. Michel, Einführung in das Altitalienische, Tübingen 1997, 193. 17  Vgl. die Beobachtungen von Gianfranco Contini bezüglich der Sprache des Splanamento (G. Contini, Poeti del Duecento, I, Milano / Napoli 1960, 559): »[…] non è sempre agevole distinguere fra dati obiettivi e sovrapposizioni della copia in senso veneto«, und von Alfredo Stussi hinsichtlich der Proverbia; A. Stussi, »Medioevo volgare veneziano«, in: ders., Storia linguistica e storia letteraria, Bologna 2005, 41: »[…] vien fatto di chiedersi poi se la loro venezianità linguistica sia imperfetta perché fu acquisita nel corso della tradizione, o invece perché essendo originaria, fu oscurata dai copisti: una risposta, allo stato attuale della ricerca, è impossibile, perché manca un’analisi approfondita e comparata di tutti i testi del codice berlinese, che è anche collettore dell’opera di autori lombardi come Uguccione da Lodi e Girardo Patecchio.« Contini leitet seinen Kommentar zu Uguccione entsprechend ein, Contini, Poeti del Duecento, 600: »I fatti più ovvî della lingua di Uguccione sono di massima quelli già studiati per i Proverbia e specialmente per Patecchio.« 18  Vgl. Broggini, L’opera di Uguccione, 12. 19  Ibid.

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zuordnet:20 Die Präsenz gemeinsamer, nicht-lokaler sprachlicher Charakteristika (obgleich solche natürlich keineswegs in den jeweiligen Texten ausgeschlossen sind) machen Lokalisierungen extrem schwierig, wie Glauco Sanga just in Bezug auf die Proverbia des Saibante bemerkt.21 Maria Antonietta Grignani, die sich ebenfalls mit den Endvokalen der Texte des Manuskripts auseinandersetzt,22 spricht sogar gerade für das Gebiet zwischen Lodi und Cremona von einem »subsistema di transi­ zione tra Lombardia occidentale e area bresciano-bergamasco«,23 weshalb die entsprechenden Schwankungen des Libro auf miteinander kontrastierende Einflüsse angrenzender Sprachgebiete zurückzuführen seien.24 In der Tat konnte Ugucciones genaue Identität bislang nicht entschlüsselt werden. Nachdem bereits Tobler verschiedene historisch belegte Persönlichkeiten der Stadt Lodi vorgeschlagen hatte,25 vermutete Francesco Torraca einen 1167 im Friedensschluss mit Mailand genannten Konsul Uguenzonus Brina hinter dem Autor.26 Demgegenüber versuchte Levi (im Rahmen einer These, auf die noch zurückzukommen sein wird), seine Provenienz auf Cremona festzulegen,27 was sodann von der nachfolgenden Forschung weithin als wahrscheinlich angesehen wurde (unter anderem von Gianfranco Contini28 und Cesare Segre / Carlo Ossola29 in ihren jeweiligen Anthologien). Broggini etwa führte als zusätzlichen Beleg die gleichzeitige Präsenz des gewiss Cremonensischen Splanamento im Saibante an.30 Allerdings demonstrieren die weiterhin zwischen »lodigiano«31 (Corrado Bologna) und »probabilmente cremonese«32 (Beretta) schwankenden Bezeichnungen, dass eine eindeutige Lösung des Problems immer noch aussteht. 20  Vgl. G. Sanga, »La Lingua Lombarda. Dalla koinè alto-italiana delle Origini alla lingua cortigiana«, in: ders. (Hg.), Koinè in Italia. Dalle Origini al Cinquecento. Atti del Convegno di Milano e Pavia, 25–26 settembre 1987, Bergamo 1990, 79–163, hier 91–92. 21  Ibid, 96. 22  M. A. Gragnani, »Koinè nell’Italia settentrionale. Note sui volgari scritti settentrionali«, in: Sanga (Hg.), Koinè in Italia, 35–53, hier 40–42. 23  Ibid, 41. 24  Ibid. 25  Vgl. Tobler, Das Buch des Uguçon de Laodho, 8. 26  Vgl. F. Torraca, Studi su la lirica italiana del duecento, Bologna 1902, 355–357. 27  Vgl. Levi, Uguccione da Lodi, 110 ff. 28  Vgl. Contini, Poeti del Duecento, 597. 29  Vgl. Antologia della poesia italiana, diretta Cesare Segre, Carlo Ossola, Torino 1999, 574. 30  Vgl. Broggini, L’opera di Uguccione, 7. 31  Bologna, »La letteratura«, 162.



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Zumindest hinsichtlich der Frage der Datierung und, mit dieser eng verbunden, der nach den Quellen des Werkes konnten jedoch in den vergangenen Jahren neue Forschungsergebnisse vorgelegt werden: So zeigte Carlo Beretta auf, dass der Vers de la Mort des Hélinant de Froidmont nicht, wie bis dahin, wiederum von Ezio Levi ausgehend, allgemein angenommen,33 als gesicherte Quelle Ugucciones gelten kann und der terminus post quem 1194–1197 (die Entstehungsjahre des Werkes des französischen Zisterziensermönches) für die Abfassung des Werkes entsprechend nicht aufrecht zu halten ist.34 Hingegen führt das Libro an einer Textstelle offensichtlich eine Entlehnung aus dem Sirventese Conseil don a l’emperador35 des Raimbaut de Vaqueiras durch,36 weshalb seine Genese in jedem Falle nach dem recht eng umrissenen Entstehungszeitraum des provenzalischen Werkes, dem 9. Mai 1204 und dem 14. April 1205,37 anzusiedeln ist.38 Da besagter Passus auf zeitgenössische Geschehnisse in Verbindung mit dem Vierten Kreuzzug anspielt und der Erfolg von Conseil don a l’emperador seinen Entstehungsanlass wohl nicht lange überdauerte, datiert Beretta Ugucciones Verssermon plausibel in die unmittelbar 32

32  C. Beretta, »Su alcune fonti (vere e presunte) del ›Libro‹ di Uguccione da Lodi«, in: AA.VV., La cultura dell’Italia padana e la presenza francese nei secoli XIII–XV, Alessandria 2001, 69–94, hier 93. 33  Zu weiteren frühen Überlegungen über die Quellen Ugucciones (unter Erwähnung des Vers de la mort, vgl. G. Vitaletti, »Recensione a Ezio Levi, ›Uguccione da Lodi e i primordi della poesia italiana‹«, Archivium Romanicum V (1921), 503–513. 34  Vgl. Beretta, »Su alcune fonti«, 70–77. 35  Vgl. die kritische kommentierte Textausgabe in J. Linskill, The Poems of The Troubadour Raimbaut de Vaqueiras, Den Haag 1964, 225–240. 36  Es handelt sich hierbei um die Verse 620–622 des Libro: »De tute parte le çente ge·serà,  /  Ongari e Bolgari, Rossi, Blachi e Cuman’,  /  Turchi e Armin’, sarrasin’ e pagan’.« Vgl. die entsprechende Stelle des provenzalischen Sirventeses in Linskill, The Poems, 226: »qe li Blac e·il Coman e·il Ros« (v. 36). Claudio Ciociola identifizierte zudem eine Philippe de Thaon zugeschriebene anglo-normannische Desputeisoun de l’âme et du corps als Quelle des Libro sowie des im cod. 4251 der Biblioteca Casanatense zu Rom enthaltenen (und nach Ciociola ebenfalls auf Uguccione selbst zurückgehenden) Fragments, welches textuelle Korrespondenzen zu den beiden Sermonen des Saibante aufweist; vgl. C. Ciociola, »Nominare gli anonimi (Per Uguccione)«, in: AA.VV., Su / Per Gianfranco Contini, fascicolo monografico di »Filologia e critica« XV, 1, 1990, 419–433. Beretta äußert sich diesbezüglich freilich sehr skeptisch, vgl. Beretta, »Su alcune fonti«, 69, n. 3. 37  Vincenzo Crescini vermutet, auf Basis der gemeinsamen Präsenz von Raimbaut und dem Empfänger des Sirventese, Balduin von Flandern, in Konstantinopel eine Entstehung im Juni oder Juli 1204, vgl. V. Crescini, »Rambaldo di Vaqueiras a Baldovino Imperatore«, in: Atti del Reale Istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti a. a. 1900–1901, LX, vii, 3 (1901), 871–919, hier 881 f. 38  Vgl. Beretta, »Su alcune fonti«, 84 ff.

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diesem folgenden Jahre.39 Interessanterweise deckt sich der literarische Hintergrund sowie der diesen speisende historische Bezugsrahmen des Werkes somit exakt mit dem der ebenfalls im Manuskript enthaltenen Proverbia quae dicuntur super natura feminarum,40 deren Autor, wie Simonetta Bianchini nachweisen konnte, ebenfalls mit der Lyrik der Troubadouren vertraut ist und dort just eine Marchese von Montferrat (der Forscherin zufolge eine Tochter von jenem Bonifaz I., in dessen Gefolge Raimbaut de Vaqueiras gen Orient zog41) erwähnt.42 Es ist also die kulturelle Formation Ugucciones, die näher an die unseren Autor verbergende historische Persönlichkeit heranführt. So lautete bereits die Schlussfolgerung Continis,43 basierend auf Brogginis Zurückweisung der autobiographischen Interpretation einiger Verse des Libro durch Levi.44 Nun hatte Broggini zugleich ebenso die These Levis, nach welcher es sich bei Uguccione um einen Anhänger heterodoxer Lehren, ja einen Katharer handele,45 überzeugend widerlegt.46 Levi hatte aber seine Interpretation von da Lodi als Cremonenser Familiennamen47 nicht zuletzt auf die starke lokale Präsenz der Häresie begründet.48 Berücksichtigt man zudem, dass Levi sogar den anonymen Autor der Proverbia auf Cremona zurückführt, so zeigt sich endgültig, dass auch seine Überlegungen hinsichtlich der Herkunft Ugucciones, wie im Grunde schon von Gerolamo Lazzeri bemerkt,49 faktischer Belege entbehren: Es gibt letztlich

39  Ibid.,

93 f. 91 f. 41  Vgl. Linskill, The Poems, 30 ff. 42  Vgl. S. Bianchini, »L’alta marqesana qe fo de Monferato«, Cultura Neolatina XLVI (1986), 9–16. Ein weiterer Beleg für Bolognas Hypothese bezüglich der gezielten Konzeption des Kodex als libro poetico, vgl. Bologna, »La letteratura«, 156 f. 43  Vgl. Contini, Poeti del Duecento, 598: »Occorrerà guardarsi dall’interpretare in senso autobiografico, come purtroppo è stato fatto, le formule di confessione di cui il cosiddetto Libro è intessuto […]. L’unico punto di riferimento serio è di natura culturale.« 44  Vgl. Broggini, L’opera di Uguccione, 7–8. 45  Vgl. Levi, Uguccione da Lodi, 28 ff. 46  Vgl. Broggini, L’opera di Uguccione, 23: »[…] non esiste nessun asserto che ci possa mettere ragionevolmente in sospetto; anzi l’eresia della predestinazione è citata esplicitamente come esempio dei discorsi che l’uomo fa quando ha esagerato nel mangiare e nel bere.« Fundierte Kritik an der These Levis war freilich bereits unmittelbar nach deren Veröffentlichung durch Medin, »L’opera poetica di Uguccione da Lodi«, 197–198 ausgedrückt worden. 47  Zu finden auch in Ezio Levi, Poeti antichi lombardi, Milano 1921, 4. 48  Vgl. Levi, Uguccione da Lodi, 110 ff. 40  Ibid.,



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kein Argument, das gegen die ältere Lesart von da Lodi als Herkunftsbezeichnung spräche,50 zumal dadurch ja keineswegs Cremona als Entstehungsort des Werkes ausgeschlossen würde. Offenbar handelt es sich bei dieser Festlegung der Herkunft Ugucciones also um eine im Zuge der Studie Levis seitens der Forschung ähnlich ungeprüft verbreitete Information wie die die Quellen des Libro betreffende.51 Dementsprechend lässt sich erhoffen, dass die Fortführung des von Beretta eingeschlagenen Weges einer gründlichen Untersuchung der textuell belegbaren Lektüren des Autors, auch exaktere Forschungserkenntnisse hinsichtlich einer Präzisierung des Entstehungsraumes des Libro nach sich ziehen wird. 49

II. Ausgangspunkt für eine historische Verortung Ugucciones kann also nur der Text des Libro selbst sein. Und dort zeigt sich der Autor, im Gegensatz zu den Spekulationen Levis, sogar als entschiedener Gegner der Häresie, wie insbesondere seine die von den Katharern vertretene Prädestinationslehre zurückweisenden Verse belegen: dise l’ un contra l’ autro:   »Sai que m’ è ensegnado d[a] [u]n me’ bon amigo   q’ è ben enleteradho? Ke tut’ è perveçuto   definqé l’ om è nadho; çò q’ elo dé aver,   no li· serà tardadho; Paradis’ et Inferno,   tut’ è perdestinadho«. Mai, quel q’ à sta creença,   me· par mal enviadho s’ el no entende meio   q’ elo à començadho. (Libro, v. 382–388)

Diese den freien Willen bedeutungslos deklarierende Auffassung von einer Vorherbestimmung des Menschen zum ewigen Heil oder zur ewigen Verdammnis wurde zur Zeit Ugucciones insbesondere von den Katharern 49  Vgl. G. Lazzeri, »Notizia integrativa. La letteratura volgare nell’alta Italia«, in: F. De Sanctis, Storia della Letteratura Italiana dai primi secoli agli albori del Trecento, corredata con una ampia Antologia dalle Origini a Iacopone da Todi, con numerose notizie complementari e integrative a cura di Gerolamo Lazzeri, Milano 1950, 121–155, hier 128. 50  Vgl. im Übrigen G. Rohlfs, Historische Grammatik der italienischen Sprache und ihrer Mundarten, III: Syntax und Wortbildung, Bern 1954, 106: »Die älteste Bedeutung [der Präposition da] drückt eine Herkunft aus: vengo da Napoli, Jaco­ pone da Todi, torno dal teatro«, sowie 95 bezüglich der Austauschbarkeit im Alt­ mailändischen zwischen de und da. 51  Vgl. Beretta, »Su alcune fonti«, 83.

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vertreten,52 wie etwa aus dem gezielt gegen diese Ketzerbewegung gerichteten Liber antiheresis des Durandus von Osca hervorgeht. Dieser greift die entsprechende Argumentation auf, um anschließend gegen sie zu argumentieren: Set forte obicient et dicent [haeretici]: Deus  //  scit omnia, et antequam aliquid crearet, novit huniversa, que futura erant; et si omnia novit, ergo novit, quis salvandus vel quis dampnadus esset, et talis est predestinacio.53

Die Bedeutung der Prädestination innerhalb des Dogmas der Katharer noch im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts54 wird bestätigt durch das sie widerlegende umfangreiche Kapitel De predestinatione im zweiten großen Werk des Durandus, dem Liber contra manicheos,55 einem vermutlich 1224 entstandenen Antworttraktat auf eine häretische, zuweilen als Anti­ frasis bezeichnete Schrift,56 welche folglich die den freien Willen des Menschen negierende Position propagiert haben muss. 52  Während die Waldenser, zu denen der im Folgenden zitierte Durandus von Osca vor seiner Konversion im Jahre 1207 selbst gehörte, die Prädestination ablehnten, findet sich die diese bejahende katharische Position unmissverständlich im Manifestatio heresis catharorum des Ex-Katharers Buonaccorso formuliert; vgl. R. Cegna, »Predestinazione ed escatologismo ussiti nel valdismo medioevale«, Bollettino della Società di Studi Valdes CXXVIII (1970), 3–28, hier 3. Auf katholischer Seite war die Prädestinationslehre bereits durch die Synode von Quiercy im Mai 853 und die Synode von Valence am 8.1.855 eindeutig zurückgewiesen worden; vgl. H. Denzinger, Enchiridion symbolorum, definitionum et declaraionum de rebus fidei et morum, übers. u. hg. Peter Hünermann, Freiburg 432010, s. v. »Synode von Quiercy«, Mai 853 (621–624), 265 f.; Synode von Valence, 8. Jan. 855 (625–633), 266–271. 53  Der Liber antiheresis des Durandus von Osca, hg. Kurt-Victor Salge, Berlin 1967, 90. Vgl. auch den einleitenden Satz des Herausgebers, ibid., ix: »Der Traktat des Durandus von Osca, eines engen Genossen des Waldes, […] ist von hohem Interesse vor allem für die Geschichte des frühen Waldensertums, aber auch für die Geschichte des Katharertums in Südwestfrankreich«. Nach Salge ist die Schrift in den Zeitraum zwischen 1186 / 87 und der Mitte / dem Ende des folgenden Jahrzehnts zu datieren; terminus ante quem ist in jedem Falle die Rückkehr des Durandus in den Gehorsam zur römischen Kirche im Jahre 1207, ibid., xvii–xviii. 54  Übernehmen die Katharer zunächst aus der bogomilischen Sittenlehre die radikale Zurückweisung des freien Willens und die Überzeugung der Prädestination, so erfolgt später eine Verschiebung innerhalb ihres Dogmas hin zu einer Anerkennung des persönlichen Verdienstes; vgl. A. Borst, Die Katharer, Freiburg / Basel / Wien 1991, 132–133. Der Autor hält jedoch ebenfalls fest [ibid., 133]: »Freilich sind diese Zugeständnisse in der Theorie nur widerwillig gemacht worden, und die meisten Katharer sind bei den alten schroffen Sätzen geblieben, die das religiöse Verhalten bis an die Grenze der Selbstvergottung des Menschen objektivierten.« 55  Une somme anti-cathare. Le Liber contra manicheos de Durand de Huesca, texte inédit publié et annoté par Christine Thouzellier, Louvain 1964, 319–336. 56  Ibid., 33–38.



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Kann die katharische Verkündigung somit als Zielobjekt von Ugucciones Rückweisung der Prädestinationslehre identifiziert werden, ist mit Fug und Recht anzunehmen, dass die Verspredigt des Libro auch in ihrer Gesamtheit als Teil der (gerade in dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts höchst intensiven, man denke nur an die Aktivitäten des Heiligen Dominikus) intellektuellen Auseinandersetzung mit den Katharern zu verstehen ist und mit dieser verbundene Thematiken seine Genese wesentlich beeinflusst haben. Die These eines antihäretischen Engagements Ugucciones lässt sich anhand einer aufmerksamen Betrachtung des von ihm verwendeten Vokabulars zusätzlich unterfüttern. Zu denken ist hier etwa an das auffällige Bild des um den Hals des Verdammten geworfenen laz57: Un laz li· çet’ al colo,   sì l’ à encadenadho (Libro, v. 437).

Um den vollen semantischen Gehalt dieses Begriffs zu erfassen und die mit ihm verknüpften Implikationen nachzuvollziehen, reicht es aus, das zweite Kapitel, »Laqueus diaboli«, der luziden Studie Roberto Mercuris, Semantica di Gerione,58 zu konsultieren: »[…I]mmagine biblica dalle molteplici e ricche suggestioni«59, nennt Mercuri bereits einleitend das auch von Uguccione gebrauchte Lemma und beschreibt auf den folgenden Seiten, inwiefern dieses Bild durch seine Verwendung an zahlreichen Stellen der Heiligen Schrift, insbesondere in den Psalmen,60 sowie in der Patristik auf den Sündenfall selbst und dessen Ursprung hindeutet.61 Die 57  Das toskanische »laccio« bzw. seine altitalienischen und dialektalen Entsprechungen »làcio« »lasso«, »làzio«, »lazo«, »lazzo« [vgl. S. Battaglia, Grande Dizionario della Lingua Italiana, VII, Torino 1973, s. v. Làccio, 663–666, hier 663], gehen aus dem panromanischen *LACEUS, dem LAQUEUS des klassischen Lateins, hervor, vgl. C. Battisti, G. Alessio, Dizionario etimologico italiano, III, Firenze 1952, s. v. làccio, 2147; für die lombardische Entsprechung vgl. P. A. Faré, Postille italiane al »Romanisches Etymologisches Wörterbuch« di W. Meyer-Lübke comprendenti le »Postille italiane e ladine« di Carlo Salvioni, Milano 1972, s. v. laqueus »corda«, 245: »Sic. lazzu, lomb. laz ecc., grig. Daz«. 58  R. Mercuri, Semantica di Gerione. Il motivo del viaggo nella »Commedia« di Dante, Roma 1984, 7–104. 59  Ibid., 47. 60  Die Novae concordantiae Bibliorum Sacrorum iuxta Vulgatam versionem critice editam, quae digessit Bonifatius Fischer OSB, Stuttgart 1978, 2829 nennen 78 Belege. Für einen Gesamtüberblick über die weite Verbreitung des Lemmas auch im figurativen Sinn, sowohl in profanen und allgemeinen als auch in christlichen Kontexten, vgl. Thesaurus Lingua Latinae. Editus iussu et auctoritate consilii ab academiis societatibusque diversarum nationum electi, VII, Leipzig 1956–1970, s. v. »laqueus«, 961–964. 61  Vgl. Mercuri, Semantica di Gerione, 47 ff.

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Relevanz der entsprechenden Verse für das Libro, mit seinen Warnungen vor einem rein auf vergängliche Güter, auf bloße Mehrung materiellen Besitzes, ausgerichtetes Leben, liegt auf der Hand, führt man sich einen Passus wie Nam qui volunt divites fieri, incidunt in tentationem, et in laqueum diaboli, et desideria multa inutilia, et nociva, quae mergunt ­homines in interitum et perdiotionem62 (1Tim VI, 9) vor Augen.63 Sich im »laqueus diaboli« zu verfangen bedeutet, wie Mercuri unter Berufung auf einen Passus des Heiligen Augustinus erläutert, vom rechten Weg abzuirren.64 Diese Wahl des falschen Weges wird auch von Uguccione explizit thematisiert: Mostrano doi camini,       qe molt’ è lad’ a ladho: l’un è fang’ e pessina,   l’altr è mond’ e spaçado;65 (Libro, v. 398 f.).

Des Weiteren steht das Lemma laqueus, nach einer von Paulus Diaconus aufgezeigten Etymologie, in unmittelbarer Beziehung zu dem Konzept des Betruges.66 In einem spezifischeren Sinne sind damit die sophistischen Fallstricke des Geistes, die den Menschen in den Abgrund des Irrtums stürzen lassen, und der Verrat gemeint.67 Entsprechende Belegstellen lieferten etwa Bruno di Segni, in der Auseinandersetzung mit Berengar von Tours selbst in doktrinale Fragestellungen involviert,68 oder Hrabanus Maurus.69 Beide Autoren identifizieren die »Schlingen« explizit mit der 62  1 Tim VI, 9, zitiert nach: Nova Vulgata Bibliorum Sacrorum Editio, Città del Vaticano 1986, 2214; von Mercuri, Semantica di Gerione, erwähnt auf 47. 63  Man bedenke nur die an das Gebet anschließenden Verse des Libro: »Queste parole è bone et utel da ’scoltar  /  e sì farà quelor qe vorà Deu amar  /  e vorà le soi’ aneme costedir e salvar;  /  mai lo plu dela çente vol aver guadagnar  /  e no pensa del anema lao’ ela dibi’ andar.« (v. 235–239; CLPIO, 56). 64  Vgl. Mercuri, Semantica di Gerione, 50 f. Die entsprechende Textstelle bei Augustinus findet sich in den Enarrationes in Psalmos, CXL, v. 10 [PL XXXVII: Sancti Aurelii Augustini Opera Omnia, 4, 1830–1831]: ›Cadent in retia ejus peccatores.‹ Quid est ergo, fratres, ›Cadent in retia ejus peccatores‹? Sed non omnes peccatores: quidam peccatores, qui usque eo sunt peccatores, ut sic ament vitam istam, ut praeponant illam vitae aeternae, cadent in muscipulam ejus. 65  CLPIO, 57. 66  Vgl. Mercuri, Semantica di Gerione, 56 ff. 67  Ibid., 57 f. 68  Vgl. H. Hoffmann, »Bruno di Segni«, in: Dizionario Biografico degli Italiani, vol. XIV, Roma 1972, 644–647, 645. Der heiliggesprochene Bischof, unter Papst Viktor II. auch Kanzler und Bibliothekar der Kurie, sodann nach seinem Ordenseintritt 1102 von 1107–1111 Abt von Montecassino, wird von Hoffmann als »per tutta la sua vita […] instancabile zelatore della libertà e della riforma della Chiesa« charakterisiert. 69  Vgl. Mercuri, Semantica di Gerione, 56–58.



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Hinterlist der Häretiker, die den Menschen durch ihre sophistische Argumentation versuchen, um ihn so in die Falle ihrer Irrlehre zu locken.70 Wir können entsprechend davon ausgehen, dass die direkte Verwendung des Terminus laz im Libro gezielt und unter Berücksichtigung dieses semantischen Hintergrundes stattfindet: In der Beschreibung Ugucciones schwingt auch an dieser Stelle die Warnung vor der Häresie, die den Menschen in das Verderben ziehen kann, mit. III. Diese Lesart einer explizit antihäretischen Ausrichtung des Libro wird umso plausibler, wenn man seinen Entstehungsraum berücksichtigt, welcher in der Tat Schauplatz entsprechender theologischer Konflikte war, die sich durchaus nicht auf die Stadt Cremona beschränkten.71 Uns scheint es nun, dass auch der »epische« Bezugsrahmen des Libro in diesem Lichte zu

70  Vgl. PL CLXIV, S. Brunonis Astensis, Opera Omnia, Expositio in Psalmos, CXXXIX, 5, 1203: ›Absconderunt superbi laqueum mihi.‹ Sola superbia et arrogantia haereticos facit, quia, dum alta sapere volunt et humilibus consentire nolunt, in haeresim cadunt; inde vero cogitant, quomodo alios supplantare et ad suum sensum trahere possint. Abscondunt laqueos, fallaciter et argumentose Scripturas exponunt, et quod auctoritate non possunt, syllogismis facere nituntur. Unde et subditur:  /  ›Et ­funes extunderunt in laqueum pedibus meis, juxta iter scandalum posuerunt mihi.‹ Laqueum, ipsam disputationem vocat: funes vero, quibus a longe laqueus trahitur, dialecticas ambages et sophismata dicit; his autem semplices homines illaqueantur et decipiuntur, et in erroris foveam trahuntur. Juxta iter vero scandalum ponit, qui de ipsa Scriptura, quae via nostra est, aliquid assumit, quod male interpretatum, in errorem hominem ducit sowie PL XIC, B. Rabani Mauri, Opera Omnia, 3: Commentarium in Ecclesiasticum III, 5, 844: ›Sicut enim eructant praecordia fetantium, et sicut perdix inducitur in caveam, et ut caprea in laqueum, sic et cor superborum.‹ Hanc similitudinem de animantibus sensu sagacioribus et visu perspicacioribus ideo posuit, ut ostenderet, quod saepe illi, qui se prudentes aestimant, per versutiam haereticorum capiantur. Sicut enim plenus venter male digestum fetide eructat, ita et haereticorum corda dolos, quos intus malitiose construunt, foras fraudulenter pro­ ducunt, quatenus quoscunque possunt in caveam erroris sui et in laqueum nequitiae praecipitent. Interessanterweise verwendet Hrabanus Maurus in diesem Abschnitt auch das Bild des Schmutzes für den falschen Weg – ganz wie wir es bei Uguccione in der oben zitierten Beschreibung der beiden Pfade (v. 398–400) an­ treffen sollen. 71  Vgl. F. Menant, »Un lungo Duecento (1183–1311): Il comune fra maturità istituzionale e lotte di parte«, in: G. Andenna (Hg.), Storia di Cremona. Dall’Alto Medioevo all’Età Comunale, Azzano San Paolo, BG 2004, 282–363, hier 313: »Notiamo en passant che il papato, nella persona di Innocenzo III., sostiene ancora a quest’epoca [ca. 1213] Federico II, che preferisce a Ottone IV, e d’altronde si oppone a quasi tutti i comuni lombardi, accusandoli di proteggere gli eretici«.

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lesen ist, was anhand einer weiteren textphilologischen Untersuchung aufgezeigt werden soll. Es war Gianfranco Contini, der auf die zentrale Stellung der Bezugnahmen Ugucciones auf die französischen und frankovenetischen chansons de geste,72 welche sich bereits im Versmaß des Werkes (Alternation von Alexandrinern und Zehnsilbern) manifestieren, aufmerksam machte.73 Abgesehen von der offensichtlichen namentlichen Erwähnung Rolands Ma eu era sì fole, k’ eu me· tegnïa meio (Libro, v. 556 f.)

quand’ avea cento ‘l brando, delo conte Rolando.

konnte Contini dabei auf inhaltlicher Ebene vor allen Dingen die Modellfunktion zweier der von Karl dem Großen in der assonanzierten frankovenetischen Fassung [V4 = cod. Marciano fr. IV (= 225)]74 der Chanson de Roland gesprochenen Gebete für eine Passage des Libro (v. 215–234) identifizieren.75 Nun ist zum vollständigen Verständnis dieser Verweise zu bedenken, dass Roland, der sich trotz der erdrückenden sarazenischen Übermacht in der sogenannten »ersten Hornszene« in völliger Überschätzung der eigenen Kräfte weigert, den Olifanten zu blasen, um Karl und sein Heer zur Hilfe zu rufen, und so die ihm anvertraute Nachhut dem Untergang preisgibt, aufgrund eben dieser Szene auch mit dem Laster der Maßlosig72  Zu denken ist etwa an die Fassung V7 der Chanson de Roland; vgl. C. Beretta, Osservazioni sul mentro del codice V7 (Marciano Fr. VII) della Chanson de Roland, in La tradizione epica e cavalleresca in Italia (XII–XVI sec.), a cura di Claudio Gigante e Giovanni Palumbo, Bruxelles u. a. 2010, 39–71, hier 40. Beretta verweist hier ausdrücklich auf das Libro, das er auch in einer späteren Fußnote [69] bezüglich des, in beiden Werken erkennbaren, Umgangs mit dem »epischen« Vers erwähnt, dessen erste Hemistichen zu schlichten Kombinationsvarianten eines gleichen Schemas reduziert werden können. 73  Vgl. Contini, Poeti del Duecento, 597. Uguccione verfasst selbst natürlich keinen epischen Text; vgl. auch ders., »Esperienze d’un antologista del Duecento poetico italiano«, in: AA.VV., Studi e problemi di critica testuale. Convegno di Studi di Filologia italiana nel Centenario della Commissione per i Testi di Lingua (7–9 Aprile 1960), Bologna 1960 (im Folgenden 1960a genannt), 241–272, hier 244. 74  Vorbild war natürlich ein Antigraph des vermutlich in Treviso zwischen 1320 und 1340 / 1345 entstandenen Manuskripts, der gewiss bereits in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Norditalien kursierte; Vgl. Il testo assonanzato franco-italiano della Chanson de Roland: cod. Marciano fr. IV (=225). Edizione interpretativa e Glossario a cura di Carlo Beretta, Pavia 1995, xvii ff. 75  Vgl. Contini, Poeti del Duecento, 597–598. Weiterhin machte Contini auf die Präsenz des »epischen« Epithetons »seçornadhi« [v. 360: »mai grassi palafreni e destrier’ seçornadhi«] aufmerksam, ibid., 613.



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keit assoziiert wird.76 Seine Erwähnungen oder Darstellungen (man denke nur an das Fußbodenmosaik der Kathedrale von Brindisi: Ist dieses nicht etwa analog zu dem von Otranto, in dem König Artus als Symbol der die Gefahr verkennenden Hochmut mahnt, zu verstehen?77 Immerhin erwartete die sich von Brindisi und Otranto Richtung Heiliges Land einschiffenden Pilger eine konkrete Bedrohung durch die Antagonisten der Chanson de Roland selbst.78) können also durchaus auch warnenden Charakter annehmen, ähnlich der Erzählung des Chronicon Novaliciense (V,9), in der ein leichtsinniger Ritter in die Fänge der Sarazenen gerät.79 Der der Benennung Rolands vorhergehende Vers (v. 556) zeigt eindeutig, dass der Hinweis auf den vor Roncesvaux gefallenen Helden hier in diesem Sinne zu verstehen ist: Hybris und die maßlose Überschätzung der eigenen Fähigkeiten angesichts einer drohenden Gefahr sind es, die ins Verderben führen. Zwar ist die These Rita Lejeunes und Jacques Stiennons, nach welcher der Kampf eines christlichen Ritters »Fol« mit seinem sarazenischen Kontrahenten »Fel« auf einem der Basilika S. Maria Maggiore in Vercelli entstammenden Mosaik die erwähnte Episode aus der Chronik der berühmten piemontesischen Abtei abbildet,80 inzwischen widerlegt worden,81 ebenso wie eine direkte Identifikation des ersten Kämpfers mit Roland als unwahrscheinlich gilt.82 Dies impliziert jedoch keineswegs, dass das Mosaik nicht mit der Thematik und der in der Chanson de Roland präsenten Ideenwelt in Verbindung zu bringen wäre.83 Wie 76  Vgl. E. R. Curtius, Über die altfranzösische Epik, I, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern / München 1960, 106–182, hier 150 [zuvor bereits in Zeitschrift für Romanische Philologie 64 (1944), 233–320]. 77  Vgl. C. Settis Frugoni, »Per una lettura del mosaico pavimentale di Otranto«, Bullettino dell’Istituto Italiano storico per il Medio Evo LXXX (1968), 213–256, hier 241. 78  Vgl. P. Rajna, »Contributi alla storia dell’epopea e del romanzo medievale. IX. Altre orme antiche dell’epopea carolinga in Italia«, Romania XXVI (1897), 43–73, 61. Zu bedenken ist vor dem Hintergrund der erwähnten These von Settis Frugoni zudem, dass das Mosaik von Brindisi auf den selben Autor wie das von Otranto zurückzuführen sein könnte, ibid., 60. 79  Vgl. Cronaca di Novalesa, a cura di G. C. Alessio, Torino 1982, 264–266. 80  Vgl. R. Lejeune, J. Stiennon, Die Rolandssage in der mittelalterlichen Kunst [La légende du Roland dans l’art du moyen âge, deutsche Übersetzung v. Barbara ­Ronge], Brüssel 1966, 86–93. 81  Vgl. G. Ligato, L’ordalia della fede. Il mito della crociata nel frammento di mosaico pavimentale recuperato dalla Basilica di S. Maria Maggiore a Vercelli, Spoleto 2011, 14. 82  Ibid., 16–18; 134 f. 83  Ibid., 135.

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auch immer die figurale Darstellung von Vercelli zu interpretieren sein mag,84 es ist gewiss legitim anzunehmen, dass die Bezeichnung »fol« in den Betrachtern Assoziationen zur desmesure Rolands hervorrief.85 Entsprechend bezieht sich das »fole« Ugucciones, angesichts des Kontextes der Beschreibung eines verhängnisvolle Konsequenzen hervorrufenden Verhaltens, offenkundig auf eben diese Tradition, was von den Rezipienten des Textes unschwer entschlüsselt werden konnte. Die Warnung vor der Sünde des Hochmuts ist also in einen wahrhaft »epischen« und dem Publikum Ugucciones als einen solchen bestens vertrauten Kontext eingebunden. IV. Es lohnt sich daher, die in Anlehnung an V4 gestaltete Passage des ­Libro noch einmal näher zu betrachten: »Deo, qe guarì[s] Daniel del laco del lëon e traìsi Ionàs del ventre del pesson en lo qual el sostene molto gran passion, li filii d’ Israèl de man de Faraòn, et a Longî faìssi   versasio perdon, qe dela lança Te· ferì a bandon qe ‘l sangue e l’aqua ie·ven soto ‘l menton (en veritad) ben saver lo· dev’ -on, c’ aluminadho  fo de salvacion, clamà soa colpa,    Iesù li· fé perdon); sì com’ è vera la nostra oracion qe en la cros perdonàs al laron e traìs del’ Inferno Eva e’l conpagnô, Davìd profeta, Ieremia e Naòn, 84  Ligato sieht in der folie des Kriegers insgesamt eher eine positive Bewertung von dessen »furor guerresco«, vgl. ibid., 145 ff., insbesondere 145: »Se molte cronache e opere epiche, al momento di definire il valore in combattimento, adottano il termine furor in qualche caso in termini dispregiativi, non manca – ed è questa la lettura più congrua del nome di Fol – l’accezione elogiativa, in cui il combattente della guerra santa è non solo un difensore della fede ma anche un essere investito del potere di comedere la vita, un potere contiguo a quello soprannaturale e da quest’ultimo – tramite le gerarchie ecclesiastiche – autorizzato e benedetto, soprattuto quando ci si batte per la causa di Cristo«. Wir können davon ausgehen, dass bei Uguccione »fol« ausschließlich negativ konnotiert ist, ja gerade der furor bellicus des Kriegers implizit von ihm mit angeprangert wird, wenn er in den Versen 282 ff. die besondere Notwendigkeit aufrichtiger Reue und Abkehr von der Eitelkeit der Welt für den der Todsünde des Mordes Schuldigen beschreibt. 85  Auch diese wird im Übrigen auch von Ligato aufgeführt, ibid., 141 ff.



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no ie· ·n· lassàs negun qe fosse bon, mai pur quelor c’a Ti menà tençon (quelor no avrà   çamai remission), sì com’ eu credo sença ogna tençon: verasio Deu, pare signor del tron, dig mei peccadhi fai ·me remission«. (Libro, v. 215–234)

Die von Contini beobachtete Parallelgestaltung zu den von Karl gesprochenen Gebeten ist offenkundig: E Daniel garentais del leons, E don Jonas del ventre del pesons Filz Israel de man de Faraons, (assonanzierte franko-venetische Chanson de Roland – V4, v. 2589–2591)86 Santo Daniel garisti dau lion E santo Jonas del ventre del peison, Sainta Susana garisti del fals nom, Les trois enfant del fou e dal callon, Filz Israel de mais de Faraon; (Chanson de Roland V4, v. 3885–3889)87 A Longin feïst veras perdon: Dal dextro la’, ch’ el vols ferir a bandon De la lança êl costé (que de voir la savon), Sangue et aqua li vint sor li menton; Il s’ en tochà les oilz, sì oit luminaxon: Il clamà soa colpa, tu li fis verés perdon; (Chanson de Roland – V4, v. 3892–3897)

Zwar handelt es sich hierbei jeweils um Realisierungen der stark formelhaften prières épiques, der in zahlreichen chansons de geste in Situationen größter Gefahr oder zur Seelenrettung gesprochenen Gebete (eine inhaltliche Unterscheidung, die mit keiner klaren formalen Abgrenzung, trotz der zahlreichen Versuche, eine solche auszumachen, korrespondiert),88 jedoch sprechen, so Giovanni Palumbo, Quantität und Qualität der ­ 86  Il testo assonanzato franco-italiano, hg. Beretta. Contini erwähnt nur die ersten beiden dieser Verse, die er nach der Verszählung der Edition von Giuliano Gasca Queirazza aufführt, vgl. Contini, Poeti del Duecento, 598. Alle weiteren Zitate aus V4 sind ebenfalls der Ausgabe Berettas entnommen. 87  Der Vollständigkeit halber sind auch die Verse 3887–3888, die ohne Korrespondenz im Libro bleiben, aufgeführt. 88  Vgl. C. Di Girolamo, »Longino che vide. Una riflessione sulle preghiere formulari e una nota per Arnaut Daniel«, Romania CXIII, 3 / 4 (2005), 384–405, hier 390.

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Übereinstimmungen,89 die explizite Erwähnung Rolands im Libro sowie die wahrscheinliche Existenz eines im norditalienischen Raum zirkulierenden Antigraphen von V4 eindeutig für eine Entlehnung aus einer Vorgängerversion dieses Manuskriptes seitens Ugucciones.90 Letzteres Argument geht abermals auf Schlussfolgerungen Carlo Berettas zurück:91 Demnach ist die Entstehung des zweiten der angeführten Gebete höchstwahrscheinlich in dem italienischen Skriptorium, dem wir V4 verdanken, lokalisierbar.92 Eingefügt just an der Stelle, an der die gereimten Versionen der Chanson de Roland die assonanzierte Fassung von O [Oxford, Bodleian Library, ms. 1624 (= Digby 23)] verlassen,93 steht es zu Beginn der nur in diesem Kodex überhaupt erhaltenen Prise de Narbonne, ihrerseits die italienische Bearbeitung eines (verlorengegangenen, jedoch in inhaltlicher Verwandtschaft zu Aymeri de Narbonne stehenden) französischen Wer89  Diesbezüglich ist weiterhin auf die sowohl im Libro (v. 224) als auch in V4 (v. 3897) figurierende Konstruktion »clamà soa colpa« hinzuweisen: Verwenden die meisten chansons de geste die Wendung »bati sa co[l]pe« (vgl. exemplarisch Le Couronnement Louis. Chanson de geste publiée après tous les manusscrits connus par E. Langlois, Paris 1888, v. 773 oder La chevalerie d’Ogier di Danemarche. Canzone di gesta edita per cura di Mario Eusebi, Milano / Varese 1963, v. 10949), so wird für ein Schuldbekenntnis im Altitalienischen für gewöhnlich schlicht »dire« gebraucht, vgl. Tesoro della lingua Italiana delle Origini (TLIO), s. v. colpa, »Dire la propria colpa«, http://tlio.ovi.cnr.it / TLIO /  (aufgerufen am 11.12.2013). 90  Vgl. G. Palumbo, »Per la storia della Chanson de Roland in Italia nel Medioevo«, in: ders., A. Tissoni Benvenuti, M. Villoresi, »Tre volte suona l’olifante …« (La tradizione rolandiana in Italia fra Medioevo e Rinaschimento), Milano 2007, 11–55, hier 23 f. 91  Vgl. C. Beretta, »La Prise de Narbonne nel cod. V4 della Chanson de Roland«, in: Testi, cotesti e contesti del franco-italiano. Atti del 1° simposio franco-italiano (Bad Homburg, 13–16 aprile 1987). A cura di Günter Holtus, Henning Krauss, Peter Wunderli, Tübingen 1989, 131–142, hier 142; außerdem in Il testo assonanzato franco-italiano, hg. Beretta, xix–xx. Berettas Hypothese zufolge lagen in der Werkstatt des italienischen Kopisten ein assonanzierter und gereimter Kodex der Chanson de Roland, aus Letzterem wurde der Teil, der mit den Reimfassungen der chanson de geste übereinstimmt, für die Niederschrift übernommen, sodass V4 gemeinsam mit diesen, der Familie δ folgend, O verlässt. Da das in den gereimten Manuskripten folgende »Weißdornwunder« aber eine Verdoppelung der Episode der Suche der Toten von Roncesvaux darstellt, versuchte man, diese narrative Inkongruenz durch das Auslassen des Wunders zu umgehen und ersetzte es durch die einem anderen Manuskript entnommene Prise de Narbonne. 92  Vgl. Beretta, »La Prise de Narbonne«, 141. 93  Über die besondere Relevanz dieser Stelle in der Tradition der Chanson de Roland, die auch in O an dieser Stelle eine Interpolation vermuten lassen, vgl. A. Noyer-Weidner, Eine problematische Stelle im Oxforder Roland: Karls Rückkehr aus Spanien (O 2.682–3.704), in: H. Bihler, A. Noyer-Weidner (Hgg.), Medium Aevum Romanicum. Festschrift für Hans Rheinfelder, München 1963, 238–257.



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kes.94 Als textinternes Modell ist dabei das frühere Gebet Karls der Verse 2576–2598 anzunehmen.95 Nun ist es interessant zu beobachten, dass wir in einer anderen chanson de geste, die ebenfalls in ihrer vollständigsten Fassung durch ein italienisches Manuskript (sigliert B) erhalten ist96 und deren starke (und frühe) Verbreitung in Norditalien wohl als gesichert gelten darf,97 weitere Ähnlichkeiten stoßen, die zumindest teilweise die formelhafte Anwendung des Gebetstypus übersteigen: Die Chevalerie Ogier, auf uns gekommen in einer vermutlich nach 1191 (also nicht weit entfernt von der Genese des Libro) entstandenen Fassung,98 deren zahlreiche Anspielungen auf die Beretta, »La Prise de Narbonne«, 132–134. 141. 96  Vgl. La chevalerie d’Ogier di Danemarche, hg. Eusebi, 36, und L. Bassini, »Mont Chevrel / Cheverol: echi della via Francigena nella Chevalerie d’Ogier«, De strata francigena. Studi e ricerche sulle vie di pellegrinaggio del medioevo XI (2003): La Versilia e la via Francigena, 33–42, hier 34. Es handelt sich dabei um das ms. 938 der Bibliothèque municipale in Tours, auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts datierbar, aber nach einem deutlich älteren Modell entstanden, vgl. La chevalerie d’Ogier di Danemarche, hg. Eusebi, 10. Letzteres entstammt dem nordfranzösischen Raum (vgl. jetzt aber die jüngste Edition von M. Ott [Hg.], La Chevalerie Ogier. I: Enfances, Paris 2013, 101); eine genauere Lokalisierung des italienischen Manuskriptes ist nicht möglich, allerdings gibt es Hinweise, die eher auf das östliche Gebiet der norditalienischen Dialekte schließen lassen, ibid., 36. 97  Vgl. P. Rajna, »Contributi alla storia dell’epopea de del romanzo medievale. VII. L’onomastica italiana e l’epopea carolingia«, Romania XVIII (1889), 1–69, hier 52–57. Eine Form von »Ogerius Danesius« ist demnach bereits 1158 in Genua attestiert, zwei weitere folgen 1159 und 1160, sodass Rajna konstatiert: »Una leggenda epica barbicatasi ben fortemente nel suolo italiano in un’età certo assai antica, è quella di Uggeri« (ibid., 52). Heranzuziehen ist ebenso die vorausgehenden Studie von dems., »Uggeri il Danese nella letteratura romanzesca degl’Italiani«, Romania II (1873), 153–169 und Romania III (1874), 31–77. Dass die franko-venetische Chevalerie Ogier des Manuskriptes V13 [Marciano fr. XIII (= 256)] nicht auf die uns erhaltene französische Version, sondern auf eine ältere Fassung des Stoffes zurückgeht, wie Rajna demonstriert (165 f.), unterstreicht weiterhin dessen starke Rezeption in Italien, die natürlich in den allgemein großen Erfolg und die daraus resultierenden Umbearbeitungen des Zyklus der »rebellischen Vasallen« einzugliedern ist; vgl. L. Morlino, »La letteratura francese e provenzale nell’Italia medievale«, in: Atlante della letteratura italiana, I: Dalle origini al Rinascimento, a cura di Amadeo de Vincentiis, Torino 2010, 27–40, hier 33, wo die Chevalerie Ogier als erstes Werk erwähnt wird, und sogar die, im Rahmen unserer Studie hochinteressante, Möglichkeit einer ex novo-Erschaffung auf italienischem Boden erwogen wird. 98  Vgl. M. Ott, »La Chevalerie Ogier et l’orient des croisades: quelques remarques«, in: Croisades? Approches littéraires, historiques et philologiques. Etudes réunies par Jean-Charles Herbin et Marie-Geneviève Grossel, Valenciennes 2009, 165–177, hier 177. Dieses Datum ist zumindest für den ersten Teil, die Enfances, der 94  Vgl.

95  Ibid.,

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italienische Topographie sowie auf die dank der Initiative des bei Pavia gelegenen Klosters Mortara populären Helden Amis und Amile99 auf einen Autor schließen lassen, welcher mit diesem geographischen Raum persönlich vertraut gewesen sein muss.100 Diese Ähnlichkeiten beziehen sich zunächst auf die in gleich zwei prières épiques der Chevalerie Ogier evozierte Longinus-Episode: Longins li grans le feri a bandon [Longî] Te ferì a bandon (Chevalerie Ogier, v. 249)101 (Libro, v. 220b)

sowie Longins i vit, qi estoit non veant, Qui de la lance vos en percha le flanc, (Chevalerie Ogier, v. 10946–1947)

[Longî] qe dela lança (Libro, v. 220a)

die freilich in anderen chansons de geste lexikalisch sehr ähnlich gestaltet wird;102 weiterhin aber auf den Gebrauch der Perfektform von trarre /  traire, um das Hinausführen der gerechten Seelen aus dem Reich des Todes durch den Erlöser zu beschreiben: erhaltenen Fassung anzunehmen. Eine konzise Zusammenfassung der komplizierten Problematik der Datierung des Werkes bietet Ott, La Chevalerie Ogier, 95–101. 99  Vgl. A. Savini, »La leggenda di Amico et Amelio e Mortara«, De strata francigena. Studi e ricerche sulle vie di pellegrinaggio del Medioevo VII.2 (1999): Dalla via francigena di Sigeric alla pluralità di percorsi romei in Lombardia. Atti del Convegno di studi tenutosi a Mortara il 19 Settembre 1998, 77–93. 100  Vgl. Ott, »La Chevalerie Ogier et l’orient des croisades«, 177, und Bassini, »Mont Chevrel / Cheverol«, 36. 101  La chevalerie d’Ogier di Danemarche, hg. Eusebi. Die Textstelle ist identisch in der neuen Edition von Ott, La Chevalerie Ogier, 199. Da aus dieser bislang nur die Enfances (= v. 1–3073) vorliegen, sich alle folgenden der herangezogenen Passi des Werkes aber in der daran anschließenden eigentlichen Chevalerie befinden, zitieren wir im Folgenden durchgängig nach der Ausgabe Eusebis. Auch dem Text Otts liegt im Übrigen B zugrunde. 102  So etwa im Couronnement Louis, (wie alle folgenden Zitate) v. 768–774: »Longis i vint, qui fu bien eürez,  /  Ne vos vit mie, ainz vos oï parler,  /  Et de la lance vos feri el costé  /  Li sans et l’eve li cola al poing clers.  /  Terst en ses uelz, si choisi la clarté  /  Bati sa colpe par grant umilité,  /  Iluec li furent si pechié pardoné.« Die hier vorgenommene Modifikation der lateinischen Longinuslegende führte Dimitri Scheludko zu seiner These, dass alle prières épiques auf dieses Gebet des Narbonnenserzyklus zurückzuführen seien; vgl. D. Scheludko, »Über das altfranzösische epische Gebet«, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur LVIII, 1 / 2 (1934), 67–86, 171–199, hier 75 ff. Sein Hauptargument, die ausnahmslose Wiedergabe des Longinuswunders in allen folgenden Gebeten wurde allerdings bereits von E-R. Labande, »Le ›Credo‹ épique. A propos des prières dans les chansons de geste«, in: AA.VV., Recueil de travaux offert à A. M. Clovis Brunel, II, Paris 1955, 62–80, hier 65 f. (n. 5), widerlegt.



Für eine Einordnung Uguccione da Lodis Droit a infer fu vos chemin tenant, Fors en traïstes vos amis maintenant. (Chevalerie Ogier, v. 10963–10964)

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E traìs del’ Inferno (Libro, v. 227)

Edmond-René Labande, der diese verschiedene Begebenheiten der Heilsgeschichte in oft recht ungeordneter Abfolge aneinanderreihenden und unter Berufung auf diese Gottvater um Hilfe anrufenden Gebete als »Credo« épiques bezeichnet,103 beschreibt gerade dieses Ereignis als eine vollkommen stereotypisiert wiedergegebene Episode.104 Verwendet würden etwa untereinander sehr ähnliche Formen der Formeln »s’en brisastes la porte [d’enfier]«, so in der Chanson du chevalier au cygne, Aiol, Girart de Vienne und Aliscans oder »toz voz amis en alastes jeter«, wie im Couronnement de Louis, Huon de Bourdeaux, erneut Girart de Vienne sowie der Chanson de Godefroid de Bouillon.105 Die Präferenz der Autoren für die Verben briser und jeter lässt sich anhand zahlreicher weiterer chansons de geste leicht nachvollziehen; als chronologisch nicht allzu weit von Uguccione entfernt liegende Vertreter können etwa Les Chétifs – Ne t’i troverent mie: Dex, a Infer alas. Les dames retornerent. Les portes en brisas, (Les Chétifs, v. 2382–2383)106 –

oder Florence de Rome – Sire, vos les getastes de celle grant fumee (Florence de Rome, v. 5719)107 –

angeführt werden. Somit stellt der Gebrauch einer Perfektform von traire durch die Chevalerie Ogier in der Tat ein lexikalisches Charakteristikum dar, zumal auch das Altitalienische ein Derivat von *IECTARE, das dem figuralen »jemanden aus etwas herausführen«, wie es dem für gewöhnlich verwendeten jeter des Altfranzösischen zu Grunde liegt,108 kennt: Die Kollokation kann nicht nur im Sinne von »fare uscire, liberare da una situazione«, sondern – zumindest ist dies in den piemontesischen Sermoni subalpini der Fall – sogar explizit für »redimere, liberare dal peccato ori103  Vgl.

Labande, »Le« Credo »épique«, 62 f. 67. 105  Ibid., n. 3. 106  Les Chétifs, ed. Geoffrey M. Myers, Alabama 1981. 107  Florence de Rome. Chanson d’aventure du premier quart du XIIIe siècle publiée par A. Wallensköld, Paris 1907. 108  Vgl. Adolf Tobler, Erhard Lommatzsch, Altfranzösisches Wörterbuch, Wies­ baden 1974, s. v. jeter, geter, 1641–1658, hier 1655 f. 104  Ibid.,

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ginale« gebraucht werden.109 In ihrem Verzicht auf diese nahe liegende Wendung weichen das Libro und das Ogier-Epos in diesem Falle also lexikalisch gemeinsam gegenüber der Mehrzahl der anderen Texte ab. Sehr auffallend ist zudem, dass beide Werke unter Verwendung einer beinahe identischen Formulierung die dem guten Schächer geschenkte Vergebung erwähnen: Perdonas li, biaus Pere, roi amant; Et le laron qi a destre iert pendant, (Chevalerie Ogier, v. 10950–10951)

qu en la cros perdonàs al laron (Libro, v. 226)

was einen Sonderfall innerhalb von Labandes (allerdings unvollständigem)110 Korpus darstellt111 – abgesehen von der franko-italienischen Entrée d’Espagne, die aber die explizite Benennung »laron« vermeidet.112 Die Anführung des guten Schächers wird umso relevanter, wenn man seine Abwesenheit im liturgischen Vorbild dieses Gebetstypus berücksichtigt: Es handelt sich dabei um die mit »Libera, Domine, animam servi tui« beginnenden Invokationen aus dem »Proficiscere«-Abschnitt des Ordo commendationis animae, dem Gebet der Kirche für die Dahinscheidenden, welche bereits Wilhelm Tavernier und Joseph Bédier als Quelle der GebeTLIO, s. v. gettare, (aufgerufen am 06.12.2013). J. de Caluwé, »La prière épique dans la tradition manuscrite de la Chanson de Roland«, in: »Senefiance«, X: La prière au moyen-age, Paris 1981, 149–186, hier 149. De Caluwé weist darauf hin, dass weder das von Labande noch das von dessen Vorgängern (siehe folgende Fußnote) zusammengestellte Repertoire vollständig sind, da sie sich nur auf editierte chansons de geste, unabhängig von der Qualität der Ausgaben und vor allen Dingen ohne Berücksichtigung der verschiedenen Manuskriptvarianten, beziehen. Vgl. auch Di Girolamo, »Longino che vide«, 387–388. 111  Vgl. Labande, »Le« Credo »épique«, 76. 112  Vgl. L’Entrée d’Espagne. Chanson de geste franco-italienne. Publiée d’après le manuscrit unique de Venise par Antoine Thomas, I, Librairie de Firmin. Pidot et Cie 1913, 63, v. 1635–1641: »Si voirement come tu escoutas  /  Celui qui estoit en cros ton destre bras,  /  Che dist: ›Domine, memento mei las  /  Quando in regno tuo eris‹, e tu tornas  /  Les oilz vers lui e le reconfortas  /  E disis: ›Amen, te di, que tu seras  /  Hodie mecum; in paradís veras‹«. Der Autor orientiert sich also, so Labande (»Le« Credo »épique«, 76) unmittelbar am Evangelientext, ähnlich wie dies im Übrigen auch der Dichter des spanischen Cid tut, Vgl. Scheludko, »Über das altfranzösische epische Gebet«, 197. Außerhalb der Form des prière épique ist Di(s)mas freilich auch in anderen chansons de geste anzutreffen, am ausführlichsten vermutlich im ersten Buch (Strophen VI, VII und IX) der Chanson d’Antioche, wo die Bezeichnung allerdings nicht laron, sondern leres ist; Vgl. La Chanson d’Antioche, composée au commencement du XIIe siècle par le pelerin Richard. Renouvelée sous le règne de Ohilippe Auguste par Graindar de Rouay. Publiée pour la première fois par Paulin Paris, Paris 1848, 9–12. 109  Vgl. 110  Vgl.



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te der Oxforder Fassung der Chanson de Roland identifizierten.113 Diese mag zwar nicht das einzige den Epenautoren bekannte Modell ähnlichen Inhaltes gewesen sein,114 jedoch kann das Problem möglicher weiterer Einflussquellen angesichts der allgemeinen Verbreitung und Bekanntheit des kirchlichen Sterbegebetes115 sowie seiner inhaltlich konformen An113  Vgl. W. Tavernier, Zur Vorgeschichte des altfranzösischen Rolandsliedes (Ueber R im Rolandslied), Berlin 1903, 146 f.; La Chanson de Roland, publiée d’après le manuscrit d’Oxford et traduite par Joseph Bédier de l’Académie Française, II: Commentaires, Paris 1927, 311 f. 114  Di Girolamo, »Longino che vide«, 401, meint, Tavernier und Bédier hätten dem Ordo commendationis animae deshalb »un’attenzione forse eccessiva« gewidmet, und führt insbesondere die Navigatio sancti Brendani (ibid., 389 f.) sowie die Orationes Pseudcyprianae (ibid., 402–303) als Beispiel einer älteren Form des Gebetes an. Letztere wurden freilich schon von Sr. M.-P. Koch, An Analysis of the long prayers in old French literature with spezial reference to the »Biblical-creed-narrative« prayers, Washington (D.C.) 1940, 168 ff., als Quelle der epischen Gebete vorgeschlagen und ebenso von Scheludko, »Über das altfranzösische epische Gebet«, 185 f., erwähnt. Sr. Koch nahm in ihrer Studie auch bereits die These der Bedeutung älterer Orationsformen, insbesondere im Bereich der gallikanischen Volksfrömmigkeit, für die Genese der prières épiques vorweg, vgl. Koch, An Analysis of the long prayers, 171–173. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass sich der entsprechende Teil des Ordo commendationis animae seinerseits aus eben diesen früheren Gebetsformen speist; vgl. L. Goudaud, »Étude sur les ›Ordines commendationis animae‹«, Ephemerides Liturgicae XLIX (n. s. IX), 1 (1935), 3–27, hier 24–27: Der französische Benedektiner führt unter diesen auch explizit die Oratio sancti Brendani aus dem von Di Girolamo zitierten Werk auf (ibid., 26). Seine Schlussfolgerung klärt auch den Weg des Abschnittes aus dem liturgischen Gebet in die chansons de geste: »[…] on constate déjà au VIIIe siècle l’existence d’un agrégat de formules qui formeront partie intégrante des ordines commendationis des âges futurs. En joignant aux oraisons connues par les sacramentaires, – et dont deux remontent au moins au VIe siècle, – les litanies des saints, qui se récitaient au début du VIIIe siècle (et déjà plus tôt, très probablement) au chevet des mourants, on possède toutes les parties essentielles des prières de l’heure suprême sauf une, le répons Subvenite. Ce n’est qu’au Xe siècle que ce répons fait son apparition dans nos textes, mais alors il est fortement attesté en divers pays, et il restera dès lors l’une des formules capitales constantes, allant généralement de pair avec l’antique oraison Commendamus tibi, Domine« (ibid., 27). Eine ausführliche Behandlung des komplexen Themas findet sich in D. Sicard, La liturgie de la mort dans l’Église latine des origines à la reforme carolingienne, Münster 1978, für das »Proficiscere« insbesondere 361 ff. Bereits in einer vorherigen Studie konnte der Autor konstatieren, dass der literarische Ursprung des Gebetes in einem gelasianischen Archetyp des 8. Jahrhunderts zu verorten ist, die verschiedenen erhaltenen Textzeugen des Ordo commendationis animae diesem Modell gegenüber jedoch relativ unabhängig sind. In jedem Fall ist von einer frühchristlichen Inspira­ tion des Gebetes auszugehen; vgl. ders., »Préparation à la mort et prière pour les agonisants«, in: La maladie et la mort du chrétien dans la liturgie. Conférences SaintSerge, XXIe semaine d’études liturgiques, Roma 1975, 327–337, hier 332–336. 115  Vgl. das von Goudaud, »Étude«, 5–10 zusammengestellte Korpus.

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wendung (etwa in der Todesszene Rolands) hier zurückgestellt bleiben. Gewiss ist anzumerken, dass die prières épiques nie streng stereotypisiert wiedergegeben werden,116 sondern sich vielmehr gerade durch die originellen Ausgestaltungen, Neuformulierungen und Variationen der evozierten heilsgeschichtlichen Ereignisse, eben vor einem epischen Hintergrund, auszeichnen.117 Zugrunde liegt jedoch stets eine gemeinsame Kenntnis der benutzten, mit dem christlichen Dogma verknüpften Quellen,118 unter denen freilich die Basisorientierung an der liturgisch vertrauten Form des »Proficiscere« eine herausgehobene Stellung eingenommen haben dürfte,119 zumal dieses bezüglich der evozierten biblischen Figuren, wie die Textzeugen belegen, selbst einen nicht unerheblichen Variationsspielraum lässt.120 In der Tat fällt auch die oben zitierte prière épique in den von François Suard als am originellsten klassifizierten Abschnitt der Chevalerie Ogier.121 Vor diesem Hintergrund tritt die von dieser chanson de geste mit dem Libro geteilte Präsenz des im kirchlichen Sterbegebet abwesenden laron122 umso markanter hervor. Der Einfluss des Ogier-Stoffes auch auf Werke 116  Vgl.

Di Girolamo, »Longino che vide«, 403 f. Scheludko, »Über das altfranzösische epische Gebet«, 186, außerdem ­Jacques De Caluwé, »La ›prière épique‹ dans les plus anciennes chansons de geste françaises«, Olifant IV.1 (1976), 4–20, hier 20, und Di Girolamo, »Longino che vide«, 390. 118  Ibid., 19 f. De Caluwé weist Scheludkos These der Modellfunktion des langen epischen Gebetes im Couronnement Louis entsprechend noch deutlicher als Labande zurück. 119  Selbst Scheludko, der doch gerade die Originalität des Autors des Couronnement Louis und damit der altfranzösischen Epik gegenüber den liturgischen Formen zu beweisen versucht, räumt in »Über das altfranzösische epische Gebet«, 185, ein: »Wir haben ein Gebet vor uns, das nicht nur beim Gottesgericht, sondern bei jeder Todesgefahr gesprochen wurde. Vor allen Dingen wurde es in der Totenmesse und bei der letzten Ölung, d. h. bei wirklichen Todesfällen gebraucht«. 120  Vgl. Sicard, La liturgie de la mort, 365–368. 121  Vgl. F. Suard, »L’originalité de la Chevalerie Ogier de Danamarche«, in: S. Bazin-Tacchella, D. de Carné, M. Ott (Hgg.), Le Soufflé épique. L’Esprit de la chanson de geste, Dijon 2011, 121–131, hier 125. Dieser umfasst demzufolge die Verse 8988– 11157; die Verse 10903–10975 formieren das Gebet. 122  Er gehört in der Tat zu keiner der insgesamt 18 von Sicard aufgeführten Personen oder Menschengruppen in den verschiedenen Manuskripten, vgl. ders., La liturgie de la mort, 329–332. Das von uns nachfolgend zur Zitierung verwendete ambrosianische Sakramental ist übrigens dasjenige, das mit 16 Invokationen numerisch alle anderen überragt, vgl. Goudaud, »Étude«, 13. Ein Beleg für eine spezifische Tendenz zu einer verlängerten Form des Gebetes in der Heimatregion Ugucciones? Freilich ist Scheludko, »Über das altfranzösische epische Gebet«, 197, zuzustimmen: »Deren [der Schächer] Einführung in das Gebet bei der Beschreibung der Kreuzigung lag jedoch nahe«. 117  Vgl.



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außerhalb des epischen Genres in Italien konnte von Pio Rajna bereits bezüglich des Chronicon Novalese demonstriert werden,123 weshalb eine Interpolation des verwendeten Antigraphen von V4 mit dem von B bei der Erstellung des Libro durchaus nicht unmöglich erscheint. Wie immer die Beziehungen zur Texttradition der Chevalerie Ogier im Detail geartet sein mögen124 – die Orientierung Ugucciones an Modellen der altfranzösischen Epik in ihrer norditalienischen Rezeption ist in jedem Falle offenkundig. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang, insbesondere angesichts der bereits angedeuteten Verbindung zwischen der Chevalerie Ogier und der Abtei Mortara, an die bekannte These Joseph Bédiers bezüglich der fundamentalen Rolle der entlang der Pilgerstraßen gelegenen Klöster bei der Verbreitung der epischen Texte,125 welche, innerhalb eines bestimmten Verständnisrahmens, weiterhin unverändert ihre Gültigkeit bewahrt.126 Gerade die Chevalerie Ogier erwähnt kontinuierlich und mit einer spezifischen Detailtreue Stationen der via Francigena und nennt unter diesen auch explizit, wie im Übrigen ebenfalls Ami et Amile und Folque de Candie, das 37 Kilometer von Pavia entfernt gelegene Mortara.127 In Anbetracht der beschriebenen antihäretischen Ausrichtung des Libro liegt die Vermutung nahe, dass die entsprechenden Textstellen auf diese populären Vorbilder zurückgreifen, um die Anklänge an die Auseinandersetzung mit 123  Vgl. P. Rajna, »Contributi alla storia dell’epopea e del romanzo medievale. VIII. La cronaca della Novalesa e l’epopea carolingia«, Romania XXIII (1894), 36–61. 124  Auffallend ist auch die große Übereinstimmung zwischen der Chevalerie Ogier und V4 bei der Erinnerung an die Errettung der drei Brüder im Feuerofen: »Les trois enfans en la fornaise ardant« (Chevalerie Ogier, v. 10967, La chevalerie d’Ogier, hg. Eusebi, 418) – »Li tres enfant de la fornas ardent;« (Chanson de Roland – V4, Il testo assonanzato franco-italiano, hg. Beretta, 212). Interessant ist weiterhin, dass die sich nur auf die Raimbert de Paris zugeschriebenen Manuskripte stützende Edition der Chevalerie Ogier lediglich eine erheblich reduzierte Version des Gebetes, ohne die aufgeführten Parallelen, präsentiert, vgl. Raimbert de Paris, La chevalerie Ogier de Danemarche. Poème du XIIe siècle. Publié d’après le manuscrit de Marmoutier et le manuscrit 2729 de la Bibliothèque Nationale, II, Slatkine Reprints, Genève 1969, 456 f.: Umfasst Ogiers prière épique vor dem Kampf gegen Braiher hier nur 18 Verse (10958–10975), so sind es in der an der an B orientierten Edition Eusebis ganze 73 (v. 10903–10975). 125  Vgl. J. Bédier, Les Légendes Épiques, Paris 31926–1929. 126  Vgl. M.-L. Meneghetti, »La nascita delle letterature romanze«, in: E. Malato (Hg.), Storia della letteratura italiana, 175–229, 185. G. Penco, »Tradizione mediolatina e fonti romanze nel Chronicon Novaliciense«, Benedictina XII (1958), 1–14, hier 13, bezeichnet im Übrigen die bereits erwähnte subalpine Klosterchronik als besten Beweis für die Stichhaltigkeit der These Bédiers. 127  Vgl. S. Albesano, »Sulle ›Routes d’Italies‹. Itinerari italiani nelle chansons de geste«, Medioevo Romanzo XXIII (1999), 184–209, hier 186–189.

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den Katharern in einen seinem Publikum wohl vertrauten Kontext einzubetten. Darauf deutet auch die Tatsache, dass das »Suscipe«-Gebet des Ordo commendationis animae vor den erwähnten Invokationen explizit die Errettung aus den »laqueis poenarum«128 erfleht, hin. Im Übrigen verweist das in der Chevalerie Ogier gesprochene Gebet bereits durch seine Länge auf die religiöse Dimension des ihm folgenden Duells, da dessen für den Protagonisten positiver Ausgang, so wiederum François Suard, dem Schutz Frankreichs vor einer häretischen Herrschaft gleichkommt.129 Der Zusammenhang zwischen dem liturgischen Ursprungstext, seiner literarischen Verwendung und der vollzogenen »Aktualisierung« in dem Hinweis auf die Fallstricke der Häretiker war für die Zeitgenossenen Ugucciones entsprechend problemlos nachvollziehbar. Somit darf die Warnung vor der folie Rolands im Libro als Warnung vor den Schlingen der Irrlehre verstanden werden, denen gegenüber es nicht minder gewappnet zu sein gilt als gegenüber den Angriffen der Sarazenen.130 Ähnliches geschieht in der Chevalerie Ogier, wenn der für die Kreuzzugsepen typische Kampfesschrei »Saint Sepulcre!« nie in einer Auseinandersetzung zwischen Christen und Heiden, sondern ausschließlich bezogen auf den Krieg zwischen Karl und Ogier Verwendung findet:131 Ein aus literarischen Bearbeitungen des Konfliktes mit den Sarazenen entnommenes Modell wird auf eine »interne« lokale Auseinandersetzung, die letztlich die mit den Anhängern heterodoxer Lehren geführte meint, übertragen. Dementsprechend fügen sich die verschiedenen Bezüge zur Literatur der chansons de geste im Libro durchaus zu einem kohärenten Gesamtmodell zusammen: Statt einer äußeren Bedrohung, wie Karl der Große und seine Paladine in der Chanson de Roland, sehen sich Uguccione und seine norditalienischen Hörer einer internen, deshalb aber keineswegs leichtsinnig zu unterschätzenden und somit ebenfalls »episch« behandelbaren, Gefahr ausgesetzt, der Häresie der Katharer. 128  Vgl. Commendatio Animae nach einem Ambrosianischen Messlektionar aus dem 11. Jahrhundert in Excertpa ad Manuale Ambrosianum pertinentia [Codex Ambros. T, 96 sup.], in M. Magistretti (Hd.), Monumenta Veteris Liturgiae Ambrosianae, I, Pontificale in usum Ecclesiae Mediolanensis necnon Ordines Ambrisiani ex codicibus saecc. IX–XV, Milano 1897, 83: Suscipe, Domine, servum tuum in bonum, et libera animam eius ex omnibus periculis infernorum, et de laqueis poenarum, et de omnibus tribulationibus. 129  Vgl. Suard, »L’originalité de la Chevalerie«, 128. 130  Diese Relationierung entspricht ganz der zu Beginn des 13. Jh.s von Papst Innozenz III. vertretenen Auffassung; vgl. M. Meschini, Innocenzo III e il Negotium Pacis et Fides in Linguadoca tra il 1198 e il 1215, Roma 2007, 410; 495–596. 131  Vgl. Ott, »La Chevalerie Ogier et l’orient des croisades«, 174.



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V. Zugleich bestätigt eine exakte Übereinstimmung zwischen dem Text Ugucciones und dem des Ordo commendationis animae die Vertrautheit des Verfassers mit der ekklesiastischen Kultur und dem liturgischen Modell: Hierbei handelt es sich um die Errettung Daniels aus der Löwengrube (Dan VI,2–29). Der liturgische Text verwendet hierfür die Bitte: Libera, Domine, animam servi tui, sicut liberasti Danihelem de lacu leonum. (Commendatio animae, Codex Ambros. T, 96 sup.)132

Diese Erinnerung an das heilsgeschichtliche Ereignis findet sich in allen 18 der von Damien Sicard als für den Zeitraum vom 9. bis 13. Jahrhundert als am charakteristischsten erachteten Belege des Ordo commendationis animae, welche keine signifikanten textuellen Variationen aufweisen.133 Seine Erwähnung ist dann auch, wie kaum anders zu erwarten, ein fundamentaler Bestandteil zahlreicher epischer Gebete der chansons de geste,134 angefangen mit dem Sterbegebet Rolands in der Chanson de Roland (O): E Danïel des leons guaresis, (Chanson de Roland, v. 2386)135

und dem dort figurierenden Gebet Karls des Großen: E Danïel des merveillus torment, (Chanson de Roland, v. 3104)

über das Couronnement Louis: Et Daniel enz la fosse al lion; (Li coronemenz Looïs, v. 1018)136 132  Commendatio Animae, in: Magistretti (Hd.), Monumenta Veteris Liturgiae Ambrosianae, 84. 133  Vgl. Sicard, La liturgie de la mort, 367. Um hierfür nur eines der von uns stichprobenartig überprüften Beispiele zu geben: Das Pontifikal der Bibliothek des Trinity College in Cambridge (Universitätsbibliothek Cambridge, ms. Ll. 2, 10), ebenfalls aus dem 12. Jh., liest beinahe identisch: Libera domine anima serui tui sicut liberasti danielem de lacu leonum, vgl. H. A. Wilson (Hg.), The Pontifical of Magdalen College, London 1910, 236. 134  Labande, »Le« Credo »épique«, 72, zählt allein 15 Erwähnungen. Eine Berücksichtigung sämtlicher Manuskripte (v. supra, n. 110) würde diese Zahl gewiss noch beträchtlich erhöhen. 135  La Chanson de Roland. Édition critique par Cesare Segre. Nouvelle édition revue. Traduite de l’italien par Madeleine Tyssens, I, Genève 1989. Dieser Edition wurde auch das folgende Zitat entnommen. 136  Le Couronnement Louis. Chanson de geste publiée après tous les manusscrits connus par E. Langlois, Paris 1888.

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den, ebenfalls dem Narbonnenserzyklus angehörigen, Aliscans: Et Danïel en la fosse au lion, (Aliscans, v. 7110)137

der, vielleicht ihrerseits in Süditalien entstandenen,138 Chanson d’Aspremont: »E.! Dex,« dist Namles, »qui salvas Danïel Dedenz la fosse an petit lïoncel, […]« (La Chanson d’Aspremont, v. 2046–2047)139

dem, zu Uguccione ebenfalls kontemporären Folque de Candie: et Danÿel gueristes du lyon, (Folque de Candie, v. 3394)140

erneut der Chevalerie Ogier: Saint Danïel du lïon deglutant, (Chevalerie Ogier, v. 10966),

Gaydon: »Et Daniel en la fosse au lyon,« (Gaydon, v. 2344),141

bis hin zu der, nach Labandes Repertoire, ausführlichsten Wiedergabe der Episode in der zwischen 1320 und 1330 entstandenen142 Chanson du Chevalier au Cygne et de Godefroid de Bouillon: Et Daniel l’enfant qui, par grant desverie, Fu getés as lions en la fosse enhermie; 137  Aliscans. Kritischer Text von Erich Wienbeck, Wilhelm Hartnacke, Paul Rasch, Halle 1903. Vgl. ebenfalls die von Claude Régnier auf der Basis des mit A2 bezeichneten Manuskripts Paris, BNF fr. 1449 erstellte Ausgabe, v. 7326: »Et Daniel en la fosse au lion«, in: Aliscans. Texte établi par Claude Régnier. Présentation et notes de Jean Subrenat. Traduction revue par Andrée et Jean Subrenat, Paris 2007. 138  Vgl. Ph. A. Becker, »Aspremont«, Romanische Forschungen LX (1947), 27–67, hier 37 f. 139  La Chanson d’Aspremont. Chanson de geste du XIIe siècle. Texte du manuscrit de Wollaton Hall, hg. Louis Brandin, I, Paris 21923. 140  Folque de Candie von Herbert Le Duc de Danmartin. Nach den festländischen Handschriften zum ersten Mal vollständig hg. O. Schultz-Gora, II, Dresden 1915. 141  Gaydon. Chanson de geste du XIIIe siècle. Édition, traduction (en collabora­ tion avec Andrée Subrenat), présentation et notes par Jean Subrenat, Louvain / Paris /  Dudley (MA) 2007. 142  Vgl. C. Gaullier-Bougassas, »Le Chevalier au Cygne au fin de Moyen-Âge«, Cahiers de recherches médievale [Onlineversion] XII (2005), mise en ligne le 30 décembre 2008, konsultiert am 08.03.2013, URL: http://crm.revues.org. / 2232, 4.



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.VII. jors fu avoc els, ce dist la prophesie; Sains et saufs en issi, c’ainc n’i ot char blaismie; (La Chanson du Chevalier au cygne, v. 5472–5475)143.

Die entsprechenden Referenzen in V4, dem mit Ugucciones mutmaßlichem Antigraphen in Verbindung stehenden Manuskript, bleiben hingegen auf die übliche kurze Reminiszenz des Wunders beschränkt: E Daniel garentais del leons, (Chanson de Roland – V4, v. 2589)

beziehungsweise Santo Daniel garisti dau lion (Chanson de Roland – V4, v. 3885).

Wie unschwer zu erkennen ist, handelt es sich bei der von Uguccione gebrauchten, vermutlich dem Vorläufer von V4 entlehnten, Wendung guarì[s] Daniel um eine für die chansons de geste alles andere als untypische Kollokation zu Beschreibung dieser biblischen Begebenheit. Im ­Unterschied zu dem Text aus der Tradition der Chanson de Roland und zu anderen möglichen epischen Modellen greift der lombardische Autor jedoch im zweiten Hemistich wörtlich den Text der liturgischen Formel de lacu leonum auf, was umso auffälliger ist, als dass die altfranzösischen Epen für gewöhnlich, wenn sie sich denn nicht gar, wie V4, auf die lapidare Erwähnung Daniels beschränken, fosse bevorzugen, wie die oben angeführten Beispiele demonstrieren. Eine romanische Entsprechung für lacu aber findet sich in keiner der prières épiques aus Labandes Korpus. In den vor oder parallel zur Entstehungszeit des Libro datierbaren Werken aus der Romania konnten wir überhaupt lediglich zwei Derivate von LACU(M) in Verbindung mit dem alttestamentarischen Propheten aufspüren – zum einen im anglonormannischen Romance of Horn144 – Cil vus rende voz biens ki fist salvatïun Al vaillant Daniel enz el lai al leün. (The Romance of Horn, v. 1403 f.)145 –

143  La Chanson du Chevalier au cygne et de Godefroid de Bouillon. Publiée par C. Hippeau, I: Le Chevalier au cygne, Paris 1874. 144  Nach den aus A. Moisan, Répertoire des noms propres de personnes et de lieux cités dans les chansons de geste françaises et les œuvres étrangères dérivées, I: Textes français. Noms de personnnes (A-N), Genève 1986, 338, von uns konsultierten Texten die einzige entsprechende Wendung. 145  The Romance of Horn, by Thomas, ed. Mildred K. Pope, I, Oxford 1955, 47.

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zum anderen in der, freilich eindeutig nach dem beschriebenen epischen Modell gestalteten,146 Kanzone Deus, vera vida, verays des Peire d’Alvernha: De vos, q’estortetz Sydrac […] E Daniel dinz del lac (Deus, vera vida, verays, v. 36, 39).147

Beide Stellen haben jedoch angesichts der offenkundigen Anlehnung Ugucciones an die chansons de geste nur geringe Aussichten, als mögliche Vorbilder des Libro in Frage zu kommen, zumal der Umweg über lai zu laco gegenüber der leicht zugänglichen und verständlichen Alternative fossa unwahrscheinlich wirkt und die Komposition Peire d’Alvernhas noch nicht einmal den obligatorischen nasalen Reim in leon verwendet. Das Gebet des Libro weicht an dieser Stelle folglich offenkundig bewusst von seinem epischen Modell ab148 und verwendet direkt den Text des Ordo commendationis animae.149 Der bewusste und exakte Rückgriff 146  Vgl. D. Scheludko, »Über die religiöse Lyrik der Troubadours«, Neuphilologische Mitteilungen XXXVIII.5–6 (1937), 224–250, hier 229. 147  Peire d’Alvernhe, Poesie, hg. Aniello Fratta, Manziana (Roma) 1996, 99–111, hier 107. 148  Natürlich stellt sich auch hier wieder das Problem eines fehlenden Inventars der prières épiques (v. supra, n. 110), weshalb unsere Überprüfung keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Zumindest bezogen auf die, hier ja letztendlich aufgrund der herausragenden Stellung von V4 hinsichtlich des Textes maßgeblichen, Texttradition der Chanson de Roland kann aber ein Vorkommen der Wendung ausgeschlossen werden. Auch die weiteren italienischen Zeugen (vgl. Segre [Hg.], La Chanson de Roland, 51 f.), die gereimten Fassungen C und V7, differieren deutlich vom Text des Libro; vgl. Les textes de la Chanson de Roland, hg. R. Mortier, V: Le manuscrit de Venise VII, Paris 1942: »Et Daniel del lion al grant dent« [Chanson de Roland – V7, Laisse 280] und IV: Le manuscrit de Chateauroux, Paris 1943, »Et Daniel del lion al grant dent« [Chanson de Roland – C, v. 5116]. Einen auf V4 fokussierten Vergleich der Gebete in der Chanson de Roland führt P. Remy, »Les prières de la ›Chanson de Roland‹«, in: A. Vàrvaro (Hg.), XIV Congresso Interna­ zionale di Linguistica e Filologia Romanza. Napoli. 15–20 Aprile 1974. Atti, II, Napoli 1976, 321–332, durch. 149  Eine unmittelbare Verwendung des Gebetes, freilich ohne Angabe exakter Textkorrespondenzen, wurde bereits von Emilio Pasquini beschrieben; vgl. ders., »La letteratura didattica e allegorica«, in: N. Mineo, E. Pasquini, A. E. Quaglio (Hgg.), La letteratura italiana. Storia e testi, Direttore: Carlo Mussetta, I, ii, Bari 1970, 3–111, hier 19: »Uguccione […] sa incrociare, in una preghiera, il rituale degli agonizzanti (Ordo commendationis animae) con lo svolgimento poetico che ne aveva offerto la Chanson de Roland; si serve di moduli tecnici raffinati come la variatio dei temi, ma adopera con metro anologo a quello delle chansons de geste francesi e franco-venete per una materia edificante e religiosa, risalente dunque a monte ­



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auf das liturgische Vorbild bestätigt die Vertrautheit des Autors mit der offiziellen kirchlichen Kultur und seine dementsprechend angewandte Strategie, epische Bezugnahmen in einen orthodoxen Rahmen einzubetten. VI. Es bestätigt sich folglich abermals, dass Ugucciones eine die katholische Orthodoxie gegenüber der Häresie verteidigende Position einnimmt. Wie bereits von Corrado Bologna in Bezug auf die Gesamtheit der SaibanteTexte festgestellt, handelt es sich bei seinem Werk um eine für dessen geographischen Entstehungsraum (ungeachtet einer genaueren Zuschreibung) überaus typische Verbindung ›konservativer‹ (im Sinne von die kirchliche Lehrmeinung bekräftigender) und auf eine didaktische Verbreitung mittels innovativer Methoden abzielender Elemente, wie sie einer mentalità giullaresca und der Kultur der im Entstehen begriffenen Bettelorden entsprechen.150 Zu denken ist hier in besonderer Weise an die in der Phase zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert immer stärker auf den öffentlichen Plätzen agierenden Prediger ›neuen Typs‹, welche sich die Vortragstechnik der Gaukler (und vielleicht auch die der politischen Redner) aneigneten, mit denen sie im Übrigen das Charakteristikum der einen ständigen kulturellen Austausch ermöglichenden Wanderschaft verband.151 Außerdem etablierte sich in den 1180er Jahren im Zuge der von Petrus Cantor und seinem Schülerkreis vertretenen Positionen die Unterscheidung zwischen predicatio und exhortatio – eine vorrangig modale Differenzierung, die nach sich zog, dass auch Laien Verkündigungsaufgaben für die Kirche übernehmen konnten, und die in Jacques de Vitry und Papst Innozenz III. prominente Befürworter finden sollte.152 dell’applicazione epica della lassa monorima, fino al poemetto provenzale (Boeci) su Severino Boezio.« 150  Vgl. Bologna, »La letteratura«, 156 f. 151  Vgl. C. Delcorno, »I professionisti della parola«, in: ders., »Quasi quidam cantus«. Studi sulla predicazione medievale. A cura di Giovanni Baffetti, Giorgio Forni, Silvia Serventi, Oriana Visani, Firenze 2009, 3–21 [erstmals veröffentlicht unter dem Titel »Professionisti della parola: predicatori, giullari, concionatori«, in: Tra storia e simbolo. Studi dedicati a Ezio Raimondi dai Direttori, Redattori e dall’Editore di Lettere Italiane, Firenze 1994, 1–21], 11. 152  Vgl. M. P. Alberzoni, »Gli umiliati«, in: Cristina Andenna, Gert Melville (Hgg.), Regulae – Consuetudines – Statuta (Atti del I e del II Seminario internazionale di studio del Centro italio-tedesco di storia comparata degli ordini religiosi. Bari  /  Noci  /  Lecce, 26–27 ottobre 2002  /  Castiglione delle Stiviere, 23–24 maggio 2003), Münster 2005, 331–371, hier 336–338.

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In der Tat fällt die Entstehung des Libro offenkundig in das Pontifikat jenes bedeutenden Nachfolgers Petri (1198–1216), der innerhalb seines weitreichenden Reformprogramms wesentliche Schwerpunkte auf die Integration neuer geistlicher Bewegungen (das prominenteste Beispiel ist gewiss die Approbation der Gemeinschaft des Franz von Assisi) und die Bekämpfung der Häresie legte, wobei Letzteres eben nicht nur mittels repressiver Methoden, sondern auch durch Predigt und Versöhnungsangebote geschah.153 Erinnert sei an dieser Stelle allein an die entsprechende Aktivität des Heiligen Dominikus, die just in der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem südfranzösischen Katharertum Gestalt annahm und somit die Gründung des Ordo Fratrum Praedicatorum bedingte.154 Angesichts seiner antihäretischen Ausrichtung und des gewählten Vortragsstils kann das Libro somit sicherlich in diesen geistes- und kirchengeschichtlichen Hintergrund eingeordnet werden. Doch vielleicht ermöglicht eine Berücksichtigung der spezifischen Situation des padanen Entstehungsraumes des Werkes sogar eine noch etwas präzisere Bestimmung seiner Genese: Wie bereits angedeutet, beinhaltete das grundlegende kirchliche Erneuerungsprogramm Innozenz III. nicht zuletzt die Unterstützung neuer Modelle laikaler Religiosität. Diesbezüglich ragt zweifelsohne die Wiedereingliederung155 (beziehungsweise vollständige legale Bekräftigung)156 und Förderung der im Jahre 1201 als Orden approbierten Humiliaten heraus, jener »nach 1170 bezeugte[n] religiöse[n] Laiengenossenschaft lombardischer Städte um Mailand«157, die sich in ihrer heterogenen Zusammensetzung (Frauen und Männer, Kleriker und Laien, Verheiratete und Unverheiratete) grundlegend von früheren religiösen Kongregationen unterschied158 und gerade durch ihre spezifische Untergliederung in Meschini, Innocenzo III, 421–435. Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 42009, 61. 155  Zur Versöhnungsbereitschaft und Wiedereingliederungswünschen als Grundprinzipien des Handelns Innozenz III. Vgl. Meschini, Innocenzo III, 428; 448 ff. 156  Vgl. A. Ambrosioni, »Umiliate / Umiliati«, in: Dizionario degli Istituti di Perfezione, diretto da Guerrino Pellicia (1962–1968) e da Giancarlo Rocca (1969), IX, Roma 1997, 1489–1507, hier 1491: Die Verurteilung von Papst Luzius III. hatte sich keinesfalls gegen alle Mitglieder der Bewegung gerichtet, führte aber zur Jahrhundertwende gewiss mit zu dem Bedürfnis aller Humiliaten, ihren Rechtsstatus klären zu lassen. 157  K.-V. Selge, »Humiliaten«, in: Theologische Realenzyklopädie, XV, hg. Gerhard Müller, Berlin / New York 1986, 691–696, hier 691. 158  Vgl. M. Maccarrone, »Riforme e innovazioni di Innocenzo III nella vita religiosa«, in: ders., Studi su Innocenzo III, Padova 1972, 221–337, hier 285. Eine Gruppe der Kongregation hatte freilich bereits im Jahre 1186 eine allgemeine Approba­ tion durch Urban III. erhalten, die spirituelle Bewegung wollte aber eine Ordnung 153  Vgl. 154  A.



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Laien, Regulare und Kleriker in das städtische Gesellschaftsgefüge eingebunden war.159 Unter den ersten Humiliaten waren dabei, entgegen früherer Annahmen, auch Personen aus den gehobenen Kreisen und kulturell gebildete Menschen, vorrangig aber Teile der mittleren Gesellschaftsschicht, die jedoch keineswegs mittellos waren: Notare, Handwerker, Kaufleute160 – genau jenes aufstrebende Bürgertum also, dessen dialektische Auseinandersetzung mit der feudalen Klasse im Aneignungsprozess der französischen und okzitanischen literarischen Werke so grundlegende Bedeutung für die Herausbildung der norditalienischen volgare-Literatur haben sollte,161 oft eben im regen Austausch mit episkopalen und monastischen Zentren.162 Der Papst betrachtete die humiliatischen Gemeinschaften mit großem Wohlwollen und sah in ihnen ein effizientes Mittel zur Bekämpfung der in der Lombardei wuchernden Häresie,163 zumal die grundlegend orthodox inspirierte Bewegung selbst genau dies als eines ihrer Hauptziele erachtete.164 So bezeugen etwa eine Urkunde des päpstlichen Legaten Gerardo da Sesso vom 19. April 1211 zur Unterstützung der Humiliaten und ein Brief des Dominikaners Jacques de Vitry aus dem Herbst 1216 das starke Engagement der Kongregationen in der wider die Irrlehren gerichteten Predigtaktivität.165 So findet sich in den Reihen des Humiliatenordens wenige Jahrzehnte später mit Bonvesin de la Riva sogar der wohl bekannteste Autor der norditalienischen didaktischen Literatur des Mittelalters. Und in der Tat all ihrer verschiedenen Zweige unter päpstlicher Anerkennung erhalten, weshalb sie in den Jahren 1199–1200 eine entsprechende Anfrage an Innozenz III. richtete, ibid., 284. 159  Vgl. M. P. Alberzoni, »Die Humiliaten zwischen Legende und Wirklichkeit«, Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung CVII (1999), 324– 353, hier 324. Dieser Beitrag erhellt fundiert die Frühzeit des Ordens, so etwa in der Information, dass »die erste Nennung der Humiliaten als zweifelsfrei rechtgläubiger Orden seitens der kirchlichen Obrigkeit« erst 1211 erfolgt und von Innozenz III. im Jahre 1214 bekräftigt wird, ibid., 332. 160  Vgl. Ambrosioni, »Umiliate / Umiliati«, 1496. 161  Vgl. Bologna, »La letteratura«, 112 f.; 194 und passim. 162  Ibid., 120 f. 163  Vgl. Maccarrone, »Riforme e innovazioni di Innocenzo III«, 285. 164  Vgl. Ambrosioni, »Umiliate / Umiliati«, 1496. 165  Vgl. M. P. Alberzoni, »Umiliati e monachesimo«, in: AA.VV., Il monachesimo italiano nell’età comunale. Atti del IV Convegno di studi storici sull’Italia benedettina. Abbazia di S. Giacomo Maggiore, Pontida (Bergamo), 3–6 settembre 1995, Cesena 1998, 219–251, hier 230 f.; für das exakte Zitat de Vitrys vgl. Epistola I, in: Lettres de Jacques de Vitry (1160 / 1170–1240) évéque de Saint-Jean-d’Acre, hg. R. B. C. Huygens, Leiden 1960, 71–78, hier 72 f.

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vertritt auch Bonvesin eindeutig antihäretische Positionen, die in seiner Disputatio mensium sogar, ganz wie im Libro, auf eine Verteidigung des freien Willens gegen dessen Leugnung durch die Katharer hinauslaufen.166 Tatsächlich bezogen sich die erwähnten päpstlichen Verfügungen bezüglich laikaler Verkündigungsaufgaben nicht zuletzt auf den Dritten Orden der Humiliaten, der von Innozenz III. entsprechende Befugnisse erhielt.167 Aufgrund fehlender konkrete Belege, lässt sich lediglich spekulieren, ob auch Uguccione den Humiliaten angehörte. Jedoch zeigen nicht zuletzt einige historische Fakten, dass dies der Kulturlandschaft, welche das Libro hervorbrachte, zur Gänze entsprechen würde. Dass die Entstehungszeit des Libro in die Blüteperiode des Ordens unmittelbar nach seiner offiziellen Approbation fällt (Jacques de Vitry spricht im zitierten Dokument bereits im Jahre 1216 von etwa 150 Gemeinschaften allein für das Erzbistum Mailand), braucht dabei wohl kaum eigens betont zu werden. Dabei stellt nun aber ausgerechnet Lodi (gemeinsam mit Viboldone, Rondineto und Vialone) eine der bedeutendsten frühen Proposituren dar;168 ja es war sogar der Laudenser Vertreter selbst (Lanfranco di Lodi), der, gemeinsam mit Giacomo di Rondineto, die entsprechenden Verhandlungen mit dem Papst aufnahm und im Dezember 1200 im Briefe Licet multitudini ein erstes positives Antwortschreiben aus Rom für die junge Gemeinschaft erwirken konnte.169 Sollte ›da Lodi‹ also doch mehr als nur der Familienname unseres Autors sein, entbehrt es sicher nicht jeglicher Grundlage, dieses Faktum als einen Hinweis auf eine mögliche Beziehung zwischen ihm und der Kongregation heranzuziehen. Im Übrigen ist durch die päpstliche Approbationsbulle selbst (Incumbit nobis, 7. Juni 1201)170 auch für das Cremona der ersten Jahre des 13. Jahrhunderts171 zumindest die 166  Vgl. F. Zambon, »La letteratura allegorica e didattica. I. Tradizione mediolatina e tradizione romanza«, in: Manuale di letteratura italiana. I. Dalle origini alla fine del Quattrocento, Torino 1995, 465–491, hier 479. 167  Vgl. Ambrosioni, »Umiliate / Umiliati«, 1492. 168  Vgl. M. P. Alberzoni, »Giacomo di Rondineto: Contributo per una biografia«, in: Maria Pia Alberzoni, Annamaria Ambrosioni, Alfredo Lucioni (Hgg.), Sulle tracce degli Umiliati, Milano 1997, 117–162, hier 130. 169  Vgl. Alberzoni, »Gli umiliati«, 344 f. 170  Vgl. die Adressierung des Propositums: Innocentius etc. diletctis filiis G[uidoni] de Porta Orientali, C. Modeciensi, A. Cumano, N. Papiensi, G. Brixiensi, I. Bergamensi, I. Placentino, I. Laudensi, R. Cremonensi aliisque ministris eiusdem ordinis eorumque fratribus et sororibus etc., zitiert nach G. G. Meersseman OP, Dossier de l’ordre de la pénitence au XIII° siècle, Fribourg 1961, 276–282, hier 276. 171  F. Menant, »Da Liutprando 962 a Sicardo (1185)«, in: A. Caprioli, A. Rimoldi, L. Vaccaro (Hgg.), Storia Religiosa della Lombardia, VI: Diocesi di Cremona, Brescia 1998, 43–58, hier 56, geht sogar von den letzten Jahrzehnten des 12. Jh.s aus.



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Präsenz nichtkonventualer Humiliaten172 bezeugt.173 Sollte also die Hypothese einer Herkunft Ugucciones aus Cremona zutreffen, widerspräche dies keineswegs einer Verortung des Autors im Ambiente der Humiliaten. Die prominente Rolle Lodis in der Frühzeit der Ordensgeschichte ist jedoch kaum zu übersehen,174 zumal die Bewegung in jenen Jahren den Schutz des Laudenser Bischofs Arederico di s. Agnese (1189–1216) genoss.175 Direkt in die der Jahrhundertwende folgenden Jahre fällt so etwa die Neugründung der domus et ecclesia Omnium Sanctorum de Fossato Alto.176 Fossadolto, heute zur Ortschaft Borghetto Lodigiano, etwa 11 Kilometer südlich von Lodi, gehörend, zeichnete sich nicht nur durch seine politische, wirtschaftliche, militärische und religiöse Schlüsselposition aus, sondern lag auch in unmittelbarer Nähe des von Mailand nach Piacenza führenden Abschnittes des vom 12. Jahrhundert an bedeutendsten Pilgerweges nach Rom,177 was uns prompt in das Ambiente der Entstehung und Verbreitung der chansons de geste zurückführt. Tatsächlich fällt auf, dass allgemein einige der frühesten humiliatischen Gründungen wie Pavia oder Piacenza178 mit wichtigen Etappenzielen der via Romea übereinstimmen. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang weiterhin die Rolle des Bischofs von Vercelli bei der Entstehung des Ordens: Albert von Gualtieri (~1150–1214)179, der im Auftrag Innozenz III. als einer der Prüfer des 172  Für die ersten beiden Stände des Ordens folgten separate päpstliche Verfügungen; in diesen wird Cremona jedoch namentlich nicht genannt; vgl. F. Andrews, The Early Humiliati, Cambridge 1999, 62. 173  Ein eindeutiger Beleg der Präsenz des somit etablierten dritten Ordensstandes in der Stadt, zumal hierin ja lediglich auf bereits existente religiöse Lebensformen Bezug genommen wurde. Analog anzuwenden sind hier die bezüglich der, in den Erlassen für den zweiten und dritten Stand genannten, Stadt Bergamo gezogenen Schlussfolgerungen von M. T. Brolis, Gli Umiliati a Bergamo nei secoli XIII e XIV, Milano 1991, 32–34. 174  Vgl. Andrews, The Early Humiliati, 55 f. 175  Vgl. L. Samarati, »Dalla fondazione di Lodi nuova alla Riforma tridentina«, in: A. Caprioli, A. Rimoldi, L. Vaccaro (Hgg.), Storia Religiosa della Lombardia, VII: Diocesi di Lodi, Brescia 1989, 47–66, hier 49. 176  Vgl. E. Mercatili Indelicato, »Per una storia degli umiliati nella diocesi di Lodi«, in: Alberzoni, Ambrosioni, Lucioni (Hgg.), Sulle tracce degli Umiliati, 343– 492, hier 358 ff. Die Bezeichnung findet sich demnach erstmals in einem Dokument aus dem Jahre 1208, ibid., 359. Samarati, »Dalla fondazione di Lodi nuova«, 49, zufolge geht die Gründung auf das Jahr 1203 zurück. 177  Ibid., 360 f. 178  Vgl. Ambrosioni, »Umiliate / Umiliati«, 1490. 179  Biographische Informationen bietet L. Minghetti, »Alberto vescovo di Vercelli (1185–1205). Contributo per una biografia«, Aevum LIX (1985), 267–304.

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Approbationsbegehrens der Humiliatenkongregationen fungierte.180 Denn der in der Diözese von Parma geborene Vertraute des Papstes genoss seine Ausbildung just in dem für die Genese der epischen Literatur in Italien so bedeutenden Kloster zu Mortara,181 als dessen Prior er vor der Übernahme des Bischofsamtes fungierte und das zu einem Bollwerk des Papsttums entlang der via Francigena und des Pilgerwegs nach Santiago de Compostela geworden war.182 Die Ideale der reformierten Kanonikerkongregationen Nordwestitaliens, unter denen die Mortarienser ob ihres Einflusses und ihrer Verbreitung in besonderer Weise hervorstachen,183 wiesen in ihrer Betonung einer einfachen Lebensform,184 dem Ziel der vita apostolica in Form einer gezielten Predigt zur Verbreitung des Wortes Gottes185 und den auf die lokalen Gegebenheiten abzielenden Hilfsangeboten, was der Sorge um die Pilger gleichkam,186 signifikante Schnittmengen zu denen der späteren Bettelorden auf. Albert, als Gründer eines Theologiestudiums seines Domkapitels mit großem Eifer auch um das spirituelle Wachstum seiner eigenen Diözese bemüht,187 sollte während seiner letzten Lebensjahre die vitae formula der lateinischen Eremiten auf dem Berge Karmel gestalten und so weiter aktiv die Geschichte der ›neuen Orden‹ prägen.188 Der Einfluss des tief von der Mortarienser Spiritualität geprägten Bischofs schlug sich entsprechend auch in der Regel für die Humiliaten offen nieder, da diese für die Kleriker die liturgischen Gebräuche der Kanoni180  Vgl. M. P. Alberzoni, »Umiliati e monachesimo«, in: AA.VV., Il monachesimo italiano nell’età comunale. Atti del IV Convegno di studi storici sull’Italia benedettina. Abbazia di S. Giacomo Maggiore, Pontida (Bergamo), 3–6 settembre 1995, ­Cesena 1998, 219–251, hier 226–227. Das entsprechende päpstliche Dokument ist in Alberzoni, »Die Humiliaten«, 343–345, ediert. 181  V. supra. 182  Vgl. G. Pezza Tornamè, »Alberto di Gualtieri, mortariense. Da Vescovo di Bobbio a Patriarca di Gerusalemme«, in: Flavio G. Nuvolone (Hg.), La fondazione di Bobbio nello sviluppo delle comunicazioni tra Langobardia e Toscana nel Medioevo. Atti del Convegno Internazionale, Bobbio, Auditorium di S. Chiara, 1–2 ottobre 199, editi (Archivium Bobiense Studia III), Bobbio 2000, 207–231, hier 208–212. 183  Vgl. C. D. Fonseca, »Le canoniche regolari riformate dell’Italia nord-occidentale«, in: AA.VV., Monasteri in Alta Italia dopo le invasioni saracene e magiare (sec. X–XII). Relazioni e communicazioni presentate al XXXII Congresso Storico Subalpino. III Convegno di Storia della Chiesa in Italia (Pinerolo 6–9 settembre 1964), Torino 1964, 333–382. 184  Ibid., 343 ff. 185  Ibid., 344. 186  Ibid., 371 f. 187  Vgl. Minghetti, »Alberto vescovo di Vercelli«, 277. 188  Vgl. Pezza Tornamè, »Alberto di Gualtieri«, 229 f.



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kerkongregation des an der via Francigena gelegenen Klosters vorschrieb.189 Die Albert von Innozenz III. zugeteilte Aufgabe ist eindeutig innerhalb der Reformprogrammatik des Papstes einzuordnen, in deren Rahmen die Humiliaten als äußerst effektives Mittel zur Bekämpfung der in der Lombardei wuchernden Häresie galten.190 Es lässt sich folglich vermuten, dass den frühen norditalienischen Kongregationsmitgliedern und den in ihrem Umkreis aktiven Personen somit auch der Gebrauch epischer Modelle als Strategie, um mit einem breiten Publikum in Kontakt zu treten,191 durchaus vertraut war. Als Vorbilder konnten ihnen dabei die reformierten Kanoniker in Mortara und andernorts entlang der Pilgerstraßen dienen, zu denen es, wie es uns letztlich die Person Alberts selbst bestätigt, gewiss direkte Kontakte gab. Albert musste zudem ein Konzept wie das der folie Rolands mehr als geläufig sein, bedenkt man, dass sich das oben beschriebene Mosaik des Kampfes zwischen fol und fel am Ort seines langjährigen Bischofssitzes befand. Aber mehr noch: Die Vita Alberts liefert auch einen unmittelbaren Bezug zu den im Orient weilenden Lateinern, wie er auf Grund des RaimbautZitates für die auf Uguccione wirkenden Einflüsse anzunehmen ist. Denn im Jahre 1205 wurde der Bischof zum Patriarchen von Jerusalem ernannt, ein Amt, das er bis zu seinem Tode 1214 ausüben sollte.192 Es ist erwiesen, dass Albert während dieser Zeit weiterhin in häufigem Kontakt mit Innozenz III. stand.193 Darüber hinaus aber dürfen wir annehmen, dass er in den ersten beiden Jahren seines Patriarchats auch mit dem in Konstantinopel weilenden Anführer des Vierten Kreuzzuges Beziehungen pflegte, also mit niemand geringerem als – Bonifaz I. von Montferrat, der ihm aus verschiedenen diplomatischen Zusammenkünften im Rahmen seiner politischen und juristischen Aktivität im Piemont gut persönlich bekannt war.194 189  Ibid.,

221; Alberzoni, »Umiliati e monachesimo«, 229 f. Minghetti, »Alberto vescovo di Vercelli«, 285. 191  So beschreibt Aldo Rossi im Übrigen auch die Zielsetzung des Libro selbst; vgl. A. Rossi, »Poesia didattica e poesia popolare del Nord«, in Emilio Cecchi, Natalino Sapegno (Hgg.), Storia della letteratura Italiana, I: Le origini e il Duecento, Milano, 1973, 429–509, hier 444. 192  Vgl. Pezza Tornamè, »Alberto di Gualtieri«, 225 ff. 193  Vgl. Minghetti, »Alberto vescovo di Vercelli«, 292. 194  Ibid., 272 f., 275 f., 288 f.; Berührungspunkte bilden demnach: Der Reichstag von Lodi am 18.1.1191, eine dem Markgrafen aufgrund Pavia zugestandener Rechte erteilte Entschädigung am 8.12.1191, der in Vercelli am 14.1.1194 beschlossene Waffenstillstand zwischen den norditalienischen Kommunen, ein gemeinsames Treffen mit Heinrich VI. und dem Mailänder Erzbischof im Juni 1195, eine weitere Zusammenkunft beider mit dem Kaiser und den Bischöfen von Turin, Novara und Ivrea im 190  Vgl.

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Ebenfalls gibt es deutliche Hinweise, die auf einen von Albert vom Heiligen Land aus mit Norditalien fortgeführten intensiven Kontakt hindeuten, etwa die Wahl Peter von Lucedios zum Patriarchen von Antiochia (1209)195 – jenes Zisterzienserabtes und Bischofs von Ivrea, der mit ihm gemeinsam die humiliatische Regel ausgearbeitet hatte.196 Somit können wir in der Tat von einer gefestigten kulturellen Verbindung zwischen der monastischen Präsenz in den Kreuzfahrerstaaten und den innovativen religiösen Tendenzen in Oberitalien ausgehen.197 Dabei ist insbesondere auf die Rolle der padanen Zisterzienserabteien als Verteidigerinnen der katholischen Orthodoxie,198 die von ihnen nicht minder als von den Kanonikerkongregationen ausgeübte karitative und pastorale Unterstützung der Pilgerscharen199 sowie die kontinuierlichen Beziehungen zu den norditalienischen Feudalherren hinzuweisen, welche die Ansiedlungen entlang der Straßen nach Rom oder ins Heilige Land unterstützten200. Entsprechend große Überschneidungen hinsichtlich gemeinsamer Zielsetzungen und kultureller Prägungen lassen sich zwischen den monaci bianchi, den reformierten Kanonikern und den Humiliaten konstatieren. Doch darüber hinaus führt uns Peter von Lucedio wiederum unmittelbar zurück zu Bonifaz I. von Montferrat, den er als unmittelbarer Vertrauter auf dem Weg nach Konstantinopel zwischen 1201 und 1205 größtenteils begleitete.201 Alles andere als eine Bekanntschaft des Zisterziensers mit Raimbaut de Vaqueiras wäre angesichts der engen Verbindungen beider Persönlichkeiten zum Herrscher überraschend. Juli 1196 sowie die unter Alberts Beteiligung zustande gekommene Passiererlaubnis für die Händler Vercellis seitens des im Aufbruch zum Kreuzzug begriffenen Bonifaz’ vom 7.6.1202. 195  Vgl. M. P. Alberzoni, Città, vescovi e Papato nella Lombardia dei comuni, Novara 2001, 102. 196  Vgl. Pezza Tornamè, »Alberto di Gualtieri«, 228. 197  Eine Verbindung, die im Übrigen durch die geteilte Rolle von Zisterziensern (wie eben Pietro di Lucedio), Humiliaten und, später, den Bettelorden bei der Regierungsführung der Kommunen bestätigt wird; vgl. P. Grillo, »Un legame organico: Chiaravalle Milanese e la società cittadina«, in: ders., Monaci e città. Comuni urbani e abbazie cistercensi nell’Italia nord-occidentale (secoli XII–XIV), Milano 2008, 3–45, hier 35 f. Hinsichtlich der Beziehungspunkte zwischen Humiliaten und Zisterziensern vgl. M. P. Alberzoni, »San Bernardo e gli Umiliati«, in: AA.VV., San Bernardo e l’Italia, hg. Pietro Zerbi, Milano 1993, 101–129. 198  Vgl. G. Pezza, »Insediamenti cistercensi e viabilità medievale nel mondo padano. L’esempio di Cerreto«, De strata francigena IX.2 (2001): Il Lodigiano: un’area di strada tra la Francigena e la via romana, 27–93, hier 32. 199  Ibid., 35 f. 200  Ibid., 38, 42. 201  Vgl. Alberzoni, Città, vescovi e Papato, 240.



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Es lässt sich zudem noch eine weitere interessante Verbindung zwischen Norditalien und den Kreuzfahrerstaaten nachweisen: die Ernennung des Cremonenser Bischofs Sicardus zum päpstlichen Legaten in Antiochia durch Innozenz III. im Jahre 1210.202 Schon 1208 war Sicardus die Kreuzzugspredigt in der Lombardei und in den Marken anvertraut worden – gemeinsam wiederum mit Peter von Lucedio!203 Wir wissen zwar nicht, ob er seine neue Aufgabe im Orient tatsächlich erfüllen sollte,204 allein durch den gemeinsamen Bezugspunkt ›Antiochia‹ kann aber von einer zumindest mittelbaren Bekanntschaft auch mit Albert von Vercelli ausgegangen werden. Zuvor jedoch finden wir Sicardus im Dienste des Papstes nicht nur im Heiligen Land (1202–1203), sondern ebenfalls in Konstantinopel, wo sich sein Aufenthalt (1204–1206) exakt mit dem von Bonifaz I. von Monferrat,205 dem und dessen Herrscherhaus er in der von ihm geschriebenen Chronik später sogar einen besonders umfassenden Platz einräumte,206 überschneidet. Traf Albert von Vercelli outremer auf eine bemerkenswerte Zahl Mortarienser,207 so sollte sich der Cremonenser Bischof seinerseits später erinnern, in Konstantinopel auf die Unterstützung von über 1000 Vertretern seiner Stadt zählen gekonnt zu haben.208 Wir stoßen also, wie schon bei Peter von Lucedio, auf eine strukturelle und personale Verbindung zwischen dem Herrscherhaus des Montferrat und den päpstlichen Legaten. Ebenso manifestiert sich eine solche aber auch auf einer allgemeineren Ebene zwischen der städtischen Bevölkerung Norditaliens und den Lateinern in Übersee. Angesichts dieser Situation kann eine Rezeption von Conseil don a l’emperador in der Lombardei kaum verwundern: Die Möglichkeiten des Sirventeses, auf einem Liedblatt in das Repertoire der dort aktiven giullari zu gelangen,209 waren, wie das dichte Netz der hier aufgezeigten Verbindungen demonstriert, mannigfaltig.

202  Vgl. B. Bolton, »Mission or Crusade? Sicard of Cremona in the Holy Land«, in: Corrado Bologna, Mira Mocan, Paolo Vaciago (Hgg.), Percepta rependere dona. Studi di filologia per Anna Maria Luiselli Fadda, Firenze 2010, 53–67, hier 66. 203  Ibid., 65. 204  Ibid., 66. 205  Ibid., 63–65. 206  Ibid., 56. 207  Vgl. Pezza Tornamè, »Alberto di Gualtieri«, 224. 208  Vgl. Bolton, »Mission or Crusade?«, 65. 209  Zu der bekannten These Gustav Gröbers hinsichtlich dieser Verbreitungsart der provenzalischen Lyrik vgl. D’A. S. Avalle, I manoscritti della letteratura in lingua d’oc. Nuova edizione, hg. Lino Leonardi, Torino 1993, 61–63.

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Zudem sollte sich auch Sicardus, ganz wie Albert und Peter210, um die Förderung neuer Formen laikaler Spiritualität verdient machen, wie sie im Cremona des ausgehenden 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts ebenfalls in Form zahlreicher Initiativen jeglicher Art hervorsprossen.211 Diesbezüglich ist vorrangig der Einsatz des Bischofs für die Kanonisierung des Cremonensers Homobono, eines verheirateten Kaufmannes, hervorzuheben212 Dieser 1197 verstorbene Laie stellte für die zeitgenössische Hagiographie das Idealbild eines freiwillig ein Leben voll von spirituellem Engagement führenden Christen dar, wobei er nicht nur zum Heiligen karitativer Aktion, sondern auch zu dem der Buße (also einem omnipräsenten Thema des Libro) wurde.213 Die rasche Heiligsprechung ist ebenso als Teil der antikathartischen Maßnahmen Innozenz III. zu verstehen, der den entsprechenden Einsatz Homobonos würdigte, indem er ihn in der Kanonisierungsbulle als haereticorum aspernator bezeichnete.214 In seiner kontemporären Beteiligung an den politischen Entwicklungen im Orient beweist uns Sicardus somit endgültig, dass die Kultur der innovativen Frömmigkeitsformen Norditaliens fundamentale Bezüge zu der Raimbauts von Vaqueiras und Bonifaz I. in Konstantinopel aufweist. VII. Um es noch einmal zusammenfassen: Im Jahre 1205 befinden sich zeitgleich im Lateinischen Kaiserreich: Bonifaz I. von Montferrat, Raimbaut von Vaqueiras, Sicardus von Cremona und Peter von Lucedio. Der Mortarienser Albert von Vercelli, der mit Letzterem gemeinsam die humiliatische Regel ausgearbeitet hatte, ist in Acri. Wenige Jahre später zitiert Uguccione da Lodi Raimbaut im Libro, einem Werk, das deutliche Elemente der chansons de geste verwendet, wie sie in und um das Kloster zu Mortara herum verbreitet und rezipiert wurden. Natürlich liefert diese historische Situationsbeschreibung keinerlei neuen konkreten Fakten über Uguccione. Aber es zeigt sich eine kulturelle und personengetragene Verbindungslinie zwischen dem Montferrat Bonifaz I., den Klöstern entlang der Pilgerstraßen, den chansons de geste, Alberzoni, Città, vescovi e Papato, 250–255. Menant, »Da Liutprando 962 a Sicardo«, 54 ff. 212  Vgl. Bolton, »Mission or Crusade?«, 59 f. 213  Vgl. D. Piazzi, »I tempi del vescovo Sicardo e di sant’Omobono«, in: Caprioli, Rimoldi, Vaccaro (Hgg.), Storia Religiosa, 77–90, hier 81–83. 214  Ibid., 86. 210  Vgl. 211  Vgl.



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neuen religiösen Vermittlungsformen und ihren antihäretischen Strategien, den Humiliaten, den oberitalienischen Kommunen von Lodi und Cremona, Konstantinopel sowie dem Heiligen Land. Man liegt gewiss nicht weit entfernt von der Wahrheit, wenn man den Autor des Libro entlang dieser Route verortet – zumal eine die Schlüsselposition Lodis im padanen Straßensystem untermauernde Variante der via Romea just über Cremona führte …215 Leicht vorstellbar ist dann auch, wie das Werk über diese hoch frequentierten Wege in einen franziskanischen Kreisen zuzuschreibenden Kodex gelangt:216 In geradezu idealer Weise fügt sich das Libro in die didaktische Aktivität des Minoritenordens ein, welche stets darauf bedacht war, sich den Bedürfnissen des Erwartungshorizontes des jeweiligen Publikums anzupassen217 und so auch das volgare zur Literatursprache erheben konnte.218 Der kulturelle Bezugsraum der Reimpredigt Ugucciones entspricht, wie gesehen, in weiten Teilen exakt den Interessen der gen Rom und Heiliges Land strebenden Pilger. Berücksichtigt man, dass die Sorge um diese durch die den Kongregationen anvertraute Leitung von Spitälern und die wahrgenommenen allgemeinen karitativen Aufgaben just in das Hauptbetätigungsfeld der Humiliaten fiel,219 erscheint es zumindest legitim, über entsprechende Verbindungslinien hinsichtlich der Genese des Werkes nachzudenken.

215  Vgl. R. Stopani, »La centralità del lodigiano nel sistema delle vie di comunicazione della Padania nel medioevo«, in: De strata francigena IX.2 (2001), 17–23, hier 21 f. Eine alternative Route, die im Übrigen von den Zisterziensern unterstützt wurde; vgl. Pezza Tornamè, »Alberto di Gualtieri«, 49. 216  Im Übrigen erfolgte im Jahre 1206 in Lodi auch die Gründung einer miserikordiantischen Kirche sowie eines entsprechenden Hospizes, einer Bewegung, die gerade auch hier in enger Verbindung mit der der Minoriten stand; vgl. Samarati, »Dalla fondazione di Lodi nuova«, 49. 217  Vgl. C. Bologna, »L’Ordine francescano e la letteratura nell’Italia pretridentina«, in: Alberto Asor Rosa (Hg.), Letteratura italiana, I: Il letterato e le istituzioni, Torino 1982, 729–797, hier 768 f. 218  Ders., »Il modello francescano di cultura e la letteratura volgare delle origini«, in: I francescani in Emilia, Atti del Convegno di Piacenza, 17–19 febbraio 1983, Milano 1984, 65–90, hier 67. 219  Vgl. Ambrosioni, »Umiliate / Umiliati«, 1500.

Das Jenseits als Spiegel eines idealen Diesseits: Christine de Pizans Livre du chemin de long estude (1402–1403) Von Dorothea Scholl Car quant j’estoie en un fort pas Ou a passer je fusse rude, Disant: ›Vaille moy lonc estude!‹ Alors passoye seurement, Sans avoir nul encombrement […] (Christine de Pizan, Le Livre du chemin de longue estude, v. 1390–1394)

Die »feminisierende« Umformung der Tradition Christine de Pizans Werk ist autobiographisch geprägt. In der Art und Weise, wie sich die Autorin in ihrem eigenen Werk darstellt, sieht Paul Zumthor sogar den Beginn einer neuen Form der Selbstthematisierung und Selbstreflexion im Mittelalter.1 Naturgemäß stößt Christine de Pizan auf starkes Interesse in der feministisch orientierten Literaturkritik und der Frauenforschung, die sich neben den polemischen Schriften der Autorin im Streit um den Rosenroman vor allem mit ihrer von Boccaccios De claris mulieribus inspirierten Utopie La Cité des Dames auseinandersetzte und sie zur ersten Feministin stilisierte.2 Le Livre du chemin de long estude ist im Vergleich zu anderen Werken der Autorin ein von der Literaturwissenschaft vernachlässigter Text, was Zumthor, Essai de poétique médiévale, Paris 1972, 86. Debatte um den »Feminismus« Christine de Pizans findet insbesondere in folgenden Publikationen Eingang: Margaret Brabant (Hg.), Politics, Gender and Genre: The Political Thought of Christine de Pizan, Boulder, Colorado / San Francisco / Oxford 1992; Jeffrey Richards u. a. (Hgg.), Reinterpreting Christine de Pizan, Athens / London 1992; Helen Solterer, The Master and Minerva: Disputing Women in French Medieval Culture, Berkeley, Los Angeles / London 1995; Rosalind BrownGrant, Christine de Pizan and the Moral Defence of Women. Reading beyond Gender, Cambridge 1999. 1  Paul 2  Die

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auch mit der Tatsache zu tun hat, dass er bis zu seiner Neuauflage durch Andrea Tarnowski im Jahr 20003 schwer zugänglich war. Die Studien, die sich mit ihm befassen, behandeln neben der Selbstdarstellung der Autorin auch die Frage nach den von ihr benutzten Quellen.4 Dabei werden sowohl punktuelle intertextuelle Transpositionen als auch der Bezug zu Traditionen in einem weiteren Zusammenhang analysiert. Als ein Ergebnis aller neueren Ansätze kann man die Beobachtung festhalten, dass Christine de Pizan die Traditionen umformt und umgestaltet, indem sie männliche Figuren durch weibliche ersetzt und ein dominant weibliches Figurenpersonal etabliert. Wie Dante kleidet sie in Le Livre du chemin de long estude ihren Bericht in eine Traumvision ein und präsentiert sich selbst in autofiktionalem Gestus als Protagonistin, die in Begleitung einer Leitfigur das Jenseits erkundet. Dantes Vergil wird durch die cumäische Sibylle ersetzt. Diese gibt sich der fiktiven Christine in einer Selbstoffenbarung als jene zu erkennen, die Aeneas durch die Unterwelt geführt habe. Damit schließt Christine de Pizan an den sechsten Gesang der Aeneis an, wo die Sibylle Vergil in die Unterwelt leitet, um vom Schatten seines Vaters Anchises die Prophezeiung seiner Zukunft zu erfahren. Die Sibylle ist hier wie dort die Figur, die durch das Jenseits leitet und das dort Erlebte aufschlüsselt. Die Dichterin reaktualisiert den Topos des Dichters als Propheten, indem sie sich als Mittlerfigur zwischen dem in der Jenseitsvision Erlebten und dem Diesseits darstellt. Sie übersetzt die Erklärungen der Sibylle in die poetische Sprache ihrer Zeit und vermittelt ihren Lesern das hohe Wissen mit teilweise sehr realistischen Vergleichen. Dabei bezichtigt sie sich immer wieder der Unwürdigkeit, Einfachheit und Unwissenheit – auch im Sinne 3  Christine de Pizan, Le chemin de longue étude. Éd. crit. du ms. Harley 4431, traduction, présentation et notes par Andrea Tarnowski, Paris 2000. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert. 4  Die von Ribémont 1998 herausgegebenen Kolloquiumsakten Sur le chemin de longue étude… enthalten unter 14 nur 3 Beiträge, die sich mit dem Chemin de long estude auseinandersetzen: Liliane Dulac, »Thèmes et variations du Chemin de long estude à l’Advision-Christine: remarques sur un itinéraire«, in: Bernard Ribémont (Hg.), Sur le chemin de longue étude … Actes du colloque d’Orléans, juillet 1995, Paris 1998, 79–86; Anna Slerca, »Le Livre du chemin de long estude (1402–1403): Christine au pays des merveilles«, in: ibid., 135–147, und Andrea Tarnowski, »Pallas Athena, la science et la chevalerie«, in: ibid., 149–158. Zur Selbstdarstellung vgl. etwa Bärbel Zühlke, Christine de Pizan in Text und Bild. Zur Selbstdarstellung einer frühhumanistischen Intellektuellen, Stuttgart / Weimar 1994, 138–180; Kevin Brownlee, »Le projet ›autobiographique‹ de Christine de Pizan: histoires et fables du Moi«, in: Eric Hicks (Hg.), Au champ des escriptures. IIIe Colloque international sur Christine de Pizan, Lausanne, 18–22 juillet 1998. Études réunies par Eric Hicks, avec la collaboration de Diego Gonzalez et Philippe Simon, Paris 2000, 5–23.



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einer captatio benevolentiae. Solche Bescheidenheitstopoi dienen jedoch auch zur Aufwertung der im Text vermittelten Botschaft: Mais ne vueillés despriser l’arbitrage, Pour ce qu’il est par trop petit message A vous transmis; mais de simple personne Peut bien venir vraye raison et bonne. Princes poissans, si n’yés en depris Mon petit dit pour mon trop petit pris. (89–90, v. 51–56)

Aufgrund der feminisierenden Umformung von literarischen Modellen männlicher Vorgänger wie Dante und Vergil wird Le Livre du chemin de long estude als Ausdruck der Selbstaffirmation und Selbstlegitimierung Christine de Pizans in ihrer Eigenschaft als weibliche Schriftstellerin interpretiert. Das Werk unter dem Aspekt der Jenseitsreise zu betrachten lädt dazu ein, den inneren Zusammenhang des Textes näher ins Auge zu fassen und andere Gewichtungen vorzunehmen. Hier soll nun nicht die Frage im Vordergrund stehen, was der Text über die Autorin aussagt, sondern es soll gefragt werden, wie sich dieses allegorische Lehrgedicht in die Gattung der Jenseitsreise einschreibt, aus welchen Gründen die Autorin auf diese Form zurückgreift und welche Intentionen sie damit verfolgt. Neben der axiologischen und ideologischen Dimension des Lehrgedichts soll auch dessen ästhetische Dimension gewürdigt werden, denn ein Grund für das mangelnde Interesse an diesem Text ist die Tatsache, dass er nicht unter dem Aspekt seiner ästhetischen Modellierung anerkannt wird, sondern als moralisch-didaktisch und daher als ästhetisch minderwertig gilt. Im Folgenden soll nun also eine Gesamtinterpretation des Textes in seiner beispielhaften Bedeutung innerhalb der Gattung der Jenseitsreise vorgeschlagen werden, wobei der Text in seinem Verlauf präsentiert, kommentiert und interpretiert werden soll. Entstehungsumstände Das über sechstausend Verse umfassende Livre du chemin de long estude ist zwischen 1402 und 1403 verfasst worden. Es enthält einundzwanzig Abschnitte, wovon der erste eine Widmungsrede und einen langen Prolog enthält. Der mit dem juristischen Begriff debat playdoyé (88, v. 39) charakterisierte Text ist Karl dem VI. gewidmet. Hier ist als Hintergrundinformation für die Interpretation des Textes bedeutsam, dass Christine de Pizans Vater als Astrologe an den Hof Karls des V. berufen wurde und die Familie nach dessen Tod (1380) unter Karl dem VI. (1380–1422) ihren hohen Status und damit an Ansehen verlor. Karl VI. war aufgrund

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psychischer Labilität regierungsunfähig, so dass die Macht im Wesent­ lichen von seinen Onkeln, den Herzögen Jean de Berry und Philippe de Bourgogne, sowie von seinem Bruder, Louis d’Orleáns, ausgeübt wurde.5 An sie richtet sich Christine de Pizan dann auch als die eigentlichen Adressaten der Erzählung, die sie, wie sie im Widmungsschreiben mitteilt, ihrem Urteil überlassen wolle. Damit werden die Adressaten zu Richtern über die im Text verhandelten Streitpunkte stilisiert. In der Gerichtsthematik, wie sie sich zu Beginn und im weiteren Verlauf des Textes darstellt, kann man einen wesentlichen Unterschied zu Dante erkennen, der seine Leser vor die vollendeten Tatsachen eines Gottesgerichts stellt und ihnen nur durch die Reaktionen seines das Jenseits durchwandernden Alter Ego eine Möglichkeit bietet, die Moral bzw. Unmoral der Sünder im Jenseits aus der Distanz heraus zu beurteilen. Typologie der Jenseitsreise Der Aufbau des Textes entspricht – abgesehen von einigen signifikanten Abweichungen, die aber erst später kommentiert werden sollen – der Typologie der Jenseitsreise, wie sie von Cesare Segre und Giuseppe Tar­ diola für die frühchristliche, spätantike und mittelalterliche Reise- und Visionsliteratur bis hin zu Dante charakterisiert worden ist, und die auch in der Folgezeit relativ konstant bleibt. Ausgangspunkt dieser archetypischen Tradition ist die Selbstcharakterisierung des Protagonisten und des Zustands, in dem er sich befindet, darauf folgt das Einschlafen, während dessen die Seele den Körper verlässt und sich auf eine Reise macht, die gewöhnlich zuerst durch die Unterwelt, dann in den Himmel führt, wobei gegen Ende des 12. Jahrhunderts das Purgatorio hinzukommt. Die Reise hat Initiationscharakter und enthält in Entsprechung zum mittelalterlichen Weltbild mirabilia, die teils auf eigener Anschauung beruhen, teils aus Bücherwissen herrühren. Häufig sind auch Hypostasierungen von Tugenden und Lastern und in diesem Zusammenhang auch Psychomachien in die Typologie der Jenseitsreisen eingegangen.6

5  Eine ausführliche Darstellung der Ereignisse findet sich bei Françoise Autrand, Charles VI, Paris 1986. 6  Giuseppe Tardiola, I viaggiatori del Paradiso: Mistici, visionari, sognatori alla ricerca dell’Aldilà prima di Dante, Firenze 1993, 16–25; Cesare Segre, Fuori del mondo: i modelli nella follia e nelle immagini dell’aldilà, Torino 1990.



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Die Bedeutung des Prologs Die im Prolog dargestellte autobiographische Ausgangssituation ist zunächst Christine de Pizans Klage und Trauer um ihren verstorbenen Ehemann. Die Autorin beschreibt sich als Opfer der eifersüchtigen Schicksalsgöttin Fortuna, die ihr den geliebten Mann genommen und sie in ihrer unermeßlichen Trauer und schmerzvollen Erinnerung an unwiederbringlich verlorene glückliche Zeiten allein zurückgelassen habe. In dieser Situation spendet ihr die Lektüre von Boethius De consolatio philosophiae Trost. Auf dessen Grundlage stilisiert sie die allegorische Figur der Philosophie zum Heilmittel gegen die unvorhersehbare und grausame Fortuna. Sie vermittelt Einsicht in die Vergänglichkeit allen irdischen Glücks und Unglücks. Ce monde n’est que vent (106, v. 316), konstatiert Christine. Im Sinne des biblischen Buchs Kohelet – das im Mittelalter noch Salomon zugeschrieben wurde – nennt sie angesichts der Vergänglichkeit und Nichtigkeit aller irdischen Güter ein rechtschaffenes Leben in Tugend als einzige Möglichkeit, der unbeständigen Fortuna zu trotzen: N’il n’est nul bien fors de vertus, Et ceulx sont toudis en vertus; Fortune ne les peut tolir, Tout puist richeces retollir […] (102, v. 257–260)

Im Unterschied zu jenen Interpreten, die den langen Prolog als zu ausgedehnt, unbeholfen und irrelevant für das Verständnis des Textes charakterisieren, vertreten wir die Auffassung, dass die Einleitungstexte ästhetisch und ideologisch betrachtet eine wesentliche Rolle spielen und nicht getrennt von der eigentlichen Erzählung gesehen werden können, ebenso wie das individuelle Schicksal der Protagonistin nicht von der allgemein menschlichen Dimension der Schicksalsunterworfenheit aller abgetrennt werden kann. Der Prolog enthält bereits die wesentlichen Leitmotive und schafft damit die Voraussetzung für das weitere Verständnis der Erzählung, in der die im Prolog anklingenden Themen der Welt, des rechten Weges, des Lebenslaufs, des Verlustes, der Trauer und der Sehnsucht nach Wiederherstellung des verlorenen Glücks mit den Themen des Paradieses, des Schicksals, des Adels, des Reichtums, der Ritterlichkeit, der Weisheit und der Vernunft korreliert und literarisch verarbeitet werden. Diese zentralen Themen werden auf verschiedenen Ebenen erörtert. Im Prolog geschieht dies auf autobiographischer und damit verbunden auf der zeithistorischen und politischen Ebene; innerhalb der Struktur der Jenseitsreise überwiegt dann die mythische und allegorische Dimension. Diese kann aber in ihrer

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archetypischen Ausprägung an die autobiographische und politische Dimension zurückgebunden werden,7 so dass sich auf der ästhetischen und ideologischen Ebene ein enger innerer Zusammenhang ergibt. Jedes der erwähnten zentralen Themen kann im Sinne der mittelalterlichen Allegorese und in Übereinstimmung mit Christine de Pizans eigener Theorie der Dichtung und der Metapher verschiedene Bedeutungsebenen annehmen.8 Bei jedem Thema schwingt ein Geflecht von vielfältigen Bezügen und Verweisungen mit, so dass die Themenkreise des Diesseits sowohl auf der realen als auch auf der fiktionalen Ebene immer auf jene des Jenseits bezogen bleiben und umgekehrt. Man könnte zur Veranschaulichung dieses semiotischen Geflechts von inhaltlichen und ästhetischen Bezügen das im Text selbst verwendete Bild vielfältig sich kreuzender Wege heranziehen, die in verschiedene Richtungen führen, aber jeweils gemeinsame Bezugspunkte haben. Bereits innerhalb des Prologs selbst steht Christine de Pizans Trauer um den verlorenen Gatten in Korrelation mit der Trauer um das verlorene Paradies und der Trauer angesichts des vom gefallenen Menschen verursachten Zustands der Welt. Der Mensch ist durch niedrige Beweggründe bei seinem Handeln korrumpiert, überall herrscht Krieg; in der Natur wie innerhalb von Familien sind Rivalitäten und Machtkämpfe an der Tagesordnung. Dessoubs le ciel tout maine guerre, Non pas seulement sur la terre, Ou les hommes tant se combatent, Mais mesme en l’air oyseaulx se batent […] (v. 331–335)

Selbst die Elemente sind im Konflikt, de descordant nature (112, v. 416). Die Naturbeobachtung führt zu einem besseren Verständnis des Menschen als Teil der Natur: Der Mikrokosmos des menschlichen Körpers ist aus den widerstreitenden Elementen des Makrokosmos zusammengesetzt. In 7  Auch in Le livre de l’advision Christine ist der Zusammenhang von fortune, philosophie und estude von zentraler Bedeutung. Vgl. Christine de Pizan, Le livre de l’advision Christine, Éd. crit. par Christine Reno et Liliane Dulac, Paris 2001, bes. 111–142. Zu weiteren thematischen Zusammenhängen vgl. Dulac, »Thèmes et variations«. 8  Vgl. Christine de Pizan, Le Livre des fais et bonnes mœurs du sage roy Charles V, Paris / Genève 1977, 176–178. Zu Beginn des livre de l’advision Christine berichtet die Erzählerin, dass ihr Geist den Körper verlassen habe und im Traum in eine »dunkle Gegend« gereist sei, wo er auf eine riesenhafte Figur getroffen sei, auf deren Stirn das Wort »Chaos« geschrieben stand. Im erst später hinzugefügten und nur in einem von den drei Handschriften vorhandenen Vorwort erklärt sie die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten ihrer Traumvision und liefert eine eigene Theorie der Metapher und Allegorie. Dabei spielt auch die Mikroskosmosidee eine Rolle. Vgl. de Pizan, Le livre de l’advision Christine, 3–10.



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der Natur spiegelt sich die menschliche Disposition zum Krieg, zur Rivalität und zur Bosheit. Die Theodizeefrage wird dabei nicht im Sinne einer doktrinären Rechtfertigung des Bösen als Strafe Gottes für menschliche Sünden beantwortet, sondern Christine de Pizan erklärt im Prolog, das Böse im Diesseits sei von Gott gewollt, damit sich die Menschen nach einem Paradies im Jenseits sehnen: […] et disoie A moy meismes que Dieu celestre Tel discorde seuffre en terre estre Pour le prouffit d’omme mortel; Car quant il voit le monde tel, Bien desirer doit Paradis Ou n’a ne meffais ne mesdis, Mais paix, joye, concorde, amour, Et n’a l’en du perdre cremour. (112, v. 439–446)

Angesichts des Unheils in der Welt sieht die Autorin nur einen Ausweg: mit der Feder gegen jene, die mit dem Schwert gegeneinander kämpfen, anzugehen und der disharmonischen Welt die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Konkordanz zu eröffnen. Die Vision In der Verfassung der Melancholie schläft die Protagonistin ein, und damit beginnt die Erzählung der Traumvision, der in ihrer Funktion als Botschaft aus dem Jenseits ein bedeutsamer Wahrheitsgehalt zugesprochen wird: Ainsi pensant je m’endormi, Mais je n’oz pas gueres dormi Que j’oz estrange vision; Ce ne fu pas illusion, Ains fu demonstrance certaine De chose tres vraye et certaine. (114, v. 451–456)

Die Ich-Erzählerin berichtet, dass ihr am 5. Oktober des Jahres 1402, ausgelöst durch die Lektüre des Boethius, ein geistiges Erlebnis zuteil wurde, das sie aus der diesseitigen Welt in eine jenseitige Welt entrückt habe. Wie in Berichten von Epiphanie-Erfahrungen untermauert die genaue zeitliche Datierung die Außergewöhnlichkeit und Authentizität des Erlebnisses.9 Auch autobiographische Elemente wie der Tod des geliebten 9  Zur Typologie der Epiphanie vgl. Rainer Zaiser, Die Epiphanie in der französischen Literatur. Zur Entmystifizierung eines religiösen Erlebnismusters, Tübingen 1995.

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Mannes und natürlich der Name Christine unterstützen die Authentizitätstopik. Wie Petrarca im Canzoniere charakterisiert sich die unglückliche Witwe als seulete et pensive (90, v. 68). In ihrer Traumvision erscheint ihr die Sibylle, die ihr ankündigt, sie auf eine Reise in eine andere, bessere Welt zu führen, im Laufe derer sie ihr die Ursache für das Böse im Diesseits vor Augen führen wolle. Je te cuid conduire de fait En autre monde plus parfaict, Ou tu pourras trop plus apprendre Que ne peus en cestui comprendre, Voire de choses plus nottables, Plus plaisans et plus prouffitables, Et ou n’a vilté ne detrece. Et se de moy fais ta maistrece, Je te monstreray dont tout vient Le meschef qui au monde avient. (126, v. 649–655)

Dante und die Symbolik des Weges Der Beginn der Reise ist nach Dante gestaltet. Christine und die Sibylle befinden sich wie Dante und Vergil in der Commedia auf einer Ebene, von der aus sich verschiedene Wege gabeln. Die Symbolik des Weges, die, wie schon angedeutet, wesentlich für das Verständnis der Ethik und Ästhetik des Textes ist, wird im Text selbst erläutert: Es gibt viele Möglichkeiten, zu Heil oder Unheil zu gelangen und viele verschiedene Wege, die zur Erkenntnis führen. Der engste Weg von allen signalisiert die Theologie. Er führt direkt in den Himmel zum Antlitz Gottes. Andere Wege führen geradewegs in die Hölle. Christine und die Sibylle wählen unter den vielen Möglichkeiten den Weg, der dem Werk seinen Titel gegeben hat: den chemin de long estude. Der Titel Le Chemin de long estude geht auf ein Dante-Zitat zurück: Vagliami ’l lungo studio e’l grande amore  /  Che m’ha fatto cercar il tuo volume  /  Tu se’ lo mio maestro e ’l mio autore. (Dante, Inferno I, v. 83–85). Im Text wird explizit auf dieses Zitat Bezug genommen. Mais le nom du plaisant pourpris [chemin de long estude] Oncques mais ne me fu appris, Fors en tant que bien me recorde Que Dant de Florence recorde En son livre qu’il composa Ou il moult beau stile posa,



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Quant en la silve fu entrez Ou tout de paour ert oultrez, Lors que Virgile s’aparu A lui dont il fu secouru, Adont lui dist par grant estude Ce mot: ›Vaille moy lonc estude Qui m’a fait cercher tes volumes Par qui ensemble accointance eumes.‹ (154, v. 1125–1138)

Wie Vergil Dante auf seinem Weg durch das Jenseits beschützt hat, so soll das Dante-Zitat Christine auf ihrem Weg beschützen.10 Dantes Versen wird hier wie der Bibel und dem Kreuzzeichen eine apotropäische Funktion zugesprochen. Der chemin de long estude bietet Sicherheit: Im Gegensatz zu den wilden Tieren, die Dante den Weg versperren, und im Gegensatz zu den Wegen im Diesseits, deren Sicherheit durch Raubtiere oder böse Menschen gefährdet sind, lauern an diesem Weg keine Gefahren, car meffaire y est deffendus (130, v. 746). Auf ihrer Reise durch die Welt wird sich die wundertätige Macht dieser Worte auf der Ebene des Literalsinnes wie auf der Ebene des allegorischen und moralischen Schriftsinnes bestätigen (vgl. unser Einleitungszitat). Symbolik des Sichtbaren Im Unterschied zu Dante und anderen Jenseitsreisen führt die erste Station der Reise nicht in den locus terribilis der Unterwelt, sondern Christine gelangt mit ihrer Begleiterin zunächst auf einen wundervollen Berg mit lieblichem Vogelgesang, schönen Frauen, die nackt in einer Quelle baden, während ein geflügeltes Pferd über ihren Köpfen schwebt. Die Pfade sind von schönen blühenden und reichlich Früchte tragenden Bäumen beschattet, die Früchte schmecken besser, das Wasser ist frischer und klarer, das Klima richtet keinen Schaden an, alle Arten von Blumen und Kräutern wachsen in dieser wundervollen, allen zugänglichen und angenehmen Landschaft, die in Christine ein desir ardant (134, v. 787) weckt, noch mehr zu sehen und die Schönheit der Landschaft ganz in sich aufzunehmen. Christine identifiziert diesen locus amoenus zunächst mit dem irdischen Paradies, später erkennt sie in ihm aber mit Hilfe der Sibylle den Parnass und damit das Reich der Poesie.11 10  Si dis que je n’oublieroie  /  Celle parole, ains la diroie  /  En lieu d’Evvangille ou de croix  /  Au passer de divers destrois  /  Ou puis en maint peril me vis;  /  Si me valu, ce me fu vis. (156, v. 1147–1152). 11  Der Chemin de longue estude ist auch ein Prototyp der Gattung der Parnassreisen, wie sie im 16. und 17. Jahrhundert durch Autoren wie Bassano, Cervantes,

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Auch auf späteren Etappen der Reise wird zuerst das Sichtbare mit einer evidenten Freude an konkreten Details beschrieben, um später entweder von der Protagonistin selbst oder von der Sibylle aufgeschlüsselt zu werden. So wird der Leser immer wieder herausgefordert, eigenständig die Zeichen zu deuten, bevor sie entschlüsselt werden, wobei jedoch auch einige Passagen verrätselt bleiben und die Protagonistin sich versagt, den Sinn dessen, was sie gesehen hat, offenzulegen. Immer wieder greift Christine de Pizan auf Unsagbarkeitstopoi, Superlative und Hyperbeln zur Steigerung zurück, so dass das Jenseits von Anfang an als Idealisierung und Intensivierung der Schönheiten des Diesseits erscheint. Die horizontale und vertikale Bewegung Vom Parnass aus begeben sich die beiden auf eine Pilgerreise gen Orient auf den Spuren der heiligen Stätten der Christenheit bis ans Ende der Welt. Je weiter sie sich dem Orient nähern, desto bizarrer wird die Landschaft und desto exotischer werden die Menschen und Tiere, die ihnen begegnen. Sie treffen auf Riesen, Zwerge und Einhörner. Für die literarische Gestaltung dieser Phase der Reise hat Christine de Pizan unter anderem Pilgerberichte, den Alexanderroman sowie Mandevilles Reisebericht benutzt, der wie ihr eigener Bericht eine Kompilation älterer Reisebeschreibungen darstellt. Die Jenseitsreise bietet Christine de Pizan die Möglichkeit, die Welt zu thematisieren und die Erfahrung mit Bücherwissen zu konfrontieren. Die Erfahrung ist jedoch literarisch gebrochen, da sich die Autorin ja selbst nie an den erwähnten Orten aufgehalten und ihre Informationen nur aus zweiter Hand hat. Das überlieferte Wissen über fremde Völker wird zur Berichterstattung von Erfahrungswissen fiktionalisiert. Doch anders als Mandeville, der am Ende seines ebenfalls fiktiven Berichtes um Vergebung der Sünden bittet, weil er sich zu sehr an die Sitten und Bräuche der heidnischen Völker, denen er auf seinen Reisen begegnet sei, angepasst habe (Mandeville, 200–202), weigert sich Christine, an fremden Kulthandlungen teilzunehmen: Car on ne doit riens honorer  /  En aourant, fors un seul Dieu. (178, v. 1526–1527). Damit grenzt sie sich offenbar von ihrem Modell ab. Christine de Pizan betont jedoch auch das friedliche Nebeneinander der Völker und ihrer Religionen. Ihre ProtagoQuevedo, Caporali, Boccalini, Cortese und Brusoni in ganz Europa verbreitet wurden. Zu den Parnassreisen vgl. Dorothea Scholl, »Phantastische Topographien und bizarre Totengespräche: Zur Poetik und Politik des Traums in der italienischen Renaissance- und Barockliteratur«, in: Peer Schmidt, Gregor Weber (Hgg.), Traum und ›res publica‹. Traumkulturen und Deutungen sozialer Wirklichkeiten im Europa von Renaissance und Barock, Berlin 2005, 111–145 (dort mit weiteren Literaturangaben).



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nistin ist von unersättlichem Wissensdrang erfüllt und zeigt sich fasziniert am Fremden und Exotischen. Die Welt erscheint ihr als Natur- und Wunderkammer voller merveilles. Am Ende ihrer Erdumwanderung gelangen sie an die Grenzen des irdischen Paradieses, das mit hohen Bergen, Wasserfällen und einer Feuermauer umgeben ist und von Engeln bewacht wird und damit den gängigen Vorstellungen der Zeit entspricht, wie sie Jean Delumeau in seiner Histoire du paradis beschrieben hat.12 Ernst Bloch bemerkt, dass bei mittelalterlichen Expeditionen die Hoffnung, ans irdische Paradies zu gelangen, »allgegenwärtig« war.13 Bei Dante, der sich auf Thomas von Aquins Konzept des irdischen Paradieses als status viatoris stützt,14 ist das irdische Paradies auf dem Gipfel des Purgatorio nur ein Durchgangsort, um ins Empyreum zu gelangen. Im Chemin de long estude markiert das irdische Paradies dagegen eine Grenze, die nicht überschritten werden darf. An diesem Punkt angelangt verläuft die Reise nun nicht mehr horizontal, sondern vertikal: Eine bizarre Figur (une figure / Estrange 182, v. 1579–1580) erscheint in den Wolken, die später als Ymagination (184, v. 1640) identifiziert wird. Sie lässt eine Himmelsleiter herabgleiten, die aus der Materie Speculation (186, v. 1647) besteht. Christian Heck hat ausgehend von den Illustrationen dieser Textstelle gezeigt, dass Christine de Pizan die Tradition radikal umwandelt, indem sie die Himmelsleiter nicht mehr als Symbol der Spiritualität und der Mystik darstellt, sondern aus dem Frömmigkeitskontext herauslöst und zur Allegorie einer intellektuellen Suche werden lässt.15 Dem möchte man hinzufügen, dass die Himmelsleiter auch als Allegorie eines moralischen Aufstiegs gedeutet werden kann: Mieulx en vauldras, se l’echelon, erklärt die Sibylle ihrer Adeptin (186, v. 1649). Symbolik der Räume und Grenzen Angesichts der Tatsache, dass die moralisch-didaktische Dimension allegorischer Literatur im allgemeinen für eine mangelnde ästhetische Qualität dieser Literatur verantwortlich gemacht wird, wird hier dem VerhältDelumeau, Une histoire du paradis: le jardin des délices, Paris 1992. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1959, 889. 14  Vgl. ibid., 892. 15  Christian Heck, »De la mystique à la raison: la spéculation et le chemin du ciel dans Le Livre du chemin de long estude«, in: Hicks (Hg.), Au champ des escriptures, 709–721; vgl. auch Christian Heck, L’Échelle céleste dans l’art du Moyen Âge: une image de la quête du ciel, Paris 1997, 121–123. 12  Jean

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nis zwischen der ethischen und ästhetischen Dimension im weiteren besondere Aufmerksamkeit geschenkt, zumal es doch frappierend und ­ erklärungsbedürftig ist, dass Christine de Pizan, obwohl ihr Text ein feminisierendes »rifacciamento« von Dantes Commedia sein soll,16 sowohl die Reise ins Inferno als auch die Reise ins Purgatorio ausspart. Es finden sich keine Lohn- und Straforte in der von ihr imaginierten Topographie, und die Moralaxiologie des Textes abstrahiert vollkommen vom danteschen Prinzip des contrappasso. Diese Tatsache sollte uns aufmerksam machen für die Art und Weise, wie in Verbindung mit der imaginierten Räumlichkeit Tugenden und Laster bei Christine de Pizan konzipiert sind, dies sogar um so mehr, als der Text wie schon erwähnt einhellig als moralischdidaktisch charakterisiert wird, ohne dass das axiologische System im Detail analysiert wird. Auch sollte uns zu denken geben, dass es ja ein alter Topos ist, dass Höllen- oder Unterweltsdarstellungen ihren besonderen Reiz haben und der Himmel vergleichsweise ästhetisch und literarisch nicht viel Abwechslung zu bieten hat.17 Die Art und Weise, wie Christine de Pizan Räumlichkeit imaginiert, ist in diesem Zusammenhang interessant, weil hier nach dem Prinzip der Korrespondenz die Himmelsreise in symmetrischer Proportion zur Erddurchquerung steht. Dabei hat man sich nun aber den Himmel nach damaligem Verständnis als ebenso vielschichtig wie die Erde vorzustellen.18 Den mirabilia im Diesseits korrespondieren mirabilia im Jenseits (Autres merveilles vous diray   /  Qu’en cellui ciel je remiray [220, v. 2257 f.]). Diese Korrespondenzen zwischen fiktivem Diesseits und fiktivem Jenseits werden kontinuierlich gesteigert, so dass sich die Schönheit und Wertigkeit des Sichtbaren stufenweise erhöht. Christine de Pizan übernimmt dabei die Vorstellungen der Himmelssphären, wie sie in Ciceros Somnium Scipionis, in Dantes Commedia und in Alanus de Insulis’ Anticlaudianus vorgezeichnet sind.19 Doch hat 16  Vgl. Kevin Brownlee, »Le Moi ‚Lyrique‘ et la Généalogie Littéraire: Christine de Pizan et Dante dans le Chemin de long estude«, in: Wolf-Dieter Stempel (Hg.), Musique naturele: Interpretationen zur französischen Lyrik des Spätmittelalters, München 1995, 105–139, bes. 106. 17  Schon in dem vermutlich zwischen dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstandenen Aucassin et Nicolette möchte Aucassin mit seiner Nicolette lieber in die Hölle als in den mit Frömmlern angefüllten Himmel, da in der Hölle viel interessantere und schönere Herren und Damen anzutreffen seien. Vgl. Aucassin et Nicolette, éd. crit. Jean Dufournet, Paris 1973, 58. 18  Zu den verschiedenen Konzeptionen von Räumlichkeit im Mittelalter vgl. Peter Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, Stuttgart 1981, 90–140. 19  Zu dieser im Mittelalter zum Gemeingut gewordenen Tradition vgl. Ernst-Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern / München 1993, 364.



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die Protagonistin im Jenseits keinen Zugang zum höchsten Himmel, ebenso wie sie auf ihrer Reise im Diesseits auch die das irdische Paradies umgebenden Schichten aus den vier Elementen nicht überschreiten konnte. Die Himmelsleiter führt durch den Lufthimmel, den Ätherhimmel, den Feuerhimmel und den Olymp bis zum fünften, als Firmament bezeichneten Himmel, wo die Leiter endet. Im Unterschied zu Dante, bei dem der Aufstieg ins raumlose Empyreum durch neun Himmelssphären erfolgt, wird bei Christine de Pizan – wie im Diesseits durch die das irdische Paradies umhüllenden Schichten aus den vier Elementen – auch hier eine Grenze markiert. Car ci dessus n’iras tu pas; Il ne te loit passer un pas Oultre ce ciel; tant que tu portes Ce corps, closes te sont les portes. (208, v. 2035–2038)

Das heißt, der Kristallhimmel und der höchste Himmel mit den Heiligen, Gott und den Engeln sind für sie unerreichbar und bilden somit keinen Bestandteil der Erfahrung. Die Protagonistin kommt nur in den Genuss der Sphärenharmonie und erkennt mit Hilfe der Sibylle, wie die Planetenkonstellationen nach göttlichem Befehl die Geschicke der Menschen leiten und Glück oder Unglück bestimmen. Die himmlische Ordnung steht damit im Kontrast zum Chaos in der Welt, nach dessen Ursache die fiktive Christine forscht. Der Vielfalt von Wegen auf der horizontalen Ebene korrespondieren auf der vertikalen Ebene sowohl die verschiedenen Sprossen der Himmelsleiter als auch die Tatsache, dass eine ebenso große Vielfalt von Leitern den Aufstieg in den Himmel ermöglichen.20 Die Leiter als Weg in den Himmel ist wie der Weg durch die Welt eine unter vielen Möglichkeiten, doch auch hier stößt Christine im Unterschied zu den Protagonisten anderer Jenseitsreisen immer wieder an Grenzen. Diese Grenzen sind durch verschiedene, im Text selbst thematisierte Faktoren bedingt: einmal sind sie intellektueller Natur. So erklärt die Sibylle den Lauf der Planeten, doch Christine enthält sich der Transskription dieser Weisheit mit der Begründung, dass sie nicht die Voraussetzungen für die Vermittlung einer solch hohen Wissenschaft erbringe. Andererseits sind die Grenzen aber auch moralischer Natur. So äußert sie beim Auf20  […] Mes tout d’une matiere  /  Ne sont pas; l’une est plus legiere  /  Que l’autre et plus soubtilment faite,  /  L’autre est plus grosse et mains parfaite.  /  Et aux gens soubtilz sont donnees  /  Ces escheles, et ordenees  /  Pour ceulx qui veulent hault ataindre.  /  Et selon que leur force est graindre,  /  Eschele leur est envoyee. (186, v. 1659–1667).

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stieg über die Himmelsleiter ihre Furcht, wie Ikarus durch Hochmut getrieben zu sein und wie dieser abzustürzen, denn Hochmut kommt vor dem Fall. Auch sind die Grenzen physischer Natur. So klagt sie immer wieder, ihre Kraft würde nicht ausreichen. Schließlich sind die Grenzen auch durch die Unvollkommenheit des menschlichen Wahrnehmungsvermögens im Allgemeinen bedingt. Je höher sie gelangen, desto schöner erscheinen ihr die überirdischen Phänomene, doch wie schon zuvor im Parnass, stößt Christine erneut an die Grenze ihrer Wahrnehmungsfähigkeit. Dabei wünscht sie sich, dass all ihre Gliedmaßen nur aus Augen bestünden, um die ganze Schönheit erfassen und in sich aufnehmen zu können. Mais tant os desir de savoir Et congnoistre et appercevoir Toutes les choses de cel estre, Que bien voulsisse, s’il peust estre, Que tous mes membres fussent yeulx Devenus, pour regarder mieulx Les belles choses que veoir Povoye, que Dieu asseoir Y voult par maint divers degrez. (194, v. 1809–1817)

In der Sekundärliteratur wird soweit uns bekannt die Thematisierung der Grenzen ausschließlich im Paradigma weiblichen Schreibens gedeutet. Christine de Pizan würde mit Le Chemin de long estude die Divina commedia im feministischen Identitätsparadigma umschreiben, um sich als Autorin durchzusetzen und zu rechtfertigen. Die feminisierende Umgestaltung wäre so gesehen ein Traditionsbruch im Dienst einer neuen Identitätskonstruktion im Sinne der Problematik der Frau im Mittelalter. Die im Prolog mehrfach wiederholten und den ganzen Text leitmotivisch durchziehenden Bescheidenheitstopoi und Unwürdigkeitsbezeugungen der Autorin werden ebenfalls in dieser Hinsicht als strategische Selbsteinschränkung interpretiert. Mit der Bescheidenheitstopik hängt eben auch die im Text wiederholte Thematisierung der Grenze zusammen. Dies wird ebenfalls im Sinne einer identitären Suche Christine de Pizans gedeutet.21 21  »Au 14e et au 15e siècles, en effet, tout discours littéraire pose comme principe premier l’exclusion de la femme, soit comme auteur / auctor, soit comme sujet énonciateur de son propre discours. […] En effet, c’est essentiellement par des limites que Christine accomplit son programme de représentation de soi dans le Chemin – et ces limites, en fin de compte, sont liées à son statut de femme. Elle utilise aussi bien son père que Dante pour en faire la démonstration. Mais l’existence de limites implique aussi une différence positive. L’utilisation que fait Christine de Thomas de Pizan et de Dante, dans le contexte de l’établissement de frontières et de différence, démontre son savoir et établit la légitimité de sa position de femme écrivain. En ce sens,



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Man kann die Thematisierung der Grenze bei Christine de Pizan mit guten Gründen im identitären Paradigma sehen, aber man kann dies auch theologisch und philosophisch betrachten. So gesehen wäre die Himmelsleiter, die ja von »Imagination« gesandt eine Allegorie für die »Specula­ tion« ist, das Bild für die Unzugänglichkeit einer vollkommenen Gotteserfahrung und für die Unmöglichkeit, verbindliche und definitive theologische Aussagen zu machen. In dieser Perspektive wäre der Chemin de long estude Symbol für einen Weg, der in einer docta ignorantia endet. Die Tatsache, dass das irdische Paradies und der höchste Himmel unzugänglich und tabu sind, wird im Buch selber nicht vom Paradigma weiblichen Schreibens her erklärt, sondern es wird suggeriert, dass es etwas zu Hohes ist und kein normal Sterblicher Zugang zu dieser Höhe hat. Dies könnte man auch als implizite Kritik an Dantes eindeutig festgelegten Zuordnungen verstehen, die den Weg eines jeden als vorgezeichnet präsentieren. Der Weg durch die Welt mit ihren Wundern und ihren heiligen Stätten ist zwar Zeichen für die Präsenz Gottes in der Natur und in der Kultur. Doch die Lesbarkeit der Welt stößt ebenso wie die Lesbarkeit des Himmels an Grenzen, die anthropologisch bedingt sind, da, wie schon erörtert, die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit selbst beschränkt ist. Die durch das irdische Paradies markierte Grenze und der limitierte Aufstieg zum Himmel weisen auf die Unfähigkeit des Menschen, Gott zu erkennen und zu benennen. Christine schließt aber nicht aus, dass es andere gibt, die von Gottes Gnaden Einsichten in seine Herrlichkeit bekommen. Sie sagt ja selbst, dass sie nicht den Weg der Theologie eingeschlagen hat, sondern den chemin de longue estude, den Weg des langen Studiums. Daher gipfelt ihre Jenseitsreise auch nicht in der Schau Gottes im Sinne einer mystischen Erfahrung. Diese ist nur als topisches Wissen präsent, und an diesem Punkt enthält sich Christine de Pizan, das Wissen mit der Erfahrung zu korrelieren. Die fiktive Christine gelangt nicht in den obersten Himmel, sondern »nur« in den Lufthimmel. Wir werden uns nun mit dieser letzten Station ihrer Reise näher befassen. Der himmlische Hofstaat Im Lufthimmel erfüllt sich, was die Sibylle eingangs angekündigt hatte, nämlich ihrem Schützling die Ursache des Bösen in der Welt zu erklären. In einer grandiosen Zusammenschau von Vergangenheit, Gegenwart und l’absence devient une présence, et les éléments négatifs deviennent positifs au fur et à mesure que progresse sa quête d’identité.« Brownlee, »Le Moi ›Lyrique‹«, 105 u. 135.

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Zukunft sieht Christine nun, wie sich die Ereignisse und Schicksale der Welt zusammenbrauen, und knüpft damit wieder an ihre Klage über den Zustand der Welt im Prolog an. Angesichts des Unheils der Welt möchte sie eingreifen, muss aber ihre Ohnmacht erkennen. Obwohl sie mit prophetischer Weissagungsgabe bedacht ist, wird ihr erneut eine Grenze auferlegt: Es ist nicht zulässig, die Geheimnisse Gottes zu enthüllen außer für jene, die Gott dazu auserwählt hat. Mais du dire ja Dieu ne place, Car sillence tres commandee Me fu. Si sera bien gardee, Car n’appartient a reveller Le secrés de Dieu, n’a parler De ce fors a ceulx qui commis Y a Dieux comme ses amis. (214–215, v. 2164–2178)

Zu den begnadeten Menschen, die Gott als Vermittler und Interpreten auserwählt hat, zählt sie sich selbst nicht. Am Ursprung allen irdischen Unheils erkennt sie in ihrer Vision die doppelgesichtige trügerische Fortuna. Unter ihrem Einfluss stehen Tod, Hungersnöte, Kriege, Naturkatastrophen, Armut und Unglück. Doch Christine erkennt unter ihrer Wirkung auch Liebe, Glück und Frieden. Die schönsten Wunder (merveilles), die Christine im Lufthimmel erblickt, sind vier im Quadrat angeordnete Throne, in deren Mitte sich auf erhöhten Stufen ein fünfter Thron befindet. Jeder der vier Throne ist einer Himmelrichtung zugeordnet, und auf jedem Thron hat eine Dame Platz genommen, deren Identität erst später enthüllt wird. Es handelt sich dabei um allegorische Gestalten, wie man sie aus der späteren Emblematik kennt. Eine ikonologische Untersuchung wäre auch im Hinblick auf die Dekorationssysteme der Epoche in diesem Zusammenhang sicher aufschlussreich. Auf dem östlichen, aus Elfenbein geschnitzten und reich verzierten Thron sitzt in würdiger Haltung eine reich gekleidete Frau mit einem offenen und einem geschlossenen Buch. Es ist die Weisheit, Sagesse. Auf dem nördlichen Thron, der mit Tapisserien mit Jagdszenen drapiert ist, sitzt eine Dame, zu deren Füßen ein König kniet. Es ist der Adel, Noblesse. Auf dem südlichen, mit mythologischen und historischen Szenen verzierten Thron sitzt eine geharnischte Dame mit einem Schild, auf dem der Kriegsgott Mars dargestellt ist. Sie verkörpert das Rittertum, Chevalerie. Auf dem westlichen, aus Gold gefertigten Thron sitzt der Reichtum, Richesse. Der Thron in der Mitte leuchtet heller als die Sonne, und das Pflaster, auf dem er gebaut ist, scheint durchsichtiger als Eis. Es ist der



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Thron der Vernunft, Raison. Um sie herum sind mehr als zwanzig edle Damen versammelt, die Christine als die Tugenden identifiziert. Der himmlische Hofstaat wird von einem so wundervollen Engelsgesang umrahmt, dass sich Christine im obersten Himmel wähnt. Wie sie ja schon am Anfang ihrer Reise den Parnass als irdisches Paradies missdeutete, suggeriert die semiotische Modellierung des ganzen Textes, dass der Zugang zur Wahrheit nicht absolut ist. Im Unterschied zur moralisch-didaktischen Literatur wird durch dieses Verfahren die Eindeutigkeit aufgebrochen und die Suche nach der Wahrheit selbst hinterfragt, was nicht nur im Gewirr von Wegen und in der Vielfalt von Himmelsleitern gespiegelt ist, sondern auch noch einmal anhand der dramatischen Gerichtsverhandlung deutlich wird, die sich nun vor den erstaunten Augen Christines abspielt, und damit kommt nun eine neue Dimension ins Spiel: Nachdem die Reise bis zu diesem Punkt dynamisch verlief und die Protagonistin die Akteurin war, tritt sie nun in den Hintergrund und wird im weiteren Verlauf der Erzählung zur Zuschauerin. Die Vernunft im Exil In die überirdische Schönheit des himmlischen Hofes bricht ein Botschafter der Erde mit einem Bittgesuch ein. Man ruft Loquence (238, v. 2589) herbei, die die Bittschrift vorlesen soll. Nun wird das Übel der Welt aus der Sicht der personifizierten Erde erklärt, die sich in der Bittschrift als betrübte Mutter in unerträglicher Trauer darstellt und die Dame namens Vernunft schwer beschuldigt. Sie habe sich aus ihrer Verantwortung gestohlen, indem sie sich ins Exil in den Himmel zurückgezogen habe, wo doch gerade ihre Anwesenheit auf der Erde unabdingbar notwendig wäre, um die Laster, die für das Unglück verantwortlich wären, auszutreiben. Deshalb flehe sie sie an, aus ihrem Exil zurückzukehren, ansonsten würde sie lieber steril sein und keine neuen Lebewesen hervorzubringen. Die Wurzel des Übels unter den Menschen sei die Habgier (Convoitise), sie mache die Menschen rachsüchtig, neidisch, verräterisch, selbstzerstörerisch. Damit tritt nun neben die Fortuna eine innere, moralisch bedingte Ursache des Bösen in der Welt. Die Klage der Erde um den Verlust der Tugend ihrer Kinder ist ein Topos, der auch im Rosenroman und bei Alanus de Insulis in De Planctu Naturae vorkommt, den Christine auch zitiert.22 Während bei Alanus die 22  […] Que scïence trop mieulx, sans faille,  /  Que nulle autre richece vaille,  /  En son livre le dit Alain  /  De Plainte de Nature a plain,  /  Que la noble possession  /  De

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Natur darüber klagt, dass sich die Sexualmoral ins Exil begeben habe,23 ist es in unserem Fall die Vernunft mit den Tugenden, die sich aus der Welt zurückgezogen hat. Der Text weist auch Bezüge zum Anticlaudianus des Alanus auf, wo ebenfalls das Thema des himmlischen Konzils im Zentrum steht, und wo das Empyreum der Ort ist, an dem die Vernunft an ihre Grenze stößt und die Führung an den Glauben abgeben muss.24 Bei Dante muss Vergil die Führung an Beatrice abgeben, um ins Empyreum zu gelangen, bei Christine de Pizan wird die höchste Sphäre erst gar nicht erreicht. Gemeinsam mit Alanus ist auch die detailfreudige Ausschmückung der kostbaren Kunstwerke und kunstvollen Möbel im Jenseits und – noch wichtiger – die absolute und unzugängliche Erhabenheit der göttlichen Weisheit, die jedes menschliche Fassungsvermögen übersteigt.25 Die Gerichtsverhandlung der himmlischen Herrscherinnen Angesichts der schweren Anklage durch Mutter Erde beschuldigt Raison den schädlichen Einfluss von Richesse als Ursache allen Übels und droht mit ihrer Degradierung und ihrem Sturz, doch Richesse verteidigt sich, indem sie Noblesse anklagt, worauf diese nun Chevalerie attackiert, die ihrerseits wiederum Noblesse beschuldigt. In dieser verfahrenen Situa­ tion ruft Raison alle dazu auf, eine neue Regierungsform auszudenken, und nach langem Debattieren einigt man sich darauf, einen mit allen Vollmachten ausgestatteten Alleinherrscher über die Welt zu bestimmen, der in der Lage wäre, Ordnung und Frieden wiederherzustellen und dauerhaft zu sichern. Wo aber diesen Herrscher finden? Raison organisiert nun eine Debatte, die nach diskursethischen Kriterien verlaufen soll: Jeder bekommt das gleiche Recht, seine Meinung zu äußern, und am Ende soll dann abgestimmt werden. Jede Herrscherin darf einen Weltenherrscher vorschlagen, und jede argumentiert natürlich nach eigenen Interessen. Noblesse beruft sich auf die hohe Abstammung ihres Kandidaten, Chevalerie auf die Stärke und die Rittertugenden, Richesse auf die Tatsache, dass ihr Kandiscïence a l’eleccion  /  Sur toutes les choses amees  /  Qui doivent estre renommées […] (394, v. 5205–5212). 23  Vgl. Alain de Lille, The Plaint of Nature [De planctu naturae], Translation and Commenary by James J. Sheridan, Toronto 1980, 67. Bei Alanus ist bekanntlich die Kritik an der Homosexualität gemeint. 24  Vgl. Alanus ab Insulis, Der Anticlaudianus oder Die Bücher von der himmlischen Erschaffung des neuen Menschen. Ein Epos des lateinischen Mittelalters, übers. und eingeleitet Wilhelm Rath, Stuttgart 1983, 192. 25  Vgl. ibid., 119.



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dat, der durch Entdeckungsreisen zu Reichtum gelangt sei, es nicht nötig habe, Abgaben und Steuern einzutreiben. Die einzige, die frei von Korruption und Eigeninteressen ist, ist Raison qui est pure et monde (282, v. 3346). Sie möchte nun auch den Rat von Sagesse einholen. Als Sagesse das Wort erteilt bekommt, ist es zuende mit ihrer Mäßigung, sie bekommt zuerst einen Wutausbruch und erklärt, nur die Gegenwart von Raison halte sie davon ab, sich auf Richesse zu stürzen und sie zu verprügeln. Sagesse schlägt einen Philosophen vor, der von vollendeter Tugend und weiser als Salomon sei. Nach und nach entkräftet Sagesse die Argumente von Noblesse, Chevalerie und Richesse, indem sie ein Großaufgebot von exempla aus der Antike, aus der Bibel und den Kirchenvätern paraphrasiert oder zitiert. Diesen Autoritäten zufolge ist allein in der Tugend der Ausweis für Adel: Die wahren Ritterpflichten bestünden im Schutz von Witwen und Waisen, in der Verteidigung des Glaubens, des Rechts und der Gerechtigkeit. Im Reichtum liege die Ursache für die Laster des Hochmuts, der Habgier, des Geizes und des Neids. Zur Sammlung der Exempla-Argumente hat Christine de Pizan, wie verschiedene Kritiker nachgewiesen haben,26 fast ausschließlich Kompilationswerke verwendet, wie den Artikel »nobilitas« in der Florilegiensammlung Manipulus Florum oder die loci communes des Valerius Maximus, die Epitoma rei militaris des Vegetius, der auch die Hauptquelle ihres Livre des fais d’armes et de chevalerie (1410) ist. Außerdem verwendete sie die Communiloquium des Jean de Galles, den Policraticus von John of Salisbury, der von Denis Foulechat 1372 unter dem Titel Traité de l’art militaire ins Französische übersetzt worden war sowie die Kompilationswerke De remediis Fortunam bzw. De remediis Fortunitorum und die französische Übersetzung der Dicta Philosophorum des mit ihr befreundeten Guillaume de Tignonville.27 Auch in ihren anderen Schriften, z. B. im Livre des trois vertus oder Trésor de la Cité des Dames oder im Epître d’Othea kompiliert Christine de Pizan verschiedene exempla.

26  Percy G. C. Campbell, L’Épître d’Othéa, étude sur les sources de Christine de Pizan, Paris 1924; Didier Lechat, »L’utilisation par Christine de Pizan de la traduction de Valère Maxime par Simon de Hesdin et Nicolas de Gonesse dans Le Livre du Chemin de long estude«, in: Hicks (Hg.), Au champ des escriptures, 175–196; Simone Pagot, »Du bon usage de la compilation et du discours didactique: analyse du thème ‚guerre et paix’ chez Christine de Pizan«, in: Liliane Dulac, Bernard Ribémont (Hgg.), Une femme de Lettres au Moyen Age: Études autour de Christine de Pizan, Orléans 1995, 39–50. 27  Vgl. Campbell, L’Épître d’Othéa, 177–185, vgl. außerdem die Anmerkungen in der Textausgabe von Tarnowski.

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Das reale Diesseits im Licht der utopischen Idealität Die bewusste Konstruktion von Intertextualität, die sich gelegentlich auch einem palimpsestartigen Überschreiben der Quellen annähert, ist kein Spiel, sondern ohne den Referenzrahmen der Realität28 nicht denkbar. Das Bezugssystem der utopischen Jenseitsvision im Livre du chemin de long estude ist die irdische Welt. Christine de Pizan häuft Zitate als Autoritätsargumente, um den realen Adligen, Rittern und Reichen ihrer Zeit einen Spiegel vorzuhalten, damit diese die Problematik ihrer »niedrigen« Realität an den hohen Idealen der antiken Moralphilosophie und christ­ lichen Ethik messen und ihr Verhalten entsprechend ändern. So wird das Jenseits zum Spiegel eines idealen Diesseits. Christine de Pizan begibt sich damit in eine Position, die bei den späteren Humanisten der Renaissance weit verbreitet ist. Sie spricht sich für die Durcharbeitung und Verbreitung der überlieferten Weisheit durch Übersetzungen aus und spielt selbst eine wichtige Rolle in der Vulgarisierung des Wissens ihrer Zeit. Mit Le livre du chemin de longue estude deutet sie die Probleme der Gegenwart mittels einer gezielten Verarbeitung der Tradition. Dabei stellt sie im Licht der überlieferten Weisheit die herrschenden Wertvorstellungen in Frage, wobei auch ihre persönlichen Erfahrungen als alleinstehende Frau am Hof Karls des VI. und ihr Schmerz um den verstorbenen Gatten eine wesentliche Rolle spielen. Le Livre du chemin de longue estude nimmt Züge eines Fürstenspiegels an.29 Der ideale Herrscher hat auf Erden als Stellvertreter Gottes für Recht und Ordnung zu sorgen und muss alle Tugenden besitzen, die das Wohl der Menschen garantieren: Mitgefühl, Sanftmut, Edelmut, Ehrenhaftigkeit, Weisheit, Güte, Mäßigung, Toleranz, Ausgeglichenheit, Menschlichkeit. Er darf nicht selbst herrschen sondern muss die Vernunft herrschen lassen: Ces mots au propos authentiques Recorde Aristote en Ethiques, Que le prince pas dominer Ne doit, mais raison, sans finer […] (430, v. 5808–5810)

28  Wie die Realität des Ritters aussah, kann man in den Chroniques Froissards nachlesen. Vgl. hierzu Georg Jäger, Aspekte des Krieges und der Chevalerie im XIV. Jahrhundert in Frankreich. Untersuchungen zu Jean Froissarts ›Chroniques‹, Bern /  Frankfurt a. M. / Las Vegas 1981. 29  Vgl. Kate Langdon Forhan, The Political Theory of Christine de Pizan, Burlington 2002.



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Er muss weise, gastfreundlich, großzügig und gebildet sein. Als positives Exemplum aus der neueren Zeit wird König Karl V. von Sagesse zum idealen Herrscher erkoren. Er habe sich durch Tugend, Toleranz, Vernunft und Umsicht ausgezeichnet und durch seine Förderung der Künste und Wissenschaften Frankreich einen großen Dienst erwiesen. Philosophe estoit, car ameur De sapience en grant saveur Yert, certes il y paru bien: Par le tres grant desir du bien Apprendre qu’en escript on treuve Es nobles livres que on appreuve, Fist il pour celle entencion Mainte noble translacion, Qui oncque mais n’ot esté faite. Et moult fu noble œuvre et parfaite, Faire en françois du latin traire Pour les cueurs des François attraire A nobles meurs par bon exemple […] (384, v. 5013–5025)

Dieses encomium wiegt um so schwerer, als der Bruder des verstorbenen Königs, Charles VI, dem das Livre du Chemin de long estude ja gewidmet ist, aufgrund seiner Krankheit die Regierungsgeschäfte nicht wahrnehmen konnte und unter seiner Regierung, wie seine Biographen feststellen, eine Verrohung der Sitten um sich griff. Christine de Pizan hat auch im Auftrag von Philipp dem Kühnen ein Portrait zu Ehren dessen verstorbenen Bruders geschrieben: Le Livre des fais et bonnes mœurs du sage roy Charles V, wo ebenfalls (vgl. bereits den Titel des Werkes) die Weisheit des Königs hervorgehoben wird. Dort geht sie konkret auf die Übersetzungen ein, die in seinem Auftrag angefertigt wurden, u. a. die Bibel mit Kommentaren, Augustinus’ Gottesstaat und Aristoteles’ Ethik und Politik.30 All diese Texte sind im Livre du chemin de longue estude als Autoritäten präsent. Christine de Pizans Ethik ist wie die aristotelische Ethik teleologisch ausgerichtet. Sie kann auch im Hinblick auf die Symbolik der Wege und Himmelsleitern von der Nikomachischen Ethik her verstanden werden. Das Endziel – la droite fin derreine  /  La ou tend creature humaine (394, v. 5181 f.) – alles menschlichen Strebens soll Sagesse zufolge die durch die Pflege der Wissenschaften gewonnene Weisheit sein, aus der alle Tugenden hervorgehen. 30  Vgl. Christine de Pizan, Le Livre des fais et bonnes mœurs du sage roy Charles V. Trad. moderne par Eric Hicks et Thérèse Moreau, Paris 1997, 217.

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Voy cy qu’Aristote en escript, Se a memoire j’ay son escript: ‚Pour ce que sappïence est mere De toutes les vertus non amere, Par les meilleurs raisons monstree Elle doit estre et demonstrée.’ […] (408, v. 5419–5424)

Die Liebe zur Weisheit ist göttlicher Substanz und verheißt Glückseligkeit und Unsterblichkeit, da sie die unvollkommene irdische Welt in eine vollkommene himmlische zu verwandeln vermag: C’est le souleil par quel lumiere Ajourne o sa lueur plainiere Es tenebres de la pensee. C’est l’œil de nostre ame appensee, C’est le paradis de delices, Ou toutes choses sont propices. C’est celle qui l’auctorité A de droite proprieté Par sa bonne conversion De müer l’operacion De l’œuvre imparfaicte et terrestre A la perfeccïon celestre. C’est celle qui peut le mortel Faire müer en immortel, L’umaine et transitoire vie En gloire parfaicte, assouvie. (396, v. 5223–5238)

Als Sagesse ihre hyperbolischen Ausführungen beendet, stößt sie aber auf erneuten Widerspruch, worauf Raison absolute Neutralität verlangt und nach dem mythologischen Modell des Paris-Urteils einen Schiedsrichter bestimmt, der die Harmonie zwischen den zerstrittenen Parteien wieder herstellen soll. Maistre Avis (456, v. 6227) erscheint wie ein deus ex machina und beschließt, den Zankapfel den Menschen auf der Erde zu überlassen, worauf die Sibylle Christine als ideale und vertrauenswürdige Botschafterin vorschlägt. Christine, die die ganze Debatte bereits protokolliert hat, wird von Raison beauftragt, den Text den hohen Personen, die man zu Richtern und Anwälten erkoren habe, zu überbringen, womit wieder an die im Prolog vorgenommene Stilisierung der Adressaten zu Richtern angeknüpft wird. Sie steigt die Himmelsleiter wieder hinunter, und als sie unten ankommt, hört sie die Stimme ihrer Mutter, die an ihre Zimmertür klopft und sich darüber wundert, dass ihre Tochter so lange schläft.



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Die Verlagerung der moralischen Topographie ins Innere Im Unterschied zu Dante und anderen Jenseitsreisen geht es in Le Chemin de long estude nicht um einen Abstieg in die Unterwelt mit der Besichtigung von Straforten und Verdammten, sondern die gängigen Unterweltsvorstellungen werden umgedeutet. Das reale Diesseits erscheint nunmehr als Strafort. Es ist ein Ort der Verdammnis, in dem der Mensch den Launen Fortunas ausgeliefert ist und der Läuterung bedarf. Diese Läuterung kann sich in den Augen der Autorin nur über die Pflege der Künste und Wissenschaften vollziehen, denen sie eine moralisch veredelnde Macht zuschreibt. Anstatt ein Lohn- und Bestrafungssystem in drastischer Weise vor Augen zu führen, zeigt Christine de Pizan ethische Orientierungsmodelle auf. Indem sie das Jenseits zum Spiegel eines idealen Diesseits macht, soll der Adressat dazu kommen, die Realität an der Idealität zu messen. Der Mensch wird als ethisches Subjekt aufgefasst, das sich bereits im Diesseits läutern muss, um ins Jenseits zu gelangen. Ohne die Tugenden ne peuvent estre amendees  /  Les deffaultes qui sont au monde (148, v. 2750 f.). Auch der Schreibprozess als solcher wird als progressive intellektuelle und moralische Läuterung verstanden und verheißt Ruhm im Paradies. In ähnlicher Weise wie bei Dante in der Commedia oder auch bei Petrarca in den Trionfi und bei Boccaccio in der Amorosa Visione dient die Jenseitsreise bei Christine de Pizan mit ihrer Möglichkeit enzyklopädischer Wissensvermittlung auch der Vergegenwärtigung antiker und frühchristlicher Dichter und Denker und spielt daher eine Rolle in der Kanonbildung. Viele Aspekte im Livre du Chemin de longue estude nehmen bereits humanistische Impulse der Renaissance vorweg oder zwingen dazu, das Mittelalter in seinen Bezügen zur Antike und zu den neuen Entdeckungen neu zu überdenken. Für Christine de Pizan bietet sich mit der fiktionalisierten Jenseitsreise die Möglichkeit, in mittelalterliche Denksysteme humanistisches Gedankengut einzuführen und ihre Leser mit diesem vertraut zu machen. Schönheit wird als Seinsvollkommenheit aufgefasst. Die sichtbare Welt offenbart in ihrer vielfältigen Schönheit ihre Verwiesenheit auf eine unsichtbare transzendente Welt. Wenn auch im Diesseits eine Seinsvollkommenheit nicht erreichbar ist, so weckt doch die diesseitige Schönheit eine Sehnsucht nach einer ontologischen Kongruenz von Schönheit und Güte und ruft nach einer nach Kriterien der Humanität gestalteten Weltordnung. Der erste Teil der Jenseitsreise, die Reise durch die sichtbare und erfahrbare Welt mit ihren Sehenswürdigkeiten, ist auf den zweiten Teil bezogen,

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in dem das Telos menschlichen Lebens und Strebens in der Himmelsvision enthüllt wird. In diesem Sinne soll auch der Chemin de longue estude eine conversion bewirken, die das »unvollkommene und irdische Werk« zur »himmlischen Perfektion« wandelt und den Weg ins Paradies öffnet. Die thematischen Vorverweise und Rückbezüge garantieren die ästhetische und philosophische Kohärenz des Textes, der dadurch, dass er immer wieder die Grenzen menschlicher Wahrnehmung und Erkenntnisfähigkeit thematisiert, offen bleibt.

Du stylus phantasticus aux chimères musicales Culture de l’ingéniosité et musique instrumentale au xviie siècle1 Par Agathe Sueur Publié en 1654 par l’Italien Emanuele Tesauro (1592–1675) au terme d’un long travail, le Cannocchiale aristotelico s’imposa dès sa parution comme une somme sur l’art de l’ingéniosité2. Le théoricien y expose avec une verve peu commune les multiples ressorts de l’argutezza (arguta dictio en latin), cet art de l’expression ingénieuse initialement né de l’intérêt de certains humanistes anticicéroniens pour les auteurs antiques de la latinité d’argent, au premier rang desquels Sénèque et Tacite. Dans l’Italie et l’Allemagne du xviie siècle, pays sur lesquels se concentrera la présente étude, l’ouvrage de Tesauro ne paraît pas de manière isolée: quelques années auparavant, en 1649, l’érudit et pédagogue jésuite allemand Jacob Masen (1606–1681) avait édité son ouvrage latin Ars novarum argutiarum, mettant dès cette époque à l’honneur en Allemagne l’art de l’ingéniosité dans le domaine poétique3. En 1650, l’Italien Matteo Pellegrini (1595–1652) publie I Fonti dell’In­ gegno4. L’ouvrage de Tesauro paraît donc dans un contexte extrêmement favorable à ces approches anticicéroniennes du discours. Les théories de Tesauro, conjuguées à celle de Masen, influent fortement sur les belles lettres allemandes, qu’elles soient néo-latines ou vernacu1  Je

dédie cet article à François Lecercle. Il Cannocchiale aristotelico, o sia idea delle argutezze heroiche vulgarmente chiamate imprese [1654], Venise, presso Paolo Baglioni, 1663; fac-similé, Savigliano (Cuneo) 2000. L’étude cite l’édition de 1663. Sur cet ouvrage, voir M. Zanardi, »Sulla genesi del ›Cannocchiale aristotelico‹ di Emanuele Tesauro. I«, Studi secenteschi 23 (1982), 3–61 et »Sulla genesi del ›Cannocchiale aristotelico‹ di Emanuele Tesauro. II«, Studi secenteschi 24 (1983), 3–50. Sur l’ingéniosité, qualifiée a posteriori de »conceptisme«, voir M. Blanco, Les Rhétoriques de la pointe. Baltasar Gracián et le conceptisme en Europe, Paris 1992. 3  J. Masen, Ars nova argutiarum honestae recreationis, Cologne, Joannes Antonius Kinchius, 1649. 4  M. Pellegrini, I Fonti dell’ Ingegno, Bologne, per Carlo Zenero, 1650. 2  E. Tesauro,

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laires5. Par exemple, Christian Weise (1642–1708) publie en 1678 un ouvrage en latin intitulé De Poesi hodiernorum politicorum sive de argutis inscriptionibus6. De son côté, l’érudit allemand D. G. Morhof (1639–1691), premier professeur d’éloquence de l’Université de Kiel, propose une synthèse très dense de l’art de l’arguta dictio appliqué à la prose, en utilisant abondamment les ouvrages de Masen et Tesauro; ses idées sont consignées dans le De arguta dictione tractatus, publié à titre posthume (17057). Enfin, la traduction latine du Cannocchiale aristotelico par le professeur Kaspar Cörber, publiée en 1698, favorise jusqu’à une époque tardive la diffusion du texte de Tesauro8. La tradition de l’ingéniosité a façonné durablement certaines conceptions et perceptions de l’expression artistique dans l’Europe du xviie siècle. Non seulement des théoriciens et des artistes ont conçu la production artistique de leur temps selon cette perspective mais ils ont aussi relu et réinterprété une partie de l’histoire de l’art à cette aune. Comme le montre le Cannocchiale aristotelico, l’art de l’argutezza s’illustre dans divers domaines, et tout d’abord dans les pratiques du discours. Dans le contexte du xviie siècle, la maîtrise de l’argutia permet au courtisan de briller par une expression pleine d’à-propos et de vivacité: il suscite la surprise et l’admiration par ses pointes, par ses saillies inattendues et pleines de verve. L’expression ingénieuse est brève, elliptique, allusive. Reposant souvent sur une structure argumentative en partie dissimulée, l’enthymème9, elle permet aussi à l’habile homme d’esquiver, d’éviter les pièges politiques: elle est en ce sens au service d’une forme de prudence, à une époque où domine au plan politique la question, obsédante pour les Modernes, de la raison d’État10. Dans la veine poétique, les lettrés pra5  Voir W. Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters, Tübingen 1982, 228 sq. et H. F. Fullenwider, »Tesauro in Germany«, Arcadia 21.1–3 (1986), 23–40. 6  Ch. Weise, De Poesi hodiernorum politicorum sive de argutis inscriptionibus, Weissenfels, Johannes Brühl, 1678. 7  D. G. Morhof, De arguta dictione tractatus, Lubeck, sumptibus P. Böckmanni, 1705. Le texte est la version remaniée d’une publication de 1693 (déjà posthume), qui fut elle-même constituée à partir de leçons données par Morhof lors de l’hiver 1674– 1675. 8  E. Tesauro, Idea argutae et ingeniosae dictionis, trad. latine par Kaspar Cörber, Francfort / Leipzig, sumptibus Joan. Melchioris Süstermanni, 1698. 9  Sur l’enthymème, voir Blanco, Les Rhétoriques de la pointe. 10  Voir Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, 55 sq. et Blanco, Les Rhétoriques de la pointe, 557 sq.

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tiquent l’épigramme ingénieuse, ou encore l’art de l’inscription, genre de composition hybride, dont le style est intermédiaire entre l’art oratoire et la poésie et qui doit sa fortune à la multitude d’inscriptions antiques dont sont ornés tant de monuments ou fragments de monuments retrouvés en Italie. On compose aussi des emblèmes, des apophtegmes. Les prédicateurs intègrent à leurs sermons les ressources d’une expression plus piquante, qui, surprenant l’oreille et aiguillonnant l’esprit, invite les auditeurs à méditer et révèle des vérités d’une manière frappante. L’art de l’ingéniosité s’impose également dans les arts visuels11. Par leurs inventions ingénieuses, qui permettent de représenter pour l’œil et l’esprit des idées complexes ou subtiles, les peintres, les sculpteurs et les architectes suscitent l’admiration et l’approbation. Quant aux dramaturges, ils manifestent leur ingéniosité dans des spectacles qui mêlent les effets visuels, par l’incarnation de personnages, et les effets sonores, puisque ces personnages émeuvent par leur voix12. Mais qu’en est-il des musiciens et de la musique? Curieusement, dans le Cannocchiale aristotelico, Tesauro reste presque totalement silencieux sur le sujet. Il ne compte pas les musiciens au nombre des esprits ingénieux et n’évoque pas un style ingénieux en musique. Cette curieuse lacune peut s’expliquer en partie. En effet, lorsqu’il évoque l’ingéniosité des artistes, Tesauro s’en remet essentiellement à l’autorité de Pline dans l’Histoire naturelle, texte qu’il relit selon la perspective de l’argutezza. Or Pline ne mentionne pas d’exemple d’ingéniosité dans le domaine musical13. Il apparaît à la lecture du Cannocchiale aristotelico que l’ingéniosité des Anciens fut d’ordre sonore, acoustique, et non pas musical. Ainsi en va-t-il de cette ingénieuse construction architecturale qui permettait, par ses propriétés acoustiques singulières, de provoquer des effets d’écho admirables, de sorte que »le marbre parlait14«. Tesauro évoque aussi l’entreprise d’un sculpteur qui conçut une gigantesque oreille de marbre. Celle-ci, installée dans une salle où passaient les courtisans, permettait au tyran Denys de Syracuse d’entendre, répercutés et amplifiés jusqu’à lui grâce à la forme de l’objet sculpté, les propos imprudents tenus par ses sujets15. Cette invention ingénieuse suscite l’admiration, tant elle Cannocchiale, 76 sq. 49. 13  Pline, Histoire naturelle, livre XXXV. Aucun chapitre de l’Histoire naturelle n’est expressément consacré à la musique et aux musiciens. En outre, lorsque Pline évoque l’art des musiciens, c’est surtout en s’en référant à la topique de la décadence de la musique et de la vanité (voir par ex. livre XXXVII, 3, 1 sq.). 14  Tesauro, Cannocchiale, 80. 15  Ibid. 11  Tesauro, 12  Ibid.,

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invite chacun à reconnaître subitement, par l’effet de l’évidence fulgurante, que »les murs ont des oreilles«. Si Tesauro ne s’intéresse pas à l’ingéniosité proprement musicale, il a pourtant manifestement l’oreille musicale. Dans le Cannocchiale aristotelico, ses réflexions sur le numerus de la prose éloquente, c’est-à-dire sur l’art de la composition oratoire bien rythmée, tantôt sentencieuse, pointue et brève, tantôt périodique, pleine d’effets de symétrie harmonieuse (concinnità) et de clausules sonores, sont très poussées, rappelant brillamment que la prose éloquente présente des vertus musicales16. De surcroît, une de ses analyses relatives au rythme et aux sonorités du discours oratoire est assortie d’une éloquente analogie avec l’art du jeu au clavecin17. Dans un autre passage de son ouvrage, Tesauro évoque la sprezzatura dont sait faire preuve un luthiste habile: Così un perito Citaredo, fra le toccate harmoniose fà risonare una falsa corda: & quel disconserto è consertato: ò per ridersi di color che ne ridono: ò per parere di cantar per habito, & non per arte: ò per fare une figura Barbarismo18. C’est ainsi qu’un luthiste expérimenté, parmi son toucher harmonieux, fait entendre une fausse note: & ce désaccord est concerté, ou bien pour se rire de ceux qui en rient, ou pour paraître chanter par habitude, non par effort; ou pour faire une figure de barbarisme.

La sprezzatura, notion théorisée par Baldassare Castiglione dans Le Livre du courtisan19, peut ici participer de l’ingéniosité puisqu’elle pique l’attention des auditeurs et demande à être méditée, interprétée: les sots seront trompés, leur vanité les conduisant à juger avec dédain ce qu’ils croiront être une maladresse du musicien. Les esprits pleins de vivacité quant à eux, passé le court instant initial pendant lequel l’oreille s’étonne de cette dissonance inattendue et inappropriée, sauront reconnaître l’empreinte élégante de la sprezzatura, cette diligente négligence, ou donneront un sens, qui était jusqu’alors caché, à cette franche irrégularité qu’est le barbarisme dans le discours musical20. C’est que l’ingéniosité implique une excellence 16  Sur ce point, voir Blanco, Les Rhétoriques de la pointe, 370–371, et mon étude, Le Frein et l’Aiguillon. Éloqurence musicale et nombre oratoire (XVIe–XVIIIe siecle), Paris sq. 2014, 203. 17  Tesauro, Cannocchiale, 136. Tesauro propose l’exemple du jeu au clavecin pour faire entendre de manière analogique comment se conçoit l’harmonie de la période oratoire »serpentine« que ses rythmes rendent éloquente. 18  Ibid., 168. 19  B. Castiglione, Il libro del Cortegiano [1528], Milan 2007, 59–60. 20  Par barbarisme, il faut ici entendre une entorse flagrante à la correction harmonique et / ou à la syntaxe du discours musical.

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de l’esprit et une forme de complicité entre les différents protagonistes, ici entre le musicien et son auditoire. Tesauro apparaît donc comme un homme sensible à la musique. Mais ses analyses ne vont guère plus loin. Ainsi, la musique apparaît bien le parent pauvre dans la théorisation de l’ingéniosité. Cela signifie-t-il qu’en ce milieu du xviie siècle, les théories et les perceptions de l’ingéniosité ne peuvent se rapporter à l’art musical? Non. Des études ont déjà montré que les procédés d’ingéniosité poétique ont leur pendant dans la musique vocale et instrumentale: il est possible d’identifier dans des compositions très diverses l’équivalent musical des »lumières du discours« (lumina orationis, vivezze chez Tesauro) que sont les figures et les tropes les plus appréciés par les adeptes de l’ingéniosité21. Le concetto, qu’il soit poétique ou musical, tire son existence notamment des effets de surprise et de rupture, des antithèses expressives, des ellipses, qui se manifestent dans le travail harmonique, mélodique et rythmique22. Ces procédés confèrent au discours ingénieux une allure singulière, un relief, une forme de clarté évidente qui sont l’essence même de l’expression arguta23. En s’attachant avant tout aux enjeux théoriques et formels de l’ingéniosité, plus qu’à l’analyse concrète des techniques d’écriture et de composition (elocutio) qui la caractérisent, le propos de la présente étude vise à montrer que certaines formes de l’art musical du xviie siècle se prêtent de manière remarquable à la perception et à la formalisation appréciées des »conceptistes«, les promoteurs de l’ingéniosité. La richesse de la réflexion se révèle même particulièrement frappante dans le domaine de la musique strictement instrumentale: les marques et les enjeux de l’ingéniosité y apparaissent de manière plus essentielle encore, dans la mesure où le musicien ne peut être soupçonné d’avoir tiré profit, dans sa démarche de composition musicale, d’un texte ingénieux qui appellerait et rendrait à lui seul évidents les effets d’argutezza. L’intérêt de ces formalisations théoriques de l’ingéniosité rapportées à la musique tient à ce qu’elles peuvent fournir à terme des clefs pour éclairer et comprendre de multiples pièces instrumentales, celles de compositeurs italiens comme Girolamo Fresco21  Tesauro, Cannocchiale, 4. Cf. Cicéron, De Oratore, III, 25, 96 et Brutus, XXXVII, 141. Les figures sont perçues comme des gestes qui donnent du mouvement au discours et le rendent lumineux. 22  Voir Cl. V. Palisca, »Ut oratoria musica: the rhetorical basis of musical mannerism«, dans: F. W. Robinson, S. G. Nichols (éd.), The Meaning of mannerism, Hanover, NH 1972, 37–65; M. R. Maniates, Mannerism in italian music and culture, 1530– 1630, Manchester, 1979. 23  Rappelons qu’en latin, arguo signifie au sens premier »éclaircir«. Voir Blanco, Les Rhétoriques de la pointe, 37 sq. et 347 sq.

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baldi (1583–1643), Biagio Marini (1594–1663), Tarquinio Merula (1595– 1665), Michelangelo Rossi (1601 ou 1602–1656) ou celles de compositeurs allemands comme Johann Jakob Froberger (1616–1667), Ignaz Heinrich Franz Biber (1644–1704), Johann Jakob Walther (1650–1717) ou Johann Kuhnau (1660–1722), pour ne citer que quelques-uns des plus connus. Dans l’Europe du xviie siècle, la fortune de l’expression ingénieuse est largement liée au rayonnement de la Compagnie de Jésus: Tesauro en a été membre avant de la quitter en 1635, Masen est jésuite, tout comme, à la même époque, Baltasar Gracián (1601–1658), Pietro Sforza Pallavicino (1607–1667) ou encore le poète polonais Casimir Sarbiewski24 (1595–1640). Il n’est donc pas surprenant que la principale définition du style instrumental ingénieux soit attestée dans l’ouvrage d’un jésuite, en l’occurrence dans la Musurgia universalis du célèbre Athanase Kircher (1602–1680). Cette somme polygraphique sur la musique rédigée en latin parut à Rome en 165025. L’ouvrage est donc parfaitement contemporain des écrits de Pellegrini, Masen et Tesauro. Par ses recherches et son vaste réseau de correspondants épistolaires répartis dans toute la République des lettres, l’auteur, Athanase Kircher, est en son temps considéré comme une autorité majeure du Collegium romanum, l’influent établissement jésuite de la Ville éternelle. Il est même considéré par certains comme un »oracle« que l’on peut consulter sur tous sujets, y compris les plus abscons26. Dans le livre VII de l’ouvrage, il propose une typologie des styles musicaux assez remarquable pour avoir été reprise ultérieurement, au moins de manière partielle, par un certain nombre de musiciens et de théoriciens. Elle suscite encore aujourd’hui un vif intérêt dans de multiples études27. Or, contrairement aux autres définitions proposées par Kircher 24  Sur l’essor de l’arguta dictio chez les jésuites, voir H. F. Fullenwider, »Die Kritik der deutschen Jesuiten an dem lakonischen Stil des Justus Lipsius im Zusammenhang der jesuitischen Argutia-Bewegung«, Rhetorica 2.1 (Spring 1984), 55–62. Sur les auteurs jésuites cités, voir Blanco, Les Rhétoriques de la pointe. 25  A. Kircher, Musurgia universalis, 2 vol., Rome, Corbelletti, 1650. 26  Sur A. Kircher, voir John Fletcher (éd.), Athanasius Kircher und seine Beziehungen zum gelehrten Europa seiner Zeit, Wiesbaden 1988; Paula Findlen (éd.), Athanasius Kircher: the last man who knew everything, New York 2004; J. E. Fletcher, A Study of the Life and Works of Athanasius Kircher, ›Germanus Incredibilis‹, Leyde 2011. 27  La version latine de la Musurgia universalis est restée la référence: la traduction allemande partielle de l’ouvrage, parue en 1662, ne résume que de façon sommaire les différents styles. Voir A. Hirsch, Kircherus Jesuita Germanus Germaniae redonatus: sive Artis Magnae de Consono & Dissono Ars minor: das ist /  Philosophischer Extract und Auszug aus des Welt-berühmten Teutschen Jesuitens Athanasii Kircheri

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dans le même chapitre, la définition du stylus phantasticus, un style très particulier dévolu aux instruments, présente un maillage remarquablement dense de références à la culture de l’ingéniosité28: Phantasticus stylus aptus instrumentis, est liberrima, & solutissima componendi methodus, nullis, nec verbis, nec subjecto harmonico adstrictus ad ostentandum ingenium, & abditam harmoniae rationem, ingeniosumque harmonicarum clausularum, fugarumque contextum docendum institutus, dividiturque in eas, quas Phantasias, Ricercatas, Toccatas, Sonatas vulgò vocant29. Le style fantastique est adapté aux instruments, c’est la méthode de composition la plus libre, la plus déliée, il n’est astreint à rien, ni à des mots, ni à aucun sujet harmonique, établi pour afficher de l’ingéniosité, une manière cachée d’harmonie, pour enseigner l’ingénieux agencement des clausules harmoniques et des fugues; il se subdivise en ces pièces que l’on appelle communément fantaisies, recherches, toccatas, sonates.

Cette définition a donné lieu à de multiples interprétations, tant l’expression stylus phantasticus, inédite jusqu’alors dans les ouvrages de théorie musicale, apparaît à la fois obscure et stimulante pour l’esprit30. Aujourd’hui encore, la signification exacte de cette définition est très incertaine et les hypothèses proposées pâtissent d’un certain nombre d’effets parasites. Le principal d’entre eux tient à la relecture et à la réinterprétation du texte, presque un siècle plus tard, par le théoricien hambourgeois Johann Mattheson (1681–1764), dans sa somme théorique Der vollkommene Capellmeister31 (1739): cet écrit a contribué à répandre l’idée selon laquelle le »style fantastique« désignerait des formes de compositions instrumentales favorisant une improvisation et une écriture tout à fait débridées et, en conséquence, appelant une exécution instrumentale pleine de fantaisie, von Fulda Musurgia universalis, Schwäbisch Hall, Hans Reinhard Laidigen, Johann Christoph Gräter, 1662; rééd. fac-similé A. Kircher, Musurgia universalis. Schwäbisch Hall 1662, éd. M. Wald, Kassel 2006, livre IV, chap. V, 157–158. 28  C’est en ce sens que, dans la typologie proposée par Kircher, le stylus phantasticus se distingue très nettement du stylus symphoniacus, autre style instrumental défini comme cette »manière déterminée de composer des symphonies, dans lesquelles on emploie la consonance pleine de concorde d’instruments variés« (Kircher, Musurgia universalis, I, livre VII, chap. V, 592: certus modus eas componendi Symphonias, in quibus variorum instrumentorum concordi consonantia utuntur). 29  Ibid., 585. 30  Pour des études récentes, voir P. Collins, The Stylus phantasticus and free keyboard music of the North German baroque, Aldershot 2005; Ch. E. Brewer, The Instrumental Music of Schmeltzer, Biber, Muffat and their Contemporaries, ­Aldershot 2011, notamment la synthèse critique très développée 25 sq. 31  J. Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Hambourg, Christian Herold, 1739; Kassel 1999, part. I, chap. X, § 88 sq., 87 sq.

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voire fantasque, ce qu’autoriserait le qualificatif phantasticus32. Certaines compositions de Johann Jakob Froberger, célèbre claveciniste et organiste allemand, d’abord élève de Girolamo Frescobaldi à Rome avant d’y fréquenter de manière régulière A. Kircher en personne, seraient à la fois l’exemple le plus éloquent de ce style débridé appelant un jeu débridé, et un argument en faveur d’une telle interprétation. Toutefois, les difficultés ne manquent pas de surgir, fragilisant une telle approche du stylus phantasticus: le scepticisme est né notamment du fait que Kircher lui-même mentionne, en guise d’exemple magistral de ce style, la fantaisie de Froberger pour clavier sur ut, re, mi, fa, sol, la, dont la rigueur contrapuntique ne s’accorde pas précisément avec l’idée d’une écriture musicale fantasque33. Or, abordée à la lumière des théories jésuites ou d’inspiration jésuite de l’ingéniosité, la définition du stylus phantasticus proposée par Kircher prend un relief particulier. L’idée fondamentale, dans la perspective de l’argutezza, est développée en deux temps: il faut, en pratiquant cette méthode de composition, dit Kircher, non pas seulement se montrer ingénieux, mais littéralement »faire montre« de son ingéniosité (ostentandum ingenium), c’est-à-dire briller par la subtilité de ses idées musicales34. Il faut aussi, de manière complémentaire, mettre en œuvre un agencement ingénieux (ingeniosum contextum) de clausules et de fugues. Autrement dit, c’est chaque pièce en son entier qui est phantastica, même dans ses passages les plus strictement contrapuntiques. À ces références déjà significatives par elles-mêmes s’en ajoutent d’autres. En effet, comme on va le voir, les qualificatifs phantasticus et abdita (»cachée«), ce dernier s’appliquant à la manière de composer l’harmonie, sont eux aussi particulièrement expressifs dans cette définition, tant ils se rapportent aux théories de l’ingéniosité. Dans le Cannocchiale aristotelico, Tesauro propose une définition de l’esprit humain ingénieux (ingegno) qui repose sur deux principes fondamentaux, la perspicacité et la versatilité: 32  Les analyses de Collins, The Stylus phantasticus, font la part entre la conception de Kircher et celle de Mattheson mais la tendance à associer constamment et systématiquement les deux théoriciens dans l’analyse, plutôt que d’inscrire chacun dans son contexte culturel propre, fausse quelque peu la perspective. 33  Cf. Kircher, Musurgia universalis, I, livre VI, 465. Sur cette pièce, contenue dans le manuscrit autographe de 1649, voir la préface de H. Schott dans: J. J. Froberger, Œuvres complètes, tome I, vol. 1, Paris, 1979. 34  Il faut bien noter l’importance du verbe ostentare (»afficher, faire montre de«) qui, au plan grammatical, constitue la forme fréquentative du verbe ostendere, »montrer«.

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L’Ingegno naturale, è una maravigliosa sforza dell’Intelletto, che comprende due naturali talenti, Perspicacià, & Versabilità. La Perspicacia penetra le più lontane & minute Circonstanze di ogni suggetto; come Sostanza, Materia, Forma, Accidente, Proprietà, Cagioni, Effetti, Fini, Simpatie, il Simile, il Contrario, l’Uguale, il Superiore, l’Inferiore, le Insegne, i Nomi propri, & gli Equivochi: lequali cose giacciono in qualunque suggetto aggomitolate, & ascose, come à suo luogo diremo35. L’Ingéniosité naturelle est une force merveilleuse de l’esprit qui comprend deux talents naturels, la Perspicacité et la Versatilité. La Perspicacité pénètre les plus lointaines et menues circonstances de chaque sujet, comme par exemple la Substance, la Matière, la Forme, l’Accident, la Propriété, les Causes, les Effets, les Fins, les Sympathies, le Semblable, le Contraire, l’Égal, le Supérieur, l’Inférieur, les Emblèmes, les Noms propres et les Équivoques: choses qui gisent agglutinées et dissimulées dans chaque sujet, comme nous le dirons plus loin.

La perspicacité est pour Tesauro la faculté de percevoir les composantes d’un objet qui sont les moins évidentes puisqu’elles sont initialement agglutinées et dissimulées (aggomitolate & ascose), comme repliées sur ellesmêmes et enfouies. En s’appuyant sur les catégories d’Aristote, l’esprit ingénieux discerne ces propriétés les plus secrètes d’une substance. Il est en ce sens doué d’une profondeur de vue, d’une capacité analytique qui lui permettent de voir ce qui est invisible pour l’œil, de discerner ce qui échappait à l’intellect, de déployer ce qui était jusqu’alors replié et caché. Or dans le domaine musical, l’ingéniosité qu’évoque Kircher à propos du travail sur l’harmonie a bien à voir avec la perspicacité: le compositeur ingénieux discerne des possibilités d’agencements polyphoniques non évidents, inouïs, qui échapperaient à l’imagination et à l’esprit des compositeurs médiocres. Le musicien ingénieux perçoit tout ce qu’un agencement harmonique et polyphonique recèle en puissance, il identifie les possibilités d’enchaînement, d’inversion, d’infléchissement que présentent des accords ainsi que des motifs mélodiques et rythmiques. Ensuite intervient la seconde faculté, telle que la définit Tesauro: La Versabilità, velocemente raffronta tutte queste Circonstanze infra loro, ò col Suggetto: le annoda ò divide; le cresce ò minuisce; deduce l’una dall’altra; accenna l’una per l’altra; e con maravigliosa destrezza pon l’una in luogo dell’altra, come i Giocolieri i lor calcoli. Et questa è la Metafora, Madre delle Poesie, delle Argutie, de’ Concetti, de’ Simboli, & delle Imprese. Et quegli è più ingegnoso, che può conoscere & accopiar circonstanze più lontane, come diremo36. La Versatilité confronte avec vivacité toutes ces Circonstances entre elles, ou avec le Sujet; elle les noue ou les divise; les accroît ou les diminue; déduit l’une Cannochiale, 75. 75–76.

35  Tesauro, 36  Ibid.,

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de l’autre, fait allusion à l’une par l’autre; et, avec une admirable adresse, pose l’une à la place occupée par l’autre, comme font les escamoteurs avec leurs pions. Et telle est la métaphore, mère de la poésie, des idées ingénieuses, des pensées ingénieuses, des symboles et des devises. Et le plus ingénieux est celui qui peut connaître et assembler des circonstances plus lointaines, comme nous allons le dire.

La versatilité consiste en une faculté combinatoire accompagnée de vivacité, elle est donc un talent et non une technique scolaire. L’esprit ingénieux saisit les parties et les composantes de son sujet et explore toutes les possibilités d’agencement, en procédant par addition ou par retrait, par dilatation ou par contraction, par amplification ou par diminution, par substitution, inversion, division, liaison: la liste des possibilités n’est pas exhaustive. Lorsque Kircher, lui-même grand spécialiste de combinatoire, évoque l’agencement ingénieux des clausules harmoniques et des fugues (ingeniosum harmonicarum clausularum, fugarumque contextum), comment ne pas imaginer qu’il a ici à l’esprit la manière dont les compositeurs explorent les ressources combinatoires de l’écriture contrapuntique? Dans leurs fantaisies, leurs »recherches« (ricercate), leur ricercari, leurs toccate et leurs sonates, les compositeurs de musique instrumentale démontrent leur capacité à transformer leur argument initial de manières diverses, à déployer des imitations contrapuntiques complexes, à exploiter un sujet de fugue en l’assortissant d’une réponse puis de développements qui procèdent, justement, par dilatation, amplification, inversion, division, ajout etc. Une telle conception de l’écriture contrapuntique et fuguée, perçue comme emblématique de l’ingéniosité, n’est pas inédite. Elle est déjà attestée dans le troisième tome du Syntagma musicum, somme théorique de l’Allemand Michael Praetorius (1571–1621) fondée sur une profonde connaissance de la musique italienne37. Kircher a probablement lu cet ouvrage, au moins à l’époque où il étudiait en Allemagne, à Fulda puis à Paderborn38. Lorsque Praetorius définit les notions de capriccio et de »fantaisie instantanée« (phantasia subitanea), genres musicaux particulièrement appréciés, il met en avant des critères qui convergent avec ceux retenus par Kircher: 37  M. Praetorius, Syntagma musicum, tome I, Wittenberg, E Typographeo Johannes Richteri, 1615; tome II et III, Wolfenbüttel, Elias Holwein, 1619; rééd. facsimilé Kassel 2001. Sur ce théoricien, voir l’article correspondant dans: Stanley Sadie, John Tyrrell (éd.), New Grove dictionary of music and musicians, 2e éd., 20 vol., Londres 2001 [disponible en version numérique: Grove music online]. 38  Sur la probable connaissance par Kircher de l’ouvrage de M. Praetorius, voir Fletcher, A Study of the Life and Works of Athanasius Kircher, 93.

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Capriccio seu Phantasia subitanea: Wenn einer nach seinem eignem plesier und gefallen eine Fugam zu tractiren vor sich nimpt /  darinnen aber nicht lang immoriret, sondern bald in eine andere fugam, wie es ihme in Sinn kömpt /  einfället: Denn weil ebener massen /  wie in den rechten Fugen kein Text darunter gelegen werden darff /  so ist man auch nicht an die Wörter gebunden /  man mache viel oder wenig /  man digredire, addire, detrahire, kehre und wende es wie man wolle. Und kan einer solchen Fantasien und Capriccien seine Kunst und artificium eben so wohl sehen lassen39 […] Caprice ou Fantaisie instantanée: Lorsque quelqu’un entreprend, selon son propre plaisir et goût, de traiter une Fugue, sans pour autant s’attarder longtemps dessus, mais au contraire pour se lancer bientôt dans une autre fugue, selon ce qui lui vient à l’esprit: car de même que les véritables fugues ne peuvent être soutenues par aucun texte, de la même manière ici on n’est pas lié aux mots, on peut faire beaucoup ou peu, faire des digressions, des ajouts, des retraits, aller et bifurquer comme on le souhaite. Et l’on peut par de telles fantaisies et caprices laisser voir son art et sa maîtrise […]

Dans la définition de Praetorius, le capriccio n’est pas plus astreint à un sujet que ne l’est le stylus phantasticus chez Kircher. Il met en jeu la faculté combinatoire par laquelle l’esprit examine tous les liens possibles entre les composantes d’un objet. Si Praetorius, et Kircher ensuite, précisent que de telles compositions ne sont pas astreintes aux mots, c’est certes parce que le compositeur n’a pas à se soumettre à de quelconques considérations prosodiques lorsqu’il pratique le style contrapuntique instrumental. Mais c’est aussi, plus profondément, parce qu’il ne s’agit sûrement pas ici d’élaborer l’équivalent musical d’un discours oratoire complet, parfaitement structuré, qui déploierait ses parties pourvues d’arguments agencés avec rigueur et soin, dans un registre du discours uni et cohérent. L’enjeu est bien plutôt d’explorer les ressources d’une fugue qui est donnée comme improvisée: étant en cours d’élaboration, elle peut prendre plusieurs formes ou plusieurs directions. Le compositeur peut sans hésiter s’arrêter à une composante de cette fugue, établir des liens entre la fugue actuelle dans laquelle il est engagé et d’autres fugues possibles, c’est-à-dire d’autres fugues qui n’existent qu’en puissance jusqu’au moment où il se décidera à leur donner forme, mettant ainsi fin à la fugue précédente. Il peut procéder ainsi à ce qu’il convient d’appeler des associations d’idées musicales qui, dans les cas les plus extrêmes, inviteraient à passer, pour ainsi dire, du coq à l’âne. En ce sens, les observations de Tesauro, qui note que les esprits les plus ingénieux sont ceux qui parviennent à connaître et à associer les composantes les plus lointaines et les moins évidentes des sujets, convergent avec celles de Praetorius. 39  Praetorius,

Syntagma musicum, III, part. I, chap. VIII, 21.

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Pour des musiciens de l’époque de Kircher, une telle démarche a donc bien plus à voir avec les productions, en vers ou en prose, des esprits ingénieux qu’avec l’élaboration d’un discours oratoire de type traditionnel, cicéronien, parfaitement réglé. On songe volontiers à la manière dont Masen montre les multiples manières de combiner les arguments pour produire des séries d’épigrammes ingénieuses, ou encore à la technique combinatoire de Tesauro, qui permet de faire essaimer des pointes plus subtiles les unes que les autres, sur un ou plusieurs sujets donnés. La parenté entre les préoccupations intellectuelles de Praetorius, celles de Kircher et celles de Tesauro est d’autant plus nette lorsque le théoricien allemand définit l’art du ricercar, en ajoutant une éloquente conclusion en latin: […] Italis vocantur Ricercari /  Ricercare enim idem est, quod investigare, quaerere, exquirere, mit fleiß erforschen /  unnd [sic] nachsuchen; Dieweil in tractirung einer guten Fugen mit sonderbarem fleiß unnd nachdenken aus allen winkeln zusammen gesucht werden muß: wie uund off mancherley Art und weise dieselbe in einander gefügt /  geflocht /  duplirt, per directum & indirectum seu contrarium, ordentlich /  künstlich und anmuthig zusammen gebracht /  und biß zum ende hinaus geführt werden könne. Nam ex hac figura omnium maximè Musicum ingenium aestimandum est40 […] […] Les Italiens les appellent [les fugues] Ricercari. En effet Ricercare signifie »faire des investigations, chercher, rechercher«, examiner avec soin et chercher de manière approfondie: ceci parce que lors du traitement d’une bonne fugue on doit chercher avec beaucoup d’attention et de réflexion tous les mouvements de tous côtés; chercher comment et de quelles manières différentes celle-ci peut être combinée, tissée, dupliquée, par mouvement direct, indirect ou contraire, présentée d’une manière ordonnée, pleine d’art et agréable, et conduite jusqu’à son terme. C’est bien par cette allure générale avant tout qu’il faut juger de l’ingéniosité musicale […]

L’élaboration du ricercar fortement contrapuntique se pense comme une investigation minutieuse visant à explorer toutes les possibilités de combinaisons et reconfigurations d’un thème de fugue41. Si dès l’époque de 40  Ibid.,

21–22.

41  En ce sens, si l’on se rapporte à la terminologie attestée chez les musiciens des xvie–xviie siècles, le ricercar peut se distinguer, jusqu’à un certain point, de la ricer-

cata, la »recherche«, pièce instrumentale davantage pensée comme un prélude, moins élaborée et très déliée. La distinction entre ricercata et ricercar a été examinée par W. Kirkendale dans son étude »Ciceronians versus Aristotelians on the Ricercar as exordium, from Bembo to Bach« (Journal of the American Musicological society 32.1 (1979), 1–44) mais certaines de ses analyses sont remises en question par P. Walker dans »Rhetoric, the Ricercar and J. S. Bach’s Musical offering«, dans: D. R. Melamed (éd.), Bach studies 2, Cambridge 1995, 175–191.

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Praetorius des théoriciens de la musique – a fortiori ici un théoricien allemand – sont capables de proposer de telles définitions du ricercar, en considérant ce genre de composition comme l’occasion d’apprécier l’ingéniosité musicale d’un compositeur, c’est là le signe que la perception de l’ingéniosité comme faculté combinatoire impliquant perspicacité et versatilité est attestée avant d’être formalisée dans le discours théorique sur l’expression ingénieuse. On comprend mieux dès lors pourquoi Kircher qualifie le stylus phantasticus de »méthode de composition la plus libre et la plus déliée« (liberrima, & solutissima componendi methodus), qui n’est astreinte à rien. Le compositeur n’a pas à se tenir de manière austère et grave à un sujet, tel un prédicateur ou un orateur cicéroniens comme en a tant connus le Collegium romanum. Il doit tout au contraire ravir, surprendre, parfois même étonner – au sens fort du terme – son auditoire. Les enchaînements inattendus, les rapprochements, les transferts et les raccourcis de la pensée musicale font accéder à une perception et à une réflexion plus profondes et dans tous les cas, les fugues subtilement et curieusement ourdies, les clausules surprenantes, les harmonies et la composition très déliée (solutissima) des périodes musicales sont les clefs de ce style si particulier. Qu’elle soit d’ordre visuel ou auditif, l’expression ingénieuse est d’autant plus fascinante qu’elle s’accompagne de variété et s’accorde aux différents registres du discours. Ainsi, dans le domaine musical, les compositions instrumentales ingénieuses qui ressortissent à la catégorie du stylus phantasticus ne relèvent pas toutes du même registre et du même ton. Certaines pièces présentent, par leur verve instrumentale, le caractère piquant d’une épigramme, la vivacité de la prose épistolaire alerte et arguta, pleine de pointes, de bons mots et de saillies ingénieuses, ou, dans un registre assez proche, elles possèdent le charme d’une conversation à bâtons rompus, tout à la fois allant à sauts et à gambades et présentant une densité plus nerveuse, au gré des fulgurances ingénieuses du compositeur: qu’on pense aux toccatas pour clavecin et sonates curieuses de divers compositeurs italiens comme G. Frescobaldi, M. A. Rossi ou B. Marini. Mais l’élégance urbaine n’est pas le seul registre qui s’offre au compositeur désireux de faire valoir son argutezza musicale. Par contraste en effet, l’expression ingénieuse est parfois de nature sublime et grave, ce qui s’explique en partie par les points de convergence entre la tradition de l’argutezza et l’interprétation du traité Du Sublime du Pseudo-Longin42. 42  Sur ce point et plus généralement sur la réception du Traité du sublime du Ps.Longin en Allemagne, voir D. Till, Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2006, 243 sq. Sur

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Un tel usage de l’ingéniosité sublime est à prendre en compte tout particulièrement dans la seconde moitié du xviie siècle en Allemagne. En effet, si le Cannocchiale aristotelico de Tesauro ne propose pas de références au Traité du sublime, celles-ci deviennent en revanche fréquentes dans le discours germanique sur l’ingéniosité dès les années 1670: elles sont particulièrement marquées dans le De arguta dictione tractatus de Morhof43. Les théoriciens prêtent en outre une attention toute particulière à l’ingéniosité divine, qui est une espèce remarquable de l’ingéniosité sublime. Comme le précise Tesauro dans le Cannocchiale aristotelico (et d’autres après lui), la vertu de cette argutezza divine est de susciter l’admiration (ammiratione) et ensuite la vénération (veneratione) par la merveille (meraviglia), par un langage énigmatique qui n’est accessible qu’aux esprits les plus aiguisés44. Les exemples sont innombrables: les narrations de l’Écriture sainte tout comme la parole de Dieu lui-même procèdent volontiers par détours, par énigmes qui, cachant et voilant l’essentiel, invitent les auditeurs ou les lecteurs à accéder à un degré de compréhension supérieur, pour saisir toutes les implications de la parole sacrée: dans la formulation qu’en propose Tesauro, le déchiffrement de la parole divine arguta implique le dépassement du sens littéral et l’accès aux sens tropologique, allégorique et anagogique45. La référence à l’ingéniosité sublime et grave dans le domaine musical ouvre de multiples pistes d’analyse: elle invite à considérer sous un angle nouveau diverses pièces instrumentales composées pendant la seconde moitié du xviie siècle, par exemple certaines lamentations pour clavier de J. J. Froberger46. La topique de l’arguta dictio divine peut fournir de nouvelles clefs pour comprendre les quinze sonates du Rosaire (die Rosenkranzsonaten) pour violon et basse continue composées par l’Autrichien Heinrich Ignaz Franz Biber vers 1678. Lui-même étudia au collège jésuite de Troppau en Bohême et a donc dû être marqué par le goût de bien des la redécouverte du Traité du sublime en Italie à partir de la Renaissance, voir aussi M. Fumaroli, »Rhétorique d’école et rhétorique d’adulte: la réception européenne du Traité du sublime aux xvie et xviie siècles«, Revue d’Histoire Littéraire de la France 1 (1986), 33–51, repris dans: M. Fumaroli, Héros et orateurs: rhétorique et dramaturgie cornéliennes, Genève 1996, 377–398, et C. Nau, Le Temps du sublime. Longin et le paysage poussinien, Rennes 2005, 19–47. 43  Morhof, De arguta dictione tractatus, 2, 19, 22, 103 etc. 44  Tesauro, Cannocchiale, chap. III, 54 sq. 45  Ibid., 55. 46  Cf. par ex. J. J. Froberger, Lamento sopra la dolorosa perdita della R. Mstà di Fernandino IV, re de Romani; Lamentation faite sur la mort très douloureuse de Sa Majesté Impériale, Ferdinand le troisième, An. 1657; Méditation sur ma mort future.

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membres de la Compagnie de Jésus pour l’ingéniosité47. Chacune des quinze sonates de ce recueil est pourvue d’un titre qui renvoie à un épisode de la vie du Christ ou de la Vierge et elles présentent toutes les caractéristiques du stylus phantasticus, continuant aujourd’hui d’étonner et de fasciner, entre autres en raison de l’usage de la scordatura48. * Si la mise en rapport du stylus phantasticus avec les théories de l’argutezza apparaît féconde, c’est aussi parce qu’elle conduit à reconsidérer la nature même des compositions musicales produites par les esprits ingénieux. En effet, abordées selon cette perspective, certaines compositions instrumentales présentent des caractéristiques qui permettent de les désigner comme des »chimères musicales«. Pour des esprits aristotéliciens, les capricci, les ricercari et les fugues, lorsqu’ils sont conduits au gré des inventions d’un esprit ingénieux, ne sauraient se présenter comme des objets de discours parfaitement cohérents et ordonnés. Puisque le compositeur a toute latitude, notamment dans les capricci, pour abandonner un thème, combiner des développements, les inverser, les dilater, les manier en tous sens, non seulement ces pièces ne comportent pas un début, un milieu et une fin clairement reconnaissables mais encore les parties qui les composent ne sont pas proportionnées pour former un tout qui soit un et harmonieux. Le compositeur peut mutiler une section, c’est-à-dire un membre de sa fugue, pour l’explorer en lui-même et non plus comme la partie d’un tout. Il en fait soudainement l’objet de ses investigations, de ses »recherches« (ricercar). Ainsi, l’objet musical qui s’offre aux oreilles des auditeurs se métamorphose perpétuellement, tant le compositeur en distend, retranche, modifie, infléchit ou multiplie à plaisir les membres. L’esprit ingénieux a la virtuosité, dit Tesauro dans sa définition de la versatilité citée supra, d’un escamoteur, d’un prestidigitateur qui substitue et change de place des pions. Dans certaines circonstances, l’usage du stylus phantasticus est donc pour le compositeur l’occasion d’inviter ses auditeurs à observer sous toutes les coutures un corps musical hybride, dont les différents morceaux se lient d’une manière imprévue: en d’autres termes, il s’agit d’une chimère. H. I. F. Biber, voir l’art. du New Grove dictionary. sonates ont par exemple pour titre »L’Annonciation«, »La Visitation«, »La Nativité« etc. On entend par scordatura un accord inhabituel des quatre cordes du violon, c’est-à-dire un accord autre que »sol-ré-la-mi«. Il en résulte des possibilités instrumentales singulières. 47  Sur

48  Les

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Or la notion de chimère suscite un intérêt singulier chez un maître de l’ingéniosité comme Tesauro au milieu du xviie siècle, et plus largement chez des théoriciens de la poésie ou de la peinture qui, notamment au tournant des xvie et xviie siècles, se sont interrogés sur les doctrines platonicienne et aristotélicienne de l’imitation, n’hésitant pas à explorer les limites de celles-ci. Dans leurs écrits, ils mettent d’une part en question la notion de représentation; d’autre part ils valorisent l’imagination des artistes en évoquant les prestiges de l’imitation fantastique (imitatione phantastica). Quoi de plus difficile à représenter qu’une chimère, être qui n’existe pas dans le monde naturel et qui résiste donc à la représentation traditionnelle selon les canons aristotéliciens? Ou plus précisément, comment un poète, un peintre – ou un musicien comme je le soutiens dans la présente étude – peuvent-ils représenter une chimère, non pas platement et naïvement, par un laborieux assemblage de corps hétérogènes, mais avec une ingéniosité telle que la représentation semblera douée d’une paradoxale unité organique qui la rende vivante et crédible, et qui entraîne ainsi l’admiration et l’adhésion des spectateurs, des lecteurs ou de l’auditoire selon les cas? Dans le Cannocchiale aristotelico Tesauro précise, sur un ton élogieux, que les hommes ingénieux ressemblent à Dieu par leur capacité à faire exister ce qui n’existait pas: Peroche, sicome Iddio di quel che non è, produce quel che è; così l’ingegno, di non Ente, fà Ente: fà che il Leone divenga un’ Huomo; & l’Aquila una Città. Inesta una femina sopra un Pesce; & fabrica una Sirena per Simbolo dell’Adulatore. Accoppia un busto di Capra al deretano di un Serpe; & forma la Chimera per Hieroglifico della Pazzia. Onde fra gli antiqui Filosofi, alcuni chiamarono l’Ingegno, Particella della Mente Divina49 […] Parce que, tout comme Dieu produit, à partir de ce qui n’est pas, ce qui est: de même l’ingéniosité fait de ce qui n’est pas, ce qui est: elle fait que le Lion devient Homme; & l’Aigle une Cité. Elle greffe une femme sur un poisson et fabrique une Sirène, symbole du flatteur. Elle accouple un buste de Chèvre à la queue d’un Serpent et forme la Chimère, hiéroglyphe de la folie. D’où vient que certains parmi les philosophes anciens ont appelé l’ingéniosité »particule de l’esprit divin« […]

Grâce à l’usage des figures ingénieuses, désignées chez Tesauro par l’appellation générique de »métaphore«, l’esprit ingénieux fait voir un être à travers un autre, par exemple un homme ou un corps social par le biais d’un animal. Il produit ainsi – c’est l’exemple du lion et de l’aigle – des 49  Tesauro,

Cannocchiale, 76.

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emblèmes riches d’un sens figuré. De manière plus ambitieuse encore, il donne consistance à des êtres hybrides ou monstrueux – sirène, chimère – pour muer ceux-ci en signes, en symboles ou en hiéroglyphes qu’il revient au public de déchiffrer. De manière paradoxale dans un texte, le Cannocchiale aristotelico, entièrement fondé sur la relecture de la Rhétorique d’Aristote, ces êtres hybrides et monstrueux ne sont pas aristotéliciens, puisqu’il leur manque l’unité et la cohérence organiques. L’auteur le rappelle, si besoin était, en faisant allusion au tout début de l’Art poétique d’Horace: dans la lignée aristotélicienne, le poète latin désigne le corps poétique disharmonieux et désuni comme une créature monstrueuse, femme pourvue d’une queue de poisson50. Chez Tesauro, la réflexion sur la capacité de l’esprit ingénieux à engendrer ce qui ne saurait être engendré, à rendre visible ce qui est invisible, à représenter ce qui ne saurait être représenté, prend une portée considérable, par-delà le cas particulier des chimères, qui constituent l’exemple extrême de sa théorie. L’esprit ingénieux a la capacité de surmonter toutes les difficultés qui surgissent dans le processus de représentation. Tesauro, focalisant son attention sur le domaine pictural, célèbre différents peintres, dont le fameux Timanthe, qui mit en œuvre des procédés particulièrement ingénieux pour peindre par détour, par métonymie, par un rapport subtil, ce qui était par trop difficile à peindre de manière directe51. Dans son tableau du sacrifice d’Iphigénie, Timanthe dépeignit la douleur indescriptible, indicible, incommensurable d’Agamemnon en représentant ce père malheureux qui essuie ses larmes avec un linge. Le peintre, explique Tesauro, ne pouvait représenter directement le degré extrême de l’affliction sur le visage du personnage, il procède donc par un détour, en ayant l’idée de représenter, plutôt que le visage, un linge mouillé de larmes. Ainsi, par ce transfert (metafora), il s’est montré particulièrement habile, surmontant une difficulté de taille et décuplant l’effet pathétique de son tableau. Par un effet de gradation dans l’analyse de Tesauro, Apelle est considéré comme un peintre bien plus ingénieux encore: »Il a peint ce qui ne saurait être peint52.« Autrement dit, il a su donner consistance sensible à des idées abstraites, en l’occurrence il a su produire des représentations allégoriques particulièrement ingénieuses. Antiphile, quant à lui, a incarné en peinture l’idée de caprice en représentant un homme nommé Grillo, dont les gestes et le vêtement apparaissaient extrêmement Horace, Art poétique, v. 1–5. 76. Cf. Pline, Histoire naturelle, livre XXXV, chap. 36. 52  Tesauro Cannocchiale, 78: Pinxit ea quae pingi non possunt. Cf. Pline, Histoire naturelle, ibid. 50  Cf.

51  Ibid.,

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étranges; d’où vient que les peintres italiens qualifient leurs inventions capricieuses et grotesques de grilli53. En rapportant ces analyses de Tesauro au domaine musical, on peut donc considérer que les musiciens ingénieux, lorsqu’ils composent des fantaisies, des ricercari ou des sonates dont l’écriture apparaît curieuse, représentent eux aussi, mais par de purs sons cette fois, des idées ambitieuses, allégoriques, qui ne peuvent être évoquées de manière simple et directe. Ils représentent notamment l’idée de caprice et de fantaisie, à laquelle ils donnent consistance musicale en utilisant les procédés propres à leur art. C’est peut-être d’ailleurs là que réside la difficulté théorique majeure qui empêche Tesauro de célébrer l’ingéniosité musicale dans son ouvrage: on peut supposer que l’auteur du Cannocchiale aristotelico ne voit pas comment les sons musicaux, qui sont si immatériels et non figuratifs en eux-mêmes, pourraient engendrer des représentations ingénieuses variées qui deviennent de véritables symboles et hiéroglyphes. Pour lui peut-être, les capricci et les fantaisies des musiciens ne sauraient représenter autre chose que le caprice même, les chimères de l’imagination, la folie de l’esprit humain, ce qui limiterait de fait la portée de l’expression musicale ingénieuse. Dans une telle perspective, la musique instrumentale, si elle n’est pas sous-tendue, au moins indirectement, par un texte qui lui donne sens, reste trop rétive à la figuration, à la représentation d’un objet, et donc elle pèche par son caractère asémantique. Gageons toutefois que de telles réserves sont à nuancer, notamment dans le cas où des sonates instrumentales, par exemple celles de H. I. F. Biber, ou plus tard, en 1700, les sonates de la Musikalische Vorstellung einiger Biblischer Historien de Johann Kuhnau (1660–1722), sont sous-tendues indirectement par un texte biblique, celui qu’appelle le titre de chaque sonate. Notons que pour sa part, Kuhnau propose en outre pour chacune de ses sonates un résumé du texte biblique utilisé, qui permet d’envisager, grâce à une méditation ingénieuse pleine de sublime, la conduite musicale de la pièce54. Par un travail de composition pleinement argutus, la musique instrumentale phantastica de Biber ou de Kuhnau fait accéder l’auditeur avisé à un degré de compréhension supérieur, allégorique. Celui-ci est 78–79. Cf. Pline, Histoire naturelle, livre XXXV, chap. 37. Musikalische Vorstellung einiger Biblischer Historien, Leipzig, Immanuel Tietz, 1700; fac-similé Florence 2000. Par exemple, la première sonate s’intitule »Le combat entre David et Goliath« (Der Streit zwischen David und Goliath). Sur Kuhnau, prédécesseur de Johann Sebastian Bach à Leipzig, musicien extrêmement cultivé, fin connaisseur des textes de ses contemporains érudits, voir l’article du New Grove dictionary. 53  Ibid.,

54  J. Kuhnau,

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rendu possible par le lien figuré (au sens biblique et rhétorique), c’est-àdire métaphorique, indirect, qui s’établit entre le texte biblique, les méditations que celui-ci engendre et la composition instrumentale qui en résulte. En ce sens, il serait naïf d’aborder cette musique en y cherchant avant toute chose une description musicale littérale des épisodes bibliques, en espérant y trouver ces figuralismes musicaux qui, restant platement mimétiques et littéraux, sont de fait incompatibles avec l’énergie et le mouvement fulgurants (vivezze, schemata) propres à l’arguta dictio. * En conférant existence à des êtres hybrides, en faisant voir ce qui n’est pas visible en principe, en faisant entendre ce qui n’est pas audible d’ordinaire, en représentant ce qui résiste à la représentation, l’esprit ingénieux du poète, du peintre ou du musicien se révèle même sophiste, manipulateur. Tesauro, on l’a vu, utilise dans sa définition de la versatilité propre à l’esprit ingénieux l’image de l’»escamoteur« (giocoliero), terme rendu par celui de praestigiator dans la traduction latine. Or deux siècles plus tôt l’humaniste toscan Marsile Ficin, dans son commentaire du Sophiste de Platon, utilise lui-même le terme de praestigiator pour qualifier le sophiste, qui est désigné comme illusionniste et manipulateur55. Si l’esprit ingénieux, qu’il soit peintre ou musicien, est sophiste dans l’esprit de certains théoriciens, c’est parce qu’il s’adonne à ce qui, depuis la fin du xvie siècle en Italie, peut être qualifié d’»imitation fantastique«. Revenons à la définition du »style fantastique« proposée dans la Musurgia universalis, à cette »méthode de composition« pour les instruments qui n’est astreinte à rien, ni mots, ni sujet harmonique (nullis, nec verbis, nec subjecto harmonico adstrictus). Pour des lecteurs érudits de Kircher, la parenté entre le stylus phantasticus et l’imitatione phantastica définie par le théoricien italien Iacopo Mazzoni (1548–1598) dans son ouvrage Della difesa della comedia di Dante (1587) est notable. Mazzoni fut reconnu en son temps comme un érudit remarquable56. Les thèses qu’il développe et publie en 1587 pour défendre l’œuvre de Dante contre ses détracteurs ont tout à la fois suscité de vives controverses, fécondé le discours des théoriciens de la peinture et influé sur les théories 55  Voir M. Ficin, Commentaire du Sophiste, chap. XIV, cité dans: T. Chevrolet, L’idée de fable: théories de la fiction poétique à la Renaissance, Genève 2007, 582. 56  Sur I. Mazzoni, voir Cl. Scarpati, »Icastico e fantastico. Iacopo Mazzoni fra Tasso e Marino«, dans: Cl. Scarpati, Dire la verità al principe. Ricerche sulla letteratura del Rinascimento, Milan 1987, 231–269.

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de l’ingéniosité poétique57. L’un des points théoriques décisifs de l’ouvrage, longuement expliqué et développé dans la troisième partie, concerne la distinction entre deux modes d’imitation, l’imitation icastique (icastica) et l’imitation fantastique (phantastica58). Mazzoni s’appuie sur un passage du Sophiste de Platon qu’il commente et dont il infléchit considérablement le sens59: […] l’Imitatione può farsi in due modi, il primo de’ quali è quando si vanno imitando le cose, che sono fuori del nostro Intelletto, come per essempio fa il Pittore, quando rappresenta l’imagine di qualche huomo da noi conosciuto. Il secondo modo è quando l’Imitatore non rappresenta se non quelle specie, ch’egli ha concette nella sua phantasia. E in questa maniera non imita oggetto porto di fuori; ma solo il capriccio, e la phantasia sua60. […] l’Imitation peut se faire de deux manières; la première, quand on imite les choses qui se trouvent hors de notre intellect, comme fait par exemple le peintre lorsqu’il représente l’image d’un homme que nous connaissons. La seconde manière, quand l’imitateur ne représente rien d’autre que les espèces qu’il a conçues dans son imagination [phantasia]. Et dans cette manière, il ne représente pas un objet posé au-dehors, mais seulement son caprice et son imagination.

Dans l’imitation icastique, le poète ou le peintre représente des êtres, des sujets, dont l’existence hors de son esprit est attestée par l’expérience des sens, par l’autorité de l’histoire ou celle de l’Écriture sainte61. Par contraste, dans l’imitation fantastique, il forge des représentations qui naissent dans son esprit et n’ont pas à se réclamer d’une quelconque conformité avec les réalités extérieures ou le contenu des textes d’autorité. De ces analyses qui 57  Voir ibid., en particulier 262 sq. Dans le domaine poétique, le dialogue Del concetto poetico (1598) de Camillo Pellegrino (1527–1603), dont le poète Giambattista Marino est un protagoniste, apparaît marqué par la lecture de Mazzoni. 58  Sur les notions d’imitation icastique et fantastique, voir op. cit. et Cl. Scarpati et E. Bellini, Il Vero e il Falso dei poeti. Tasso, Tesauro, Pallavicino, Muratori, Milan 1990, 35–41 et 217–220, et T. Chevrolet, L’idée de fable, 579 sq. 59  La distinction entre imitation icastique et fantastique est initialement formulée dans Le Sophiste (264c) mais la première désigne alors l’imitation à l’identique d’un original, parfaitement proportionnée, tandis que la seconde désigne l’imitation déformée, qui joue sur les apparences et trompe le spectateur. On retrouve cette dernière dans la pratique du trompe-l’œil. 60  I. Mazzoni, Della difesa della comedia di Dante, Cesena, apresso B. Raverii, 1587, III, chap. II, 394. Cf. ibid.: »[…] l’autre est appelée ›fantastique‹ et elle est celle qui représente les idées de notre fantaisie, qui n’ont pas de rapport déterminé et ferme avec les choses de l’extérieur.« (»[…] l’altra vien nomata Phantastica, & è quella, che rappresenta i concetti della nostra phantasia, che non hanno certa, e ferma corrispondenza colle cose di fuori.«) 61  Ibid., 392 et 396.

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soulèvent d’innombrables difficultés et objections, Mazzoni tire une conclusion singulière et pour le moins iconoclaste: […] il vero, e perfetto Poeta è quello, che prende l’imitatione phantastica, e che per conseguente hà il falso, e la bugia per soggetto62. […] le véritable et parfait poète est celui qui choisit l’imitation fantastique et qui, en conséquence, a le faux et le mensonge pour sujet.

Pour le théoricien, c’est l’invention de fables, la mise en œuvre du faux, la production de simulacres qui sont le propre irréductible du poète, qui font sa dignité et le distinguent notamment de l’historien, qui pour sa part appuie son propos sur des événements attestés par diverses sources. C’est lorsqu’il forge des représentations nées de son seul esprit que le poète est pleinement poète. Étant donné la variété des productions des poètes anciens et modernes, qu’il lui faut accorder à son analyse, Mazzoni affine son argumentation en soulignant que parfois les poètes mêlent dans leurs œuvres, volontairement ou non, imitation icastique et imitation fantastique. Il en va ainsi des fables »fantastiques« inventées par les païens dans l’Antiquité et qui se révèlent, dans une lecture chrétienne, narrer un épisode de l’Écriture sainte: elles deviennent ainsi icastiques a posteriori63. Le poète mélange aussi les deux types d’imitation lorsqu’il emprunte pour sa fable un sujet connu et lui adjoint des éléments qui sont de sa propre invention. Les thèses de Mazzoni eurent un écho considérable64. Chez un théoricien comme Gregorio Comanini (1550–1608) par exemple, qui transpose les notions dans le domaine de la peinture, la reprise de la distinction entre imitation icastique et imitation fantastique s’inscrit dans le cadre d’une réflexion sur les êtres mythologiques dépourvus d’existence véritable, »tritons, sphinges, centaures et autres montres fabuleux de ce genre« et sur les anges et les démons. Les protagonistes du dialogue disputent notamment sur la question de savoir si la représentation de ces derniers est de nature icastique ou fantastique, ce qui suscite une argumentation passablement sophistiquée65. Esprit féru d’érudition, Kircher a pu lire Mazzoni et assimiler ses propositions ainsi que les reformulations ultérieures qu’en ont proposées 62  Ibid.,

395. 395  sq. 64  Voir Cl. Scarpati, »Icastico e fantastico«, 260 sq. 65  G. Comanini, Il Figino overo del fine della pittura, Mantoue, Osanna, 1591, 256 sq. Pour une éd. moderne, voir Trattati d’arte del Cinquecento, a cura di P. Barocchi, III, Bari 1962. 63  Ibid.,

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d’autres théoriciens. C’est ce que laisse penser du moins sa définition du stylus phantasticus. En effet, le compositeur de musique instrumentale apparaît bien sophiste à l’image du poète en ce sens que le propre du type de composition qu’il pratique est de n’être astreint à rien (nullis adstrictus), ni mots ni sujet harmonique (nec verbis nec subjecto harmonico) qui relèveraient d’une topique musicale »icastique« établie par la tradition. C’est cette liberté d’invention musicale qui rend le stylus phantasticus fondamentalement différent des autres styles, »très libre« (liberrimus) et »très délié« (solutissimus), »extravagant« (stravagante) diraient certains érudits italiens66. Si l’on accepte l’idée que le texte de Kircher s’inscrit dans une telle perspective théorique, on comprend mieux aussi pourquoi le jésuite présente le stylus phantasticus comme une »méthode de composition« (componendi methodus) plutôt que comme un genre ou un style à proprement parler: l’essentiel, dans cette définition, est bien le mode (et non pas le style) de composition choisi, fantastique par opposition à icastique67. Dans le détail, les mélanges subtils entre imitation icastique et fantastique longuement exposés et examinés par Mazzoni à propos de la composition poétique ont leur équivalent dans le domaine de la musique instrumentale: un compositeur peut mêler écriture musicale icastique et fantastique. Par exemple, lorsque J. J. Froberger choisit précisément comme thème initial de sa fameuse fantaisie pour clavier sur ut, re, mi, fa, sol, la cette suite de notes composant l’hexacorde, il recourt au mode icastique: le motif mélodique en question est en effet attesté chez les compositeurs, il participe de la topique musicale. Mais lorsque le même Froberger le traite et le développe avec ingéniosité, en imaginant les agencements harmoniques, mélodiques et rythmiques inattendus, voire inouïs, qu’on peut en tirer pour produire un tissu contrapuntique complexe, la composition participe du mode phantasticus et c’est alors que le compositeur s’illustre pleinement dans son art, révélant ce qui était jusqu’alors latent, ce qui, 66  Parfois, les qualificatifs liberrimus ou solutissimus se rendent en italien par l’adjectif stravagante, »extravagant«. Voir par exemple la manière dont le philologue italien Annibal Caro (1507–1566), dans sa traduction italienne de la Rhétorique d’Aristote, rend par l’adjectif stravagante l’expression latine maxime liber (»extrêmement libre«) de la traduction latine de Ermolao Barbaro (1454–1493). Le qualificatif s’applique en l’occurrence aux exordes de discours épidictiques qui sont désignés comme très déliés (cf. Aristote, Rhétorique, III, 14). Voir A. Caro, Rettorica d’Aristotile fatta in lingua toscana, Venise, al segno della Salamandra, 1570, chap. XIV, 246; cf. Aristote, Rhetoricorum Aristotelis libri tres, interprete Hermolao Barbaro; commentaria in eosdem Danielis Barbari, Venise, Pauli Gerardi, 1544, III, chap. XX, 183vo. 67  Pour des analyses sur la conception du stylus phantasticus comme genre ou méthode de composition, voir Brewer, The instrumental music, 26.

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pour parler en termes aristotéliciens, était présent seulement en puissance dans le thème. C’est alors qu’il est parfaitement compositeur, de la même façon que le poète est le plus pleinement et parfaitement poète, dit Mazzoni, lorsqu’il s’illustre par ses inventions fantastiques. Le mélange entre mode icastique et fantastique est également perceptible lorsqu’un compositeur comme J. J. Walther propose dans ses Scherzi da violino solo68 (1676) une sonate intitulée Imitatione del Cuccu, »Imitation du coucou69«. Le son typique du coucou, attesté par l’expérience, est de nature icastique mais la composition instrumentale ingénieuse qui l’inclut et l’utilise dans une »curieuse« sonate, selon le vocabulaire de l’époque, est quant à elle de nature fantastique. L’identification de la part respective des motifs icastiques et du traitement musical fantastique dans une composition musicale constitue peutêtre une part essentielle du plaisir de l’écoute pour les esprits cultivés de l’époque. Dans une telle hypothèse en effet, l’auditeur averti et connaisseur des ressources de l’ingéniosité focalise son attention davantage sur l’invention fantastique, qui révèle l’habileté du musicien, et non pas tant sur l’imitation musicale icastique, qui certes séduit de manière immédiate par le sentiment de familiarité qu’elle suscite, mais peut paraître participer d’un effet facile et un peu naïf, tant ce dernier s’accorde peu avec l’idée de la prouesse ingénieuse. En d’autres termes, dans de telles compositions musicales, le motif icastique est clair, affiché, exhibé, tandis que les développements ingénieux et fantastiques produisent des effets dissimulés, dérobés, non évidents, qui invitent l’auditeur à une écoute plus subtile et plus poussée car elle implique un déchiffrement. * Certes ces élaborations capricieuses, fantastiques, voire sophistiques, sont curieuses et bizarres pour l’oreille et l’esprit, néanmoins il est inimaginable, à la fin du xvie comme au xviie siècle, que les prouesses ingénieuses s’imposent de manière tyrannique et sans mesure: l’arguta dictio doit être nécessairement accompagnée du jugement (judicium), qui la tempère et la tient sous la bride, l’empêchant ainsi de verser dans la licence effrénée. Sans ce juste équilibre, la composition perd sa capacité de persuasion auprès du public70. Scherzi da violino solo, s. l., 1676. s’entend ici au sens de »représentation«. 70  Voir les analyses de Chevrolet, L’idée de fable, 585 sq. L’audace de certaines métaphores ingénieuses dans le Cannocchiale aristotelico a notamment indisposé les 68  J. J. Walther, 69  »Imitation«

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En ce domaine, par l’effet du paragone, le »parallèle des arts«, les compositeurs doivent assurément, dans leurs œuvres, observer les mêmes règles générales que les peintres. Or dans l’art pictural, la théorisation du dessin fantastique (disegno fantastico) se révèle riche d’enseignements. C’est ainsi que Federigo Zuccaro (ou Zuccari, 1542 ou 1543–1609), dans L’idea de’ pittori, scultori ed architetti, traité publié en 1607 à Turin, la ville même où fut édité le Cannocchiale aristotelico en 1654, analyse avec soin la manière dont le dessinateur doit pratiquer les inventions (invenzioni), caprices (capricci), choses variées et fantastiques (cose varie e fantastiche) qui lui permettent d’enrichir, d’orner et d’embellir ses compositions71. Zuccaro pense en l’occurrence à toutes les représentations ornementales qui, à l’instar des grotesques, viennent parer des supports variés72. Dans sa nomenclature, cette troisième espèce de dessin qu’est le disegno fantastico n’est astreinte à aucun sujet: Questa terza specie è quella, che rappresenta tutto quello, che la mente umana, la fantasia, ed il capriccio di qualsivoglia arte può inventare73. Cette troisième espèce est celle qui représente tout ce que l’esprit humain, la fantaisie et le caprice de quelque art que ce soit peuvent inventer.

Si le peintre veut s’illustrer dans de telles compositions, il est nécessaire, souligne le théoricien, qu’il observe une règle déterminée, qu’il suive la érudits allemands: Morhof adresse un reproche très net à Tesauro pour ce genre d’excès (De arguta dictione, 25). 71  F. Zuccaro, L’Idea de’ pittori, scultori ed architetti [1607], Rome, nella stamperia di Marco Pagliarini, 1768, I, chap. IV, 89. 72  Les fresques de la Domus aurea de Néron, à Rome, avaient été découvertes à la fin du xve siècle, marquant la renaissance de l’art des »grotesques«. Notons que les observations du célèbre théoricien toscan Giorgio Vasari (1511–1574) sur les grotesques, dans ses Vite de’ più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani … (Florence, per i tipi di Lorenzo Torrentino, 1550; rééd. Turin 1986, introduzione, chap. XXVII, 73) présentent elles aussi de nombreux points de convergence avec la définition du stylus phantasticus de Kircher et les considérations de Tesauro sur les chimères. L’art ancien des grotesques, explique Vasari, fut une forme de peinture pleine de licence (licenziosa) qui permettait de faire »des déformations monstrueuses, effet de l’extravagance de la nature et du caprice et de la fantaisie bizarre des artistes; ces derniers faisaient toutes ces choses sans aucune règle, attachant à un fil très fin un poids qu’il ne saurait supporter, à un cheval des pattes faites de feuilles, à un homme des pattes de grue, et un nombre infini de bizarreries et de jeux espiègles; et celui dont l’imagination était la plus étrange était tenu pour le meilleur.« (»tutte sconciature di mostri, per stranezza della natura e per gricciolo e ghiribizzo degli artefici, i quali fanno in quelle cose senza alcuna regola, appiccando a un sottilissimo filo un peso che non si può reggere, a un cavallo le gambe di foglie, e a un uomo le gambe di gru, et infiniti sciarpelloni e passerotti; e chi più stranamente se gl’immaginava, quegli era tenuto più valente.«) 73  Zuccaro, L’Idea de’ pittori, I, chap. IV, 86.

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voie moyenne, autrement dit la juste mesure, et qu’il observe la convenance (decoro74). Les ornements que sont les grotesques et les caprices, comme on les trouve illustrés dans toutes sortes d’œuvres picturales ou architecturales, mais aussi dans la statuaire, doivent être pleins de variété et d’abondance. Toutefois on doit y percevoir, non pas une folle vivacité, mais la promptitude de l’esprit à disposer et à ordonner (la prontezza al disporre, e ordinare75). Notons que cette idée trouve un écho dans le Cannocchiale aristotelico, précisément dans le passage où Tesauro définit et célèbre les qualités de vélocité brillante propres à l’esprit ingénieux. Ces précisions de Zuccaro signifient bien que le souci de la structure persiste dans des compositions qui doivent être autant le fruit de l’ingéniosité inspirée (spiritoso ingegno) que du bon jugement (buon giudizio76). De fait, son propos est confirmé par l’expérience: dans les grotesques ou les chimères des peintres par exemple, les parties qui composent le tout surprennent, elles relèvent de l’artifice et non de la nature, mais elles peuvent être cernées une à une par l’œil et l’esprit. La finesse, la clarté du dessin et des détails contrastent de manière saisissante avec le caractère »fantastique« du tout, qui n’a aucune réalité dans la nature. A contrario, si la composition verse dans l’obscurité et la confusion, elle ne saurait plus produire ces »lumières du discours« (lumina orationis / vivezze), qui sont indispensables dans la composition ingénieuse77. Dans l’esprit des lettrés et des artistes du xviie siècle, l’ingéniosité fantastique ne signifie donc pas la pure et simple dissolution du dessin et des structures, que ce soit dans le domaine pictural ou musical, gageons-le. Bien au contraire, les grotesques, les chimères et autres élaborations fantastiques les plus capricieuses ne suscitent l’admiration et l’approbation que si elles sont conçues avec une variété et une clarté de composition extrêmes. Encore faut-il noter que leur succès ne saurait être universel: les tenants du maniérisme et de l’ingéniosité les apprécieront sans conteste, les esprits aristotéliciens et cicéroniens en revanche resteront toujours en 74  Ibid. 75  Ibid.,

87. le Cannocchiale aristotelico (loc. cit., 76), Tesauro évoque les enjeux et les mérites respectifs de l’ingegno et de la prudenza, jugeant cette dernière plus sensée (sensata) et le premier plus perspicace (perspicace). Il concède que les esprits ingénieux connaissent un destin moins heureux que les esprits sages. 77  Morhof insiste bien (De arguta dictione, sect. I, chap. I, 28) sur la nécessité de la clarté (perspicuitas) dans l’expression ingénieuse. Le plus grand défi qui s’impose à l’esprit ingénieux est probablement là: l’enjeu de l’expression arguta est d’illuminer l’esprit mais les moyens mis en œuvre, figures elliptiques, hiéroglyphes et emblèmes, comportent volontiers une part d’obscurité. 76  Dans

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quelque façon rétifs à ces prouesses ingénieuses, surtout si la convenance, le jugement et la mesure en sont absents. C’est bien là que réside toute la difficulté: la frontière peut apparaître singulièrement labile entre la représentation d’un corps chimérique séduisant, fruit d’un art maîtrisé, et celle d’un corps monstrueux, démembré, qui est interprété comme le signe d’un échec ou d’un style vicieux. C’est ainsi que dans la préface de son livre de motets à cinq voix (1614), le musicien Alessandro Grandi (ca. 1585?–1630), contemporain et collègue de Claudio Monteverdi, déplore d’avoir à entendre des chimères musicales. En l’occurrence, celles-ci naissent d’une prononciation maniérée, dévoyée et histrionique, qui a les faveurs de certains dans la musique vocale: […] i quali con gl’intempestivi e troppo spessi rompimenti delle note turbano ed oscurano i sereni corsi dell’orazione, e coi troppi ingordi raggiramenti sbranano le parole, divorano la loro chiarezza e con varie code d’inanimati passaggi rappresentano mostri e chimere a chi li ascolta78. […] lesquels, par les ruptures intempestives et trop fréquentes des notes, troublent et obscurcissent le cours serein du discours; par des détours79 avides, excessifs, ils démembrent les paroles, ils engloutissent leur clarté et par les queues variées de passaggi80 sans âme ils représentent à qui les écoute des monstres et des chimères.

Si les oreilles et l’esprit de Grandi sont incommodés par les chimères et les monstres, c’est non seulement parce que l’auteur, ici comme dans tout le reste de sa dédicace, souscrit à un idéal clairement aristotélicien et cicéronien, mais aussi parce que les chimères et monstres en question naissent de la déformation du discours qu’engendre une prononciation vicieuse. Le corps de la composition musicale perd son unité organique par l’accumulation immodérée des ornements de la prononciation qui causent ruptures, hoquets, perturbations et autres soubresauts. Les effets de détail prenant le pas sur la cohérence et l’harmonie du tout, la pièce n’est plus qu’un amas obscur de membres épars. Ce qui est dit ici de la musique vocale vaut pour la musique instrumentale: si chimère il y a, celle-ci doit être le fait du compositeur, du musicien qui improvise des fugues capricieuses, et non l’effet d’une prononciation inappropriée. L’examen de la fécondité des théories de l’ingéniosité rapportées à la musique instrumentale présente donc un triple intérêt, celui d’une réflexion 78  Cité dans: L. Bianconi, Storia della musica IV. Il Seicento, Turin 1982, 128. Sur Alessandro Grandi, voir ibid., 127 sq. 79  Le terme de raggiramenti désigne les tours et détours du discours, mais aussi les ruses trompeuses. 80  On entend par passaggi des suites de notes ajoutées par le chanteur, qui permettent le »passage« entre deux notes non-conjointes.

Du stylus phantasticus aux chimères musicales

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sur la composition, l’écoute et la prononciation. L’ingéniosité musicale s’illustre dans un agencement des idées musicales curieux, et parfois même extrêmement étrange. Il revient ensuite à l’instrumentiste, qui souvent ne fait qu’un avec le compositeur au xviie siècle, de prononcer cette composition instrumentale phantastica avec netteté, clarté et convenance, c’est-àdire avec ce jugement, ce discernement, cette discrétion qui, à en croire les théoriciens, distinguent les grands artistes des médiocres81. La prononciation doit rendre sensible le caractère saisissant, argutus, et à terme lumineux, de la pièce, doit le cas échéant donner chair et vie à une saisissante chimère musicale. Tout doit être mis en œuvre afin que l’auditeur, en dernier lieu, puisse s’étonner des aspérités de la composition, de ses raccourcis ingénieux et de ses saillies étranges qui prendront sens de manière fulgurante, suscitant ainsi le plaisir et l’admiration. La définition du stylus phantasticus par Athanase Kircher constitue donc un témoignage et une invitation à la réflexion pour de multiples raisons. D’une part, d’un point de vue idéologique et esthétique, elle range manifestement le théoricien polymathe et polygraphe du côté des adeptes de l’ingéniosité, à une époque où la Compagnie de Jésus en général et le Collegium romanum en particulier sont en train de s’affranchir d’une doctrine cicéronianiste maintes fois contestée. D’autre part, lue à travers le prisme de la culture conceptiste, elle invite à reconsidérer des modes de composition, d’écoute et de prononciation partagés par les esprits cultivés dès la seconde moitié du xvie siècle et au moins jusqu’à la fin du xviie siècle. Enfin, elle donne consistance à la notion de »chimère musicale«, qui désigne les compositions instrumentales les plus déliées. Cette idée n’est certes pas attestée chez Tesauro lui-même mais elle semble appelée par le mode de pensée conceptiste. Produits de la fantaisie de compositeurs sophistes et poètes, qui les engendrent aussi bien par l’improvisation que sur le papier, les chimères musicales illustrent la perspicacité et la promptitude d’esprit de leurs ingénieux auteurs, habiles à disposer d’une manière curieuse des idées musicales inouïes ou venues de loin. Pour faire honneur à ces créatures sonores, les musiciens d’aujourd’hui gagneront à les pro81  Prononcer les pièces instrumentales »fantastiques« dans un élan débridé qui affecterait par des soubresauts la bizarrerie fantasque n’a guère de sens dans le contexte du xviie siècle où, par-delà la diversité des manières, il en va dans le domaine musical comme dans le domaine pictural: c’est bien la composition – son sujet (inventio), la conformation de celui-ci (dispositio) et le choix des ornements (elocutio) – qui est bizarre, fantastique. En revanche, dans la réalisation, c’est-à-dire par exemple dans l’actualisation de l’idée picturale par le geste, par la plume du dessinateur ou par le pinceau du peintre, chaque détail, chaque composante de l’être fantastique est représenté de manière claire pour l’œil: c’est à ce prix que le spectateur peut contempler une représentation grotesque ou une chimère, l’admirer et s’en étonner.

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noncer d’une manière telle que les auditeurs puissent en examiner à loisir la bigarrure curieuse et la singulière variété, tout en étant saisis de temps à autre par des développements étranges qui nécessitent un temps de réflexion avant que l’esprit ne trouve la clef qui permet de les comprendre et de les admirer.

Deutschland im Spiegel der öffentlichen Meinung Englands vor dem Ersten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung des Werks von H. G. Wells Von Heinz-Joachim Müllenbrock Die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges ist ein in den historischen Disziplinen zurzeit besonders intensiv diskutiertes Thema. Der folgende Beitrag zeigt, welche Einblicke in den englischen Meinungsbildungsprozess in Bezug auf Deutschland sich aus der Perspektive eines politisch gut vernetzten Autors gewinnen lassen, dessen Werk im öffentlichen Diskurs fest verankert war. In Katherine Mansfields 1911 veröffentlichter Kurzgeschichte Germans at Meat heißt es pointiert über einen Deutschen: »He fixed his cold blue eyes upon me with an expression which suggested a thousand premeditat­ ed invasions«!1 Was wie ein Ausbruch von Phantasie anmutet, hat seinen festen Sitz im Leben – nämlich im politischen Leben Englands. Mansfields für damalige englische Leser keineswegs aus dem heiteren Himmel kommender Propagandablitz bedient mit seiner formelhaften Dichte das mittlerweile auf der Insel fest verankerte Klischee der mit kaltem Vorbedacht ihre langfristig angelegte aggressive Politik systematisch verfolgenden Deutschen und läßt die einige Jahre zuvor auf dem Höhepunkt befindliche Invasionshysterie nachklingen. Dieses Feindbild hatte die noch um 1870 intakten Vorstellungen von Deutschland als Heimstätte der Dichter und Denker abgelöst.2 Dieser einschneidende Paradigmenwechsel, dessen entscheidende Phase nachstehend in elementarer Kürze vergegenwärtigt sei, war das Werk eines zielstrebig betriebenen politischen Steuerungsprozesses, in dem der PubliMansfield, In a German Pension, Harmondsworth 1964, 10. allmählichen Erosion dieses traditionellen Vorstellungskomplexes siehe Heinz-Joachim Müllenbrock, »Trugbilder: Zum Dilemma imagologischer Forschung am Beispiel des englischen Deutschlandbildes 1870–1914«, Anglia 113 (1995), 303–329. 1  Katherine 2  Zur

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zistik eine Vorreiterrolle zufiel. Bereits um die Jahrhundertwende wurden die Weichen für die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges ausschlaggebende Beurteilung des Deutschen Reiches gestellt. Noch während der Sondierungen betreffs eines deutsch-englischen ›Bündnisses‹ eröffneten die drei wichtigsten konservativen – im üblichen zeitgenössischen Sprach­ gebrauch: unionistischen – Blätter Englands, die Times, John St. Loe Stracheys Spectator und Leo J. Maxses National Review, um die Wende 1900 / 1901 im Zuge der Irritationen um Burenkrieg und Venezuelakrise eine umsichtig orchestrierte Pressekampagne, in der eine Neuorientierung der britischen Deutschlandpolitik gefordert wurde.3 Einer Neuausrichtung der britischen Außenpolitik, wie sie Maxse in seinen Ende 1901 begonnenen aufsehenerregenden antideutschen, auf eine hegemoniale Allianz Englands mit Frankreich und Russland dringenden »A.B.C. etc.«-Aufsätzen verfocht, redete schon J. L. Garvin in einer Reihe spektakulärer Artikel in der Fortnightly Review (zwischen August 1900 und Dezember 1901) das Wort, in denen er Deutschland zum eigentlichen Widersacher Englands erklärte. Infolge der Neubewertung Deutschlands durch die radikale, imperialistisch gesinnte Rechte wurde dem wilhelminischen Reich, dessen straffe Organisation man bewunderte, aber dessen geopolitische Verwundbarkeit man mit Befriedigung registrierte, das Etikett einer rücksichtslos nach Expansion strebenden und machiavellistisch agierenden Militärmacht aufgedrückt. Solche Stereotypisierungen eines militaristischen PreußenDeutschlands durchziehen auch das berühmte Memorandum Sir Eyre Crowes vom 1. Januar 1907, das der liberalen Regierung als außenpolitischer Wegweiser dienen sollte.4 Dieses Etikett ist es nicht mehr losgeworden, denn die Kreise, die den Umschwung in der englischen Haltung Deutschland gegenüber initiierten, errangen rasch die Diskurshoheit, die sie bis Kriegsausbruch behaupteten. In den folgenden Jahren verfestigten sich antideutsche Bekundungen zu habituellen Gesten im politischen Meinungsbildungsprozeß Englands. An ihm war seit den Tagen Swifts und Defoes auch die Literatur beteiligt. Die Schriftsteller, die nicht selten ebenfalls journalistisch tätig waren, gehörten zusammen mit Journalisten zu dem dicht gespannten Netzwerk, 3  Zur detaillierten Kontextualisierung dieser folgenreichen publizistischen Strategie siehe Dominik Geppert, Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen (1896–1912), München 2007, 179 ff. 4  Zur einseitigen publizistischen Verankerung dieses wichtigen Dokuments siehe Andreas Rose, Zwischen Empire und Kontinent. Britische Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, München 2011, 372 f.



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das – anders als in der staatlich gelenkten, bürokratischen Pressepolitik des deutschen Kaiserreichs – auf informellen persönlichen Beziehungen beruhte und eine durch intensiven Gedanken- und Informationsaustausch gekennzeichnete festgefügte kommunikative Gemeinschaft darstellte, mit der die Politiker in regelmäßigem Kontakt standen.5 Die Abstimmung zwischen Politik und Publizistik war trotz der im Inselreich offiziell lockereren Bindungen zwischen diesen Bereichen, die englische Regierungsmitglieder bei diplomatischen Beschwerden regelmäßig auf die Unabhängigkeit der Presse pochen ließen, nicht weniger eng als im wilhelminischen Deutschland mit seinem Pressereferat im Auswärtigen Amt. Obwohl die Literatur nicht die gleiche Bedeutung wie die Presse für politische Weichenstellungen beanspruchen kann, dokumentiert sie die Nachhaltigkeit der von letzterer angestoßenen außenpolitischen Neuausrichtung und zeigt die erstaunliche Breite eines nationalen Willensbildungsprozesses mit ihrem spezifischen Wahrnehmungspotential an. Literatur und Presse wirkten im Interesse synergetischer Effekte zusammen. An einem besonders erkenntnisreichen Beispiel sei deshalb die Mitwirkung der als Multiplikator fungierenden Literatur an der Positionierung Englands dem Deutschen Reich gegenüber veranschaulicht. H. G. Wells, einer der prominentesten Autoren der Zeit, war ein präziser politischer Seismograph, sein literarisches Werk, dessen zeitgeschichtliche Relevanz bloß auf Aktenfunde erpichte Historiker verblüffen muß, Resonanzboden für die Entwicklung der deutsch-englischen Beziehungen.6 Bereits im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ließ Wells im Medium utopischer Schriften wie When the Sleeper Wakes (1899) Vorbehalte gegenüber Deutschland und entsprechende profranzösische Neigungen durchblicken. Diese Sympathielenkung fand ihre Fortsetzung in den um die Jahrhundertwende zuerst in der Fortnightly Review veröffentlichten und 1901 in Buchform unter dem Titel Anticipations erschienenen Essays. Im Kontext seiner soziologisch-spekulativen Zukunftserkundungen sagt Wells die genaue Mächtekonstellation beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges 5  Eine ausführliche Charakterisierung dieses Netzwerks bietet der informative Aufsatz von Andreas Rose, »Der politische Raum Londons und die öffentlichen Beziehungen zwischen England und Deutschland vor 1914«, in: Frank Bösch u. ­Peter Hoeres (Hgg.), Außenpolitik im Medienzeitalter. Vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Göttingen 2013, 95–121. 6  In den öffentlichen Diskurs eingebettete, aber inhaltlich weiter ausgreifende Interpretationen von Wells’ hier herangezogenen Schriften enthält das Buch von Heinz-Joachim Müllenbrock, Literatur und Zeitgeschichte in England zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Hamburg 1967.

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mit der Gegnerschaft Englands zu Deutschland voraus! Zur Eindämmung deutschen Expansionsdrangs faßt der hier zweifellos im Bannkreis des oben erwähnten publizistischen Netzwerks stehende Autor vereinte militärische Anstrengungen der späteren Partner der Tripelentente ins Auge: »Moreover, before Germany can unify to the East she must fight the Russian, and to unify to the West she must fight the French and perhaps the English, and she may have to fight a combination of these powers«.7 Diese erstaunliche Prognose ist ein Beweisstück für die enge Verzahnung von Literatur und Presse im Prozeß nationaler Meinungsbildung im kompakten politischen Raum Londons. Eine seismographische Qualität darf auch seiner Utopie A Modern Utopia (1905) zugeschrieben werden. In der Aussparung Deutschlands aus der hier herbeigewünschten Völkersynthese bestätigt sich Wells’ bisherige Einstellung diesem Land gegenüber, während die Einbeziehung Italiens in diese von England, Frankreich und den Vereinigten Staaten geführte internationale Gemeinschaft die Entfremdung Italiens von seinen Dreibundpartnern widerspiegelt. Ein Jahr später war in seiner Erzählung In the Days of the Comet (1906) zum ersten Mal offen und ausführlich von einer direkten deutsch-englischen Konfrontation die Rede. Die detaillierten militärischen Operationen, die Wells insbesondere bei der Darlegung der Kriegsstellung zur See und der anglo-französischen Zusammenarbeit ins Auge faßt, lassen auf Insider-Wissen über die seit der ersten Marokko­ krise im Jahr 1905 eingeleiteten geheimen englisch-französischen Militär­ absprachen schließen. Eine Hauptschuld an der von dem Autor bedauerten kriegerischen Auseinandersetzung wird bemerkenswerterweise der die Öffentlichkeit unverantwortlich aufputschenden englischen Massenpresse gegeben, die das Unbehagen über die deutsche Flottenrüstung zu antideutscher Stimmungsmache in den sogenannten ›navy scares‹ instrumentalisiert habe. Bald darauf kehrte Wells zur gängigen deutschlandpolitischen Linie der englischen Medienlandschaft zurück und schrieb mit The War in the Air (1908) sein giftigstes Propagandawerk, in dem der mit Nietzscheschen Zügen ausgestattete Prinz Karl Albert die Dämonisierung Deutschlands symbolisiert. Darin wird unter konzentrierter Aufbietung sämtlicher antideutscher Stereotypen vor dem deutschen Hegemoniestreben gewarnt, indem den schon damals von England umworbenen Amerikanern die Aggressivität des technisch fortschrittlichen Kaiserreichs mittels eines 7  H. G. Wells, Anticipations of the Reaction of Mechanical and Scientific Progress upon Human Life and Thought, London 1902, 256. Wells’ Verlag Chapman & Hall war Besitzer der Fortnightly Review.



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Luftflottenangriffs auf die Vereinigten Staaten suggeriert wird. Dieses Buch, das sich wie eine literarische Veranschaulichung des Deutschland in einem spektakulären Artikel wie The German Peril8 zugeschriebenen Aggressionswillens liest, war der sinnfällige Ausdruck des auch in der Literatur artikulierten Bewußtseins von einer unvermeidlichen deutsch-englischen Gegnerschaft. In seinem ausgleichend-versöhnlich gestimmten Roman Howards End (1910) hat E. M. Forster diesen tragische Verstrickungen ahnen lassenden Gegensatz am Beispiel des Beziehungsgeflechts zwischen einer englischen und einer deutschen Familie thematisiert. Ähnlich wie in Wells’ Erzählung In the Days of the Comet wird gegen die auf Sensationseffekte bedachte Massenpresse beider Länder der Vorwurf erhoben, einen blinden und allzu billigen Antagonismus anzuheizen und den Krieg so immer wahrscheinlicher zu machen.9 Die letztlich eingetretene politische Entwicklung stellt dem zeitgeschichtlichen Sensorium dieser Autoren ein glänzendes, allerdings aus der Rückschau mit bitterem Nachgeschmack behaftetes Zeugnis aus. Wie wurde ein junger Autor wie Wells, der aufgrund seiner Herkunft aus einer eine prekäre Existenz führenden Kleinbürgerfamilie mit großer Politik nicht in Berührung kam, Teil eines multimedialen publizistischen Netzwerks? Die Informationsvermittlung zu ihm erfolgte über die Coefficients10, einen um die Jahrhundertwende gegründeten, vielfältig zusammengesetzten Debattierklub, in dem sich u. a. Politiker, Militärexperten wie Colonel Repington von der Times und hochrangige Journalisten imperialistischer Couleur wie Leo Maxse und J. L. Garvin zusammenfanden. Später hat sich Wells in seinem autobiographisch gefärbten Roman The New Machiavelli (1911), in dem die Coefficients in durchsichtiger Verhüllung als Pentagram Circle dargestellt sind, daran erinnert, dass ihre Zusammenkünfte von dem Gefühl einer kommenden Abrechnung mit Deutschland durchdrungen waren.11 Seine literarischen Projektionen des Verhältnisses Englands zum Deutschen Reich beruhten also auf InsiderKenntnissen. In dieser Gedankenschmiede lernte Wells auch die außenpolitischen Vorstellungen der führenden Liberal Imperialists, des späteren Außenministers Sir Edward Grey und des späteren Kriegsministers Lord The Quarterly Review 209 (1908), 264–298. E. M. Forster, Howards End, Harmondsworth 1961, 60. 10  Zu seiner aus der zeitlichen Distanz recht kritischen Darstellung dieser Denkfabrik siehe H. G. Wells, Experiment in Autobiography, 2 vols., London 1934, II, 761 ff. 11  Siehe H. G. Wells, The New Machiavelli, 2 vols., Leipzig 1911, II, 74 f. 8  Siehe 9  Siehe

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Haldane, kennen. Grey, der schon als Oppositionspolitiker Deutschland ablehnend gegenüberstand, schaltete sich sogar als politischer Gutachter im Rahmen der oben erwähnten »A. B. C. etc.«-Artikel in die publizistische Debatte ein!12 Ab 1905 bestimmte er die Außenpolitik der regierenden Liberalen Partei und machte seine germanophoben Neigungen mit publizistischer Rückendeckung zur rigiden Richtschnur13 seines politischen Handelns. Letzteres mündete bereits 1907 in die anglo-russische Konvention, mit der die Tripelentente Gestalt annahm. Die in dem Mansfield-Zitat gebündelte englische Haltung zu Deutschland hat auch nach der drohenden Konfrontation in der zweiten Marokkokrise keinen grundsätzlichen Wandel mehr erfahren14 – trotz einvernehmlicher Regelungen betreffs der portugiesischen Kolonien in Afrika und in der Bagdadbahn-Angelegenheit15 und trotz gemeinsamer Vermittlung in den Balkankriegen. Die nach außen freundlicher gewordene Gestaltung des bilateralen Verhältnisses, die der deutsche Botschafter in London, der von Wunschdenken nicht freie Fürst Lichnowsky, mit einer substantiellen Wende verwechselte, durfte eigentlich nicht über das Beharrungsvermögen der vorab geklärten diplomatischen Konstellation hinwegtäuschen, wie das Scheitern der Berliner Mission Lord Haldanes im Februar 1912 bestätigte.16 Die Berliner Unterredungen waren wohl vor allem als entgegenkommende Geste an die radikalliberalen Kritiker Greys anberaumt worden, die dem Außenminister unter der Führung von H. W. Massinghams sachkundigem Wochenblatt The Nation im Herbst 1911 hart Rose, Zwischen Empire und Kontinent, 78. seiner Autobiographie hat Wells Grey als »almost incredibly fixed« (Experiment in Autobiography, II, 768) charakterisiert und ihm den Vorwurf gemacht, sich gegenüber Deutschland in der Frage etwaigen englischen Eingreifens bewusst doppeldeutig verhalten zu haben (ebd., II, 770). 14  In seinem Buch Das Deutschlandbild in der britischen Presse 1912–1919, Berlin 2007, in dem die abenteuerliche Behauptung aufgestellt wird, dass »das deutsche Kaiserreich in der Vorkriegszeit nicht negativ dargestellt« (498) wurde, gelangt Martin Schramm auf Grund seiner ungenügenden Differenzierung zwischen Oberflächen- und Tiefendimension im öffentlichen Diskurs zu der Fehleinschätzung »einer tiefgreifenden Annäherung zwischen Deutschland und England« (500) vor Kriegsausbruch. 15  Zu dieser der Brisanz der europäischen Probleme ausweichenden politischen Option siehe den Aufsatz von Gregor Schöllgen, »Richard von Kühlmann und das deutsch-englische Verhältnis 1912–1914. Zur Bedeutung der Peripherie in der europäischen Vorkriegspolitik«, Historische Zeitschrift 230 (1980), 293–337. 16  Siehe hierzu Heinz-Joachim Müllenbrock, »Außer Spesen nichts gewesen. Die gescheiterte Mission des britischen Diplomaten Richard Haldane in Berlin von 1912«, Junge Freiheit (3.2.2012), 19. 12  Siehe 13  In



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zusetzten. Die Ablehnung der von deutscher Seite mit überzogenen Erwartungen angestrebten bedingungslosen britischen Neutralität im Kriegsfall offenbarte die prinzipielle, auch durch wohlmeinende Gesprächsbereitschaft nicht aufzulösende Aporie in den deutsch-englischen Beziehungen. Bezeichnenderweise lehnte es der gewissermaßen in sein eigenes diplomatisches Korsett eingezwängte Grey kategorisch ab, einen Beitrag für die Juninummer 1912 von Ludwig Steins um deutsch-englische Aussöhnung bemühter Zeitschrift Nord und Süd zu schreiben.17 Wells’ Schriften geben auch für die dem Kriegsausbruch unmittelbar vorangehenden Jahre atmosphärischer Auflockerung der früheren Spannungen ein verlässliches politisches Barometer ab. Zwar agierte Wells stets als englischer Patriot, doch bewahrte er sich genügend geistige Unabhängigkeit für Kritik an seinem eigenen Land. Nachdem er noch vor der Agadir-Krise in The New Machiavelli Deutschland das Kompliment intellektuellen Wagemuts gemacht18 und in dem Essay Will the Empire Live? (1911) eingestanden hatte, dass sich in England ein gefährliches Gefühl des Neides Deutschland gegenüber eingenistet habe, dessen natürliche Expansionswünsche man zu durchkreuzen versuche,19 ging er in dem Roman The Passionate Friends (1913) zu einer konzilianten Bewertung Deutschlands über. Sich im Zeichen des Nachlassens äußerer Spannungen gewissermaßen an zeitgeschichtliche Fluktuationen anschmiegend, schlägt er eine versöhnliche Note Deutschland gegenüber an, das in der zweiten Marokkokrise keineswegs auf Krieg eingestellt gewesen sei.20 Die mildere Beurteilung Deutschlands verdichtet sich in der Kommentierung des Niederwalddenkmals der Germania, das zwar als monströse Entfaltung teutonischen Eroberungsgeistes eingestuft wird, aber – und das entspricht der veränderten Tonlage – eher schlechten Geschmack als tatsächliche Aggressivität verrate.21 Das I-Tüpfelchen auf Wells’ historiographisch beachtenswerte, funk­ tionsgeschichtlich hochinteressante Rolle als wacher und wohlinformierter Wegbegleiter der politischen Entwicklung setzt sowohl in chronologischer als auch in gehaltlicher Hinsicht sein in den ersten Monaten des Jahres 1914 veröffentlichter Roman The World Set Free – Wells’ letzte, mit dem Bewusstsein um die Präjudizierung internationaler VerständigungsmögGeppert, Pressekriege, 411. The New Machiavelli, II, 76. 19  Siehe H. G. Wells, An Englishman Looks at the World, London 1914, 36 f. 20  Siehe H. G. Wells, The Passionate Friends, 2 vols., Leipzig 1913, II, 185 f. 21  Siehe ebd., II, 88. 17  Siehe 18  Siehe

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lichkeiten verquickte Warnung vor einem Weltkrieg. Die darin skizzierte Mächtekonstellation bei Kriegsausbruch mit der Konfrontation zwischen Tripelentente und Mittelmächten war nach den längst gefallenen diplomatisch-militärischen Vorentscheidungen auch für den entsprechend unterrichteten Wells die einzig noch mögliche. Zwar lässt Wells, der auch die deutsche Invasion Frankreichs durch Belgien voraussagt, die Slawen die Angegriffenen sein,22 doch schleichen sich gewissermaßen unter der Hand Zweifel hinsichtlich der Vernünftigkeit der englischen Bindung an das Zarenreich ein. Der Autor erblickt nämlich in dem von Russland beherrschten Slawentum die jüngste Verkörperung eines aggressiven Expansionismus23 und konstatiert die englische Intervention zugunsten Frankreichs und Russlands ohne beifälligen Kommentar. Vielmehr scheint ein gewisses Maß an Resignation über Englands eingegangene Verpflichtungen spürbar zu sein; jedenfalls klingt in der Charakterisierung des selbstherrlichen französischen Oberbefehlshabers Dubois, der bei den interalliierten Generalstabsbesprechungen den Ton angibt, zumindest leise Kritik an der Bindung Englands an seinen alte Machtansprüche erhebenden Ententepartner an.24 Auffällig ist das Fehlen jeglicher massiver Kritik an dem früher mehrfach als kriegslüsterne Macht gezeichneten Deutschland, und der deutsche Vetter König Egberts wirkt sogar an dem Zustandekommen einer neuen, besseren Welt nach den Verheerungen eines Atomkrieges gemäß der utopischen Zielvision mit.25 Wells, der den Leser mit The World Set Free unmittelbar an die Schwelle der großen Katastrophe führt, war sich indessen auf Grund seines Kenntnisstandes bewusst, dass sich in der Wirklichkeit der Gegenwart die Resistenz des eingefahrenen konfrontativen, in dem Gegeneinander der Diplomaten dokumentierten Denkens behaupten würde, zu dessen Verbreitung er als teilweise herber Kritiker Deutschlands durchaus beigetragen hatte. Einen radikalen Umschwung in der Haltung Deutschland gegenüber hat allerdings auch er nicht vollzogen. Dennoch lassen seine zuletzt betrachteten Schriften ein auch in der breiteren Öffentlichkeit nun verschiedentlich artikuliertes stärkeres Problembewusstsein für die Gestaltung der deutsch-englischen Beziehungen durchscheinen. Aber selbst Wells’ vorsichtig modifizierte Blickweise auf Deutschland blieb in der kaum noch Bewegungsspielraum zu erkennen gebenden literarischen Szene ohne auffällige Parallelerscheinungen. Zwar ging die Zahl H. G. Wells, The World Set Free. A Story of Mankind, London o. J., 84. ebd., 86. 24  Siehe ebd., 90–95. 25  Siehe ebd., 162. 22  Siehe 23  Siehe



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der zur Invasions- und Spionageliteratur gehörigen Werke in der ›Entspannungsphase‹ nach der zweiten Marokkokrise merklich zurück, doch suchten Erzählungen wie Hector Hugh Munros When William Came (1913) oder A. W. Alsager Pollocks In the Cockpit of Europe (1914), die – der Autor war Herausgeber des United Service Magazine – eine deut­ liche Rückbindung an militärische Kreise verrät, das Gefühl der von Deutschland drohenden Gefahren in der Öffentlichkeit wachzuhalten. Das Fortbestehen des englisch-deutschen Antagonismus im öffentlichen Meinungsbild ließen insbesondere prominente, mit entsprechenden Hintergrundinformationen ausgestattete Autoren unionistischer Couleur durchblicken, die an ihrer früheren Sicht auf Deutschland festhielten. Es war übrigens die unionistische Presse, die, sofern Greys Politik ins Fadenkreuz der radikalliberalen Kritiker aus der eigenen Partei zu geraten drohte, dem Außenminister stets energisch zur Seite sprang. Arthur Conan Doyle spricht in seiner Geschichte The Poison Belt (1913) die prinzipielle Ungelöstheit des deutsch-englischen Problems offen an. Am nachdrücklichsten bekundete der mit konservativen Spitzenpolitikern befreundete Rudyard Kipling, wie etwa in der Geschichte As Easy as A.B.C. (1912), die Auffassung, dass für England angesichts der nach wie vor von Deutschland ausgehenden Herausforderung die Bundesgenossenschaft anderer Nationen unerlässlich sei. So feierte er in dem am 24.6.1913 in der konservativen Morning Post veröffentlichten Gedicht France die anglo-französische Entente mit deutlicher Spitze gegen Deutschland. Die zuletzt angeführten repräsentativen Beispiele, die Wells’ verhaltenen Optimismus relativieren, zeigen die Hartnäckigkeit des früh propagierten negativen Deutschlandbildes auch in der dem Kriegsausbruch vorangehenden De­ eskalationsphase an. Dass es am 4. August 1914 zur britischen Kriegserklärung an Deutschland kam, war die logische Konsequenz der den meisten Mitgliedern des Kabinetts in ihrer vollen Tragweite verschwiegenen Greyschen Außenpolitik.26 Nicht zuletzt in Anbetracht der im Gleichlauf mit der Politik früh etablierten und in der öffentlichen Meinung bis zuletzt mehrheitlich geteilten Einschätzung Deutschlands mutete sie wie ein folgerichtiger Schritt an. Während es für den Fall kriegerischer Zuspitzung in Deutschland keine Alternative zum Schlieffenplan gab, sah das mit germanophobem 26  Eine überzeugende kritische Neubewertung der in der deutschen Historiographie meist viel zu günstig beurteilten Person und Politik Sir Edward Greys nimmt Rose in seinem Buch Empire und Kontinent vor. Siehe insbesondere die abschließenden Ausführungen zu Greys fast serviler Bindung an Russland (578–580) und seiner konsequenten Hintansetzung einer interessenmäßig erst ganz am Ende rangierenden Verständigungspolitik mit Deutschland (589).

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Spitzenpersonal (Sir Eyre Crowe, Sir Charles Hardinge [bis 1910], Sir Arthur Nicolson u. a.) besetzte Foreign Offfice kein anderes Szenario vor als die durch militärische Absprachen bereits festgezurrte Unterstützung des französisch-russischen Zweibundes. Letztlich zog die von Sir Edward Grey herbeigeführte Kriegserklärung lediglich den Schlussstrich unter die in der öffentlichen Meinungsbildung längst vollzogene und durch die diplomatische Ausrichtung kundgetane Kampfansage an das Deutsche Reich. Anhand des für die politische Aktualität empfänglichen Werks von H. G. Wells lässt sich die Entwicklung der deutsch-englischen Beziehungen von der Jahrhundertwende bis Kriegsausbruch adäquat rekonstruieren. Eine solche, gewissermaßen ›historiographische‹ Transparenz dürfte in der zeitgenössischen europäischen Literatur einzigartig sein. Sämtliche Phasen in der Entwicklung des deutsch-englischen Verhältnisses bis zu den letzten bilateralen Verständigungsbemühungen vor Eintritt der Katastrophe fanden ihren Niederschlag in den Schriften von Wells. Auf politische Bewegung reagierte er prompt und flexibel und wirkte als ein seine intellektuelle Unabhängigkeit nie verleugnender publizistischer Akteur an der öffentlichen Meinungsbildung mit. So verschaffte er der deutsch-englischen Problematik aus anglozentrischer Perspektive Resonanz bis ins Detail. Wells darf deshalb zu Recht als präziser politischer Seismograph bezeichnet werden, dessen literarische Verarbeitung politischer Vorgänge dank seiner Vernetzung im öffentlichen Raum Londons eine beträchtliche zeitgeschichtliche Aussagekraft besitzt.

Métamorphoses de la transgression. Bernanos et la résurrection de l’être Par Philippe Richard »Vous aurez un jour la preuve qu’on ne fait pas au surnaturel sa part«1. Si la profondeur de l’affirmation couronne certes une expérience romanesque ayant successivement rencontré l’angoisse de l’homme moderne (Sous le Soleil de Satan), le vide métaphysique (Nouvelle histoire de Mouchette) et l’apaisement de l’homme réconcilié (Journal d’un curé de campagne), elle peut aussi s’appliquer à une modernité critique ayant établi les études de genre comme nouveau paradigme herméneutique capable d’envisager les enjeux rhétoriques et éthiques des textes littéraires. La conviction de Bernanos postule en effet que si l’effort de la volonté peut bien ébranler les assises du réel et de son langage – en questionnant toute possibilité de sens –, il n’en demeure pas moins radicalement impuissant à juguler le retour d’un ordre du réel en lequel réside précisément le sens même – le monde résistant bien toujours à la compréhension que l’on en attendait –: »Lorsque vous aurez tari chez les êtres non seulement le langage mais jusqu’au sentiment de la pureté, jusqu’à la faculté de discernement du pur et de l’impur, il restera l’instinct«2. Il ne s’agit pourtant pas de proclamer une évidence du droit naturel ou d’imposer une téléologie religieuse relevant encore de ce même discours d’autorité dont les »gender studies« nous offrent souvent l’exemple; mais il devient possible d’envisager la transgression de l’humaine condition par une métamorphose humaniste de la transgression: »Si je vous entends bien, vous prétendez qu’une certaine déficience […] du sentiment religieux […] pourrait se traduire par […] certains phénomènes pathologiques […] qui iraient même […] jusqu’à une transformation profonde […] de l’espèce?«3. Le romancier signifie dès lors la force de sa création, engagée dans une résistance obstinée contre toute 1  Georges Bernanos, Monsieur Ouine [1943] – Œuvres romanesques suivies de Dialogues des Carmélites (Bibliothèque de la Pléiade), éd. Albert Béguin, Paris 1961, 1525. 2  Ibid., 1525. 3  Ibid., 1524.

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forme d’aliénation et découvrant, dans le moment même où le texte ne peut vouloir s’affranchir de tout intertexte ou exister comme pure requête séparée de son inspiration liminaire, que la nature ne peut vouloir s’affranchir de ce qui la fonde ou exister comme pure immanence séparée de tout sens transcendant. Appartenant à ce monde encore lucide qui se serait fort étonné que l’on puisse vouloir trouver en un texte littéraire la confirmation d’une théorie constructiviste apparue bien au-delà de sa propre inventio et bien en-deçà de sa propre elocutio, la parole bernanosienne peut alors se révéler capable de recommander quelque humilité aux nouvelles méthodes analytiques pensant trouver une voie royale dans leur élaboration novatrice même – tant il est vrai qu’un accent victorieux ne saurait suffire à fonder la justesse d’un discours, comme semble pourtant le penser l’Université parisienne: Dans le sillage du Performative Turn, il devient possible de penser le genre comme l‘un des éléments constitutifs de l’acte narratif. Le genre est le résultat d’un dire qui est, dans le même temps, un faire. Dire ›je suis femme / homme‹, c’est en partie se constituer en tant que tel-le. La narration de l’identité de genre apparaît alors comme une éternelle refiguration, c’est-à-dire une manière signifiante pour soi d’arranger et d‘agencer son récit de soi pour les autres. Dès lors, la narration de soi fonctionne comme un espace performatif de représentation construit par le sujet et au sein duquel il se définit in medias res, dans une constante évolution4.

Le mouvement narratif d’un roman de Bernanos nous aidera donc à comprendre le caractère irréductible d’un surnaturel résistant à la critique, comprenant le genre comme une simple conceptualité, et irriguant les textes pour en approfondir le sens. La vaste parabole d’Un Crime (1935) dessine en effet les contours d’un travestissement digne des meilleurs romans policiers: une jeune fille tue une vieille châtelaine, intrigue pour échapper à la justice, demeure dans le village où elle souhaite obtenir une nouvelle identité, se change en ce prêtre récemment nommé et simultanément tué par elle, et mène une vie de meurtrière travestie aspirant à réaliser l’amour homosexuel éprouvé dès l’enfance pour une amie demeurée dans la région. Or il nous faut bien admettre, à rebours d’une étude qui entendrait questionner le »genre« en mobilisant la subversion des catégories du masculin et du féminin vers une figuration narrative du désir de transsexualité, que la présentation de la catégorie du travestissement en un cadre narratif pénétré d’intertextualité peut signifier tout autre chose que ce qui semble immédiatement apparaître, jusqu’aux enjeux réels 4  Patrick Farges, Le Lieu du genre. La narration comme espace performatif du genre, Paris 2011, [4e de couverture].



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d’un roman spirituel simultanément voilé et révélé par la fable et témoignant d’une authentique »écriture du surnaturel«5. C’est au sein même d’une construction de l’imaginaire envisageant l’indistinction sexuelle comme une dramatique en acte que le principe d’ambiguïté se trouve résolu par le principe de précision et que le travestissement devient modernité stigmatisée plutôt qu’étalon de modernité. Si l’abandon de l’homme moderne se traduit certes par la confusion, ce trouble même peut effectivement se retourner en un fructueux abandon de soi par lequel l’être retrouve sa vraie nature, ou plus justement se voit retrouvé par elle6. La question de l’identité de ce crime dont le titre porte les couleurs devient alors le véritable enjeu de la lecture, ici cerné par une observation synthétique de trois mouvements fondamentaux. Si l’ouverture du roman énonce d’emblée le climat en lequel sera compris le texte, l’action dramatique de l’intrigue ne fera que redoubler l’inversement des polarités et des valeurs, avant que la chute du roman ne vienne énoncer les risques que court un être à se vouloir moderne à tout prix. La mise en scène de l’étrange ou l’origine parabolique (I, 1) La parabole débute dans une demeure hantée par la présence de la mort, symbole par excellence de la perte d’identité traditionnellement associée à la nuit et à la peur: »Mais elle [Céleste] redoutait plus que la nuit l’odeur fade de cette maison solitaire pleine des souvenirs d’un mort« (727). La mémoire conservée du curé de Mégère disparu, de sa physionomie comme de ses attributs, évoque du reste une virilité qui n’est plus: Vous allez me croire folle, mam’selle Phémie, mais j’ai pas osé la toucher depuis [la pipe]. Tenez: elle est encore toute bourrée. Des fois, aujourd’hui, en cirant les meubles, je me retournais, je croyais voir le plat vide, avec une de ses grosses mains dessus, qu’avaient tellement enflé dans les derniers jours … Oh! j’ai pas peur des morts, non. Mais notre ancien curé, voyez-vous, ça ne doit pas être un mort comme les autres (728–729). 5  Monique Gosselin a magistralement défini la notion dans L’écriture du surnaturel dans l’œuvre romanesque de Georges Bernanos, Paris 1989. 6  L’étude de l’expression bernanosienne permet de comprendre cette intuition à l’aune d’un vaste mouvement de relecture et de transposition: la spiritualité carmélitaine, particulièrement travaillée dans les années 1920–1930 et singulièrement méditée par l’auteur tout au long de sa vie, irrigue en effet une composition narrative en laquelle se correspondent les mouvements de l’abandon par l’autre et de l’abandon à l’autre. Nous en avons explicité la structure dans Philippe Richard, L’Écriture de l’abandon. Esthétique carmélitaine de l’œuvre romanesque de Georges Bernanos (Thèse de doctorat ès lettres, Université Paris-Sorbonne, 2013).

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C’est à cette occasion que l’image plus ambiguë du nouveau curé s’adjoint donc à ce premier tableau pour bouleverser définitivement les équilibres – la vie retrouvée ne s’y sépare pas de l’évocation de la mort et la jeunesse espérée ne s’y sépare pas de l’évocation de la faiblesse: »A-t-il seulement l’idée d’une espèce de paroisse perdue comme voilà celle-ci à dix lieues de la ville et des routes? Parlez-moi des routes! On pourrait y crever sans confession, cinq mois sur douze« (729) ou »Un jeune curé, sa première paroisse, voyez-vous, y a pas plus simple, plus naïf« (728). Si le sacerdoce semble prolongé, son expression en est aussi modifiée et sa nature se trouve prête à être questionnée. Or c’est naturellement cet entrelacs d’images contradictoires qui formera l’enjeu même du récit. La narration redouble en ce sens ses effets lorsque la venue du prêtre engendre l’affirmation plus radicale de l’absence: »Pensez qu’ils [les notables du canton] ont attendu sur la place deux heures durant, et par une bise! … Et quand la patache est arrivée, pas plus de curé que sur ma main, c’est pas croyable« (729). La possibilité même de la transgression n’est plus dissociable d’un tel cadre: »La pipe, dit-elle [Phémie] en éclatant d’un rire forcé qu’elle prolongea bien au-delà du temps nécessaire, je veux fumer la pipe du mort!« (730). Toutes les valeurs que pouvait précédemment incarner le petit village semblent alors se désaxer pour constituer le terreau en lequel s’enracinera bientôt le crime: »À sa grande surprise, la chambre du mort où elle [Céleste] n’entrait d’ordinaire qu’avec répugnance lui parût la seule pièce où elle put goûter, ce soir, une espèce de sécurité. Un moment même, elle forma le dessein d’y traîner son matelas …« (731). Le déploiement ultérieur de l’éthique romanesque ne pourra que rassembler alors tous ces éléments signifiants pour laisser apparaître le personnage central de l’histoire: se croisent ainsi les images de l’absence, lorsque l’abbé jaillit à l’improviste dans le récit – »Était-elle [la barrière] ouverte ou non? Il était difficile de s’en rendre compte, mais la servante croyait entendre le battement du loquet, le grincement léger des gonds« (732) –, de la transgression, lorsque l’abbé est d’abord pris pour une jeune fille – »Si Mlle Phémie, contre toute attente, était revenue au presbytère, quelque soin qu’elle prît à se cacher, le reflet de sa robe claire, dans cette nuit presque opaque, devait finir par la trahir« (732–733) –, de la faiblesse, lorsque l’abbé provoque la dérision ou la pitié – »Le visage apparaissait très nettement juste au centre du halo lumineux et elle faillit éclater de rire. C’était bien celui d’un écolier pris en faute et qui s’efforce de donner à ses traits une expression presque comique de réflexion et de dignité« (733) –, et de la mort, lorsque l’abbé se voit encore associé à une apparition spectrale:



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Quelle singulière entrée! Certes, l’extrême solitude de ce petit village demi-mort, au milieu d’une des contrées les plus sombres et les plus dures qu’on connaisse, l’avait accoutumée [Céleste] dès l’enfance à ces sortes d’aventures, qui paraissent invraisemblables aux gens de la plaine … (733).

Notre héros est en somme cet être ambivalent et ambigu qui se donne comme le fruit d’une synthèse efficace de toutes les caractéristiques les plus troublantes du roman policier. L’évocation de »la logique intérieure du rêve« (739) définit bien en ce sens un projet bernanosien que l’on sait par ailleurs attaché à peindre le monde moderne comme une brillante mais dangereuse conspiration »contre toute espèce de vie intérieure«7, là où l’onirisme se substitue à la mystique et où l’idéologie se substitue à la nature. Mais c’est le roman lui-même qui nous en parlera. Les constructions idéologiques risqueraient en effet d’en masquer les enjeux. Si Céleste connaît en somme un moment d’étourdissement, elle revient aussi à elle, dans l’angoisse, lorsque débute véritablement l’action: Le curé de Mégère était devant elle. ›Je vous demande pardon‹, dit-il d’une voix effrayante. […] Elle ne pouvait détacher ses yeux de ce visage si jeune, creusé soudain par l’angoisse, vieilli, méconnaissable. […] Le cri qu’elle retenait encore faillit s’échapper de sa gorge. Elle ne s’expliqua pas depuis, comment, par quel miracle, elle avait pu étouffer au-dedans d’elle ce hurlement furieux, semblable à ceux qu’on pousse en rêve. Il n’avait fallu qu’un regard du prêtre. L’épouvante qu’elle y lisait n’en troublait pas l’extraordinaire limpidité. Ce regard lui fit honte. […] Il se retourna. Il était toujours livide, mais ses lèvres minces exprimaient déjà une sorte de résolution calme, presque farouche (739).

L’ambiguïté est donc ici portée à son comble alors que se prépare le plein déploiement de l’intrigue des coups de feu.

L’action dramatique (I, 2–3 et II, 1–2) La parabole s’élance réellement lorsque naît cette inversion du genre qui sera l’enjeu du présent développement: »Qu’est-ce que vous en dites, de notre nouveau curé, Firmin? – Ben, monsieur le maire, un gamin, avec son air de petite fille, mais selon moi, voyez-vous, plus réfléchi qu’on ne suppose« (743). Se rencontre alors une nouvelle occasion de lier le mystère à l’angoisse: »Ils ont commencé par bourrer leurs pipes tout en marchant, puis ils ont pressé le pas et enfin ils se sont mis à courir. […] La voix calme, assurée, bien qu’un peu tremblante du jeune prêtre sonne encore à 7  Georges Bernanos, La France contre les robots [1946] – Essais et écrits de combat (Bibliothèque de la Pléiade), éd. Michel Estève, Paris 1959, 1025.

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leurs oreilles. Qui sait? …« (743–744). Or ces deux climats se trouveront à nouveau liés lorsqu’apparaîtra la mort, réalité centrale du roman et clé de compréhension tant textuelle qu’intertextuelle: le mystère – »La tête disparaissait presque dans un coussin de feuilles mortes ramenées en tas sous les épaules« (748) –  se joint alors à l’inversion – »Un imperceptible filet de sang frais coulait encore, d’un rouge vif sur cette matière brune, à l’odeur âcre. Ils ne la remarquèrent pas« (749) –, à moins que le mystère même ne soit proprement l’inversion – »Il n’a qu’une chemise, une culotte, et il avait retiré ses sabots« (749). Alors se voit questionnée la mort ellemême grâce à l’apparition d’une victime d’un genre nouveau:« – Le médecin? C’est-y que t’es fou? On a bien le temps de faire le constat de décès, mon homme. – Le type, en bas, il vit encore, bégaya le grand Louis. Quelle histoire!« (754) ou Dans ses poings, crispés, ramenés sur sa poitrine, l’agonisant tenait le mouchoir de Jean-Louis, et il fixait maintenant cette proie de ses yeux effrayants, aussi vides que ceux d’un mort. Le garçon expliqua, en un flot de paroles confuses, qu’il le lui avait arraché des mains. – Essayez un peu de le lui prendre, il grince des dents comme un rat. Mais le maire ne semblait pas pressé de renouveler l’expérience. L’idée absurde que l’homme qu’il avait sous les yeux n’était réellement qu’un cadavre ranimé par on ne sait quelle force mystérieuse venait de s’emparer de lui, et il résistait presque désespérément au désir morbide de faire partager cette conviction aux deux gars qui, surpris de son silence, échangeaient déjà entre eux des regards ironiques (755)

ou encore »– Claude croit que le type ne durera pas longtemps. Il a l’air de vouloir parler … Oh! des mots qui n’en sont pas: il bredouille comme ça, les yeux fermés en remuant les doigts, vous diriez une vieille femme à l’église, et pas moyen de le comprendre …« (754). Or la nature ne peut que s’effacer si la mort n’est plus respectée. Une telle poétique de l’ambiguïté ne prépare donc la substitution nodale entre le vrai curé agonisant et le faux curé travesti qu’au prix d’une actualisation tranchante de l’état mortifère, confirmant que la confusion des genres opérée par la transgression ne peut être qu’inexpiable. À moins qu’une seconde substitution, à proprement parler d’un autre genre et équilibrant la première par un engagement non plus transgressif mais spirituel, ne vienne sauver notre texte par le biais de l’intertexte – et telle sera la substitution vicaire du dernier mouvement de la parabole lorsque le petit clergeon se sacrifiera lui-même pour assurer au faux-curé une possible retraite: »On a retrouvé hier dans la Bidassoa le cadavre défiguré d’un jeune garçon d’une quinzaine d’années que le courant a sans doute roulé sur une grande distance, et dont on désespère de pouvoir établir l’identité« (871). Les deux motifs de la jeunesse et de la défigura-



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tion nous renvoient alors naturellement vers la découverte du premier cadavre, celui du prêtre authentique – »C’est un gars, remarqua le garde agenouillé près de son chef, un fort gars tout jeune. Pas du pays. Les traits semblaient ceux d’un homme de vingt-cinq ans« (748) –, et suppriment en même temps la caractérisation antérieure des deux personnages par tel ou tel trait féminin, fondant dès lors leurs notations dans la geste essentielle et virile du Christ rédempteur – lorsque la disparition finale du faux-abbé manifeste la fin de l’imposture, l’identité sacerdotale du premier prêtre appelle vraisemblablement la figure christique, lorsque la défiguration conjointe du clergeon, du vrai curé, ou du Messie crucifié figure la réalité d’une expiation aussi efficace que silencieuse8. Il nous faudra en somme convenir que si la rédemption est théologiquement appelée par le péché, la mort de cet abbé destiné au village comme la mort de ce clergeon destiné au sacerdoce sont narrativement appelées, elles aussi, par la transgression d’une jeune fille meurtrière et hypocrite, changée en ce qu’elle n’est pas, et incarnant par là-même une évidente figure du péché. Tuer un jeune prêtre, provoquer le suicide d’un futur prêtre, se faire passer pour un prêtre, tel est le triple mouvement qui consiste à ne respecter ni la vie ni le sacrement de la vie et incarne le crime unique que donne à méditer le titre de l’œuvre lorsque se trouvent niée la simple forme de la nature. Tel est en somme l’enjeu que nous donnent à entendre les jeux intertextuels chers à Bernanos mais que risquent d’étouffer les jeux transsexuels chers aux études du genre. Il est donc raisonnable de convenir que les »gender studies« modernes ne nous donnent une méthode de lecture efficace pour observer le fonctionnement narratif d’un texte qu’autant qu’elles ne referment pas toute possibilité de viser un intertexte et, partant, de constater que l’immanence peut toujours s’ouvrir à une transcendance sans être automatiquement liée à quelque revendication constructiviste. L’identité problématique du héros, soulignée par l’axiologie exemplaire du mensonge, demeure en effet l’enjeu manifeste du roman: »Nous sommes destinés à travailler ensemble, mon enfant. ›Destinés‹, comprenez-vous? Le destin – réfléchissez un peu à cela – c’est un beau mot, un mot divin, de ces mots qu’un petit garçon doit comprendre …« (758).

8  Si le clergeon n’a plus de visage (»On a retrouvé hier dans la Bidassoa le cadavre défiguré d’un jeune garçon d’une quinzaine d’années que le courant a sans doute roulé sur une grande distance, et dont on désespère de pouvoir établir l’identité«; Un crime, 871), le curé de Mégère n’a plus d’identité (»L’interroger! comment veux-tu que j’interroge ça? Il n’a pas plus de connaissance à ct’heure qu’un vrai mort«; ibid., 755), et ces deux figures se fondent dans celle du Christ annoncée par le prophète Isaïe comme ayant perdu son aspect (Non est species ei, neque decor, et vidimus eum, et non erat aspectus, et desideravimus eum; Is. 53, 2).

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La triple logique de travestissement qui le détermine, en reliant le féminin au masculin, la culpabilité à l’innocence, et le séculier au religieux, bouleverse le déploiement narratif de Gn 3, 8 (abscondit se Adam et uxor ejus a facie Domini Dei in medio ligni paradisi) et engendre un imaginaire de l’être brisé, à la fois lucide en ses analyses et fou en sa détermination, permettant l’intégration narrative d’une problématique de l’identité sexuelle mise au service d’une anthropologie moderne dominée par l’angoisse et la déconstruction. Les catégories éthiques mobilisées par le roman ne tendront du reste à la synthèse que dans l’esprit de celui qui exerce la justice, désire accorder la virilité au masculin et la féminité au féminin, et refuse ce questionnement permanent des normes qui ne montre rien d’autre qu’une vanité humaine oublieuse de sa condition: Le curé de Mégère, son clergeon, la petite servante, ou l’anonyme pensionnaire, qu’avaient donc de commun entre eux tous ces visages? La fièvre donnait à cette question un caractère de gravité, d’urgence presque risible, et il [le juge d’instruction] se la posait avec angoisse. La réponse vint tout à coup. Si différents qu’ils fussent, soit qu’ils inspirassent la sympathie, la méfiance ou l’aversion, ces visages maintenant familiers se ressemblaient par on ne sait quoi d’inachevé, d’équivoque, ceux des femmes trop tendus, trop durs, presque virils, celui du curé de Mégère marqué d’une mélancolie, d’une sorte de tristesse pathétique dont il avait retrouvé le reflet, non sans une gêne secrète, sur la figure passionnée, féminine de l’enfant de chœur (814).

Mais la volonté de puissance résistant à la nature ou le rêve de modernité s’opposant à la norme se montrent communément agressifs en leur tentative de nivellement: l’accumulation des identités aboutit au malaise (»fièvre« et »angoisse«), la description de l’ambiguïté aboutit au bégaiement (»on ne sait quoi« et »équivoque«), et l’association des différences, entre »femmes« et »virils« ou entre »curé« et »féminine«, aboutit au nébuleux. L’unicité du crime est d’ailleurs proclamée par le juge lui-même dès que se trouve énoncé le seul nom du curé: Oh! j’avoue que l’affaire est exceptionnelle … On ne rencontre pas deux affaires pareilles dans la vie … Mais … mais il y a le curé de Mégère … – Une personnalité bien attachante, fit le docteur de sa voix la plus neutre. – Il est l’acteur principal, poursuivit le petit juge avec une exaltation soudaine – le centre, le pivot – il est au centre même du crime! – Hein! – Oh! je ne le crois pas capable d’assassiner les vieilles dames, naturellement… Mais si mon hypothèse est bonne, si ce prêtre extraordinaire joue ici un rôle, nul doute que ce rôle ne soit capital. J’ai d’ailleurs pour sa personne une … une espèce d’admiration. Qu’il ait commis une faute – même si cette faute n’en est pas une au regard de la loi – je serais attristé de devoir lui attribuer des motifs bas, ou seulement vulgaires … (842).

Si l’adjectif »extraordinaire« peut certes s’entendre en un double sens, comme sortie de la norme ou comme transcendance de la vie, il faut bien



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convenir que l’écriture bernanosienne ne saurait opter d’emblée pour l’un ou l’autre choix; elle révèle ainsi toute sa mesure, désirant s’élancer vers ce plus haut sens qui se trouve lier deux versants distincts en un même mouvement romanesque: lorsque le curé de Mégère trahit la norme, il révèle simultanément les capacités rédemptrices des êtres qui l’entourent, et la transgression n’est d’abord peccamineuse que pour mieux énoncer ensuite une possible expiation. La transcendance se dit en somme toujours au cœur même de la patiente quête de l’immanence.9 La chute parabolique et l’épanouissement de l’expiation (III, 2) La parabole s’achève en un jeu d’échos tout à fait éclairants. Notre principal personnage est en fuite, chemine près d’une voie de chemin de fer, et envisage justement son crime: Non! elle n’éprouvait décidément aucun remords de ce crime fortuit. L’atroce jalousie qui la déchirait depuis des semaines, depuis que la trahison lui était apparue certaine et qu’était entrée en elle, au plus profond de ses entrailles, la conviction d’avoir à lâcher un jour ou l’autre sa jeune proie, semblait elle-même s’éteindre, faute d’aliment. L’obscure fierté d’avoir joué jusqu’au bout, de jouer au-delà de la mort, un rôle extraordinaire, fait à sa mesure, à la mesure de sa puissance de dissimulation et de mensonge, l’emportait sur tout autre sentiment (870).

Sans regret, avec envie, dans la division intérieure et en un théâtre permanent, le mensonge s’érige ici en clé de lecture pour donner à la transgression son vrai climat. Rien n’est conforme à la nature. Tout est consciemment orchestré. Si le monde moderne veut lui aussi nous faire croire que la pleine liberté consiste simplement à choisir ce que nous voulons, la narration bernanosienne se trouve rétablir la vérité dans la discrétion même d’une simple intrigue policière ne possédant aucune dimension militante. Le personnage est du reste rattrapé par une figure de prêtre rencontrée sur la route, évoquant naturellement le premier abbé assassiné et contrefait: Ce rôle, les circonstances le lui avaient imposé sans doute, car s’étant trouvée de nouveau face à face – deux fois dans le même jour – avec l’infortuné prêtre, et reconnue, il ne lui restait pas d’autre chance d’échapper – provisoirement du 9  La lecture de Bernanos ne peut donc guère faire l’économie d’une attention proprement rhétorique aux effets de reprises topiques ou d’associations stylistiques qui en orchestrent l’écriture. Tel est le chemin que nous avons tenté de suivre dans L’Écriture de l’abandon.

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moins – au désastre où elle eût entraîné sa mère et son amie toujours chérie (870).

Or l’écho est exemplaire en ce qu’il favorise une véritable révélation: la vérité transcende toujours le travestissement. Et aucun raisonnement n’eût été capable d’abattre en ce moment sa fierté: car elle ignorerait toujours, elle n’aurait pu comprendre, elle n’eût jamais voulu convenir que, croyant tout devoir à son énergie et à sa ruse, elle avait réellement vécu tout éveillée un sinistre cauchemar, où de plus lucides eussent reconnu une à une les images aberrantes nées du remords maternel, cette obsession du prêtre, de ses manières, de son langage qui avait empoisonné tant d’années la conscience bourrelée de l’ancienne religieuse (870–871).

Tout aurait pu être résolu par un abandon de l’être, capable de vaincre n’importe quelle fatalité, lorsque le sujet se reconnaît pour ce qu’il est. Mais vouloir être autre est un poison. On ne devrait vouloir qu’être autrement. Si l’ensemble du corpus bernanosien témoigne bien en faveur de la part irréductible du surnaturel dans le monde, Un Crime demeure fidèle à cette intuition en affrontant les thèmes essentiels qui se trouvent irriguer notre modernité. À nous de lire le plus correctement possible ce court et suggestif roman, sans que la considération de nouveaux outils critiques ne nous empêche de considérer ce que signifie authentiquement le texte. Sans doute est-ce même très nécessaire lorsque l’Université déclare, à tout propos, vouloir »familiariser le plus grand nombre de jeunes chercheurs aux problématiques et aux méthodes des études de genre«10.

10  Projet de la journée d’étude du 23 juin 2012 de l’École doctorale III (»Littérature française«) de l’Université Paris-Sorbonne (»Féminin et masculin en littérature: représentations et questionnement des normes«).

Literarische und dokumentarische ›Authentizität‹ Medialität und Inszenierung am Beispiel englischer Golfkriegslyrik Von Marcus Hartner I. Einleitung: Die Inszenierung von Authentizität Kriegslyrik wird allgemein die Fähigkeit zugeschrieben, die individuellen und subjektiven Qualitäten von Kriegserfahrungen auf besonders eindrückliche Weise zu verhandeln. So widmet sich beispielsweise eines der bekanntesten englischen Gedichte des Ersten Weltkriegs, Wilfred Owens Dulce et Decorum Est, der Darstellung eines Gasangriffs aus der individuellen Perspektive eines an den Kämpfen teilnehmenden lyrischen Ichs.1 Der Text fordert den Leser dazu auf, sich in die geschilderte Szene zu versetzen und imaginativ an der traumatisierenden Erfahrung des Sprechers teilzunehmen, der den langsamen und qualvollen Todeskampf eines Kameraden mit Gasvergiftung aus nächster Nähe miterlebt. Obwohl das Gedicht diese Kriegserfahrung als letztlich nicht vermittelbar bestimmt, versucht es gleichzeitig, das darin inhärente Grauen der Schützengräben mittels metaphorischer Bildlichkeit zugänglich zu machen. Dabei instrumentalisiert Owen die Beschreibung des sterbenden Soldaten für einen Angriff auf das Konzept des ›edlen‹ und ›süßen‹ patriotischen Heldentodes (dulce et decorum est pro patria mori), den er angesichts der geschilderten Leiden als Fiktion bzw. Lüge verwirft. Er negiert, mit anderen Worten, den Wahrheitsgehalt dieses damals in England gesellschaftlich weit verbreiteten Sinnspruches und stellt ihm die behauptete ästhetische Wahrhaftigkeit seiner dichterisch inszenierten Kriegserfahrung gegenüber. Die These, dass Literatur und insbesondere Lyrik das Potential besitzt, Erfahrungen besonders eindrücklich erlebbar zu machen, ist nicht neu. 1  Wilfred Owen, »Dulce Et Decorum Est« [1917], in: Jon Stallworthy (Hg.), The Oxford Book of War Poetry, Oxford 2008, 188.

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Bereits Wolfgang Iser hat im Rückgriff auf die philosophisch-anthropologischen Überlegungen von Helmut Plessner argumentiert, dass das Literarische in bestimmten Themenfeldern wie etwa Liebe, Krieg oder Tod mit der Forderung bzw. Behauptung einer besonderen Wahrhaftigkeit des Dargestellten einhergeht.2 Verbindet man diese grundsätzliche Überlegung mit einer diskurstheoretischen Perspektive, so lässt sich argumentieren, dass eine solche literarische Inszenierung authentischer Erfahrung sich zudem stets in Auseinandersetzung mit anderen Text- und Medienformen vollzieht. Jürgen Links Verständnis von Literatur als einem Interdiskurs innerhalb des gesellschaftlichen Gesamtdiskursfeldes legt in diesem Kontext beispielsweise nahe, dass auch ästhetische Wahrhaftigkeitsansprüche sich nicht im luftleeren Raum formieren, sondern vielmehr in Bezug und in Konkurrenz zu anderen Medienformaten mit Authentizitätsanspruch treten.3 Im Folgenden wird die These aufgestellt, dass im Falle moderner Kriegslyrik hierzu insbesondere die eindringliche Auseinandersetzung mit verschiedenen Spielarten des Dokumentarischen gehört. Am Beispiel englischer Golfkriegslyrik soll gezeigt werden, dass die Bezugnahme auf journalistische Medien fester Bestandteil der lyrischen Inszenierung von Krieg und dessen authentischer Darstellung ist und sich stets vor dem Hintergrund des jeweiligen medienhistorischen Kontexts vollzieht. Zur Zeit Wilfried Owens werden mediale Bezüge oder Anspielungen noch selten explizit formuliert, sondern finden vorwiegend implizit oder kontextuell statt.4 Spätestens seit dem Golfkrieg von 1990 / 91 gehört allerdings eine explizite Auseinandersetzung mit dem Dokumentarischen zu den Inszenierungs- und Beglaubigungsstrategien von Kriegsdichtung, mit deren Hilfe literarische Wahrhaftigkeit konstruiert und in Szene gesetzt wird. Indem die Untersuchung das Beispiel der Golfkriegsdichtung wählt, wird der Blick dabei zudem auf eine medienhistorisch interessante Lyrik 2  Vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre: Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 1991; Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch: Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 1928. 3  Vgl. Jürgen Link, »Literaturanalyse als Interdiskursanalyse: Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik«, in: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hgg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1988, 284–310, sowie Jürgen Link, Ursula Link-Heer, »Diskurs / Interdiskurs und Literaturanalyse«, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 77 (1990), 88–99. 4  Während des Ersten Weltkriegs wurden in der London Times beispielsweise zahlreiche Gedichte berühmter Autoren veröffentlicht. Dabei wurden die Texte meist inmitten thematisch korrespondierender journalistischer Beiträge platziert. Auf diese Weise wurde eine Wechselwirkung zwischen Gedicht und journalistischer Berichterstattung beim Lesen angestrebt, wobei die Inhalte sich zumeist gegenseitig zu bekräftigen suchten.



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gerichtet, die in der bisherigen Forschung leider nur wenig Beachtung gefunden hat. II. Kartierungsversuche: Subjekt- und Objektauthentizität Als Ausgangspunkt für die Reflexion des wechselseitigen Bezugs von literarischer und dokumentarischer Authentizität ist es sinnvoll, sich einige der grundlegenden Dimensionen des Authentizitätsbegriffs und der Probleme bei seiner Diskussion zu vergegenwärtigen. Dabei kann grundsätzlich festgestellt werden, dass der Begriff in der kultur- und literaturwissenschaftlichen Forschungslandschaft nicht nur »seit längerer Zeit Konjunktur« hat,5 sondern sich insbesondere durch eine markante konzeptuelle Vielgestaltigkeit und »strukturelle Unfassbarkeit« auszeichnet.6 Authentizität wird als Phänomen mit epistemologischer, ästhetischer und ethischer Dimension diskutiert, was dazu führt, dass der Begriff ontologisch, normativ, regulativ und konstruktivistisch gedacht werden kann und daher mit einer Vielfalt an Bedeutungsschattierungen aufwartet.7 Diesem Umstand entsprechend wird in der Forschungsliteratur eine allgemeine Begriffsdiskussion zumeist vermieden. Stattdessen werden Systematisierungen verschiedener Qualitäten und Verwendungsweisen von Authentizität entwickelt. So identifiziert z. B. Matías Martínez die unterschiedlichen Bedeutungsaspekte von ›Autor‹, ›Referenz‹, ›Gestaltung‹ und ›Funktion‹ im Kontext von Holocaust-Darstellungen.8 In Susanne Knallers einfluss5  Michael Rössner, Heidemarie Uhl (Hgg.), Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld 2012, 9. 6  Wolfgang Funk, Lucia Krämer (Hgg.), Fiktionen von Wirklichkeit: Authentizität zwischen Materialität und Konstruktion, Bielefeld 2012, 9. Allein in den letzten Jahren ist eine beeindruckende Vielzahl von Publikationen zum Thema Authentizität erschienen. Siehe dazu z. B. Antonius Weixler (Hg.), Authentisches Erzählen: Produktion, Narration, Rezeption, Berlin 2012; Wolfgang Funk, Florian Groß, Irmtraud Huber (Hgg.), The Aesthetics of Authenticity: Medial Constructions of the Real, Bielefeld 2012. 7  Zur Einführung in die Geschichte, Thematik und Diskussion des Authentizitätsbegriffs sei exemplarisch verwiesen auf Susanne Knaller, Ein Wort aus der Fremde: Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität, Heidelberg 2007; Antonius Weixler, »Authentisches erzählen – authentisches Erzählen. Über Authentizität als Zuschreibungsphänomen und Pakt«, in: ders. (Hg.), Authentisches Erzählen, 1–34; Helmut Lethen, »Versionen des Authentischen: Sechs Gemeinplätze«, in: Hartmuth Böhme (Hg.), Literatur- und Kulturwissenschaften: Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek 1996, 205–231. 8  Matías Martínez, »Zur Einführung: Authentizität und Medialität in künstlerischen Darstellungen des Holocaust«, in: ders. (Hg.), Der Holocaust und die Künste.

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reicher Arbeit dagegen wird eine Unterscheidung zwischen »Subjekt-, Kunst- und Referenzauthentizität« getroffen,9 während Weixler diese Überlegungen aufgegriffen und in ein Modell »diskursiver Authentizität« überführt hat.10 Dabei versteht er »unter Subjekt-Authentizität die Zuschreibung ›authentisch‹ in Bezug auf das Subjekt, unter Objekt-Authentizität die Zuschreibung ›authentisch‹ in Bezug auf das Objekt einer medialen Kommunikation«.11 Klassifizierungen wie diese spielen einerseits eine wichtige Rolle bei der Kartierung des Phänomens, laufen gleichzeitig jedoch Gefahr, die Möglichkeit einer konzeptuell sauberen Trennung zwischen verschiedenen Bereichen des Authentischen zu suggerieren. Nach einem gängigen Verständnis von Lyrik privilegieren beispielsweise Gedichte die Inszenierung subjektiver Stimmen.12 Bei einer Diskussion literarischer Authentizität wird daher der ›Wahrhaftigkeitsanspruch‹ lyrischer Dichtung gerne eindeutig und vorschnell im Bereich der Subjekt-Authentizität situiert. Solche voreiligen kategorischen Differenzierungen sollten jedoch mit Vorsicht genossen werden, da insbesondere ästhetische Authentizitätsbehauptungen häufig quer zu derartigen typologischen Einteilungen liegen bzw. verschiedene Schattierungen des Begriffs involvieren. Als Beispiel hierfür kann wieder das eingangs zitierte Gedicht von Wilfred Owen dienen: Sein Dulce et Decorum Est inszeniert zwar zuvorderst die Subjekt-Authentizität der individuellen Kriegserfahrung des lyrischen Ichs, welche von der Person des Autors und seinem Status als Frontsoldat sozusagen biographisch beglaubigt wird. Gleichzeitig impliziert die am subjektiven Erlebnis orientierte dichterische Frontbeschreibung jedoch ebenso einen Referenzbezug auf die Kriegswirklichkeit jenseits des Subjektiven – sie versucht, mit anderen Worten, eine gültige Aussage über die Wirklichkeit des Krieges zu treffen bzw. zu ›erschreiben‹ (Objekt-Authentizität).13 Ähnlich wie Krämer in ihrer Diskus­ Medialität und Authentizität von Holocaust-Darstellungen in Literatur, Film, Video, Malerei, Denkmälern, Comic und Musik, Bielefeld 2004, 7–21. 9  Vgl. Knaller, Ein Wort aus der Fremde, 21 ff. 10  Weixler, »Authentisches erzählen – authentisches Erzählen«, 14. 11  Ibid., 12. 12  Vgl. Michael Meyer, English and American Literatures, 4. Aufl., Tübingen 2011, 25. 13  Weixler bezeichnet mit dem Begriff der ›Erschreibung‹ das Konzept, »in dem zwar die Verbindung zwischen Signifikat und Signifikant bereits als mediale Relation anerkannt wird, dessen Relation – etwa zwischen einem ›Leben‹ und einer Autobiographie – jedoch noch unproblematisch herzustellen, d. h. zu ›erschreiben‹ ist.« Die Vorstellung ›Authentizität erschreiben‹ zu können verbindet er historisch mit der Moderne und grenzt sie von der postmodernen Vorstellung eines rein



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sion von Zeugenschaft und Authentizität nahe legt, bilden die verschieden ausgerichteten Dimensionen des Begriffs hier keine »disjunkte[n] Fassungen von Authentizität«, sondern verweisen vielmehr wechselseitig aufeinander.14 Owens Gedicht stellt die Evokation personalisierter Erfahrung unmissverständlich in den Dienst einer angestrebten Korrektur antiquierter, romantisierender Vorstellungen (dulce et decorum est), die der Wirklichkeit moderner Kriegsführung nicht (mehr) entsprechen. Gerade in Kontexten des »Krisenhafte[n]«, d. h. »in problematischen Situationen von Unsicherheit und Unwissenheit, in denen durch Authentizität eine Evidenz zu schaffen ist, die es anders nicht gibt«,15 wird diese aufeinander verweisende Beglaubigung von Erlebnis und erlebter Welt, von Subjekt und Objekt, besonders häufig relevant. Dies trifft besonders auf Erzählstoffe wie »existenzielle Extremsituationen wie Schmerz, Tod, Trauma und Gewalt« zu, deren Darstellung einer erhöhten »moralische[n] Anforderung des Authentischen« unterliegt, oder auch auf Themen wie etwa der Holocaust, die unterer einem besonderen »ethischen ›Schutz‹ stehen«.16 Einen klassischen Erklärungsansatz für den ganz besonders engen Wechselbezug zwischen Subjekt- und Objektauthentizität bei solchen Themen liefert die philosophische Anthropologie nach Helmuth Plessner, die Wolfgang Iser in Das Fiktive und das Imaginäre aufgegriffen und literaturwissenschaftlich angewendet hat. III. Philosophisch-anthropologische Überlegungen: Authentizität und Inszenierung Ausgangspunkt der Philosophie Plessners ist die grundsätzliche Befähigung des Menschen zu Selbstbewusstsein und Selbstreflexion, d. h. die Fähigkeit, die eigene phänomenale Existenz gedanklich zu transzendieren »relationale[n] Zuschreibephänomen[s]« ab (vgl. Weixler, »Authentisches erzählen – authentisches Erzählen«, 8). 14  Vgl. Sybille Krämer, »Zum Paradoxon von Zeugenschaft im Spannungsfeld von Personalität und Depersonalisierung: Ein Kommentar über Authentizität in fünf Thesen«, in: Michael Rössner, Heidemarie Uhl (Hgg.), Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld 2012, 15–26, hier 15. 15  Sybille Krämer, »Zum Paradoxon von Zeugenschaft im Spannungsfeld von Personalität und Depersonalisierung«, 25. 16  Weixler, »Authentisches erzählen – authentisches Erzählen«, 27. Interessant ist in diesem Kontext auch, dass gerade für solche Themenbereiche gerne der Topos der Unsagbarkeit bemüht wird (vgl. 28), während sie gleichzeitig zu den besonders häufig thematisierten Gegenständen der Literatur gehören.

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und die dabei gewonnenen Einsichten auf sich selbst zu beziehen. Paradoxerweise impliziert der bewusste Blick auf das eigene Selbst jedoch eine gedankliche Selbstdistanzierung, oder anders ausgedrückt, einen Akt reflexiver Selbstüberschreitung. Dieser führt das Subjekt hinaus aus seiner eigenen unreflektierten Mitte und ermöglicht ihm so, sich selbst als Anschauungsobjekt, quasi von außen her, zu betrachten. Der Mensch ist damit in einer eigenartig gedoppelten Position, die Plessner als ›exzentrisch‹ bezeichnet.17 Einerseits ist er unverrückbar ins Zentrum der eigenen, phänomenal erlebten Existenz eingebunden, andererseits tritt er qua Kognition aus seiner eigenen Mitte heraus und macht sie zum Objekt der Betrachtung. Das menschliche Selbst-Bewusstsein entsteht für Plessner aus dieser gleichzeitig widerstreitenden und kooperierenden Verbindung von kognitivem Selbstbezug und phänomenologischer Selbstevidenz. Es grundiert auf der Verknüpfung zweier wesentlich grundverschiedener Seinsaspekte und bezeichnet damit einen »ortlosen Ort […], der nicht durch Reflexion einholbar ist, sondern erst in dieser reflexiven Rückbezüglichkeit entsteht«.18 Die daraus entspringende unauflösbare Spannung zwischen anthropologischer Selbstevidenz und reflexiver Selbstüberschreitung, die Plessner auch als »konstitutive Heimatlosigkeit« bezeichnet, erlaubt keine endgültige Bestimmung der eigenen Position. Sie führt, anders ausgedrückt, dazu, dass beide Modi als unzureichend betrachtet werden und stets wechselseitig aufeinander verweisen. Wolfgang Iser folgert aus der damit umrissenen Unmöglichkeit, durch (rationale) Erkenntnis die eigene Existenz reflexiv einzuholen, die anthropologische Notwendigkeit der ›Selbstinszenierung‹. Diese kommt seiner Meinung nach insbesondere dort zur vollen funktionalen Entfaltung »wo Wissen und Erfahrung als Weisen der Welterschließung an ihre Grenzen stoßen«.19 Inszenierung bezieht sich damit wesentlich auf Sachverhalte, die sich einer umfassenden Vergegenwärtigung entziehen; dabei wird sie zwar nicht zu einer Form rationaler Erkenntnis, »wohl aber zu einem anthropologischen Modus, der insoweit eine Gleichrangigkeit mit Wissen und Erfahrung beanspruchen kann, als er das gegenwärtigen lässt, was der 17  Zu Plessners philosophischer Anthropologie, insbesondere der im Kontext von Iser relevanten These der exzentrischen Position des Menschen, mit der Plessner ein phänomenologisch-anthropologisches Gegenmodell zum cartesianischen Dualismus und dessen Terminologie zeichnet, siehe Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, insb. Kap. 7, 288–346, sowie Helmuth Plessner, Elemente der Metaphysik: Eine Vorlesung aus dem Wintersemester 1931 / 1932, hg. Hans-Ulrich Lessing, Berlin 2002, 179–194. 18  Heike Kämpf, Helmuth Plessner: Eine Einführung, Düsseldorf 2001, 66 f. 19  Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, 507 f.



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Wissbarkeit und Erfahrbarkeit verschlossen bleibt«.20 Als besonders unzugänglich erweisen sich in diesem Kontext die so genannten ›Kardinalpunkte‹ menschlichen Seins, zu denen Schmerz, Tod und Verlust, aber auch Geburt oder Liebe zählen. Sie sind einerseits von fundamentaler Bedeutung für den Menschen, und zeichnen sich andererseits durch eine absolute, nicht einzuholende Unverfügbarkeit aus, wodurch sie immer wieder von neuem zum Gegenstand von Inszenierung und Reflexion werden. Im Kontext dieser Überlegungen kann auch Krieg als solcher Kardinalpunkt menschlicher Existenz gefasst werden, da er prototypisch eine Reihe von Erfahrungsbereichen umfasst, die sich dem Menschen in seiner exzentrischen Position nicht ›ausreichend‹ erschließen. Erfahrungsbereiche des Kriegs wie Tod, Schmerz, Furcht – aber auch Mut oder Aufopferung – stellen Seinsbereiche dar, in denen sich die Spannung zwischen durchlebter Erfahrung und kognitiver Reflexion besonders deutlich manifestiert. Krieg kann damit als Ort einer besonderen Form anthropologischer Einsicht aufgefasst werden, der eine Inszenierungsqualität einfordert, die mehr als nur abbildende Funktion erfüllt. Kriegsliteratur bedarf, mit anderen Worten, einer ›überzeugenden‹ Bezugnahme auf die vorgestellte Realität des Krieges,21 um als »unablässige[r] Versuch des Menschen […] sich selbst zu stellen«22 ›erfolgreich‹ zu sein. Um einen Zugang zu den Erfahrungsbereichen des Krieges zu eröffnen, beansprucht dessen literarische Schilderung damit eine Authentizitätsqualität der Wahrhaftigkeit.23 Die besonderen Anforderungen an die ästhetische Inszenierung von Krieg entspringen damit dem Problem der phänomenologischen Interdependenz von Subjekt und Weltbezug und der Spannung zwischen dem Modus des Erlebens und des rationalen Erfassens, die u. a. bei Kriegsthemen besonders offenkundig aufbrechen. Aus diesen grundsätzlichen Überlegungen wird nochmals deutlich, dass literarische Authentizität etwa im Fall von Kriegsdarstellungen nicht einseitig kategorisiert werden kann, sondern die Bereiche von Subjekt- und Objektauthentizität grundsätzlich verbindet. Zudem bestätigt sich, dass es 20  Ibid.,

508.

21  ›Vorgestellt‹

ist hier in der gedoppelten Bedeutung der rezeptionsbezogenen ›Vorstellung‹ des Lesers als auch der textbezogenen ›Vorstellung‹, d. h. ›Präsentation‹ des Textes zu verstehen. 22  Ibid., 515. 23  Zum Begriff der inszenierten Authentizität siehe ausführlicher die Arbeiten von Erika Fischer-Lichte, hier u. a. den von ihr herausgegebenen Sammelband Inszenierung von Authentizität, Tübingen / Basel 2000, sowie ihre Monographie Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004.

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bei allen Formen der scheinbar authentischen Wahrnehmung menschlicher Erfahrungsqualitäten immer deren Realwerdung durch das Imaginäre bedarf, mithin: ihrer Inszenierung. Isers Theorie identifiziert das zentrale Movens der Kriegsliteratur in der Spannung zwischen Subjekt, Welt und ästhetischer Darstellung, wofür er die triadische Begriffsrelation des Realen, Fiktiven und Imaginären entwickelt. Damit liefert er eine philosophisch-anthropologische Grundlegung sowohl des Inszenierungscharakters von Authentizität als auch des besonderen Anspruchs an die ›Wahrhaftigkeit‹ der Darstellung bei besonderen Themen wie Krieg. Seine Theorie bildet damit eine hilfreiche Basis für ein grundsätzliches Verständnis von Authentizität; doch gerade aufgrund ihres basalen Charakters greifen seine Überlegungen bei der konkreten Analyse von textuellen Inszenierungsstrategien und den Mitteln der Authentizitätserzeugung zu kurz. Insbesondere ignoriert seine Arbeit den wichtigen Umstand, dass Literatur nur eine ästhetische Form der Inszenierung menschlicher Erfahrung unter vielen darstellt. Sie tritt in ihrem Anspruch auf eine wahrhaftige Darstellung, z. B. von Krieg, in Konkurrenz mit anderen Medien und Diskursformen, die ebenfalls eine Darstellungsqualität des Authentischen für sich beanspruchen. Aus diesem Grund bedarf es einer Ergänzung der philosophisch-anthropologischen Überlegungen Isers um eine eher medientheoretisch ausgerichtete Perspektive, die literarische Inszenierungsstrategien im Kontext anderer Diskursformen betrachtet. Aus einer solchen soll im Folgenden gezeigt werden, dass z. B. moderne Kriegslyrik einen literarischen Wahrhaftigkeitsanspruch impliziert, der sowohl synchron als auch diachron explizit im Kontext dokumentarischer Darstellungsformen von Krieg situiert ist. Um dies zu demonstrieren, sollen im Folgenden die Begriffe literarischer und dokumentarischer Authentizität in ihrem Zusammenspiel medientheoretisch skizziert und dann auf die Diskussion der englischen Golfkriegslyrik angewandt werden. IV. Literarische und dokumentarische Authentizität Ausgangspunkt für eine medientheoretische und konstruktivistische Fassung des Authentizitätsbegriffs ist die Annahme, dass gesellschaftliche Wirklichkeiten über mediale Diskurse geschaffen werden24 und Kultur sich maßgeblich »in theatralen Prozessen der Inszenierung und Darstellung« konstituiert.25 Authentizität kann in diesem Kontext nicht mehr als 24  Vgl. Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt, Siegfried Weischenberg (Hgg.), Die Wirklichkeit der Medien: Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994.



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ontologische Wahrheitsbehauptung gefasst und »mit [der] ›Echtheit‹ eines ›Originals‹ […] verbunden werden«,26 sondern zeigt sich als diskursiv bedingt. Dies impliziert, dass sie keine der medialen Wirklichkeitsdarstellung innewohnende Eigenschaft darstellt, sondern »in medialer, ästhetischer wie nichtästhetischer Kommunikation grundsätzlich als Form, Resultat bzw. Effekt medialer Darstellung verstanden werden« muss.27 Da »die attributive Struktur des ›Echten‹ […] nicht als Gut vorliegt«, sondern vielmehr »aus einem Prozess der Verweisung hervorgeht«,28 stellt Authentizität damit ein Phänomen dar, bei dessen Analyse produktions-, wirkungs- und rezeptionsästhetische Aspekte relevant werden.29 In diesem Kontext soll Authentizität hier daher als eine auf Inszenierung gründende Beobachtererfahrung gefasst werden, d. h. als eine Qualität, die einem Medienprodukt von einem Beobachter zugeschrieben wird, der das me­dial inszenierte Produkt hinsichtlich seiner ›Wirklichkeitstreue‹ beurteilt. Eine Authentizitätszuschreibung drückt die Überzeugung des Beobachters aus, dass das Medienprodukt einen Wirklichkeitsausschnitt wahrhaftig, also nicht verfälschend, sondern dem Erlebnis getreu, wiedergibt. 25

Im Kontext solcher Authentizitätszuschreibungen muss hinsichtlich verschiedener Mediengattungen zwischen unterschiedlichen Arten von Authentizität unterschieden werden. So wird den dokumentarischen Medien (z. B. Fotografie, Dokumentarfilm) und Nachrichtenmediensystemen 25  Fischer-Lichte (Hg.), Inszenierung von Authentizität, 11. Wissenssoziologisch ist zu argumentieren, dass nur durch Medien die gesellschaftliche Relevanz der selbstauthentisierenden Inszenierung gewährleistet werden kann, oder, wie Berger / Luckmann es ausdrücken: »Die Selbstproduktion des Menschen ist notwendig und immer eine gesellschaftliche Tat«; die »gesellschaftliche Tat« kann ihre Wirksamkeit schließlich nur entfalten, wenn sie die Beschränkungen der face-to-face Kommunikation überwindet, also die Distributionsmöglichkeiten der medialen Kommunikation nutzt (Peter L. Berger, Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1970, 54). 26  Petra Maria Meyer, »Mediale Inszenierungen von Authentizität und ihre Dekonstruktion im theatralen Spiel mit Spiegeln: Am Beispiel des komponierten Films Solo von Mauricio Kagel«, in: Erika Fischer-Lichte (Hg.), Inszenierung von Authentizität, 71–91, hier 74. 27  Jan Berg, Hans-Otto Hügel, Hajo Kurzenberger (Hgg.), Authentizität als Darstellung, Hildesheim 1997, 5 (Referenz zitiert nach Geesche Wartemann, Theater der Erfahrung: Authentizität als Forderung und als Darstellungsform, Hildesheim 1997, 11.). 28  Hans Ulrich Reck, Kunst als Medientheorie: Vom Zeichen zur Handlung, München 2003, 495 f. 29  Vgl. Jutta Schlich, Literarische Authentizität: Prinzip und Geschichte, Tübingen 2002, 13 f.

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(Zeitungswesen, Hörfunk- und TV-Nachrichten) traditionell eine Authentizität zugeschrieben, die hier als dokumentarische Authentizität bezeichnet wird und die anhand der Codierung ›wahr-falsch‹ bemessen wird.30 Zuschreibungen dieser Form attestieren dem jeweiligen Medienprodukt eine »privilegierte Relation von Darstellung und Darstellungsgegenstand im Sinne einer transparenten Medialisierung, die den Blick auf den Gegenstand weder trübt noch aspektiert«.31 Dokumentarische Medienprodukte behaupten dementsprechend programmatisch »einen Schritt zurück hinter die symbolische Kodifizierung von Kommunikation, sie behaupten ein jenseits [sic] der Zeichen […]«.32 Trotz des Suggerierens von Abbildrealismus entwickeln einzelne Rezipienten wie Gesellschaften jedoch in Bezug auf die dokumentarischen Medien ein Bewusstsein von den unterschiedlichen Graden der Mittelbarkeit, mit denen in diesen Mediengattungen über Realität berichtet wird. Es ist inzwischen allgemein bekannt, dass auch bei den dokumentarischen Medien fiktionale Elemente bzw. Manipulationen des reinen Abbilds anzutreffen sind.33 Dieses Wissen fließt in die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des jeweiligen Nachrichtenmaterials mit ein, das stets »einer spontanen mentalen Prüfung des Rezipienten ausgesetzt« ist.34 Bei dieser Prüfung werden die berichteten Ereignisse u. a. »mit dem eigenen inneren Bild« der Ereignisse oder des Sachverhaltes verglichen.35 Überzeugt die mediale Darstellung, so wird ein »Wahrnehmungsvertrag« geschlossen, dem der Rezipient treu bleibt, solange »er sich durch die […] Argumentation, die 30  Vgl.

ibid., 13. Wortmann, Authentisches Bild und authentisierende Form, Köln 2003, 14. 32  Ibid., 224. 33  So werden z. B. für das Fernsehen Szenen für Dokumentationen nachgestellt, und nachrichtenwürdige Mel­dungen müssen ausgewählt, formuliert und präsentiert werden. Vgl. hierzu den Beitrag von Winfried Schulz, der nach Sichtung zahlreicher Studien das Resümee zieht, dass die Massenmedien aufgrund perspektivischer, ideologischer und nachrichtenindustrieller Verzerrungen »in der Regel die Wirklichkeit nicht repräsentieren« (Winfried Schulz, »Massenmedien und Realität: die ›ptolemäische‹ und die ›kopernikanische‹ Auffassung«, in: Max Kaase, Winfried Schulz [Hgg.], Massenkommunikation: Theorien, Methoden, Befunde, Opladen 1989, 139). Dieser Konstruktionsaspekt ist bei der Darstellung von Krieg häufig beobachtet worden, ob bei der Schlachtenmalerei, dem Ersten Weltkrieg oder den Fernsehnachrichten aus den Golfkriegen; vgl. hierzu beispielsweise Thomas Knieper, Marion G. Müller (Hgg.), War Visions: Bildkommunikation und Krieg, Köln 2005 und Annegret Jürgens-Kirchhoff, Agnes Matthias (Hgg.), Warshots. Krieg, Kunst & Medien, Kromsdorf 2006. 34  Manfred Hattendorf, Dokumentarfilm und Authentizität: Ästhetik und Pragmatik einer Gattung, Konstanz 1994, 70. 35  Ibid. 31  Volker



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er durch das eigene hinzutretende Kontext- und Gattungswissen überprüft, nicht getäuscht fühlt«.36 Damit erlangt der Begriff der Wahrhaftigkeit schon im Kontext der dokumentarischen Medien eine gewisse Bedeutung, denn dieser »Wahrnehmungsvertrag« lässt einen – wenn auch geringen – Spielraum für Abweichungen von reiner Abbildwiedergabe. Im Gegensatz zu den dokumentarischen und Nachrichtenmedien wird den fiktionalen und künstlerischen Mediengattungen (z. B. Gedicht, Roman, Spielfilm) eher die Fähigkeit zugeschrieben, Erlebnisqualitäten authentisch zu vermitteln. Dabei handelt es sich um kognitiv-emotionale, psychische und philosophische Aspekte der Wirklichkeitserfahrung, die im dokumentarischen Modus entweder ausgespart bleiben oder aufgrund der Erwartungen an dokumentarische Medienprodukte weniger wirksam sind. Hier wird das Kriterium der Wahrheit dann aus Prinzip durch das der ›Wahrhaftigkeit‹, d. h. einer eher gefühlsmäßigen als verstandesgemäßen Kategorie, ersetzt. Diese soll in Anlehnung an Jutta Schlich (2002) im Folgenden als ›literarische Authentizität‹ bezeichnet werden.37 Angesichts der in Literatur- und Fiktionalitätstheorien immer wieder betonten »Selbstanzeige des Literarisch-Fiktionalen«38 kann in Bezug auf literarische Glaubwürdigkeit, im Gegensatz zum Dokumentarischen, nicht von einem auf Realität bezogenen »Wahrnehmungsvertrag« gesprochen werden. Vielmehr bietet es sich an, in analoger Weise von einem literarischen ›Wahrhaftigkeitsvertrag‹ auszugehen, der ein komplexeres Verhältnis zwischen Darstellung und Realität beschreibt, welches vom Anspruch her nicht mehr auf die Codierung ›wahr-falsch‹ reduziert werden kann.39 36  Ibid., 77. Zur Diskussion der Idee eines Wahrnehmungspaktes oder »Authentizitäts-Vertrag[s]« siehe auch Weixler, »Authentisches erzählen – authentisches Erzählen«, 21–24. 37  Vgl. hierzu Schlichs Ausführungen zur ›literarischen Authentizität‹ (Schlich, Literarische Authentizität: Prinzip und Geschichte). Schlich versteht Authentizität ebenfalls als rezeptionsästhetisch ›gefühlsmäßigen‹ »Wahrheitseffekt«, bindet ihn jedoch konzeptuell stärker an die Kategorien des ›Interessanten‹ und des ›literarischen Stils‹ (vgl. 9, 13, 21): »Was sich in Musik, Klang, Rhythmus, Ton Geltung verschafft, ist ein literarischer Authentizitätseffekt, der die Überzeugungskraft logischer Deduktionen potenziert« (7). Für kritische Stellungnahmen zu Schlich siehe Eberhard Ostermann, »Das Interessante als Element ästhetischer Authentizität«, in: Jan Berg, Hans-Otto Hügel, Hajo Kurzenberger (Hgg.), Authentizität als Darstellung, Hildesheim 2006, 197–215, hier 112 f. und K. Ludwig Pfeiffer, »Authentizität und Artifizialität: Der Fall ›Oper‹«, in: Susanne Knaller, Harro Müller (Hgg.), Authentizität: Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München 2006, 147–162, hier 150. 38  Vgl. Pfeiffer, »Authentizität und Artifizialität«, 150. 39  Der mit literarischer Wahrhaftigkeit eng verbundene Begriff des ›Realismus‹, der in der Literaturwissenschaft häufig an Stelle von Authentizität verwendet wird, soll in diesem Beitrag keine Anwendung finden, da er sich ebenfalls als äußerst viel-

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Mediengattungen und Kunstformen können jedoch nicht nur innerhalb des jeweils spezifischen Bewertungsbezugs von dokumentarisch ›wahrfalsch‹ einerseits und fiktional ›wahrhaftig / verfälschend‹ andererseits angesiedelt sein, sondern unterschiedliche Medienprodukte und Werke weisen verschiedene Grade der Vermischung des Dokumentarischen mit dem Imaginären auf. So werden z. B. Kriegsgedichte in Dokumentarfilme eingebaut oder Modi des Dokumentarischen als Kontrastfolie zum Ausdruck subjektiven Empfindens in literarische Darstellungen von Krieg inkorporiert. In diesem Beitrag wird die Überzeugung vertreten, dass solche Vermischungsstrategien besonders dann zu beobachten sind, wenn Kriegssituationen mit Phasen markanten Medienwandels zusammenfallen. Wie Ralf Schneider gezeigt hat, führt die Entwicklung neuer Medien historisch dazu, »dass bestehende Medien auf die neuen Phänomene Bezug nehmen, die nicht selten als Konkurrenz empfunden werden«.40 Eine solche Konfrontation mit neuen Ausdrucksformen führt häufig zu einer »Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen der eigenen Medialitätsfaktoren«, die sich in Abgrenzungsbemühungen oder Inkorporationen verschiedener Art äußern können.41 Als Fallbeispiel hierfür soll der Golfkrieg von 1990 / 91 dienen, der als erster »prime-time war«42 einen markanten Entwicklungsschritt in der medialen Kriegsberichterstattung darstellt und mit »24-hour war coverage«43 eine neue Form medialen ›Kriegserlebens‹ einläutete. Anhand der dichterischen Auseinandersetzung mit diesem Konflikt wird im Folgenden der explizite Bezug auf andere Medien als bewusste Authentifizierungsstrategie identifiziert und diskutiert.

schichtig und diffus erwiesen hat: »[R]ealism […] has acquired far too many qualifying (but seldom clarifying) adjectives, and is a term which many now feel we could do without« (James Cuddon, A Dictionary of Literary Terms and Literary Theory, 3. Aufl, Oxford u. a. 1991. 40  Ralf Schneider, »Kunst, Krieg und Medien: Theoretische Überlegungen«, in: Annegret Jürgens-Kirchhoff, Agnes Matthias (Hgg.), Warshots: Krieg, Kunst & Medien, Kromsdorf 2006, 11–29, hier 19. 41  Ibid. Siehe hierzu ausführlicher Schneider, »Kunst, Krieg und Medien«. Zu den folgenden Überlegungen zum Nexus von Authentizität, Medialität und Literatur vgl. auch Ralf Schneider, »The Literary War Commentary, the Media, and the Performance of Authenticity«, in: Lilo Moessner, Christa M. Schmidt (Hgg.), Anglistentag 2004 Aachen: Proceedings, Trier 2005, 421–433. 42  Robert E. Denton (Hg.), The Media and the Persian Gulf War, Westport, Conn. 1993, xvi. 43  Alastair Finlan, The Gulf War of 1991, New York 2009, 74.



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V. Die Lyrik des Golfkriegs Spätestens seit dem Golfkrieg 1990  /  91 sind intensive philosophische und medientheoretische Kontroversen zur Frage nach der Authentizität der Darstellung von Krieg bzw. dem prekären Verhältnis von Wahrheit und Wahrhaftigkeit in Wort und Bild ein fester Bestandteil öffentlicher und intellektueller Diskussionen. Der auch als »Fernsehkrieg«44 bezeichnete Konflikt führt nicht nur zur Etablierung von Nachrichtensendern wie CNN in der internationalen Medienlandschaft und produziert eine wahre Flut medialer Kriegsbilder, sondern ist gleichzeitig Ausgangspunkt und Gegenstand intensiver Kontroversen bezüglich dieser Berichterstattung. In der Folge entstehen zahlreiche (akademische) Publikationen, die sich kritisch mit der Rolle und Funktion der Massenmedien auseinandersetzen und in deren Zusammenhang auch die medienphilosophische Diskussion um einige ihrer provokativsten Thesen bereichert wird, wie etwa die Überlegungen Paul Virilios über das Verhältnis von Krieg und Kino bzw. Krieg und Technologie oder Jean Baudrillards Essays zum Golfkrieg als einer ›Simulation‹.45 Die hierbei angestellten Überlegungen bilden eine der Grundlagen für das bis heute andauernde Nachdenken über diese Themen, wobei der Großteil der Debatte sich noch immer mit der angeblichen Auflösung der Grenze zwischen Realität und ihren medialen und digitalen Nachbildungen auseinandersetzt.46

44  Paul Goetsch, »Der Fernsehkrieg am Golf: Literarische Reaktionen«, in: Julika Griem (Hg.), Bildschirmfiktionen: Interferenzen zwischen Literatur und neuen Medien, Tübingen 1998, 117–139. 45  Paul Virilio, Krieg und Kino: Logistik der Wahrnehmung, Frankfurt a. M. 1994; ders., Desert Screen: War at the Speed of Light, London 2002; Jean Baudrillard, The Gulf War Did Not Take Place, Bloomington 1995. Zur Rolle der Medien im Kontext der Golfkriege siehe auch beispielsweise Douglas Kellner, The Persian Gulf TV War, Boulder 1992; Denton, The Media and the Persian Gulf War; David R. Willcox, Propaganda, the Press and Conflict: The Gulf War and Kosovo, London 2005. 46  Komplementär zu dieser Entwicklungslinie hat sich seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in der Realitäts- / Virtualitätsdebatte besonders im amerikanischen Raum eine Position etabliert, die von einem ›Return of the Real‹ (Hal Foster) ausgeht. Dabei wird das Ende radikaler, postmoderner Infragestellung verkündet und mit der Renaissance des Authentizitätskonzepts in der vergangenen Dekade in Verbindung gebracht. Diese Diskussion einer ›neuen‹ Authentizität bedeuted jedoch keinen nostalgischen Rückschritt in eine vorkritische Zeit: »Although sometimes envisioned as the rejection of postmodernism, the ›new‹ authenticity remains profoundly shaped by postmodern skepticism regarding the grand narratives of origin, telos, reference and essence« (Ulla Haselstein, Andrew Gross, Maryann SnyderKörber, »Introduction: Returns of the Real«, in: dies. [Hgg.], The Pathos of Authenticity: American Passions of the Real, Heidelberg 2010, 9–32, hier 19).

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Wird die gängige Blickrichtung jedoch umgekehrt und nicht auf die Enttarnung des Fiktionalen und Inszenierten im scheinbar Dokumentarisch-Authentischen, sondern auf das Behaupten von Wahrhaftigkeit im Literarisch-Fiktionalen gerichtet, so zeigt sich, dass medientheoretische Überlegungen auch direkt in die literarischen Reaktionen zum Irakkrieg einfließen. Da spätestens seit dem Zeitpunkt dieses Konflikts eine fundamentale Skepsis gegenüber dem Wirklichkeitsanspruch der Informationsmedien fest ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist, etabliert sich in der literarischen Verarbeitung des Krieges eine bewusste Auseinandersetzung mit den dokumentarischen Medien als eine der Strategien zur Erzeugung literarischer Authentizität. 1. Strategien der Kriegsinszenierung Expliziter Medialitätsbezug ist selbstverständlich nicht die einzige relevante Inszenierungsstrategie in der dichterischen Verarbeitung des Golfkriegs. Paul Goetsch legt in seiner Untersuchung des ›Fernsehkrieg[s] am Golf‹ (1998) vielmehr dar, dass sich hier eine Reihe verschiedener Tendenzen und Präferenzen zeigt.47 Zunächst muss dabei über Goetschs Analyse hinaus festgehalten werden, dass die Dichtkunst ihre generelle Stärke, individuelle Erfahrungs- und Stimmungsmomente sprachlich zu (er)fassen, natürlich auch bei diesem Thema ausspielt. So kann die Lyrik, unabhängig vom Thema, etwa stets auf die generelle (psychologische) Wirkmacht des Arrangements von Klang, Rhythmus und sprachlicher Metaphorik zurückgreifen. Über diese grundlegenden Qualitäten hinaus konzentrieren sich, wie schon in Owens Dulce et Decorum Est, zahlreiche Texte auf personalisierte, subjektive Erfahrungen oder Beobachtungen. Wie Goetsch zeigt, sind bevorzugte Themen der Darstellung im Kontext des Golfkriegs 47  Zur Primär- und Sekundärliteratur der Golfkriegslyrik siehe Goetsch, »Der Fernsehkrieg am Golf«; Jay Meek (Hg.), After the Storm: Poems on the Persian Gulf War, Washington 1992; Michael Logue (Hg.), Journal of the Gulf War: Poetry From Home, Fullerton 1991; Victoria Brittain (Hg.), The Gulf Between Us: The Gulf War and Beyond, London 1991; Göran Nieragden, »Poetry and the Gulf War: On the Use of Myth in Michael Hulse’s ›Mother of Battles‹«, Anglia 113 (1995), 26–40; Anne Whitehead, »Tony Harrison, The Gulf War and the Poetry of Protest«, Textual Practice 19.2 (2005), 349–372; Philip Metres, Behind the Lines: War Resistance Poetry on the American Homefront Since 1945, Iowa City 2007; Philip Metres, »›With Ambush and Stratagem‹: American Poetry in the Age of Pure War«, in: Cary Nelson (Hg.). The Oxford Handbook of Modern and Contemporary American Poetry, Oxford 2012, 331–368; Axel-Björn Kleppien, Der Krieg in der amerikanischen Literatur, Frankfurt a. M. 2010, 392–396, sowie die Ausgabe »A Hundred Harms: Poetry and the Gulf War«, Poetry Review 82.2 (1992).



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einerseits einzelne Kriegsopfer bzw. Kriegsbetroffene und deren Perspektive, sowie andererseits die Wirkung des »Fernsehkrieges« auf die subjektive Position des Autors selbst. Das damals neue Phänomen medialer Dauerberichterstattung avanciert dabei zum Gegenstand intensiver kritischer Reflexion, wobei beispielsweise die Diskrepanz zwischen Fernsehbildern und Alltagserfahrung zu einem Kernmotiv mehrerer Gedichte wird. So heißt es etwa bei James Moore: The amazing thing is that we all keep going. Day two of the land war and we wait in line for movies or socks. We watch TV and it’s the same silliness as always, not news from the War, but a comedy. I live in a country that can fight a war and at the same time go about business as usual. But, really, is it any different from when we aren’t fighting a war, those ›normal‹ days we all live while at the same time desperation undercuts lives one by one? … (v. 14–22)48

Moores Gedicht ist nur ein Beispiel für die kritische Auseinandersetzung mit den Folgen und Implikationen des »Fernsehkriegs«. Wie Goetsch demonstriert, gibt es eine Fülle von Texten, in denen unterschiedliche dichterische Reflexionen der Kriegsberichterstattung vorgenommen werden: So bezichtigt etwa Sandy Shreves Rituals of War die Medien eines Bombardements der Öffentlichkeit mit einer »language of propaganda«,49 während William Heyen in seinem poetischen Tagebuch Ribbons: The Gulf War die euphemistische Sprache und Metaphorik von Politik und Militär thematisiert, welche zur Verschleierung der Brutalität militärischer Gewalt führt.50 Alle diese Beispiele demonstrieren eine intensive thematische Auseinandersetzung der Golfkriegslyrik mit dessen medialer Berichterstattung.51 Doch neben einem rein inhaltlichen Verhandeln stehen der Lyrik weitere intermediale Formen der Bezugnahme zur Verfügung. Über rein thematische Diskussionen hinaus arbeiten verschiedene Gedichte z. B. mit der Inkorporation dokumentarischen Text- oder Bildmaterials. So verschmilzt etwa Michael Hulse in Mother of Battles den antiken Mythos der sumeri48  James Moore, »Selections from Poem-in-Progress« (Section 7), in: Jay Meek (Hg.), After the Storm: Poems on the Persian Gulf War, Washington 1992, 79 f. 49  Zitiert nach Goetsch, »Der Fernsehkrieg am Golf«, 127. 50  William Heyen, Ribbons: The Gulf War. A Poem, Saint Louis 1991. Vgl. ­Goetsch, »Der Fernsehkrieg am Golf«, 127, 135. 51  Zu den wichtigen Strategien des Literarischen gehört in diesem Kontext auch »die Berücksichtigung von Standpunkten und Themen, an denen Propaganda und Fernsehen kein Interesse haben« (Goetsch, »Der Fernsehkrieg am Golf«, 122).

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schen Göttin Isanna (Ishtar) mit dem Leben moderner Personen und Figuren.52 Das Langgedicht wird dabei von vier Reproduktionen bekannter Pressefotografien des Golfkrieges gerahmt, die in einen direkten semantischen Bezug zu seinem textuellen Inhalt treten und eine unaufgelöste Spannung »between the documentary mode of the newspaper photos and the literariness of the text« generieren.53 Wie Göran Nieragden bestätigt: These pictures are essential for an understanding of Mother of Battles, as Hulse makes various uses of both the actual persons portrayed and the pictures’ possible symbolic meanings. In this respect, the poem gains a hitherto suppressed quality: its portraits of different characters’ attitudes to the war and their roles in it are accompanied by an actual visual rendering of their prototypes in reality.54

Texte wie Mother of Battles stellen damit eine intensivierte Form der Auseinandersetzung des Literarischen mit dem Modus des Dokumentarischen dar, die sich auf formaler sowie inhaltlicher Ebene vollzieht. Solche Gedichte rekurrieren nicht selten auf einer Kombination verschiedener Darstellungsstrategien wie sie sich prototypisch etwa anhand von Tony Harrisons A Cold Coming zeigen lässt.55 Das äußerst medienkritische Gedicht des englischen Dichters arbeitet ebenfalls mit einem direkten Bezug zwischen Pressefotografie und literarischer Evokation von Kriegserfahrung. Das lyrische Ich ist ein Journalist, der von einem toten irakischen Soldaten angesprochen wird. Bei diesem Soldaten handelt es sich um einen verbrannten Leichnam, der auf einem verstörenden Bild des Photographen Ken Jarecke zu sehen ist, das zu den bekanntesten Fotografien des Golfkriegs gehört. Die Rede der Leiche, deren Bild auf dem Umschlagbild des Gedichtbandes abgedruckt ist, wird im Text als Interview auf Tonband aufgezeichnet und stellt die dominante Stimme des Gedichts dar. Der verbrannte Soldat avanciert zum Sprecher, das lyrische Ich hingegen zum Adressaten: ›Don’t be afraid I’ve picked on you for this exclusive interview. Isn’t it your sort of poet’s task to find words for this frightening mask?

52  Michael Hulse, Mother of Battles [Introduction by Nancy Sanders], Todmorden 1991. 53  Schneider, »The Literary War Commentary«, 429. 54  Nieragden, »Poetry and the Gulf War«, 30. 55  Tony Harrison, »A Cold Coming«, in: ders., A Cold Coming: Gulf War Poems, Newcastle 1991, 7–16.



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If that gadget that you’ve got records words from such scorched vocal chords, press RECORD before some dog devours me mid-monologue.‹ So I held the shaking microphone closer to the crumbling bone […] (v. 11–20)

Die Rede des toten Soldaten verleiht den irakischen Opfern des Krieges, die üblicherweise in der dokumentarischen Medienlandschaft ungehört bleiben, eine Stimme und konfrontiert das lyrische Ich mit seiner Rolle als Reporter und als Dichter. Dabei verwandelt die Kombination aus sarkastischem Ton (»Excuse a skull half roast half bone  /  for using such a scornful tone« [v. 37 f.]) und der traditionellen Form des heroic couplet das ernste Thema des Gedichts zu einem »absurdly comic ›exclusive interview‹ between poet and dead soldier«.56 Trotz der postmodern anmutenden Qualität des Gedichts, die sowohl die literarische als auch die journalistische Tradition der Darstellungen von Tod und Krieg parodistisch hinterfragt, bleiben der Wirklichkeitsbezug des Textes und seine Betonung von Tod und Leid jedoch ungebrochen: I was filled with such a yearning to stay in life as I was burning, such a longing to be beside my wife in bed before I died, […] So press RECORD! I want to reach the warring nations with my speech. Don’t look away! I know it’s hard to keep regarding one so charred, so disfigured by unfriendly fire and think it once burned with desire. (v. 89–92, 95–100)

Das Bild und die Rede des Soldaten verschmelzen in A Cold Coming zu einer an den Westen gerichteten Anklage, zu einem »mirror that returns the gaze  /  of victors on their victory days« (v. 111 f.). Die Vermischung des Literarischen und Dokumentarischen betont dabei einerseits den ­Inszenierungscharakter des Textes, trägt anderseits aber auch zur Schaffung einer besonderen Darstellungsqualität bei: »Like many poems subsequently written about the Gulf War, this poems desires to uncover the hidden horror of the war while simultaneously questioning its ability to articulate the truth behind the terrible charred image.«57 56  Metres, 57  Ibid.

Behind the Lines, 164.

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Im Kontext der hier vorgenommenen Untersuchung ist ferner von Interesse, dass sich in der Verwendung des Pressefotos und der Darstellung einer journalistischen Interviewsituation eine Bewusstheit von den Ausdrucksmöglichkeiten und -grenzen anderer Medien, gleichzeitig aber auch der eigenen, literarischen Mediengattung manifestiert. Dabei wird der literarisch imaginierten Situation aufgrund ihrer Fähigkeit, dem Kriegstoten eine Stimme zu verleihen und diese mit den Ausdrucksmitteln lyrischer Sprache zu ›dokumentieren‹, eine deutliche Überlegenheit zugeschrieben. Durch die Positionierung in einer Zeitung – das Gedicht erschien zuerst in The Guardian58 – tritt der Text ferner in einen expliziten Dialog mit nachrichtenmedialer Kriegsdarstellung, wobei er die eigene emotionale Ausdrucksfähigkeit demonstriert und zugleich das Verschwinden der persönlichen Leidensgeschichte des Toten hinter der starren Totenfratze des stummen Pressefotos kritisiert. A Cold Coming stellt damit ein prototypisches Beispiel für den kreativen Umgang eines literarischen Textes mit zeitgenössischen politischen Ereignissen, neuen medialen Kontexten und ästhetischen Inszenierungsformen dar. Dabei bedient sich das Gedicht verschiedener Darstellungsstrategien zur wirkungsvollen literarischen Inszenierung und Positionierung gegenüber dem Dokumentarischen. Es ­ entwickelt eine innovative Ausdrucksform, die trotz expliziter Selbstanzeige ihrer literarischen Konstruiertheit den Anspruch vertritt, wichtige Aspekte der Kriegswirklichkeit und ihrer medialen Darstellung ›wahrhaftig‹ zu diskutieren. VI. Fazit: Literatur und das intermediale Ausloten von Wahrhaftigkeitsansprüchen Literatur ist in Bereichen menschlicher Grenzerfahrung ein besonders wirkungsmächtiges Medium der Erfahrungsinszenierung und Wirklichkeitsbewältigung. Als »Ort und Anlass« anthropologischer Reflexion stellt Krieg für Literatur einerseits eine besondere Herausforderung an den Wahrhaftigkeitsanspruch der eigenen Darstellungsmöglichkeiten;59 zugleich motiviert Kriegsdarstellung eine ästhetische, ideologische und epistemologische Positionsbestimmung des Imaginären. Im vorliegenden Beitrag wurde die Aufmerksamkeit auf die bisher wenig beachtete, aber in 58  Das Gedicht erschien in der Ausgabe vom 18. März 1991, in der auch journalistische Kriegsdarstellung und -kommentierung zu finden war (vgl. Schneider, »The Literary War Commentary«, 429 f.). 59  Eva Horn, »Der Krieg als Ort anthropologischer Erkenntnis«, Newsletter des Arbeitskreises Militärgeschichte 7 (1998), 14–16.



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verschiedener Hinsicht interessante Lyrik des Golfkriegs gelenkt. An ihrem Beispiel wurde gezeigt, dass Literatur sich bei der Kriegsdarstellung und -kommentierung gegenüber anderen Medien bewusst situiert und von diesen abgrenzt, indem sie deren Verfahren oder Medienprodukte zitiert, integriert, parodiert usw., aber auch, indem sie besonders deutlich ihre eigenen Darstellungspotentiale ausschöpft. Medientheoretisch ausgedrückt treten beim Thema des Krieges literarische Darstellungen also in direkte Konkurrenz mit anderen Diskurs- und Medienformen. Vor allem dem Dokumentarischen und seinem impliziten Insistieren auf einer scheinbar privilegierten Beziehung zur Wirklichkeit begegnet die Literatur dabei mit einem grundsätzlichen Anspruch auf das künstlerische Potential der ästhetisch wahrhaftigen Evokationen von Kriegserfahrung. Zu den Inszenierungsstrategien literarischer Authentizität, die in diesem Kontext ins Feld geführt werden, gehört in der Golfkriegslyrik u. a. der Fokus auf individuelle Erfahrungen und Erlebnisse sowie eine intensive thematische Auseinandersetzung mit der Medialisierung von Krieg im Allgemeinen und eine grundsätzliche Thematisierung der Authentizitätsansprüche des Dokumentarischen im Speziellen. Innovative Gedichte wie Harrisons A Cold Coming und Hulses Mother of Battles demonstrieren, dass sich Literatur beim Versuch, Kriegsaspekte authentisch dazustellen stets in einem (historischen) Prozess des Auslotens von Darstellungsqualitäten und Wahrhaftigkeitsansprüchen befindet. So kann beispielsweise bei ›A Cold Coming‹ aufgrund dessen intermedial, kollagenhafter Struktur und der phantastischen, parodistischen Sprechsituation u. a. ein deutlicher Bezug zur zeitgenössischen postmodernen Literatur und Medienphilosophie hergestellt werden. Inszenierungsformen literarischer Authentizität sind daher stets historisch situiert und mittels a-historischer Typologien kaum greifbar. Wie die Welt, die sie gleichzeitig abzubilden und zu entwerfen suchen, verändern sich ihre Formen im steten Zusammenspiel von Literatur-, Medien- und Kriegsgeschichte.

Probleme der Poetik des Schlüsselromans am Beispiel von Saul Bellows Ravelstein Von Till Kinzel Schlüsselromane bieten ambivalente Leseanweisungen, denn sie scheinen zweierlei gleichzeitig zu tun. Sie stellen einerseits ihren Charakter als Schlüsselroman aus, verweigern aber andererseits eben diesen Charakter und belassen ihn im Ungefähren, indem sie mit dem eigenen Fiktionalitätsstatus selbst Spiele treiben. So mag ein Roman den Leser gerade dadurch zu irritieren suchen, dass er einerseits seine Lektüre als Schlüsselroman nahelegt, während er sie andererseits seitens des Erzählers ausdrücklich dementiert. So geschieht es etwa in Norbert Gstreins Roman Die ganze Wahrheit, in dem der Erzähler eingangs auf raffinierte Weise selbst alle möglichen Verschlüsselungsmöglichkeiten und ihre Vergeblichkeit thematisiert, sofern nur ein Schlüssel sämtliche anderen Verschlüsselungen aufhebt.1 Denn der Schlüsselroman stellt selbst innertextlich nicht alle nötigen Schlüssel – also Decodierungsmittel – zur Verfügung, die für uneingeweihte Leser nötig wären. Er ist vielmehr auf spezifisches Kontextwissen angewiesen und benötigt daher oft ein elaboriertes System para- und peritextueller Verweise, z. B. in Interviews und Lesungen des Autors oder in Rezensionen im Feuilleton, in denen die Schlüsselromanthematik ventiliert wird. Der Schlüsselroman repräsentiert damit in performativer Hinsicht jene Unterscheidung von Esoterik und Exoterik, die ein Paradebeispiel der Gattung, Saul Bellows letzter Roman Ravelstein, auch explizit zum Thema macht, um sie schließlich sowohl zu bestätigen als auch zu dekonstruieren. Das Spiel mit Genre-Konventionen Bellows Roman ist ein Text, der weithin als Schlüsselroman ›über‹ den Politikwissenschaftler Allan Bloom (1930–1992), einen Kollegen Bellows an der Universität Chicago,2 wahrgenommen wurde, wenn er nicht von Gstrein, Die ganze Wahrheit, München 2010, 9 f. zum Kontext Till Kinzel, Platonische Kulturkritik in Amerika. Studien zu Allan Blooms »The Closing of the American Mind«, Berlin 2002. 1  Norbert 2  Siehe

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vornherein lediglich als »biographical portraiture« beschrieben wurde.3 Indem sich der Text u. a. als Schlüsselroman präsentiert, macht er das Genre selbst in seiner intertextuellen Komplexität zum Gegenstand der fiktional gestalteten Reflexion. Bellows Spiel mit verschiedenen Genres macht seinen Roman zu einem außerordentlich schillernden Text, wie auch die Reaktionen der Literaturkritiker zeigen. Anne Cheroff Weinstein etwa nennt Ravelstein eine fiktionale Biographie und sieht in ihr »a book about the writing of a book, the art of biography, and the difficulty of penetrating a great-souled individual«.4 Alexandra Pfleger hat in ihrer komparatistischen Studie über den »erinnerten Freund« Bellows Ravelstein ein eigenes Kapitel gewidmet. Sie liest den Roman als Zeugnis einer Männerfreundschaft, die aus der Sicht eines Ich-Erzählers gedeutet wird.5 Teile des Romans, der als memoir begriffen werden kann und von vielen Rezensenten auch so verstanden wurde, berichten Anekdoten und Dialoge des Ich-Erzählers mit dem Gegenstand seiner Erinnerungen, Abe Ravelstein. Aus seiner Kenntnis der lebensweltlichen Umstände heraus unterstreicht Bellows erster Sohn Greg in seinen eigenen Erinnerungen an den Vater den seiner Meinung nach nicht-fiktionalen Charakter des Textes: »Saul’s last work, Ravelstein, is a magnificent memoir of Bloom, barely disguised as a novel, so filled with actual events, feelings Saul shared, and matters the entire family spoke about that I take the book as largely a work of nonfiction.«6 Der Neokonservative Norman Podhoretz betrachtete den Text ebenfalls mehr als memoir denn als Roman und charakterisierte den Schlüsselroman sogar als »all clef and no roman.«7 Podhoretz erkennt damit durchaus etwas Richtiges, auch wenn er offensichtlich noch einer Romanpoetik verhaftet ist, die zu wissen glaubt, was ein Roman ist und was nicht. Denn das, was Podhoretz offensichtlich vermisst, ist ein klassischer Plot, der dem Text durch einen Spannungsbogen Kohärenz verleiht. Diese Auffassung liegt offensichtlich auch der Einschätzung der Literaturhistorikerin Elaine Showalter zugrunde, Bellows Ravelstein »bare­ ly qualifies as a novel« und sei »plotless«.8 Demgegenüber ist die Einetwa James Atlas, Bellow. A Biography, New York 2000, 595. Cheroff Weinstein, Me and My (Tor)Mentor: Saul Bellow. A Memoir of My Literary Love Affair, New York 2007, 81. 5  Alexandra Pfleger, Der erinnerte Freund. Das Thema der Freundschaft in der Gegenwartsliteratur, Würzburg 2009, 135–164. 6  Greg Bellow, Saul Bellow’s Heart. A Son’s Memoir, New York 2013, 189. 7  Norman Podhoretz, »Bellow at 85, Roth at 67«, Commentary 110.1 (July–August 2000), 35–43, hier 41. 8  Elaine Showalter, Faculty Towers. The Academic Novel and Its Discontents, Philadelphia 2005, 115. Im selben Sinne auch Pfleger, Der erinnerte Freund, 137. 3  Siehe 4  Ann



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schätzung des Buches durch den britischen Schriftsteller Martin Amis wesentlich differenzierter, auch wenn er zunächst – man beachte die Anführungszeichen – die Gleichsetzung »Allan Bloom ›is‹ Ravelstein« notiert. Zwar sei es klar, dass jeder wiedererschaffene Charakter bereits als solcher transfiguriert und auch autobiographische Fiktion immer noch Fiktion im Sinne einer autonomen Konstruktion sei. Außerdem sei es klar, dass »the roman-à-clef is the lowest form of wit.« Doch auch dabei bleibt Amis nicht stehen, denn gerade Ravelstein demonstriere das Gegenteil – oder jedenfalls fast: »Yet Ravelstein comes close to persuading me otherwise. This book is numinous. It constitutes an act of resuscitation, and in its pages Bloom lives.«9 All diese Kritiken zeigen deutlich, wie sehr die professionellen Leser des Textes mit dem Gattungsproblem gerungen haben, mit dem Bellow selbst ein souveränes Spiel treibt. Denn Ravelstein erscheint nicht nur als fiction, sondern auch als das Andere der Fiktion und partizipiert an der nur im nicht-fiktionalen Bereich mit einem echten Wahrheitsanspruch verbundenen Rhetorik der Wahrhaftigkeit und Authentizität, wie im weiteren noch zu zeigen sein wird. Ravelstein schreibt sich in die idiosynkratische Tradition der Biographik ein, die sich zumindest bis auf James Boswells Life of Samuel Johnson bzw. auf die von Samuel Johnson selbst verfasste Biographie etwa von Richard Savage zurückführen lässt und im Roman auch explizit erwähnt wird.10 Die intertextuell komplexe Situation des Verweises auf die biographische Tradition wird noch ergänzt durch den textinternen Hinweis auf den langen Besprechungsessay Thomas Babington Macaulays zu Boswells biographischem Werk bzw. zu einer Edition desselben.11 Die Gesprächsteilnehmer Abe Ravelstein und Chick sind sich mithin der Traditionen des biographischen Schreibens ebenso wie der Reflexionen darüber bewusst, und auch der sich selbst als bescheideneren Geist inszenierende bzw. präsentierende Chick zeigt durch die Selbstverständlichkeit, mit der diese einschlägigen Referenzen im Gespräch hin- und hergespielt werden, dass er alles andere als ein naiver Biograph ist: »What line to take in writing biography became the problem.«12 Ravelstein ist aber nicht nur Teil der Tradition biographischen Schreibens und zugleich Reflexion darauf, sonAmis, Experience, New York 2000, 226. auch Samuel Johnson, »Biography«, The Rambler No. 60, in: ders., Selections from Samuel Johnson 1709–1784, hg. R. W. Chapman, London 1962, 105–109. 11  Saul Bellow, Ravelstein, New York 2000, 6. Siehe auch Thomas Babington Macaulay, »Croker’s Edition of Boswell’s Life of Johnson«, in: ders., Critical and Historical Essays. Contributed to The Edinburgh Review, Vol. I, London 1854, 165–190. 12  Bellow, Ravelstein, 6. 9  Martin 10  Vgl.

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dern auch Teil einer Bellowschen Tendenz zur Integration schlüsselromanartiger Elemente in seinen Romanen und Kurzgeschichten, von Mosby’s Memoirs, das als fiktionales Portrait des konservativen politischen Theoretikers Willmoore Kendall gilt,13 bis zu Humboldt’s Gift, das Bellows Freundschaft mit dem Dichter Delmore Schwartz fiktionalisierte.14 Chick berichtet fiktionsintern darüber, Ravelstein habe ihn direkt zum Schreiben seiner Biographie aufgefordert. Dies spielt im Kontext der fiktionalen Legitimierung seines Schreibprojekts eine wichtige Rolle; die textinterne Legitimierungsstrategie der Erzählerfigur Chick findet ihre außertextliche Parallele in entsprechenden Äußerungen des Autors Saul Bellow, »that Allan had requested an honest portrait«, wie es z. B. Greg Bellow überliefert und Bellow in zahlreichen Interviews zu seiner Verteidigung wiederholte.15 Dass Bloom tatsächlich die inspirierende Gestalt für das Schreiben von Bellows letztem Roman war, lässt sich u. a. aus eindeutigen Hinweisen in den Briefen Bellows entnehmen, die sich auf den Produktionsprozess des Textes beziehen. So schreibt er etwa an Blooms alten Freund Werner Dannhauser: »I promised to eliminate what you thought to be objectionable material and I wrote a revised version of Ravelstein.«16 Bellow selbst war jedoch mit dem Umschreiben des Textes nicht zufrieden, und zwar aus einem gewichtigen poetologischen Grund, den er unter Berufung auf Allan Blooms eigene frühere Kritik an Bellows Roman The Dean’s December erläutert: »He objected to the false characterization of Alexandra and he didn’t spare me one bit. But now the shoe is on the other foot and I saw no reason why I should do in Ravelstein what Allan himself had so strongly objected to in the earlier novel.«17 Bellow weist dann nochmals darauf hin, er habe versucht, Allans Wünsche zu befriedigen, und stellt dann ausdrücklich seine Zurückweisung einer esoterisch-exoterischen Doppelstruktur heraus: »I couldn’t have it both ways. I couldn’t be both truthful and camouflaged.«18 Wenn im Romantext selbst also mehrfach 13  Siehe John A. Murley, »On the ›Calhounism‹ of Willmoore Kendall«, in: John A. Murley, John E. Alvis (Hgg.), Willmoore Kendall. Maverick of American Conservatives, Lanham 2002, 133, Anm. 10. 14  Vgl. etwa David Kerner, »The Incomplete Dialectic of Humboldt’s Gift«, in: Harold Bloom (Hg.), Saul Bellow, New York / Philadelphia 1986, 164 f. 15  Greg Bellow, Saul Bellow’s Heart. A Son’s Memoir, New York 2013, 200. 16  Saul Bellow, Letters, hg. Benjamin Taylor, New York 2010, 545 f. Vgl. auch den Brief an Martin Amis 547 f. 17  Ibid., 546. 18  Ibid.



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Stellen zu finden sind, die Ravelstein selbst den Wunsch nach einem ungeschminkten Portrait in den Mund legen, und zwar in direkter Rede (»I want you to show me as you see me, without softeners or sweeteners«19), so erfüllen diese auch die Funktion, Bellows Buchprojekt gegen die im Vorfeld der Veröffentlichung von Freunden Allan Blooms erhobenen Einwände zu immunisieren. Bellow inszeniert mit leichter Hand und in scheinbar äußerst lockerer Form ein komplexes intertextuelles Verweisspiel, das zugleich auch die Selbstreflexivität des Textes unterstreicht. Dabei werden sowohl literarische als auch philosophische Referenzen in den Intertext des Romans eingespeist. Zur Einkreisung des Biographie-Themas soll daher etwas genauer betrachtet werden, wie Bellow im Rahmen der Fiktion Authentizitätsanmutungen hervorruft, welche die Leser des Romans in ihrer Rezeptionshaltung zu beeinflussen suchen. Der Roman lässt sich in zwei Richtungen lesen. In die Richtung der Entschlüsselung, also auf Referentialisierung. Dann ist Ravelstein ein Roman über die reale Person Allan Bloom, den berühmten Schüler des politischen Philosophen Leo Strauss, und Abe Ravelstein ist dann tatsächlich ein Portrait von Allan Bloom. Um diese Deutung nahezulegen, enthält der Text verschiedene Verweise, die in jedem Fall der Interpretation des Lesers bedürfen, was jedoch ohne entsprechendes Kontextwissen schwerlich möglich ist. Dazu dienen explizite Verweise plus verdeckt-explizite Verweise (z. B. auf den ursprünglich geplanten Titel Souls without Longing für The Closing of the American Mind20) mit den für Schlüsselliteratur typischen Verfremdungen. Auch wenn man den Roman als Schlüsselroman liest, bedeutet das Gesetz der Substitutionen, dass sich die Informationen über die literarische Figur Abe Ravelstein nur als scheinbare Informationen über Allan Bloom interpretieren lassen. Zugleich aber lässt sich das entschlüsselnde Interesse ausblenden oder einklammern, so dass gerade die Komponente der Fiktionalisierung in den Vordergrund gerückt wird. Aus der Perspektive einer solchen Lektüre müsste die Schlüsselroman-Optik gerade zur Eliminierung des spezifisch Literarischen am Text führen, wie es etwa Philip Roth in Exit Ghost eindrucksvoll thematisiert, wenn Amy Bellette mit geradezu stalinistischem Fanatismus den Versuch von Literaturkritikern denunziert, die realen 19  Ibid.,

133. Saul Bellow, Ravelstein, New York 2000, 83 (»Souls Without Longing had been the working title of his famous book.«); mit Michael Platts Bloom-Aufsatz unter dem Titel »Souls Without Longing«, Interpretation 18.3 (1991), 415–465. 20  Vgl.

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Vorbilder von literarischen Figuren in Kurzgeschichten Hemingways zu eruieren.21 Warum aber überhaupt Verschlüsselung? Ein Grund ist zunächst die Abschwächung der Wahrheitsfrage, der mimetischen Verlässlichkeit, woraus sich für den Verfasser des Schlüsselromans eine größere Freiheit der Imagination und der Selektion ergibt. Als Verfasser eines Schlüsselromans steht er nicht unter dem gegenüber einer Biographie angebrachten Zwang. In welchem Verhältnis steht also die mimetische Dimension zur fiktionalen in einem Schlüsselroman wie Ravelstein? Diese Fragen sind deshalb so faszinierend und interessant, weil sie das Genre des Schlüsselromans als Feld begreifen lassen, in dem zentrale literaturtheoretische Kontroversen und Spannungen ausgetragen und zur Darstellung gebracht werden. Der Schlüsselroman stellt deshalb eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft dar, weil er die säuberliche Trennung in eine Welt der Fiktion und eine Welt der Realität unterläuft. Eine strikt formalistisch und strukturalistisch argumentierende Position wird zwar nicht abstreiten, dass sich Schriftsteller beim Abfassen ihrer Texte auch lebensweltlichen Materials bedienen können, doch wird die Literatur in diesem (strukturalistischen) Kontext zuallererst als »eigengesetzliches System« verstanden, das dementsprechend »zugunsten ihrer Eigengesetzlichkeit außerliterarisches Material deformativ verarbeitet«, also auch nicht geeignet scheint, »Erkenntnisse über das Leben (d. h. die Wirklichkeit) zu gewinnen […]«.22 Einen stärker eindeutig interpretierbaren Wirklichkeitsbezug des Schlüsselromans sieht Remigius Bunia, der am Beispiel von Maxim Billers Roman Esra die Auffassung verteidigt, dass es tatsächlich legitim ist, den Text unter referentialisierenden Vorzeichen zu lesen, insofern die (auch rechtlich relevante) Erkennbarkeit realer Menschen in den fiktiven Figuren des Romans gegeben ist.23

21  Siehe Philip Roth, Exit Ghost, Boston / New York 2007, 184; dazu Till Kinzel, »Der Ort des Schriftstellers und die Moral seiner Kunst: Philip Roths Romane ­zwischen Moderne und Postmoderne«, in: Andrea Hübener, Jörg Paulus, Renate Stauf (Hgg.), Umstrittene Postmoderne. Lektüren, Heidelberg 2010, 351–368, hier 364–367. 22  Uwe Durst, Theorie der phantastischen Literatur, Berlin 22010, 225. 23  Siehe dazu Remigius Bunia, »Fingierte Kunst. Der Fall Esra und die Schranken der Kunstfreiheit«, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 32.2 (2008), 161–182.



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Poetik des Schlüsselromans Philip Stewart hat darauf hingewiesen, dass die Abwesenheit oder Nicht-Existenz eines Schlüssels niemals bewiesen werden kann, so dass im Letzten jeder Roman zu einem Schlüsselroman avancieren könne. Wichtig ist darüber hinaus der Umstand, dass der Schlüsselroman kein klar umrissenes Genre im eigentlichen Sinne darstellt, sondern eine Menge von literarischen Techniken, die auf einen bestimmten Realitätseffekt zielten: »All kinds of admixtures being possible, in practice the roman à clef is less a distinct genre than a set of techniques aimed at creating a particular kind of reality effect, variously shared with other fictional categories.«24 Der Schlüsselroman lebt von der Schlüssel-Schloss-Struktur, die sich auf die Aufschlüsselung bzw. Entschlüsselung einer Referenz bezieht.25 Der Schlüsselroman wirft zudem mit Notwendigkeit die Frage nach den Grenzen eines Literaturverständnisses auf, das in der Literatur wesentlich Nicht-Referentialität verkörpert sieht, weil sie eine Welt schafft, die eigenen Gesetzen folgt.26 Die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug von Literatur lässt sich im Falle der Schlüsselliteratur nicht als unberechtigt ausgrenzen; auch reicht es nicht hin, die Wirklichkeitselemente des Textes lediglich als Spolien der außerliterarischen Wirklichkeit zu betrachten, wenn der Schlüsselcharakter des Textes sich intentional auf die Kommunikationsabsichten des Verfassers beziehen lässt, darin der Satire ähnlich.27 Der Schlüsselroman erschöpft sich zwar nicht in seiner Referentialität, teilt diese aber mit den Gattungen des biographischen bzw. autobiographischen Schreibens, auch wenn diese Referentialität in mancher Hinsicht im Zeichen der Postmoderne problematisch geworden ist und sich zunehmend auch des Mittels einer fragmentarischen Darstellung bedient, um die prin24  Philip Stewart, »Roman à clef«, in: David Herman, Manfred Jahn, Marie-Laure Ryan (Hgg.), Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, London / New York 2005, 505 f., hier 506. 25  Vgl. Gertrud Rösch, Clavis Scientiae: Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur, Tübingen 2004, 20–39. 26  Siehe etwa Uwe Durst, Das begrenzte Wunderbare. Zur Theorie wunderbarer Episoden in realistischen Erzähltexten und in Texten des »Magischen Realismus«, Berlin 2008, 51. 27  Daher sind auch beide »Kunstformen« immer wieder Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzungen. Vgl. Sebastian Gärtner, Was die Satire darf. Eine Gesamtbetrachtung zu den rechtlichen Grenzen einer Kunstform, Berlin 2009, 100–104. Zum grundsätzlichen Problemkreis »lebensweltlicher Referentialisierungen« (213) sowie von »Modifikationen oder Suspensionen des Fiktionspaktes« (247) siehe die mate­ rialreichen Erörterungen von Ralf Klausnitzer, Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen, Berlin 2008, 210–249; vgl. Rösch, Clavis Scientiae, 79 f.

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zipielle Unabschließbarkeit einer biographischen Darstellung auszustellen.28 Ganz aufgeben läßt sich die Referentialität aber auch durch einen radikalen Konstruktivismus nicht, will man nicht ein wesentliches Spezifikum biographisch-historischer Darstellungen verfehlen.29 Saul Bellows Ravelstein als teilweise verdeckter biographischer Text Allan Blooms Bestseller The Closing of the American Mind von 1987 war u. a. auf Drängen seines Kollegen und Freundes Bellow zustandegekommen, der auch Kontakte zu Literaturagenten und Verlagen herstellte. Bellow schrieb dann auch ein längeres Vorwort zu Blooms Essay, in dem er dessen bildungsphilosophische Überlegungen zu seinen eigenen Romanen, vor allem aber zu Herzog, in Beziehung setzte – auch dieser Text ließ sich bereits als ironischer Kommentar über den beschränkten Nutzen akademischer Bildung bei der Lösung der entscheidenden Lebensfragen lesen, schreibt der höchst gelehrte Herzog doch inmitten seiner Lebenskrise »grieving, biting, ironic and rambunctious letters not only to his friends and acquaintances, but also to the great men, the giants of thought, who formed his mind«.30 Bellow verfasste außerdem eine Art Nachruf auf Bloom, der deshalb wichtig ist, weil er teilweise wörtlich, wenn auch mit signifikanten Verschiebungen bzw. Substitutionen in den Ravelstein-Roman übernommen wurde.31 Hier mag ein Beispiel genügen, in dem zudem eine Art Identifikation Blooms wie Ravelsteins mit Sokrates vorgenommen wird, die später für Chicks subversive Deutung des sokratischen Lebens Bedeutung erlangen wird: Bloom wie Ravelstein zitieren Sokrates’ Meinung in Platons Phaedrus, dass die Bäume, so schön sie auch seien, nicht zu einem sprächen, anders als die Menschen in der Stadt.32 Günter Niggl, Studien zur Autobiographie, Berlin 2012, 45–49. dazu Sven Hanuschek, »Referentialität«, in: Christian Klein (Hg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009, 12–16. Eine ältere literaturwissenschaftliche Diskussion zum Problem der Referenz findet sich in: Anna Whiteside, Michael Issacharoff (Hgg.), On Referring in Literature, Bloomington / Indianapolis 1987. 30  Saul Bellow, »Foreword«, in: Allan Bloom, The Closing of the American Mind, New York 2012, 11–18, hier 15–17. Vgl. nur z. B. Herzogs Brief an Spinoza (Saul Bellow, Herzog, in: Novels 1956–1964: Seize the Day, Henderson the Rain King, Herzog, New York 2007, 599). 31  Siehe Saul Bellow, It All Adds Up. From the Dim Past to the Uncertain Future. A Nonfiction Collection, Harmondsworth 1995, 276–279. 32  Vgl. Bellow, It All Adds Up, 276, mit Bellow, Ravelstein, 100. 28  Siehe 29  Siehe



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Der Text Bellows weist im peri- und paratextuellen Kontext Signale auf, die seine Natur als Schlüsselroman mehr oder weniger deutlich nahelegen. Zunächst ist dies der sogenannte Disclaimer, der auf der Impressumsseite abgedruckt ist und aus rein rechtlichen Gründen die Zufälligkeit der Ähnlichkeit von dargestellten Charaktere mit wirklichen Personen behauptet; sollten Ähnlichkeiten nicht zufällig sein, so wird eine weitere Möglichkeit angesprochen, würden diese Personen nur »fiktional« verwendet. Eine solche Erklärung wäre unnötig, wenn nicht von seiten des Verlags und des Verfassers befürchtet oder erwartet würde, dass Wirklichkeitsbezüge hergestellt werden könnten. Dass diese Befürchtung nicht unberechtigt ist, zeigt die intensive feuilletonistische Rezeption von Ravelstein, aus der hier exemplarisch nur einige wenige Stimmen angeführt wurden. Fast ganz übereinstimmend geht also die literaturkritische Rezeption davon aus, dass es sich bei Bellows Roman tatsächlich um einen stark mit Referentialisierungen durchsetzten Text handelt, den nicht als Schlüsselroman zu lesen eine besondere hermeneutische Anstrengung erfordert, die kurioserweise darin bestehen muss, bestimmte bekannte und beschreibbare Aspekte des Textes auszublenden.33 In der Widmung des Romans, die als paratextuelles Signal hervorsticht,34 stellt Bellow selbst einen eindeutigen Bezug der fiktionalen Welt zur wirklichen Welt her, wenn er den Text seiner Frau Janis als der »real Rosie« zueignet. Die mit der homodiegetischen Erzählerfigur Chick verheiratete Romanfigur Rosamund entspricht somit der letzten (fünften) Ehefrau des Autors Saul Bellows, Janis Freedman Bellow, die damit als eigentlicher Schlüssel fungiert. Daraus folgt mit logischer Konsequenz alles Weitere – vor allem die Legitimität des Versuchs, eine Entschlüsselungsliste der Romancharaktere anzulegen. Gerade das aber führt zu einem für Schlüsselromane typischen Problem, nämlich einer nicht-literarischen Lektüre, insofern der Leser sich ihrer zur (vermeintlichen) Informationsbeschaffung bedient. Cynthia Ozicks Kritik des Schlüsselromans am Beispiel Ravelsteins Die amerikanische Literaturkritikerin und Schriftstellerin Cynthia Ozick hat deshalb in einem der bemerkenswertesten Essays über Ravelstein den Versuch unternommen, seine Lektüre als Schlüsselroman radikal 33  Siehe dazu weiter unten die Ausführungen zu Cynthia Ozicks Ravelstein-Interpretation. 34  Gérard Genette, Seuils, Paris 2002, 120–146.

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zu delegitimieren, wie schon der Titel ihrer Rezension hinreichend verdeutlicht: »Throwing away the clef«.35 Auch wenn dies m. E. aus noch darzulegenden Gründen wenig überzeugend scheint, stellt Ozick doch einige Überlegungen an, die für eine genauere Erörterung des Romans wie der Problematik der Schlüsselliteratur allgemein von großem Interesse sind. Wie Ozicks Essay zeigt, ist es möglich, auf der Basis einer willentlichen Entscheidung den Schlüsselromancharakter eines Buches zu ignorieren, um ihn als rein fiktionales Kunstwerk zu lesen. Aus Sicht einer kognitiven Hermeneutik36 ist dies aber nur um einen Preis möglich, nämlich der Ausblendung von vorhandenen textuellen und paratextuellen Signalen, welche die Interpretin ignorieren will. Ozicks gegen die entschlüsselnde Lektüre gerichtete Position artikuliert sich in dem notwendigerweise vergeblichen Appell an die Leser, sie hätten die Pflicht, »to shut their ears and turn away«, wenn man ihnen einen Schlüssel zur Entzifferung des angeblichen Schlüsselromans anbiete.37 Ozicks implizite Literaturtheorie geht davon aus, dass das »kingdom of the novel« gefährdet sei, wenn es von der Lesestrategie des Entschlüsselns heimgesucht wird.38 So stellt Ozick etwa in Bezug auf Philip Roth die offenbar rein rhetorisch gemeinte Frage: »Why should Philip Roth’s ›Philip Roth‹ be Philip Roth?«39 Damit macht es sich Ozick allerdings zu leicht, denn warum hätte ein schreibmethodisch bewusster Autor wie Roth von allen denkbaren Namen ausgerechnet seinen eigenen wählen sollen, wenn er nicht gerade den Leser in das postmoderne Spiel mit der Referenz hineinziehen wollte, das dieser Name notwendig impliziert. Selbst wenn es sich dabei um eine falsche Fährte (red herring) handeln sollte, erforderte ein erfolgreiches Spiel doch, dass die Leser bereit sind, sich auf diese Fährte locken zu lassen. Das aber bedeutet auch, dass der Roman nicht schon als Roman ausgehebelt oder aufgehoben wird, wenn der Text sich auf außer­ literarische Referenzen bezieht. Vielmehr ist der Roman als Gattung in der Lage, die Dimension des Verschlüsselns und Entschlüsselns in sich selbst aufzunehmen und damit selbst den problematischen Wirklichkeitsbezug zum Thema zu machen.

35  Der Text ist wieder abgedruckt in Cynthia Ozick, The Din in the Head. Essays, Boston 2006, 57–69. 36  Peter Tepe, Kognitive Hermeneutik. Textinterpretation ist als Erfahrungswissenschaft möglich, Würzburg 2007, 50–86. 37  Cynthia Ozick, »Throwing Away the Clef: Saul Bellow’s Ravelstein«, in: dies., The Din in the Head, 57. 38  Ozick, »Throwing Away the Clef«, 61. 39  Ibid., 58.



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Eine weitere Frage, die Ozicks Deutungsansatz aufwirft, führt indes in das Zentrum der Auslegung eines jeden Schlüsselromans: Was ist damit gewonnen, wenn ein mechanisch anwendbarer Schlüssel an das jeweilige Buch angelegt wird und wir dann also wissen, dass diese oder jene literarische Figur dieser oder jener realen Person ›entspricht‹? Auch dieses Wissen müsste ja erst eine Bedeutung erlangen, die für die Rezeption des Romans insgesamt wichtig ist. Die transformative Kraft des Romanciers, auf die Ozick emphatisch abhebt, ist davon unberührt, weshalb ihr auch darin recht zu geben ist, wenn sie betont, Bellow lasse im Letzten die ihn inspirierenden lebensweltlichen Figuren wie Allan Bloom, Isaac Rosenfeld, Delmore Schwartz und Harold Rosenberg hinter sich. Die Kritik am Schlüsselroman, der sich auch Ozick verpflichtet fühlt, greift dann nicht, wenn man sich des Umstands versichert, dass der Schlüsselroman keineswegs hinreichend damit bestimmt ist, wenn die »Dekodierung des Realitätsbezugs Erzählziel ist«, wie Gero von Wilpert in seiner Sachwörterbuchdefinition schreibt.40 Vielmehr eröffnet die Entschlüsselung auf eine außerliterarische Realität hin wiederum neue Möglichkeiten, auch der Literarizität des Textes gerecht zu werden und die von diesem Text verhandelten Fragen in einen weiteren Kontext zu stellen. Im Falle von Ravelstein ermöglicht der Einbezug textextern belegter Gedanken von Allan Bloom ebenso wie von Leo Strauss eine präzisere Fokussierung auf die Streitsachen, die der Roman selbst präsentiert und verhandelt, da die verschlüsselten Lektüreanweisungen, die Chick selbst präsentiert (etwa der Hinweis auf seine Lektüre einiger Werke von Ravelsteins Lehrer Davarr41), wiederum auf die Rezeptionshaltung der Leser einwirken können. Verweigert sich der Leser aber dieser verdeckten Lektüreanweisung, die ihn zu einem besseren Verständnis Ravelsteins führen würde, bietet der Text hier eine Leerstelle, die textintern nicht geschlossen werden kann und dementsprechend zugleich das Scheitern einer totalisierenden Darstellung Ravelsteins anzeigt. Das Lesen eines Schlüsselromans kann – auch ohne konkrete Gefahr der Verfolgung, wie sie möglicherweise im Falle von Gerichtsverfahren angesetzt werden kann – als Anwendungsfall des »reading between the lines« betrachtet werden, das für jede Form der Entschlüsselung eines äsopischen Schreibens charakteristisch ist.42 Dazu gehört, was hier indes von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, 7. Aufl., Stuttgart 1989, 827. etwa Bellow, Ravelstein, 101: »Ravelstein talked so much about him [d. h. Davarr] that in the end I was obliged to read some of his books. It had to be done if I was to understand what Abe was all about.« 42  Vgl. etwa Annabel Patterson, Reading Between the Lines, London 1993; Leo Strauss, »On a Forgotten Kind of Writing«, in: ders., What Is Political Philosophy? 40  Gero 41  So

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nicht weiter ausgeführt werden kann, eine grundsätzliche Restitution bzw. Affirmation der intentio auctoris als legitimer Kategorie der Literaturwissenschaft, weil dem leserseitigen Lesen zwischen den Zeilen ein autorseitiges Schreiben zwischen den Zeilen entspricht, soll nicht einfach Bedeutung freischaffend konstruiert werden: Der richtige Schlüssel muss derjenige sein, den der Autor auch als solchen wiedererkennen kann.43 Die Metaphorik des Lesens zwischen den Zeilen eröffnet die Möglichkeit, den Text als etwas zu lesen, das in der Schrift des Textes selbst nicht restlos aufgeht. Biographik und Intertextualität Zu den Problemen der Beziehungen von Fiktionalität und Authentizität am Beispiel der biographischen und (pseudo-)autobiographischen Literatur sind maßgebliche theoretische Erörterungen von so entgegengesetzten Polen wie Jean-Paul Sartre und Pierre Bourdieu beigetragen worden, die es erlauben, auch den Status von Bellows Ravelstein genauer zu bestimmen. Sartres biographische Hermeneutik lässt sich dabei neben theoretischen Äußerungen auch seiner biographischen Praxis entnehmen, die sich insbesondere an Flaubert zu bewähren hatte. Für Sartre war das Projekt Der Idiot der Familie der Frage gewidmet: »was kann man heute von einem Menschen wissen?«44 Sartre folgte, verkürzt gesagt, einem methodischen Ansatz, der sich als totalisierend beschreiben lässt, indem er so viel als möglich konkrete Details und kontextuelles Wissen in seine biographische Darstellung integriert, die dadurch zugleich Gipfel des biographisch Möglichen wie auch Überschreitung des Biographischen ist.45 Dem gegenüber vertrat Bourdieu prononciert eine Konzeption, welche »die biographische Illusion« zum Thema machte, die darin besteht, eine Lebensgeschichte »als kohärente Erzählung einer signifikanten und auf etwas zuand Other Studies, Chicago 1988, 221–232; Robert Howse, »Reading Between the Lines: Exotericism, Esotericism, and the Philosophical Rhetoric of Leo Strauss«, Philosophy and Rhetoric 32.1 (1999), 60–77. 43  Siehe dazu allgemein Axel Bühler, »Ein Plädoyer für den hermeneutischen Intentionalismus«, in: Maria E. Reicher (Hg.), Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie, Paderborn 22010, 178–198, sowie Till Kinzel, »Wahrheit ohne Methode? Hermeneutischer Relativismus als Herausforderung«, Philotheos 12 (2012), 3–16. 44  Jean-Paul Sartre, Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821–1857. I. Die Konstitution, übers. und hg. Traugott König, Reinbek 1986, 7. 45  Vgl. zu Sartres Ansatz die Aufsätze in dem Band Sartres Flaubert lesen. Essays zu »Der Idiot der Familie«, hg. Traugott König, Reinbek 1980.



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laufenden Folge von Ereignissen« produzieren zu wollen.46 Die prinzipielle und vor allem auch moralische Unmöglichkeit der Biographie war schon vorher von einem prominenten Betroffenen plastisch hervorgehoben worden. Denn als Arnold Zweig sich an Sigmund Freud mit der Idee einer Biographie wandte, schrieb ihm dieser am 31. Mai 1936: »Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu gebrauchen.«47 Die Problematik der Wahrheit im Bereich der Biographie, die Freud hier emphatisch zur Darstellung bringt, wird von diesem indes nur als ein Spezialfall der Wahrheitsfähigkeit des Menschen überhaupt begriffen, wie aus den unmittelbar folgenden Worten deutlich wird: »Die Wahrheit ist nicht gangbar, die Menschen verdienen sie nicht, und übrigens hat unser Prinz Hamlet nicht recht, wenn er fragt, ob jemand dem Auspeitschen entgehen könnte, wenn er nach Verdienst behandelt würde?«48 Freuds Ablehnung der Möglichkeit biographischer Wahrheit hat trotz der Bedenken, jemand könne seine Biographie schreiben, einen Zug ins Grundsätzliche und bereitet damit gerade das Feld für biographisches Schreiben, das sich nicht anmaßt, die »Wahrheit zu haben«. Vor dem Hintergrund dieser Diskussionen um die Möglichkeit und die Methode biographischen Schreibens erscheint Ravelstein als eine höchste reflektierte, teils dialogisch aufbereitete Auseinandersetzung mit den Optionen und den Grenzen der Biographie als literarischer Gattung. Denn Bellow führt ausdrücklich an, er praktiziere einen »piecemeal approach to Ravelstein«, der vielleicht (!) am besten geeignet sei, sich seiner Person anzunähern.49 Esoterik und Exoterik als Strukturprinzip von Ravelstein: Die Leo Strauss-Connection Erst die Entschlüsselung einer für Abe Ravelstein zentralen Figur, seines Lehrers Felix Davarr, gibt dem sorgfältigen Leser des Romans einen weiteren Schlüssel in die Hand, um Ravelstein als komplexen Meta-Schlüssel46  Siehe dazu Pierre Bourdieu, »Die biographische Illusion« [1986], in: Bernhard Fetz, Wilhelm Hemecker (Hgg.), Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar, Berlin / New York 2011, 303–310, hier 305. 47  Sigmund Freud, Arnold Zweig, Briefwechsel, hg. Ernst L. Freud, Frankfurt a. M. 1984, 137. 48  Freud, Zweig, Briefwechsel, 137. 49  Bellow, Ravelstein, 37, 16.

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roman identifizieren zu können. Denn erst im Lichte dieser Entschlüsselung wird die ganze Tragweite deutlich, die der bemerkenswert häufigen Verwendung des Begriffs ›esoteric‹ in Bellows Roman zukommt. Bellow spielt in ausgesprochen auffälliger Weise mit diesem Begriff, der hier jedoch nicht in dem Sinne verwendet wird, dass er sich auf ein geheimes Wissen bezöge, obwohl auch dies angesichts von Bellows gut dokumentiertem nachhaltigem Interesse an den Lehren Rudolf Steiners nahegelegen hätte.50 Hinter der Figur Davarrs steht, wie mehrere Hinweise nahelegen, offensichtlich der aus Deutschland stammende politische Philosoph Leo Strauss, der in den USA vor allem an der Universität Chicago lehrte und wie kein anderer Denker des 20. Jahrhunderts dafür bekannt ist, die Unterscheidung einer esoterischen und exoterischen Sinnebene in philosophischen Texten zum Thema gemacht zu haben.51 Für Strauss waren alle echten Philosophen der Philosophiegeschichte Exoteriker in dem Sinne, dass sie eine doppelte Adressatenstruktur in ihren Schriften beachteten.52 Bloom selbst fasst diesen Gedanken von Strauss zusammen, indem er den Philosophen eine »gentle art of deception« zuschreibt, worin zugleich auch ein moralisches Doppelproblem liegt: »The philosopher wants to know things as they are. He loves the truth. That is an intellectual virtue. He does not love to tell the truth. That is a moral virtue.«53 Für dieses Problem bietet Bellow eine eigene, philosophiekritische Lösung an, denn für ihn fallen intellektuelle und moralische Tugend gleichsam in eins; sein nicht-philosophischer Erzähler Chick glaubt nicht an eine wahrheitsverbergende Moral. Ein erster Hinweis auf diesen Zusammenhang findet sich anlässlich der Erwähnung der Gruppe (»set«) um Ravelstein, über die es bei Bellow heißt: »He had a set of his own. Its members were students he had trained in political philosophy and longtime friends. Most of them were trained under Professor Davarr and used his esoteric vocabulary.«54 Zwar ist Leo zuletzt Bellow, Saul Bellow’s Heart, 145 f. dazu Laurence Lampert, »Strauss’s Recovery of Esotericism«, in: Steven B. Smith (Hg.), The Cambridge Companion to Leo Strauss, Cambridge 2009, 63–92; monographisch dazu jetzt auch Laurence Lampert, The Enduring Importance of Leo Strauss, Chicago 2013. 52  So Leo Strauss, Persecution and the Art of Writing, Chicago 1988, 36: »An exoteric book contains […] two teachings: a popular teaching of an edifying character, which is in the foreground, and a philosophic teaching concerning the most important subject, which is indicated only between the lines.« 53  Allan Bloom, The Closing of the American Mind, New York 2012, 279. 54  Bellow, Ravelstein, 10; vgl. 26. Ravelsteins Syllabus kann am besten als Mischung aus den bevorzugten Seminarthemen von Leo Strauss und Allan Bloom 50  Vgl.

51  Siehe



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Strauss nicht für ein »esoteric vocabulary« im engeren Sinne bekannt,55 doch gehört der Ausdruck »esoteric« (bzw. auch »exoteric«) zu den Schlüsselwörtern seiner Philosophiekonzeption, die in Ravelstein indes nur in oberflächlicher Weise als Leitmotiv erwähnt wird, da Chick sich auf die philosophische Dimension nicht näher einlässt.56 Gleichwohl betont er mehrfach die große Bedeutung der von Ravelstein ebenso wie von seinem Lehrer Felix Davarr repräsentierten Lehre eines »esoteric system«, gemäß der »all great texts had esoteric significance«.57 Da sich Chick in seiner Darstellung Ravelsteins weitgehend auf dessen Persönlichkeit, nicht auf seine philosophischen Lehren konzentriert, umgeht er geschickt die Notwendigkeit, sich hermeneutisch dieser »esoteric significance« stellen zu müssen. Die besondere Raffinesse von Ravelstein besteht nun darin, dass Bellows Erzähler die Strauss’sche Esoterik-Exoterik-Konzeption innerhalb seiner Romankonstruktion mehrfach aufgreift, sie aber im Letzten gegen diese Konzeption selbst wendet, also im eigentlichen Sinne dekonstruiert. Dies geschieht, indem er einerseits die Existenz einer Form von Esoterik zuzugeben scheint, dieses Zugeständnis aber durch die Aussage »The simplest of human beings is, for that matter, esoteric and radically mysterious« ad absurdum führt, weil damit die in der Strauss’schen Konzeption implizierte unüberwindbare Unterscheidung von Philosoph und Menge unterlaufen wird.58 Das Esoterische der Esoterik wird so unter Bellows Händen zu einem Gemeinplatz, der auf jeden zutrifft, also gerade nicht zur Etablierung eines unüberwindlichen Gegensatzpaares taugt, wenn das Individuum an sich immer schon als esoterisch begriffen werden muss. In Chicks Auseinandersetzung mit Ravelsteins Lebensform fallen mehrere Punkte auf, die insgesamt den Eindruck nahelegen, Bellow habe seinen Roman als subtile Philosophenkritik angelegt. Nicht nur betont Chick v­ erstanden werden. Vgl. George Steiner, Lessons of the Master, Cambridge, Mass. 2003, 145. 55  In der Phase seiner Wiederentdeckung des esoterischen Schreibens berichtet er allerdings einmal in einem Brief an Jacob Klein vom 16. Februar 1938, es gehe ihm jetzt darum, »ein Lexikon der Geheimwörter zusammenzustellen.« Siehe Leo Strauss, Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften – Briefe, hg. Heinrich u. Wiebke Meier, Stuttgart / Weimar ²2008, 530. 56  Allan Bloom, »Leo Strauss, September 20, 1899-October 18, 1973«, in: ders., Giants and Dwarfs. Essays 1960–1990, New York 1990, 243 f., 246, betont die »discovery of esoteric writing« in der zweiten Phase von Strauss’ Denkbewegung. 57  Bellow, Ravelstein, 69, 22. 58  Ibid., 22.

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in auffälliger Weise seine Distanz zur Philosophie.59 Während nämlich die Philosophie traditionell die Sokratische Maxime verteidigt, dass das ungeprüfte Leben nicht wert ist, gelebt zu werden, verknüpft Chick diese Maxime mit dem Problem der Wahrheitsfähigkeit des Menschen, und zwar in einer kontextuell isolierten Bemerkung: »Maybe an unexamined life is not worth living. But a man’s examined life can make him wish he was dead«, woraufhin Ravelstein in nachgerade hysterisches Gelächter ausbricht.60 Charakteristisch ist hier erstens der intertextuelle Verweis auf das sokratische Philosophieverständnis, zweitens aber auch die nichtdialogische Konstellation, denn Ravelstein reagiert nicht, wie es einer SokratesFigur entspräche, mit einer dialektischen Prüfung dieses Satzes, sondern mit Lachen, also non-verbal und insofern nicht-rational. Drittens lässt sich die Stelle als Hinweis darauf lesen, dass es gerade die nicht-philosophische literarische Erzählung sein mag, die etwas an einer Biographie darstellen kann, das als blinder Fleck des philosophischen Rationalismus und seiner Idee der radikalen Selbstprüfung gelten kann. Ravelstein kann im Letzten als Intervention im Streit zwischen Dichtung und Philosophie verstanden werden, der ein Streit jedenfalls aus Sicht der von Platon entwickelten Philosophie ist. Glenn W. Most hat gezeigt, dass die präzise historische Referenz des von Platon seinem Sokrates in den Mund gelegten »alten Streites zwischen Dichtung und Philosophie« unklar ist. Entscheidend ist jedoch, dass die Aussage des Sokrates offenbar eine Selbstpositionierung der Platonischen Philosophie bedeutet, nicht aber eine historisch nachweisbare Ablehnung oder Kritik der Philosophie durch die Dichtung.61 Es ist also die Sicht des Philosophen, die in der Dichtung eine Konkurrenz erkennt. Diese Konkurrenz ist aber vor allem deshalb so gefährlich, weil die Dichtung die Philosophie und damit die Idee der kritischen Prüfung des Lebens in sich absorbieren und potentiell neutralisieren kann, so wie auch Bellows Ravelstein zwar einen Philosophen darstellt, nicht aber die Philosophie selbst zur Darstellung bringt. Der Erzähler Chick stellt sich selbst wiederholt als philosophischen Laien hin, der nicht über die nötige Urteilskraft verfügt, den Wert des Denkens von Whitehead oder Russell einzuschätzen. Zugleich berichtet er, Ravel59  Ibid.,

42: »Philosophy is not my trade.« 32. Sarah Blacher Cohen, »Saul Bellow’s Ravelstein and the Graying of American Humor«, in: Allan Chavkin (Hg.), Saul Bellow, Pasadena 2012, 300–311, hier 303, schreibt dieses Zitat irrtümlich Ravelstein selbst zu und verkennt daher die antisokratische Stoßrichtung von Chicks Intervention. 61  Siehe Glenn W. Most, »What Ancient Quarrel Between Philosophy and Poetry?«, in: Pierre Destrée, Fritz-Gregor Herrmann (Hgg.), Plato and the Poets, Leiden 2011, 1–20. 60  Ibid.,



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stein habe versucht »to protect me from poring over the works of the thinkers he most admired«: »He ordered me to write this memoir, yes, but he didn’t think it was necessary for me to grind away at the classics of Western thought.«62 Dieses Vorgehen entbehrt nicht der Paradoxie, da der Philosoph Ravelstein offenbar keine Bedenken trägt, sich von dem unphilosophischen Chick portraitieren zu lassen und diesen ausdrücklich von dem Anspruch suspendiert, sein Denken darzustellen. Zugleich aber spricht der Bestseller Ravelsteins dafür, dass dieser nicht nur ein Philosoph, sondern auch ein Popularisator der Philosophie ist, also selbst nicht praktiziert, was Philosophen wie Platon, Lukrez, Machiavelli, Bacon oder Hobbes in ihren verschlüsselten Texten taten.63 Im Falle von Bellows Roman kann man geradezu davon sprechen, dass der Romancier sich als eine Gegenfigur zum Philosophen inszeniert, denn es sind die Bilder des Schriftstellers, die das letzte Wort haben, nicht die Argumente des Philosophen. Bellows Erzähler Chick erwähnt im Laufe seiner anekdotenreichen, zugleich aber auch merkwürdig fragmentarischen Schilderungen der Gespräche mit Ravelstein zwar immer wieder philosophische Referenzen, doch bleiben diese dem Roman letztlich äußerlich, weil sie nur im Modus des Verweises präsent bleiben, nicht aber von den Romanfiguren in sachlich erheblicher Weise diskutiert würden. Entgegen der ausdrücklichen These Allan Blooms, die sich auf die Hermeneutik Leo Strauss’ stützen kann, wird Ravelstein gerade nicht in seiner Existenz als philosophischer Denker präsentiert, sondern eher als Causeur, als fast schon scharlatanhafte Figur, die als Philosoph ernst zu nehmen eher schwerfällt. Ein Roman wie Ravelstein kann – und sollte auf einer bestimmten Ebene auch – als Schlüsselroman gelesen werden, doch bedeutet dies nicht, dass seine Bedeutung darin aufgeht, Schlüsselroman zu sein. Allerdings kann auch und gerade durch die Lektüre als Schlüsselroman eine Dimension intertextueller und kontextueller Bezüge aufgeschlossen werden, die jede Form von simpler Eins-zu-Eins-Entschlüsselung hinter sich lässt. Gerade das Thema der »Esoterik« als philosophisches wie psychologisches, letztlich aber auch ästhetisches Problem kann vielleicht nur ausgehend vom Schlüsselroman-Motiv angemessen erfasst werden. Indem nämlich der Schlüsselroman durch die Einführung eines generalisierten Esoterik-Motivs die Ent- und Verschlüsselung selbst zum Problem macht, wird Bellows Ravelstein zum Meta-Schlüsselroman, also zu einem Roman, der nicht nur eines Schlüssels bedarf, sondern das Prinzip des Schlüssels selbst sowohl affirmiert wie negiert und damit auch transzendiert. Ravelstein, 230 f. 22.

62  Bellow, 63  Ibid.,

Die englische Literatur und das Meer Exemplarische Beobachtungen* Von Wolfgang Klooß Der Strand Quand le soir approchoit je descendais des cimes de l’île & j’allois volontiers m’asseoir au bord du lac sur la grève dans quelque asile caché; là le bruit des vagues & l’agitation de l’eau fixant mes sens & chassant de mon ame toute autre agitation la plongeoient dans une rêverie délicieuse où la nuit me surprenoit souvent sans que je m’en fusse aperçu. Le flux & reflux de cette eau, son bruit continu mais renflé par intervalles frappant sans relâche mon oreille & mes yeux, suppléoient aux mouvemens internes que la rêverie éteignoit en moi & suffisoient pour me faire sentir avec plaisir mon existence sans prendre la peine de penser. De tems à autre naissoit quelque faible & courte réflexion sur l’instabilité des choses de ce monde dont la surface des eaux m’offroit l’image: mais bientôt ces impressions légères s’effaçoient dans l’uniformité du mouvement continu qui me berçoit, & qui sans aucun concours actif de mon ame ne laissoit pas de m’attacher au point qu’appelé par l’heure & par le signal convenu je ne pouvois m’arracher de là sans effort.1

Was Jean-Jacques Rousseau – im Duktus lyrischer Selbstbezogenheit, gesellschaftlicher Entrückung und einer tief empfundenen Vereinsamung verhaftet – hier in der »Cinquième Promenade« seiner Rêveries du prome*  Angesichts der fast unübersehbaren Meeresliteratur unterliegen die folgenden Einlassungen einer zeitlichen und räumlichen Beschränkung. Themenrelevante Werke wie Francis Bacons New Atlantis (1624 / 27), Jonathan Swifts Gullivers Travels (1726), Exemplare aus dem umfangreichen Fundus abenteuerlicher Seeromanzen der viktorianischen Zeit oder so herausragende Beispiele der amerikanischen Seeliteratur wie Herman Melvilles Moby Dick (1851) und Ernest Hemingways The Old Man and the Sea (1952), aber auch postmoderne Texte wie Annie Proulxs Shipping News (1993) oder John Banvilles The Sea (2005) bleiben daher unkommentiert. Das Augenmerk richtet sich stattdessen vornehmlich auf ausgewählte Werke der Renaissance, des 18. und 19. Jahrhunderts sowie der Moderne. 1  Jean-Jacques Rousseau, Les rêveries du promeneur solitaire, mit einer Einleitung von Marc Eigeldinger, Genf 1978, 99.

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neur solitaire (1782) meditierend anspricht, verweist auf eine Form betrachtender Eigenwahrnehmung, die sich aus dem »Geräusch der Wellen« und der »einförmigen Bewegung« des Wassers speist. In seinen Träumereien wendet sich der französische Aufklärer von der Regelhaftigkeit des Klassizismus ab und propagiert einen poetischen Individualismus, der im »Fünften Spaziergang« in einer synästhetischen Naturerfahrung mündet. Dieser liegt die Uferperspektive des Betrachters zugrunde, ein Blickwinkel, der epochenübergreifend immer wieder zur Geltung kommt, wenn es um kontemplative Darstellungen von Seen- und Meereslandschaften geht. Im Folgenden soll jedoch zunächst dem Beobachterstandpunkt selbst, das heißt dem Ort des Betrachters, die Aufmerksamkeit gelten, öffnen sich Ufer und Strände, im Binnen- wie im ozeanischen Bereich, doch als Räume mannigfaltiger Funktions- und Sinnzuschreibungen. Am Ufer strandet das Treibgut, sei es menschlicher, tierischer oder pflanzlicher Herkunft. Hier finden sich Abfall, Unrat und Kadaver, willentlich und achtlos zurückgelassen oder aus dem Lebenskreislauf ausgestoßen. Der Strand erwächst zu einem Depot zufällig versammelter Objekte, gerät zum (temporären) Archiv vormals animierter wie lebloser Gegenstände, die sich als objets trouvés sicht- und fühlbar darbieten oder auch unter der Oberfläche verbergen. Ihre verwischten Spuren, palimpsestisch überschrieben, laden zur Entschlüsselung ein. Walfischwirbel aus der Irischen See werden vom Auge des Strandgängers ebenso erfasst wie holzartig mutierter Tang am Kap der Guten Hoffnung oder salzgehärtete Zedernäste, von den Wellen zurückgelassen an den Gestaden des McKenzie Delta. So unterschiedlich ihre Fundorte und Materialien sind, jeder dieser Gegenstände hat eine Geschichte, die in der Vorstellungswelt des Betrachters neu erweckt wird und ihre jeweils eigene Kontur erhält. Wirbel, Holz und Tang berichten von ihren Reisen in den Strömen der Gezeiten, von ein- und auslaufenden Wellen, Um- und Überspülungen. Am Ende ihrer Migration finden sie sich am Strand wieder, in einer liminalen Zone, einem transitorischen Raum, wo sich Land und Meer berühren. Sie hinterlassen ihre Eindrücke, bis sie aufgesammelt oder vom Ozean erneut ergriffen und ihre Geschichten im Sog der Wellen weiter fortgeschrieben werden. So sehr Strände zu maritimen Zwischenlagern werden, die den Betrachter dazu einladen, über das gefundene Strandgut zu spekulieren und seinen Werdegang zu rekonstruieren, so sehr lädt der Landstrich zwischen Küste und Meer zu zeit- und raumverschmelzenden literarischen Erkundungen ein. Seit der Antike haben Strand und Meer die Dichter inspiriert, diesen Kontakt- und Grenzbereich in eine diskursive Zone zu überführen, die



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vielfältige und oftmals herausfordernde Erzählungen birgt.2 Eine kleine Auswahl dieser Erzählungen soll nachfolgend etwas näher in Augenschein genommen und durch flankierende naturbezogene und historisierende Anmerkungen ergänzt werden.

Meer und Küste: Natur-, kulturund sozialgeschichtliche Anmerkungen Dank ihrer von der Natur vorgegebenen Bedingtheit erwächst die Küste zu einem lebendigen, dynamischen Habitat, das sich vielleicht am treffendsten als ein Geflecht aus Beziehungen, also nicht als ein eindeutiger, statisch fixierter Raum definieren lässt. Wasser, Erde und Wetter befinden sich in einem kontinuierlichen Zusammenspiel, das Strände und Ufer einem steten Wandel aussetzt, der sich in alternierenden Erscheinungsformen und Texturen ausdrückt, die ihrerseits dazu anregen, den Küstenraum metaphorisch zu deuten und als Ort für Transformationen vielfältiger Art zu lesen.3 Die regelhafte Wiederkehr von Hoch- und Niedrigwasserständen im Tidenbereich verweist zum Beispiel auf eine rhythmische und zyklische Form der Veränderung. Musikalisch ausgedrückt gibt der Gezeitenwechsel den basso continuo im Meeresorchester, er wirkt als ozeanisches Metronom – gleichmäßig, verlässlich, vorhersehbar –, während der gelegentliche Sturm in singulären, vielfach katastrophalen Formen der Alteration mündet. Und die Meeresbiologie kennt Phänomene, die per se transformatorischer Natur sind. Ozeanische Gewächse nehmen tierische Gestalt an, Meereskreaturen verändern ihre Erscheinung und mutieren zu Steinen und Pflanzen. Das Alcyonium, auch »tote Meereshand« genannt, eine nordische Korkkoralle, »the Proteus of the sea, is at one moment an animal, at another a fruit.«4 Und von den Lippfischen weiß man, dass sie nicht nur ihre Farbe, sondern die meisten Untergattungen im Laufe ihres Lebens auch das Geschlecht wechseln. Derartigen biologischen Metamorphosen lassen sich jenseits einer rein naturwissenschaftlichen Betrachtung 2  Einige der im Folgenden vorgebrachten Überlegungen orientieren sich an einem im Oktober 2010 an der Universität Kiel gehaltenen Vortrag zum Thema »Coast and Beach: Contested Spaces in Cultural and Literary Discourse.« Siehe auch Wolfgang Klooss, »Writing Coast and Sea: An Introductory Essay«, in: ders. (Hg.), Writing Coast and Sea (Literatur in Wissenschaft und Unterricht XLIV 2 / 3), Würzburg 2011, 97–109. 3  Vgl. hierzu Lena Lenček, Gideon Bosker, The Beach: The History of Paradise on Earth, New York 1988. 4  Ibid., 5.

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auch Ausdrucksformen einer »aesthetic mimicry«5 zuweisen, die dann über die bloße Nützlichkeit im Dienste evolutionärer Anpassung und darwinistischen Überlebens hinausweist. Sand, eine Primärkomponente jeglichen Strandes, erweist sich in seiner Struktur und Erscheinung wesentlich diversifizierter, als es ein oberflächlicher, grober Blick vermuten ließe. Er präsentiert sich in einer breiten Palette von Formen und Farben, abhängig von seiner mineralischen Herkunft. Diversifikation ist auch das Stichwort, wenn es um die soziale Seite des Lebens am Meer geht. Im 18. und 19. Jahrhundert sind es die Küstenorte Weymouth und Brighton, die die englische Nobilität präferiert. König Georg III zieht es 1789 zum ersten Mal nach Weymouth, während Brighton aufgrund seiner Nähe zur Metropole zum beliebten Zielort für die gesamte Londoner Aristokratie wird. Es bietet eine Alternative zum inländischen Bath, das schon in der Regierungszeit von Elizabeth I (1558–1603) als Badeort reüssiert. Die Hauptfiguren in Jane Austens Persuasion (1818) reisen später ebenfalls zu ihrem Vergnügen nach Bath, wo sie einem so­ zial kodierten, ritualisierten Tagesablauf frönen, der wohl nach Stil und Etikette verlangt, hier aber deutlich kostengünstiger zu führen ist als in der Großstadt. Der Kurort mit seinen Bädern aus der Römerzeit setzt den Maßstab für eine maritime Freizeitkultur, die über Scarborough im Nordosten Yorks – 1736 als erstes englisches Seebad etabliert – dann nach Brighton und Weymouth gelangt.6 An anderer Stelle in Austens Roman ist es die Kanalküste von Lyme und Charmouth, die zu einem nachsaisonalen Erholungsort für Entspannung, geistreiche Konversation und Kontemplation gerät: […] the next thing to be done was unquestionably to walk directly down to the sea. They were come too late in the year for any amusement or variety which Lyme, as a public place, might offer. […] Charmouth, with its high grounds and extensive sweeps of country, and still more, its sweet, retired bay, backed by dark cliffs, where fragments of low rock among the sands, make it the happiest spot for watching the flow of the tide, for sitting in unwearied contemplation; the woody varieties of the cheerful village of Up Lyme; and, above all, Pinny, with its green chasms between romantic rocks […] these places must be visited, and visited again, to make the worth of Lyme understood.7

An der Küste von Lyme lässt auch John Fowles über ein Jahrhundert danach seine Protagonistin Sarah Woodruff zu The French Lieutenant’s 5  Ibid. 6  Siehe Alain Corbin, Le territoire du vide: L’Occident et le plaisir du rivage 1750–1840, Paris 1988, 71, 254–256, 269 f. 7  Jane Austen, Persuasion, London 1969, 94 f.



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Woman im gleichnamigen Roman (1969) werden. Anders als für Austens Anne Elliott und Captain Wentworth öffnen sich in Fowles metafiktionalem Erzähltext Lyme Bay und Charmouth als ambivalente Orte und Grenzbereiche, wo Sarah Woodruff »always went for the same afternoon walk, down steep Pound Street into steep Broad Street and thence to the Cobb Gate, which is a square terrace overlooking the sea and has nothing to do with the Cobb. There she would stand at the wall and look out to the sea […].«8 Hier erlebt sie die Gewässer des englischen Kanals als einen fluiden Raum, der durch seine changierenden Texturen und seine grenzenlos anmutende Weite beeindruckt und auf diese Weise extern mit dem symbolischen Potential, das der Seelandschaft innewohnt, korrespondiert. Als Frau am Rande der Gesellschaft fühlt sie sich zu diesem liminalen Ort zwischen Land und Meer, wo sie vermeint, einer bigotten, viktorianischen Moral entkommen zu können, hingezogen. Die Landschaften des Undercliff, die als Teil von Englands Jurrasic Coast seit 2001 zum Weltkulturerbe gehören,9 befinden sich in Fowles Roman in »a state of total wilderness.«10 Im Jahr 1839 von einem gewaltigen Erdrutsch heimgesucht, signalisieren sie Natürlichkeit, aber auch Unordnung und Kontrollverlust. Fowles, der während der Abfassung seines Werkes selbst am Ort des Handlungsgeschehens lebte, konstruiert das Undercliff als einen Raum des Unterschieds, wo sich Sarah und ihr Vertrauter und Geliebter Charles Henry Smithson heimlich treffen können. Auf diese Weise erwächst die englische Südküste nicht nur zu einer Seelandschaft, sondern vielmehr noch zu einer Grenzzone, innerhalb derer Küste und Meer metaphysische Bedeutung gewinnen und den physischen zu einem psychologisierten, geschlechtlich kodierten Raum gerinnen lassen. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts üben das Meer, die Küste und der Strand ihre Anziehungskraft auf eine Bevölkerung aus, die die Stadt als einen melancholischen Ort, gezeichnet von Krankheit und Verfall, erlebt. In der Folge fühlt sich die englische Oberschicht von einer Seelandschaft berauscht, deren Klima Gesundheit und Stärke verspricht und deren Sandstrände heilende Kräfte zu bergen scheinen oder, wie es bei Jane Austen heißt: Anne and Henrietta […] agreed to stroll down to the sea before breakfast. They […] were silent; till Henrietta suddenly began again with, ›Oh! yes, – I am quite convinced that, with very few exceptions, the sea-air always does good. There Fowles, The French Lieutenant’s Woman, London 1987, 58. auch Michael J. Freeman, Undercliff, Isle of Wight: A Geographic History, Oxford 2012. 10  Fowles, The French Lieutenant’s Woman, 62. 8  John

9  Siehe

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can be no doubt of its having been of the greatest service to Dr Shirley, after his illness, last spring twelve months. He declares himself, that coming to Lyme for a month, did him more good than all the medicine he took; and, that being by the sea, always makes him feel young again.‹11

Austen verlegt ihre Romanhandlung in das Jahr 1814. Es ist der Beginn einer Epoche, in der auch Englands meerverbundenen Landstriche von den Folgen der Industrialisierung erfasst werden, sich die sozialen Muster verändern und die Seebäder ihren elitären Status verlieren. Kurorte wie Brighton werden einer breiten Öffentlichkeit zugänglich, Seebäder wie Blackpool werden zu sommerlichen Vergnügungsstätten für die Arbeiterklasse. Die Küste als vormals privilegierter Raum wird demokratisiert und kommerzialisiert – ein Prozess, der auf sehr unterschiedlichen Widerhall stößt. Mit ihrem Romanfragment Sanditon (1817) gehört wiederum Jane Austen zu den ersten Stimmen, die diese Entwicklung kritisch kommentieren: [Sir Edward ] began, in a tone of great Taste and Feeling, to talk of the Sea and the Seashore, and ran with Energy through all the usual Phrases employed in praise of their Sublimity and descriptive of the undescribable Emotions they excite in the Mind of Sensibility. The terrific Grandeur of the Ocean in a storm, its glass surface in a calm, its Gulls and its Samphire and the deep fathoms of its Abysses, its quick vicissitudes, its direful Deceptions, its Mariners tempting it in Sunshine and overwhelmed by the sudden Tempest – all were eagerly and fluently touched; rather commonplace perhaps, but doing very well from the Lips of a handsome Sir Edward, and she could not but think him a Man of Feeling, till he began to stagger her by the number of his Quotations and the bewilderment of some of his sentences. »Do you remember,« said he, »Scott’s beautiful Lines on the Sea? Oh! what a description they convey! They are never out of my Thoughts when I walk here. That Man who can read them unmoved must have the nerves of an Assassin! Heaven defend me from meeting such a Man unarmed.«12

Nicht weniger direkt demaskiert Charles Dickens das vulgäre Verhalten der neuen Touristen in The Tuggses at Ramsgate, einem seiner Sketches by Boz (1836), die von dem Karikaturisten George Cruikshank illustriert werden. Joseph Tuggs, Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens nahe der Old London Bridge, kommt durch eine Erbschaft zu moderatem Wohlstand, gibt daraufhin sofort das Geschäft auf und reist mit Frau, Tochter Charlotte und Sohn Simon, der sich spontan selbst »nobiliert« und fortan Cymon nennt, als erstes zu einem Seeaufenthalt nach Ramsgate, um am Persuasion, 100. Austen, Sanditon, The Watsons, Lady Susan and Other Miscellanea, London 1978, 44. 11  Austen, 12  Jane



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Ende der Erzählung dem Gaunerpaar Belinda und Walter Waters, einem »military gentleman«,13 aufzusitzen. Cymon entpuppt sich an der See im Sinne zeitgenössisch opportunen Verhaltens als romantischer Schwärmer, der sich gern, wenn auch unbegründet, von Captain Waters als »enthusiastic admirer of the beauties of Nature«14 bezeichnen lässt. Sein Vater hat noch nie von der im Bildungsbürgertum und der englischen Oberschicht so beliebten »grand tour« gehört und macht aus »shrimps« »srimps«, während Mrs. Tuggs sogar die Köpfe der Garnelen mitverspeist. Das erste Mal am Strand, tut sich der Londoner Krämerfamilie folgende Szenerie auf: Silently and abstractedly, did that too sensitive youth follow his revered parents, and a train of smock-frocks and wheelbarrows, along the pier, until the bustle of the scene around, recalled him to himself. The sun was shining brightly; the sea, dancing to its own music, rolled merrily in; crowds of people promenaded to and fro; young ladies tittered; old ladies talked; nursemaids displayed their charms to the greatest possible advantage; and their little charges ran up and down, and to and fro, and in and out, under the feet, and between the legs, of the assembled concourse, in the most playful and exhilarating manner. There were old gentlemen, trying to make out objects through long telescopes; and young ones, making objects of themselves in open shirt-collars; ladies, carrying about portable chairs, and portable chairs carrying about invalids; parties, waiting on the pier for parties who had come by the steam-boat; and nothing was to be heard but talking, laughing, welcoming, and merriment.15

Austen und Dickens dokumentieren mit ihren literarischen Skizzen stellvertretend, wie ein zunehmend institutionalisierter und standardisierter Seetourismus, der oberflächlich der Sensibilität und dem Kult des Pittoresken huldigt, um dann schnell ins Banale abzugleiten, harsche Reaktionen auslöst und das unkultivierte Verhalten einer kleinbürgerlichen Küstenklientel, die Anteil am Meereserlebnis haben möchte und den modischen Lebensstil der Aristokratie zu imitieren sucht, bloßgestellt und schonungslos ironisiert wird. Die soweit gegebenen fragmentarischen Hinweise zur Seelandschaft haben bereits offengelegt, dass der Küstenraum in seiner konzeptionellen Aneignung binär angelegt ist. Diese Dualität wird noch einsichtiger, wenn eine historisierende Blickerweiterung erfolgt und Texte unterschiedlicher Prägung und unterschiedlicher Gattungs- und Epochenzuweisung in die Überlegungen einbezogen werden. 13  Charles

Dickens, Sketches By Boz, Bd. 2, London 1910, 5.

14  Ibid. 15  Ibid.,

8 f.

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Meer und Küste: Literarische Annäherungen Im Alten und Neuen Testament wird die Küste als eine Demarkationslinie zwischen einer bewohnbaren Erde und einem unkontrollierbaren, kraftvollen und dem Menschen gefährlichen Ozean eingeführt, wo die mythische, entstellte Kreatur Leviathan ihre bedrohliche Macht ausübt, bis »der Herr heimsuchen [wird] mit seinem harten, großen und starken Schwert den Leviathan, die flüchtige Schlange, und den Leviathan, die gewundene Schlange, und […] den Drachen im Meer töten [wird].«16 Diese ersten Zeilen aus Jesaja 27,1 beruhen auf einer babylonischen Legende und stellen heraus, dass dem Schöpfungsakt der Sieg Gottes über eine gewalttätige See und ihre furchterregenden Wesen vorausgeht. Auf diese Weise wird der Ozean einer sich anfänglich paradiesisch darbietenden Menschenwelt gegenübergestellt, die sich bar jeder grenzenlosen Wasserwüsten als ein behüteter Garten Eden entfaltet. Wie die Passagen über die Sintflut als apokalyptischer Erfahrung einer ungehorsamen Menschheit nahelegen, assoziiert die Heilige Schrift demgegenüber mit dem Meer Anarchie und Vernichtung. Die See gerät zum Reich der Finsternis. Gleichzeitig wird die Küstenlinie als Limes zwischen Land und Meer zur fragilen Zone. Die Unregelmäßigkeit gezackter Klippen und Felsen wird als geomorphologischer Ausdruck eines vormenschlichen Chaos begriffen und betont den dystopischen Charakter einer ästhetisch misslungenen Küstenlandschaft, geformt aus dem im Schöpfungsprozess zurückgelassenen Schutt. Zugleich gerät der Strand zum Ort des Anfangs und des Endes, des Sieges und der Niederlage. Er ist eine historische Stätte, an der laut des Matthäus-Evangeliums Jesus seine Mission beginnt und zum ersten Mal zur Menge spricht.17 In Homers Odyssee stellt der griechische Dichter weniger die Seereise, denn die symbolische Suche seines Helden nach der Küste von Ithaka in den Mittelpunkt. Wieder an Land, kommt Odysseus endlich zur Ruhe. Und dennoch stellt sich die Uferzone ebenso als dämonischer Ort dar, von dem aus die Sirenen ihren gefährlichen Zauber ausüben und sowohl Orpheus als auch Odysseus zu verführen suchen. Am Ufer wird Abschied genommen, von hier aus nehmen aber auch Neuanfänge ihren Verlauf. Die Strandzone wird zur Schaubühne des Spektakels, signalisiert aber auch Schutz und Sicherheit. Hier können Schiffbrüche 16  Die Bibel. Standardausgabe, mit Apokryphen, revidierte Lutherübersetzung von 1984, Stuttgart 1985, Jesaja 27,1. Vgl. auch Jesaja 51,9, Hiob 3,8, 7,12 u. bes. 40,25–41,26, wo Leviathan als eine Art übergroßes Krokodil beschrieben wird. Siehe zudem Die Psalmen 74,13–14, 89,11 sowie 104,26. 17  Vgl. Matthäus 4,12 ff.



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verfolgt werden, hier finden aber auch die geretteten Besatzungen und Passagiere einen ersten Ort der Geborgenheit an Land. Während des Entdeckungszeitalters öffnet sich die Küste Seefahrern und Konquistadoren wie Cristóbal Colón, Hernan Cortés, James Cook oder Louis Antoine de Bougainville als Kontaktbereich. Folgt man Tzvetan Todorov, so bedurfte es einer gewaltigen grenzüberschreitenden Anstrengung, um die Welt, so wie wir sie heute erleben und wie sie uns und unser Denken geprägt hat, zu etablieren. Es waren »la découverte et la conquête de l’Amérique, qui annonce et fonde notre identité présente.«18 Welche Folgen diese Entdeckungen andererseits für die indigenen Völker hatten, ist allgemein bekannt und mit dem Ideengut und der politischen Praxis des Kolonialismus hinlänglich beschrieben. Der Strand wird auch zum Einfallstor, durch welches Krankheit und Ansteckung ihren Vernichtungszug antreten. Die Küstenzone ist also mit polyvalenten Bedeutungszuweisungen versehen. Sie erwächst gleichermaßen zum Hort für das Göttliche, Mensch­ liche und Animalische, lässt Unbekanntes zu Bekanntem werden, führt Queste, Sehnsucht oder Flucht zu einem Abschluss. Die Wahrnehmung von Küsten als ambivalenten Räumen determiniert ästhetische Konstruktionen dieses Grenzbereichs zwischen Land und Meer in zeit-, sprachenund kulturenübergreifender Weise. Sie wirkt von der Antike bis weit in die Renaissance hinein, wie sich innerhalb der englischen Literatur beispielhaft am Werk William Shakespeares aufzeigen lässt. Inszenierungen von Meer und Küste in der Dramatik Shakespeares Als Bewohner eines Inselreiches, das er in seinem Historiendrama The Tragedy of King Richard II (1595) in den Worten von John of Gaunt als »this precious stone set in the silver sea« (2.1, 46)19 preist und das nach 18 Kriegsjahren und dem Sieg über die Spanische Armada (1588) zur dominierenden Seemacht aufsteigt, ist Shakespeare mit der Natur des Meeres bestens vertraut und lässt den Ozean in vielen seiner nautischen Metaphern, rhetorischen Figuren und terminologischen Verwendungen zu Wort kommen. Zudem werden der See verbundene Charaktere und Ge18  Tzvetan

14.

Todorov, Conquête de l’Amérique: La question de l’autre, Paris 1982,

19  The Norton Shakespeare, hg. Stephen Greenblatt u.  a., New York / London 1997, 967.

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schehnisse in der Regel recht wirklichkeitsnah portraitiert. Stürme und Schiffbrüche gehören zum Themenensemble der Komödien The Comedy of Errors (1594) und Twelfth Night (1601 / 2), der Romanzen Pericles (ca. 1609), The Winter’s Tale (1609–11) und The Tempest (1610 / 11), aber auch der Tragödie Othello (1603) – und in The Merchant of Venice (1596) bangt Kaufmann Antonio gleich zu Beginn dieser Komödie um den Verbleib seiner Handelsschiffe. In The Winter’s Tale zerstört etwa eine unwirtliche Natur in Gestalt eines Sturmes ein Schiff und das Königtum Böhmen erhält eine Küstenlinie, hinter der sich eine fröhliche Welt erstreckt, die zwar nicht ganz idyllisch ist, aber heilende Kräfte beheimatet und zur Versöhnung einlädt. Shakespeares Zeitgenosse Ben Jonson hat Shakespeares mangelnde Wirklichkeitsnähe zum Anlass genommen, sich über die geographische Kompetenz seines Rivalen zu mokieren und damit eine Debatte initiiert, die die Shakespeare-Forschung bis in die Gegenwart hinein beschäftigt hat.20 Ungeachtet dessen erscheint es nur legitim, wenn sich ein märchenhaftes Bühnengeschehen dem Diktum der vraisemblance entzieht. Wie bereits der Titel des in jakobäischer Zeit entstandenen Stückes The Tempest von 1610 / 11 nahelegt, bedient sich Shakespeare in seinem letzten Drama eines Meeresunwetters und eines dadurch ausgelösten Schiffbruchs, um einen Handlungsverlauf in Gang zu setzen, der auf einem verzauberten Eiland angesiedelt ist und konträre Welten kollidieren lässt. Die Romanze ist dank eines Epilogs des Renaissance-Intellektuellen und selbsternannten Inselherrschers Prospero als dramatisches Vermächtnis des Barden gelesen worden, hat viele Autoren zu dramatischen, fiktionalen oder poetischen Adaptationen sowie Generationen von Interpretationsschulen zu ihren jeweiligen Deutungen angeregt und ist im Zuge des Postkolonialismus zu einer prominenten Folie für die Kritik am eurozentrischen Zugriff auf die Neue Welt geworden.21 Die folgenden, knappen Einlassungen be20  Siehe stellvertretend Siegfried Koss, »Gab es ein Küstenland Böhmen? Bemerkungen zu einem ›geographischen Irrtum‹ Shakespeares«, in: Deutsche ShakespeareGesellschaft West: Jahrbuch 1975, hg. Hermann Heuer unter Mitwirkung v. Ernst Theodor Sehrt u. Rudolf Stamm, Heidelberg 1975, 209–211; Richard Studing, »Shakespeare’s Bohemia Revisited: A Caveat«, Shakespeare Studies 15 (1982), 217– 226. 21  Siehe etwa Aimé Césaire, Une tempête. D’après »la Tempête« de Shakespeare – Adaption pour un théâtre nègre – (1969); David Wallace, Do You Love Me, Master? (1977); siehe auch Octave Mannoni, Psychologie de la Colonisation, Paris 1950; Wolfgang Klooß, »Caliban als Freiheitskämpfer: Aimé Césaires Une tempête im Kontext der afrikanischen Shakespeare-Rezeption«, in: Gerhard Stilz (Hg.), Drama im Commonwealth, Tübingen 1981, 73–90; Diana Brydon, »Re-writing The Tempest«, World Literature Written in English 23 (1984), 149–161.



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dienen sich einer solchen Lesart, ergänzt um einige spezifische politischökonomische Erwägungen. Die Überlebenden des Schiffbruchs finden sich auf einer Insel wieder, die im Mittelmeer irgendwo zwischen Tunis und Neapel lokalisiert ist. Im größeren historischen Zusammenhang betrachtet, schließt die Romanze inhaltlich an zeitgenössische Kompilationen von Reiseberichten wie Richard Haklyuts Principal Navigations (1589–1600) und Samuel Purchas’ Purchas His Pilgrimage (1613) an, d. h. The Tempest gehört historisch in das Zeitalter der Entdeckungen und Eroberungen. Die Lage der Insel ist denn auch weniger bedeutsam als der Umstand, dass das Eiland noch nicht kartiert, namenlos und unerforscht ist.22 Nach Calibans misslungenem Übergriff auf Prosperos Tochter Miranda wird die Inselgestalt versklavt und als Sohn der vormaligen Herrscherin, der Hexe Sycorax, ihres Besitzes enthoben. Auf diese Weise gerinnt das dramatische Szenario zu einem Mikrokosmos europäischen Expansions- und Kolonisationsstrebens. Und als gegen Ende des Stückes Miranda enthusiastisch kundtut: O wonder! How many goodly creatures are there here! How beauteous mankind is! O brave new world That has such people in’t. (5.1, 182–85),23

hallt in ihrem euphorischen Ausruf »the response of European explorers to exotic peoples, fauna and flora in a remote new world«24 wider. Die Insel trägt die Züge einer zweiten Welt – geographisch, klimatisch und psychologisch der ersten weit entrückt, wo das Eigene auf das Fremde trifft. Sie erweist sich dabei nicht nur als ein verrätselter, gefahrenbesetzter Ort, sondern ermöglicht gleichermaßen den Regress in eine arkadische Vergangenheit wie Visionen von einer utopischen Zukunft. In Anlehnung an Michel de Montaignes wegweisenden Essai Des Cannibales (1588) lässt Shakespeare Prosperos Vertrauten und Ratgeber Gonzalo mit dem Eiland gar ein Gemeinwesen assoziieren, »T’excel the Golden Age« (2.1,148;169).25 22  Vgl. hierzu Virginia Mason Vaughan, Alden T. Vaughan, »Introduction«, in: William Shakespeare, The Tempest (The Arden Shakespeare), hg. Virginia Mason Vaughan, Alden T. Vaughan, London 1999, 1–138, bes. 4 f. 23  Shakespeare, The Tempest, 275. 24  Mason Vaughan, Vaughan, »Introduction«, 4. Siehe auch Jonathan Hart, Comparing Empires: European Colonialism from Portuguese Expansion to the SpanishAmerican War, New York 2003, bes. 65. 25  Shakespeare, The Tempest, 194,196.

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Mithin nimmt die Küste in The Tempest nicht nur die Konturen eines Raumes an, in dem die Vorgeschichte des eigentlichen Inselgeschehens ihr Ende findet, sondern wo auch die Träume von einer »schönen neuen Welt« generiert werden.26 Die Uferzone lässt sich entsprechend als ein transitorischer Bereich verstehen, in dem der Selbstreinigungsprozess der dramatis personae eingeleitet wird. Zunächst wegen der vorgelagerten Untiefen als gefährliches Territorium ausgewiesen, wo das Schiff aufgrund navigatorischer und seemännischer Defizite der Mannschaft auf Grund läuft, entwickelt sich der Strand dann zum Ausgangspunkt für die Wiederherstellung einer zwischenzeitlich ungeordneten Welt, bevor Prospero, Shakespeares Stimme, von hier aus die Bühne verlässt und das Publikum um Nachsicht bittet. Eine kontextuell weiter gefasste Lesart des Tempest müsste wohl die maritime Politik Jakobs I stärker ins Kalkül ziehen. Immerhin handelt es sich um einen Monarchen, der nach dem Sieg Elisabeths I über die Armada nicht nur die grenzenlose Herrschaft über die Meere anstrebt, sondern ein Nationenverständnis propagiert, das ganz eng an Englands Aufstieg zur führenden Handelsmacht angelehnt ist. Er entwirft sich als rex pacificus, dessen Selbstbild weniger auf dem Erfolg in kriegerischen Händeln, denn im Kommerz aufbaut.27 In diese Sichtweise ist ein Verständnis des ozeanischen Raums eingebettet, das das Meer zur grenzfreien Zone jenseits jeglicher politischen Kontrolle und jeglicher Eigentumsansprüche ausruft und den Reichtümern des Ozeans den Status von res nullius beschert. Im Lichte dieser Politik erweist sich Shakespeares Drama als eine generische Neukonzeptionierung, werden der traditionell im ländlichen Raum angesiedelten pastoralen Romanze eignende Konventionen doch mit zeitgenössischen wirtschaftlichen Fragestellungen und dem Seehandel der Stuartherrschaft gekoppelt. Caliban, die stinkende, fischähnliche Kreatur, die vom Trunkenbold Trinculo zu einem perfekten Handelsobjekt verdinglicht wird, gerät zur prototypischen Figur einer sich herausbildenden Form der MeeresRomanze, die den im 17. Jahrhundert erfolgenden Wandel in der Wahrnehmung des Ozeans als eines sozialen und kulturellen Raumes spiegelt. Wie schon angedeutet, repräsentiert Calibans Insel als noch nicht kolonisiertes Territorium jene fernen Zielregionen, ohne die ein expandierender Welthandel und der Aufstieg des modernen Nationalstaates kaum vorstellbar sind. Zugleich macht Shakespeare Calibans Eiland aber auch zu Prosperos 26  Bekanntlich hat Aldous Huxley später den Titel seiner Dystopie Brave New World (1932) Shakespeares Romanze entlehnt. 27  Siehe Maria Shmygol, »Jacobean Maritime Policy and Shakespeare’s Late Romances«, in: Klooss (Hg.), Writing Coast and Sea, 111–125.



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Insel. Hier lässt der vormalige, rechtmäßige Herzog von Mailand ganz im Sinne gattungskonformer Bühnenmittel seine magischen Kräfte wirken und einen Sturm heraufbeschwören. Anleihen an eine maritime Ökonomie werden so in The Tempest mit Vorstellungen vom Übernatürlichen verwoben. Vor allem aber ist es die proteische Natur des Meeres, die Shakespeare würdigt. Sie kann vielleicht als Metapher für eine Periode des Übergangs gedeutet werden, die Veränderungen im öffentlichen wie privaten Bereich zeitigt und nach Neuorientierungen verlangt. [James I] could never hope to achieve the kind of personal cult that his predecessor had enjoyed, and therefore emphasis inevitably had to be placed on a wider national identity, of which he could claim to be the creator. In this sense, it becomes even more important to break away from tradition and assert dominance over the seas, which were effectively the encasements of his kingdom, gaining himself the identity as a champion of maritime sovereignty, and gaining for Britain an identity as a kingdom that consisted of aqueous territories as well as terrestrial ones.28

Ideologiekritisch besehen, stellt sich The Tempest somit als eine modifizierte Form der Romanze dar, die nicht nur dem Bedürfnis nach einem neuen nationalen Mythos, in dessen Zentrum der Stuart-Monarch thront, gerecht wird, sondern dank eines alle Bevölkerungsschichten einschließenden Theaterpublikums auch als ein wichtiges Verbreitungsorgan maritimer Anliegen fungiert. Maritime Ökonomie, Schiffbruch und Inselleben: Daniel Defoes Robinson Crusoe Im Verlauf des 17. Jahrhunderts steigt England zur bedeutendsten Handelsmacht auf. Kaufmännisches Denken und protestantisches Erfolgsstreben gehen eine profitable Verbindung ein und tragen dazu bei, dass selbst aus einem Schiffbruch Kapital geschlagen werden kann, wie sich lehrhaft an Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) ablesen lässt – einem paradigmatischen Prosawerk, das gemeinhin als erster großer englischer Roman apostrophiert wird und immer wieder unter Rückbezug auf Max Webers Aufsatz über Die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus (1904  /  05) gedeutet worden ist.29 An zentraler Stelle in Defoes Roman findet sich die folgende Passage: 28  Ibid.,

125. religiösen Implikationen in Defoes Roman, der in der Tradition der spirituellen Autobiographie des 17. Jahrhunderts steht, soll hier allerdings nicht weiter 29  Den

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It happened one day about noon going towards my boat, I was exceedingly surprized with the print of a man’s naked foot on the shore, which was very plain to be seen in the sand. I stood like one thunder-struck, or as if I had seen an apparition; I listened, I looked round me, I could hear nothing, nor see any thing; […]. [A]fter innumerable fluttering thoughts, like a man perfectly confused and out of myself, I came home to my fortification, not feeling […] the ground I went on, but terrify’d to the last degree […].30

Der wohl am ausgiebigsten diskutierte Schiffbruch in der englischen Literatur31 gehört bereits der Vergangenheit innerhalb der erzählten Zeit an, als Robinson erstmals Fußspuren am Strand entdeckt. Was sich Defoes Titelgestalt zuvor als ein isoliertes, paradiesisches Eiland einfriedender ­Sicherheitsbereich darbietet, wo Crusoe, der Kaufmann und Abenteurer, ersten Schutz vor der Willkür eines heimtückischen Meeres findet, entfaltet sich jetzt als gefahrenträchtiger, mysteriöser, mit unheilvollen Vorboten durchsetzter Raum. Während das Innere der Insel reich an Flora und Fauna ist und für Crusoe alles Überlebensnotwendige bereithält, wird der Strand, der zuvor als Lagerraum für die vom Schiff geretteten Werkzeuge und Güter dient, plötzlich mit Bedrohung und Gewalt assoziiert. Es ist hier, wo Crusoe auf das Unbekannte stößt und später – wenn auch aus sicherer Distanz – nackter Fremder gewahr wird, deren anthropophagischen Rituale ihn gleichermaßen abschrecken wie faszinieren. Eingebettet in populäre zeitgenössische Diskurse über die Risiken der Seefahrt, verwandelt sich der Küstenbereich in Robinsons Wahrnehmung zur Gefahrenzone, die einen insularen Lebensraum umgibt, der als Plattform für eine Biographie fungiert, zu deren Stationen die Erfahrung von Rastlosigkeit, Angst, Einsamkeit und Bewährungsprobe gehören, an deren Ende aber auch die Versöhnung mit Gott steht. Auf diese Weise konzipiert ein aufgeklärter Romancier wie Defoe Meer und Küste als mehrdeutige Räume, die als Ausgangspunkte für kommerziellen Erfolg und Wohlstand dienen, aus denen heraus aber auch unheimliche Kräfte eine idyllische Inselnatur und die zivilisatorischen Errungenschaften des Protagonisten in Frage stellen. Eine solche Sichtweise deckt sich mit den schon angedeuteten klassischen Vorstellungen von Meeresund Küstenlandschaften – in Robinson Crusoe angereichert um den barbarischen Wilden als präzivilisatorischem Gegenbild zum Romanhelden. nachgegangen werden. Vgl. in diesem Zusammenhang u. a. John J. Richetti, Defoe’s Narratives: Situations and Structures, Oxford 1975, 21–62. 30  Daniel Defoe, The Life and Adventures of Robinson Crusoe, Harmondsworth 1976, 162. 31  Mit Robinsons Schiffbruch etabliert Defoe ein Motiv, das zum festen Bestandteil der späteren Meeresliteratur erwächst.



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Entsprechend erscheint es auch nur konsequent, wenn der Puritaner Robinson während seines 28-jährigen Inseldaseins die sonntäglichen Ruhephasen weder zu Sonnenbädern am Strand nutzt, noch sich im Meer vergnügt. Dank seines utilitaristischen Zugriffs auf das Eiland hat der Kaufmann Crusoe auch kein Auge für die Reize der Küstenlandschaft, nimmt diese also noch nicht im Sinne romantischer Ästhetik wahr. Auf einer weiteren Sinnebene entwirft Defoe den Küstenraum als Kontakt- und Konversionszone. Hier rettet Crusoe zunächst Friday, um ihn dann als edlen Wilden zu kolonisieren und zum Christentum zu bekehren. Er versieht ihn mit einem Namen, bedeckt seinen nackten Körper mit Kleidern, macht ihn gewissermaßen zivilisationsfähig, und lehrt ihn die eigene Sprache – ein Akt, dem zuvor schon Shakespeares Prospero Caliban unterwirft und diesen zu dem vielzitierten Ausspruch provoziert: »You taught me language, and my profit on it is, I know how to curse.« (1.2, 364–365)32 Crusoes Aktivitäten resultieren in einer von einem imperialen Gestus getragenen Form der Identitätskonstruktion. Der Strand als prädestinierter Ort für die Begegnung einander fremder Kulturen bleibt ein geschlossener Raum, der sich Grenzüberschreitungen nicht öffnet, konzeptionell auf Oppositionen beruht und in seiner ›Textur‹ die Komponente des interkulturellen Verstehens noch nicht enthält. Robinsons Abenteuerlust, sein kaufmännisches Denken und protestantisches Erfolgsstreben gehen im Zeitalter maritimer Ökonomie, zu der maßgeblich auch der Sklavenhandel33 gehört, nicht nur eine gewinnträchtige Symbiose ein, sie tragen in Defoes Roman letztlich auch – wie schon im Falle von Shakespeares Seeromanze – zu einem motivisch zwar bereits in der Odyssee angelegten und dann zudem oftmals mit utopischen bzw. dystopischen Vorstellungen versehenen neuen literarischen Gattungsmuster bei: der Robinsonade. Diese erweitert im 18. und 19. Jahrhundert den Kanon der internationalen Literatur in bedeutsamer Weise. Dem Gattungstyp der Robinsonade voraus gehen die zahlreichen literarischen Aneignungen von Inseln in der (Meeres)Literatur. Als besondere Orte haben sie die Vorstellungswelt von Autoren und Künstlern seit der Antike immer wieder inspiriert. Island spaces are used to explore and create bridges between the real and the imaginary as a response to cultural and social realities, frequently taking the The Tempest, 176. der Verabschiedung des Slave Trade Act (1807), der zwar den Sklavenhandel, nicht aber den Besitz von Sklaven unter Anklage stellt, wird im Jahr 1833 mit dem Slavery Abolition Act der Sklavenbesitz im gesamten Britischen Empire untersagt. 32  Shakespeare, 33  Nach

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form of utopias / dystopias, Edens, Arcadias, nations, metatexts, cultural crossroads. The virtual spaces of islands are susceptible to translatability and articulate perspectives on the shifting relationship between self and other, center and periphery, serving as sites of mediation between cultures.34

Homers Odyssee (spätes 8. Jh. v. Chr.) bietet ein frühes Beispiel dafür, wie (mythische) Inseln zu literarischen Tropen in epischen Texten werden. Im fünften vorchristlichen Jahrhundert sind es Platons Atlantis und Pytheas’ Thule, die den Reigen sagenumwobener Meeresorte in der Mythologie komplettieren. In der mittelalterlichen Folklore, in Geschichtsdarstellungen und Romanzen findet später Englands legendärer King Arthur seine letzte Ruhestätte auf der Insel Avalon – dem Bestimmungsort der Seelen.35 Inseln bieten sich dramatischen, fiktionalen und lyrischen Werken ebenso als (Handlungs-)Räume an wie pragmatischen Texten, wobei wissenschaftliche Dokumentation und subjektives Reisetagebuch nebeneinander stehen.36 34  Stephanos Stephanides, Susan Bassnett, »Islands, Literature and Cultural Translatability«, Transtext(e)s / Transcultures. Journal of Global Cultural Studies. Poésie et insularité – Poetry and Insularity, Hors série (2008), 5–21, hier 5. See also Stephanides, Bassnett (Hg.), Translating Floating Islands, Bologna 2002. 35  Vgl. Geoffrey of Monmouth, Historia Regum Britanniae (1135). www.yorku. ca / inpar / geoffrey_thompson.pdf.Web. 36  Thomas Morus’ Sozialutopie Utopia (1516) ist auf einer Insel angesiedelt. Christopher Marlowes Barabas ist ein Jude auf Malta (The Jew of Malta, ca. 1589). Shakespeare schickt in der Tragödie Othello, the Moor of Venice (ca. 1603) seine Titelfigur nach Zypern, und Thomas Neville kombiniert – quasi im Vorgriff auf Defoe – in The Isle of Pine (1618) die Geschichte eines Schiffbruchs mit einem insularen Schauplatz. In New Atlantis (1626) und Gulliver’s Travels (1726) lokalisieren Francis Bacon bzw. Jonathan Swift die »Forschungseinrichtungen« für die Experimente der Neuen Wissenschaften auf utopischen Eilanden. Lord Byron romantisiert »The Isles of Greece« im dritten Canto von Don Juan (1821), während Charles Darwin 18 Jahre später seine auf den Galapagos-Inseln durchgeführten naturwissenschaftlichen Studien in The Voyage of the Beagle vorstellt. R. M. Ballantyne (The Coral Island, 1857), Robert Louis Stevenson (Treasure Island, 1883), H. G. Wells (The Island of Doctor Moreau, 1896), Joseph Conrad (Victory: An Island Tale, 1915) oder auch William Golding (Lord of the Flies, 1954) gehören zur weitläufigen Gruppe von Romanciers, die das Handlungsgeschehen ihrer Werke auf Inseln verlagern. Das Gleiche gilt für Vertreter der amerikanischen und kanadischen Literaturen (siehe z. B. Herman Melville, Typee, 1846; Mardi and a Voyage Thither, 1849; William Dean Howells, A Traveller from Altruria, 1894; Kurt Vonnegut, Cat’s Cradle, 1964; David Vann, Legend of a Suicide, 2009; Caribou Island, 2011; Malcolm Lowry, October Ferry to Gabriola, 1970; Wayne Johnston, The Story of Bobby O’Malley, 1985; Ann-Marie MacDonald, Fall on Your Knees, 1997) und der postkolonialen Literaturen wie Keri Hulme (The Bone People, 1984), J. D. Coetzee (Foe, 1986), Marina Warner (Indigo, 1992) oder Derek Walcott, der in seinem epischen Gedicht Omeros (1990) eine karibische Variante der Odyssee anbietet. Die weitaus populärste Form insular orientierter Texte stellt allerdings der moderne Fremdenführer dar.



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Romantische Annäherungen an Meer und Küste: Edmund Burke, Lord Byron, Samuel Taylor Coleridge Im Gefolge der Neuen Wissenschaften, der Modifikationen im theologischen Diskurs und als Konsequenz globalisierterer Formen des Reisens wirken sich dann im frühneuzeitlichen Europa jene Veränderungen aus, die eine positivere Annäherung an das Meer und seine Uferlandschaften ermöglichen. Dieser Wandel lässt sich vielleicht am augenfälligsten in der Kunst und im Schrifttum der Romantik aufspüren. Geleitet von der Vorstellung des Erhabenen, nähern sich die Romantiker Küsten und Stränden in einer Weise, die den ungeordneten Verlauf von Klippen und Felsen nicht länger als Ausdruck des Chaos deutet, sondern in der Unregelmäßigkeit der landschaftlichen Erscheinung eine Quelle für die Freisetzung von Emotionen sieht. Es ist nicht nur Edmund Burke, der 1757 mit A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful für eine solche Sichtweise Pate steht, schon sein Mentor Joseph Addison veröffentlicht im Jahr 1712 einen vielbeachteten Brief in der von ihm herausgegebenen Wochenschrift The Spectator, in dem es quasi programmatisch heißt: […] of all Objects that I have ever seen, there is none which affects my Imagination so much as the Sea or Ocean. I cannot see the Heavings of this prodigious Bulk of Waters, even in a Calm, without a very pleasing Astonishment; but when it is worked up in a Tempest, so that the Horizon on every side is nothing but foaming Billows and floating Mountains, it is impossible to describe the agreeable Horrour that rises from such a Prospect. A troubled Ocean, to a Man who sails upon it, is, I think, the biggest Object that he can see in motion, and consequently gives his Imagination one of the highest kinds of Pleasure that can arise from Greatness.37

Es bedarf eines feinen Sensoriums und einer ästhetisch geschulten Wahrnehmung, um die physische Begegnung mit Meer und Küste in eine visuell und emotional ergreifende Erfahrung zu überführen und den Strand in einen privilegierten Ort für Kontemplation und Selbstfindung zu konvertieren. Der einsame Strandgänger nimmt die Küste nicht mehr als liminalen Raum zwischen Land und See wahr, sondern als einen Transitbereich, wo sich Wasser, Erde und Himmel überschneiden. Die verschwimmenden Konturen signalisieren eine Undurchsichtigkeit, die emotional leicht mit Schrecken und Gefahr assoziiert werden kann und somit jenen Schauer evoziert, der für Burkes Verständnis des Erhabenen so zentral ist. In diesem Sinne erweist sich das Wattenmeer als besonders geeignet, kinästheti37  The

Spectator [No. 489], A New Edition, intr. Henry Morley, London 1891.

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sche Erlebnisse auszulösen, Topographie zur zeitbefreiten Ideen- und Vorstellungswelt mutieren zu lassen.38 Es gibt aber auch eine weitere Seite des Erhabenen. In der politischen Dichtung der Romantik wird der Ozean zum Symbol für eine entfesselte Freiheitssehnsucht, die im Bild einer unbegrenzten, zeitlosen, dem Menschen nicht unterworfenen, immer wieder auch bedrohlichen und zerstörerischen See ihren poetischen Ausdruck findet. So gehören etwa zum vierten Canto von Lord Byrons Childe Harold’s Pilgrimage, einem erzählenden Langgedicht, das der Lyriker während mehrerer Reisen auf dem Kontinent in den Jahren 1812, 1816 und 1818 abfasst, die folgenden sinnfälligen Zeilen: 179 Roll on, thou deep and dark blue Ocean – roll! Ten thousand fleets sweep over thee in vain; Man marks the earth with ruin – his control Stops with the shore; – upon the watery plain The wrecks are all thy deed, nor doth remain A shadow of man’s ravage, save his own, When, for a moment, like a drop of rain, He sinks into thy depths with bubbling groan, Without a grave, unknell’d, uncoffin’d, and unknown.39

Etwas später wird das Meer gar mit den folgenden Attributen charakterisiert: 183 Dark heaving: – boundless, endless, and sublime – The image of Eternity – […]40

Weitere themenrelevante Beispiele romantischer Dichtkunst ließen sich leicht anführen. Zu den besonders herauszustellenden Werken zählt sicherlich Samuel Taylor Coleridges Ballade The Rime of the Ancient Mariner (1798), hat diese wegweisende lyrische Arbeit doch die Folie für vielfältige literarische und musikalische Anverwandlungen abgegeben – so etwa in neuerer Zeit auch für einen auf dem Originaltext fußenden Song der englischen Heavy Metal Band Iron Maiden.41 Diesem Beleg für die Popularität von Coleridges Werk sowie der Ballade selbst soll hier aller38  Vgl. in diesem Zusammenhang stellvertretend J. M. W. Turners Gemälde Calais Sands at Low Water – Poissards Collecting Bait (1830). 39  Lord Byron, The Complete Poetical Works, hg. Jerome J. McGann, Bd. 2, Oxford 1980, 184. 40  Byron, 185. 41  Siehe deren Album Powerslave aus dem Jahr 1984.



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dings nicht näher nachgegangen werden.42 Stattdessen richtet sich der Blick auf einige Erzähltexte aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Ozeanische Spuren in der englischen Literatur des (Spät)Viktorianismus und der Moderne: Joseph Conrad, James Joyce, Virginia Woolf Nicht zuletzt aufgrund der Wirkung von Sir Walter Scott erweist sich das 19. Jahrhundert als Jahrhundert des historischen Romans und der Abenteuerromanze, der das Geschehen auf dem und um das Meer herum vielfach als Sujet dient. Am Anfang steht der britische Sieg von Trafalgar (1805) über die Flotten der verbündeten Gegner Frankreich und Spanien. Es ist die Zeit Admiral Nelsons und der Royal Navy, der Beginn einer Epoche, »[when] Britannia rules the Waves«43 und das Empire weiter expandiert, bis erste kritische Stimmen laut werden. Stellvertretend sei auf Józef Teodor Konrad Korzeniowski, besser bekannt als Joseph Conrad, verwiesen, der u. a. in seiner Kurzerzählung An Outpost of Progress (1897) den »kolonialen Auftrag« auf ironisch-distanzierte Weise als unethisch entlarvt. Der meereserfahrene Conrad hat aber vor allem mit seinen vielen einschlägigen Arbeiten die literarischen Seelandschaften Englands im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert geprägt. Es soll deshalb jetzt stellvertretend Lord Jim (1900) gestreift und vornehmlich intertextuell als fiktionaler Kommentar zur Erfolgsgeschichte des Robinson Crusoe gedeutet werden. Auch in Conrads Roman markiert ein vermeintlicher Schiffbruch den Hintergrund für ein narrativ vielschichtiges, multiperspektivisches und mit häufigen Erzählerreflexionen durchsetztes Geschehen, das den Leser u. a. in die Welt der frühen Dampfschifffahrt und die ungeschriebenen Gesetze der 42  Vgl. zur Textdeutung etwa Anthony J. Harding, Coleridge and the Inspired Word, Kingston 1985; Jerome J. McGann, »The Meaning of the Ancient Mariner«, Critical Inquiry 8.1 (1981), 35–67; David Perkins, »The ›Ancient Mariner‹ and Its Interpreters: Some Versions of Coleridge«, Modern Language Quarterly 57.3 (1996), 425–448; Elizabeth A. Rubasky, »›The Rime of the Ancient Mariner‹: Multiple Models of Interpretation«, The Coleridge Bulletin, New Series 24 (2004), 19–28; David M. Wilkes, »Coleridge’s ›The Rime of The Ancient Mariner‹«, Explicator 61.4 (2003), 202–204. 43  Der Text dieses patriotischen Liedes geht auf ein Gedicht von James Thomson zurück und wurde 1740 von Thomas Arne vertont. Seit jeher wird der Song mit der Royal Navy in Verbindung gebracht. Siehe zum poetischen Umgang mit dem maritimen Erbe Englands auch die Anthologie Ode to the Sea: Poems to Celebrate Britain’s Martime Heritage, hg. Howard Watson, London 2011.

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Seemannschaft einführt. Defoes Protagonist taucht jetzt in Gestalt von Captain Robinson auf, der Gerüchten zufolge mit den Überlebenden eines anderen Schiffbruchs auf einer einsamen Insel nur deshalb dem Hungertod entgeht, weil er zum Kannibalen wird und seine Kumpanen verspeist. Das von Defoe angebotene Deutungsschema wird dekonstruiert. Wie ein Jahr zuvor schon in Heart of Darkness (1899), wo der Elfenbeinhändler Kurtz im afrikanischen Dschungel atavistisch der eigenen Primitivierung anheimfällt44 und Conrad an dieser Romanfigur demonstriert, wie zerbrechlich die Hülle der Zivilisation sein kann, wird jetzt in Lord Jim die Dichotomie zwischen Zivilisation und Barbarei aufgehoben. Als Nebenthema flankiert die Episode um Captain Robinson die eigentliche, auf einer wahren Begebenheit beruhende Handlung. In deren Verlauf gibt der junge Erste Offizier Jim zusammen mit den anderen Besatzungsmitgliedern der Patna, einer schwimmenden Rostlaube, die muslimische Pilger nach Mekka bringen soll, den in Seenot geratenen Dampfer auf. Die Mannschaft verstößt gegen ein ehernes Prinzip der Seefahrt, indem sie die Passagiere im Stich lässt. Später ist Jim freilich der einzige, der sich vor Gericht der Verantwortung stellt. Er verliert zwar seine nautischen Patente, kann sich aber schließlich den Nachstellungen der Öffentlichkeit entziehen und in einem anderen Handlungskontext in Patuan, einem fiktiven Land im malayischen Dschungel, wo seine Vergangenheit unerkannt bleibt, rehabilitieren. Jims feiges Handeln, sei es Ausdruck fehlenden Mutes, schlechten Urteilsvermögens oder einem schwachen Charakter geschuldet, steht im Widerspruch zu dem idealisierten Bild, das der junge Protagonist von sich hat und das im Wesentlichen auf der Lektüre abenteuerlicher Seeromanzen und ihrer Heldengestalten basiert, die Conrads Titelfigur in eine Traumwelt entrücken. Das Gattungsformat der Robinsonade wird auf diese Weise von Trivialtexten des 19. Jahrhunderts eingerahmt, die zum Eskapismus motivieren, das Gespür für die eigenen Schwächen mindern und ein angemessenes Urteilsvermögen konterkarieren. So gesehen, ließe sich Lord Jim als Conrads Replik auf Robinson Crusoe und andere klassische Robinsonaden interpretieren. [These] are for Conrad rather implausible success stories because they do not reckon with the nature of man and reality. […] Conrad not only critizises the myth of the autonomous individual but also deconstructs some of the oppositions the classical robinsonade establishes between Europeans and wild men or cannibals, masters and servants, civilization and nature.45 44  Vgl. Horst Breuer, »Atavismus bei Joseph Conrad, Bram Stoker und Eugene O’Neill«, Anglia 117 (1999), 368–394. 45  Paul Goetsch, »Conrad’s Shipwrecks«, in: Walter Göbel, Hans Ulrich Seeber, Martin Windisch (Hgg.), Conrad in Germany, New York 2007, 267–285, hier 273.



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Für den polnisch-englischen Autor entbehrt die Erfolgsgeschichte von Defoes Helden der Glaubwürdigkeit, wird die Natur des Menschen angesichts externer Zwänge und einer existenzbedrohenden Wirklichkeit doch nicht angemessen berücksichtigt. Wenn Conrad in seinen Erzählwerken auf die Robinson-Mythe auch andernorts zurückgreift, so nicht zuletzt in parodistischer Absicht. Ergänzend bleibt festzuhalten, dass der Romancier in seinem Œuvre Schiffswelten kreiert, die den Status exklusiver Räume inmitten der Ozeane, abgeschnitten vom Alltag an Land, haben.46 Sie unterliegen eigenen Gesetzmäßigkeiten, Normen und Regulativen. Insofern thematisiert Conrad auch in Lord Jim in quasi nostalgischer Attitüde seine eigene Enttäuschung über das Ende des von ihm verklärten Zeitalters des freien Seehandels und eines kodifizierten Verständnisses von Seemannschaft, das, wie er selbst formuliert, auf Tugenden wie Ehrhaftigkeit, Mut, Mitgefühl und Treue basiert. Sie stellen verlorengegangene, aus der Sicht des Autors universelle Bezugsgrößen in einer Zeit des Umbruchs dar, da sich hinter der Küstenlinie die Unsicherheiten, Irritationen und Verständnisverluste einer modernen, fremd gewordenen Welt auftun. Während Conrads Œuvre im Schnittpunkt zwischen Viktorianismus und Moderne steht,47 sind die Werke von Modernisten im Range eines James Joyce oder einer Virginia Woolf ganz im Duktus eines noch experimenteller angelegten Erzählens48 komponiert, darunter auch so ›seegewandte‹ Romane wie Woolfs To the Lighthouse (1927) und The Waves (1931) oder die vom Autor selbst als »Proteus« bezeichnete dritte Episode in Joyces Ulysses (1922).49 Wie dann auch Woolf greift Joyce mit dem Stream of Consciousness auf einen Erzählmodus zurück, »[in which] sense perceptions mingle with conscious and half-conscious thoughts, memories, feelings, and random associations.«50 Auf diese Weise werden assoziative Gedankenketten und mentale Prozesse in einen Bewusstseinsstrom überführt, der extern mit dem Rhythmus der Wellen und dem Spiel der Ge46  Vgl. in diesem Zusammenhang auch Philip E. Steinberg, The Social Construction of the Ocean, Cambridge 2001. 47  Siehe hierzu ergänzend auch John Peck, Maritime Fiction: Sailors and the Sea in British and American Novels, 1719–1917, Houndmills / Basingstoke / New York 2001; Margaret Cohen, The Novel and the Sea, Princeton 2010. 48  Vgl. stellvertretend Chris Baldick, The Modern Movement: 1910–1940, Oxford 2004. 49  Weiterführende Hinweise bietet u. a. Derek Edek (Hg.), The Cambridge Companion to James Joyce, Cambridge 1990. 50  M. H. Abrams, A Glossary of Literary Terms, New York 31971, 165.

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zeiten korrespondiert, so dass in Ulysses gerade auch die Formgebung des Textes vom maritimen Kontext inspiriert scheint. Zugleich wird so inhaltlich dem für diesen Textabschnitt zentralen Thema des Wandels und der Transformation Ausdruck verliehen. Während eines spätvormittäglichen Spaziergangs am Gestade der Irischen See, präziser: am Strand von Sandymount, einer Uferzone, die sich bis in die Bucht von Dublin erstreckt, wird Stephen Dedalus, Joyces schon aus A Portrait of the Artist as a Young Man (1916) bekanntem »fiktionale[n] Alter Ego«51, ein von Synästhesien gespeistes ozeanisches Erlebnis zuteil, in dessen Verlauf der Seelenzustand und die Gedankenwelt des modernen Telemachus offengelegt werden. Dies geschieht in Form eines knapp 20 Seiten umfassenden inneren Monologs, […] in dem sich gelegentlich Spuren eines auktorialen Mediums finden. Diese sind jedoch von besonderer Art. Statt den Monolog auf eine ihn übergreifende Situation zuzuordnen oder ihn zu präsentieren, wie es für das auktoriale Medium charakteristisch ist, wirkt hier die Stimme des Autors so, als ob das von ihr Gesagte Stephens Reflexionen überhaupt nicht mehr einzuholen vermöchte. […] die Verwendung des auktorialen Mediums [ist] beinahe in ihr Gegenteil verkehrt. Es vermittelt nicht mehr zwischen dem gesetzten Erzählrahmen und der erzählten Situation; vielmehr emanzipiert sich der Monolog vom Erzählrahmen. […] Stephens Monolog wiederum [ist] aus sehr verschiedenen Mustern des inneren Monologs zusammengesetzt […]. Bald wirkt er wie ein Bewußtseinsstrom, der Vergangenes aufwirbelt, bald wie ein bloßes Registrieren der Beobachtungen am Strand von Sandymount, bald wie ein Soliloquium, vielfach aber wie eine Selbstreflexion, die sich jedoch nicht – wie das für den inneren Monolog üblich ist – auf Erinnerung und Beobachtung bezieht, sondern auf die Bedingungen, durch die Erinnerung und Beobachtung allererst möglich werden.52

Wie dem Leser gleich zu Beginn der Episode verdeutlicht wird, gehört eine sehr grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Realität und Wahrnehmung zum zentralen Gegenstandsbereich von Stephens Strandwanderung: Ineluctable modality of the visible: at least that if no more, thought through my eyes. Signatures of all things I am here to read, seaspawn and seawrack, the nearing tide, that rusty boot. Snotgreen, bluesilver, rust: coloured signs. Limits of the diaphane. But he adds: in bodies. Then he was aware of them bodies before of them coloured. How? By knocking his sconce against them, sure. Go 51  Uwe Multhaup, James Joyce, Darmstadt 1980, 11. Vgl. zu Joyces Biographie die wegweisende Studie von Richard Ellmannn, James Joyce, New York / London /  Toronto 1959. 52  Wolfgang Iser, Der implizite Leser: Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972, 317.



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easy. Bald he was and a millionaire, maestro di color che sanno. Limit of the diaphane in. Why in? Diaphane, adiaphane. If you can put your five fingers through it, it is a gate, if not a door. Shut your eyes and see. Stephen closed his eyes to hear his boots crush crackling wrack and shells. You are walking through it howsomever. I am, a stride at a time. A very short space of time through very short times of space. Five, six: the Nacheinander. Exactly: and that is the ineluctable modality of the audible. Open your eyes. No. Jesus! If I fell over a cliff that beetles o’er his base, fell through the Nebeneinander ineluctably. […] Am I walking into eternity along Sandymount strand? Crush, crack, crick, crick.53

Mit seiner (aristotelischen) Einsicht, es sei ihm nur gegeben, die Signaturen der Dinge – also nicht das Wesen unter der Oberfläche des sinnlich Erfahrbaren – zu erfassen, postuliert er eine in der Wahrnehmung des Betrachters ständig changierende Realität, deren Entschlüsselung mittels visueller und akustischer Erkenntnismodalitäten sich letztlich verschließt, andererseits in Stephen aber jene endlosen metonymischen Ideenspiralen evoziert, die seinen Spaziergang entlang der Küste zu einer in Zeit und Raum hin und her wogenden spirituellen Wanderung werden lassen. In deren Fortgang stellt sich Stephen zum Beispiel die anstrandenden Wellen als Mähnen der Pferde des irischen Seegottes Mananaan vor oder führt sich die erste Landung der dänischen Wikinger an ›seinem‹ Strand vor Augen. Zudem erweitern nebst vielen anderen sukzessiven Vorstellungen Erinnerungen an Shakespeares Hamlet und The Tempest seinen mentalen Horizont, ebenso wie sich die Wellen, der ›lyrische‹ Rhythmus des Meeres, mit seinen eigenen poetischen Assoziationsketten unentwirrbar verschmelzen. Die See hat ihre eigene Stimme, a fourworded wavespeech: seesoo, hrss, rsseeiss, ooos. Vehement breath of waters amid seasnakes, rearing horses, rocks. In cups of rocks it slops: flop, slop, slap: bounded in barrels. And, spent, its speech ceases. It flows purling, widely flowing, floating foampool, flower unfurling.54

Dank ihrer onomatopoetischen Qualität, insbesondere der Verwendung von Alliterationen, reflektiert die Sprache des Meeres den Rhythmus des ein- und auslaufenden Tidenstroms. Die irische See gerät zum Inspirator für Stephens Reflexionen und Visionen. Die besondere Bedeutung des Meeres- und Küstenerlebnisses mündet schließlich in der Feststellung: »These heavy sands are language tide and wind have silted here.«55 Die 53  James

Joyce, Ulysses, the Corrected Text, hg. Hans Walter Gabler, London 1986,

54  Ibid.,

41. 37.

31.

55  Ibid.,

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Stimme der See scheint alles zu durchdringen. »[It] define[s] itself by speaking for itself and thus acquiring its own perspective, even if that appears only to be reported in Stephen’s stream of consciousness.«56 Am Ende seiner Wanderung sichtet Joyces Protagonist dann einen Dreimaster, der in ihm die Vorstellung freisetzt: »Moving through the air high spars of a threemaster, her sails brailed up on the crosstrees, homing, upstream, silently moving, a silent ship.«57 Dies ruft Erinnerungen an jenes Schiff wach, mit dem in den letzten Passagen von A Portrait of the Artist as a Young Man Stephen Dedalus’ Fortgang von der Insel, sein Abschied von Irland verbunden ist. In Ulysses endet auf diese Weise (für den Leser) der Ausflug in Stephens Gedankenwelten.58 Wie bereits der Titel nahelegt, kommt dem Meer auch in Virginia Woolfs To the Lighthouse eine zentrale Funktion zu. Als durchgängiges Motiv ist die See in diesem Erzähltext ebenfalls vielfach semantisch kodiert. Dank der Isle of Sky als Handlungsraum ist der Ozean im Leben der Familie Ramsay, die im Zentrum des Geschehens steht, ständig präsent. So etwa bei einem Bootsausflug zum Leuchtturm, einem Unterfangen, das allerdings wegen schlechten Wetters aufgegeben werden muss und erst zehn Jahre später, d. h. nach dem Tod von Mrs. Ramsey und zweier ihrer acht Kinder, durchgeführt werden kann. Mit ihren unbändigen Kräften öffnet sich die See in diesem Werk als ein fremdes ›Territorium‹, das sich nicht nur dem Zugriff menschlichen Verstehens und menschlicher Kontrolle entzieht, sondern aufgrund seiner schieren, alle Proportionen sprengenden Immensität auch Demut einfordert. Klippen und Strände markieren denn auch lediglich liminale Pufferzonen zwischen Natur und Zivilisation. Die Romancharaktere befinden sich in ständiger Nähe zum Meer, haben permanenten räumlichen oder akustischen Kontakt zum Wasser, so dass sich die entsprechenden Geräusche und visuellen Signale in ihre Gedankenwelten einschreiben. Wie die zyklisch wiederkehrenden Lichtstrahlen 56  Andrea Lobensommer, »The Language of the Sea and the Philosophy of PostImpressionism«, in: Klooss (Hg.), Writing Coast and Sea, 183–201, hier 198. 57  Joyce, Ulysses, 42. 58  Ergänzend lässt sich konstatieren, dass die dritte Episode in Joyces Roman indirekt an den vierten Gesang der Homerschen Odyssee anknüpft, in dem auf Proteus, »ein[en] treu[en] Diener Poseidons«, in einer Rede des Menelaos Bezug genommen wird. Dabei gerät der »wahrhafte Gott aus Ägyptos, welcher des Meeres  /  Dunkle Tiefen kennt«, in den Worten seiner Tochter Eidothea, zu einem »Zauberer [, der] sich in alle Dinge verwandelnden [wird / ],  /  Was auf der Erde lebt, in Wasser und loderndes Feuer.« Die Textbelege sind entnommen: Homer, Odyssee, übers. ­Johann Heinrich Voß, Frankfurt a. M. 1999, 4. Gesang, v. 385 f., 417 f.



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des Leuchtturms steuert auch die Monotonie der anstrandenden Wellen das Zeitgefühl. While the land is associated with safety, stability and order, the sea opens itself as a space that offers no answers to human desires, especially the longing for transcendental stability. Repeatedly occurring thought patterns, such as the human urge for understanding, are connected to metaphors of seafaring and exploratory maritime endeavors in search of the unknown. If accessed, the sea requires courage and expertise. The reward might be knowledge gained beyond the borders and limitations of familiar territory.59

Letzteres erinnert motivisch an die aus der Antike bekannte Trennung zwischen bekannter Wissenssphäre und der Welt des (noch zu erforschenden) Unbekannten60, die im Bild der Räume diesseits und jenseits der Säulen des Herkules, die im zeitgenössischen Verständnis die Straße von Gibraltar säumten, eingefangen ist. Begegnungen mit dem Meer setzen in Woolfs Roman letztlich selbstreflexive und damit erkenntnisbringende Gedankenprozesse in Gang. Dies gilt u. a. für den Intellektuellen der Familie, Mr. Ramsay, und insbesondere für seinen Sohn James, für den die titelgebende Lokalität zum hilfreichen Orientierungspunkt für die ›Navigation‹ in die eigene traumatische Vergangenheit und deren Überwindung wird. Auf einem Felsen, dicht vor der Küste der Isle of Skye platziert, einem Ort, der normalerweise für die Schifffahrt richtungsweisend ist und damit den Besatzungen Sicherheit signalisiert, fungiert der Leuchtturm in The Lighthouse auch als ein Wegweiser für einen landverbundenen Menschen wie James, der unter der Vergangenheit leidet, dessen Rückkehr an die Stätten seiner Kindheit und Jugend aber therapeutische Wirkung zeitigt. Es ist der Platz, wo Erinnerungen an Kindheit und Familie freigesetzt werden. Im Verlauf des Geschehens gerinnt der Leuchtturm zum (individuell) kodierten Ort, an dem Liebe und Verständnis, aber auch Auseinandersetzung, Frustration, Verlust und Tod lokalisiert sind. Permanent einer endlos erscheinenden See und einem grenzenlosen Himmel ›ausgesetzt‹, dient der Leuchtturm James als physischer Fixpunkt, der es dem jungen Mann ermöglicht, seine mentalen Blockaden zu überwinden und mit seiner Vergangenheit Frieden zu schließen. James erlebt diesen besonderen Ort in der Erinnerung, gleichzeitig aber auch im hic et nunc der Wiederkehr: »Writing Coast and Sea«, in: Klooss (Hg.), Writing Coast and Sea, 106. der Entdeckung Amerikas wurde die alte Devise non plus ultra durch plus ultra ersetzt. 59  Klooss, 60  Nach

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The Lighthouse was then a silvery, misty-looking tower with a yellow eye, that opened suddenly, and softly in the evening. Now – James looked at the Lighthouse. He could see the white-washed rocks; the tower, stark and straight; he could see that it was barred with black and white; he could see windows in it; he could even see washing spread on the rocks to dry. So that was the Lighthouse, was it? No, the other was also the Lighthouse. For nothing was simply one thing. The other was the Lighthouse too.61

Der Leuchtturm verliert seine Bedrohlichkeit, setzt eine Zusammenführung gespeicherter und aktueller Wahrnehmungen in Gang und geleitet James auf seiner versöhnlichen Reise in die Selbsterkenntnis. In erzähltechnischer Hinsicht fällt auf, dass sich die kontinuierlichen Referenzen an das Meer wie eine formgebende Strömung unter der Oberfläche der Erzählung bewegen und dem Text eine Kohärenz geben, die ganz auf einer für die Darstellung charakteristischen Bildhaftigkeit gründet. Woolfs modernistische Erzählweise überschreitet eine bloße Aufhebung traditioneller Handlungslinien, indem assoziative Wahrnehmungsformen und mentale (Verstehens)Prozesse in den Vordergrund gerückt werden, die ganz eng an eine see- und wassergebundene Metaphorik gekoppelt sind. This lexical field is especially dominant in the thoughts of the protagonists because of the closeness to the sea, which they see and hear all day. Therefore their concrete surroundings shape the protagonists’ thinking processes and they are using their experiences and perceptions to make concrete abstract ideas.62

Auf diese Weise werden in To the Lighthouse Konzepte vorweggenommen, wie sie später etwa in der kognitiven Linguistik entwickelt werden.63 Ähnlich wie schon in Ulysses, wo die See als eine permanent aktive Naturkraft zum Sinnbild des Wandels und der Veränderung erwächst, verharrt der Ozean auch in Woolfs The Waves niemals in Stasis, so dass in diesem Erzählwerk seine Erfassung in der Formensprache der Literatur ebenfalls flexibel und variantenreich gestaltet wird.64 Die Autorin orienWoolf, To the Lighthouse, London 1992, 202. Spangenberg, »›That Fluidity out There‹: Sea and Water Imagery in Virginia Woolf’s To the Lighthouse«, in: Klooss (Hg.), Writing Coast and Sea, 203–212, hier 208. 63  Vgl. vor allem George Lakoff, Mark Johnson, Metaphors We Live By, Chicago /  London 1980. 64  Siehe hierzu auch Katharina Hagena, Developing Waterways: Das Meer als sprachbildendes Element im Ulysses von James Joyce, Frankfurt a. M. 1996. 61  Virginia 62  Ann



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tiert sich an der Textur der Wasseroberfläche und entwickelt erneut eine meeresadäquate, ungemein bildhafte Sprache. Der Text wird mit einer kursiv hervorgehobenen Referenz an die See eröffnet und schließt mit der ebenfalls kursivierten Bemerkung The waves broke on the shore,65 was die in Form von inneren Monologen dargebotenen, die gemeinsame Kindheit, den Werdegang, aber auch den Tod der Charaktere umfassenden, von Erinnerungen geprägten Gedankenwelten der sechs Protagonisten Rhoda, Jinny, Louis, Neville, Susan und Bernard in eine lebenskreisförmige Struktur einbettet. The sun had not yet risen. The sea was indistinguishable from the sky, except that the sea was slightly creased as if a cloth had wrinkles in it. Gradually as the sky whitened a dark line lay on the horizon dividing the sea from the sky and the grey cloth became barred with thick strokes moving, one after another, beneath the surface, following each other, pursuing each other, perpetually.66

Wie die Eingangspassage nahelegt, problematisiert Woolf gleich zu Beginn ihres experimentellen Romans in wahrnehmungspsychologisch aufschlussreicher Weise die grundsätzlichen Möglichkeiten visueller Erkenntnis, wobei das changierende Erscheinungsbild des Meeres den Ausgangspunkt markiert und die Erzählerstimme wechselnde Eindrücke und Repräsentationen des Wassers generieren lässt. Aus der subjektiven Perspektive des Betrachters bietet sich der Ozean in Schattierungen nicht klar voneinander zu differenzierender Farbtöne dar, die ganz dem Blick des menschlichen Auges geschuldet sind, darüber hinaus aber auch noch vom besonderen Zeitpunkt, d. h. der Phase kurz vor Sonnenaufgang, da Himmel und Meer ineinander zu versinken scheinen, konditioniert werden. Demgegenüber lässt sich die Textur der Wasseroberfläche sehr viel klarer erkennen, nimmt schließlich sogar die Gestalt einer von Kunstmalern verwendeten Leinwand an. Gleichzeitig verknüpft der Verweis auf »the grey cloth [that] became barred with thick strokes moving, one after another, beneath the surface, following each other, pursuing each other, perpetually« das Erscheinungsbild des Meeres mit einer für dieses typischen Rhythmisierung, die in der Bewegung der Wellen gespiegelt wird und fortan das Werk durchdringt. The [opening] sentence with its many subordinate clauses and insertions mirrors this rhythm, for like a wave, the meaning and thus the direction of the sentence is made clear at the outset only to keep petering out, to be subdivided in a myriad of little parts, wavelets, which somehow keep clinging together, so that 65  Virginia 66  Ibid.,

3.

Woolf, The Waves, London 1991, 228.

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even the language retains the fluid and rhythmic quality of water and particularly waves.67

Selbst der Tod gerät zum Bestandteil dieser ewigen Bewegung, gehört zur Dynamik des Lebens, so dass es nicht wunder nehmen kann, wenn auch der Text an seinem Ende zu seinem Anfang zurückkehrt, die Dynamik des Ozeans erneut thematisiert und das Bild der Wellen wieder aufgegriffen werden. Der (Lebens-)Zyklus wird geschlossen, ohne dass in The Waves damit in letzter Konsequenz der Gedanke völliger Vernichtung verbunden würde. Das Meer kann sich sehr wohl bedrohlich und gewalttätig geben, fordert demgemäß auch Respekt und zwingt zur Unterwerfung, verändert sein ›Wesen‹ aber auch immer wieder aufgrund der ihm eignenden Wechselhaftigkeit und zeigt sich über weite Strecken des Romans beruhigt und friedfertig. Eine solche ›naturgerechte‹ Darstellung der See ist deshalb möglich, weil Woolf sich neben den Stimmen der Figuren einer weiteren, abgekoppelten Erzählinstanz bedient. »This allows the [internal] narrative voice to merge with nature, to become part of its design and thus part of its unending rhythm […].«68 Das Meer erhält in der Folge Subjektcharakter, wird neben den anderen Romanfiguren selbst zur agierenden Persona, wobei die zyklisch aufeinander folgenden Wellen, die niemals enden wollen, die Bewegung vorgeben. »Everything is motion, is movement, but a movement which is welcomed with open arms and everyone is swimming along […].«69 Joyces und Woolfs Romane stellen konzeptionell und erzähltechnisch Marksteine auf dem Weg zu einer Gestaltung des Meeres in der experimentellen Literatur der britischen Moderne dar. Sie nehmen zudem manches von dem vorweg, was in der postmodernen fiktionalen Literatur zur Geltung kommt. Dies gilt gerade auch im Hinblick auf die erzählerische Gestaltung von Zeitabläufen und mentalen Prozessen, wie sie etwa in John Banvilles Roman The Sea (2005) anzutreffen wäre. Strandgut und Erzählen Die kursorische Lektüre maritimer (literarischer) Fundstücke hat versucht aufzuzeigen, dass sich Meere und Küsten in der künstlerischen Aneignung als vielschichtige, in den meisten Fällen zudem mehrdeutige Räume auftun, wo nicht nur Wandel und Verwandlung stattfinden, son67  Lobensommer, 68  Ibid.,

193. 69  Ibid., 195.

»The Language of the Sea«, 183 f.



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dern von wo aus auch multiple Geschichten und Erzählungen ihren Ausgang nehmen. Dies gilt in zeit-, kultur- und raumübergreifender Weise. Im Rückblick auf die eingangs erwähnten objets trouvés aus Holz und Knochen bleibt festzuhalten, dass sich Gestade und Uferzonen zu allererst als interpretationsoffene Räume darbieten. Ob Treibholz von den Stränden Südafrikas und Kanadas oder Walfischknochen, angelandet unterhalb der Klippen von Moher, wirklich vom Sog des Meeres erfasst, von den Gezeitenströmen an Land gespült und von der See achtlos zurückgelassen, vielleicht auch gezielt dort abgelegt wurden, ob sie auf Sand und Stein für Tage, Wochen, Monate, möglicherweise sogar Jahre hier verweilt haben, bleibt letztlich ihr Geheimnis. Es sind die Menschen, die Meer und Stränden eine Stimme geben, leblose Gegenstände reanimieren und eine vermeintlich artikulations- und gedankenfreie Welt, deren Sprache die natürlichen Geräusche der Wellen und des Windes sind, mit ihren Worten überschreiben. So reden die See und ihre Gestade denn auch in vielen Sprachen, folgen unterschiedlichen Darstellungs- und Erzählmustern, seien sie tragisch, satirisch, komisch, ironisch oder gar burlesk. Ob ein von seinem Fleisch gelöster Knochen, ein totes Stück Treibholz oder andere Meeresfundstücke überhaupt bedeutungsbesetzt sind, hängt allein von ihrer Interaktion mit der menschlichen Vorstellungskraft ab. In diesem Sinne öffnen sich die See, die Küste und der Strand als hermeneutische Räume, die dazu einladen, mit Geschichten gefüllt zu werden.

Literary Figure into Pictorial Image Illustrations of Don Quixote Reading Romances By Wolfgang G. Müller I. Interfigurality across the Media Sometime ago I coined the term »interfigurality« to denote relationships which exist between figures of different texts.1 An import variety of such relationships emerges whenever a figure is extracted from its original fictional context and inserted into a new fictional context. Such a re-use of a figure may be performed by the author himself in a later work. A celebrated classical example of a figure’s reappearance in a subsequent text by the same author is Homer’s Odyssey, which describes the adventures of Odysseus, who had been one of the heroes in the Iliad, in the course of his return from the Trojan War to his wife Penelope. An example from Shakespeare would be Sir John Falstaff, a character from the history play Henry IV, who reappears in the comedy The Merry Wives of Windsor, or Faust who reappears in Goethe’s Faust II. Re-used figures are, of course, usual in series and sequels. Following Genette’s terminology,2 such texts can be called autographic sequels. There is also the phenomenon that re-used figures appear in texts written by other writers than by the authors of the pretexts. Such works can be called allographic sequels. An example of a figure taken from another writer’s text would be Samuel Richardson’s Pamela who reappears in Henry Fielding’s novel Joseph Andrews or Charlotte Lennox’ The Female Quixote, whose protagonist is a female version of Cervantes’ Don Quixote, or Bertha Mason, Rochester’s first wife in Charlotte Brontë’s Jane Eyre, concealed in the attic of his house, who returns as protagonist in Jean Rhys’ modern novel Wide Sargasso Sea. To take an example from 1  Wolfgang G. Müller, »Interfigurality: A Study on the Interdependence of Literary Figures«, in: H. F. Plett (ed.), Intertextuality, Berlin / New York 1991, 101–121. 2  Gérard Genette, Palimpsestes: La littérature au second degré, Paris 1982.

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dramatic literature, the subordinate twin characters in Shakespeare’s Hamlet, Rosencrantz and Guildenstern, are turned into the main characters in Tom Stoppard’s Rosencrantz and Guildenstern Are Dead. It is important to realize that such literary revenants are not identical with their originals. It is ontologically impossible to have entirely identical characters in literary works by different authors. This applies also, albeit sometimes to a lesser extent, to the phenomenon that one and the same writer re-uses one of his characters in later works. Thus James Fennimore Cooper’s Natty Bamppo in The Deerslayer (1841), the last novel in the Leatherstocking series, differs markedly from his namesake in The Pioneers (1823), the first in the series. Such re-used characters, taken from one fictional context and transferred to another fictional context, must necessarily be more than mere duplicates. They are related to their precursors by a tension between similarity and dissimilarity.3 The phenomenon of borrowing figures from literary texts can also occur in other media, notably in visual art, so that we would have to speak of intermediality rather than intertextuality. The relation between figures which establishes itself in such cases – interfigurality across the media – differs strongly from its intra-literary counterpart. If an artist produces an illustration of a fictional character in a book illustration or an independent painting, this is usually not an autographic work. There are, of course, some authors who illustrate their own books, but this is not the rule. In a transfer of a literary figure to another medium it is quite clear that the recycled figure is not identical with the original. It is more than obvious that pre-existent figures taken up in a new medium are not just borrowed figures, but re-used or, rather, re-made figures, since they are subjected to a new art medium and its specific modes and techniques of composition. It is a paradox that on the one hand such figures seem to be the same, as, for instance, the identity of the name suggests, and that on the other hand they are not the same. The adoption or cross-over or transposition4 of a character from one medium to another one will in this study be examined by looking at the pictorial treatment of the protagonist of Cervantes’ novel Don Quixote in the first chapter, as he is found in a rather static position reading romances. Aspects to be discussed in the pictorial works are among others: How does the artist adapt the figure to the new me3  Figures in serialized texts evince continuity, but even in such texts differences and changes can be observed, as is evidenced by Conan Doyle’s Sherlock Holmes narratives or Agatha Christie’s novels. 4  Peter Hühn, »Double Transgenerity«, Anglistik: International Journal of English Studies 18.2 (2007), 43–61, quote: 43.



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dium? Does the artist representing the figure in another medium interpret the figure in a new way? Does the figure retain narrative elements from the text? Does the figure show signs of belonging to another cultural context? Does the figure enter into a certain tradition in visual art?

II. The Change from the Novel as a Narrative Genre to Painting as a Non-Narrative Genre The title of this chapter may seem outdated to recent theorists who emphasize the potential narrativity of pictures. Without contesting the assertion that from a cognitive perspective, which takes into account »historical and semiotic codes«5, pictures possess narrative properties, I believe that a study of the transmutation of a motif from narrative to visual art makes sense only if we take a basic distinctness of the media involved for granted. Thus as to painting, Lessing’s notion of the pregnant moment, which makes the precedent and the subsequent understandable6, retains its value. What Peter Hühn says about »Narrating Pictures in Poems«, namely that »paintings (I am referring to representational pictures only) represent stasis, an arrested moment, and do not in the same way tell a story«7, holds true for illustrations of narrative texts in particular. Ryan’s concept of »embryonic stories« in paintings8 is not really applicable to the material examined in this study, since the works in question are illustrations, which point back to scenes, actions and characters prefigured in a narrative text. The explicit narrative impulse is usually obliterated in them. The illustration captures one moment in the story, even though from a cognitive point-of-view the viewer, who knows the book, may place it in the context of the narrative. Only in this sense we can speak of a narrativity of the pictures. To emphasize it once more, the very point of the illustrations is that they transpose »pregnant moments« of the narrative text into a basically 5  Roland Weidle, »Organization, Presentation, and Participation: Transmedial Approaches to Superordinate Narration«, Anglistik: International Journal of English Studies 18.2 (2007), 7–24, quote: 16. 6  »Die Malerei kann in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen, und muß daher den prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird.« Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon, Stuttgart 1994, chapter 19. 7  Hühn, »Double Transgenerity«, 45. 8  Marie-Laure Ryan (ed.), Narrative across the Media: The Languages of StoryTelling, Lincoln, NE 2004.

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non-narrative medium. This decisive change from one medium to another medium would in our material be questioned, if we would attribute to painting an essentially narrative quality, as has been done in Felix Sprang’s ingenious interpretation of royal portraits.9 In a portrait of Queen Elizabeth he finds pictorial details, out of which the observer can reconstruct a story, but this does not hold true for all visual art. Following Werner Wolf, we can distinguish three kinds of temporal structuring in pictures referring to a story: monophase works that evoke one moment in a story through a single image; polyphase works that capture several distinct moments within the same image; and series of pictures that capture a sequence of events.10 In monophase pictures, with which we are concerned in our study, the dimension of time is reduced to zero.11 However, we do not assume a radical dissociation of the painting from its narrative original, for the observer of the painting is supposed to know at least something about the reference text as part of his or her cultural memory or to have read the text and to place the picture in its narrative context. If an illustrated edition is read, the narrative and the painting are simultaneously present. If the picture is looked at not as an illustration in a book, but, for instance, as a painting in a gallery, the knowledge of the text or some knowledge about it is a cognitive prerequisite for the reception of the picture. So the narrative quality of the text as such always remains to a greater or lesser extent present in the reception of the picture. The illustrator or painter may even attempt to include a narrative quality in the picture, as is the case in Thackeray’s Vanity Fair, where the question whether Becky Sharp murdered her husband remains ambiguous in the text, while an illustration shows her with a knife in hand and thus suggests a murder-story. So a picture derived from a text is usually characterized by de-narrativization, but the possibility of a re-narrativization is also included.

9  Felix Sprang, »The Queen’s Two Bodies: Royal Portraits and the Narration of Kingship«, Anglistik: International Journal of English Studies 18.2 (2007), 63–81. 10  Werner Wolf, »Pictorial Narrativity«, in: David Herman, Manfred Jahn, MarieLaure Ryan (eds.), The Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, London 2005, 431–435. 11  Werner Wolf says: »There are single monophase pictures whose narrativity seems indisputable because they retain intermedial references to, or are even detailed transpositions of, scenes of well-known (verbal) narratives.« Wolf, »Pictorial Narrativity«, 431–432. I doubt that a picture illustrating a moment from a narrative text acquires narrativity just by evoking this text.



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III. The Material Selected for the Study12 For this article I have chosen illustrations of Don Quixote reading romances.13 These illustrations refer to the first chapter, actually to the first two or three pages of the novel, in which the protagonist is reading novels, which inspires him to travel through the world in search of adventures of the kind he has read in the romances.14 Hence the reading phase at the beginning of the novel is the determining factor in the new self-creation of the hidalgo as a knight errant, who coins for himself the name of Don Quijote de la Mancha. His state of mind is characterized by a two-fold delusion as the result of his assimilatory reading of chivalric romances. He mistakes literature for reality, and he turns reality into fiction. For the painter or illustrator, who chooses Don Quixote in the act of reading as a subject, there are few clues in the text. The representation is directed to the mental developments which take place in the hidalgo under the influence of his reading. On the relevant pages of the first chapter there are hardly any descriptive elements in the text, which is else »conceived in strongly visual terms«15. We learn that he has a lance and ancient shield on shelf and keeps a skinny nag and a greyhound, but we do not even know in which room and in which position he reads, which is why the title for pictures of the reading Quixote, »Don Quixote in his study«, is not supported by the text of the first chapter. We learn, however, something about the external appearance of the squire, namely that he has a strong constitution and a lean body and a scrawny face. Moreover some of the titles of the books he has read are mentioned. Consequently, the representation of the knight is a challenge for the visual artist. The text gives him little descriptive stimulation, but offers creative freedom. Intermediality here emerges on another basis than 12   Without the competence, energy and resoursefulness of Isabel Vila Cabanes the pictorial material for this study could not have been obtained. I also have to thank the staff of the Anna Amalia Bibliothek, a veritable treasure-house for art and literature, for extreme competence and helpfulnes and a lot of patience. I am indebted to this library for reproductions of figures 3, 4 and 6. 13  A preliminary study is Wolfgang G. Müller, »Der lesende Quijote in Buch­ illustrationen: Vier Beispiele«, in: Ines Detmers, Wolfgang G. Müller (eds.), Don Quijotes intermediale Nachleben. Don Quixote’s Intermedial Afterlives, Trier 2010, 192–204. The present study has an entirely new theoretical foundation and a much more extensive visual material. 14  Permission to reproduce the images has in each case been acquired. 15  E. C. Riley, »Don Quixote, from Text to Icon«, Cervantes 8 (special issue, 1988), 103–115, quote: 111. Also see Jean Canavaggio, Don Quijote, del libro al mito, Madrid 2006.

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in the illustration of the hero’s strongly visualized adventures, for instance the attack against the windmills. The analysis will use Edward Hodnett’s distinction of the three functions of a book illustration – representation, interpretation and decoration16 – with some caution, however, for these categories tend to overlap. Elements which look decorative may turn out to be semantically significant. In addition to the aforementioned questions a special focus of my paper will be on the techniques the artists use to tell us something about the knight’s inner life. In this context it will be asked whether developments and traditions in the history of Quixote illustrations can be identified and whether the pictorial image of Quixote changes in accordance with developments in the reception of the novel over the periods. There is no doubt that the history of visual art from baroque to modernity is reflected or, rather, manifested in the rich panorama of Quixote illustrations. What John Harthan says on the role of Quixote illustrations – »A history of modern book illustration could almost be written in terms of this perennial popular classic alone«17 – could almost be extended to the whole of visual art. In view of the huge number of extant illustrations digitalized, especially in the Cervantes Project Collection at the Cushing Memorial Library and Archives of Texas A&M University,18 my study cannot even claim to be an attempt to describe the whole development. I can only deal with a few works of exemplary character, which raise questions concerning the history of art and interpretation.19 The visual material used in this study is quite diverse. In the centre of it there are book illustrations, pictures which are embedded in the text. These may mark the beginning (headpiece) or the end of a chapter (tailpiece), but 16  Edward Hodnett, Image and Text: Studies in the Illustration of English Literature, London 1982. Hodnett’s distinction of the three function of an illustration is criticized by Rachel Schmidt, Critical Images: The Canonization of Don Quixote through Illustrated Editions of the Eighteenth Century, Montreal 1999, 9. 17  John Harthan, The History of the Illustrated Book: The Western Tradition, New York 1981, 153. 18  Siehe Fernando González Moreno, Eduardo Urbina, Richard Furuta, Jie Deng, »La coleccíon de Quijotes ilustrados del Proyecto Cervantes: Catálogo de ediciones y archivo digital de imágines«, Cervantes 25.1 (2006), 79–104. Prof. Eduardo Urbina generously gave me permission to use all the images in this collection. 19  A useful account of Don Quixote in the visual arts is Johannes Hartau, »Don Quijote als Thema der bildenden Kunst«, in: Tilmann Altenberg, Klaus MeyerMinnemann (eds.), Europäische Dimension des »Don Quijote« in Literatur, Kunst, Film und Musik, Hamburg 2007, 117–169. Open access in http://hup.sub.uni-ham burg.de and http://deposit.d-nb.de. I owe deep gratitude to the art historian of the University of Jena, Verena Krieger, for valuable information and suggestions.



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for the most part they are placed within the text. They may also appear as frontispieces or cover illustrations. All these manifestations must be regarded as different genres, which have different functions.20 Additionally, there are illustrations and series of illustrations which were not created to be represented in the text of an edition, but to be sold to private people or to museums and meant to be hung in galleries. The linkage to the text may thus be stronger or weaker, even though there can never be a total separation between literary work and the visual image, if there is a genetic or inspirational bond between text and picture. Another problem is the evidence of traditions in visual art. A work of visual art may respond not to the text, but to an earlier work which is a response to the text. Steps in the creative treatment of the figure of Don Quixote are, for instance, the creation of a new version of Don Quixote in a novel (literary interfigurality), Quixote represented in an illustration in the text of the novel (intermedial interfigurality) and Quixote in a picture, responding to an earlier visual representation (interpictoriality).21 IV. Iconography of Don Quixote Reading: Examples from the Eighteenth Century The discussion of pictures of Quixote reading will be mainly chronological, but this rule will be broken at the beginning, for we will start with a very famous work which created a tradition, José del Castillo’s representation of the Don Quixote at this library reading chivalric novels in an engraving of 1780 (figure 1). Quixote is sitting in his library on an armchair with an open book and further books on the table and on the floor. On the spine of one the books the name Amadís de Gaula, Don Quixote’s favourite book, is recognizable. The wall behind him is lined with books. The knight’s immersion in a world of books is thus emphasized. To use Hodnett’s categories, representative elements would be the knight and the books on the table and the floor and interpretative elements would be facial expression and gestures, visualizing the processes going on in the knight’s mind. Elements which seem to be decorative – book shelf, dog, lance, rapier – turn out to have a decorative as well as an interpretative function. Thus the arms refer to Quixote’s later activity as a knight errant. The dog, a conventional 20  The present writer is aware of these distinctions, but will not always refer to them explicitly, because this study is focused mainly on a figure travelling through different media. 21  The term »interpictoriality« will be taken up later in this article.

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Figure 1: José del Castillo, Don Quixote in his Study, Madrid: Ibarra, 1780



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constituent of pictures of artists and scholars in the eighteenth century,22 looks intently at his master, reacting on the latter’s strong emotion. The illustration evokes the narrative context, without being narrative itself. It arrests the knight in a process of intense facial and gestural action. The three functions Hodnett distinguishes combine in the coat of arms in the foreground, which is placed in the intersection of the vertical and horizontal margin of the illustration, but positioned in the foreground. In the source it is armour »forgotten in a corner« – »olvidadas en un rincón«.23 The description of the knight shows a remarkable distance of the face from the book, while the eyes are with a piercing glance fixed on the open book. The reason for this distance is that what he reads catapults him into motion. The knight’s activity of reading and the simultaneous agitation as a consequence of reading are expressed in the posture of the body. The body stretched upwards with a parallel of arm and face is the result of ecstasy. The knight’s posture is an iconic equivalent for his mental state, which is also reflected in the disorder of the books lying around. The artist seems to have caught the precise moment at which the protagonist is overwhelmed by madness. As to a possible narrativity of the picture, action is here presented as movement of the body. The action is so intense that it appears to be on the verge of narrative, but does not cross the line between visual and narrative art, although the observer may get the impression that the action presented is moving on in time. This is a perfect example of »action in movement«, of which William Hogarth speaks in his treatise The Analysis of Beauty (1853). There is a contrast between the knight’s obvious madness and the elegance of his clothes as well as the architectural beauty of the room with the coffered ceiling, a straight shelf with carefully placed books, the orderly hung weapons. The iconography of the representation suggests that the man is not an impoverished squire as in Cervantes’ novel, but a gentleman, a person elegantly dressed in the fashion of the period, living not at all in degraded circumstances. The appearance of the knight in the illustration can be correlated with the gorgeous edition of Cervantes’ novel which appeared in Madrid in the same year. A picture of a destitute, tattered, scruffy hero would be at variance with the impression such an edition is meant to create. Castillo’s illustration thus counteracts the text to some extent, even though it magnificently visualizes the mental aberration of the protagonist. 22  To mention an example, a famous portrait of William Hogarth shows the artist together with dog, both looking in the same pensive way. 23  Miguel de Cervantes, Don Quijote de la Mancha, ed. Francisco Rico, Real Aca­ demia Española 2004, 31.

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The illustration is a significant document in the development which makes Don Quixote a national icon, a Spanish role model. The next illustration to be discussed is of earlier date. It was created by John Vanderbank in 1738 for the edition of Lord Carteret of 1738 (fig. 2), a Spanish deluxe edition,24 which, as Rachel Schmidt argues, endeavours to present Cervantes’ work25 as a classic (figure 2). It is to be seen in the context of the canonization Don Quijote and the figure of Quixote. Specifically, this illustration has to be interpreted in the context of the development of the national English interpretation of the knight of the Mancha. In this study there is no room for an extensive discussion of Vanderbank’s work in a larger literary and art-historical context. There will be only a hint at the development of the conception of Quixote in the eighteenth century, which Susan Staves describes in the following way: There are three stages. At first we see Don Quixote as a buffoon, a madman who belongs in a farce. Then ambiguities begin to creep in, and we have a Don Quixote who is still ridiculous, still a buffoon, but who, at the same time, is beginning to look strangely noble, even saintly. Then, finally, toward the end of the century we begin to glimpse the romantic Don Quixote, an idealistic and noble hero.26

Vanderbank’s picture shows Don Quixote in an apparently small study, which increases the focus on the character. The person represented fills the room almost entirely, which makes the picture look almost like a portrait. As distinct from the Castillo picture, which shows an agitated, gesturally active character, this illustration presents the protagonist in a relaxed, nearlying posture. The face is resting sideways on a bent hand. The eyes are intensely directed to an armour over the chimney, while the right hand points at a place in the open book. The combination of these two opposite gestures creates an iconic effect. With the two body turns the picture stands in the tradition of Anthony van Dyck, who was the leading court painter in England in the seventeenth century and dominated portraitpainting far into the eighteenth century. He liked showing the persons he painted in turning positions, for instance in the portrait of George Digby, Second Earl of Bristol, or in his self-portrait where he points at a sunflower. What is interesting in the picture under discussion is that the two body turns are motivated by two objects of the knight’s attention, the book and the armour. What he is reading in the book makes him plan his 24  Vida y hechos del ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha, 4 vols., London: J. und R. Tonson, 1738. The illustration reproduced here was provided by the County Library (Landesbibliothek) Oldenburg, for which I am very grateful. 25  Schmidt, Critical Images, 25. 26  Susan Staves, »Don Quixote in Eighteenth-Century England«, Comparative Literature 24 (1972), 193–215, quote: 193.



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Figure 2: John Vanderbank, Don Quixote at His Library, Edition of Don Quijote, London, 1738 – Landesbibliothek Oldenburg

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excursion into the world as an errant knight. This makes the picture seem to tell a story. However, this is, to use Ryan’s term for once, just an »embryonic story«. To repeat our findings in other words, the double perspective visualizes the transitional phase in Don Quixote. While he is reading, he already thinks of his project to constitute himself as a knight-errant. But there is nothing of the emotional turmoil and physical activity in this picture, which distinguishes Castillo’s work. Only the eyes betray mental excitement, they indicate that the knight is shown at the moment of experiencing an inspiration. In so far this picture accords with portraits of artists which were painted in the eighteenth century. In this context it is significant that he has a high and light forehead. There is also an almost imperceptible sign of an epiphany in the rays which intersect the room and meet the knight’s face. Vanderbank’s picture has to be seen in various contexts. Four culturally significant aspects of his representation can be noted. First, in this picture the Spanish hidalgo has turned into an English gentleman of noble descent. The weapons hung up at the wall seem to be those of his ancestors. He takes a relaxed position, his way of dressing is in the style of the time. He obviously represents the English Gentleman Ideal, the art of selfrepresentation in English Neo-Classicism with an attitude of negligence (négligence), which is in the tradition of the courtly sprezzatura concept of the Renaissance. These features tie in with the clear design of the room with its elegant furniture and orderliness. The books on the floor are a sign of negligence rather than disorder, as distinct from Castillo’s picture. Second, there is no room for madness in such a genteel context. Third, the intense, contemplative, if not brooding glance of the gentleman shows a subjectivity, which anticipates romantic Quixote illustrations, which is not an anachronism, because English Romanticism has a long prehistory reaching back to the early eighteenth century.27 Fourth, the picture has also to be related to the tradition of portraits of artists and scholars in the seventeenth and eighteenth centuries, which tend to depict persons whose eyes suggest an inspiration. Additionally it has to be observed that there is a contrast in the picture between the gentlemanlike appearance and posture of the knight and his intense glance which suggests a melancholic disposition often found in artists and scholars. The next illustration, a copperplate engraving by Daniel-Nicolas Chodowiecki, part of Friedrich Justin Bertuch’s illustrated translation of Don Quixote (1775–1777), represents an example of the adaptability of the Quixote figure to different cultural milieus (figure 3). 27  See

Rolf P. Lessenich, Aspects of English Preromanticism, Köln 1989.



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Figure 3: Daniel-Nicolas Chodowiecki, Der Ritter Don Quichotte denkt auf seinen Auszug, Berlin 1775–1777 – Ausgabe 1924. Anna Amalia Bibliothek Weimar

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While Don Quixote appears in Vanderbank’s picture as an isolated gentleman, the Chodowiecki illustration places him in the context of his family, which is not the case in the corresponding scene in Cervantes’ novel. The picture bears marks of the iconographic tradition. Quixote is sitting on a chair, reading a book with his head resting on his left hand, completely absorbed in the text. There is a shelf lined with books, a rapier leaning against the chair. On the wall are to be seen Don Quixote’s armour and arms and, above the door, a painting with two knights fighting, a supraporte, which can be interpreted as the protagonist’s dream. Under his legs the obligatory greyhound is sleeping. But there is a marked deviation from the text of Cervantes’ novel and from the whole iconographic tradition. For the knight is sitting, together with his splendidly dressed and hair-styled niece, at a dinner table with the housemaid serving the meal. There is a strong contrast between the niece with her back to her chair, waiting to be served, and the knight leaning forward with his eyes fixed on the book before him. Chodowiecki transferred the motif of the reading knight to a domestic milieu of the second half of the ­eighteenth century, which, we know, was fascinated by the knight of the mournful countenance. The milieu is decidedly not aristocratic as in Vanderbank’s picture. This is shown by the smallness of the room which has to serve as library and dining-room and by the ordinary, almost rural dress of the housemaid. The excellently drawn and engraved picture presents a wonderful domestic scene, a kind of genre picture. The picture has the subscription »Der Ritter Dom Quichotte denkt auf seinen Auszug« (»The knight Don Quixote thinks of his excursion«). The interpretation which the picture implies is that the knight, immersed in his book, is dreaming of leaving his bourgeois environment and entering a world of adventures. Chodowiecki’s knight is inside the domestic milieu and simultaneously outside. In its deviation from Cervantes the picture seems to tell or rather to hint at another story, a story of a man living in a constrained bourgeois world and desiring to escape into a world of freedom and adventure.



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V. Iconography of Don Quixote Reading: Examples from Nineteenth Century I will now turn to one the most important romantic representations of the reading Quixote, Adolph Schrödter’s oil painting Don Quijote in der Studierstube, exhibited in 1834 at Berlin. Basis of my comment is a lithograph of 1863, entitled Don Quijote liest den Amadis von Gallien (figure 4). More than in other illustrations of the reading Quixote, he is here immersed in the world of books,28 surrounded by books, his feet resting on books, his glance mesmerized, spellbound by what he reads, with the body looking a little distorted. The look of his face with deep-seated eyes possesses a sinister, almost diabolic quality. His posture – the cramped position on the chair, the hand covering or rather enclosing the left side of the head, the eyes fixed on the book, the legs supported on piles of books of different height – indicates how much he is lost in books. Titles of some of the books – Amadis von Gallien, El Caballero de la Cruz – can be recognized. A tournament scene is depicted in an open book in the foreground, and arms are all around. Most spectacular is a lance which rests on a book and – and passing further books on the table – stretches to the top of the picture all along the side of the knight. So the iconography of the picture iconizes the topos (topic) armis et litteris – on which Don Quixote discourses in one of his sane moments in the novel. There are also elements of the idyll in the picture, for instance the bottle on a shelf and the leaved twig coming in from the window. The picture of this odd character (German ›Sonderling‹) evinces a certain affinity with genre painting in the manner of Carl Spitzweg. These elements may contradict the Quixote theme or even seem to parody it, but there is no doubt of the deeply romantic character of the picture. Also we should not forget that the narrator of Cervantes’ novel takes an ironic attitude towards his protagonist. At this point it is necessary to refer to the ambivalent relation to Don Quixote in German Romanticism. In »Kritik und Deutsches Bücherwesen«, Ludwig Tieck wrote six years before the creation of Schrödter’s picture: »[…] die Hauptperson [Don Quijote] [muß man] eben so sehr verehren wie belachen […], so daß er in unserer Imagination, so sehr er auch Parodie ist, doch zum wirklichen Helden wird.«29 According to late romanticist aesthetics the essence of Don 28  There is an excellent description of the picture in Johannes Hartau, Don Quijote in der Kunst. Wandlungen einer Symbolfigur, Berlin 1987, 147–148. 29  Quoted from Hartau, Don Quijote, 155.

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Figure 4: Adolph Schrödter, Don Quijote liest den Amadis von Gallien, etching 1863 (after an oil painting, Berlin, 1860) – Anna Amalia Bibliothek Weimar



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Quixote is to be found in a combination of the ridiculous and the pathetic. In Schrödter’s picture slight elements of parody do not outweigh the subjectivity and intensity of the representation of a person immersed in reading. An illustration will now be discussed which visually represents the mental processes going on in Don Quixote while he is reading. Cervantes describes how Don Quixote comes to identify himself with the heroes of chivalric romances and how he decides to travel through Spain in imitation of their adventures, but the novelist does not really enter into the mind of his protagonist and refrains from representing the world of his imaginations. In so far the attempts of artists to visually render the inner processes, which occur in his protagonist during his reading phase, must be understood as a new departure in dealing with Don Quixote. The most famous example is, in this context, of course, Gustave Doré’s illustration of the reading Quixote of 1863, which bears the characteristic title Son imagination se remplit de tout ce qu’il avait lu. A detailed account of this picture would require a separate article.30 Doré shows Don Quixote reading in an arm-chair with a whirl of imaginary figures and images around him. The composition is bi-partite, consisting of a rather concrete depiction of the figure of Don Quixote and a rendition of the knight’s imagination. The chimeras and phantasms depicted in the illustration are not really reproductions of Quixote’s reading, but productions of his imagination. The innovative quality of Doré’s illustration is the result of his representing, in a picture, mental occurrences derived from Quixote’s imagination. Doré’s picture reveals a Copernican turn in the history of illustrations of Don Quixote. He founded a new iconographic tradition, which has antecedents, however, and is waiting for closer research. The example illustrating this new pictorial approach to the figure of Don Quixote chosen in this study is an engraving depicting the reading Quixote, made by Félix Bracquemond in 1860 (figure 5), which is based on a drawing by Francisco Goya of the second or third decade of the nineteenth century.31 It indubitably shows Goya’s hand. Yet when attributing it to Goya in our study, we are aware that the engraver was Bracquemond. Usually the drawer and engraver are different persons collaborating, but in this case the engraving was made decades after the drawing and the picture is mainly received in the form Bracquemond gave it. 30  See Gerhard R. Kaiser, »Industrialisierte (Desillusions-)Romantik: Gustave Dorés ›Don Quijote‹-Illustrationen«, in: Detmers, Müller (eds.), Don Quijotes intermediale Nachleben, 143–165. 31  Schmidt, Critical Images, 178.

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Figure 5: Etching by Félix Bracquemond, Don Quichotte, 1860 after Goya’s drawing La visión de Don Quijote (1810–20)



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The picture refers to the iconographic tradition in that it shows Quixote reading at a table and pointing with his finger at a place in the book, which recalls Vanderbank’s picture. Further stock elements are the pile of books, the dog, a sword etc. Yet the illustration stands in radical opposition to the iconographic tradition of visual Quixotes. First, the traditional mimetic-realistic representation is in various ways subverted, notably by the fact that the man’s arm is positioned, as if it rested on the arm-rest of the chair, but there is no arm-rest. This transition to the unreal is emphasized by the fact that the sword seems to be held by the non-existent arm-rest. A similar phenomenon is to be found in the man’s sitting posture. A careful analysis can show that the Quixote figure looks as if he sat on the chair, but in actual fact he can never sit that way. Another alienation of the representation is to be seen in his hair, which actually stands on its end, as if dry-blown by a hair-dryer, which is an iconic sign of inner visions tormenting him. Incidentally, such a hairstyle is not rare in Goya’s pictures. Second, there is a strange merger of masculine and feminine features, evidenced in hair style, blouse and frock and beard, which show a deconstruction of gender. Third, his face which looks at the observer forms the center of the illustration. The face, with its long-drawn lines and the slanted, shadowed eyes, appears as a visual equivalent of a deeply sad, distraught soul. Fourth, the deictic gesture, the finger pointing at the book, and the man simultaneously looking sadly at the observer, evokes the connection between reading and mental anguish. Fifth, there are the grotesque figures in the upper part of the illustration sitting on long stick, a correlative of the imaginative world evoked by reading. Such a two-part composition of realistic and imaginative elements of the picture’s structure is by no means unusual in Goya. The best-known example is Capricho 43 (The Sleep of Reason), which presents a man sleeping and the monsters produced by his dreams. In the Quixote picture a sexual dimension is opened, which is entirely absent from Cervantes’ novel and earlier visual representations of Don Quixote. An animal-like creature on the left sticks a gigantic penis towards Quixote’s head, while the dog seems to go for his genitals. The dog, albeit belonging to the stock elements of the tradition of the visual representations of the reading Quixote, here gains a new significance. In this sexual context the bare-bosomed woman in the right corner at the top is also noteworthy, and the crowned man who has a feminine aspect. To sum up, Goya’s work is an innovative illustration. It shows a very modern de-realization of the representation, an ambiguity of the categories of male and female, and for, the first time in literary and visual works in the tradition of Don Quixote, sexual nightmares besetting the protagonist.

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A word on the intermedial status of Goya’s picture is necessary. Is Goya’s picture really a Cervantes illustration or is it rather a reaction to the extant tradition of Quixote illustrations? If the latter were true, we would have to speak of interpictoriality.32 It is also possible that intermediality (of text and picture) and interpictoriality (of picture and earlier picture or a pictorial tradition) go together. Be that as it may, Goya takes up a tradition and subverts it radically. His illustration is more than parody and satire.33 It creates a new version of the reading Quixote, who is alienated from his masculinity, harassed by inner visions, which are also of a sexual nature, and directs a gesture with a strong appeal to the observer. With reference to this picture Linda Hutcheon’s formulation that an adaptation is not just »an acknowledged transposition of a recognizable other work«, but also a »creative and interpretative act of appropriation«,34 can be justifiably quoted although it refers only to literary adaptations. It is not possible to deal in this study with all the important pictures of the reading Quixote. For instance Honoré Daumier’s disillusioned representation of the hidalgo in his oil painting of 1865 / 67 must be passed over.35 It is interesting that this picture, which shows the man in a dark sombre room, a bony figure with long shadows under the eyes, which are fixed on a book from a long distance, hardly refers to the pictorial traditions of the motif. There is in Daumier’s painting, as in Goya’s illustration, nothing chivalric left. A contrast to the disillusioning representations of Don Quixote in the works by Goya and Daumier is formed by illustrations of a celebratory character, such as Arthur Boyd Houghton’s head engraving of an edition of 1893 (figure 6). Here we reproduce for once an illustration together with the text, since this a title engraving (headpiece). The picture is one of the numerous images of Alonso Quixano becoming the knight Don Quixote de la Mancha. The protagonist perceives his name written on a shining and sparkling book in what is a kind of domestic firework. The change to his new identity is represented as an epiphany, which must be appreciated as an innovative aspect in the iconography of Cervantes illustrations. However, 32  See Valeska von Rosen, »Interpikturalität«, in: Ulrich Pfisterer (ed.), Metzler Lexikon Kunstwissenschaften: Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart / Weimar 2004, 161–164. 33  See Schmidt, Critical Images, 180. 34  Linda Hutcheon, A Theory of Adaptation, New York 2006, 8. 35  See Franziska Hug, »Don Quijote im Werk Honoré Daumiers«, in: Detmers, Müller (eds.), Don Quijotes intermediale Nachleben, 167–189.



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Figure 6: Arthur Boyd Houghton, Head Vignette, London, 1866 – Anna Amalia Bibliothek Weimar

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the picture follows the traditional iconography of the nineteenth century in so far as it includes phantasmagoric figures of Quixote’s imaginary world. Around him there are small figures, some holding books about knights from the chivalric romances (Galaor, Palmerin), others are fastened on shafts. The picture does not do without humour. The grotesque figures subvert the central part – the epiphany – in the illustration. It is a wonderful opening of the novel, which in addition to the reading motif points at a central moment in the chapter, Don Quixote’s invention of his name as part of his self-constitution as a knight errant. In so far it has a rudimentary narrative quality. VI. Iconography of Don Quixote Reading: Examples from the Early Twentieth Century The next illustration, the cover picture of an edition of Cervantes’ novel, designed by Manuel Ángel Álvarez (1901), contains another epiphany, but, created at the beginning of the twentieth century, it is affected by a new step in the general development of art (figure 7). This illustration, a chromolithography, represents a more explicit epiphany than Houghton’s title vignette. Don Quixote is in his library reading a chivalric book, while the allegory of fame, a winged female figure, soars down to him on a white cloud, dressed in white and with streaming blonde hair. She puts one arm round his neck, while she holds up a laurel wreath with the other arm. As other traditional elements like the book-shelf and the rapier, the obligatory greyhound does not miss, but it is much bigger than elsewhere and integrated into the structural design of the picture. He seems to look at the book his master is reading. This recalls the composition of the first illustration we discussed, in which the dog as the knight’s companion is affected by his master’s inspiration. The gorgeously coloured illustration with the preciously ornamented letters of the book’s title is designed in the Nouveau Art Style (Jugendstil) of the turn of the century. This illustration is an excellent example of the visual representations of Don Quixote concurring with the respective contemporary development of art. A further step in the development of art, as seen in pictures of Don Quixote, is Thomas Derrick’s frontispiece of 1912 (figure 8). Derrick was a book illustrator and cartoonist. This is a close-up, with the focus entirely on the reader sitting in a cramped position on a chair. It represents the figure without any surrounding space. The man leans over a small table with an elbow on a book and the hand holding his face which is glued to the page, almost



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Figure 7: Manuel Ángel Álvarez, cover illustration, Spanish Edition of 1901, Madrid

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Figure 8: Thomas Derrick, Don Quichotte, Offset, Boston, 1921 (first published, New York, 1912)



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devouring it with his eyes. The high forehead of early representations of the figure is here replaced by extreme baldness. One leg is twisted in an unnatural way round a leg of the table. Of the other only the foot is seen peeping from under a book. The picture dispenses with the ornamental elements of the iconographic tradition (arms, bookshelf, greyhound etc.), concentrating entirely on the reader. It iconizes total dedication. One could almost speak of the stare of a fanatic. The books lie around in disorder, all open, which is a sign of recent reading. The picture is obviously modern, decidedly different from nineteenthcentury representations of the figure, but it is difficult to associate it with a definite movement of art. One could see a vague influence of expressionism in the contortions of the body and the obsession expressively reflected in the face. But the structural elements of the picture – the figure of the man with the forced position of head, arms and legs and the parallel of the legs of the table and the chair and the disorder of the open books lying around – may suggest the influence of early cubism. There may be an affinity with pictures of Picasso’s first phase. But it may be more plausible to attribute the character of the picture to Derrick’s character as a cartoonist. The twentieth century produced an enormous variety of Don Quixote illustrations, which attest that Cervantes’ hero still had and has a powerful grip on the imagination of artists. One tendency of the illustrations is to treat the knight of the mournful countenance in a comic, satiric and alienating way. Thus Thomas Derrick’s frontispiece, the picture previously discussed, has a pronounced parodistic quality. There is also an increasing number of illustrated editions adapted for children, and also of cartoons, particularly in Spain. Don Quixote as a Spanish identity figure is an obligatory part of school education.36 We can here only choose one more picture of the reading Quixote from the first half of the twentieth century, which on account of its originality is by no means prototypical, but can serve as an example for the entirely new approaches to the figure which were made. The illustration chosen (figure 9) – whose title is »Il pensait au valeureux Amadis« – was created by the French experimental artist, cartoonist and illustrator Albert Dubout who produced a magnificent French edition of Don Quichotte (coloured by Maurice Beafume, Jon and Raynal) in 1937 / 1938.37 36  See María Isabel Vila Cabanes, »Don Quixote in the Classroom: Adaptations, Illustrations, Comics, Computer Games«, in: Detmers, Müller (eds.), Don Quijotes intermediale Nachleben, 275–288. 37  See Ina Schabert, »Lese-Logos«, in: Detmers, Müller (eds.), Don Quijotes intermediale Nachleben, 259–274.

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Figure 9: Albert Dubout, Il pensait au valeureux Amadis, Paris 1938



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This illustration is distinguished by a delightful comical style, but in its subversive treatment of its subject it transcends mere comicality. Elements of the iconographic tradition are retained, but deprived of meaning. There are the obligatory books, but they are in a tattered state, eaten away by mice, and the pages of the opened volume at which Don Quixote’s looks are blank. The objects in the background – coffers, weapons, armour and further books – form a jumble. They lack colour in a picture which is otherwise richly coloured. And, what is most significant, they are behind a spider’s net, a net which also intersects the figure of the knight, who is represented as an extremely old, thoughtful person with an elongated face, which under a bespectacled bald head has a long nose and a weak, white beard and protruding ears. Don Quixote’s notoriously mournful countenance appears in an entirely new way in this picture. It seems impossible for such a person to travel in search of adventures. A funny and equally subversive effect is caused by the mice (a comic replacement of the traditional dog), which seem to be everywhere, one of them even peeping out of a book (a nice contrast to the green bookmark looking out of another book), a symbol of lack of order and of decay. The most conspicuous feature of the picture is, of course, the ironic contrast between the old age of the knight and his deep interest in chivalry. It is simply not imaginable for such a man to travel in search of adventures. A paradox is constituted by this comically subversive illustration as part of a text which is certainly presented in a way faithful to the original. There is a contrast between the free creative design of the illustrations in such editions and the faithfulness in the rendering of the text. Comic illustrations of Cervantes’ novel abound in modern editions and visual art. The equipment of the novel with such illustrations is to be understood as a stimulus to make the book attractive to a modern readership. They point the way to the appearance of Don Quixote in cartoons, comics, and graphic novels. It is doubtful whether Dubout’s image of the reading Quixote is really meant to debunk the hero. It is rather to be seen within the tradition of illustrations of the knight of the mournful countenance. Dubout responds to the tradition of Quixote pictures rather than giving a new interpretation of the text. There is intermediality to be noted in the description of the knight side by side in the text and the illustration, but the illustration is also and, perhaps, chiefly to be seen as an innovation within in the pictorial tradition, which gains its own life. This is once again an instance of interpictoriality. Last but not least, the observer of such pictures must be aware of the fact that Cervantes himself takes an ironic view on his hero, who as a rather old man decides to ride out as an knight to right the wrongs of the world in a non-chivalric age.

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VII. Iconography of Don Quixote Reading: Surrealism – Two examples At the end of this study attention will be drawn to the innovative surrealist representations of Quixote reading in the Series Don Quichotte (1979) of the Catalan painter Joan Ponç (1927–1984), to be found in the catalogue of an exhibition edited in 2005, Visiones del Quijote.38 The reproductions printed here are the result of a creative imagination which transcends reality and objectivity and produces new images and connections. Two of these highly original coloured etchings will be commented. Visiones, No 80 (figure 10) presents a big-sized open book, which looks a little like a double bed. On the right-hand page of the book there stands a chair, on which a now much minimized Quixote sits like a skeleton. The left arm is raised, the hand covering a hollow face with a cavernous eye. The mournfulness of the countenance ascribed to »El Caballero de la Triste Figura« is intensified in an unheard way. The traditional constellation of Don Quixote sitting on a chair is retained, but the knight does not read in a book. The chair rests on a strongly oversized book. The book thus gains an enormous importance. A fluorescent effect is produced by a lurid yellow band behind the book, which, together with the colours of the striped planet, stands out against the brown background. As emaciated as the Quixote may look, the intense colour effects have a transfiguring effect. A dynamic quality derives from the bristles on the book and the lines of force, which run through the whole picture. This is the saddest Quixotic there ever was and the book is given greater presence than ever before. The picture radiates a mysterious power. The only elements of the picture suggesting a chivalric context are the swords or turrets on the top of the chair-back. The last example to be referred to is the illustration Visiones, No. 81 (figure 11), which shows Quixote reading, while he is riding on Rocinante sitting backwards with the book high in his hand and the sword pointing upwards to the sky. This composition is an iconic equivalent of the armis et litteris (arms and words) topos. The figure of Quixote and his horse seems to be part of a geometrical pattern of straight lines, like a puppet on a string. A striking contrast is formed by the horse trotting energeti38  José Luis Giménez Frontín, Ramón Andrés, Rosa Rius (eds.), Visiones del Quijote: Hogarth, Doré, Daumier, Picasso, Dalí, Ponç, Matta, Saura, Barcelona 2005. The reproductions printed here were sent from the Musée d’Art Moderne, Paris. Permission to reproduce the images was granted. I have to thank the staff of the museum for kindness and competence.



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Figure 10: Joan Ponç, Series Don Quichotte, 1979

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Figure 11: Joan Ponç, Series Don Quichotte, 1979



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cally in the right direction, while the rider’s eye is fixed on a book in the opposite direction with the line of vision marked by an arrow. The artist thus opposes the iconographic tradition, by showing the knight reading during his excursion, even though the reading phase is finished in Cervantes’ novel after the first two pages. With the paradoxical motion structure of his picture Ponç iconises the fact that Quixote, while riding out for adventures looks backwards into the world of his books. As distinct from the previous illustration this picture with its pseudo-scientific superimposition of a geometrical pattern of lines and arrows on the knight and the horse and with the animal’s looking like a plastic horse has a parodistic character. Conclusion The conversion of the literary figure of Don Quixote into pictorial images is a never-ending process, which started before the end of the seventeenth century and has continued up to our time and will continue as long as Western, and not only Western, civilization will exist. I have looked at the representation of the knight of the woeful countenance referring to a scene in the text before he sets out to travel together with his squire Sancho Panza in search of adventures. Even limiting my material to this one scene, Don Quixote reading in his study, I could only give glimpses of the manifold visual representations that have been produced. It could be observed that the illustrations undergo significant changes in their respective cultural milieus and in the context of the history of art. It is correct to say that every new pictorial image of Don Quixote represents a new view of and a new evaluation and interpretation of the character. It can also be observed that the illustrations can in their historical chronology also be related to periods in the development of art. At times the pictures seem to suggest a new story. To be precise, in such cases the illustration does not really acquire a narrative character, but it stimulates the observer to create a narrative in his or her mind. Narrativity is here realized as a cognitive phenomenon. It has also been shown that new images of the knight of the woeful countenance are not always the mere result of a new look at Cervantes’ figure, but also a reaction to a tradition of earlier visual representations of Don Quixote. It is possible that a visual image of Don Quixote may be derived not at all from Cervantes’ figure, but be a reaction to earlier pictorial representations. But even in such cases we always see the shadow of Cervantes’ figure looming.

KLEINE BEITRÄGE

»Wir fahren in die Hölle mit Pauken und Trompeten« Die Jenseitsreise in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz Von Gertrud Maria Rösch I. Das neunte und letzte Buch von Berlin Alexanderplatz (1929) führt den Fall des Protagonisten Franz Biberkopf bis zu einem Punkt, an dem es immanent keine Lösung gibt. Am Ende einer ansteigenden Folge von Schlägen (der Betrug durch Lüders, der Verlust des Armes, der Tod seiner Freundin Mieze) findet er sich in einer auswegslosen Konstellation, die aus medizinischer Sicht als fortgeschrittene Phase eines Wahns, als apophänes Szenario, plausibel beschrieben werden kann. Zugleich spiegelt Biberkopfs Lage die biblische Situation des Dulders Hiob, der durch einen Dialog (im vierten Buch) schon eingeführt ist. Die Lösung vollzieht sich daher in einer Verzahnung von realer und transzendenter Handlung, d. h. in einer Jenseitsreise, deren Elemente, Struktur und Funktion auf das satirisch pointierte Gespräch unter den behandelnden Ärzten bezogen sind. Die Herausarbeitung dieser Bezüge kann Licht auf Döblins Verhältnis zur Psychiatrie und Psychoanalyse werfen sowie die Gesamtanlage des Buches in den Blick nehmen. Kurz seien der Handlungszusammenhang und die Figuren in Erinnerung gerufen: Reinhold hat Biberkopfs Freundin Mieze in Freienwalde erschlagen und verscharrt und wird nun von Franz und seinem Kumpan Herbert gesucht, zunächst erfolglos, weil Reinhold sich unter falschem Namen inhaftieren ließ, um vor seinen Kumpanen sicher zu sein. Franz Biberkopf feuert bei einer Razzia einige Schüsse ab, wird festgenommen und verdächtigt, Mieze umgebracht zu haben, weil er ihr Photo bei sich trägt. Weil er weder spricht noch isst, wurde Biberkopf vom Gefängnis Moabit in die Irrenanstalt Buch zur Beobachtung überwiesen. Er verweigert Gespräch und Kontakt und wird zwangsernährt.

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Das Gespräch der Klinikärzte hat ein komisches Vorspiel schon vor der Schießerei, als die fürsorgliche Eva Franz zwingt, unter falschem Namen einen Arzt aufzusuchen. Dessen Diagnose lautet: »Nicht den Kopf sinken lassen, immer regelmäßig einnehmen und das Schlafmittel und die Massage.« (396)1 Die so gedoppelte Szene nimmt Inhalt und Ausgang, die ironische Absage an die Schulmedizin, schon vorweg. Franz taucht stattdessen unter; das folgende Kapitel bereitet die Lösung auf der metaphysischen Ebene vor. Die martialische Ankündigung »Wir fahren in die Hölle mit Pauken und Trompeten« (396 f.) rekurriert auf eine Redensart, deren Sinn im Grimmschen Wörterbuch als »mit großem getöse, prahlerisch, marktschreierisch« angegeben wird.2 Sie verweist damit auf die Hybris und Selbstüberschätzung, in der Biberkopf in dieser Phase immer noch befangen ist. Sie passt zugleich zu den Liedern und fetzenhaften Kampfszenen, die im Roman den Krieg und speziell den Ersten Weltkrieg immer präsent halten.3 Von der fokalisierten Erzählerrede gleitet der Text, der von dieser Zeile interpunktiert wird, zum inneren Monolog: »Wenn ich den Reinhold könnte fassen,« – so beginnt er, und endet mit einer Umkehrung des Anfangs: »Aber was zuviel ist, ist zuviel. Weil ich aber Reinhold nicht kann töten, bring ich mich selber um. Ich fahr in die Hölle mit Pauken und Trompeten.« (397). Weil seine Aggression ins Leere läuft, wendet er sie gegen sich: »bring ich mich selber um.« (397) lautet der proleptische Todeswunsch Biberkopfs. II. Das satirische Gespräch muss rasch ausgebreitet werden, weil es die Motivation und die Struktur für die nachfolgende Seelenreise in die Unterwelt bietet. Sehr zu Recht spricht Brigit Hoock von »den naturwissenschaftlich-rationalistischen, ohne Erklärungswert und Wirkung bleibenden Vorgehensweisen der ärztlichen Diagnose«, die der »existenzerhellenden 1  Zitiert wird, wenn nicht anders angegeben, aus folgender Ausgabe: Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, hg. Werner Stauffacher (Ausgewählte Werke in Einzelbänden), Zürich / Düsseldorf 1996. Die Seitenangaben stehen jeweils im fortlaufenden Text. 2  Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 22, Sp. 832. 3  Die zahlreichen Wiederholungen, die eine Grundstruktur des Romans bilden, holen den verdrängten Krieg in die Gegenwart zurück und machen zugleich die Stadt zu einem Ort des Kampfes, in der die nicht gelösten Konflikte ausgetragen werden (dazu Alexander Honold, »Der Krieg und die Großstadt. ›Berlin Alexanderplatz‹ und ein Trauma der Moderne«, Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Berlin [2001], 191–211).



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Erklärung der überrealen Sphäre« bedarf.4 Allerdings ist das Gespräch keineswegs »eine gewisse Kollegenschelte«5 oder nur struktureller Auslöser. Blickt man auf den editorischen Befund, so war dem Autor dieser teilweise sehr witzige Dialog bedeutsam, denn er fällt im endgültigen Romantext länger als in den vorliegenden Entwürfen aus.6 Seine Bedeutung liegt in den Stichworten des zeitgenössischen medizinischen Disziplinenstreits, die filigran mit den Elementen der Seelenreise in die Unterwelt verklammert werden. Diese Verzahnung von medizinischen und metaphysischen Vorstellungen beginnt mit der Diagnose: »Also was soll man tun in diesem Fall Biberkopf, was meinen Herr Oberarzt?« »Die richtige Diagnose stellen. Die heißt hier, nach meiner freilich längst überlebten Diagnostik, katatoner Stupor. […]« (427). Katatonie, also Schizophrenie mit Krampfzuständen und Wahnvorstellungen, lautet die Erklärung der älteren Generation, im Roman apostrophiert als »frische Leute, weltkundig, die sich gerne die Beine vertreten, um nach dem festen Haus zu spazieren, sie lassen alles zu.« (426). Döblin verarbeitet hier eigene Erfahrung und medizinische Praxis, jedoch in ironischer Brechung. Die Krankengeschichten aus seiner Tätigkeit in der Kreisirrenanstalt Karthaus-Prüll in Regensburg7 (zwischen November 1905 und September 1906) enthalten Beobachtungen über rund 90 Patienten. Darunter findet sich eine 31jährige Dienstbotin, über die er festhält, sie liege in einem andauernden Zustand von »Regungslosigkeit […], allgem. Steifigkeit, […] Nahrungsverweigerung, kurzen Zornerregungen mit Angriffen« und halte ihre »Beine krampfhaft an den Leib gezogen, Arme fest an die Brust gelegt«.8 Bei einer 60jährigen Gärtnerin notiert er am 23. Mai 1906 ihr »tagelanges stummes Dasitzen«.9 Die stark erzählend angelegten Krankenberichte geben keinen Aufschluss über die eingeschlagenen Therapiewege. 4  Birgit Hoock, Modernität als Paradox. Der Begriff der ›Moderne‹ und seine Anwendung auf das Werk Alfred Döblins (bis 1933) (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 93), Tübingen 1997, hier 278. 5  Thomas Isermann, Der Text und das Unsagbare. Studien zu Religionssuche und Werkpoetik bei Alfred Döblin, Idstein 1989, hier 173. 6  Es handelt sich um die Passage 425–428 [»Die Herren Ärzte … wieviel Uhr ist es eigentlich.)«], die in der Haupthandschrift kürzer ist, vgl. Abdruck T 23 in: Döblin, Berlin Alexanderplatz, hier 808 f. 7  Wolfgang Schäffner, Die Ordnung des Wahns. Zur Poetologie psychiatrischen Wissens bei Alfred Döblin, München 1995, 276–290. 8  Ibid., 280. 9  Ibid., 289.

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Im Roman ist dank der Prolepse – »bring ich mich selber um« – der Stupor als Biberkopfs Todeswunsch erklärbar, aber damit noch nicht auf der realen Ebene gelöst. Innerhalb der medizinischen Handlungskonstellation diskutieren die Therapieversuche den Stand des psychiatrischen Wissens und erklären den Zustand als »psychogen« verursacht, als einen »Zustand von Hemmung und Gebundenheit, den eine Analyse schon klären würde, vielleicht ein Rückgang auf älteste Seelenstufen« (425); ihre Therapie besteht in der »talking cure«, die aber der bewegungslose Patient verweigert. In die ironisch überzeichnete Figurenrede sind die Reizwörter eingeschleust, die den aktuellen psychiatrischen Wissensstand aufrufen: »Er ist ja gehemmt, […] durch seelische Momente bedingt, – Verlust des Kontaktes mit der Realität, nach Enttäuschungen, Versagungen, dann kindliche Triebansprüche an die Realität, fruchtlose Versuche den Kontakt wiederherzustellen.« (426). Diese Diagnose fällt weitgehend in eins mit der Hemmung, die Freud in seiner Abhandlung Hemmung, Symptom und Angst im Jahr 1926 und damit wenig früher beschrieben hatte. An ihrem Ursprung stehe eine psychische Überforderung durch Konflikte, Angst oder ein Trauma, die zunächst verdrängt würden und sich später als pathologische Konflikte erneut zeigten.10 Im gehemmten Verhalten, zu dessen Symptomen auch Lähmung gehöre, liege dann der Versuch, diese Konflikte weiterhin zu verdrängen. Auf die so formulierte Diagnose antwortet der Vorgesetzte lakonisch: »Quatsch, seelische Momente.« (428) Diesem Gespräch ist unbestreitbar eine große Skepsis gegenüber der Psychoanalyse eingeschrieben, die aber zugleich in ihrer schulgerechten Beschreibung Empathie mit dem sozialen Außenseiter Franz Biberkopf durchscheinen lässt. Eine derartige Sympathie für seine Patienten beanspruchte Döblin auch in seiner autobiographischen Skizze Arzt und Dichter (entstanden 1927). In diesem Ärztegespräch mischen und verwirren sich die Erzählstimmen, die einerseits selbstbewusst für die Psychoanalyse plädieren und dem unterschreibenden und rauchenden Oberarzt Paroli bieten. Ihr Vorgesetzter bringt sie zum Schweigen und wird damit zumindest vordergründig zu einem Sprachrohr des Autors. Schon 1913 hatte Döblin, freilich stark überspitzt aus der Position des klinisch geschulten Beobachters, seine Einwände gegen die Psychoanalyse formuliert. Im Berliner Programm beharrt er auf der Beobachtung der Dinge, auf ihrer Immanenz, die nicht durch Begriffe verstellt bzw. sistiert werden dürfe. 10  Sigmund Freud, Hysterie und Angst, hg. Alexander Mitscherlich (Studienausgabe Bd. 6), Frankfurt a. M. 1971, bes. 233–236.



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Man lerne von der Psychiatrie, der einzigen Wissenschaft, die sich mit dem seelischen ganzen Menschen befasst: sie hat das Naive der Psychologie längst erkannt, beschränkt sich auf die Notierung der Abläufe, Bewegungen, [zu denken ist hier an die Patientenbeobachtungen aus Regensburg] – mit einem Kopfschütteln, Achselzucken für das Weitere und das ›Warum‹ und ›Wie‹.11

Eine »psychiatrisch wie lebensphilosophisch fundierte Ästhetik« nennt Reuchlin diese Maxime, in der die wissenschaftlich-klinische Beobachtung und die erkenntnistheoretische Skepsis zusammenfließen.12 Diese klare Grenzziehung wird jedoch im Roman verwischt, denn in der Romanszene spricht ein stummer Zeuge mit: »die Herren sind unter sich, sie blättern im Protokoll vom letzten Kongress in Baden-Baden« (426). Dieser Band bezieht sich, so der Kommentar von Werner Stauffacher, auf den »III. Allgemeinen Ärztlichen Kongress für Psychotherapie«, der vom 20. bis 22. April 1928 stattfand. Der Arzt Alfred Döblin, Adresse Frankfurter Allee 340, Berlin O 34, war Mitglied des preußischen Teils der Gesellschaft, nahm aber am Kongress selbst nicht teil. Seine Protokolle lohnen allerdings einen zweiten Blick, denn einer der Vortragsblöcke beschäftigt sich mit dem Verhältnis der Psychotherapie zur Praxis der Individualpsychologie und der Medizin, insbesondere der Inneren Medizin.13 Der Streit der Richtungen und Fakultäten, wie er in fiktiv-komischer Zuspitzung im Ordinationszimmer abläuft, hat seine Wurzeln in der damaligen Geschichte der Disziplin, die nach den Beiträgen der Kongresse der Jahre 1926 bis 1928 zu urteilen, auf Integration und Vermittlung zwischen den einzelnen Richtungen bedacht war. Damit erscheint auch die Ärztesatire in einem etwas anderen Licht, erklärt sie doch kaum Döblins Stand in der medizinischen Zunft. Vielmehr dient sie als Katalysator der Heilung, die dabei nicht allein die Wiederherstellung Biberkopfs meint, sondern auch dessen Neugeburt, wie sie sich nur vor dem metaphysischen Horizont der Handlung vollziehen kann.

11  »An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm [1913]«, in: Döblin, Berlin Alexanderplatz, 15–19, hier 16. 12  Georg Reuchlin, »›Man lerne von der Psychiatrie.‹ Literatur, Psychologie und Psychopathologie in Alfred Döblins ›Berliner Programm‹ und ›Die Ermordung einer Butterblume‹. Für Klaus Kanzog«, Jahrbuch für Internationale Germanistik 23 (1991), 10–68, hier 37. 13  Wladimir Eliasberg (Hg.), Bericht über den III. Allgemeinen Ärztlichen Kongress für Psychotherapie in Baden-Baden 20.–22. April 1928, Leipzig 1929.

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III. Wenn der Oberarzt Biberkopf »seelische Momente« abstreitet, so holt sie der unmittelbar anschließende Text umso nachdrücklicher ein. Zwischen dem satirischen Gespräch und der Jenseitsreise wirkt die Passage über die Feldmäuse seltsam isoliert: Eine tiefe Stufe hat schon Franzens Seele erreicht, sein Bewusstsein ist nur manchmal da, da verstehen ihn die grauen Mäuse, […] Da schwirrt von Franzens Seele etwas an und irrt und sucht und zischelt und fragt und ist blind und kehrt zurück in das Gehäuse, das noch hinter der Mauer liegt und atmet.   Die Mäuse laden Franz ein, mit ihnen zu essen und nicht traurig zu sein. Was ihn betrübt mache. Da stellt sich heraus, dass es für ihn nicht leicht ist, zu sprechen. Sie drängen ihn, er möchte doch ein ganzes Ende machen. […] (428) […] Die Mäuse laufen, Franz ist eine Feldmaus und gräbt mit.   Im festen Haus liegt er im Bett, die Ärzte kommen und halten seinen Leib bei Kraft, inzwischen er immer tiefer verblasst. Sie sagen selbst, er ist nicht mehr zu halten. Was in ihm Tier war, läuft auf dem Felde. (429)

Dergestalt inszeniert der Text eine Reise in eine Unterwelt, an deren Beginn die Maus – das Symbol der Seele – den Körper verlässt.14 Werner Stauffacher sieht darin einen »direkten Dialog mit dem gesamten Universum«, eine »neue Wahrnehmung der ›anima mundi‹«.15 Allerdings lässt sich diese Passage noch zuspitzen, wenn man auf die symbolischen Konnotationen der Maus blickt. In der christlichen Tradition verkörpert sie die Seele eines Verstorbenen; zugleich ist sie durch ihre Lebensweise mit dem Dunkel bzw. mit dem Verborgenen verbunden und kann zum Symbol des Teufels werden.16 Blickt man auf die symbolische Tradition dieses Tieres, verliert sich seine Harmlosigkeit sehr schnell. In der Szene »Walpurgisnacht« (Faust I) springt aus dem Mund von Lilith ein »rotes Mäuschen« als Symbol der Erotik; ihr ambivalenter, oft sexueller Charakter wird besonders in Hoffmanns Nussknacker und Mäusekönig ausgeschöpft, indem 14  Auch dazu gibt es einen proleptischen Verweis, als Franz auf dem Friedhof das Grab der erschlagenen Mieze sucht: »Dann liegt Franz am Weg neben einem leeren Grab, er kann nicht brüllen, er beißt in die Erde […]. Was kann ich machen, warum schmeißt man mich nicht auch in son Grab, wie lang geht das noch mit mir?« (390). 15  Werner Stauffacher, »Die Ärzte und der Tod. Rationalitätskritische Reflexe in ›Berlin Alexanderplatz‹«, Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Berlin 2001, 157–167, hier 178. 16  Zusammenfassend dazu Laura Neagu, Artikel »Maus«, in: Günter Butzer, Joachim Jacob (Hgg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart 2008, 226 f.



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ein siebenköpfiger Mausekönig die Verbindung Maries mit dem verwunschenen Nussknacker (und damit die sexuelle Initiation) zunächst verhindern will. Prägend für die Symbolik ist auch ihr Leben im Erdinneren, von dem schon Horaz spricht: parturient montes, nascetur ridiculus mus (Poetik, V,139). Mit dieser Flucht der Seele aus dem leblosen Körper gelangt die Kette der symbolischen Bedeutungen und Assoziationen genau an den Punkt, wo der Oberarzt seine Zunft nicht sehen will: zur Psychoanalyse. Der analytische Prozess ist ein Abstieg in die Unterwelt.17 Schon im Motto der Traumdeutung (1900) wird dieser Weg vorgezeichnet: Flectere si nequeo superbos, Acheronta movebo – es ist in Vergils Aeneis die Kampfansage Junos, die Unterwelt aufzurühren, wenn sie schon den Himmel nicht bewegen könne. Dieses Freudsche Modell wird in eine narrative Struktur überführt, die sich aus dem Text herauskristallisieren lässt, durchaus ironisch an die Spitzen im Ärztedialog anknüpfend, denn dort hatte es geheißen, die Analyse solle »auf älteste Seelenstufen« zurückgehen, um den Grund der Hemmung zu erkennen. Die Unterwelt, in die Franz Biberkopf in einem wahnhaften Schub der Katatonie eintritt (so könnte man diesen Übergang erklären, wenn er denn plausibel in das Geschehen eingebunden sein muss), ist als Raum mit heidnisch-christlicher Symbolik geradezu überladen. In ihr begegnet er zunächst dem Tod und spricht mit ihm, während er die »talking cure« mit den Ärzten gerade verweigert hatte. Allen voran erscheint die Allegorie des Todes, nicht als Sensenmann (»Ich bin kein bloßer Mähmann, ich bin kein bloßer Sämann«, 430), sondern als Henker mit dem Beil. Onomatopoetische Fügungen rhythmisieren und strukturieren den Auftritt des Todes, dessen religiöse Würde sprachlich dekonstruiert wird: »Nischt sag ich dir, quatsch mir nicht an« (434). Durch Brot (436, 439) und Wein (436, 441) wird die Szene verbunden mit dem christlichen Wunder der Wandlung und der Communio und ist zugleich eine Totenbegegnung, als deren Vorbild der Abstieg des Odysseus in das Schattenreich dient. Ihm erscheinen zuerst Teiresias, dann Achilles und Agamemnon und zuletzt seine eigene Mutter. Nicht-Gewusstes kommt dabei zur Sprache, so über den gewaltsamen Tod des Agamemnon. Die Mutter klagt dem verloren geglaubten Sohn ihren Tod, und zuletzt weissagt ihm Teiresias das eigene Lebensende. Im Roman tritt an die Stelle des Totenreichs eine wahnhafte Szenerie, in der Lebende – Lüders als »ein ärmlicher Kerl« (437) und der teuflische Reinhold (438) – und Tote – die beiden erschlagenen Freundin17  Dieser Zusammenhang wird ausführlich dargelegt von Isabel Platthaus, Höllenfahrten. Die epische katábasis und die Unterwelten der Moderne, München 2004, bes. 67–73.

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nen Ida und Marie, von Biberkopf Mieze genannt – erscheinen, die alle Anteil an Biberkopfs Vergangenheit haben. Zu den unterschiedlichen Funktionen der Szene gehört die antike Totenbegegnung, deren Gewinn – für Odysseus – in Wissen besteht. Wissen als Selbstsaufklärung ist ein wichtiger Ertrag des Romans, der mit dem Satz schließt: »Wir wissen, was wir wissen, wir habens teuer bezahlen müssen.« (454). Aber diese psychoanalytische Selbsterforschung ist der Handlung nur intertextuell und ironisch eingeschrieben; zur Therapie kommt es gar nicht, weil Biberkopf sich gerade nicht mit den Ärzten »am Versammlungstisch niederlassen« will, »um gemeinsam mit ihnen den Konflikt zu liquidieren« (425). So bedarf es einer anderen Lösung, die von den Frauenfiguren als Retterinnen ausgeht. Innerhalb der typologischen und figurativen Erzählweise des Romans ist Mieze sowohl auf Maria als Heilsbringerin bezogen wie, in ihrer Rolle als Sünderin und unschuldiges Opfer, auch auf die Büßerin Maria Magdalena.18 Nach der Totenbegegnung mit ihr murmelt der katatonisch gelähmte Biberkopf: »Sie soll wiederkommen. Der Wärter versteht nur ›wieder‹ und giesst ihm noch Wein in seinen offenen, trockenen Mund« (441). So kommt es – in der Verzahnung von realer und metaphysischer Handlung – zur Communio zwischen Franz und Mieze, zur Versöhnung und damit zur Erlösung und Wiedererstehung des gelähmten Biberkopf.19 Die Szene gipfelt in der kathartischen Abfuhr der Erinnerungen bis hin zur Selbstaufgabe: »Was Franz hat, wirft sich hin. Er hält nichts zurück.« (441) In einem aus realistisch-therapeutischen und religiösen Elementen evozierten und »äußerst schmerzhaften kathartischen Wahnerleben«20 löst sich die anfangs als ausweglos konfigurierte Situation der Hauptfigur. Zugleich hält diese Lösung eine überindividuelle Einsicht bereit, welche Zumutungen die »Pathologien der Moderne« für den Einzelnen bedeuten,21 und gibt dem Leser Zugang zu den »kollektiven Erfahrungen« der Epoche.22

18  Zu diesen typologischen Bezügen der Frauen, die in ihren Namen deutlich nachvollziehbar sind, vgl. Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im 20. Jahrhundert, München 2004, bes. 346 f. 19  Isermann, Der Text und das Unsagbare, bes. 178 f. legt die religiösen Anspielungen dieser Szene sehr ausführlich dar und weist Elemente aus drei Weltreligionen nach, so etwa die Reinkarnation als eine Übernahme aus dem Buddhismus, die ­›Taufe‹ auf den Namen Franz Karl als Rekurs auf die jüdische Bar-Mizwa und die Eucharistie als Element des Christentums. 20  Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, hier 343. 21  Ibid., 341. 22  Ibid., 331.



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IV. Allerdings endet die Szene nicht mit einem derart emphatischen Plädoyer, sondern wird erzählerisch in eine schwebende Auflösung zurückgeführt. Die bereits stark in Zweifel gezogene Wissenschaft kommt zu Wort, wenn auch die Diagnose am Ende nichts erklärt und eher einer Kapitulation gleicht: »Schließlich ist der ganze Diagnosenstreit schnurz, simuliert hat der Kerl bestimmt nicht, er hat einen Klaps gehabt, der nicht von schlechten Eltern war, und das ist die Hauptsache.« (445). Die transzendente Sinnebene kann den Roman nicht ganz umschließen, sondern wird sofort wieder diskursiv eingefriedet durch die medizinische Handlung, die aber ihrerseits keine Lösung bieten konnte. Ralf Grüttemeier hält fest, dass gerade das ironische bzw. schwebende Verhältnis von realitätsimmanentem und transzendentem Diskurs für die religiösen Bezüge in Döblins Roman charakteristisch sei. Bestimmte Schreibweisen bzw. Stilmittel wie »Metapher, Vorausdeutung, strukturelle Interferenz, assoziative Verknüpfung und Ironie« seien die narrativen Wege dazu.23 Es geht also nicht um eine Entscheidung für die eine oder die andere Dimension, sondern um deren »hybrides« Verhältnis, durch welches weder der transzendente noch der immanente Sinn sich als dominierend durchsetzen können.

23  Ralf Grüttemeier, »Von der dreimal heiligen Sachlichkeit. Religiöses bei Alfred Döblin«, Neophilologus 77 (1993), 285–296, hier 290.

Gesang als Revolte Laudatio auf den Schriftsteller Herbert Meier* Von Beatrice von Matt Wir wissen es: Die Schweiz braucht die kritischen Stimmen ihrer Schriftsteller. Nicht weniger dringend aber braucht sie deren poetische Stimmen. Für Herbert Meier nun unterscheiden sich diese Stimmen, die kritischen und die poetischen, in keiner Weise fundamental. Für ihn ist Poesie Revolte. Sie schafft nämlich »neue menschliche Verhältnisse«. So ist Punkt eins seines berühmten Manifests von 1968 zu verstehen. Es ist unter dem Titel Der Mensch steht weder rechts noch links – er geht in die Literaturgeschichte eingegangen. Jeder trage das eigene Gesicht und nicht eine »ideologisch eingefärbte Maske«. Herbert Meier plädiert für eine radikale schöpferische Subjektivität. Diese Subjektivität ist offen und gesprächsbereit. Sie geht der Subjektivität des Nächsten nicht aus dem Weg und lässt sie gelten. Das ist Nachfolge einer alten Lehre, die da lautet: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Auf diese Weise, legt der Autor nahe, werde die überkommene Ordnung der Positionen und Autoritäten gestürzt. Er selber stürzt sie mit seiner poetischen Arbeit und dies seit sechzig Jahren. Diese Arbeit ist also ein kritischer Akt, ein Akt der Revolte. Ob dabei nun Gedichte entstehen, ein Oratorium, eine Erzählung, ein Roman oder ein Theaterstück. Vor ein paar Jahren verbrachte ich einige Wochen in einem Dorf an der Südküste von Kreta. Im Hafen lag ein Schiff. An der Mole lehnte eine Tafel. Darauf wurden Fahrten nach der kleinen Insel Gawdos angepriesen. Gawdos: der Name berührte mich wie ein Zauberwort. Er weckte ein Erlebnis wieder auf. Als Gymnasiastin in Luzern hatte ich Herbert Meiers erstes Stück gelesen: Die Barke von Gawdos. An die Uraufführung im Zürcher Schauspielhaus schaffte ich es damals noch nicht. Das war 1954. Die Sprache aber hatte es mir mächtig angetan. Sie war einfach und leidenschaftlich zugleich – sie war großräumig, gewissermaßen kosmisch. *  Anlässlich seines 85. Geburtstags am 29. August 2013. Gehalten im Theater ­Rigiblick, Zürich.

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Istra, die Liebende in jenem wundersam traurigen Drama, rief immer wieder die Sonne an: die rote Sonne über Gawdos und die weiße Sonne der Nacht. In der Mondeskälte hatte sie Ion, ihren Geliebten, getroffen. Mit ihm bricht sie auf nach Gawdos, der Insel ihrer Sehnsucht. Das Paar hat Gawdos nie erreicht. Die Sprache der Sehnsucht war mehr als das Ziel, das sie nannte. Auch lag Gawdos in dem Stück mitten im Schwarzen Meer und nicht vor Kreta im Libyschen Meer. Auf den realen Ort kam’s Meier nicht an, wohl aber auf die Utopie einer Insel der Liebenden. Sprache, Klang: für Herbert Meier ist damit ein Glaubensakt umschrieben – wie für einen seiner Dichter auch, Paul Claudel. Zusammen mit Yvonne Meier-Haas, seiner Frau, hat er 2004 dessen Hauptwerk, den Seidenen Schuh, für das Theater Basel neu übersetzt, und 2007 fürs Berliner Gorki-Theater die Claudel-Trilogie Die Gottlosen mit den Stücken Die Geisel, Das harte Brot, Der Erniedrigte. Beide Male führte Stefan Bachmann Regie. In Wien wurde die Trilogie letztes Jahr aufgeführt. Gewiss ist dem Dramatiker Herbert Meier auch die szenische Situation wichtig, in seinen späteren Stücken Stauffer-Bern, Dunant oder Bräker wohl noch mehr als in den frühen, der Barke von Gawdos oder Jonas und der Nerz. Doch Sprache und Klang bleiben immer die pulsierende Mitte. Nicht weniger ist die erzählende Prosa davon bestimmt, auch wenn diese ganz anders intoniert sein kann: etwa der Erstlingsroman Ende September, die Anatomischen Geschichten, oder Stiefelchen. Ein Fall, der Roman von 1970, der neben den späten Büchern Winterball und Denk an Siena besondere Beachtung fand. In diesen erzählenden Büchern wird denn auch keineswegs die Komposition der Handlung vernachlässigt. Für mich aber ist Herbert Meier der Klangmeister, einer der seltenen heute in deutscher Sprache. Was Arbeit als Poesie bei ihm bedeutet, kann man in seinen Gesammelten Gedichten (2003) umfassend studieren. Jener Ernte eines Poetenlebens schickte er zwei Folgebände nach: Das Erhoffte will seine Zeit (2010) und Im Anhauch des Windes (2013). Das »magische Wort«, von dem der Herausgeber Alois M. Haas im Nachwort redet, wird hier zu einer akuten Erfahrung. Denn dieser Dichter hat keine Angst vor dem hohen Ton. Das machen die Oden hörbar, aber gerade auch die frühen Gedichte, jene aus der Zeit der Barke von Gawdos. Der hohe Ton ist niemals Selbstzweck, er schwebt nicht über den Dingen und über der Welt. Vielmehr ist er angetrieben von dem, was in Meiers Sicht das Leben zusammenhält, die Zuwendung zum Nächsten, zur Schöpfung. Man könnte auch Liebe sagen. Und wie bei den Denkern der abendländischen Philosophie, kann sich bei ihm die Menschenliebe ohne weiteres mit der Gottesliebe berühren.



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Es kam für Meier dann eine andere, eine gedichteärmere Zeit. Das waren, wenn ich recht sehe, die siebziger Jahre, die Zeit der großen Dramen. Ich komme darauf zurück. Dann aber setzte die Poesie in den Achtzigern mit mutigem Gesang wieder ein. Ich erinnere mich gut an jene Strophen, deren Rhythmen mich sofort in Bann zogen und die ich – als Redakteurin damals – betreuen durfte: die Oden. O Palla etwa – ein Text zu Kugel, Ball, Erde und zum Gedicht dazu, zur Ballade. Sie erschienen erstmals in der Neuen Zürcher Zeitung. Das war 1987. Sie verzauberten uns mit ihrem unzeitgemäß hymnischen Klang. Ein paar Verse aus O Palla seien zitiert. Sie gehen aus von der Palla, dem altrömischen Frauenmantel, und vom Tuch über dem Messkelch: »O palla –! /  pallare:ballare ballata  /  ballein –;  /  sta sera gran ballo …  /  O palla –: junge Erde.  /  Spiralnebel nächtlich …  /  …«. So klang das neue Zutrauen, das Meier in der Lyrik gewonnen hatte. Und dieses wollte die ganze Welt einfangen, physikalische Erkenntnisse nicht zuletzt. Einige Verse weiter heißt es beispielsweise: »Erde ehedem, Staubwolke.  /  Energie dann –  /  Isotope  /  Kalium  /  Rubidium  /  Aluminium  /  Urane  /  Trans . Transur. Transurane.  /  Kern du (palla) Kugel;  /  …  /  ein kreisender Ball  /  Ballata; Ballade, diaballein.  /  Ballistik«. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts hat sich Herbert Meiers poetisches Schaffen erneut verändert. Die Verse wurden knapper, karger, minimalistisch. Die Oden verwandelten sich in Haiku-ähnliche Gebilde. Leichte, fast schwerelose Feststellungen entstanden, an denen man lange herumdenken kann. Beispielsweise an den vier Zeilen, geschrieben am 3. März 2003: Der Kran hat seine Nachtkerzen angezündet um den Helikopter zu schützen, mit vorzeitig geborenen Kindern fliegt er an meinen schlaflosen Augen vorbei.

Das ist genau das, was Meier gesprächsweise sagte: Gedichte seien »meditative Gegenstände für Zeitnischen«. Längere, doch nicht weniger vergnügliche Lesezeit erfordert der Erzähler. Da war 1959 der Roman Ende September. Zusammen mit Otto F. Walters Erstling Der Stumme, bald auch Jörg Steiners Strafarbeit, Peter Bichsels Milchmanngeschichten und Walter Vogts Wüthrich läutete Ende September in der Schweiz eine zweite literarische Moderne ein – eine zweite Moderne nach Frisch und Dürrenmatt. Von Meier folgten der opulente Roman Verwandtschaften und 1970 der Roman Stiefelchen. Ein Fall, der weithin gerühmt wurde. In allen diesen Arbeiten sieht sich angeprangert, was 1973 in den Anatomischen Geschichten ebenso skurril wie

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satirisch gegeißelt wird: der »Ideologemus«. In einer witzigen Drehung einer dieser Geschichten – sie heißt Der dreizehnte Gehirnnerv – wird ein neuer Nervenstrang entdeckt, eben der »Ideologemus«. Er ist für seelische und gedankliche, für ideologische Erstarrung jeder Spielart verantwortlich. In ihm liegt der »Grund der chronischen Verengungen und Verödungen menschlicher Gesichts- und Hörfelder«. Sie sehen, poetische Arbeit ist auch kritische Arbeit. In den genannten Romanen richtet sich diese Kritik nun vor allem auch gegen ein eingebildetes Clan-Denken, gegen ein snobistisches Bürgertum, das sich um nichts anderes schert als um seinen Besitzstand – und das sich als der bessere Teil der Menschheit versteht. Damals wohl noch um einiges deutlicher als heute. Da ist Sancassini (in den Verwandtschaften), der junge Held aus Luino. Er geht auf die Suche nach seinen Anverwandten in Zürich, die er nicht kennt. Er findet eine Liebe, aber keine Familie, mit der er sich arrangieren möchte. So reist er zurück in den Süden. Der Lateinlehrer Hans Staal aus Solothurn – er nennt sich Caligula oder eben Stiefelchen – verstrickt sich in Feigheit und Schuld und dies angesichts oder wegen der Erwartungen von Mutter und feinster Großfamilie, die überdies anrüchige politische Machenschaften erfolgreich vertuscht. Ein junges Mädchen, ein Kind noch, wird von Hans Staal in den Tod getrieben. Er klagt sich wortreich an, richtet über sich und bringt doch keine Sühne zustande: Ein unheilvoll sich verwirrendes Seelengewebe wird da ganz aus der Sprache, einer monologischen Ich-Struktur, heraus entwickelt. Eine ungreifbare hoch künstlerische Sache ist dieser Roman, verwandt mit Otto F. Walters Herr Tourel. Vieles wäre noch zu rühmen, nicht zuletzt die Kunst der Übersetzung, welche Herbert Meier zusammen mit seiner Frau Yvonne entwickelt hat. Sie kam nicht nur Claudel zugute, sondern manchen anderen großen Dichtern, unter ihnen Euripides, Ben Jonson, Lorca, Pirandello, nicht zuletzt Charles Ferdinand Ramuz. Überhaupt ist der Anteil von Yvonne Meier am Schaffen ihres Mannes nicht hoch genug zu veranschlagen. Ihr hat er viele seiner Werke gewidmet, von den frühesten bis zum vorläufig letzten, Im Anhauch des Windes. Bleibt mein Schlusskapitel, fragmentarisch auch dieses angesichts eines langen und produktiven Dichterlebens. Es gilt dem Drama, jenem der 1970er Jahre vor allem. Große Theaterabende wurden uns damals beschert, als Herbert Meier Hausdramatiker und Dramaturg am Zürcher Schauspielhaus war. Wir



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haben sie gesehen, die Inszenierungen von Stauffer-Bern, 1974, von Dunant, 1976, von Bräker, 1978. Auch hier ließ sich der Autor von seinem Kardinalthema leiten: Wie rettet sich einer vor dem Zugriff einer so oder anders organisierten, so oder anders unerbittlichen Gesellschaft? Oder wie geht er daran zugrunde? Wie resigniert er, weil er glaubt, seine redlichsten Beweggründe verraten zu haben? Wie es Dunant, dem Gründer des Roten Kreuzes, im Stück geschieht. Am Ende sitzt er im Zweierzimmer eines bescheidenen Hospitals im appenzellischen Heiden. Eben ist ihm, zur Überraschung aller Heiminsassen, der Friedensnobelpreis zuerkannt worden. Doch Dunants letzter Satz im Stück lautet: »Meine Fahne deckt am Ende nur den Mord.« Die Dimension von Sprachkunst und dramatischem Handwerk ist in diesen Dramen souverän verbunden. Sie haben einen sozialgeschichtlichen Einschlag, meinen aber immer auch uns, das heutige Publikum. »[…] die Figur Dunant«, schrieb der Autor damals im Programmheft, »[…] ihr Drama, ihr Widerspruch […]. Nicht als Historie, sondern als wahre Geschichte einer Gesellschaft, die wir sind«. Es sind Schlüsselfiguren aus der Schweizer Geschichte, mit denen der Dramatiker teils historisch getreu, teils auch sehr frei, voller Erfindungsgeist, umgeht. Da war 1974 StaufferBern. Der Künstler und seine Geliebte, die kunstbegeisterte Lydia WeltiEscher, zerbrechen an der Übermacht von großer Politik, von Familie und Kapital. Bräker, dem armen Mann im Toggenburg, geht es besser. Er darf in einer Komödie auftreten. Er kommt davon. Der dichtende Bauer und Garnhändler hat persönlichen Umgang mit den Gestalten Shakespeares und macht so seine enge Welt weit. Am Schluss lernt sogar seine schmälende Frau Salome von ihm. Der Autor rettet ihr mieses Renommee in der Literaturgeschichte und erfindet für sie eine fulminante Begegnung mit dem dicken Sir John, genannt Falstaff. Ihr dramatisches Werk, verehrter Herbert Meier, bildet zusammen mit Ihrem lyrischen und erzählerischen Schaffen eine Trias von subtiler Menschenerfahrung, kritischer Gesellschaftsanalyse und unerschrockener Vergegenwärtigung schmerzhafter Konflikte.

Buchbesprechungen Magali Bélime-Droguet, Véronique Gély, Lorraine Mailho-Daboussi, Philippe Vendrix (Hgg.), Psyché à la Renaissance [Centre d’Études supérieures de la Renaissance. Études renaissante], Turnhout: Brepols, 2013, 328 S. zahlreiche Abb. Das Renaissance-Studienzentrum in Tours legt hier zusammen mit dem Centre des Monuments Nationaux die Akten eines Kolloquiums über den Psyche-Mythos vor, die von wichtigen Ausstellungen und Publikationen der letzten Jahre sozusagen eine Synthese bilden. Véronique Gély, deren Studie L’invention d’un mythe: Psyché. Allégorie et fiction de Platon au temps de La Fontaine (2006) hier zu Recht vielfach erwähnt wird, verortet das interdisziplinäre Unternehmen (7–19) in der Theoriediskussion von Blumenberg bis Lacan und Derrida, wobei lediglich Die Legitimität der Neuzeit von Raffaele Carbone (»La curiosité et le droit à la connaissance: Hans Blumenberg et Giordano Bruno«, 109–130) zugunsten der Vorstellungen Brunos hinterfragt werden soll, während die beiden anderen Theoretiker gegenüber dem historischen Interesse an der Analyse von Materialien zurückstehen müssen. Wenig überzeugt Joke Bourys Untersuchung von Hypnerotomachia Poliphili (»Hypnerotomachia Polifili o Lucius’s Strife of Love in a Dream?« 131–144). Zweifellos »the number of initiations is not the only resemblance between Poliphilo’s and Lucius’s grand finales« (139), doch enttäuscht das Fazit von »two major differences between the two Bildungsromans« (144) im Vergleich zu den Forschungen von Giovanni Pozzi oder Dorothea Scholl, die übergangen werden. Angesichts der hochwertigen französischen Beispiele spricht nur Grantley McDonald (»Riding Apuleius’ Ass: Transformation, Folly and Wisdom in Ficino, Celtis, Erasmus, Agrippa, and Sebastian Franck«, 75–108) Deutschland an, was auch an der Unterscheidung zwischen deutscher und österreichischer Literatur liegt und überdies mit der zeitweiligen Zurückhaltung der deutschen Kultur bezüglich des Psyche-Mythos zu tun hat. Die Bibliothèque Sainte-Geneviève in Paris bewahrt das einzig bekannte Exemplar der Erstausgabe der spanischen Übersetzung des Asinus aureus von ca. 1513 auf, ein Text »de crucial importancia para la literatura espanola áurea« (78), die Francisco Javier Escobar Borrego philologisch eindrucksvoll erörtert (»Nuevos datos sobre la versión del Asno de oro de Diego López

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de Cortegana: bases para una edición critica«, 75–107). Wie Jacob Burckhardt die Entdeckung der Leiche der Julia als Wahrzeichen für die Renaissance (Kultur der Renaissance in Italien III, 2) ansieht, so schreibt Frau Gély: »la Psyché d’Apulée ressurgit de son long sommeil aussi merveilleusement belle et intacte que la jeune romaine« (14). Weite Teile dieses bemerkenswerten Sammelbandes verfolgen diese Entdeckung der wichtigen Mythengestalt. Zwei zeitliche Bögen fassen die Beiträge zusammen, »De l’Antiquité à la Renaissance« (23–202) und »De la Renaissance à la modernité« (203– 311). Ein Namenregister (315–323) erleichtert die Konsultation des Bandes. Die frühchristliche Literatur, so Étienne Wolff (»Psyché d’Apulée à Boccace«, 23–31), bildet die »Vorgeschichte« der Rezeption des Mythos in der Renaissance. Augustinus wie Martianus Capella und Fulgentius betrachten Apuleius als Nordafrikaner und beeinflussen mit ihren Deutungen dessen spätere Rezeption entscheidend. Die Linie von Boccaccios Genealogie deorum gentilium zu epischen Figuren wie Angelica, Olimpia und Erminia zeitigt Transformationen von Psyche (Francesco Tateo, »Anima e Animus: dalla Psyche di Boccaccio all’etica del Rinascimento«, 33–40), die »richiamano due momenti essenziali della vita dell’anima, quello delle perturbazioni e quello della serenità« (35). Lorenzo Valla, Marsilio Ficino und Pietro Bembo entwickeln daraus die humanistische Ethik, aus der die rhetorische Diskussion über »il ruolo delle passioni nella formazione dell’uomo e nel raggiungimento della persuasione« (38) resultiert. Gleichzeitig ist der Psyche-Mythos bei den Dichtern allgegenwärtig (Donatella Coppini, »Amore e Psyche: presenze umanistiche«, 41–59), wobei sich Petrarca durch seine »cure filologiche« wie durch »l’attenzione alla struttura del romanzo« (55) auszeichnet. Silvia Fabrizio-Costa (»L’histoire d’Apulée dans L’eremita, la carcere e il diporto de Niccolò Granucci (1569)«, 145–157) entdeckt im Anschluss an eine Notiz von Véronique Gély den ersten Beleg für »l’intégration de Psyché dans un ensemble de ›nouvelles‹ à la manière du Decameron de Boccace« (145). Das wenig bekannte Werk »est une œuvre hybride, en dehors des genres codifiés puisque l’écrivain y jongle entre la compilation historique, le dialogue philosophico-moral, la nouvelle, le mémoire, le discours oratoire« (147). Unter dem Eindruck des Konzils von Trient verwendet Granucci Exempla aus Apuleius zum Beweis für die Notwendigkeit der religiösen Umkehr des Christen. Die Bildende Kunst bleibt von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert, somit in beiden Teilen des Bandes, die zentrale Instanz für die Verarbeitung des Mythos. Mit ihr hängt im 16. Jahrhundert bei Bildprogrammen die Musik in ihrer Bindung an das Theater eng zusammen, so Camilla



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Cavicchi (»D’alcune musiche sul tema d’Amore e Psiche nel Cinquecento«, 159–178), denn: »Si le musiche sulla favola d’Amore e Psiche si conservano in tali rari esempi di teatro musicale, il filo rosso che si intesse fra questo mito e la musica resta, al contrario, abbondantemente documentato nelle raffigurazioni pittoriche« (175). Eine canzonetta von Bartolomeo Tromboncino, deren Text aus der Komödie Nozze di Psyche et Cupidine von Galeotto Del Carretto stammt, und ein verloren gegangenes fünfstimmiges Madrigal von Alessandro Striggio, das aus einer Theateraufführung bekannt ist, ergeben interessante Aufschlüsse über die Musik in der Thea­ ter- und Festkultur. Der Mythos ist besonders auf Tapisserien weit verbreitet. Vier heute im Schloss von Cadillac befindliche Beispiele erlauben Rückschlüsse auf deren Produktion in Paris (Audrey Nassieu-Maupas, »Les tentures parisiennes de l’histoire de Psyché au XVIe siècle«, 179–187). Louis Thieulin besitzt »un jeu de cartons de la légende de Psyché« (180), die er in seinem Atelier in Tapisserien umsetzt bzw. an andere Hersteller während mindestens drei Jahrzehnten verkauft. Die meisten »s’inspirent largement de la série gravée vers 1531–1532 par le Maître au Dé et Agostino Veneziano d’après Michel Coxcie« (181). Die Tapisserien von Cadillac belegen »un processus d’élaboration relativement simpliste« (186) im Vergleich zu den berühmteren von König Franz I., die leider während der Französischen Revolution zerstört wurden. An den Wandmalereien lässt sich das Auf und Ab der Beliebtheitskurve des Mythos ermessen. Berühmt, aber verloren sind diejenigen von Chantilly. Im Schloss von Ancyle Franc wurden Ende des 20. Jahrhunderts welche vom flämischen Maler Nicolas de Hoey aus dem späten 16. Jahrhundert freigelegt und fotographisch erfasst. Im 19. Jahrhundert haben sie die damaligen Besitzer im Rahmen von Umgestaltungen des Raumes zerstört oder überdeckt. Nach dem Verlust der Malereien von Chantilly bleibt der Zyklus in Ancy-leFranc eine Art Unikat. Die Beiträge des zweiten Teils dieses Sammelbandes könnten sich mit der Bestätigung der Tatsache begnügen, dass der Mythos seit La Fontaine sein christliches Profil verliert. Stattdessen werden hier solche Verallgemeinerungen relativiert. Wie komplex die Verhältnisse sind, belegt die Loggia mit dem Psyche-Mythos, die Kardinal Scipione Borghese von Lodovico Cardi, genannt il Cigoli, in seinem Palazzo, der heute Pallavicini Rospigliosi heißt, ausmalen lässt (Sonia Cavicchioli, »Favola e allegoria negli affreschi del Cigoli per Scipione Borghese (1611–1613)«, 203–216). Ein zeitgenössisches Programm, 85 nur als Manuskript überlieferte Stanzen von Francesco Bracciolini, belegt, dass »il ciclo non sia da interpretare solamente in senso letterale, ma pretende […] un’interpretazione allegorica e morale« (210). Bemerkenswert, und in diesem Kontext einmalig, ist ein

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intertextueller Bezug auf Dantes Inferno (I, 32–33), den der Neffe des Malers »alla sensibilità e cultura dello stesso Cigoli« (215) zurückführt. Ein weiteres wichtiges Beispiel liefert die Emblematik, wobei erstaunlicherweise das Handbuch zur Sinnbildkunst des 16. und 17. Jahrhunderts von Arthur Henkel und Albrecht Schöne keinen Eintrag zu Psyche enthält. Nachdem Ralph Dekoninck die Jesuitenliteratur in diesen Bereich erschlossen hat, fokussiert Olga Vassilieva-Codognet (»Psyché à la croisée des chemins: la fable d’Apulée à la source de l’emblématique sacrée«, 243–267) ihre Ausführungen auf Otto Van Veen, Lehrer von Rubens und Freund von Justus Lipsius, dessen 60 Embleme in Amoris divini emblemata (1615) eine herausragende Leistung sind. Van Veen verdankt Apuleius »non seulement des identités pour ces deux personnages principaux [= Anima et Amor divinus], mais encore un type iconographique précis, dérivé de Raphaël, qui retrouve même le modèle antique du couple où Psyché et Eros sont figurés sous l’aspect de jeunes enfants« (250). Pia desideria von Herman Hugo SJ mit Illustrationen von Boetius Bolswart, »un livre d’emblèmes traditionnel« (257) im Sinne von Alciat, war ein Bestseller, der in alle europäischen Sprache übersetzt wurde. Auch wenn der Pietismus und der Quietismus ein fruchtbarer Boden für die Wirkung dieser Emblembücher und ihrer Epigonen sind, kann man hier nicht von einer Randerscheinung der literarischen Welt sprechen. Zwei Beiträge widmen sich der Bildenden Kunst im 17. und 19. Jahrhundert. Für Jean Vittet (»La tenture de l’Histoire de Psyché dans les collections aristocratiques françaises au XVIIe siècle«, 231–241) ist besonders die Beachtung von Wappen bei der Zuschreibung von Tapisserien und der Streit um die Taxierung des siebenteiligen Psyche-Zyklus im Nachlass von Charles de Créqui von Interesse, der durch eine wiederholte Schätzung von zwei- auf dreitausend Livres steigt. Vittet bezieht in diesen Vorgang die Umarbeitung der Tapisserien ein, die zu den üblichen Schicksalen solcher Stücke gehört. Er merkt die heutige Verwunderung darüber an, dass »en dépit du caractère suranné des modèles, vieux de cinquante ou cent ans au moment où furent lancés les retissages« (241), die Aristokraten dem Psyche-Mythos immer noch so große Bedeutung zumessen. Nach den Tapisserien haben die Tapeten im 19. Jahrhundert den Mythos aufgenommen (»Le mythe de Psyché dans les arts décoratifs au XIXe siècle entre décoration et narration«, 291–304). Über Jean-Baptiste Huets Entwürfe verbreiten die Tapeten seit Anfang des 19. Jahrhunderts antikisierende und pastorale Motive. »Le dessin de Huet […] reflète autant le goût des formes antiques que l’intérêt pour les grands succès littéraires qui caractérisent de nombreuses compositions au XIXe siècle« (293). Die Anleihen an vorhandene Serien von Stichen und an verschiedene literari-



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sche Verarbeitungen des Mythos waren wohl für damalige Gebildete nachvollziehbar. Huet ist überdies bestrebt, Szenen zu gestalten »qui re­ tracent l’histoire de Psyché telles des gravures suspendues contre un mur animé d’ornements« (304). Von den vier der Literatur gewidmeten Beiträgen dieses Teils wirken Thema und Ausführungen von Ian Grivel wenig überzeugend (»Le voyage théâtral de la Psyché-Colombine«, 281–290). Alexis Tadié (»De Heywood à Keats. Y a-t-il une Psyché anglaise?« 268–279) beginnt mit den englischen Apuleius-Übersetzungen und schließt mit den Oden von Keats, der im Rahmen eines ästhetischen Programms der schöpferischen Phantasie »progresse vers la définition de la poésie« (279). Die Protagonistin des auf Deutsch verbreiteten Romans Die Lampe der Psyche von Ida Boy-Ed, einer Ungarin, gesteht, dass sie die Geschichte von Amor und Psyche nicht verstehe, was Jean de Palacio (»Présence, absence et transposition de Psyché dans deux romans austro-hongrois de l’entre-deux-guerres«, 305– 311) als »une sorte de mise en abyme« (308) ansieht, man aber auch für ein Signal des kulturellen Umbruchs halten könnte. Im 17. Jahrhundert brachte Charles Perrault gezielt das Erzählerdispositiv und die Herausgeberfiktion seiner Märchensammlung mit Apuleius in Verbindung (Ute Heidmann, »Le double trompe-l’oeil de la fabella de Psyché. Du Maître au Dé aux contes de Perrault«, 217–229). Im Vorwort zur Sammlung von 1694 vergleicht er ausdrücklich »son propre conte de Peau d’Asne avec la fabella d’Apulée […]. Selon lui, le conte ancien et le sien sont de la ›mesme espèce‹ en ce qui concerne leur dispositif narratif« (220). Das Titelbild greift die bekannte Graphikserie des Maître au Dé auf und lässt »figurer le nom du ›pseudo-genre‹ en guise de citation inscrite sur la plaque fixée sur la porte de service« (222). Heidmann bringt Rotkäppchen und die damit zusammenhängenden Märchen mit Perraults Apologie des Femmes in Verbindung und sieht darin eine Warnung für junge Aristokratinnen, bei den arrangierten Ehen dem äußeren Schein nicht zu trauen. Diese Kolloquiumsakten sind ein anregendes Kompendium für das Studium der Wirkungsgeschichte von Apuleius und des Psyche-Mythos. Volker Kapp, Kiel Heike Brandt, Invented Traditions: Die Puritaner und das amerikanische Sendungsbewusstsein [Schriften der Forschungsstelle Grundlagen Kulturwissenschaft 4], Passau: Karl Stutz Verlag, 2011, 292 S. Spätestens mit den bahnbrechenden Studien Perry Millers in den 1950er Jahren hat sich die Frage nach der Rolle der Religion, hier insbesondere

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des puritanischen Erbes, für das nationale Selbstverständnis der USA zu einem riesigen und inzwischen kaum mehr überschaubaren interdisziplinären Forschungsfeld entwickelt. Wichtige Wegmarkierungen setzten dabei der Aufsatz des Soziologen Robert N. Bellah über »Civil Religion in America« (1967), der auf das eigentümliche Mischungs- und Überlagerungsverhältnis von religiösen und profanen Motiven in der politischen Rhetorik der Vereinigten Staaten hinwies, während in Deutschland etwa Ursula Brumm mit ihrer Studie Die religiöse Typologie im amerikanischen Denken (1963; engl. American Thought and Religious Typology 1970) und in den USA insbesondere Sacvan Bercovitch in The Puritan Origins of the American Self (1975) und The American Jeremiad (1978) richtungweisende Beiträge zu einer geistes- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Puritanismusforschung geliefert haben. In Anbetracht der bestehenden Forschungslage hat sich die hier zu besprechende Studie ein recht ehrgeiziges Ziel gesetzt. Es geht ihr darum, Pauschalisierungstendenzen entgegenzuwirken, die sie sowohl im wissenschaftlichen wie im politischen Diskurs zu erkennen glaubt. Als ›Aufhänger‹ dienen ihr einleitend die Reaktionen europäischer Beobachter auf die politische Rhetorik George W. Bushs nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Zwar habe dieser in einer Rede unmittelbar nach den Anschlägen »die altbekannte Idee von Amerika als Werkzeug Gottes für Freiheit und Demokratie« (9) anklingen lassen, seine Außenpolitik sei aber »eindeutig nicht religiös motiviert« (10), und dass er, wie seine Kritiker behaupteten, »ein ›missionarisches‹ Sendungsbewusstsein zu erkennen gegeben habe«, entspreche »nicht den Tatsachen« (10). Sie plädiert daher für eine deutlichere Differenzierung zwischen Religion und Zivilreligion wie generell zwischen den verschiedenen Formen, in denen sich ein Phänomen wie das im Titel der Arbeit angesprochene amerikanische Sendungsbewusstsein historisch manifestiert: »Denn die teilweise rhetorische Kontinuität verstellt den Blick auf die geistes- und sozialgeschichtlichen Brüche, die zwischen dem 17. und dem frühen 19. Jahrhundert zur Säkularisierung bzw. zur Amerikanisierung von Vorstellungen über Gottes auserwähltes Volk und dessen Mission, die Erfüllung der Heilsgeschichte, das Millen­ nium und dessen räumlicher Verortung führten« (20). Im Sinne dieses Programms untersucht die Arbeit in den nachfolgenden Kapiteln die Ursprünge und semantischen Verschiebungen und Veränderungen von puritanischen Schlüsselkonzepten vom Beginn der Kolonisierung bis zur Revolutionszeit, mit einem abschließenden kursorischen Ausblick auf die nachfolgenden Jahrhunderte. Sie entwirft dabei auf der Grundlage umfangreichen Textmaterials (geistliche und politische Traktate, Predigten, theologische und historiographische Abhandlungen) ein breit



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angelegtes Geschichtspanorama. Dabei wird beispielsweise in den Blick gerückt, wie die Kolonisierung des amerikanischen Kontinents, von protestantischer ebenso wie von katholischer Seite, von Anfang an unter heilsgeschichtlicher Perspektive gesehen wurde, oder wie im Zuge der Reformation zuerst in England ein spezifisch protestantisches Auserwähltheitsbewusstsein mit nationalistischen Bedeutungen aufgeladen wurde, während dies unter amerikanischen Vorzeichen (auch unter dem Einfluss der translatio imperii-Idee) erst sehr viel später geschah. In der ersten Phase der puritanischen Besiedlung, so wird betont, könne davon jedoch noch keine Rede sein. Im Vordergrund habe hier vielmehr noch die Vorstellung von Neuengland als Zufluchtsort und die Hoffnung auf Rückwanderung in das englische Mutterland gestanden. Erst in der weiteren Entwicklung habe sich, als Reaktion auf bestimmte geschichtliche Ereignisse wie den Englischen Bürgerkrieg (1642–49), die Glorious Revolution (1688 / 89), die verschiedenen French and Indian Wars, mit dem Siebenjährigen Krieg (1754–1763) als Kulminationspunkt, und schließlich den Unabhängigkeitskrieg gegen England (1775–1783) nach und nach ein zunächst regional, dann zunehmend national geprägtes Auserwähltheitsbewusstsein entwickelt, das sich unter dem Einfluss religiöser Reformbewegungen wie dem First Great Awakening der 1730er bis 1750er Jahre und der Aufklärungsphilosophie immer stärker säkularisiert habe. Verantwortlich hierfür sei u. a. »die strukturelle Affinität zwischen politischen und religiösen Vorstellungen« (216), beispielsweise zwischen dem Millenniarismus christlicher Prägung und dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung. – Das Schlusskapitel führt diese Linie dann skizzenhaft weiter mit stichwortartigen Hinweisen auf die Manifest Destiny-Ideologie des 19. Jahrhunderts und die amerikanische Kreuzzugsrhetorik vom Ersten Weltkrieg bis hin zu George W. Bush. Ein Verdienst der Studie ist die konsequente Verortung des Materials in den politischen, hier insbesondere auch den transatlantischen Kontexten. Dabei wird auch sehr schön anschaulich, wie apokalyptische Vorstellungsmuster vor allem in Krisenzeiten, insbesondere bei kriegerischer Bedrohung, konkrete Gestalt gewinnen. So wird etwa herausgearbeitet, wie in den Predigten puritanischer Geistlicher die englisch-französischen Kriegsauseinandersetzungen auf amerikanischem Boden ebenso wie später der Unabhängigkeitskrieg als endzeitlicher Kampf im Sinne eines göttlichen Heilsplans gedeutet wurden. Dies ist nur ein Beispiel für die in der Studie immer wieder variierte Leitthese, dass hinter der gleichen rhetorischen Grundformel radikal unterschiedliche politische und  /  oder theologische Inhalte stehen konnten. Die Studie verweist in anderen Zusammenhängen auch des Öfteren auf die ›Multivalenz‹ bestimmter Konzepte und belegt

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an zahlreichen Beispielen, wie sich in bestimmten rhetorischen Konstruktionen verschiedene Bedeutungen überlagern oder sich politische und theologische Anliegen vermischen. In einem gewissen Widerspruch hierzu steht allerdings, dass die Verfasserin an anderen Stellen immer wieder auf strikten Unterscheidungen besteht. Dies betrifft beispielsweise ihre Argumentation im Zusammenhang mit John Winthrops berühmter Predigt »A Model of Christian Charity« (1630). Hier wendet sie gegen die gängige Auffassung, dass die dort entworfene Vision einer »city upon a hill« prägend für das Sendungsbewusstsein der puritanischen Siedler und später der amerikanischen Nation wurde, durchaus mit Recht ein, dass sich »das Wesen der hier angestrebten Ordnung […] fundamental von späteren Vorstellungen« (64) unterscheide. Sie argumentiert dabei etwas einsinnig mit der mutmaßlichen Intention des Verfassers und reflektiert dabei zu wenig, dass Bilder dieser Art auch jenseits der ursprünglichen Absicht eines Autors oder Sprechers – gewissermaßen als floating signifiers – eine semantische Eigendynamik entfalten können. Aus rein texthermeneutischer Sicht mag sich (im Sinne einer von E. D. Hirsch vorgeschlagenen Begriffsdifferenzierung) eine strikte Unterscheidung zwischen dem ursprünglich intendierten (hier: theologischen) Sinn und den im Rezeptionsprozess generierten (politischen) Bedeutungen als sinnvoll erweisen. So mag es ja richtig sein, dass die ersten puritanischen Siedler noch nicht die Absicht hatten, »das Neue Jerusalem« (60) im Sinne einer wörtlich gemeinten Lokalisierung in Neuengland zu errichten. Wie die Arbeit aber im Grunde auch selbst aufzeigt, wohnte der biblischen Metapher gleichwohl ein semantisches Potential inne, das bei entsprechenden historischen Konstellationen auf eine solche geographische Konkretisierung geradezu hin drängen musste. Was die Arbeit auch tendenziell zu unterschätzen scheint, ist die emotionale Wirkmächtigkeit, die bestimmte rhetorische topoi im Kontext bestimmter historischer Situationen zu entfalten vermögen. Wenn die Verfasserin im obigen Zusammenhang beispielsweise – wiederum zu Recht – darauf hinweist, dass es sich bei der Rede vom Neuen Jerusalem »um ein zur Zeit der Reformation sehr gängiges Bild zur Bezeichnung einer vorbildhaften reformierten Gesellschaftsordnung handelte« (60 f.), scheint sie dieses Bild tendenziell in die Nähe einer ›toten Metapher‹ zu rücken. Diese Tendenz manifestiert sich besonders deutlich, wenn sie im Eingangskapitel mit dem Hinweis auf den pluralistischen Charakter der amerikanischen Gesellschaft die religiös geprägten Diskurselemente in den politischen Reden amerikanischer Präsidenten als »rhetorische Floskel[n]« (25) abtut und in Konsequenz dessen für eine strikte Unterscheidung von Religion und Zivilreligion plädiert. Tatsächlich ist es aber gerade die dif-



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fuse Vermischung von beidem, die ein wesentliches Merkmal der amerikanischen Zivilreligion darstellt. Gerade der im Eingangskapitel in den Vordergrund gestellte Fall von George W. Bush ist dafür ein schlagendes Beispiel. Wie sehr dies der Fall ist, hat vor kurzem Sonja Schwarz noch einmal in einer brillanten Studie (The Role of Religion in American Presidential Rhetoric: A Comparative Analysis of Speeches by John F. Kennedy and George W. Bush, 2010) überzeugend nachgewiesen. Alles in allem wäre die Argumentationslinie der Arbeit überzeugender ausgefallen, wenn sich die Verfasserin nicht selbst unter den Zwang gesetzt hätte, unbedingt eine möglichst spektakuläre ›Gegenthese‹ zu gängigen wissenschaftlichen und politischen Erklärungsmustern setzen zu müssen. Denn was die Arbeit doch vor allem noch einmal eindrucksvoll demonstriert, ist die angesichts der radikalen historischen Veränderungen und Brüche bemerkenswerte Beständigkeit des rhetorischen Ausdrucksarsenals. Für eine theoretische Konzeptionalisierung dieses Zusammenhangs wäre z. B. der Ideologiebegriff Terry Eagletons (Ideology, 1991) hilfreich gewesen, den die Herausgeber Bernd Engler und Oliver Scheiding ihrem Grund­ lagenprojekt A Companion to American Cultural History: From the Colonial Period to the End of the 19th Century (2009) – das der vorliegenden Arbeit auch in weiterer Hinsicht noch gute Anregungen hätte geben können – zugrunde legen. Die diversen Beiträge dieses Bandes sind auf die theoretische Prämisse hin orientiert (siehe meine Rezension in LJ 52 (2011), 511–518, zum Folgenden 512 f.), dass unbeschadet der Vielfalt der amerikanischen Kultur eine relativ begrenzte Anzahl von ›Schlüsselkonzepten‹ eine durchgängige und maßgebliche Rolle in der Entwicklung eines nationalen Selbstkonzepts gespielt haben. Diese Schlüsselkonzepte seien jedoch nicht zu verstehen als fest fixierte Ideenkonstrukte, sondern vielmehr als ideologische Grundkonfigurationen, die zwar einem bestimmten ideologisch-historischen Kontext entstammen, sich aber durch ihre hohe Adaptierbarkeit an neue Kontexte und ideologisch-politische Bedürfnisse auszeichnen und in diesen dann sowohl neue Bedeutungen als auch ein (illusionäres) Bewusstsein von Kontinuität zu generieren vermögen. In diesem Sinne wird amerikanische Geschichte verstanden als ein Prozess, der einer »unspoken but systematic logic« (Eagleton, 5) von Kontinuität und Diskontinuität folgt. Es ist im Grunde eben diese ›kulturelle Logik‹, welche die vorliegende Arbeit durchaus ertragreich in Szene gesetzt hat. Möglicherweise als Resultat einer gewissen Hektik bei der Drucklegung, sind der Verfasserin in der Bibliographie und im Anmerkungsapparat einige ärgerliche Nachlässigkeiten unterlaufen. Primärquellen werden z. B. des Öfteren nicht aus der Originalquelle, sondern aus einem Sekundärtext zitiert, ohne dass dies immer durch einen entsprechenden Hinweis (»zit.

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nach …«) markiert würde. Auf Beiträge zu Sammelbänden wird in den Anmerkungen mehrfach nur pauschal mit Verweis auf den Gesamtband hingewiesen. Hinter der Fußnote 224 auf Seite 106 – »vgl. Engler et al., Hgg. (2002), 165« – verbirgt sich z. B. ein Hinweis auf den dort auf den Seiten 133–163 abgedruckten Beitrag von Kristina Bross, »The Mission upon a Hill: New England Evangelism, 1643–1653«. Und nicht nur findet man zu solchen Beiträgen keinen eigenen Eintrag in der Bibliographie. Dort sind auch verschiedene der Titel, auf die in den Anmerkungen hingewiesen wird, nicht aufgeführt. Hier möchte man der Verfasserin fast raten, dem gedruckten Text noch nachträglich ein Korrektur- und Ergänzungsblatt beilegen zu lassen. Es ist bedauerlich, dass der insgesamt positive Gesamteindruck der Arbeit durch solche vermeidbaren handwerk­ lichen Mängel eingetrübt wird. Kurt Müller, Jena

Enno Ruge, Bühnenpuritaner: Zum Verhältnis von Puritanern und Theater im England der Frühen Neuzeit [Pluralisierung und Autorität, 24], Berlin / New York: Walter de Gruyter, 2011, [xiii] + 398 S. Seit der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts hat die Literaturwissenschaft immer wieder erhellende Arbeiten mit religionsgeschichtlichen und -politischen Beiträgen hervorgebracht, die infolge des cultural turn ermöglicht worden sind. Verschiedene Studien zu einem kulturellen Phänomen, das seit dem frühen 20. Jahrhundert ursprünglich aus amerikanischer Sicht als »Fundamentalismus« gefasst wurde und seit dem frühen 21. Jahrhundert in zunehmender begrifflicher Inflationierung verwendet wird, unternehmen in mehr oder minder impliziter Weise eine Rückdatierung dieses Phänomens – genannt seien hier einschlägige Monographien wie Thomas H. Luxons Literal Figures: Puritan Allegory and the Reformation Crisis in Representation (1995), Alexandra Walshams Charitable Hatred: Tolerance and Intolerance in England, 1500–1700 (2003), James Simpsons Burning to Read: English Fundamentalism and its Reformation Opponents (2008); im deutschsprachigen Raum sind in den letzten zehn Jahren insbesondere Klaus Stierstorfer mit mehreren Monographien und Norbert Lennartz mit einem Sonderheft »Focus on Fundamentalism« in der Zeitschrift Anglistik (2011) zu diesem Thema hervorgetreten. Ruges Arbeit lässt sich in diesen größeren Forschungshorizont einbetten, dem sie mit ihrem Akzent auf Theaterstücken des frühen 17. Jahrhunderts ein weiteres und wichtiges Segment hinzufügt. Der Autor wendet sich zum einen dezidiert gegen ein verbreitetes »dichotomes Heuchelei-



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Schema« (10) innerhalb der Forschung, in der die Puritaner stets als die bad guys in Position gebracht werden, um mit den Theaterleuten deren Widersacher, Opfer und letztlich die moralischen Sieger im frühneuenglischen Kulturkampf zu finden. Zum anderen weist er in seinen Analysen auf die vielfältigen Binnendifferenzierungen innerhalb der Glaubensgemeinschaften, die häufig summarisch als »die Puritaner« bezeichnet werden, aber nur als Spektrum von gemäßigten Kongregationen und radikalisierten Sekten zu fassen sind. Ruges Ziel ist es zu zeigen, »dass sich das Theater in der Kontroverse mit den Puritanern nicht als die moralisch überlegene oder überlegene moralische Anstalt positionieren wollte, […] sondern dass die Theaterleute gerade die moralische Fragwürdigkeit der Dramen und der Institution des Theaters herausfordernd als ihr Markenzeichen herausstellen« (11). Die Studie gliedert sich in sechs Kapitel, die von einer »Einleitung« (1–28) und den »Schlussbemerkungen« (355–361) gerahmt werden; hieran schließen sich Bibliographie (363–392) und Namensregister (393–398). Ruge betrachtet in den Analysen über die einst Middleton zugeschriebene Komödie The Family of Love (Kap. 1, 29–79) und über Jonsons The Alchemist (Kap. 2, 80–147) detailliert die titelgebende Gruppierung der aus den Niederlanden beeinflussten »Family of Love« und verschiedene andere Gruppierungen von »Visible Saints« als eine argumentative Einheit. In ihr kommen maßgeblich die »Konstruiertheit und Paradoxien« (27) der satirischen Stereotypen vom frühneuzeitlichen stage-puritan zur Geltung, und lassen diesen entweder als Hybridfigur aus teilweise einander widersprechenden Folien von Glaubensvertretern erscheinen, oder in Nachbarschaft zur »Figur des ›covetous, lustful hypocrite‹« (226) treten. Jede der aufeinanderfolgenden Textanalysen wird in kenntnisreichen Teilkapiteln durch einen vorbereitenden Abschnitt eingeleitet, der die unterschiedlichen im jeweiligen Stück repräsentierten Figuren-Stereotypen als ironisch verzerrte, aber erkennbare historische Vorbilder für die Vertreter bestimmter puritanischer Gemeinschaften identifiziert bzw. die Topikalität der im Stück verhandelten Diskurse nachzeichnet. Nacheinander ergibt sich so die Vielfalt der Binnenströmungen im puritanischen Paradigma, die von der nikodemischen (und als solche v. a. im Verborgenen) wirkenden Gruppierung der »Family of Love« mit ihrem Ursprung in der Lehre des Niederländers Hendrik Niclaes über die verschiedenen Lehren der Spiritualisten, Separatisten, Calvinisten, Anabaptisten und Donatisten reicht, deren inhaltliche Differenzen Ruge in seinen Ausführungen anhand wichtiger Einzeltexte skizziert. In den anschließenden drei Kapiteln, die sechs Dramen im Zusammenhang mit den theologischen Debatten beleuchten, finden sich eingehende

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Untersuchungen zu Shakespeares Twelfth Night und Measure for Measure (Kap. 3, 148–214), zum Skandalstück The Puritan (Kap. 4, 215–256), sowie zu Jonsons / Chapmans / Marstons Kollaboration Eastward Ho!, Marstons The Dutch Courtesan und Randolphs The Muses’ Looking Glass (Kap. 5, 257–307). Jedes dieser Kapitel berücksichtigt die räumliche Nähe verschiedener puritanischer Gemeinden zu den benachbarten Spielstätten, namentlich Southwark, St. Paul’s und Blackfriars. Es entsteht so eine Landkarte von Londons Kulturtopographie (vgl. 27), in der Puritaner und Schauspieler, Kanzel und Bühne, sich gegenseitig bedingen und mit ähnlichen Diskursstrategien arbeiten, wie z. B. mit der »Rhetorik der Denunziation und Exklusion«, 183). Im Zusammenhang mit dem Kontext von The Puritan hält Ruge diese physische Nähe im Sinne von Kollision und Kollusion (vgl. 359) gar für besonders augenfällig: »Es ist gut vorstellbar, dass ein Puritaner am Paul’s Cross gegen das Theater predigte, während nebenan, auf der anderen Seite der Kathedrale, eine Puritanersatire aufgeführt wurde, und die jeweiligen Besuchergruppen einander im Hof von St. Paul’s sich begegneten, sich vermischten und austauschten« (230). Hervorgehoben seien Ruges gelungene Deutungen von ShakespeareFiguren wie Malvolio, die in der Forschung häufig einseitig als PuritanerKarikatur gedeutet worden ist. Ruge stellt sich hier dessen Verleumdung (und also Konstruktion) als Puritaner maßgeblich durch seinen Widersacher Feste entgegen, und schließt: »In Shakespeares Komödie findet sich kein Beleg für die These, dass sich der Haushofmeister wirklich die Maske des Puritaners aufsetzt, um seine Ziele zu erreichen« (174). Ähnliches, wenngleich nicht mit derselben Emphase, kann Ruge für Antonio in Measure for Measure feststellen, der wie Malvolio »nur ›a kind of puritan‹« (199) ist und dem daher »wie Malvolio viele der typischen Merkmale des stage-puritan fehlen« (186): Mit beiden Figuren »evoziert Shakespeare das Stereotyp nur, weil es ihm ein freies Spiel mit den ›puritanischen‹ Elementen erlaubt« (199). Ist also die Konstruktion und Repräsentation des Bühnenpuritaners insbesondere bei Shakespeare als eine Nullstufe zu betrachten, so zieht Ruge in seiner Analyse von Jonsons Bartholomew Fair (Kap. 6, 308–354) alle zuvor im Einzelnen aufgeführten Register. Wie schon an den Figuren des Diakons Ananias und des Tribulation Wholesome im Alchemist weist Ruge an Zeal-of-the-land Busy die Kombination gegensätzlicher puritanischer Konfessionsmerkmale (als sektiererischer Anabaptist und als Separatist) nach und führt dessen Konversion vom Puritaner zum (verhinderten) Theatergänger, die sich noch in Quarlous’ »pragmatische[r] Wandlung am Ende vom exponierten Puritanerhasser zum Puritanerfreund« (331) spiegelt, in aller Fragwürdigkeit vor Augen (vgl. 351). An Jonsons Stück zeigt



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sich, wie die vielfältigen Parallelen wie Oppositionen von »Players und Puritans gleichsam auf die Spitze getrieben« werden (28) – es entsteht vor den Augen des Lesers ein problem play, dem es nicht allein an möglichen Identifikations- oder Antifiguren für die heutigen Zuschauer mangelt, sondern auch dramaturgisch so viele widersprüchliche Botschaften auf der Handlungs- wie Metaebene durch die Spiele im Spiel verbreitet werden, dass schließlich jegliche didaktische Funktion der (Puppentheater-)Bühne subvertiert wird. Für die Rekonstruktion der religions- und literaturgeschichtlichen Zusammenhänge wäre es freilich naheliegend gewesen, eine geringfügig erweiterte Zeittiefe der Studie zu erzeugen. Erst an (zu) später Stelle wendet die Arbeit den Blick ins letzte Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts, nämlich im Vorfeld der Analyse des neuerdings und nach Ansicht Ruges (vgl. 251–255) in unzutreffender Weise Middleton zugeschriebenen Stückes The Puritan in Kap. 4. Hier wird die Entstehung des Bühnenpuritaners im Pamphletkrieg um die eigentlich anti-katholische Kunstfigur »Martin Marprelate« in den 1590er Jahren lokalisiert (220–228), während einflussreiche Traktate und Predigten aus der Mitte bzw. der letzten Hälfte des 16. Jahrhunderts entweder nur marginal (anlässlich der Invektiven John Stockwoods, Phillip Stubbes’ und Thomas Whites) oder gänzlich unerwähnt bleiben (v. a. Stephen Gosson und Anthony Munday). So erhalten die Texte in ihrer historischen Positionierung zwischen »the English Reformations« (Haigh) und der radikal-puritanischen Kulturrevolution im Zeitalter der Civil Wars doch wieder jenen Charakter als diskursstiftende Dokumente zugewiesen, den Ruge ihnen doch eigentlich abspricht. In seiner berechtigten Kritik an der verbreiteten monolithischen Sichtweise »der Puritaner« verfällt der Autor selbst immer wieder in diesen vereinheitlichenden Sprachgebrauch, wenn er doch zumeist auf jene »gemäßigten« Kräfte innerhalb des Spektrums puritanischer Lehren verweist, die sich der Church of England als der Staatskirche unterordneten und daher von King James I als nicht staatsgefährdend anerkannt wurden. Zudem entgehen dem Verfasser einzelne Vorarbeiten mit Akzentuierungen, die schon in eine ähnlich differenzierende Richtung abzielen.1 1  Vgl. z. B. die Beiträge von John Coffey, »A Ticklish Business: Defining Heresy and Orthodoxy in the Puritan Revolution«, in: David Loewenstein, John Marshall (Hgg.), Heresy, Literature, and Politics in Early Modern English Culture, Cambridge 2006, 108–136, sowie Christopher Haigh, »The Character of an Antipuritan,« Sixteenth Century Journal, 35 (2004), 671–688. Es ist zudem angesichts des ausführlichen Bezugs auf die Marprelate-Debatte bemerkenswert, dass die Neuausgabe der Martin Marprelate Tracts: A Modernized and Annotated Edition, hg. von Joseph L. Black, Cambridge 2008, keine Berücksichtigung findet.

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Formal fällt auf, dass Ruge seine Arbeit in drei argumentative Einheiten oder gar Teile (Kap. 1 und 2, Kap. 3–5, sowie Kap. 6; vgl. 27–28) segmentiert, diese Unterteilung aber weder strukturierend signalisiert noch sie argumentativ konsequent durchhält – so sollen die beiden ersten Kapitel v. a. die Konstruktionsprinzipien und Paradoxien der Figuren darlegen. Die Kulturtopographie Londons tritt programmatisch ab dem dritten Kapitel in Erscheinung, ehe in Kap. 6 alle Aspekte synthetisiert werden. Allerdings werden insbesondere die Konstruktionsmechanismen der Bühnenpuritaner in allen Analyseabschnitten deutlich gemacht; die dramaturgische Gestaltung des letzten Kapitels als Zusammenführung und argumentativer Höhepunkt wird dadurch relativiert. Diesen Einwänden zum Trotz sei betont, dass der Autor mit seiner Studie eine im besten Sinne interdisziplinäre Arbeit vorlegt, in der nicht nur ein Brückenschlag von neo-historistischer Literaturwissenschaft zu revisionistischer Religionsgeschichte gelingt, sondern die auch ein anregendes Lektüreerlebnis gestattet. Jürgen Meyer, Halle Volker Kapp, Dorothea Scholl, in Verbindung mit Georg Braungart und Bernd Engler (Hgg.), Literatur und Moral [Schriften zur Literaturwissenschaft 34], Berlin: Duncker & Humblot, 2011, 582 Seiten. Ce volume intitulé Literatur und Moral réunit les interventions de deux assises plénières de la Görres-Gesellschaft ainsi que plusieurs autres articles ajoutés par la suite. C’est un recueil qui entend peut-être moins transmettre des résultats définitifs que témoigner d’un processus d’apprentissage. Au cours de la première assise, organisée à Salzburg en septembre 2009, sur le thème Literatur zwischen Ethik und Ästhetik: die Tradition der europäischen Moralistik, l’idée communément admise de cette tradition reçut un tel élargissement que le désir surgit de poursuivre l’investigation; aussi la session suivante, tenue en septembre 2010 à Freiburg im Breisgau, permit-elle de prolonger la réflexion. On interrogea le genre même auquel appartiennent les moralistes. La méthode suivie était empirique, il s’agissait de continuer l’observation des manifestations à travers le temps et l’espace, renonçant d’emblée aux concepts a priori formulés par les historiens de la littérature ou par les philosophes (spécialement par Günter Bader qui s’appuie sur Nietzsche). Il en a résulté un paysage très varié qui s’étend de l’Italie à l’Angleterre passant bien sûr par la France et l’Allemagne, qui part de l’Espagne et termine en Hongrie, et dont les ramifications atteignent le Nouveau Monde, les États-Unis et le Mexique. Les textes, au nombre de trente-et-un, forment un ensemble dont les parties se complètent souvent les unes les autres: on décèle des dialogues souter-



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rains, des convergences, parfois des points de vue contradictoires. Le lecteur est pris dans le processus d’apprentissage, il s’interroge lui-même sur ce qui fait l’unité des manifestations littéraires dont il lit le compte-rendu. Il n’arrivera sans doute pas plus à réaliser une synthèse que ne l’ont fait, ni voulu le faire, les responsables de ce volume. Mais il pourra au moins dégager les centres d’intérêt autour desquels tournent les articles et poursuivre ainsi la réflexion. »Es wäre schön, wenn unser Band zu weiterem Nachdenken auf diesem Gebiet anregen würde« (17). Dorothea Scholl émet ce souhaite dans son introduction générale en se référant au domaine de la théologie et de la philosophe morale, mais par là elle sous-entend les autres domaines que le lecteur relèverait. Il est un domaine qui frappera assez vite le lecteur, c’est celui des mots en eux-mêmes. Pour une oreille peu familière à la tradition des moralistes, les mots de morale et de moraliste pourraient susciter une certaine réticence involontaire. On les confond plus ou moins consciemment avec ceux de moralisme et de moralisateur. Et l’on se sent bien plus à l’aise avec celui d’éthique. C’est sans aucun doute pour démêler ces confusions que deux auteurs traitent explicitement de l’histoire de ces mots. Louis Van Delft ouvre le recueil avec un texte intitulé justement »Morale / Ethique«. Spécialiste des moralistes français, donc de toute une littérature qui avait pour objet le moi »dans ses passions, ses vertus et ses vices, les âges de sa vie, ses différents ›caractères‹, mœurs et conditions« (25), il est à même de montrer la distance qui sépare cette tradition de ce qu’on appelle aujourd’hui la réflexion éthique. Il y allait d’une inspection du »fond du cœur« sur la base d’une croyance en une nature humaine pérenne et universelle. Les éthiciens modernes ne croient plus à l’existence d’une telle nature; ils ne scrutent plus le moi mais analysent les parcelles d’un champ pour ainsi dire infini qui recouvre tout ce qui est »relation à autrui« dans ses composantes sociale, politique, institutionnelle, médicale: droits de l’homme, euthanasie, peine de mort, relations internationales, éducation et égalité des chances, responsabilité sociale des entreprises, environnement, clonage, manipulation génétique … (ibid.) Mais, aléas de l’histoire!, la préférence moderne pour le mot d’éthique a pour pendant un phénomène inverse au dix-septième. Jean Balsamo, dans »L’invention d’un moraliste: Montaigne«, explique pourquoi le mot de morale s’imposa progressivement sur son équivalent grec. Le terme a commencé par s’affranchir des expressions composées dont il provenait: philosophie, théologie morales. Peu à peu, il finit par correspondre »à une conception moins systématique de l’objet de la morale, ou moins précise« (71). Le moraliste n’est plus un commentateur de la morale philosophique ou théologique des docteurs, »il se voue à l’observation des mœurs«, il les décrit »sur un mode littéraire et

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non plus théorique ou spéculatif […] sous la forme de l’essai, de la maxime, de l’aphorisme ou du fragment« (p. 72). Au sens strict, le moraliste est un homme de lettres qui observe les mœurs et les décrits sous des formes littéraires spécifiques qui ne sont ni dogmatiques ni didactiques. Un deuxième domaine de réflexion touche les relations entre la tradition des moralistes français et celle des moralistes allemands. Friedrich Vollhardt, dans »Naturrecht und Moralistik im 17. und 18. Jahrhundert«, tente de comprendre pourquoi la »Moralistik« a émergé en Allemagne plus tard qu’en France. Aussi se pose la question de la possible influence de la seconde sur la première. Lutz-Henning Pietsch exprime le problème en ces termes: »Die erfahrungsorientierte, metaphysikkritische Anthropologie der Spätaufklärung, welche den Menschen nicht mehr von der überhöhten Warte eines theologisch-spekulativen Systems aus definiert, sondern ihn in den konkreten Bedingungen seines natürlichen Daseins untersucht – inwieweit hat sie ihre Wurzeln in der anti-spekulativen, auf Beobachtung und Selbstreflexion gegründeten science de l’homme, wie sie sich in den Schriften der französischen Moralisten formuliert?« (326) La réponse sera donnée au cas par cas: dans cet article, l’auteur traitera de Johann Georg Zimmermann, Johann Kämpf et Johann Caspar Lavater; Ralph Häfner étudiera plus loin la relation de Friedrich Schlegel à Nicolas Chamfort. Le cas de Goethe est traité séparément par Stefan Keppler-Tasaki dans un article qui montre l’ambivalence de sa position. Il reprend dans son titre une injonction de Wilhelm Meister adressée au représentant des moralistes français, l’Abbé: »keine Sentenzen weiter! Goethe und die französische Moralistik«. Pas une sentence de plus, se récrie le jeune homme, car aucune ne pourra panser son cœur blessé par la mort de Mignon. »Die Bewertung des [Abbé] und seiner Maximen, deren sentenziöse Scharfsinnigkeit das Herz nicht befriedigt, fällt schon innerhalb des Romans freilich eher distanziert aus« (364). Et pourtant Goethe lui-même parsèmera tout au long de ses œuvres suffisamment de dits et de maximes pour que Johann Peter Eckermann puisse les recueillir après sa mort dans un volume portant pour titre: Maximen und Reflexionen (369). Terminons par une considération sur Montaigne. Si le terme même de »moraliste« lui est postérieur et si ce n’est qu’au XVIIIe siècle que l’Académie française dresse un canon des moralistes (Jean Balsamo), il est tout de même reconnu à l’unanimité, par les auteurs de ce volume, et par les écrivains qu’ils présentent (cf. par exemple la citation de Lessing, 561), comme le père d’une tradition littéraire, un père dont l’œuvre n’a cessé d’être lue et qui a eu des répercussions jusque chez un mémorialiste comme Chateaubriand (Volker Kapp). Josiane Rieu, de son côté, met en lumière une »source oubliée« de sa pensée: les Exercices spirituels de saint



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Ignace de Loyola (»Les résonances ignatiennes de la ›pure indifférence‹ chez Montaigne«, 97). Le rapprochement s’explique par la parenté dans la manière d’utiliser l’indifférence en vue d’une prise de décision. L’un et l’autre invitent l’individu à se placer sur un point d’équilibre, à égale distance des positions contraires, et, une fois qu’il s’est rendu »indifférent«, mettre en mouvement la faculté de juger. Ce rapprochement est tout à fait nouveau. Jusqu’ici, la critique avait rattaché l’idée montanienne d’indifférence au scepticisme. Sous l’image de la balance qu’il avait fait graver sur les poutres de sa bibliothèque et dont il avait fait une matrice pour frapper des jetons, on avait perçu la formule de Sextus Empiricus: »je reste en équilibre; je suspens mon jugement« (note 24, 101). En réalité, comme Bernard Sève l’a montré plus récemment, Montaigne ne cherchait pas la suspension du jugement, mais la suspension qui rend possible un meilleur jugement. Maintenant, Josiane Rieu reconduit ce procédé à la méthode ignatienne. Elle cite fort à propos le numéro 179 des Exercices: pour faire une bonne élection, »je dois me trouver indifférent sans aucun attachement désordonné, de façon à ne pas être incliné ni attaché à prendre ce qui m’est proposé plus qu’à le laisser, ni à le laisser plutôt qu’à le prendre. Mais je dois me trouver comme l’aiguille d’une balance pour suivre ce que je sentirai être davantage à la gloire et à la louange de Dieu notre Seigneur et au salut de mon âme« (cité 101, souligné par J. R.). Montaigne a-t-il connu ce texte? Rien n’indique dans cet article qu’il ait lu le livret de saint Ignace. Par ailleurs, il n’a pas fait les exercices. Or, la méthode connut à son époque une diffusion exceptionnelle, et l’on peut penser que les jésuites qu’il a fréquentés lui aient livré une partie de son contenu. De toutes manières, Josiane Rieu ne soutient pas que Montaigne ait pratiqué la manière ignatienne de décider, mais qu’il »a pu s’en inspirer pour élaborer sa méthode propre d’analyse et de conduite; et en adapter une variante pour le ›gentilhomme chrétien‹« (97). Aussi eût-il été bon de prêter attention non seulement aux résonances, mais encore aux variations et aux discordances: Ignace préconise l’indifférence dans un contexte de retraite spirituelle, afin que le retraitant puisse se mettre »au creux du rocher« (selon la belle formule du P. Albert Chapelle), et se rende attentif à la volonté divine; Montaigne l’utilise au sein d’une méditation littéraire pour asseoir la validité de ses jugements. L’indifférence du premier permet à Dieu de pouvoir indiquer les différences, l’indifférence du second est au service des différences que le moraliste trace. Surtout, la liberté qu’ils promeuvent au moyen de l’indifférence n’est pas la même. L’essayiste a une idée anthropocentrique, il entend la liberté comme autonomie de la faculté de juger, et l’indifférence est la condition pour que le jugement fasse son »jeu à part« (Essais, III, 13, éd. Pierre Villey, PUF, 1965, 1074, cité 102). Ignace par contre a une idée théocentrique, la liberté coïncide avec l’obéissance à

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la volonté de Dieu, et l’indifférence est employée pour reconnaître cette volonté. Mais l’un et l’autre se rencontrent à nouveau au plan du style, dans l’usage qu’ils font de l’humour. Pensons par exemple au Récit du pèlerin de saint Ignace, à maintes descriptions de Montaigne. Le dernier mot de ce volume est l’humour, le comique. Avec son article sur »Moralistik und Komik« Dorothea Scholl laisse entendre que la tradition moraliste européenne a été fondamentalement une tradition imprégnée de sourire et même de rire. En guise de conclusion, elle laisse le poète conter les déboires d’un moralisateur qui voulant faire l’ange fit la bête (Schiller, An einen Moralisten). Et c’est très heureux que le volume se referme ainsi. Car cette dernière note comique réussit à vaincre nos préjugés à l’égard des moralistes! Nicolas Faguer, Madrid Thomas Strässle, Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt, München: Hanser, 2013, 143 S. Überwiegend schlaglichtartig, doch variantenreich und anregend stellt der Schweizer Literaturwissenschaftler Strässle gelassene Haltungen in der Literatur und Philosophie vor. Seine dreizehn Unterkapitel zum Thema Gelassenheit stehen dabei – wie es der von ihm gewählten Essayform gebührt – locker verbunden nebeneinander, eine systematisch-wissenschaftliche Aufarbeitung der Thematik ist auch nicht das Ziel dieses Buches; so ist es als inspirierende und einführende Lektüre zur Gelassenheit als theoretischem Thema der Literatur geeignet. Wer Übungen zur Gelassenheit sucht, wird freilich nicht fündig. Um gelassene Figuren oder Vorstellungen von Gelassenheit in der Literatur aufzuweisen, unternimmt Strässle einen großen Streifzug durch die verschiedenen Epochen und bespricht ihre Vertreter, von den Mystikern über Goethe und Schopenhauer bis hin zu Heidegger u. a. Allein das breite Spektrum an hochrangigen Dichtern und Denkern (im vorliegenden Text nur Männer), die sich mit der Gelassenheit auf je eigene Weise beschäftigen, belegt das Ausstrahlungspotential eines vermeintlich nur aus einfachen Ratgeberliteraturen bekannten Begriffs. Der Auftakt des Essays ist Thomas Manns berühmter Romanfigur Gustav von Aschenbach aus Der Tod in Venedig gewidmet, genauer seiner spezifischen Gebärde, der geöffneten Hand, die er sich im Verlauf seines morbiden Aufenthaltes in Venedig aneignet, bis sich der alternde Künstler nach und nach seinen Neigungen gegenüber dem von ihm begehrten Tad-



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zio – zumindest in Gedanken – hingibt und sich schließlich im erotischdionysisch konnotierten Rausch verliert. Strässle fokussiert Aschenbachs »Gelassenheit als Gebärde« (9), die in der Tat eine einprägsame Geste ist, sofern die geöffnete Hand symbolisch dem Prinzip der geschlossenen Hand, dem disziplinierten Leben und Schaffen des anfangs von Selbstzucht und Durchhaltevermögen geprägten Künstlers, gegenübersteht. Doch drängt sich hierbei bereits die Frage auf, ob Aschenbachs erotische Todes-Reise tatsächlich treffend mit einem Konzept von Gelassenheit in Verbindung zu bringen ist. Denn er scheint offensichtlich eher ein SichGehen-Lassen und eine selbstprovozierte Selbstauflösung im Rahmen einer Todessehnsucht vorzustellen denn eine Haltung der Gelassenheit im engeren Sinne, die eine Souveränität und Gemütsruhe impliziert, an der es Aschenbach gerade mangelt. Schon an diesem einführenden Beispiel wird deutlich, dass Strässle die Gelassenheit teilweise in einem sehr weiten Sinn begreift. Auf ein klassisches Verständnis von Gelassenheit kommt Strässle indes in Kapitel V »Um Gottes willen« (35 ff.) zu sprechen, wo er die Ursprünge der Gelassenheit als mystischen Begriff bei Meister Eckhart, Heinrich Seuse und Johannes Tauler skizziert, nachdem er im zweiten, dritten und vierten Kapitel über die Konjunktur der Gelassenheit, dem »Sehnsuchtsbegriff der Gegenwart« (13), wie er verallgemeinernd festhält, in unserer Gesellschaft räsoniert. Dabei zieht er hinführend Synonyme (Gemütsruhe, Unerschütterlichkeit u.  a.) und Antonyme (Besessenheit, Verbissenheit, Zerstreuung u. a., vgl. 27) zur Annäherung an ein ehrwürdiges deutsches Wort bei, die manchmal kontrastiv erhellend, manchmal aber auch ausufernd wirken und eine Unschärfe der Begrifflichkeit nicht immer vermeiden helfen; dafür sind sie nützlich, um den Begriff für eine literaturwissenschaftliche Perspektive großflächig zu öffnen. Nebenbei bemerkt ist das deutsche Wort per se nur schwerlich in andere Sprachen zu übersetzen. Gelassenheit meint ursprünglich nicht nur die »Abwesenheit von Unruhe, Erregung, Überforderung, Stress« (15), sondern gemäß Meister Eckhart ein Lassen von allen weltlichen Dingen, sogar von Gott (»daz er got durch got lâze«, 39), um eine Vereinigung mit ihm zu erreichen (unio mystica, vgl. 35). Sie kann als »Handlung (gelassen haben bzw. lassen)« und als »Haltung (gelassen sein bzw. gelassen werden)« verstanden werden (38). Der Begriff impliziert dabei immer eine aktive und eine passive Seite (aktives Lassen und passives gelassen Werden, vgl. 28), eine Abwendung und zugleich eine Hinwendung zu sich, ein gelâzen hân, um gelâzen zu sîn (vgl. 37 f., 41, 43). Das im Begriff »Gelassenheit« implizierte Lassen kann schließlich dreierlei meinen: ein »ablassen, zulassen und überlassen« (21). Letztlich bewegt sich der Begriff im »Spannungsfeld von erstrebenswer-

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tem Gleichmut und bedenklicher Gleichgültigkeit« (24), wo er zwischen diesen Extremen – ganz aristotelisch, wie man hinzufügen könnte – mittig zu positionieren ist. Auch auf die Gefahren einer übersteigerten Gelassenheit, das sind Antriebslosigkeit oder Teilnahmslosigkeit (vgl. 57), die Strässle als »unkluge Gelassenheiten« (57) und – mit Helmut Lethen, den er nicht nennt – als »Verhaltensformen der Kälte« (57) bezeichnet, was man heute wohl als Pseudo-Coolness abhandeln würde, wird eingegangen, indem sie mit der Herzzentrierung der Stürmer und Dränger und deren Kritik an den gleichgültigen Philistern und damit auch an der Gelassenheit kontrastiert wird, vorgeführt einerseits am Beispiel des gelassenen Albert und andererseits anhand des vor Empfindung glühenden, allzu ungelassenen Werther in Goethes Die Leiden des jungen Werthers (vgl. 62 f.) sowie des teuflischen Mephisto mit seiner »zynische[n] Gelassenheit« (71) im Faust. Dass man Albert und Mephisto vielleicht nicht unbedingt als Figuren der Gelassenheit auf Anhieb erkennt, zeigt erneut, in welcher gedanklichen Breite der Begriff von Strässle auf literarische Beispiele bezogen wird. Nicht unerwähnt sollen die Ausführungen zur »vornehme[n] Gelassenheit« (87) des freien Geistes bei Nietzsche bleiben, der eine perfekte Affekt- und Tugendbeherrschung impliziert und den Perspektivismus des philosophischen ›Umwerters der Werte‹ untermauert. Wie viel Einsamkeit der gelassene Mensch und welche Muße-Orte er benötigt, wäre dabei noch zu eruieren. Die Verbindung zwischen Gelassenheit und bestimmten Zeitkonzepten ist bemerkenswert: etwa dem Zeitmodell der berühmten Allegorie der Nacht, die eine erfüllte Zeit im Gegensatz zur erinnerten Zeit der Quellen in Mörikes Um Mitternacht von 1828 (vgl. 97 f.) darstellt. Daran anschließend ist die Interpretation von Robert Walsers Gelassenheit-Gedicht von 1899 gelungen, das ein ironisch-lockeres Verhältnis zur Zeit erkennen lässt (»Seit ich mich der Zeit ergeben,  /  fühl ich etwas in mir leben«, Vers 1 und 2, 101) und sich dem Nervositätsdiskurs der Jahrhundertwende entgegenstellt. Ästhetisch für die Bühne aufbereitet sieht Strässle die Gelassenheit im Anschluss an Schopenhauers Unterscheidung der Welt als Wille und Vorstellung, wenn der Schauspieler in der Reflexionsphase – sozusagen als sein eigener Zuschauer – gelassen die Bühne aus der Distanz betrachtet (vgl. 77), was ihm eine »entfremdete Teilnahme« (78) ermögliche. Weswegen Strässle diese Form der Gelassenheit im vierten Akt ansiedelt (vgl. 78), ist nicht ganz einsichtig, könnte man beispielsweise im Blick auf ›Märty­ rerdramen‹ die gelassene, erhabene Haltung auch im fünften Akt des klas-



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sischen Dramas beheimatet sehen.Wie ein solches ›Pathos der Distanz‹ bei gleichzeitiger Teilnahme am Geschehen für die dramatischen Figuren selbst bezeichnend sein kann – man denke nur an eine Figur wie Danton in Büchners Dantons Tod – könnte indes um manches aufschlussreicher für eine Auslotung des Gelassenheit-Konzepts im Drama sein als die Betrachtung des Schauspielers im Zuschauerraum. In Goethes Gretchen sieht Strässle schließlich die »Selbstaufhebung des Willens« (81) verwirklicht, die er als gelassene Haltung begreift. Allerdings schlägt der (vielleicht doch nur scheinbar) ›Gelassenen‹ dabei – neben der Erlösungsglocke – auch die Todesglocke im zudem verwirrten Zustand. Dass Kunst und Ästhetik, v. a. die ›gelassene‹ Betrachtung von Kunst überhaupt viel mit der Verneinung des Willens und damit auch mit einer Haltung von Gelassenheit zu tun hat, deutet er leider nur in aller Kürze an (vgl. 81). Das Thema Gelassenheit und Technik bei Heidegger und Sloterdijks Ausführungen zur »Passivitätskompetenz« (Du musst Dein Leben ändern, 2009) runden den Essay ab. Indem man die Dinge lässt, kann man mit Heidegger nur hoffen, von ihnen gelassen zu werden (vgl. 114). Und das Etwas-Mit-Sich-Machen-Lassen soll nach Sloterdijk immer noch eine Kompetenz des Umgangs mit vielen Fremdkompetenzen darstellen, ein Teil der Selbstsorge, die zwischen willkommenen und unwillkommenen Passivitäten unterscheidet und sogar ein Aktivitäts- und Passivitäts-Kalkül ermöglicht (vgl. 121 ff.). Ob sich eine gelassene Haltung allerdings so leicht berechnen oder antrainieren lässt, scheint fraglich, auch, ob wir – woran Strässle nicht zu zweifeln scheint – tatsächlich bereits in einer »Gelassenheitsgesellschaft« (123) leben und die Gelassenheit deshalb derart fasziniere. Es scheint eher der Mangel an Gelassenheit und der Rest an Unverfügbarkeit des Gelassenheit-Ereignisses – mit den Mystikern gedacht – ihren Zauber zu begründen. Obgleich die kleine Abhandlung zum Thema »Gelassenheit« an sich viel Beachtung verdient und das Büchlein viele, auch zeitgemäße und anregende Überlegungen enthält, wirken die Beispiele aus dem Bereich der Literatur teilweise aufgesetzt oder über die Gelassenheit hinausweisend, wie schon mit Blick auf Der Tod in Venedig eingangs festgehalten. Kellers Novelle von den Drei gerechten Kammachern (vgl. 29 ff.) scheint mit dem Nachweis einer »listige[n] Gelassenheit« (32) auch weniger für eine Demonstration des einzigartigen, deutschen Begriffs geeignet als eine Fokussierung kluger Taktiken. Doch klingen interessante und ausbaufähige Zusammenhänge an, wenn man denn wissenschaftlich tiefer in die Thematik eindringen möchte, etwa zwischen Gelassenheit und diversen Zeitkonzepten, zwischen der Gelassenheit und einer eigenen Dramaturgie, eventuell auch Bezüge zur Raumtheorie und Ästhetik. Eine Brücke zur antiken

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Philosophie und zu den Konzepten der ataraxia der Epikureer und der Apathie der Stoiker sowie zu buddhistischen Ideen wäre noch reizvoll gewesen. Das einladende Nachdenken über die Gelassenheit und die damit einhergehende Nobilitierung eines wichtigen (besonders mystischen, lebensphilosophischen und literarisch interessanten) Begriffs und einer besonders faszinierenden Haltung zur Welt mit ihren unterschiedlichen Aspekten spricht an sich für den Verfasser, der mit den Muße-Kundigen unserer Tage der neueren Form der Coolness, die er übrigens auch gar nicht erwähnt, ein zurückliegendes Ideal voll Scharfsinn in Erinnerung ruft. Gabriela Wacker, Tübingen Rudolf Bader, Anja Schwarz (Hgg.), Australian, New Zealand and Pacific Literatures [Postcolonial Literatures in English, Sources and Resources, vol. 2], Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2012, ix + 282 S. This encompassing reader submits 77 excerpts from relevant texts bearing on the cultures and literatures of Australia, New Zealand and the Pacific Islands. The texts are meant »to provide European readers with a useful background of contexts and basic information«. The editors promise to offer »the first attempt of its kind dealing with this entire region«, and this is indeed one of the hugest regions on the globe, and a huge task to boot. The attached map of Micronesia, Melanesia, and Polynesia positions Australia and New Zealand in close geographical proximity to the Pacific (cf. 9), gathering together hitherto disregarded cultural links. The I. Histories section (19–61) contains texts dealing with the major discoveries made in the Southern Hemisphere since the 18th century. A useful survey is given by Rod Edmund’s contribution Representing the South Pacific: Colonial Discourse from Cook to Gauguin (1997), using the ›vacancy of otherness‹ as an important key phrase (cf. 20). Equally eyeopening is Paul Longley Arthur’s Capturing the Antipodies: Imaginary Voyages and the Romantic Imagination (2001). The anonymous historical document Festival on Blue Island (1797) and the excerpt from Louis Antoine de Bougainville’s A Voyage Round the World (1772) regale us with vivid and lush descriptions of the habits of indigenous people in New Zealand and Tahiti. Joseph Bank’s recommendation of Botany Bay as a site for a convict colony, on the other hand, is more down to earth, foreshadowing as it does British colonial settlement in Australia. – Excerpts relating to crucial and frequently debated issues in Australian and New Zealand history are the two following. Gavin Souter’s Gallipoli supplies



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needful information about Australia’s and New Zealand’s involvement in World War I. Statistical figures of shocking casualties are given, and the role of the Gallipoli legend, in which self-sacrifice emerges as a new virtue, is also evaluated in hindsight. Hirini Moko Mead critically analyses The Treaty of Waitangi of 1840, which is perhaps one of the most crucial documents in New Zealand’s social and political history. This treaty is perceived from both the British and Maori side, relating to the debated question as to whether a real partnership between Maori and Pakeha was envisaged. – Brian Kiernan’s Australia’s Postcoloniality discusses the influence of postcolonial theory on Australian literary discourse and writing practice. The reader may also appreciate the inclusion of the texts of Kevin Rudd’s two famous apology speeches (53–57). One of the most illuminating texts in this section is Ben Finney’s Myth, Experiment, and the Reinvention of Polynesian Voyaging, an account that deals with a test in experimental archaeology based on a voyage from Hawaii to New Zealand on ›Hokule’a‹ (a replica of a Polynesian double-hulled voyaging canoe). The II. Identities unit (63–114) focuses on the problem of how the inhabitants of Australia, New Zealand and the Pacific Islands have attempted to work out and define their respective identities. Brian Elliott delves into the imitation of English romantic poetry by 19th century Australian poets (63–67), whereas David Carter throws light on the durable ›Britishness and Englishness‹ in Australian culture (67–70). The ›Englishness‹ is also reflected in John Hirst’s essay on Egalitarianism (1988). Here we learn that »the social distinction most readily available to the spiralling colonist was that of becoming a gentleman« (71). Epeli Hau’ofa in Our Sea of Islands widens the scope by suggesting that the convenient term Pacific Islands (often used in political and economic contexts) should be replaced by the more agreeable designation »Oceania«. The latter is meant to connote a sea of islands with their inhabitants: »The world of our ancestors was a large sea full of places to explore, to make their homes in, to breed generations of seafarers like themselves. People raised in this environment were at home with the sea« (77). – A useful analysis of the complexity of Maori culture is given by Tracey McIntosh (2003) in Maori Identities: Fixed, Fluid, Forced, the predominant question being whether there are a number of fixed elements that constitute Maori identity. The category of ›fluid identity‹ is preferred as the latter also considers the Maoris’ social environment (80). A further stimulating contribution is Haunani-Kay Trask in Pacific Island Women and White Feminism, showing that Pacific Island women seek collective rather than individual selfdetermination. – A revealing essay on the cultural differences between Australia and New Zealand is Tara Brabazon’s Single Bilingual: Bicultural-

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ism, Multiculturalism and Identity Questions. New Zealand’s biculturalism is contrasted with Australian multiculturalism: »The bicultural structure and policy is still circumscribing New Zealand’s immigration choices« (93). The cruel discrimination inflicted on the Australian Aborigines is tellingly presented in Jonathan King’s Australia for the White Man …: Eliminating the Aborigines through Massacre, Poisoned Handouts and Drink. The parameters and problems of Aboriginal writing are examined by Anita M. Heiss (99–103) and Jack Davis et al. (103–105). More extensively postcolonial fiction from the Pacific is highlighted in Sandra Tawake’s Transforming the Insider-Outsider Perspective. Here major authors are referred to such as Albert Wendt (Samoan) and the Maori writers Patricia Grace, Witi Ihimaera and Keri Hulme. Recent works by Alan Duff, Sia Figiel, Witi Ihimaera, and John Pule are said to »raise modern issues of contested identities« (111). The III. Language miscellany (115–154) furnishes specified information about the use of English and / or Indigenous languages in Australia and Oceania. In regard to Australia the following documents should be noted: Struggling with an Imperial Language by Chris Wallace-Crabbe, Australian Language by Nancy Keesing, English in Australia – Australian English by Gerhard Leitner. The Aboriginal languages are competently surveyed by Barry J. Blake, Australian Aboriginal Languages: A General Introduction (1981), and Colin Yallop, The Language of Australian Aborigines (1982). The latter essay states deploringly: »Australia as a whole has, by and large, failed to take account of Aboriginal views and failed to profit from Aboriginal insights. We have used Aborigines as trackers and stockmen […]; yet we have often ignored the Aborigines who were linguistically and culturally skilled in their own societies« (129). Michelle Keown’s article Orality, Textuality, and Memory: The Language of Pacific Literatures (2007) is highly informative maintaining: »[The Pacific is one of the] most linguistically complex regions in the world. Over 1,200 distinct vernaculars […] are spoken in the region. Most Pacific languages belong to the Austronesian language family deriving from a single ancestral language dating back around 5,000 years« (133). The compelling importance of orality in the Pacific literatures is contemplated in Epeli Hau’ofa’s memoir: »Pacific people still maintain to a large albeit declining degree their ancient oral skills« (141). The survival of the Maori language in Aotearoa is deliberated in three further excerpts, one of which also touches upon the role of the media (cf. 43, 44, 45). The IV. Education conglomerate (155–188) propounds special arguments and surveys concerning educational policies in the various regions under consideration. Linda T. Smith’s Maori Education – a Reassertion



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deserves special awareness because it explicates the Kohanga Reo project, as does Elizabeth Rata’s Maori Language Survival and New Zealand Education (2005), pleading for Maori language revitalisation within the school system. The conflict between globalised views and indigenous perspectives in education is examined in Konai Helu Thalman’s programmatic extract Decolonising Pacific Studies: Indigenous Perspectives, Knowledge and Wisdom in Higher Education (2003). The V. Movements and Genres selections deal with the themes of traditionalism and modernism in Australia and Oceania. Brian Elliott’s arguments about The Jindyworobaks, Noman Bartlett’s essay Meliorating Modernism: Australia and the Humanist Tradition, Julian Croft’s Responses to Modernisn, 1915–1965, and G. A. Wilkes’ Reflections on the Canon reflect noteworthy observations on 20th century Australian literature. Albert Wendt’s Towards a New Oceania is a groundbreaking programmatic piece of writing: »We must rediscover and reaffirm our faith in the vitality of our past, our cultures, our dead, so that we may develop our own unique eyes, voices, muscles and imagination« (206). Ian Wedde’s anthology The Penguin Book of New Zealand Verse (1985) is controversially discussed by C. K. Stead, Jonathan Lamb, Terry Sturm, and Maori writers Hirini Moko Mead, Keri Hulme and Trixie Te Arama Menzies. In 2003, Chris Prentice with Critical Transformations: New Zealand Literary and Cultural Studies points to new trends in New Zealand: »One means of characterising the growth and transformation in New Zealand literature is to suggest that it has developed a ›cultural studies‹ method or approach. At the same time, cultural studies as an interdisciplinary field is gaining increasing foothold in New Zealand universities« (224). The VI. Transcultural Perspectives subdivision envisages pragmatic topics like censorship, writers’ incomes, grants and sponsorships for writers. For writers, the funding is essential because they cannot live on publishers’ royalties. As far as Australia is concerned, the success of literary fund policies has produced a strong base for the Australian literary community. – The special problem of the relationship between an indigenous writer and non-indigenous editor is analysed in Margaret McDonnell, Protocols, Political Correctness and Discomfort Zones: Indigenous Life Writing and Non-Indigenous Editing. Helen Lee instances Pacific Migration and Trans-Nationalism: Historical Perspectives as another important topic. She shows that in the Pacific there is a wide-spread mobility. Many islanders have attempted to go to New Zealand, and to Australia as well. A new term is proposed: the new Polynesian triangle. The Internet has become very important for the Pacific islanders. Although they are scattered across the globe they share information and create and maintain

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transnational networks. Michelle Keown for her part focuses on the Pacific Diasporas. According to her, the 2001 census in New Zealand has figured out that 231 801 people in New Zealand are of Pacific Island ethnicity (cf. 249). Maori writer Patricia Grace for her part has also celebrated pan-Polynesian cultural affiliations. Ranginui Walker’s extract Being Polynesian (1982) explains further: »Although the island communities of the Polynesian triangle have been separated for a thousand years, the ethnic, linguistic and cultural activities are such that they recognize each other as whanaunga (cousins)« (253). In retrospect, it should not be forgotten that the title page indicates that Gerhard Stilz has also contributed to this book, however, details are unfortunately not given. The editors Bader and Schwarz demonstrate ample familiarity with the cultures and literatures they focus on. They create a high profile in exposing many aspects which are worth considering. Their book is based on comprehensive and circumspect critical research. It is to the credit of this volume that it can be used by students and general readers alike. The introduction is instructive, providing a plethora of information but showing also an awareness of the debatable points that might be prompted by the extracts. When trawling through the variety of documents, one appreciates the knowledgeable introductory remarks to each selected text, whose background is briefly explicated. In this way a sense of thematic coherence in diversity is gradually emerging. The latter is a bonus for both expert and proselyte in the domain of the New Literatures in English. Norbert H. Platz, Trier Canadian Literatures. Edited and Introduced by Konrad Gross and Jutta Zimmermann [Postcolonial Literatures in English. Sources and Resources, IV], Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2012, 254 S.  »Or, ’ Tis Twenty Five-Years Since«. So könnte in Abwandlung von Sir Walter Scotts seinem Roman Waverley (1814) vorangestellten Motto der Leitspruch für die vorliegende Textsammlung lauten. Wie die beiden Herausgeber in der Einleitung betonen, schreibt Canadian Literatures einen 1987 von Konrad Gross und Walter Pache unter dem Titel Grundlagen zur Literatur in englischer Sprache: Kanada vorgelegten Sammelband ähnlichen Zuschnitts, nunmehr in englischer Sprache, fort. Seinerseits singularisch formuliert, verweist bereits der jetzt im Plural gefasste Titel auf die Änderungen und Wandlungen, die die akademische, das heißt u. a. geschichts,- politik-, wirtschafts,- sozial- und geisteswissenschaftliche, aber auch kulturelle und literarische Auseinandersetzung mit Kanada in den



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letzten zweieinhalb Dekaden geprägt haben. Die entsprechenden Paradigmenwechsel werden vornehmlich in der Wahrnehmung einer in seiner Ausdifferenzierung viel deutlicher erkannten Befindlichkeit eines Landes reflektiert, dessen Gegenwart von einem immigrationsbedingt ungemein breitgefächerten ethnischen Spektrum bestimmt wird und dem folgerichtig auch in seinen kulturellen Ausdrucksformen das Signum der Vielfalt zuzusprechen ist. Insofern ist es nur konsequent, wenn nicht mehr von Literatur, sondern Literatures die Rede ist. Konrad Gross und Jutta Zimmermann versammeln in ihrem Band neben einer 19-seitigen Einleitung insgesamt 65 Werke – größtenteils in Auszügen –, die einer Anordnung folgen, deren Systematik von den Reihenherausgebern vorgegeben war und als Gliederungsschema auch die Anlage der anderen fünf Bände der Serie Postcolonial Literatures in English strukturiert. Entsprechend widmen sich die sechs Textsektionen den Themenfeldern »Histories«, «Identities«, »Language«, »Education«, »Move­ ments and Genres« sowie »Transcultural Perspectives«. Eine derartige, inhaltlich motivierte Festlegung von Schwerpunkten macht eine Zusammenschau ganz verschiedener pragmatischer wie ästhetischer Texte in deren unterschiedlichen Gattungszuweisungen und damit auch die Einbeziehung multipler Stimmen unverzichtbar. Die Werkauswahl ist ausgewogen und wird von den Herausgebern für die Leserschaft nachvollziehbar begründet. Vertreter des indigenen Kanada oder asiatischer Herkunft kommen ebenso zu Wort wie repräsentative anglo- und frankophone Autoren und Kritiker oder akademisch und künstlerisch tätige Repräsentanten aus den verschiedenen Zuwanderungsgruppen der jüngeren Immigrationsgeschichte. Zugleich durchbricht diese Form der Textorganisation immer wieder lineare chronologische Muster, ohne die zeitlichen Kontexte zu vernachlässigen. Einschlägige Fußnoten kommentieren die jeweiligen Werke. Ergänzt wird Canadian Literatures um weiterführende Lektürehinweise und einen hilfreichen Index. Dieser umfasst Namen, politische, historische und literarische Referenzen. Wenn der zweite Themenkomplex »Identities« die größte Anzahl von Werken (22) enthält, kann dies insofern kaum wunder nehmen, als – historisch bedingt – die Selbstbestimmung Kanadas so divergente Erklärungsmodelle wie (pankanadischer) Nationalstaat, Bikulturalität, Multikulturalität oder neuerdings Transkulturalität umfaßt, mithin also auf Varianten der Selbstwahrnehmung hindeutet, die vor allem den demographischen und politischen Veränderungen geschuldet sind. Besonders erwähnenswert erscheint dem Rezensenten auch der letzte Abschnitt des Sammelwerkes, wird hier doch die Rezeptionsgeschichte der kanadischen Literaturen revueartig skizziert, was die partiell metatextliche Qualität bzw. den gele-

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gentlich pointiert selbstreflexiven Charakter des vorliegenden Bandes noch einmal akzentuiert. Für die mit den Literaturen, aber auch mit der Entwicklungsgeschichte Kanadas weniger vertraute Leserschaft erweist sich vor allem das einleitende Kapitel als ungemein gewinnbringend. Abgesehen von der gleich eingangs problematisierten, mittlerweile schon länger andauernden Debatte über die Zulässigkeit, Kanada unter dem Etikett »postcolonial« rubrizieren zu dürfen, bietet die »Introduction« eine komprimiert-konzise, an Eckdaten und Schwellenereignissen historischer, ökonomischer, (gesellschafts)politischer, aber auch kulturprägender Art orientierte Darstellung des territorial nach Rußland zweitgrößten Landes der Erde. Dabei fällt der Blick auf die Tage seiner indigenen Vergangenheit, die ersten Kontakte zwischen eingeborener Bevölkerung, europäischen Entdeckern und Kolonisatoren, die folgenden Konflikte zwischen den frankophonen und anglophonen Siedlergesellschaften, die Etablierung des Dominion (1867) und abschließend die multiethnische Gegenwart des offiziell bilingualen Landes nördlich des 49. Breitengrades. Innerhalb dieses breit abgesteckten Rahmens werden auch die nachfolgend abgedruckten Texte benannt und in ihrer Relevanz knapp skizziert, während dann den eigentlichen Werkauszügen lediglich ein Quellenverweis und ein Kurzportrait der Verfasser vorangestellt sind. Es empfiehlt sich also, im Sinne einer Ausweitung des Verstehenshorizonts bei der Textlektüre auch immer wieder die Einleitung zu konsultieren. Wenn nicht unbedingt alle entwicklungs-, bevölkerungs-, kultur- und literaturgeschichtlich relevanten historischen Daten und Ereignisse aufgeführt sind, ist dies auf die Notwendigkeit der Selektion zurückzuführen. So fehlen etwa Hinweise auf die für das kulturelle Selbstverständnis Kanadas signifikante Gründung der Canadian Broadcasting Corporation (1936), die Bedeutung des Massey Report (1951) für die kulturelle Selbstwahrnehmung Kanadas oder die Einrichtung des gerade für die kanadischen Künstler und Schriftsteller so wegweisenden Canada Council (1957). Ebenso könnte man einen Verweis auf die Repatriierung der kanadischen Verfassung im Jahr 1982 und die sich daraus ergebenden staatsrechtlichen Konsequenzen vermissen. Dies sind freilich keine Monita, sondern lediglich Petitessen, die daran erinnern sollen, wie arbiträr die Auswahl von (repräsentativen) Daten ist, vor allem aber auch, wie ambitioniert es ist, eine solche Textsammlung zu kompilieren und zu kommentieren. Letzteres ist den beiden Herausgebern in bemerkenswerter Manier gelungen. Der Band macht seine Leserinnen und Leser nicht nur auf sehr differenzierte Weise mit den Literaturen und Kulturen Kanadas sowie den sie begleitenden akademischen Diskursen vertraut, sondern spiegelt, wie



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von den Reihenherausgebern gewünscht, auch die Entwicklung und die Paradigmenwechsel im Bereich der Postcolonial Studies wider. Er wird Studierenden der Kanadistik und einer an Kanada interessierten Leserschaft nachdrücklich zur Lektüre empfohlen. Wolfgang Klooß, Trier Die Wahlverwandtschaften. Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808–1832. Reprint der Erstausgabe mit neuen Funden als Anhang. Herausgegeben von Heinz Härtl [Schriften der Goethe-Gesellschaft 76], Göttingen: Wallstein, 2013, 578 S. Ob es sinnvoll war, nach dreißig Jahren ein Zeugnis ideologiefreien positivistischen Forscherfleißes aus dem Akademie Verlag der DDR noch einmal als Reprint herauszugeben? Die einschlägigen Fachbibliotheken hatten sich diese nützliche Dokumentation zur frühen Rezeption von Goethes Wahlverwandtschaften damals in der westdeutschen Lizenzausgabe angeschafft, sie werden sie kaum noch einmal ankaufen. Doch der Wallstein Verlag, der mit seinen ästhetisch anspruchsvoll ausgestatteten Büchern auf ein breiteres Publikum zielt, hat auch in diesem Fall an der Ausstattung nicht gespart. So ist aus dem griesegrauen DDR-Buch ein leserfreundliches Werk auf gelb getöntem Papier, rotem Einband und Neugier anreizendem Schutzumschlag, mit den 17 diesmal gestochen scharfen Illustrationen auf Hochglanzpapier und mit einem Anhang mit weiteren Rezeptionszeugnissen entstanden, würdig, in die Reihe der Schriften der Goethe-Gesellschaft aufgenommen zu werden. Auf kurze Vorworte des Präsidenten der Goethe-Gesellschaft und des Herausgebers zur Neuausgabe folgt der Reprint mit Verzeichnis der einzelnen Dokumente, dem alten Vorwort des Herausgebers, sodann, in zeitlicher Folge, die Texte (29–379), insgesamt 568 Nummern im Zeitraum 1808 von der ersten Erwähnung des Werkes bei Goethe bis zu Mörikes Bezugnahme auf die Wahlverwandtschaften im Maler Nolten 1832. Im dazu gehörigen Anhang erläutert Härtl die Prinzipien der Textdarbietung, bringt ein Verzeichnis der ausgewerteten Literatur und einen umfangreichen Kommentar zu den einzelnen Texten (387–453), dazu ein gesondertes Verzeichnis der abgedruckten Rezensionen und Aufsätze, ein Verzeichnis der Bildquellen und ein Personenregister (456–474). Auf den Abbildungsteil mit den Illustrationen zu frühen Ausgaben der Wahlverwandtschaften folgen schließlich die Ergänzungen zur Ausgabe von 1983 nach dem gleichen Muster (493–563). Über Ziel und Vorgehensweise des Herausgebers gibt die Vorrede zur Ausgabe von 1983 Auskunft. Vorrangiges Ziel sei, die zeitgenössische

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Wirkung des Romans »so authentisch wie möglich« in einer Dokumentation zu erfassen und darzustellen. Gerade dieser Roman eigne sich dazu vergleichsweise besonders gut, weil es hier zu einer Vielzahl von Äußerungen über einen längeren Zeitraum gekommen sei. Härtl kann zeigen, dass die Meinung, Goethe habe sein Werk »in olympischer Distanz zur Mitwelt an eine ferne Nachwelt« adressiert, angesichts der Fülle der Rezeptionszeugnisse für die Wahlverwandtschaften nicht zutreffe, im Gegenteil: Goethe selbst habe die Rezeption des Romans bis zu seinem Tod aufmerksam verfolgt und durch eigene Äußerungen die Meinungsbildung stimuliert. Methodisch konsequent legt Härtl seiner Dokumentation eine »weite Auffassung von Wirkungsäußerungen« zugrunde. Da fast alle bekannten und weniger bekannten Autoren und Gruppenbildungen des Zeitraums mit ihren Urteilen in seiner Dokumentation vertreten sind, kann Härtl zu Recht von einem »gewichtigen Beitrag zu einer Literatursoziologie der Epoche von 1808–1830« sprechen. Allerdings fehlen die übernationalen Rezeptionszeugnisse, wie Härtl einräumt, ein Manko, das er auch in der erweiterten Neuausgabe nicht hat beseitigen können. Auf eine zusammenfassende inhaltliche Auswertung der 586 Rezeptionszeugnisse der ersten Ausgabe und der weiteren 90 in der Neuausgabe hat Härtl verzichtet. So muss sich der Leser selbst klar machen, aus welchen inhaltlichen Gründen es zu der starken Anteilnahme an diesem goetheschen Werk gekommen ist: Lag es am verstörenden naturwissenschaftlichen Blick auf die Phänomene von Liebe und Ehe, an der neuen Ehescheidungsgesetzgebung, an dem im Roman vorweggenommenen Gegenspiel Schopenhauers von Lebenswillen und Entsagungsreligiosität, die im Roman in ästhetischer Überhöhung zur Darstellung kommt? Härtl äußert sich dazu auch im Vorwort der Neuausgabe nicht. Aber seine Dokumentation ist so gesehen auch ein überaus unterhaltsames Lesebuch über die konträren alten und die neuen nachrevolutionären Natur-, Schicksals- und Moralvorstellungen der damaligen Leserschaft. Auffällig ist der große Anteil von Goethes Einlassungen: Ein Viertel aller 676 Dokumente stammt von ihm. Sie dominieren die Jahre 1808 und 1809: Tagebucheinträge, sorgsame Vorbereitung befreundeter Leser und Leserinnen durch Selbstanzeige und briefliche Ankündigungen, Informa­ tionen über den Stand des Schreibprozesses, während schon die ersten Druckbögen korrigiert und zur Lektüre überlassen werden, nach Erscheinen des Romans zur Michaelismesse Ende September 1809 dann seine (vergebliche) Bemühung um einen ihm genehmen Rezensenten, seine Enttäuschung über die wohlmeinende Rezension von J. F. Delbrück (in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung), der zu Goethes Missfallen einen Bezug seines Romans zur Liebesauffassung des Novalis herbeizitiert



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hatte, aber auch seine Befriedigung über die einfühlsame Besprechung von B. R. Abeken (in Cottas Morgenblatt für die gebildeten Stände). Auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten hat Goethe die sehr unterschied­ lichen Urteile über seinen Roman aufmerksam verfolgt, wie insbesondere die Briefe an seine Freunde Zelter und v. Reinhard zeigen. Als 1826 Solgers nachgelassene Schriften mit dessen Besprechung der Wahlverwandtschaften von 1809 erscheinen, reagiert er hocherfreut. Gegenüber Freund Zelter resümiert der alte Herr am 29.1.1830 dann den hin und her wogenden Streit um den Roman: … es stehen zwey Partheyen gegen einander, zwey Vorstellungsarten, die sich im Einzelnen bestreiten, weil sie sich im Ganzen beseitigen möchten. Wir kämpfen für die Vollkommenheit eines Kunstwerkes, in und an sich selbst; jene denken an dessen Wirkung nach außen, um welche sich der wahre Künstler gar nicht bekümmert, so wenig als die Natur wenn sie einen Löwen oder einen Colibri hervorbringt.

Er habe im Roman »die innige wahre Katharsis so rein und vollkommen als möglich abzuschließen« sich bemüht, bilde sich aber nicht ein, »irgend ein hübscher Mann könne dadurch von dem Gelüst nach eines Andern Weib zu blicken gereinigt werden«. Das sechste Gebot aufrecht zu erhalten, werde auch künftig nötig sein. Für die Eigengesetzlichkeit der Kunst beruft er sich auf Kant: Es ist ein gränzenloses Verdienst unseres alten Kant um die Welt, und ich darf sagen auch um mich, daß er, in seiner »Kritik der Urteilskraft«, Kunst und Natur kräftig nebeneinander stellt und beiden das Recht zugesteht: aus großen Principien zwecklos zu handeln. … Natur und Kunst sind zu groß um auf Zwecke auszugehen, und haben’s auch nicht nötig, denn Bezüge giebt’s überall und Bezüge sind das Leben.

Als Zelter ihn 1831 auf die »bleischwere« Verurteilung von Goethes angeblicher »Afterkunst« durch die Berliner Evangelische Kirchen-Zeitung aufmerksam macht, antwortet er nur: »Die Frömmler habe ich von jeher verwünscht, die Berliner, so wie ich sie kenne, durchaus verflucht, und daher ist es billig, daß sie mich in ihrem Sprengel in den Bann thun«. Die Kritik der Moralapostel am Roman war von Anfang an heftig. Für Friedrich Heinrich Jacobi, den alten Freund, waren die Wahlverwandtschaften ein schweres »Aergerniß«, insbesondere der »doppelte Ehebruch durch Phantasie«. Das Werk sei »durch und durch materialistisch« bzw. »rein physiologisch«, empörend schließlich »die Himmelfahrt der bösen Lust«. Ähnlich urteilen Johann Nepomuk Ringseis, Ignaz Heinrich von Wessenberg, Maler Müller, Wolfgang Menzel. Selbst Wilhelm von Humboldt äußert Vorbehalte. Der alte Wieland fand das Sujet degoutant und

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eines Romans unwürdig. Der Journalist Karl August Böttiger, der zunächst Stimmen gesammelt hatte, veröffentlichte eine süffisante Inhaltsangabe des Romans, die er mit Hinweisen auf entsprechende Rezensionen rechtfertigte. Die junge Generation schwankte zwischen Bewunderung (Zacharias Werner, Tieck, Friedrich Karl v. Savigny, Jacob Grimm, Bettine Brentano) und Ablehnung (Wilhelm Grimm, Friedrich Schlegel, Dorothea Schlegel, Achim von Arnim, Clemens Brentano). Werner schrieb sogar aus Rom an Goethe, dass Ottiliens Entsagung ihm den letzten Anstoß zu seiner Konversion zur katholischen Kirche gegeben habe. Wenngleich die Diskussion um den Roman von Männern dominiert wird, so ist der Anteil der Frauen als begierigen Romanleserinnen mit 74 Wortmeldungen (11 %) beachtlich. Der urteilssicheren Therese Huber und der schwärmerischen Goethe-Verehrerin Bettine Brentano, die als Luciane wiedererkannt werden will (was Goethe ärgerte), sowie der scharfsinnigen Madame de Stael stehen auch hier die Moralistinnen gegenüber: Friederike Helene Unger, Dorothea Schlegel, Pauline Wiesel, Pauline zur LippeDetmold. Härtl hat seine Recherchen mit Goethes Tod beendet. Damit sind die Auseinandersetzungen mit dem Roman aber noch lange nicht beendet. Eichendorff etwa schreibt die inhaltliche Kritik aus christlicher Sicht fort. Friedrich Spielhagen stellt Goethes angeblich »idealistischer« Art der Darstellung in den Wahlverwandtschaften den sehr viel höheren Anspruch an Wahrscheinlichkeit im »realistischen« Roman seiner Zeit gegenüber. Sigmund Freud zieht das von ihm diagnostizierte neurotische Verhalten der Romanfiguren zum Vergleich mit dem von ihm behandelten Verhalten Zwangskranker heran, was neuere psychoanalytische Deutungen insbesondere der Figur der Ottilie (auch gegen Goethe) zur Folge hatte und hat. Thomas Mann orientiert sein Romanschaffen am »Gleichgewicht von Sinnlichkeit und Sittlichkeit«, das er in den Wahlverwandtschaften erkennt. Doch ist es vor allem die formale Verrätselung bei äußerer Stimmigkeit selbst der kleinsten Details, die die professionellen Leser im 20. Jahrhundert beschäftigt hat, was wiederum Goethe nur recht sein dürfte. Dieter Breuer, Aachen René Sternke (Hg.), Böttiger-Lektüren. Die Antike als Schlüssel zur Moderne. Berlin: Akademie Verlag, 2012, XXXIX + 413 S. Auch wenn Sternke in der Einführung sagt, dass »Polyhistors Glück sein Ende gefunden« habe, zeigen schon die Themen der einzelnen Beiträge im Inhaltsverzeichnis die Vielfalt von Böttigers Aspekten seiner For-



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schungen. Durch die Überschrift für Sternkes Einführung »Der Altertumskenner im Garten der Moderne« wird auf Böttigers Verhältnis der Antike zur Moderne, d. h. auf die Rezeption der Antike zum 18. Jahrhundert, hingewiesen. Das vorangestellte Goethe-Zitat »Freunde! kommt in meinen Garten, / Den gefühlten, den modernen« rückt Goethes Verständnis zur Antike und seine Beziehung zu Böttiger ins Blickfeld. Die Rezeption der Antike und ihre Bedeutung für die Moderne ist bei Böttiger und Goethe unterschiedlich und führte zu einer Feindschaft von Seiten Goethes, die auch literarisch ausgetragen wurde und das negative Böttiger-Bild wesentlich mitbestimmte. Dieses wurde zunächst durch Hinweis auf einige Charaktereigenschaften Böttigers begründet. Die abwertende Beurteilung verlagerte sich später von der Person Böttigers auf sein Werk. Anerkannt und positiv bewertet wurde zwar seine Gelehrsamkeit. eingeschränkt jedoch wurde das wiederum durch den inzwischen mit negativem Bedeutungsgehalt behafteten Begriff des Polyhistors. Ausgehend von einer neuen Interpretation und Verwendung dieses Begriffes, nämlich durch Betonung »qualitativer, d. h. inhaltlicher und struktureller Merkmale« unternimmt Sternke eine Aufwertung dieses Begriffs und damit der Beurteilung des Autors Böttiger, den er als »innovativ – multiperspektivisch – extra­ universitär – fragmentarisch – essayistisch« charakterisiert (XXVIII). Damit werde von den Lesern eine neue Art der Lektüre von Böttigers Werk gefordert, die von den Autoren der einzelnen Beiträge dieses Bandes praktiziert wird, so dass konstatiert werden kann: »Alle im vorliegenden Band versammelten Beiträge betreten Neuland«. Aus den einzelnen Aufsätzen werden hier einige ausgewählte Aspekte vorgestellt, die als Ausgangspunkt für eine neue Sicht auf Böttigers Werk und Wirken dienen. Conrad Wiedemann geht von Böttiger als Briefschreiber aus und legt dar, wie unterschiedlich der Wissenschaftler Böttiger und der Künstler Schadow die Aneignung der Antike durch die moderne Kunst verstehen. Klaus Gerlach, der sich auf seine Forschungen über Iffland und das Theater stützen kann, stellt vor, wie Böttigers Theaterkritiken zu einer neuen Bewertung der sich herausbildenden Bürgerkultur führen, die nicht mit dem Biedermeier gleichzusetzen sei. Anders als beim höfischen Theater in Weimar entstehe in Dresden durch Böttigers Kritiken ein »öffentlicher Diskurs«, in den das Publikum mit einbezogen werde. In seiner neuen Sichtweise auf das Theater lege Böttiger den Schwerpunkt auf die Bühnenkunst; er analysiere die Darstellung des Stückes durch die Schauspieler, die er bis in Einzelheiten untersucht und beschreibt; Böttiger bietet so in seinen Besprechungen der Inszenierungen nicht nur Werk-, sondern auch Spielkritik. Bernhard Fischer untersucht den Journalisten Böttiger, der mit seinen Messeberichten in Cottas Allgemeiner Zeitung

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durch literarische, ja poetische Aufwertung in die Nähe des Feuilletons gerät. In diesen Messeberichten schreibe Böttiger nicht nur »eine Art ›catalogue raisonné‹« über Neuerscheinungen von Büchern und über den Buchhandel überhaupt, sondern er biete »Wirtschaftsberichterstattungen« aller Lebensbereiche für einen großen Teil von Europa: »Böttigers großes Thema war die Ausdehnung und Verflechtung des ›Welthandels‹, der sich auf den Leipziger Messen wie in einem Brennpunkt verdichtete« (65). Fischer weist durch Beispiele mit längeren Textpartien aus den Messeberichten nach, dass sie durch die Verbindung von einem Blick auf Weltverkehr und Weltgeschichte mit einer Detailtreue bis hin zu Alltags- und Gebrauchtwaren nicht nur Böttigers Zeitgenossen, sondern auch »dem heutigen Historiker unschätzbares Material für eine Kultur- und Sozialgeschichte der Industrie und des Handels« bieten« (67). Das sollte von der heutigen Forschung unbedingt genutzt werden. Peter Witzmann ediert Böttigers Gelegenheitsgedichte in griechischer Sprache an Johann von Sachsen. Er bietet Übersetzungen und ausführliche Interpretationen sowohl in sprachlicher Hinsicht durch Nachweis der Assoziationen mit der Antike als auch durch Schilderungen der aktuellen historisch-politischen und der privaten Ereignisse der sächsischen Königsfamilie, die den Anlass für die Gedichte bildeten. In Felix Saures Beitrag geht es um den Vergleich zwischen dem Sport der Antike und demjenigen zu Böttigers Zeit. An einem Beispiel von Faustkämpfen in Schottland moniere Böttiger die Brutalität und die starke Betonung von Wetten und Preisgeldern. Dem stelle er die Harmonie und das Ebenmaß der nach strengen Kunstregeln durchgeführten antiken Faustkämpfe in Olympia oder Delphi gegenüber. Einen Schwerpunkt in Saures Untersuchung bildet das Verhältnis zwischen Körper und Kunstwerk. Saure untersucht die Wechselbeziehung zwischen dem lebendigen Körper und der Skulptur. Der Athlet als Sieger in den Wettkampfspielen bilde für den Künstler das Modell für die Plastik. Diese sei das ideale Ziel und Vorbild für die Körperpflege und Ausbildung des Athleten. Die Beziehung zwischen Kunst und Körper stelle sich Böttiger in einer exemplarischen griechischen Biografie so vor, dass der jugendliche Athlet nach dem Vorbild der Plastik geformt werde, als Wettkämpfer Modell für den Künstler sei und als erwachsener Künstler wiederum Statuen junger Sportler schaffe. Ein weiterer ausführlich behandelter Aspekt ist die Betrachtung der antiken Plastiken bei Fackelbeleuchtung, die auch in dem Beitrag von Kordelia Knoll untersucht wird. Diese Beleuchtung könne eine Verlebendigung der Statuen vortäuschen, wobei die Statuenbelebung klassisch oder erotisch seien könne. Anders als seine Zeitgenossen und in Übereinstimmung mit heutigen Forschungen habe Böttiger erkannt, dass die Olympischen Spiele nicht nur Sport- und Wettkampfveranstaltungen waren, sondern auch religiöse, soziale und wirtschaftliche Bedeutung



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hatten. Kordelia Knoll schildert die Entstehung der Dresdner Antikensammlung unter August dem Starken und verfolgt die wechselnden Unterbringungen und Aufstellungen der einzelnen Objekte bis hin zu ihrem Umzug in das Japanische Palais 1786, wo die Sammlung von vielen Künstlern der Goethezeit besichtigt wurde. Böttiger sah die in zehn Sälen neu eingerichtete Sammlung mehrmals und widmete der Betrachtung 1798 mehrere Tage. Diese Besichtigung schildert Knoll mit jeweiligem Hinweis auf die innerhalb des Textes ihres Beitrages wiedergegebenen Abbildungen detailliert und stellt Böttigers Eindrücke und Beurteilungen vor, die er einen Tag nach den Rundgängen als Bemerkungen aufgeschrieben hat. Böttigers Äußerungen sind teils begeistert lobend, teils jedoch kritisch; seine Kritik gilt den barocken Ergänzungen und Restaurationen; bei seinem letzten bei Fackelbeleuchtung durchgeführten Rundgang beanstande er, dass die Beleuchtung nicht immer richtig eingesetzt sei. Die von ihm angeregte Entrestaurierung wurde später, als er die Oberaufsicht über die Antikensammlung bekommen hatte, von seinem Kollegen Heinrich Hase begonnen. Die detaillierte Untersuchung der Rundgänge dürfte auch für heutige Kunsthistoriker interessant sein. Abschließend betont Knoll, was die Rezensentin unterstreichen möchte, Böttigers Bedeutung und Verdienst für die Dresdner Kunstsammlungen, auch durch seine Vorträge und Vorlesungen. René Sternke publiziert und analysiert Böttigers antiquarischerotische Studien. Der Titel des Beitrages ist ein Zitat aus Böttigers handschriftlichem Manuskript und dient dort als Überschrift eines ausgearbeiteten Abschnittes. Böttiger deute in seinem teils widersprüchlichen Diskurs die aus der Antike überlieferten Texte und Abbildungen zu dem heute Sexualität genannten Begriff in einer Bandbreite von Religion bis zum Sinnesgenuss. Im Gegensatz zu dem in Böttigers Zeit auftauchenden »reduktionistischen Konzept der Sexualität« betrachte Böttiger das Phänomen in Zusammenhang mit »Macht, Geld, Legislation, Selbstdarstellung, Individualität, Wettbewerb, Diätetik, Kunst, Geselligkeit, Amüsement, Spektakel, Medien, Performativität und vor allem d[en] Religionen«. Abschließend stellt Sternke die Frage, ob heute »eine neue ›Liebesordnung‹ oder ars amatoria notwendig« sei. Für eine solche neue Konzeption und damit ein neues Verständnis für ein altes Phänomen könne des Theologen Schleiermachers Hinweis, der »unseren Blick auf das Geistige im Sinn­lichen zu konzentrieren sucht«, und des Kulturhistorikers Böttigers Blick auf die bereits erwähnte Komplexität (s. o.) hilfreich sein. Das bedeutet, Böttigers Diskurs kann auch für die heutige Antikenrezeption Erkenntnisse und Anregungen zu deren Umsetzung bieten. Das gilt implizit auch für die anderen Beiträge dieses Bandes. Insgesamt erschließen die Böttiger-Lektüren und ihre Interpretationen durch die einzelnen Autoren Erkenntnisse für die Rezeption der Antike im 18. Jahrhundert und ihre Bedeutung für

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die Gegenwart. Damit wird die Antike im doppelten Sinne ein Schlüssel zur Moderne. Brigitte Leuschner, Berlin Rolf Breuer, Englische Romantik. Literatur und Kultur 1760–1830. München: Fink, 2012, 172 S.  Trotz der derzeitigen Inflation der Kompendien zur britischen Romantik legt Rolf Breuer seine knapp 150-seitigen Ausführungen vor und lässt sich dabei von der These leiten, dass in den Dekaden zwischen 1780 und 1830 ein »neues, seit etwa 1760 aufkommendes ›systemisches Denken‹« aufkommt (7), das sich radikal von vorherigen Epochen und deren Denkmustern abhebt. Dass im Kontext des Naturverständnisses, im historischen Bewusstsein, in der Entwicklung der Subjektivität wie auch in der Sprachund Dichtungstheorie sich grundlegende Paradigmenwechsel vollzogen haben, scheint zunächst eine Binsenweisheit zu sein, die bereits von M. H. Abrams in dem (von Breuer unerklärlicherweise nicht berücksichtigten) Standardwerk Natural Supernaturalism (1971) umfassend und bis heute unübertroffen kommentiert worden ist. Das Besondere an Breuers Buch besteht zunächst darin, dass die Übergange vom Klassizismus zur Romantik deutlich akzentuiert, eine Kontextualisierung der Romantik in der europäischen Kulturgeschichte vorgenommen und komparatistische Perspektiven auf die Musik und die bildenden Künste eröffnet werden. So kontrastiert Breuer den englischen Landschaftsgarten mit dem Barockgarten und zeigt auf diese Weise, wie das mechanistische Denken des 18. Jahrhunderts zunehmend abgelöst wird von einem organizistischen Weltentwurf und wie mit der veränderten Naturauffassung auch neue, den Restriktionen alter Poetiken enthobene Genres (wie z. B. der empfindsame Reisebericht) entstehen. So ist der im ersten Kapitel skizzierte diachrone Abriss des Naturverständnisses von Thomas Burnets Telluris Theoria Sacra (mit der Deutung der Berge als Verunstaltungen und Protuberanzen in der Folge des Sündenfalls) über John Dyers ›Grongar Hill‹ bis hin zur »dialogischen Wechselbeziehung zwischen dichterischem Subjekt und landschaftlichem Objekt« bei Robert Burns, William Wordsworth u. a. (vgl. 27) äußerst informativ, kompakt und luzide dargestellt. Dass mit dem neuen Naturverständnis auch eine neue Oden-Form entsteht, die sich von früheren Oden-Typen wie der Pindaric oder Cowleyan Ode abgrenzt und nun zum kongenialen Medium für die neue Reziprozität von Mensch und Natur wird (vgl. 31), wird ebenso klar und folgerichtig dargelegt. Auch dass die



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Romantik überdies einhergeht mit einem neuen und radikal veränderten Zeitbewusstsein, vermag Breuer knapp und faktenreich zu erläutern. Während frühe Epochen in einem »distanzlose[n] Präsentismus« oder in der »Verabsolutierung der Antike« (55) verharrten, bildet sich im Zeitalter der Romantik ein neues Empfinden für Fortschritt, für lineare Zeitentwicklung und kulturellen Wandel aus, das gerade im Kontext der Geologie, der Kosmologie und Biologie zu neuen und kontroversen Einsichten führte. Dass diese Erkenntnisse auch eine politische Implikation haben können, führt Breuer dann auf den Seiten aus, die sich mit dem dialektischen Denken in den politischen Werken Blakes, Shelleys und sogar Keats’ auseinandersetzen. Obwohl nicht als solche intendiert, ist Breuers Studie – nicht zuletzt aufgrund ihrer Knappheit und ihrer Vermittlung von historischem oder biographischem Basiswissen in eingestreuten Informationskästen – eine nützliche, anspruchsvolle und konzise Einführung in zentrale Themenbereiche der Romantik. Dass die Einteilung der Romantik in systemische Kategorien ebenso reizvoll wie gefährlich sein kann, erweist sich als eines der strukturellen Schwächen des Buches. Die sich teilweise überlappenden vier Themenbereiche zwingen den Autor mehrfach dazu, sich zu wiederholen (vgl. den Bruch mit der poetic diction auf den Seiten 30 und 139), auf andere Kapitel zurück- oder vorzuverweisen (vgl. z. B. »Dazu gleich mehr«, 135) und im Rahmen einer oft zu weit angelegten tour d’horizon sich auf Aspekte zu beschränken, die nicht immer neu und zuweilen simplifizierend wirken. So erfährt die Leserschaft in den Ausführungen zu Shelleys Ode to the West Wind nichts substantiell Neues, wenn der Wind des Wandels – im Rückgriff auf »die alte Gleichsetzung von Wind, Atem und Inspiration« (80) – eine politische Dialektik zum Ausdruck bringt. Und auch das Kapitel, das Byron als extremen Individualisten und Narzissten charakterisiert, wird der Komplexität sowohl der historischen Figur Byrons als auch seines äußerst heterogenen Werks kaum gerecht. So erfährt man, dass im Don Juan ein »anderer, reiferer Byron« seinem Leser entgegentritt, doch das Subversive und bedingungslos Moderne dieser Epos-Parodie bzw. dieses »Abgesang[s] auf die altehrwürdige Form des Epos« (122) wird nicht ansatzweise evident, wenn man, wie Breuer dies tut, den byronischen Narzissmus knapp skizziert, aber das Skandalon des Gedichtes für Disziplinen wie die Anthropologie, für die gender-Beziehungen oder für das Bild des Orientalismus nicht näher beschreibt. Die Reduktion Byrons und seines monumentalen Spätwerks auf den Narzissmus bzw. auf die Selbstreferentialität des Werks greift zu kurz und vergibt somit die Chance, gerade zu einer Neubewertung Byrons als Übergangsautor von der Romantik zum Realismus anzuregen.

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Breuers Verhaltenheit in der Deutung bzw. Neubewertung der kanonischen Autoren wie auch in der Hinzuziehung bisher vernachlässigter Autoren und Autorinnen im Zuge eines von Duncan Wu und Christoph Bode angeregten re-mapping mag darin begründet liegen, dass er sich vornehmlich auf ältere Forschungsliteratur der 1960er bis 1980er Jahre bezieht. Daran ist grundsätzlich nichts auszusetzen, so lange diese Positio­ nen immer wieder mit dem aktuellen Forschungsstand abgeglichen werden. Dies geschieht jedoch in Breuers Studie zu selten, und somit mutet es geradezu nostalgisch an, wenn Breuer seine Interpretation von Shelleys West Wind-Ode vornehmlich an Paul Clemens und Kurt Schlüters Analysen aus den Jahren 1950 bzw. 1964 anlehnt. Diese Nostalgie und – fast ist man geneigt zu sagen, romantische Sicht auf die anglistische Literaturwissenschaft – wird bereits auf den ersten Seiten des Buches hervorgehoben, wenn der Autor am Ende seiner Vorbemerkung den Fokus auf überwiegend deutschsprachige Fachpublikationen legt und mit elegischem Unterton das Phänomen einer »deutsche[n] Anglistik« beschwört, deren »Verschwinden bedauerlich wäre« (7). Ohne zu fragen, was im Zeitalter globalisierter Wissenschaften eine »deutsche Anglistik« noch auszurichten vermag, ist es weit bedauerlicher festzustellen, dass so programmatisch und insistent auf Deutsch verfasste Studien zur Romantik wie die vorliegende von Breuer sich dem internationalen Meinungsaustausch verweigern und die Illusion nähren, dass Romantik vor allem eine ›deutsche Affäre‹ sei. Sowohl auf Saffranski als auf Kluckhohn (1941) zurückgreifend, schreibt Breuer: »Und in der Tat ist die deutsche Romantik in ihrer geistigen Substanz und wegen ihrer Breite […] die bedeutendste der europäischen ›Romantiken‹« (10). Sieht man von diesen überholten kompetitiven Aspekten einmal ab und betrachtet die Romantik als das, was sie wirklich ist: als ein pan-europäisches und nahezu globales Phänomen avant la lettre, so bietet Breuers Buch eine äußerst nützliche und – für den Leser deutscher Zunge – gut geschriebene Orientierungshilfe im Studium der englischen Romantik. Dass die aufbereiteten und historisch kontextualisierten Themenbereiche jedoch immer wieder mit der neuesten Forschungsliteratur verglichen und ergänzt werden müssen, ist einer der gravierenden Nachteile einer so nostalgisch verstandenen Anglistik. Norbert Lennartz, Vechta



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Ralph Pordzik, Victorian Wastelands. Apocalyptic Discourse in Nineteenth-Century Poetry. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2012, 206 S. In einem kurzen, zuerst 1955 erschienenen Essay hat Curtis Dahl darauf hingewiesen, dass T. S. Eliot und andere moderne ›wasteland poets‹ von Dichtern wie Tennyson, Browning, Arnold, Swinburne und Thomson antizipiert wurden. Diese These ist seitdem durch eine Reihe von Arbeiten zur Auseinandersetzung viktorianischer Schriftsteller mit dem apokalyptischen Denken erhärtet worden. Neben den Aufsätzen von James Longenbach (1989) und Elliot Gilbert (1983) zu Arnold bzw. Tennyson sei Kevin Mills’ Buch Approaching Apocalypse. Unveiling Revelation in Victorian Writing (2007) hervorgehoben – ein materialreicher Überblick über viele Romane und mehrere Gedichte, der die Verbreitung des apokalyptischen Diskurses sowohl auf die Macht der Tradition als auch auf die mit den zeitgenössischen Umbrüchen verknüpften Ängste zurückführt. Für Mills ist die Offenbarung des Johannes »one stratum of the Victorian cultural formation […] In a culture richly patterned by traditions of biblical knowledge but increasingly uncertain what those patterns meant or how they related to newer forms of knowledge, the Apocalypse was present as one thread among many« (196). In dem jetzt vorgelegten Band konzentriert sich Ralph Pordzik auf die seiner Meinung nach vernachlässigte Lyrik. Im ersten Kapitel räumt er ein, dass manche viktorianische Dichter weiterhin apokalyptische Motive verschiedener Art verwenden und biblische oder andere Untergangsvisionen mit einer Erneuerungsperspektive verbinden. Ein Beispiel ist G. M. Hopkins’ The Wreck of the Deutschland, das nach der Deutung Sulloways die Apokalypse als Prophezeiung tatsächlich noch ernst nimmt. Pordzik hat für das Gedicht nur eine Fußnote übrig, denn anders als Mills interessieren ihn vor allem jene Werke die, wie Klaus Vondung einmal formulierte, es mit einer ›kupierten‹ Apokalypse zu tun haben, die mit der biblischen Offenbarung nur den Aspekt der Vernichtung, aber nicht denjenigen der Erneuerung teilt. Pordzik fasst also die Werke vor allem als Ausdruck der Krise des viktorianischen Selbstverständnisses auf und beschreibt seine Untersuchungsziele wie folgt: […] Victorian poets, under the growing influence of a self-modernizing age based on secularization, mechanization and the notion of scientific time, radically transformed their view of the end and with it the aesthetic forms in which it was to be explored and symbolized. […] they slowly came to renegotiate the whole content of apocalyptic discourse, thereby turning it into profane literature ›about the end‹. (38)

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Dass es bei der Auswahl der Gedichte und der Problemfelder, auf die sich der apokalyptische Diskurs bezieht, zu Überschneidungen mit Mills’ Darstellung kommt, ist wohl unvermeidbar. Das zweite Kapitel geht von dem in der Romantik beliebten Motiv des letzten Menschen aus und vergleicht Werke von Thomas Campbell, Lord Byron und dem Maler John Martin. Mit der Beobachtung, dass Thomas Hood in der Satire The Last Man die romantische Mode verabschiedet, leitet Pordzik zu Gedichten von Eugenius Roche und Matthew Arnold über, die kritisch auf die Verstädterung bzw. den Imperialismus reagieren. Das dritte Kapitel knüpft an Dahls Essay an und geht darauf ein, wie Matthew Arnold und Alfred Tennyson endzeitliche Vorstellungen verarbeiten und auf sie Hoffnung und Verzweiflung projizieren. Tennysons Werke, z. B. Armageddon, In Memoriam und Locksley Hall, spiegeln »the difficulties of all those prophets of the age who believed themselves to witness the fall and decline of an inglorious present« (96). Matthew Arnold, so hebt Pordzik gegenüber der Pionierarbeit von Dahl hervor, reagiert widersprüchlich auf den melancholisch stimmenden Verlust des Glaubens und leidet als Mensch und als Künstler unter dem Zeitgeist. Als Hauptbeispiel dient Empedocles on Etna. Im vierten Kapitel zeigt Pordzik vor allem an zwei Werken, dass der Krim-Krieg Ängste und Erwartungen auslöste, die in apokalyptischer Bildersprache formuliert wurden. Ein erster Beleg ist Christina Rossettis My Dream. Die These »Rossetti storms the all-male throne room of the patriarchal heavens« könnte besser vorbereitet werden. Pordziks zweites Beispiel ist Tennysons Monodrama Maud, dessen Protagonist seine Verzweiflung über die gesellschaftliche Verfassung Englands und seine privaten Probleme durch die Teilnahme am Krieg hinter sich lassen will, aber als Prophet der Erneuerung zum Scheitern verurteilt ist. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit dem Ruinenmotiv und der großstädtischen Apokalypse. Ausführlich interpretiert der Verfasser Brownings Love among the Ruins, Mathilde Blinds The Red Sunsets 1883, Thomsons City of Dreadful Night und Swinburnes A Forsaken Garden. Thematisch berührt sich das Kapitel mit Stefanie Frickes Memento Mori: Ruinen alter Hochkulturen und die Furcht vor dem eigenen Untergang in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts, einem 2009 veröffentlichten Werk, das Pordzik wohl nicht mehr berücksichtigen konnte. Pordziks Untersuchung ist gut formuliert und kenntnisreich. Die Interpretationen der einzelnen Dichtungen sind anspruchsvoll, könnten aber gelegentlich näher auf die traditionelle apokalyptische Motivik (von Monstern und anderen Symbolgestalten, Schlangen und anderen Tieren bis



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hin zu außergewöhnlichen Ereignissen) eingehen und verdeutlichen, wie in den Werken das ›wasteland‹ über die Bildersprache definiert wird. Alles in allem stellt Pordziks Buch einen interessanten Beitrag zur viktorianischen Lyrik dar. Paul Goetsch, Freiburg i. Br. Dieter Schulz, Emerson and Thoreau or Steps Beyond Ourselves: Studies in Transcendentalism. Heidelberg: Mattes Verlag, 2012, 307 S. Dieter Schulz versammelt hier 15 Essays zum amerikanischen Transzendentalismus, verfasst während der 15 Jahre, die seit seinem heute einschlägigen Band über das transzendentalistische Dreigestirn Henry David Thoreau, Ralph Waldo Emerson und Margaret Fuller Ossoli, Der amerikanische Transzendentalismus, verstrichen sind. Es lohnt sich, beide Bücher neben einander zu legen, nicht nur weil sie eine weitere Facette zu einem schon seinerzeit souverän durchdrungenen Textkorpus hinzufügen (jetzt allerdings ohne die Texte Fullers). Darüber hinaus spiegeln die Bände die Entwicklungen der Transzendentalismusforschung der letzten Jahre. Wo das Buch von 1997 der kulturkritischen Tragweite dieser amerikanischen Ausprägung idealistischen Denkens galt und darin Fluchtlinien für (sozial-, geschlechter-, umwelt-) politische Überlegungen skizzierte, rückt nun die erkenntniskritische Dimension in den Vordergrund. Hierzu wählt das neue Buch wie das alte den »Zugang über die Metaphorik«1 und weist auf den Erkenntniswert hin, den die Metaphorik an sich besitzt. Denn wie Schulz nimmermüde wiederholt, ist schon im Wort Methode das griechische Wort hodos für Weg verborgen (vgl. 4, 130, 133, 159, 192, 214, 227). Der Band macht in gleichermaßen textintensiven wie geistesgeschichtlich ausgreifenden Lektüren das Format und die Relevanz einer dezentrierten transzendentalistischen Methodik fassbar und zugänglich. Aber lässt sich die metaphorologische, philologisch-philosophische Analyse tatsächlich, wie der Umschlag verheißt, gegen die »crippling consequences of the ›two-cultures‹ split« zu Felde führen? Die in den einzelnen Essays entwickelten, dichten Lektüren können hier nicht ansatzweise vorgestellt werden, das abstrakte Skelett, das den Band jederzeit fest beieinander hält und die einzelnen Teile gelenkig miteinander verbindet, muss an dieser Stelle genügen. Den amerikanischen Transzendentalismus zeichnet, wie schon auf den ersten Seiten klar wird, 1  Dieter Schulz, Amerikanischer Transzendentalismus: Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau, Margaret Fuller. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997, 3.

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die Verschiebung erkenntnistheoretischer Perspektiven aus: Nach Emerson sei Transzendentalismus »a little beyond« (1), ein wenig verschoben, verrückt. Der Band plädiert dafür, die Metapher der räumlichen Abweichung von einem quasi vorgegebenen Weg historisch und epistemologisch ernst zu nehmen. Wege, und deren provokatives Verlassen, werden im Transzendentalismus als epistemische Metaphern revitalisiert: Der transzendentalistische Querfeldeinläufer auf den Pfaden der Natur wird zum opponierenden Erkenntnistheoretiker. Den Hauptteil des Bandes bilden demgemäß philologische und philosophische Lektüren zentraler Erkenntnismetaphern, die entlang ihres geisteshistorischen Kontexts in ihrer erkenntnistheoretischen Relevanz ausgearbeitet werden. Sie werden von je zwei Essays zur Vorgeschichte des Transzendentalismus im puritanischen Neuengland und zur Nachgeschichte in der Moderne flankiert. Als Vorgeschichte rückt zunächst das theologische Abweichlertum in der Massachussetts Bay Colony in den Blick. Der Umgang mit Andersgläubigen und vor allem die Indianerbekehrung werden zum Prüfstein für die Balance zwischen neuenglisch kirchenstaatlichem Kongregationalismus hier, in der eine auserkorene Gemeinschaft sich in der Wildnis bewähren muss, und der kalvinistischen Radikalisierung dort, in der jeder sich auf einer innerweltlichen Pilgerschaft mit ungewisser Heilsaussicht befindet. Wie in den folgenden Abschnitten entwickelt Schulz die theoretischen Fragen im Rahmen einer konkreten historischen Situation, wenn er sich den sprachphilosophischen Konsequenzen dieser Auseinandersetzung zuwendet. Das Buch des wegen Häresie exilierten Roger Williams, A Key into the Language of America, stellt sich mit der Auffassung von Sprache als poetischem Weltzugang quer zum plain style, wie ihn dessen Zeitgenossen der Massachusetts Bay Colony favorisieren, hebt er doch auf die welterschließende poiesis der Sprache ab, die er insbesondere auch den Sprachen der Natives einräumt. Die figurative Rede birgt das Potential, Einsichten in die Offenbarung zu erlauben, wie sie in der sündenfälligen Welt verborgen sind. Herausgefordert wird damit ein genus humile, der in seiner klaren Buchstäblichkeit den Zusammenhalt von Kirche und Gemeinwesen sichern soll. Der Hauptteil avisiert dann in elf Essays direkt den neuenglischen Trans­ zendentalismus emersonscher und thoreauscher Prägung. Thematisch ­kohärent wird der zuvor angelegte Schwenk von Theologie auf Sprache hin zum Gemeinwesen fortgeführt, nun jedoch auf der Schwelle zwischen agrarischer und marktwirtschaftlicher Ökonomie in der Mitte des 19. Jahrhunderts angesiedelt. Den Einsatzpunkt bildet Emersons Zusammen­ denken einer Ökonomie des Marktes und des erkennenden Geistes. Geschäftsmann und Intellektueller teilen ein Interesse an stetiger Gewinnmaximierung, eine, so Schulz, »unconscious metaphysics of materialism« (53)



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in ihrer geistigen Hinwendung zur Welt, die Kapital zur weiteren Ausweitung des Marktes oder der Erkenntnis bereitstellt. Allerdings gelte dies nur so lange, wie der Geschäftsmann auf Ausweitung seiner Geschäfte, nicht auf Bestandssicherung, auf materialen Reichtum zielt. Statt weiterer geistiger Expansion folgt im gewerblichen Geschäft die Verdinglichung eines kreativen Moments, der auf intellektueller Ebene nach Erweiterung und Reinigung verlange. Wie Schulz Emerson zitiert: »culture corrects the theory of success« (59). Der hier aufgezeigten spirituellen Ökonomie folgt Schulz weiter entlang von Emersons Representative Men (1850) und der dort geführten Auseinandersetzung mit Plutarch. Dass Emerson hier eine »democratic-egalitarian alternative to the hero-worship« (62) von Thomas Carlyle entfaltet, ist nicht neu, bewegt ist die Auseinandersetzung freilich von der weiterführenden erkenntnisphilosophischen Frage, wie Emerson darin die Konstitution des erkennenden Selbst in Bezug auf Erkenntnis gestaltet. Hier werden die ›großen‹ Individuen als ›Methoden‹ konzipiert, deren Charakterstudium letztlich den Zugang zu einer lebendigen, irdisch gebundenen prozessualen Wahrheit gestattet (81). Der Dynamik eines solchen Erkenntnisgestus nimmt sich das folgende Kapitel über die grundlegenden Bildungsprinzipien Emersons an: »A Man Is a Method« (Kap. 6), die durch dessen Auseinandersetzung mit dem Einheitsdenken der neo­ platonischen Metaphysik bestimmt sind. Dem Erkenntnissubjekt, das in einer Wirklichkeit stetigen Wandels gefangen ist, kann nur die ekstatische (im Wortsinn: ver-rückte) Erhebung die notwendige Beobachtungsdistanz einräumen. Die Crux, mit der Emerson und später, wie Schulz ausführt, der pragmatische Philosoph John Dewey in ihrem Widerstreit mit den Fixierungen eines lehrbaren, systematischen Wissens ringen, ist dann jedoch, wie ein solches offenes, pro- statt retrospektiv orientiertes Wissens­ ideal in den amerikanischen Bildungskontext rückübersetzt werden kann. Folgerichtig setzt sich Schulz daher mit Emersons Nachdenken über die Rolle des Intellektuellen in der Öffentlichkeit auseinander. Höchst anregend sind die folgenden, weitgehend auf Henry David Thoreau zugeschnittenen Abschnitte. An der in der Forschung üppig kommentierten Evokation des oikos im »Economy«-Essay aus Walden kommt auch eine erkenntnistheoretische Auslegung nicht vorbei. Gegenüber dieser mächtigen Lesart stellt der Band unter Punkt Sieben ein close reading des Essays, dessen provokante letzte Zwischenüberschrift lautet: »A House Is Not a Good Idea«. Thoreaus hauswirtschaftliche Utopie mit ihrer ›Verankerung der Imagination in der sinnlichen Wahrnehmung im Hier und Jetzt‹ (128) befriedet in letzter Konsequenz eben nicht, wie Schulz insistiert, das Entgrenzende, Undomestizierbare der Imagination. Vielmehr verspricht das Wandern erkenntnistheoretischen Aufschluss, eine

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Metapher, die entlang von Thoreaus »Walking«, Emersons »The Method of Nature« und Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode als Revitalisierung eines ursprünglichen Methodenbegriffs entfaltet wird. Entgegen der objektiven Distanz, wie sie positivistische Methodik fordert, tritt die teilhabende Beobachtung von Wirklichkeit in ihrer engen, umstandsgebundenen und ›okkasionellen‹ Beziehung zu dem ihr angehörigen Subjekt. Die in dieser ursprünglichen Methodik gründende Spannung zwischen Engagement mit und Distanzierung von den Gegenständen weist der sprachlichen Verfasstheit des Denkens eine entscheidende Rolle zu. Entscheidend für Thoreau ist dabei die Metapher der Extravaganz: die Überschreitung des common Sense durch eine diesen herausfordernde Sprachlichkeit (158). Gegen den plain style der Wissenschaften veranschlagt Thoreau eine bildliche Sprache, die der geforderten Dynamisierung des Denkens gerecht werden kann. Nachdem Kapitel 10 am Beispiel eines renaturalisierten Zeitbegriffs zwischen Shakespeare und Thoreau dieses Sprechen exemplifiziert, baut Schulz dann die transzendentalistische Sprachkonzeption weiter aus. Thoreaus radikale Auffassung von »nature as language« (184) integriert empirische Naturbeobachtungen mit transzendentalistischem Bewusstsein. Vor allem aber übersetzt sie das frühneuzeitliche (hellsichtig an der Position George Berkeleys erläuterte) Natursprachenargument in die Wissenschaftskritik. Die Analysen von Thoreaus »Wild Apples« und »Huckleberries« machen dies sonnenklar und bringen Äpfel und Schwarzbeeren zu phänomenologisch hermeneutischer Geltung – und sorgen überdies, wie freilich schon Thoreaus O-Ton, für bestmögliche intellektuelle Unterhaltung. Das Zusammentreffen von Sprache und Natur antizipiert für Schulz einerseits ikonische Sprachtheorien der Gegenwart, andererseits aber auch Entwicklungen in der gegenwärtigen Biologie, wenn es darum geht, den unterschiedlichen Signalen, die von Organismen ausgehen, überschüssige Bedeutungen zuzuerkennen, statt solche lediglich auf evolutionär erklärten, wirkursächlichen Informationsaustausch zu reduzieren. Jedwede Erkundung solcher Überschüsse verlangt auch nach Interpretationen, und in diesem Sinn kulminieren Schulz’ Überlegungen so auch in der Annäherung Thoreaus an das Projekt Gadamers, Geistes- und Naturwissenschaften hermeneutisch miteinander zu verhaken (wobei Hermann von Helmholtz als Beleg für die naturwissenschaftliche Gangbarkeit dient). Abgeschlossen wird das Buch mit zwei Essays zum Nachleben des Transzendentalismus in der Moderne, die sich – wie Schulz zeigt – nur scheinbar von diesem abgewendet, sondern ihn partiell in der Poetik fortgeschrieben hat. Das gilt zumindest für die Sprachauffassung der amerikanischen Imagisten, allen voran William Carlos Williams und dessen Suche nach einer Poetik, die Ding und Wort zusammenbringt. Und es färbt als



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amerikanisch geprägte Ästhetik auf Martin Walsers »Versuch, ein Gefühl zu verstehen« und dessen Amerikareise ab. Der Ertrag des Werkes von Schulz besteht so weniger in der Zergliederung des Transzendentalismus in seine historischen, politischen oder ideellen Komponenten. Was hierin zählt, ist das Fortleben der transzendentalistischen Provokation, die in den Denkraum der Erkenntnistheorie der Gegenwart greift. Offen bleibt dennoch die von Schulz nicht wirklich präzisierte Frage, wie sich mit solch hermeneutischer Stärkung von »our sense of being-in-the-world« die oben genannten – eher schweigend vorausgesetzten als wirklich entwickelten – »crippling consequences« der Zwei-KulturenKluft heilen lassen. Emerson und Thoreau, mag man nach der Lektüre des Buches sagen, heilen sie nicht, mögen aber wohl dabei helfen, den Deutungsanspruch und Bedeutungsgehalt des wissenschaft­lichen Unterfangens einzuschätzen. Insofern bleibt der Band vielleicht notwendig einer letztlich theoretischen »Hermeneutik des Lebendigen«2 verpflichtet. Die Relation dieses Lebendigen zur konkreten Arbeit innerhalb der Labore, der hochtechnologischen Erfassung und Aufbereitung von Big Data ist demgegenüber wohl von profanerer, wenngleich nicht weniger komplexer Natur. Auch hier ist, worauf u. a Hans-Jörg Rheinberger hingewiesen hat, ja ein epistemischer Raum gefordert, der die prospektive Auslegung des konkreten Befunds erlaubt. Nur ist eben jene systemische Komplexität, die im Spiel zwischen Empirie und Kybernetik neuerdings entsteht, den Wechselwirkungen verschiedener Regelkreisläufe ­ersichtlich mehr zugetan als holistischen Interpretationen. Die Wissenschaftstheorie hat hermeneutisches Vorgehen innerhalb der Wissenschaften seit Längerem im Visier. Nur kommt dies entsprechend nüchtern daher als »a particular way of acting as related to the acquisition, processing, and generation of information«.3 Das entscheidende Wort ›Information‹ taucht in Schulz’ Band selten auf. Dass es ›Bedeutung‹ nicht ersetzen kann – darauf aber, ahnt der Rezensent, weist Schulz’ erhellender Blick auf Emerson und Thoreau vorzüglich hin. Diesbezüglich zugespitzt meinte wenigstens Thoreau im Frühling 1852: »If you would be wise, learn science and then forget it«.4 Jörg Thomas Richter, Berlin 2  So der im Band zitierte Biologe / Naturphilosoph und Publizist Andreas Weber, Natur als Bedeutung: Versuch einer semiotischen Theorie des Lebendigen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, 15. 3  Vgl. George Kampis, »The Hermeneutics of Life«, in: Márta Fehér, Olga Kiss & László Ropolyi, Hermeneutics and Science. Boston Studies in the Philosophy of ­Science 206. Dordrecht: Kluwer, 1999, 157–170. 4  The Writings of Henry David Thoreau: Journal, ed. Bradford Torrey, Vol. III: September 16. 1851–April 30. 1852. Boston; New York: Houghton Mifflin 1906, 456.

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Hans Ulrich Seeber, Literarische Faszination in England um 1900. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2012, 368 S.  Was als erstes an diesem Band auffällt, ist, dass es sich bei dem Titel eher um einen Untertitel handelt. Ein griffiger Titel, an dem sich Faszination bildlich zeigen ließe, hätte den Zugang zu dem Material erleichtert, das Hans Ulrich Seeber hier ausbreitet. Vorweg gesagt: Es handelt sich um ein vielschichtiges, tiefschürfendes und sehr reichhaltiges Werk, das der Stuttgarter Emeritus vorlegt, fast so etwas wie eine Lebenssumme seiner Interessen und eben Faszinationen. Der Autor bezeugt damit, dass er von Literatur im besten Sinne ›behext‹ worden ist, denn Behexung ist der ursprüngliche Sinn des Begriffs Faszination, im engeren Sinne sogar ›Augenzauber‹. So wird die Untersuchung über Behexungsformen in der vorwiegend englischen Literatur um 1900 zu einer Erforschung der eigenen Sozialisation und Begeisterung – auch solch ein fast okkulter Terminus – für die Wirkung von Sprache überhaupt. Seeber lässt keine wissenschaftlichen Ufer unbesucht, sein fragendes und explorierendes Schiff fährt in die Ethnologie ebenso wie in die Medientheorie; die Anthropologie und Psychologie. Kunstphilosophie und Kulturtheorie werden angefahren, Rhetorik und Ästhetik wie auch Gattungstheorien. Es gibt keinen Bereich der Kultur, so scheint es, der ohne den Begriff oder das Phänomen der Faszination auskäme. Es handelt sich ja um eine extreme Bindung der Aufmerksamkeit und dies hat geradezu evolutionär-anthropologische Wurzeln. Insofern Literatur immer auch an diesen Wurzeln teilhat, wird sie sich der Faszination als Thema und Methode nicht entschlagen können. Erst recht wird im elektronischen Mediensystem die Aufmerksamkeitsquote zu einer entscheidenden Kategorie; spätestens jetzt wird ihre ökonomische Bedeutung erkennbar. Seeber geht bis in einzelne Subtheorien hinein, wenn er die verschiedenen Facetten der Begriffsgeschichte beleuchtet. Diese ist wie die so vieler anderer Begriffe eine Geschichte der Säkularisierung: »Das Wort Faszination war in der Renaissance noch zu sehr mit der Assoziation der teuflischen Einwirkung und des Hexenzaubers verknöpft und deshalb theologisch anstößig« (13). In der Gothic Novel und der Romantik dagegen wird sie aufgewertet und benannt: Anziehung und Schrecken wohnen ihr inne und das wird von der Ästhetik und den Lesern auch so gewollt. In der viktorianischen Zeit, die einen Schwerpunkt Seebers bildet, ist es interessant zu sehen, wie das vordem magische Konzept in den realistischen Roman oder später in die Werke eines D. H. Lawrence eingebaut wird. Besonders aufschlussreich ist das Kapitel über Heart of Darkness, dem der Autor schon zuvor eine Studie gewidmet hatte (291–306). Hier geht es vor



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allem um die Faszination durch die Stimme Kurtz’. Seeber kann hier nicht nur interessante Verbindungen zur entstehenden Tontechnik zeigen, sondern auch konkrete Analysen bieten, inwiefern Stimme und Macht zusammengehen oder eben Faszination und Charisma. Manchmal hat man den Eindruck, der Begriff habe es dem Autor deshalb so angetan, weil er unter seinem Deckmantel seinen mannigfaltigsten Leidenschaften frönen kann. Dabei deckt er den Kanon der britischen Literatur ab und erlaubt sich dennoch komparatistische Ausflüge. Charlotte Brontë und Wilkie Collins werden für eine Poetik der Faszination zitiert. Shakespeare dient der ­Untersuchung des Zusammenhangs von magischen Praktiken und Sprachzauber. Thomas Hardys Gedicht Midnight on the Great Western, das er mitten im Ersten Weltkrieg publizierte, redet nicht von der Faszination der Eisenbahn (mit der sich Seeber ausgiebig andernorts in seinen Forschungen zur Mobilität beschäftigt hat), sondern von einer Begegnung im Abteil, die das Rätselhafte des menschlichen Daseins ausdrückt. Seeber interessiert sich in seiner tiefgehenden Analyse des Gedichts für die Suggestionskraft des lyrischen Wortes, die er von Coleridge bis Trakl verfolgt. D. H. Lawrence erhält ein weiteres Kapitel, ebenso Henry James (The Turn of the Screw). Faszination und Genuss sowie die Aufhebung der Zeit als Quelle faszinierender Ideen runden das Buch ab. Es ist ein großer, manchmal etwas schwerfälliger Wurf. Trotz seines etwas fußgängerischen Titels ist es breit angelegt und man wird eher darin lesen, als es in seiner Gesamtheit von Anfang bis Ende durchzubuchstabieren. Aber jeder, der sich mit der Literatur um 1900, besonders der englischen beschäftigt, wird von Seebers Einsichten bereichert werden. Elmar Schenkel, Leipzig Stefan Lampadius, Elmar Schenkel (Hgg.), Under Western and Eastern Eyes: Ost und West in der Reiseliteratur des 20. Jahrhunderts. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2012, 278 S. Der vorliegende Band versammelt die Vorträge einer Konferenz, die 2010 in Leipzig veranstaltet worden ist. Er enthält siebzehn Beiträge in Englisch und Deutsch. Die aktiven Teilnehmer / innen, allermeist Anglisten, Slawisten und Germanisten, stammten vornehmlich aus Deutschland, Schwerpunkt Leipzig, aber auch aus dem Ausland, Schwerpunkt Russland (Kasan, Nischni Nowgorod1). Die spürbare Disparität der Beiträge hin1  Russische Namen werden hier vom Rezensenten ›aussprachenah‹ (zum Deutschen) gemäß der entsprechenden Duden-Vorschrift transkribiert, in der vorliegenden Publikation dagegen leider uneinheitlich, zuweilen selbst innerhalb ein und des-

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sichtlich Qualität und Quantität rührt einerseits sicherlich aus der Vorgeschichte der Publikation, andererseits spiegelt sie in gewisser Weise den derzeitigen Zustand der Philologien respektive der Geisteswissenschaften überhaupt. Das Thema des Buches wird programmatisch durch die Wiederaufnahme und Abwandlung des bekannten Titels Under Western Eyes2 gesetzt. Auch wenn die Herausgeber »and Eastern Eyes« ergänzen und im Vorwort etwas anderes behaupten, bleibt es in den meisten Beiträgen doch beim westlichen Blick auf letztlich unverstandene östliche Regionen, zudem wortwörtlich unverstanden, weil die Reisenden in der Regel offenbar der örtlichen Idiome, zumeist des Russischen, nicht mächtig waren. Daraus etwas wissenschaftlich Ergiebiges destillieren zu wollen, zeugt von Mut. Im Engeren sollte laut Vorwort »das emotionale Moment in der politischen Gestaltung« (sc. des 20. Jahrhunderts) herausgearbeitet werden, ebenso das »gegenseitige Sehen und Interpretieren von Kulturen«. Dafür sei die Reiseliteratur »wie kaum eine andere Gattung geeignet«. (20) Die Publikation gliedert den behandelten Zeitraum in drei Blöcke: »Vom Zarenreich zum Zweiten Weltkrieg (1890–1945)«; »Der Kalte Krieg (1946–1989)« und »Nach dem Mauerfall (1990–2010)«. Die Gliederung suggeriert eine Entwicklung, die aber nicht weiter thematisiert wird. Am Ende kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als habe sich in den gut hundert Jahren am vorurteilsbehafteten Blick beim »gegenseitigen Sehen und Interpretieren von Kulturen« nichts verändert. Zeiten wie 1890, da ein verrückter Amerikaner hoch zu Ross durch den ›wilden Osten‹ reiten konnte (vgl. Elmar Schenkel, »Ein Amerikaner reitet durch das zaristische Russland. Thomas Stevens’ Trough Russia on a Mustang«, 15–28), waren mit dem Weltkrieg endgültig vorbei. Wesentliche Erkenntnisse gewann der reisende Amerikaner trotz seines tapferen Mustangs offenbar nicht. Schenkels Bericht über Stevens’ Bericht liest sich aber recht vergnüglich, nur mit den Namen und Bezeichnungen hat man einige Schwierigkeiten: »Tchudovo« (= Tschudowo), »Jasnaya Poljana« (= Jasnaja Poljana), »Mujik« (= Muschik) etc. Schenkels Quintessenz lautet, dass die den Bericht prägende »Herablassung […] leider noch nie eine selben Aufsatzes. Im Folgenden wird bei der Nennung der Namen einzelner Beiträger die im Buch verwendete Umschrift zur Orientierung jeweils in eckigen Klammern hinzugefügt. 2  Under Western Eyes lautet der Titel eines anti-russischen Roman-Pamphlets des polnischen Exilanten Joseph Conrad, i. e. Józef Teodor Konrad Korzeniowski (1857–1924), aus dem Jahre 1911. Conrad verließ mit 17 Jahren den zu Russland gehörenden Teil Polens, um schließlich englischer Schriftsteller zu werden.



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gute Basis für Beziehungen zwischen Menschen verschiedener Kulturen« (27) gewesen sei. Schon mit dem Beitrag von Jelena Schewtschenko ([Elena Shevchenko] »Erlebnisse eines Dänen in Sowjetrussland. Henning Kehlers Der rote Garten«, 29–36), dem zweiten des Bandes, wird die eigentliche Epochengrenze zwischen 19. und 20. Jahrhundert überschritten. Henning Kehler reiste als Attaché der dänischen Botschaft 1917–1919 durch das nachrevolutionäre Russland. Er verfasste wohl als einer der ersten westlichen Beobachter einen Bericht über »eine tragische Seite der russischen Geschichte« (36). Kehlers 1920 veröffentlichtes Buch Russiske Kroniker (Russische Chroniken) wurde sogleich übersetzt, z. B. ins Deutsche oder ins Englische, und erhielt offenbar ab der zweiten Auflage den reißerischen Titel Der rote Garten bzw. The Red Garden. Frau Schewtschenko versucht, Faktisches und Fiktives innerhalb des Berichtes zu sondern und kommt damit dem Problem ›Reiseliteratur‹ näher. Im Übrigen hätte der Beitrag wenigstens einer stilistischen Überarbeitung bedurft. Das Problem einer Perspektivierung des Faktischen durchzieht die Publikation wie ein roter Faden. Was ist an den Berichten ›objektiv‹, was ›subjektiv‹, was ist erlebt, was bloße ›Fiktion‹? Es scheint, als seien bestimmte im Laufe des 20. Jahrhunderts gewonnene Einsichten zu ›Text­ sorten‹ mittlerweile verloren gegangen. Nur weil etwas sensu stricto ›nicht wahr‹ ist, gehört es noch längst nicht zur Fiktion im eigentlichen Sinn. Ein Reiseschriftsteller hat sich der Nachprüfbarkeit seiner Behauptungen zu stellen, so wie eine physikalische Versuchsanordnung einen Beweiswert hat, weil sie nachgeprüft werden kann. Die immer wieder beobachtete Tendenz der behandelten Reise-Autoren, zu beschönigen, zu metaphorisieren, zu karikieren oder schlichtweg zu lügen, hebt sie nicht über die Fiktionalitäts-Grenze, jenseits derer das Reich einer per Konvention beglaubigten Unbeweisbarkeit beginnt. In diesem Zusammenhang sind die eigentlichen ›Grenz‹-Fälle von besonderem Interesse, sofern man nicht die gesamte ›Reiseliteratur‹ zum Grenzfall erklären möchte. Alexandra Lembert stellt mit ihrem Aufsatz »History Revisited: Rory MacLean’s Travelogue Stalin’s Nose. Across the Face of Europe and the (Post-)Communist East«, 195–208) einen solchen Grenzfall eindrücklich vor. Der kanadische Filmemacher MacLean, ein weitgereister Mann, beschreibt 1992 eine (oder seine) Reise in ›den Osten‹. Frau Lembert macht sich die Mühe, über den Unterschied zwischen »Reisendem«, »Autor« und »Erzähler» zu räsonieren (197). Und so gewinnt das Ganze an Plausibilität: Der Leser von MacLeans Travelogue muss selbst entscheiden, welcher Spur er folgen will. Das kalkulierte Oszillieren

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um die Fiktionsgrenze hat seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert unter dem Stichwort ›Kunst und Leben‹ als etabliert zu gelten. Eine deutliche Entscheidungshilfe im Falle MacLeans ist die Umbenennung der zweiten Auflage des Textes, ähnlich wie bei dem oben erörterten Fall Henning Kehler. Die erste Auflage begnügte sich noch mit dem eher neutralen Titel Travelogue around the Bloc. Nur sollte eines eben klar sein, nimmt man MacLean als »Bildungsroman« (202), sind die Behauptungen über ›den Osten‹ Teil einer fiktiven Welt und damit nur schwerlich ein »emotionales Moment« für welche Politik auch immer. Im Folgenden sollen aus Gründen der notwendigen Beschränkung lediglich einige ausgewählte Beiträge des Sammelbandes kurz besprochen werden. Drei Berichte aus der großen Zahl der Ostreisen fallen ins Auge, die seinerzeit auch ein genuin politisches Interesse thematisierten. Die Reisen (1920–1927) britischer Politikerinnen, die außerhalb der Labour Party, und zwar ›links‹ von ihr, standen, werden von John S. Partington (»Socialist Women and Soviet Russia: Six British Observations of the 1920s«, 67–76) offenbar getreulich nachvollzogen. Sehr viel kritischer geht Nadine Menzel mit ihrem Thema »›Lady Astor’s Man‹ and His Soviet Experiences of the 1920s« (77–90) um. Sie behandelt den skurrilen Versuch von Lady Nancy Astor, einer konservativen Parlamentsabgeordneten, durch Stiftung einer Reise ›ins gelobte Land‹ für Anhänger der einschlägig linken Gesinnung das Sowjet-System und die britische Linke gleichermaßen politisch zu ›entlarven‹. Es entwickelte sich eine Art Propagandaschlacht in Großbritannien, in der die Wahrheit sichtbar auf der Strecke blieb. Besonders fragwürdig wird schließlich der Blick von Schanna Konowalowa ([Zhanna Konovalova] »The Soviet Union through the Eyes of Lee Harvey Oswald (Based on Oswald’s Tale by Norman Mailer« 111–124), auf den KennedyAttentäter Lee Harvey Oswald bzw. auf dessen Blick auf die UdSSR, und zwar ausschließlich durch die Brille von Norman Mailer. Hier geht am Ende notwendigerweise alles durcheinander, »the hybrid form with a documentary basis and such fictional elements as free-indirect discourse and a multiplicity of narrative voices with deep psychological insight« (123). Barbara Korte (»Tracked Vision – Eric Newby’s Big Red Train Ride during the Cold War«, 125–136) liefert dagegen eine geradezu paradigmatische Analyse des Unverstandes der meisten angelsächsischen Reisenden am Fall von Eric Newby: Es geht um eine Reise mit der TRANSSIB, die von Anfang bis Ende vorurteilsbeladen ist, wie die Verfasserin feststellt. Newby ist in seinen Vorurteilen so eingesperrt wie als Reisender in den Zug bzw. als Ausländer in der Sowjetunion. »Railway travel becomes an epitome of her heteronomic condition of travel in Cold War Russia« (130).



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Mit »Caryl Phillips – A Postcolonial Traveller in Eastern Europe« (171–192) behandelt Stefan Lampadius einen interessanten Fall von Identitätsverwirrung. Der Reisende, ein aus der Karibik stammender farbiger Brite, sucht und findet in der Sowjetunion, eigentlich genau wie Newby, nur sich selbst bzw. speziell seine eigenen ›post-kolonialen‹ Probleme (Caryl Phillips, The European Tribe, 1987). In der Nachfolge eines gewissen MacKay, der in den 20er Jahren enthusiastisch über Sowjetrussland geschrieben hatte (Soviet Russia and the Negro), bekommt er ganz anders als jener die propagierte Völkerfreundschaft nicht zu Gesicht. Er ist nicht etwa underdog oder outcast, sondern privilegierter Devisen-Ausländer, der die Welt nicht mehr versteht, schließlich aber doch Brüder im Geiste ­findet, nämlich russische Juden, nach seiner Meinung die »niggers« der Sowjetunion bzw. Europas überhaupt, ob Ost oder West (vgl. 174, 184). Der Leipziger Polonist Hans-Christian Trepte entwickelt in seinem Aufsatz »Auf Spurensuche: (Neu)Entdeckungen Osteuropas bei englischsprachigen Schriftstellern polnisch-jüdischer Herkunft« (209–224) ein spezielles Problembewusstsein, – notwendigerweise möchte man sagen, da Polen der Selbstwahrnehmung nach auf keinen Fall zu Osteuropa gehört. Die behandelten Autorinnen sind zudem wegen ihrer Herkunft gegen die obwaltende westliche Verständnislosigkeit gefeit. Auch bringt eine jüdische Identität in Polen ein Sonderproblem mit sich, ohne dass es sich unter die Urteilskategorie »niggers« des vorgenannten Caryl Phillips wirklich subsummieren ließe. Die Autorinnen verfügen einfach über eine geschärfte Wahrnehmung. Trepte reflektiert über das Stereotyp ›Osteuropa‹, wie es in den bisher behandelten Reiseberichten nur allzu deutlich zum Vorschein kommt. Eine solche Reflektion, hier als Vorspann (209–214) zur Paraphrase der Berichte emigrierter polnischer Schriftsteller / innen, wäre dem ganzen Sammelband zu wünschen gewesen. Insgesamt befassen sich nur sechs Aufsätze mit Berichten von Russen oder Polen über ›den Westen‹, d. h. die USA bzw. Deutschland. In den meisten Fällen geht es in Bezug auf Deutschland nicht um Reisen im engeren Sinn, sondern beispielsweise um die spezielle Beziehung jeweils der russischen Dichterin Marina Zwetajewa (Marina Zwetkowa [Marina Tsvet­kova] »Marina Tsvetaeva and Germany. A Lifelong Romance«, 37–48) sowie des bekannten Schriftstellers und Spaßmachers Wladimir Kaminer (Kristina Skornjakowa [Kristina Skorniakova] »Privat ein Russe, beruflich ein deutscher Schriftsteller – Wladimir Kaminers Momentaufnahme aus dem Third Space«, 263–274) zu Deutschland vor bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Amerika-Reisen bieten dagegen eine Eigenheit, die mit dem politischen System der Sowjetunion verbunden ist und die wohl als solche be-

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handelt werden sollte. Sophia Manns-Süßbrich gelingt die Einordnung in ihrem Aufsatz »›Wer wird der neue Kolumbus?‹ Die Amerikatexte von Sergej Esenin und Vladimir Majakovskij« (49–66) recht gut, weil sie sich grundsätzliche Gedanken über die Texte, ihren Anlass und den Kontext macht, in den sie einst gestellt wurden. Die Wahrnehmung der Vereinigten Staaten und die Berichte darüber scheinen nach einem vergleichbaren Muster wie Wahrnehmung und Bericht über ›den Osten‹ zu funktionieren, wenn auch mit ganz anderen Parametern. Conclusio: Die in der Publikation versammelten Sekundärberichte sind zweifellos interessant zu lesen. Man spart Zeit in Bezug auf die Originale und gewinnt einen Überblick über fortdauernde Vorurteile. Leider fehlt in der Mehrzahl der Fälle eine kritische Kontextualisierung bzw. eine irgend geartete Erörterung des Funktionsbereiches der Texte. Schon das positivistische 19. Jahrhundert irrte in der Annahme, ›Quellen‹ sprächen für sich selbst und bedürften nicht der kritischen Aufarbeitung unter historischen Gesichtspunkten. Zudem ist Literatur – wenn es sich denn um solche handelt – Kunst, hat nur als solche Anteil an der Kultur und kann also nur über einen Umweg kulturologisch fruchtbar gemacht werden. Wenn ihr Kunstcharakter von Vornherein negiert wird, landet man in der Sackgasse der Kulturgeschichte wiederum des 19. Jahrhunderts. Wenn schließlich alles bloße ›Konstruktion‹ ist und die Sammlung ›Paradigmen‹ repräsentiert, dann müsste wenigstens auf Vollständigkeit geachtet werden. Der kalkulierten Repräsentativität der Auswahl würde somit eine besondere Bedeutung zukommen. Unter diesem Aspekt darf man beispielsweise den amerikanischen Schriftsteller John Steinbeck vermissen. Steinbeck, Mitte der 1940er Jahre noch eine Art Kommunist – zumindest in den Augen der Sowjetmacht –, beschreibt mit subtilem Witz, aber ohne zu denunzieren, eine Reise, die er 1947 zusammen mit dem Fotografen Robert Capa voller guter Absichten durch das ›Vaterland der Werktätigen‹ unternommen hat.3 Es gäbe sicherlich noch eine Menge mehr an intelligenten Reiseberichten zu entdecken. Das Reden über das »gegenseitige Sehen und Interpretieren von Kulturen« (s. o.) darf nicht seinerseits zur Ideologie werden, sondern sollte einer guten wissenschaftlichen Praxis folgen und Weg, Ziel und Grenzen einer Untersuchung mindestens reflektieren. Ulrich Steltner, Jena 3  John Steinbeck: A Russian Journal. New York 1948; seit Neuestem in der deutschen Übersetzung von Susann Urban greifbar: John Steinbeck, Russische Reise. Frankfurt am Main 2011.



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Nicolas Faguer, Un constant approfondissement du cœur. L’unité de l’œuvre de Péguy selon Hans Urs von Balthasar, [Ars Rhetorica 24] ­Berlin: Lit, 2013, 438 pp. Réinventer la belle notion d’œuvre-cathédrale et représenter la nouvelle notion d’œuvre-symphonie constituent le lumineux projet de Nicolas Faguer pour discerner l’axe essentiel de la pensée de Péguy telle qu’elle apparaît dans les analyses de Balthasar. Si la seule lecture empathique semble pouvoir comprendre que »le surnaturel est lui-même charnel«, l’ouvrage révèle authentiquement sa méthode lorsqu’il enregistre la substitution du terme »Eintiefung« au terme »Vertiefung« dans la traduction balthasarienne du geste d’»approfondissement«; cette plongée dans les sources cordiales de l’écriture péguyste est en effet la définition même du projet de la thèse. La centralité du cœur rend authentiquement compte de la forme et du fond de l’œuvre de l’auteur en ce qu’elle ne dissocie nullement christianisme et socialisme mais présente l’unité profonde de son sens. La littérature et la théologie, de concert chez Balthasar comme chez Faguer, saisissent une écriture de la rencontre (Begegnung) et de la coïncidence des opposés (Durchdringung) qui pourrait aussi se comprendre à l’aune de la pensée de Thérèse de Lisieux (cf. 27–28 et 339–343); or si le critique suisse a d’abord traduit Péguy de 1943 à 1953, puis l’a étudié dans Herrlichkeit en 1962, et en a enfin commenté la vertu d’espérance dans les années 1980, le critique français est sans doute l’un des rares auteurs à réévaluer sérieusement aujourd’hui la profonde esthétique théologique de Péguy. Le caractère herméneutique du présent ouvrage ne signifie d’ailleurs pas la méconnaissance du style poétique, comme en témoignent les remarques sur l’écriture de la litanie (35) ou sur l’écriture de la douceur (95–96), même si l’on aurait pu souhaiter que ces considérations rhétoriques de grande qualité fussent ici plus fréquentes. La lecture de l’œuvre de Péguy se veut sensiblement littérale – »contre la spiritualisation qui est à l’origine de la déchristianisation« (49). La démarche rejoint en ce sens le poète face à Polyeucte et le théologien dans Herrlichkeit – »si le Christ vient au centre de tout comme le résumé de la réalité, comme la synthèse de Dieu et du monde, alors le drame humain prend une part plus forte« (51). L’esthétique théologique jouera donc Irénée contre Platon en signifiant le Fils comme accès au Père et le monde comme subsistance dans le Fils. L’épouvante même du cœur de Péguy face à l’enfer pourra ainsi être sauvée par l’écriture, à rebours du déracinement de Pascal et de la résignation de Dante, et les lignes d’un art poétique nouveau se traceront alors dans l’amour du monde: »c’est une pensée qui s’est déployée en suivant les motions intérieures, car ce sont les propres

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épouvantes du cœur qui ont ouvert la voie au logos« (64). Il y a ici logique de conversion: »Péguy a connu la possibilité de la continuité entre les états du cœur dans et hors de la grâce car son point de départ n’est pas la cupidité mais la solidarité. […] Et s’il en est ainsi, c’est parce qu’il avait pour mission de représenter non pas l’infinie transcendance de la grâce sur la nature, mais le plus mystérieux encore enracinement de la grâce dans la nature« (66). On comprend que Péguy ait pu renoncer au christianisme pour mieux l’embrasser à nouveau, en un itinéraire humain que Nicolas Faguer évoque avec pudeur et qu’il identifie avec Balthasar comme une mission (Sendung). Ce mouvement même est réellement celui d’une esthétique théologique, prolongé dans la lecture balthasarienne du romancier Bernanos et du carme Jean de la Croix, lorsque la littérature informe la théologie et résonne authentiquement avec elle. Songeons ici aux pages magnifiques traitant du désir fou de Jeanne de se damner pour sauver les morts damnés (cf. 95–102). Il s’agit alors de comprendre la béance existentielle en la représentant (darstellen) et en l’animant (nachfolgen) pour en être saisi (vergegenwärtigen). La stricte pensée de la nuit spirituelle aurait certes pu référencer l’édition originale de Jeanne d’Arc rendant compte des blancs typographiques qui lui donnent tout son sens – la préface de Philippe Grosos s’y haussant d’ailleurs à l’esthétique théologique –, mais la belle analyse du mot »pur«, très péguyste en ce que l’âme aspire toujours à réaliser sa forme (cf. 93–94), unit manifestement l’éthique et l’esthétique et rend adéquatement compte du cœur de l’écriture. Balthasar l’avait bien compris lorsqu’il voulait restituer, en traduisant Péguy, le souffle d’un style comprenant que tout suppliant était aussi un supplié, en un entrelacs du temps et de l’éternité sur lequel toute cité se trouve fondée. Le christianisme se révèle en cela clé de voûte articulant le spirituel au temporel et nécessitant la recherche permanente de la justesse de l’expression (cf. 175–179). La pensée proustienne (cf. 223–229) permet en outre que soit soulignée la spécificité du temps péguyste (cf. 230–241) et que soit alors méditée la vraie possibilité du temps retrouvé. Le modèle en est en tout cas toujours l’homme en marche, chez Péguy (»On ne fait que ça, de recommencer. […] Le sacrifice de la messe recommence tout le temps le Sacrifice de la Croix. Son corps, son même corps, pend à la même croix. […] Il y a une chrétienté internelle, un internel chrétien qui toujours le même recommence tout le temps«) comme chez Balthasar (»La réintégration du temps dans l’éternité n’est pas un problème philosophique, mais un problème tout à fait théologique, et pour sa solution il ne faut rien de moins que toute l’histoire du salut: la mort humaine, mais aussi l’amour de Dieu qui s’est anéanti jusqu’à la mort de la croix, jusqu’à la faiblesse infinie du Vendredi saint, où Dieu



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lui-même retombe dans sa propre vie éternelle«). On pourrait d’ailleurs reconnaître une communion de pensée entre Péguy et Bernanos puisque les deux auteurs lient résolument solidarité humaine et solidarité mystique, être dans la grâce et être dans le péché, en se détachant absolument de la christologie de l’amor fati propre au christianisme augustinien (121). Lorsque Balthasar affirme en effet que »dans la prière Jeanne a subitement pénétré jusqu’au cœur de Dieu«, il pourrait aussi bien commenter l’oraison de Chantal dans La Joie. Pour Nicolas Faguer, le cri du cœur est donc devenu l’expression même du désir du Père; pour la critique moderne, le jeu d’échos entre nos auteurs commentés par Balthasar deviendra l’expression même de la cathédrale littéraire et catholique du XXe siècle. Le passage de la pauvreté de l’homme à la pauvreté de Dieu constitue sans doute la spécificité bonaventurienne de Péguy: »Dieu apparaît comme pris dans les lacets du jeu qu’il a déclenché avec la création d’une humanité libre, il n’a pas les moyens de ›tricher‹ en savourant d’avance la victoire que sa prescience lui révélerait ou sa toute-puissance lui garantirait: il doit prendre le risque de s’abandonner entre les mains de sa créature« (136 / 137). L’impuissance du Père devient l’expression même de sa puissance. Cette certitude théologique sera par ailleurs reprise par Balthasar dans sa propre œuvre dogmatique, en cet esprit péguyste qui s’oppose à l’esprit de système comme Kierkegaard s’oppose à Hegel (250). En ce style méditatif qui est comme la marque de son écriture, Nicolas Faguer peut donc affirmer que le saut de la foi est une nécessité permanente devant être préparée par cette liberté de l’esprit à laquelle doit tendre tout enseignement et noter que »le point culminant de l’esthétique théologique de Péguy se trouve dans les larmes du Père qui retrouve le Fils et ses frères« (386) ou que »l’abandon fait entendre toutes les composantes de la musique des cœurs chrétiens« (343). S’éprouve réellement ici la primauté du cœur dans l’écriture de Péguy, littéralement incarnée dans les très belles formules poétiques d’une critique convaincue: »Si le Créateur perçoit un consentement sous les fidélités terrestres de ses créatures, alors Péguy a ouvert les portes à l’espérance d’un mérite universel: sera-t-il dit qu’un homme aura vécu sans avoir ce goût de la terre qui fait le premier temps de la musique des cœurs chrétiens?« (309); »Rien de ce qui est charnellement pur ne demeure étranger à l’enracinement de la charité. Le poète a ainsi pu dégager un amour de la terre si cristallin, si humble et lumineux à la fois et teinté d’une joie si sobre que sa seule manifestation le rend crédible et le justifie« (315). Nicolas Faguer découvre ainsi que l’autodonation divine se place non seulement sur l’axe du travail péguyste mais encore qu’elle en constitue l’axe lui-même: »c’est en ce point exact et impalpable que terre et ciel se rencontrent« (350).

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La grande qualité de l’ouvrage est donc d’entrer à la fois dans le projet et dans le système balthasariens pour en tenir toutes les promesses. La sensibilité littéraire de son auteur se rehausse en effet d’une sensibilité théologique dont le plus beau passage est à nos yeux cette note incidente de la page 359 explicitant la parabole du fils prodigue à l’aune d’une méditation trinitaire: l’enfant qui revient chez son père et mérite ainsi pour tous s’identifie réellement au Christ, touchant la miséricorde du Père et projetant l’homme pécheur au cœur de la dramatique de salut. La pensée de la kénose propre à Balthasar se trouve donc déjà déployée chez Péguy – la paternité humaine lui ayant enseigné la paternité divine – et à nouveau explicitée par Faguer – l’analyse des quatrains inédits de la Ballade du cœur qui a tant battu, 366–374, en révélant la transposition littéraire. Préférant l’honneur au bonheur, Péguy nous révèle ainsi le cœur même de son œuvre, à la fois lyrique et contemplatif. Philippe Richard, Paris Dominique Millet-Gérard, Émilie Bonnet, Philippe Richard, Claude Barthe, Bernanos, un sacerdoce de l’écriture. Préface de Claude Barthe. Versailles: Via romana, 2009, 133 S. Wer die Begriffe »sacerdoce« und »écriture« außerhalb der Theologie miteinander verquickt, könnte irgendeine Variante von Ästhetizismus ansprechen. Der Titel dieses Sammelbandes thematisiert hingegen das Verhältnis von Ästhetik und Spiritualität bei Georges Bernanos. Während ihn heute viele Literaturwissenschaftler auf das Prokrustesbett agnostischer Modevorstellungen legen, nehmen die Autoren hier die Zielsetzungen und den spezifischen Aussagemodus dieses Autors ernst, um seine Vergegenwärtigung jener Dimensionen des Wirklichen zu skizzieren, die bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Entchristlichung verschüttet und inzwischen selbst vielen kirchlichen Funktionären fremd geworden sind. Dominique Millet-Gérard und Claude Barthe ergänzen mit schon an anderer Stelle erschienenen Artikeln die Entdeckungen zweier Nachwuchswissenschaftler, Émilie Bonnet und Philippe Richard, zum inneren Zusammenhang von Gesellschaftsanalyse des Romanciers und Mystik. Bonnet schlägt eine Brücke von Adrienne von Speyrs Theologie des Karsamstags zu vier Romanen (»L’esthétique théologique du Samedi saint. Adrienne von Speyr (Kreuz und Hölle I) et Bernanos (Monsieur Ouine, La Joie, Sous le Soleil de Satan, Journal d’un curé de campagne)«, 93–112) und Richard geht den bisher vernachlässigten »Parallelen« (122) von La Joie und Die Seelenburg von Therese von Avila nach (»De l’alliance entre esthétique



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littéraire et théologie spirituelle: Bernanos et l’oraison du Carmel théré­ sien«, 113–133) nach, die bisher lediglich für Texte von Therese von Lisieux wahrgenommen wurden. Barthes Vorwort ordnet die Aufsätze zu Recht in den Kontext der genialen Studie von Hans Urs von Balthasar über Bernanos (1954) ein, der für Adrienne von Speyrs Vorstellungen den Begriff der »Theologie des Karsamstags« eingeführt, die Beziehung von Bernanos zu Therese von Lisieux als einer der ersten identifiziert, aber die Anleihen an die spanische Karmelitin, die durch die zu Lebzeiten des Romanciers greifbaren Übersetzungen nachweisbar sind, nicht erkannt hat. Richard muss sich zwangsläufig auf wenige Textstellen konzentrieren und bleibt daher manche Erklärung schuldig, die er inzwischen in seiner thèse L’écriture de l’abandon. Esthétique carmélitaine de l’œuvre romanesque de Georges Bernanos (2013) mit dem Nachweis verbindet, dass die mystische Erfahrung von Gottverlassenheit, die als »Nacht« bezeichnet wird, vom Romancier zur Analyse und Widerlegung des Agnostizismus verwendet wird, gegen dessen Folgen seine Protagonisten angehen, wobei sie sich selbst für andere opfern. Damit wird einsichtig, warum Bonnet mit der »Theologie des Karsamstags«, ein Bernanos fremder Begriff, sowie mittels Balthasars Deutung des Romanciers zentrale Aussagen der vier Romane völlig neu beleuchten kann. Der Pfarrer von Fenouille assoziiert in seiner Predigt den moralischen Verfall mit dem Schlamm (»bourbiers«) und mit »l’idée de ›bouillonnement‹« (98), die ebenfalls bei der Basler Ärztin vorkommen. Die Romanfiguren Donissan und Chantal erleben eine Art »mystischer Nacht«, während »la nuit de Cénabre et celle de Ouine sont assimilées à des descentes aux enfers, qui ne traduisent en réalité que la présence effective du mal et du péché sur terre« (101–102). Die Beichtepisoden erhalten im selben Kontext eine »dimension trinitaire« (108), die im Bericht über Mademoiselle Chantal aus Journal d’un curé de campagne besonders gelungen formuliert ist. Bonnet sieht richtig, dass es sich um eine völlig anders geartete Parallele als bei Therese von Avila handelt, denn sie zeigt lediglich, wie Bernanos und Adrienne von Speyr, völlig unabhängig voneinander, mit christlichen Vorstellungen auf die Mentalität ihrer Zeit reagiert haben. Die übrigen Aufsätze runden das so skizzierte Bild des Autors bestens ab. Dominique Millet-Gérard spitzt die Unterschiede von Claudel und Bernanos in zwei Hauptwerken (»Destin et Providence chez Claudel et Bernanos Le Soulier de Satin et Sous le Soleil de Satan«, 11–31) auf eine »inversion des rôles à l’intérieur des couples spirituels« (26) zu, denn beim Romancier erhält ein Priester die Funktion, die beim Dramatiker eine Frau übernimmt. Durch eine solche Projektion diesseitiger Vorgänge auf eine jenseitige Ebene, »le testament dramatique de l’un rejoigne les débuts

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romanesque de l’autre« (30), was angesichts der kritischen Äußerungen des Romanciers über den Dramatiker bemerkenswert ist. Als Journalist ist Bernanos nicht weniger originell (»Bernanos: un journalisme de la personne«, 33–52), wobei man wie Millet-Gérard fragen kann: »Est-il vraiment ›journaliste‹?« (33). Er selbst hat dies ebenso in Abrede gestellt wie die gedankenlose Einordnung als katholischer Romancier. Wie Léon Bloy verwirft er »le journalisme d’opinion« (36) zugunsten einer »prédominance de la première personne du singulier« (42), die ihm als Essayisten große Ausdruckskraft und Eigenständigkeit verleiht. Er verabscheut die Ichbezogenheit von »l’homme moderne en tant qu’individu« (47), das Phrasendreschen der Zeitungen, die Gleichschaltung mit modischen Meinungen oder irgendwelchen Gruppen und vertritt »un journalisme du respect« (52) vor den Menschen, den Dingen und der Wahrheit, womit er sich als Katholik von der Mehrzahl der Journalisten unterscheidet. Die Heiligen sind für Bernanos als Romancier wie als Analytiker seiner Zeit ein fester Bezugspunkt, weswegen Millet-Gérard seine originelle Sicht von Hagiographie herausarbeitet (»L’hagiographie littéraire autour de François Mauriac (Huysmans, Bernanos)«, 53–73). Die literarische Beschäftigung mit den Heiligen wird seit Hellos Physionomies des Saints (1858) und Huysmans’ Sainte Lydwine de Schiedam (1895) salonfähig, doch ergibt sich eine Alternative zwischen einem unterschwelligen Paktieren mit dem Unheiligen und einer Konzentration auf das spezifisch Religiöse im Heiligen. Millet-Gérard zeigt, dass Mauriac in Sainte Marguerite de Cortone (1945) die erstere Tendenz, Bernanos hingegen entschieden die letztere vertritt, wobei er sich hütet »la tangence entre le vrai saint et le saint de papier« (71) in eine religiös fatale Gleichsetzung zu verkehren. Claude Barthe (»Bernanos, la peur ou l’insondable de Dieu«, 75–91) ergänzt, dass Bernanos sich keineswegs mit der Perspektive des Zuschauers begnügt, sondern vor dem Hintergrund einer Erfahrung von Angst bestrebt ist: »›Toucher l’âme‹, lire en elle le drame surnaturel« (76). Deshalb bieten seine Romane »une fantastique galerie de visage à la Bruegel« (80), wobei »[1]’angoisse des âmes saintes est à la mesure de ce mystère« (86). Der bescheidene Priester Chevance lokalisiert im Namen des Romanciers diese Angst in »Gethsémani, le jardin de l’agonie du Christ« (88). Damit versteht man, warum die Mystik einen wesentlichen Beitrag zum Verstehen der besonderen Botschaft dieses Romanciers liefert. Die vorliegenden Studien lehren die Botschaft von Bernanos verstehen. Wer sich mit diesem Autor beschäftigt, sollte sie unbedingt lesen. Volker Kapp, Kiel



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Stefan Hirt, Adolf Hitler in American Culture. National Identity and the Totalitarian Other [Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur 32], Paderborn: Schöningh, 2013, 652 S. Die Rolle Hitlers und der Nazis in der amerikanischen Erzählkunst ist Gegenstand von Gavril Rosenfelds The World Hitler Never Made (2005) und Michael Butters The Epitome of Evil (2009). Stefan Hirt knüpft an diese und andere Untersuchungen an, wendet sich aber Filmen und Fernsehsendungen zu und fragt nach den Funktionen der sich wandelnden Hitler-Bilder für das amerikanische Selbstverständnis. In seiner Einleitung schreibt er: To constitute and negotiate its identity, the ›self› fundamentally depends on the imagination of the ›other‹ and vice versa. As such an other, the image Hitler in American culture is not monolithic but constantly reshaped by various ›neighboring‹ discourses as well as contextual, socio-political events, all of which feed into the always volatile discursive production of identity and otherness. In such a dynamic, the question is no longer whether Hitler functions as a cultural ›other‹, or whether he is remembered as ›evil‹ or ›normal‹ […], but in what way he functions as an other, i. e. what aspects of him are highlighted, what forgotten, and what projected onto him from other areas to constitute his otherness at specific points in time. (12)

Das heißt, an den Veränderungen des Bildes Hitlers und der Nazis lässt sich ablesen, wie diese als Andere gesehen werden und als Projektionsfläche für Ängste und Wünsche dienen. Im zweiten Kapitel behandelt Hirt die Nazi-Propaganda vor 1940 und hebt ihre Konstruktion eines machtvollen Bildes des Führers und der Partei hervor. Gestützt auf Ian Kershaw, Lutz Koepnick (The Dark Mirror: German Cinema between Hitler and Hollywood, 2002) u. a., gibt der Verfasser einen differenzierten Überblick über die Nazipropaganda und beschreibt zum Beispiel Leni Riefenstahls Triumph des Willens (1935) als ein Werk, das die Realität des Dritten Reichs in ein mythisches Spektakel verwandelt und maßgeblich das visuelle Vokabular amerikanischer Darstellungen des Führers und der Partei beeinflusste. Das dritte Kapitel verbindet methodische Erläuterungen mit Hinweisen auf traditionelle amerikanische Diskurse (z. B. die Zivilreligion), die Wirtschaftskrise, faschistische Tendenzen in den USA und Roosevelts Berufung auf traditionelle Werte bei der Einführung des New Deal. Als Beispiele dienen Frank Capras Filme Mr. Smith Goes to Washington (1939) und Meet John Doe (1941), die den Konflikt zwischen der ›civil religion‹ und dem modernen Kapitalismus aufzeigen. John Doe ist ein Konstrukt moderner Medien, über die der Kapitalist Norton mit Hilfe seiner im Text so

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genannten ›storm troopers‹ verfügt. Inwieweit sich Capra bei der Visualisierung der Massenveranstaltungen von Riefenstahl anregen ließ, könnte näher untersucht werden. Überzeugend sind die Ausführungen zu John Doe als »fake« und als »real thing« (84). Ein recht skizzenhafter Abschnitt über das Deutschlandbild vor 1933 schließt das dritte Kapitel ab, an dessen Anfang er besser gepasst hätte. Das vierte Kapitel »Hitler and Nazism during the War« skizziert das Bild, das die amerikanische Presse von 1933 bis 1945 von den Nazis entwarf, und geht ausführlicher auf William Shirers Berlin Diaries ein, die mit dem deutschen Nationalcharakter »opportunism, arrogance, militarism, and sado-masochistic tendencies« assoziieren und Hitler als Demagogen mit hypnotischer Wirkung bezeichnen (115). Reaktionen auf Hitler in der amerikanischen pop-culture werden am Beispiel von Karikaturen, Comics, der Wochenschau March of Times und Filmen beschrieben. Häufig griffen die Amerikaner auf Filmmaterial deutscher Herkunft zurück. Fritz Langs Man Hunt (1941) deutet der Verfasser im Anschluss an Dana Polan überzeugend als Warnung vor dem Faschismus und antidemokratischen Tendenzen in den USA. Während die zeitgenössische Romanliteratur Hitler in der Regel dämonisiert, stellen die Filme der Kriegszeit Hitler gern als lächerliche oder groteske Gestalt dar. Das eindrucksvollste und zugleich einflussreichste Beispiel ist Chaplins The Great Dictator (1940). In seiner sehr guten Interpretation geht Hirt ausführlich auf Hynkels Rhetorik und den Einfluss von Leni Riefenstahls Triumph des Willens ein und hebt u. a. hervor: »Chaplin not only pits his well-established tramp-persona against the powerful dictator. He at times conflates their identities in order to show that the dictator is himself nothing but a tramp who has lost his earlier innocence, purely desiring power and a sense of confident masculinity« (211). Das fünfte Kapitel würdigt die Rolle, die der Zweite Weltkrieg im kulturellen Gedächtnis der Amerikaner spielt, und erklärt seine Bedeutung in der populären Kultur damit, dass er im Gegensatz zum Vietnam-Krieg als Sieg von Demokraten über die Tyrannei verstanden werden konnte. Hirt folgt hier anscheinend der Darstellung von Kristina Scholz und belegt sie mit Hinweisen auf Thesen von Haffner und Trevor-Roper und auf mehrere Kriegsfilme. In den fünfziger Jahren wird Hitler, wenn er überhaupt in Filmen vorkommt, meistens dämonisiert. Einzelne deutsche Soldaten werden dagegen durchaus positiv bewertet (The Desert Fox, 1951 und The Guns of Navarone, 1961). Die Rückkehr des sadistisch eingestellten Nazis ins Kino erklärt Hirt mit den Nürnberger Prozessen, dem Eichmann-Prozess, Werken wie Wil-



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liam Shirers The Rise and Fall of the Third Reich (1960), sowie der ›Amerikanisierung‹ des Holocaust, der in den Worten Novicks Anlass für »national self-congratulation« war (292). In der populären Kultur wurden die Nazis als Schurken und Kriminelle abgestempelt, Hitler als Hypnotiseur, Antichrist, Demagoge und Tyrann, kurzum als Verkörperung des Bösen. Im sechsten Kapitel illustriert Hirt die Darstellung des Bösen in den fünfziger und sechziger Jahren an Filmen wie She Demons (1958) und The Producers (1968). In den siebziger Jahren, so das siebte Kapitel, kam es wegen des Ausgangs des Vietnamkriegs, Watergate und anderer Ereignisse zu einer Krise des amerikanischen Selbstverständnisses, die zu Vergleichen zwischen dem Dritten Reich und dem amerikanischen Imperialismus einlud und eine Hitler-Welle zur Folge hatte. Als Beispiele für die von den Nazis bzw. dem Führer ausgehende Faszination interpretiert Hirt DeLillos Roman Running Dog (1978) und den britischen Film Hitler: The Last Ten Days (1973), ferner das genre des »dirty war film« (The Dirty Dozen, 1967; The Eagle Has Landed, 1976; Cross of Iron, 1977). Andererseits beschäftigte sich in den siebziger Jahren auch die Popkultur mit dem Holocaust. Über die erfolgreiche Fernsehserie Holocaust und den Film The Passage (1979) schreibt Hirt: Holocaust put an end to outright fascinations with fascism in mainstream American culture, bringing about a return of the sadistic Nazi out of his pop-cultural exile. One indicator of such a transition is […] The Passage, which presents itself as a historical film, yet is rather a formulaic spy thriller featuring a villain who is a supreme example of the symbol of evil. (440)

Die Vorstellung des ›guten‹ Kriegs wurde auch durch Star Wars: A New Hope (1977) und den Rechtsruck in der Reagan-Ära genährt. Hirts wichtigste Beispiele aus den 80er Jahren (Kapitel 9) sind Sam Fullers The Big Red One und die beiden TV-Serien The Winds of War (1983) und War and Remembrance (1988). Für die neunziger Jahre und danach (Kapitel 10) ist ein wachsendes Interesse an Hitlers Biographie charakteristisch, so etwa in dem Film Max (2002). Im Zusammenhang mit DeLillos Roman White Noise (1985) und Fernsehdokumentationen (Hitler: The Rise of Evil, 2003) erörtert Hirt Hitler als »icon of power« und würdigt die Darstellungen von Kershaw und Toland. Im elften Kapitel behandelt er Hitler als Pop-Ikone, die etwa in der Serie The Simpsons und in verschiedenen sitcoms als Figur auftrat. Als solche erscheint Hitler auch in den Filmen um Indiana Jones und in Tarantinos Inglorious Basterds (2009). In Aus­ einandersetzung mit Seeßlens Buch über Tarantino entwickelt Hirt eine Deutung, die dem spielerischen Umgang mit Konventionen des NaziFilms Rechnung trägt und dessen Unterhaltungscharakter betont.

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Alles in allem stellt die materialreiche Untersuchung von Hirt an einer Reihe von Filmen und an anderen Werken verschiedene Phasen der Rezeption Hitlers und des Nazismus in den USA dar. Der große Umfang des Bandes ist allerdings nicht nur auf die Gründlichkeit zurückzuführen, mit der der Verfasser den historischen Kontext beschreibt und die Sekundärliteratur verarbeitet. Er ist vielmehr auch eine Folge von zahlreichen stilistischen und inhaltlichen Wiederholungen (rekordverdächtig ist die Häufigkeit, mit der Hitlers Schnurrbart erwähnt wird) und von Mängeln in der Gliederung. Hilfreich wäre eine Einleitung, die das Vorgehen erläutert und zugleich Begriffe und Themen, die später wiederholt eine Rolle spielen, vorstellt; zum Beispiel die visuelle Darstellung Hitlers, Formen der Ikone, die Bedeutung der Massenmedien, die Rolle von ›masculinity‹ usw. Da nun einmal Filme im Mittelpunkt stehen, hätte der Verfasser ferner gut daran getan, die Hinweise auf literarische Werke zu kürzen und stattdessen mehr über die nicht als Hauptbeispiele dienenden Filme zu sagen. Trotz solcher Einwände handelt es sich um eine bemerkenswerte und interessante Dissertation. Paul Goetsch, Freiburg i. Br.

Axel Cherniavsky / Chantal Jaquet (Hgg.), L’Art du portrait conceptuel. Deleuze et l’histoire de la philosophie [Rencontres, 51. Série Les Anciens et les Modernes – Études de philosophie, 1], Paris: Classiques Garnier, 2013, 190 S. Kritische Arbeiten zur Philosophie von Gilles Deleuze unterteilen das folgenreiche Schaffen des französischen Denkers gerne in drei chronologisch aufeinander bezogene Arbeitsphasen. Eine erste Phase bildet dabei das monographische Frühwerk der fünfziger und sechziger Jahre, das in historischen Einzelstudien zu Hume, Nietzsche, Kant, Bergson und Spinoza zentrale Klassiker der Philosophiegeschichte erschließt; mit den siebziger Jahren folgt die zweite Phase im Zeichen der Publikation ›eigener‹ Arbeiten, oft gemeinsam mit Félix Guattari, wobei hier das zweibändige Hauptwerk Capitalisme et schizophrénie (1972–1980) im Mittelpunkt steht. In einer letzten Phase finden sich dann die ästhetischen Reflexionen der achtziger und neunziger Jahre, die namentlich um Malerei und Kino kreisen (etwa Cinéma 1–2, 1983–1985). Auf den ersten Blick erlaubt diese scheinbar so organische Werkchronologie nun offenbar zwei entgegengesetzte Hypothesen: Entweder ergibt sich die deleuzianische Denkpraxis immanenter Werdensprozesse konsequent aus der propädeutischen Beschäftigung mit der Tradition, gleichsam als Summe schulphilosophischer



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Vorarbeiten, oder aber die frühen Studien dienen immer schon der selbstbewussten Festigung und Profilierung eigener Konzeptbegriffe, die auf das Denken der kanonischen Vorläufer projiziert werden, wobei diese dann bald als Gewährsmänner (Nietzsche, Spinoza), bald als Feindbilder (Kant, Hegel) der eigenen Theoriearbeit erscheinen. Mit der spannungsreichen Forschungsfrage nach der historischen Herkunft des deleuzianischen Denkens hat sich das französisch-argentinische Kolloquium Deleuze: la philosophie et son histoire befasst, das im Oktober 2010 in Buenos Aires von Chantal Jaquet (Paris I – Panthéon-Sorbonne) und Axel Cherniavsky (Universidad de Buenos Aires) veranstaltet wurde und dessen Erträge der vorliegende Band nun in insgesamt elf Beiträgen und einem Vorwort der Herausgeber versammelt; eine spanische Übersetzung ist beim Verlag La cebra in Buenos Aires in Vorbereitung. In ebenso aufschlussreicher wie verdienstvoller Weise richtet sich damit der Blick ausnahmsweise einmal auf das im Vergleich gesehen weniger gelesene Frühwerk, verbunden mit der Überlegung, wie genau bei Gilles Deleuze das Verhältnis zur Philosophiegeschichte, vor allem aber auch zur Praxis der konventionellen Philosophiegeschichtsschreibung beschaffen ist, und worin die »voie originale« (7) des Traditionsbezugs besteht. Einige Vorentscheidungen bei der Konzeption des entsprechenden Kolloquiums erscheinen dabei nicht unproblematisch: Zu Wort kommen in dem Band originellerweise gerade nicht die Deleuze-Exegeten, die sich zuletzt mit eben dieser Frage beschäftigt haben,1 vielmehr gilt das Interesse diesmal eher dem »point de vue de spécialistes des auteurs convoqués que de celui des commentateurs deleuziens« (8). Freilich handelt es sich bei diesen Spezialisten offenkundig primär um die akademischen Zirkel der veranstaltenden Universitäten argentinisch-französischer Herkunft, so dass die gewählte Zusammensetzung der Beiträger nicht nur der fachlichen Ausgewiesenheit, sondern auch der institutionellen Kontingenz verpflichtet sein dürfte. Das kurze Vorwort der Herausgeber konzentriert sich auf eine zentrale deleuzianische Metareflexion zur Philosophiegeschichte und erklärt dabei zugleich den wunderbaren Titel des Bandes unter Verweis auf eine vielzitierte Passage aus dem zweiten Kapitel von Qu’est-ce que la philosophie? Dort sprechen sich Deleuze und Guattari gerade nicht für eine traditionsbewusst-hermeneutische Aneignung der Klassiker aus, die als bloßes 1  Etwa Manola Antonioli, Deleuze et l’histoire de la philosophie (ou de la philosophie comme science-fiction), Paris: Kimé 1999, Guy Lardreau, L’exercice différé de la philosophie. À l’occasion de Deleuze, Paris: Verdier 1999, Roberto Machado, Deleuze e a filosofia, Río de Janeiro: Graal 1990.

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Nocheinmalsagen und als schulmäßig-museale Vergangenheitsverwaltung problematisch scheint; Philosophiegeschichte müsse vielmehr der Kunst des Portraitmalers nacheifern und die neuartigen Begriffsschöpfungen der Vorgänger mitsamt ihrer spezifischen ›Immanenzebenen‹ skizzieren, dabei zugleich aber auch den jeweiligen noetischen Stil berücksichtigen, der sich mit diesen vorphilosophischen Plänen des Denkens verbindet (vgl. 7–9). Ohne die deleuzianische Leitmetapher des Portraits überzustrapazieren, bleibt doch die Ablehnung der herkömmlichen Ideengeschichte (wohl des Typs ›l’homme et l’œuvre‹) zugunsten einer innovatorischen Vorgehensweise im Sinne ›begrifflicher Portraits‹ unverkennbar; entsprechend ist auch die Gliederung des Tagungsbandes sozusagen als »série de tableaux« (8) organisiert, deren Anordnung der Werkchronologie bei Deleuze selbst folgt. Das analytische Fundament für diese Galerie legt eingangs Cherniavskys eigener Beitrag zu »Fidélité ou efficacité? Problèmes méthodologiques de l’histoire deleuzienne de la philosophie«. Er schildert den für Deleuze entscheidenden Widerspruch zwischen seiner eigenen Vorstellung von Philosophie als dynamischer Begriffsschöpfung und dem statisch-repetitiven Gestus hermeneutischer Ideengeschichte, der Deleuze eine repressive Wirkung unterstellt. Mögliches Gegenkonzept bei Deleuze ist hierbei, wie Cherniavsky zeigen kann, das genannte ›Portrait‹ als quasi-künstlerische Annäherung, bei der sich der malende Philosoph über Technik, Stil und Auswahlkriterien in das Bild einbringt, so dass zuletzt vor allem die subjektive Anverwandlung sichtbar gemacht wird, bei der Fremd- und Selbstbild in einer Collage verschmelzen: »tout portrait est un autoportrait« (18). Dabei bescheinigt etwa Michel Foucault dem befreundeten Deleuze gar die Inszenierung eines imaginären theatrum philosophicum, in dem er kulturell produzierte Masken der kanonischen Denker zeitgleich-überzeitlich anordnen könne. Ob nach der philologischen ›fidélité‹ solche Zerrbilder in ihrer visuellen ›efficacité‹ das hellere Licht auf die fremden Denker werfen, lässt Cherniavsky zuletzt offen: Beide Verfahren könnten keinen Objektivitätsanspruch geltend machen, sondern bewegten sich vielmehr in kulturhistorischen Vorverständnissen, so dass mutatis mutandis gelte, dass »la falsification se révèle comme la seule histoire de la philosophie possible« (27). Den Beginn des historischen Parcours macht Marcelo Mendoza Hurtado mit »Repenser le sujet. L’empirisme de David Hume sous le regard de Gilles Deleuze«. Obwohl die frühe Hume-Studie von 1953 noch stärker der konventionellen Historiographie verpflichtet bleibt, zeigen sich auch hier bereits keimhaft Leitkonzepte von Deleuze, deren Genealogie im Empirismus verortet wird.



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Gleich zwei Beiträge befassen sich mit dem Verhältnis zwischen Deleuze und Nietzsche, so Bertrand Binoche in seinem Aufsatz »Deleuze, Nietzsche et le problème de la différence«, der musterhaft Möglichkeiten und Probleme des ›Portraitstils‹ in Nietzsche et la philosophie (1962) beschreibt. Gegen die etablierten Deutungsmuster wird Nietzsches Denken bei Deleuze nicht als mächtige Tatphilosophie gelesen, vielmehr ermöglichen zahlreiche ebenso originelle wie verblüffende Umbesetzungen die Lesart des ›Willens zur Macht‹ als Bejahung der Macht des Lebens und des Vitalismus vorsubjektiver Kräfte, die sich in differenziellen Ereignis­ serien vervielfältigen. Zu haben sind diese Neuentdeckung Nietzsches und die konterdiskursive Entheroisierung jeglichen ›Pathos’ der Distanz‹ freilich nur um den Preis einer philologischen Sorglosigkeit und eines »coup de force exégétique« (73), dem Binoches stärker konventionelle Sichtweise zuletzt kritisch gegenübersteht. Eine sinnvolle Ergänzung ist Mónica Cragnolinis Text »Le Nietzsche de Deleuze. La puissance et le nomadisme«, der die oft nicht explizit gemachten Beeinflussungen aufdeckt und damit einem Anspruch des ›Portraits‹ gerecht wird, statt den Hauptwegen der fremden Denker eher dem Impliziten und den sous-entendus nachzuspüren (vgl. 145). Nicht nur in der frühen Monographie sind nämlich die langen Schatten von Nietzsche spürbar, sondern auch in späteren deleuzianischen Kategorien des Wunsches und des Nomaden. Dabei betont Cragnolini überzeugend, dass Deleuzes Auseinandersetzung mit historischen Figuren kein schulmäßiges Nachdenken sucht, sondern einen Zwischenraum des Dialogs, ein gleichsam überindividuelles Schreiben, bei dem die kollaborierende Begriffsschöpfung möglich wird (63). Zwei weitere Aufsätze widmen sich den Kant-Lektüren bei Deleuze. Mario Caimis Text zu »Deleuze, lecteur de Kant« fokussiert dabei die noch stärker exegetische Auseinandersetzung in Différence et répétition (1968), bevor Christian Bonnet die Rezeption des kantianischen Zeitbegriffs in »›Le temps sort de ses gonds‹. Deleuze et l’invention kantienne de la conscience moderne du temps« verfolgt. Vor allem in Critique et clinique (1993) kann Deleuze nämlich die Emanzipation der Zeit gegenüber der Kategorie der Bewegung rekonstruieren, die dann in der neuartigen Zeitbestimmtheit des Cogito aufgeht: Das Selbstverhältnis im Denkakt ist immer schon durch eine vorgängige Zeitintuition im Subjekt geprägt, die als irreduzible Alterität bestehen bleibt (vgl. 102–103). Geradezu borgesianisch wirkt die Idee von Frédéric Fruteau de Laclos, Deleuze ein ›Portrait‹ zu unterstellen, das er überhaupt nicht geschrieben hat, eben »Le Hegel que Deleuze n’a pas écrit«. Der große Abwesende in der Serie des monographischen Frühwerks wird dabei wie Kant eher zu den Gegenspielern gerechnet, unterliegt aber (anders als Kant) nachgerade

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einer intentionalen Hermeneutik des Verkennens in der »méconnaissance du hégélianisme« (108). Der Gegensatz zu Hegel lässt sich freilich, deleuzianisch gedacht, nicht durch eine dialektische Opposition bestimmen, die das binäre Verfahren des Antipoden aufnähme, sondern durch differenzielle Vermessungen im konzeptionellen Zeichen des déplacement und des travestissement (109). Ein bevorzugter Denker war für Deleuze zeitlebens Henri Bergson, wie der Aufsatz »Un bergsonisme se faisant. Deleuze lecteur de Bergson« von Arnaud Bouaniche materialreich zeigt. Er belegt nämlich, wie Deleuze insbesondere in Le bergsonisme (1966) zentrale Kategorien Bergsons aufgreift, amalgamiert und in seine ›eigene‹ Theoriesprache überführt, wobei etwa die durée in der multiplicité, die mémoire in der coexistence virtuelle und der élan vital in der différenciation ihre Spuren hinterlassen haben. Solche Anverwandlungen in der »co-création« (136) setzen auch Deleuzes spätere Kino-Studien im Zeichen der virtuellen Wahrnehmungsbilder fort. Ein Glanzstück des Aufsatzbandes ist sodann Chantal Jaquets Kommentar zur deleuzianischen Spinoza-Rezeption von 1968, »›Un balai de sorcière‹. Deleuze et la lecture de l’Éthique de Spinoza«. Genauer noch als viele andere Beiträger beleuchtet dieses ›Begriffsportrait‹ die konkreten dekonstruktiven Verfahrensweisen: So entdeckt Deleuze im unauffälligen Verbum exprimere überraschend Spinozas Leitmotiv des Ausdrucks neu und schließt es zugleich an die eigene Immanenzphilosophie an. Anders als herkömmliche Darstellungen beginnt Deleuze dabei gleichsam aus der Mitte von Spinozas Textualität heraus zu arbeiten, sucht eine produktive »démarche par le milieu« (144), die in ihrer Aufmerksamkeit für Stil und Rhythmus, ihrer Aufdeckung der Nebenwege und sous-entendus die schönsten Erträge fördert. Nicht mehr in das monographische Frühwerk passen zwei späte Studien von Gilles Deleuze zu Foucault und zu Leibniz. Während Manuel Mauer im Aufsatz »Vie et pouvoir au sens extra-moral. Au sujet de quelques lectures récentes de la bio-politique foucaldienne« neuere FoucaultLektüren bei Revel und Lazzarato kritisiert und mit Deleuzes eigener Monographie vergleicht (Foucault, 1986), untersucht Laure Pédrono in »Le Pli, une anamorphose du système leibnizien« die Leibniz-Studie von 1988 und findet hier wohl zum Kern der philosophischen ›Portraitkunst‹. Tatsächlich wirkt der Hinweis auf die künstlerische Technik der Anamorphose ausgesprochen erhellend, versucht diese doch ebenso wie das philosophische ›Begriffsportrait‹ durch gezielte Verzerrungen einen neuartigen, persönlichen und ›authentischen‹ Blick auf den Gegenstand zu erzeugen. Dreh- und Angelpunkt dieser Betrachtung ist im Falle von Leibniz die



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Sinnfigur der Falte, von deren unorthodox-dezentrierter Perspektive aus sich freilich das barocke Denksystem erschließt. Als Ergebnis deuten die Beiträge (auch ohne ein ausdrückliches Fazit) wohl folgende Überlegung an: Die visuelle Metapher des ›begrifflichen Portraits‹, bei dem die Persönlichkeiten von Maler und Modell produktiv verschmelzen, lässt sich beim philosophischen Schreiben als kollegiales »entre-deux fécond« (8) im Zeichen der pluralen Genese übersetzen, die den kreativen Dialog mit der Tradition sucht und sich dabei einen Kreis von Freunden und Feinden zusammenstellt (vgl. 7). Dekonstruktiver Ertrag und scheinbare Willkür des Exegeten gehen bei diesem gemeinsamen Denken freilich immer wieder ineinander über. Insgesamt hätte man sich wünschen können, dass die titelgebende Bildmetaphorik und die einschlägigen Metareflexionen bei Deleuze von mehr Verfassern genauer gewürdigt und in die Untersuchung integriert worden wären, so wie es vor allem bei Cherniavsky, Jaquet und Pédrono eindrucksvoll gelingt. Zu präzisieren bliebe dann auch, welches wissenschaftshistorische Modell sich eigentlich genau hinter der von Deleuze denunzierten ›herkömmlichen‹ Philosophiegeschichte verbirgt und welchen Ort sein eigener Ansatz im Kontext größerer Erneuerungen der historiographischen Hermeneutik (etwa nach Martial Gueroult), aber auch der literarischen Dekonstruktion (nach Jacques Derrida) einnimmt; hierzu gibt es nur einen isolierten Hinweis bei Jaquet (144). Gleichwohl bietet der Band in der Summe eine faszinierende und aufschlussreiche Gesamtschau des monographischen Frühwerks und öffnet den Blick für die Arbeit der produktiven Rezeption, die sich in der deleuzianischen Gemäldegalerie entfaltet. Frank Nagel, Kiel Frank-Rutger Hausmann, Die Deutsche Dante-Gesellschaft im geteilten Deutschland. Stuttgart: Hauswedell, 2012, VI + 298 S. Im Anschluss an die Vorbemerkung (I–VI), in der Hausmann Quellenmaterial, Vorarbeiten, Vorgehensweise und Desiderate skizziert, nennt er mehrere Grundprobleme bei der Darstellung der Geschichte der Deutschen Dante-Gesellschaft (DDG), nämlich das fehlende Archiv und die geglätteten Protokolle. Zudem habe die Beschäftigung mit Dante in Westund Ostdeutschland einen unterschiedlichen Stellenwert gehabt: Während sie im Westen vom Bildungsbürgertum und der Hochschulitalianistik ausging, sei sie im Osten, wenn man von den Aktivitäten von 1965 absehe, getragen worden »von zumeist christlich gesinnten oder bloß bildungsbürgerlichen Vertretern geistlicher, akademischer und künstlerischer Berufe,

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die die DDR im Grunde ihres Herzens ablehnten und Dantes Divina Commedia als ›Sehnsuchtsort‹ benutzten« (13 / 14). Nach einem Abriss der Geschichte der DDG von ihrer Gründung bis zum Ende des zweiten Weltkriegs (vgl. 15–20) geht es im ersten größeren Kapitel (21–36) um das Ende der Ära Goetz und die Präsidentschaft von Hans Rheinfelder, d. h. die Jahre zwischen 1949 und 1971. Hier schildert Hausmann zunächst nach der letzten Jahrestagung im Krieg (Weimar 1942) die anfänglichen Hoffnungen und Schwierigkeiten und den Ursprung der zwei bzw. drei mit der DDG verbundenen Standorte (nicht Sitze): Gräfelfink bei München als Wohnsitz des Präsidenten Walter Goetz; Greiz in Thüringen als Wohnsitz des Jahrbuch-Herausgebers Friedrich Schneider; und Krefeld als wechselnder und zunächst nur als vorübergehend (vgl. 27) geltender Tagungsort ab 1947. Als 1949 Hans Rheinfelder zum Nachfolger des Historikers Goetz gewählt wurde, habe sich nichts an diesen Standorten geändert, da dieser ebenfalls in bzw. bei München ansässig war und so gar die Geschäftsstelle der DDG in Gräfelfink verbleiben konnte (vgl. 28). Da der 1949 zum Stellvertretenden Vorsitzenden gewählte Historiker Friedrich Schneider trotz seiner national-konservativen Ausrichtung in der DDR Karriere machte und sich so einen gewissen Freiraum erkämpfte, konnte er bis zu seinem Tod (1962) nicht nur das Dante-Jahrbuch herausgeben, sondern durch Dante-Lehrveranstaltungen und über seinen Schülerkreis auch das Interesse an Dante und Weimar als eigentlichem Sitz der DDG aufrechterhalten. Zwei Dinge änderten sich unter der Präsidentschaft von Hans Rheinfelder: Da er der erste Romanist in der Präsidentschaft der DDG war, nahmen zum einen philologisch ausgerichtete Beiträge auf den Jahrestagungen und im Jahrbuch zu; zum anderen wurden schon in den ersten Nachkriegsjahren eine Reihe von zum Teil recht aktiven Ortsgruppen der DDG gegründet. Die folgenden drei Kapitel behandeln drei zentrale Fragen, die die Geschichte der DDG bestimmten: Sitz und Tagungsort, Jahrbuch und DanteBibliothek. Was die Frage nach Sitz und Tagungsort betrifft (vgl. 37–53), so konnte Weimar, nachdem die DDG am 06.12.49 aus dem Vereinsregister der Stadt gelöscht worden war, nicht mehr Sitz der Gesellschaft sein. Da jedoch Weimar als Druckort weiterbestand, blieb zunächst alles beim Alten, ja, anscheinend plante die Thüringische Landesregierung sogar eine Eingliederung der DDG in den Kulturbund. Eine Teilnahme der in der DDR wohnenden DDG-Mitglieder an im Westen stattfindenden Tagungen war allerdings nur unter großen Schwierigkeiten möglich. Jedoch kümmerte sich die DDR lange Zeit nicht weiter um die DDG, so dass bis 1954 weiterhin Jahrestagungen in Weimar stattfinden konnten (41). Anscheinend hatte die DDR zu dieser Zeit noch auf eine Wiedervereinigung



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unter sowjetischer Oberhoheit gehofft, doch als diese zunehmend illusorisch wurde, betrieb sie eine Festigung der Eigenstaatlichkeit, die auch das Vereinswesen berührte (vgl. 44). Eine auf der Tübinger Jahrestagung von 1957 beschlossene Formulierung, die Weimar als Sitz, aber Gräfelfink bei München als Geschäftsstelle vorsah, wurde jahrelang nicht umgesetzt. Versuche von 1957 und 1963, doch noch eine Jahrestagung in Weimar durchzuführen, wurden von der DDR-Regierung abgelehnt – letzterer offensichtlich, weil der nach dem Tod von Friedrich Schneider im Oktober 1962 zum Nachfolger und Vizepräsidenten der DDG gewählte Zwickauer Pfarrer Otto Riedel der DDR-Führung nicht genehm war (vgl. 47). Der Pastor durfte daher auch nicht 1965 in Weimar eine Jubiläumstagung abhalten. Dafür gab es im Gedenkjahr im Westen gleich zwei DanteVeranstaltungen: eine Dante-Woche in München im Mai und die Denkmaltagung im Oktober 1965 in Krefeld anlässlich der Einweihung der Dante-Statue von Giannino Castiglioni (vgl. 50). Was die Frage des Sitzes betrifft, so konnte Rheinfelder eine Einheit der Gesellschaft in Ost und West mit Otto Riedel als Vizepräsidenten im Osten immerhin erfolgreich suggerieren. Da es der DDR-Führung nicht gelang, linientreue Mitglieder in den Vorstand zu schleusen, beschloss sie eine eigene Dante-Manifestation und ein langsames Aushungern der Rest-DDG im Osten, die ohne staatliche und städtische Unterstützung auf regionale Veranstaltungen im Schutz der Kirche zurückgedrängt wurde. Umgekehrt waren Rheinfelders Ostkontakte in manchen politischen Kreisen im Westen nicht gern gesehen (vgl. 52). Das Kapitel über das Deutsche Dante-Jahrbuch (54–75) berichtet zunächst über Spannungen innerhalb des Präsidiums der Gesellschaft, als mehrere Präsidenten in die Herausgabe des Jahrbuchs hineinredeten. Dies änderte sich, als nach dem Tod des Historikers Schneider ein Romanist 1964–70 die Herausgabe des Jahrbuchs übernahm: Alfred Noyer-Weidner (62). Ab 1972 hatte diese Aufgabe dann für viele Jahre Marcella Roddewig inne, die sich durch ihr monumentales Werk über die Commedia-Handschriften, aber auch durch ihr besonderes Eintreten für die Interessen der nicht-universitären Mitglieder der Gesellschaft einen Namen machte (vgl. 66–70). Die letzten Seiten des Abschnitts beschreiben den 1967 vollzogenen Wechsel vom Verlag Hermann Böhlau Nachfolger in Weimar zum Böhlau-Verlag in Köln. Das sich anschließende Kapitel über Dante-Bibliothek, Dante-Archiv und Dante Museum (76–100) ist besonders gut durch Abbildungen von Dokumenten illustriert. Eine erste, schon in den Statuten von 1865 vorgesehene Dante-Bibliothek, die 1877 ganze 261 Titel umfasste (vgl. 77), ging noch vor dem ersten Weltkrieg an die Universitätsbibliothek Leipzig: Um

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1931 sei eine zweite Bibliothek der DDG in der Thüringischen Landesbibliothek angelegt worden, die 1941 nach Schloss Moritzburg ausgelagert worden sei, wo sich schon die königlich-sächsische Dante-Bibliothek der Wettiner befand. Ein Teil davon sei durch Bombenangriffe zerstört worden (88), andere Teile habe man nach Moskau gebracht, wo man sie noch heute in der Rudomini-Bibliothek finde, und weitere Bestände hätten sich 1964 noch oder wieder in Moritzburg befunden. Etwa um die gleiche Zeit sei der Aufbau einer dritten Dante-Bibliothek der DDG in München begonnen worden, wo sie sich jetzt in der Münchner Stadtbibliothek befinde (vgl. 94). Dringend erforderlich sei vor allem ein Archiv der DDG, denn etliche Nachlässe seien, auf mehrere Bibliotheken verstreut, zwar noch erhalten, aber vieles sei auch offensichtlich verloren gegangen (vgl. 94–98). Innerhalb der Thüringischen Landesbibliothek sei in den 30er Jahren anscheinend auch ein Dante-Museum geplant gewesen, aber viele Dante-Stiche, Gemälde und Büsten, von deren Existenz im Besitz von DDG-Mitgliedern jener Zeit man weiß, seien anscheinend in den Wirren des zweiten Weltkrieges verloren gegangen. Ein sehr spannendes Kapitel beschäftigt sich mit der Vizepräsidentschaft Pfarrer Otto Riedels (101–34). In dieses Amt war er 1962 als Nachfolger von Friedrich Schneider gewählt worden und übte es – ab 1973 ehrenamtlich – bis zu seinem Tod 1983 aus. In dieser Zeit hielt er in Zwickau und anderen Städten der DDR Dante-Veranstaltungen ab wie die Zwickauer Tagung Dantes Weltgeltung im Mai 1964. Sein Hauptverdienst aber war es, durch Vernetzung der diversen lokalen Dante-Arbeitsgemeinschaften die Geschlossenheit der DDG als gesamtdeutsche Vereinigung zu bewahren. Doch gab es vielerlei Behinderungen durch die DDR-Kultusbürokratie, die etwa den 1965 nach Florenz eingeladenen Riedel beim dortigen Oberbürgermeister wieder auslud (vgl. 106). Schlimmer noch als das Druckverbot für das Jahrbuch in der DDR sei ein Erlass der DDR vom 09. November 1967 gewesen, der DDR-Bürgern die Mitgliedschaft in der DDG praktisch untersagte (vgl. 113). Versuche von Riedel und Rheinfelder, dies für in der DDR wohnende DDG-Mitglieder rückgängig zu machen, schlugen fehl, so dass Riedel diese informieren musste, dass für sie eine Beschäftigung mit Dante zukünftig nur noch privat möglich sei (vgl. 115). Nachdem auch weitere Vorstöße bei der DDR-Kultusbürokratie erfolglos blieben, versuchten Riedel und Rheinfelder ab 1971, unter dem Dach der Evangelischen Kirche in der DDR Raum für Dante-Aktivitäten zu schaffen – mit begrenztem Erfolg nur in Sachsen (vgl. 121). Nach Rheinfelders Tod habe bis zur Wahl von August Buck als Nachfolger zunächst Marcella Roddewig die Geschäfte geführt, und Otto Riedel einen neuen Vorstoß unternommen, auch DDR-Mitgliedern eine Mitgliedschaft



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in der DDG zu ermöglichen – diesmal über eine juristische Konstruktion, die im Endeffekt weder der DDR noch der DDG-Leitung gefiel (vgl. 128). De facto wurde 1972 / 73 die Spaltung vollzogen – zum einen durch die Umwandlung der DDG in einen rechtsfähigen eingetragenen Verein mit Gemeinnützigkeit durch Eintrag in das Münchner Vereinsregister am 15.09.1973, zum anderen durch die von Buck und anderen vertretene Ansicht, dass, solange die Mitgliedschaft von DDR-Bürgern nicht geklärt sei, nur ein Bürger der Bundesrepublik Vizepräsident sein könne. Wenig später legte Riedel seine Vizepräsidentschaft nieder, wurde aber zum Trost Vizepräsident ehrenhalber (vgl. 129). Zwar konnten DDR-Rentner weiterhin in den Westen reisen, doch in der DDR existierte Dante-Arbeit fortan nur noch im privaten oder kirchlichen Rahmen, und die Mitglieder dieses Kreises waren vor allem Menschen, die die DDR aus christlichen oder anderen Erwägungen ablehnten. Am 17. September 1978 legte Riedel die Dante-Arbeit in die Hand von Wolfgang Hradský aus Magdeburg, der, unterstützt von Horst Heintze und Gotthard Strohmaier, nunmehr stärker philologisch ausgerichtete Dante-Treffen in verschiedenen Städten der DDR ausrichtete (132), deren vermutlich letztes der Rezensent selbst noch 1992 in der Nähe von Leipzig miterlebte. – Fast farblos wirkt im Gegensatz dazu das, was im folgenden (vgl. 135–144) zur offiziellen Ost-Berliner Dante-Feier von 1965 gesagt werden kann, deren Hauptziel es wohl war, die Leistungsfähigkeit des DDR-Kulturlebens zu dokumentieren und die Beziehungen zu Italien zu verbessern. Von der zu den italienischen Dante-Feiern entsendeten DDRDelegation liegt ein detaillierter Reisebericht aus Rudolf Besthorns Feder vor, der die Reise als Erfolg bewertet. Auch von der Ostberliner DanteFeier mit anschließender Reise der Gruppe nach Potsdam, Dresden, Altenburg und Weimar exisitieren Unterlagen. Doch spielte das Italienische in der DDR keine nennenswerte Rolle, da der DDR-Führung offenbar Lateinamerika wichtiger war als Italien, und die überlieferten Bemerkungen einiger italienischer Teilnehmer an der Tagung sind ihrerseits eher verhalten (vgl. 141–144). Den Abschluss des Werkes bilden drei kurze Kapitel. Deren erstes (145–151) schildert das erste Jahrzehnt der Präsidentschaft von August Buck. Da Fachhistoriker Hausmann zufolge einen zeitlichen Abstand von circa 30 Jahren einhalten sollten, endet die Darstellung 1981, so dass es hier im Wesentlichen um die sehr positiv gesehenen Leistungen von August Buck und Marcella Roddewig geht. Es folgt die Bilanz (152–155), in der kurz das Wirken der Präsidenten und Jahrbuch-Herausgeber gewürdigt, ein Ausblick auf die aus den genannten methodischen Gründen nicht mehr im Detail behandelte Epoche unmittelbar nach der deutschen Wie-

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dervereinigung gegeben und schließlich eine Rückkehr nach Weimar angeregt wird. Am Ende folgt noch ein Exkurs über Dantis Ossa – Das Bildnis Dantes (156–167), in dem Spekulationen aus nationalsozialistischer Zeit über Dantes rassische Zugehörigkeit – Dante als angeblicher Germane (Rosenberg u. a.), als mediterraner Typ (Frassetto u. a.) oder als aquiliner Typ nach Art der Etrusker (Fischer) – präsentiert werden, um zu zeigen, »wie sich in der Geschichte der DDG im Einzelfall persönliche Schicksale und […] Forschungen über Dantes Leben und Werk […] sowie politische Konstellationen eng miteinander verflechten« (156). Gemeint war, dass sich Goetz und Schneider in der NS-Zeit gegen Versuche wehren mussten, Dante gewaltsam zu germanisieren – vielleicht gedacht als Parallele zu Versuchen der DDR-Kultusbürokratie, Dante für den Marxismus zu vereinnahmen. Es folgen eine Liste der Jahrestagungen der DDG 1946–1981 (169 / 170), ein außerordentlich reichhaltiger Anmerkungsapparat (171–267), Abkürzungsverzeichnis, Verzeichnis der Archivquellen, Bibliographie, Abbildungsverzeichnis und Namensregister (268–298). Die von Hausmann vorgelegte Geschichte der DDG im geteilten Deutschland ist ein flüssig geschriebenes, sehr spannendes Buch, bei dem es sich lohnt, auch die vielen sehr informativen Endnoten mit ihren BelegZitaten aus den Archiven gründlich zu lesen. Gerade für Zeiten, wo die Gesellschaft bemüht war, nach außen hin ein einheitliches Bild abzugeben, deuten sich in langen Briefauszügen die persönlichen Spannungen innerhalb des Präsidiums an. Vor allem aber zeigt das Buch in eindrucksvoller Weise den langen und am Ende doch vergeblichen Versuch, im geteilten Deutschland wenigstens die Einheit der DDG zu wahren, sowie den bewundernswerten und aufopferungsvollen Widerstand von Menschen wie Otto Riedel gegen die DDR-Kultusbürokratie. Aber war es dazu nötig, in einem Exkurs auf die NS-Zeit zu rekurrieren? Andererseits fehlt – aus den genannten methodischen Gründen erklärlich, aber trotzdem bedauerlich – leider eine ausführliche Darstellung der Rolle von Wolfgang Hradský, Horst Heintze und Gotthard Strohmaier im letzten Jahrzehnt der DDR und über das Zusammenwachsen der inzwischen westdeutschen DDG mit den Dante-Freunden der DDR nach der Wiedervereinigung. Joachim Leeker, Dresden



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Nora Berning, Towards a Critical Narratology. Analyzing Value Construction in Literary Non-Fiction across Media. [WVT-Hand­ bücher und Studien zur Medienkulturwissenschaft 9], Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 191 S.  The so-called ethical turn in literary theory and criticism was initiated in the late 1980s and early 1990s by deconstructive philosophers and critics and has since produced an array of diversified approaches which share two convictions, first, that literature has a profound capacity to express and sensitize readers to ethical issues and problems and, second, that literature’s quality as an ethical catalyst is revealed most clearly and most strongly in narrative art. When the author of the monograph under review declares that »narratives fulfill important cognitive functions in that they help us to make sense of an increasingly complex, globalized world« (1), she opens a wider sphere for the investigation of the ethical significance of narratives than narratologists usually do. The study takes a new departure in the research area of ethical narratology in several respects: For once it deviates from traditional work on the ethics of story-telling in that its corpus is constituted not by narrative fiction, but by a hybrid genre which has recently come to the attention of critics, namely that of literary non-fiction, which is related to reportage and journalism. As difficult as a definition of this genre may be, there is no doubt that there is the need to find a common denominator for narrative works whose material basis is formed by real events and experiences and which use literary devices for their processing. A general feature of this genre is its intermedial nature. It may be realized, for instance, in texts, photo narratives, graphic novels, and hypertexts, i. e. works which are not necessarily textual, but evince narrativity as a linking feature. The second innovative aspect of the study is its attempt to find and define formal elements that are used for value-construction across media. In this respect it follows and modifies a pioneering contribution by Roland Weidle of 2009.1 The novelty of the book’s approach consists in (1) the analysis of literary non-fiction as a vehicle for the dissemination of values, (2) the systematic use of narratological categories for analyzing value construction in literary non-fiction, (3) the establishment of an analytical framework designed for analyzing value construction across media. The systematic pursuit of these three aims justifies the name »Critcal Ethical Narratology« which Berning gives to her study.

1  »Value Constructions in Narratives across Media: Towards a General Typo­ logy«. Amsterdam International Electronic Journal for Cultural Narratology 5.

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The study consists of a comprehensive theoretical part with an exhaustive consideration of relevant literature and an analytical part. The wideranging and yet strongly focused opening section deals with the self- and world-making function of narrative, with the generic status of literary non-fiction and its specific narrativity and its openness to medial crossovers. As novel as the approach may be, the central principle »that a work’s moral vision is inextricably linked to aspects of form, genre, and mediality« (5) relates to and yet transcends the tenets of earlier studies on the ethics of narrative works. What is new in the present study is the emphasis on mediality. Thus Berning’s theoretical framework applies Ansgar Nünning and Jan Rupp’s (»Hybridisierung und Medialisierung als Katalysatoren der Gattungsentwicklung«, 2011) claim »that processes of hybridization and medialisation play an important role as catalysts of generic development« to literary non-fiction« (13). »In order to illuminate the ways in which literary non-fiction interrelates with factual narratives«, Berning draws on Nünning’s (»How to Distinguish between Fictional and Factional Narratives«, 2005, »Kriterien der Gattungsbestimmung«, 2007) list of narrative techniques designed to elucidate the difference between fictional narratives on the one hand and historiography and factual narratives such as journalistic reporting on the other hand. An important part of the theoretical framework is Berning’s discussion of the relation between extant ethical narratology2 and her newly-conceived Critical Ethical Narratology. In her view »a 21st century ethical narratology should be conceptualized in such a way that it can deal not only with fictional but also hybrid genres« (30). For the choice of »core categories of value construction in literary non-fiction« Berning refers to the above-mentioned article of Roland Weidle. It is her aim »to find out through what procedures the literary work renders intelligible the values it evokes« (46). At the end of the study’s theoretical part its methodical framework is expounded. First, the choice of the corpus of the analytical part is explained. Four media and corresponding narratives have been selected, all internationally acclaimed works of literary non-fiction: (1) Alexandra Fuller’s literary non-fiction novel Scribbling the Cat (2004), a first-person narrative about the author’s journey to places of her childhood in Africa; (2) three World Press photo narratives (2011) – Ed Ou’s story of refugees from Africa in Escape from Somalia; Darcy Padilla’s description of a woman’s struggle in a situation of poverty and Aids in The Julie Project; 2  A very useful account of the extant attempts to formulate an ethics of literature and in particular of narrative is to be found in Berning’s article »Critical Ethical Narratology as an Emerging Vector in the Study of Literary Narrative«, Germanisch-Romanische Monatsschrift 63 (2013), 103–116.



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Sarah Elliott’s portrayal of pregnancy terminations by untrained practitioners in Kenya in Poor Choices – as examples of visual storytelling; (3) Joe Sacco’s graphic novel on the failure of U.N. peacekeepers and NATO armies in Bosnia in Safe Area Goražde (2000); (4) Mark Bowden’s account of the attempt to remove Somali warlord Mohamed Farrah Aidid from the political scene in Somalia in the hypertext Blackhawk Down (1997). All these narratives concern sensitive political, social, and moral issues in various areas of the world, which were misrepresented, marginalized or silenced by news, journalism or public reportage. The second methodical step in this part of the book is the elucidation of the core narratological techniques and strategies used for value construction. These are inspired by Weidle’s list, modifying and reducing it to four categories. These are narrative situation, narrative time, character-spaces and narrative bodies. If the book’s theoretical part is admirable, as far as argument, the processing of extant theoretical approaches and the elaboration of a methodical basis for analysis are concerned, the analytical part represents a stunningly successful application of theory to practice. The categories selected prove to be central instruments in the elucidation of the ethical relevance of the analyzed works, works which differ strongly in their use of media. It is extremely important for the book’s crossmedial orientation to demonstrate that its analytical tools work across the media. It is not possible in the frame of a review to appreciate the analyses in detail. So the account will be restricted to an excerpt referring to the first of the texts, Fuller’s Scribbling the Cat, an excerpt which belongs to the enlightening elucidation of the narrative situation in the text. The passage to be quoted refers to the complicated relationship between the narrator [the African woman Alexandra Fuller] and the white war veteran K, who has just confided having committed the rape of a young woman during the war, a deed for which Fuller paradoxically assumes responsibility. The complex interrelation of the gazes of the two persons involved is subtly shown to have given way to a kind of communion the textual sign of which is the use of the plural pronoun: The subtle transition from the egotistic-I to the communitarian-we enables Fuller to create a narrative situation in which K’s look is not automatically relegated to the background whenever her [the narrator’s] gaze is foregrounded. On the contrary, the focalizer (Fuller) needs its own established ›Other‹ (the focalized K) to make intelligible African reality. (69)

Even such an excellently documented and argued study leaves room for questions. This is to be appreciated as a positive quality, for an innovative achievement in literary studies is bound to stimulate thought and inspire discussion. Let us proceed from a minor to one or two essential points.

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Although there is no doubt that »literary non-fiction« is an important genre in the modern globalized culture and that the term has in the last decades received general recognition, a certain ambiguity in Berning’s use of the term is to be noticed. She maintains that the »distinctive quality« of this genre [literary non-fiction] is »the merging of fact and fiction« (my emphasis) (4). Referring to Ansgar Nünning’s ground-breaking article »How to Distinguish between Fictional and Factual Narratives« (2005), she declares that it is her intention »to hopefully clarify in how far literary non-fiction both differs from and appropriates textual features and narrative techniques of factual and fictional narrative genres, respectively« (17). Yet one may ask what the alleged fictional component of this type of »non-fiction« precisely is. Berning refers to theorists who find the distinctive quality of literary non-fiction in »its anti-totalizing ideology and its mythopoeic, non-endorsive arrangement of facts« or, more simply, »in a personal ordering of the universe«, shaped »by the author’s own experience« (25). One could also argue that the literary techniques, which are responsible for the production of the ethical substance of the narratives analysed in this book, lend a fictional character to representatives of a genre which is strongly grounded in fact. In other words, fictionality is not only constituted by the invention of a new reality, but, perhaps more importantly, by the specific form and perspective in which a given reality is presented. Berning is, of course, aware of this issue, but the idea of merging fact and fiction is somewhat misleading. Yet there is no doubt that Berning’s treatment of literary non-fiction as a fascinating hybrid genre, whose hybridity is well characterized by its oxymoronic name, leaves nothing to be desired. Another point worthy of discussion is represented by the term »valueconstruction«, which may be misunderstood as the construction of moral values denoted by abstract terms such as decency, compassion, truth, courage etc. This is absolutely not what Berning means. She rightly says that »value construction is based on the idea that values are radically contingent and that there is no such thing as ethics in the abstract« (81). What is, then, the meaning of the concept of »value construction«, a question which, one can argue, is answered by Berning’s book as a whole, but there is no attempt to give a clear definition of the words »value« and »valueconstruction« in a narratological context. The values, with which Berning deals, are not given as accessible abstract principles in the narratives under scrutiny as a result of an attempt of the authors to teach them to the recipients, but they consist in the narratives’ capacity to engage the recipients’ interest and sympathy and stimulate cognitive processes. Berning succeeds in demonstrating that it is an ethical quality of literary non-fiction



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to give expression to moral issues and problems and alert readers cognitively to the complexities of human life and experience. This is, perhaps, the ultimate value of ethical fiction. A further debatable aspect of the book is its treatment of classical investigations into the ethics of story-telling. Berning criticises James Phelan, one of the leading representatives of ethical narratology, who belongs, as she says, to the rhetorical school, for neglecting »the representation, construction, and dissemination of norms and values in media other than novels« (40). However, it must be conceded that her new narratological departure does not in any way denigrate the achievements of earlier narratologists who decided to restrict their material to one medium only. Considering the genre she deals with, literary non-fiction, she, of course, requires a new approach, which she conceives and practices perfectly. And, to be fair, the stringency and systematicity of her analytical work, which is based on four core narratological categories as carriers of moral values, can serve as a model for traditional approaches to the ethics of story-telling, which, on the whole, lack methodical and analytical discipline. There is only one point in Berning’s study which is difficult to accept. This is the final chapter entitled »Towards a Code of Ethics for Authors of Literary Non-Fiction«, in which there is a proposal that »Authors of literary non-fiction have to find ways to educate the public and to better inform readers about their methods« (141). And, what is more doubtful, the »code of ethics«, which is envisioned here, is to include a training of authors in »narratological categories« and a »discussion of the power relations implicated in signifying practices« (142). The ethical code recommended is also to contain »a section on genre- and media-specific structures« (142). Recommending training for authors and prescribing rules and moral principles they should observe, is alien to creative work and runs counter to freedom as a condition for art. Jane Austen, for example, the great innovator, who devised new narrative forms for the expression of inner life and ethical issues, never had people who told her how to write and what moral principles to obey. I think she would have ironically dismissed such attempts. This one objection does not in any way call into doubt the achievement of a study which is innovative in theory, method and analysis and succeeds in demonstrating the multiple crossgeneric and cross-medial potential of literary non-fiction and the genre’s capacity for conveying moral issues and problems and sensitising the recipients’ moral consciousness. Wolfgang G. Müller, Jena

Namen- und Werkregister Von Ulrich Barton und Daniela Czink (Die Zahlen verweisen auf die Seiten, kursive Zahlen auf die Hauptstellen. Das Register wählt aus.) Alanis de Insulis  110, 115–116 Alkuin  45 Álvarez, Manuel Ángel  260–261 Apuleius  288, 291 Aristoteles  16–18, 35, 40, 131 – Nikomachische Ethik  119 – Poetik  9–11, 13–14 – Politik  119 – Rhetorik  139 Arnold, Matthew  326 Augustinus  45, 288 – De civitate Dei  119 Austen, Jane  212–215 – Persuasion  212–214 – Sanditon  214 Bachtin, Michail  41 Balthasar, Hans Urs von  339–343 Baudrillard, Jean  183 Bellow, Saul – Ravelstein  191–207 Berengar von Tours  68 Bergson, Henri  348, 352 Berkeley, George  330 Bernanos, Georges  161–170, 340–344 – Un Crime  162–170 Biber, Ignaz Heinrich Franz  128, 136, 140 Biller, Maxim  196 Bloch, Ernst  109 Blumenberg, Hans  287

Boccaccio, Giovanni – Amorosa Visione  121 – De claris mulieribus  99 – Decamerone  288 Boethius – De consolatione philosophiae  18, 103, 105 Böttiger, Karl August  318–322 Bougainville, Louis Antoine de  308 Bourdieu, Pierre  202 Braquemond, Félix  255–257 Brentano, Bettine  318 Brontë, Charlotte  239, 333 Bruno di Segni  68 Bruno, Giordano  287 Büchner, Georg – Dantons Tod  307 Burke, Edmund  225 Byron, George Gordon Lord  226, 323, 326 Carlyle, Thomas  329 Castiglione, Baldassare  126 Castillo, José del  245–247, 250 Cervantes, Miguel de – Don Quijote  239–269 Chamfort, Nicolas  302 Chanson de Roland  70–72, 74, 79, 82–83, 85 Chateaubriand, François-René de  302 Chevalerie Ogier  75–77, 80–82, 84

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Namen- und Werkregister

Chodowiecki, Daniel-Nicolas  250–252 Chrétien de Troyes – Le Conte du Graal  41–42, 50–57 – Erec  43, 47–49, 51, 54 Christine de Pizan – La Cité des Dames  99 – Livre du chemin de long estude  99–122 Cicero, Marcus Tullius  110 Claudel, Paul  282, 343 Coleridge, Samuel Taylor  226, 333 Collins, Wilkie  333 Conrad, Joseph – Heart of Darkness  332 – Lord Jim  227–229 Cooper, James Fenimore  240 Dante Alighieri  109, 113, 121, 141, 339, 353–358 – Commedia  100–102, 106–107, 110–112, 116, 121, 290 Defoe, Daniel  152 – Robinson Crusoe  221–223, 227–229 Deleuze, Gilles  348–353 DeLillo, Don  347 Delumeau, Jean  109 Derrick, Thomas  260, 262–263 Derrida, Jacques  287, 353 Dewey, John  329 Dickens, Charles – The Tuggses at Ramsgate  214–215 Döblin, Alfred – Berlin Alexanderplatz  271–279 Doyle, Arthur Conan  159 Dubout, Albert  263–265 Durandus von Osca  66 Eckhart, Meister  305 Eliot, T. S.  325 Emerson, Ralph Waldo  327–331 Euripides  284 – Die Bakchen  13

Ficino, Marsilio  141, 288 Fielding, Henry  239 Forster, E. M. – Howard’s End  155 Foucault, Michel  352 Fowles, John – The French Lieutenant’s Woman  212–213 Frescobaldi, Girolamo  127–128, 130, 135 Freud, Sigmund  203, 274, 277 Froberger, Johann Jakob  128, 130, 136, 144 Fulgentius  288 Fuller Ossoli, Margaret  327 Gadamer, Hans-Georg  330 Goethe, Johann Wolfgang  302, 304, 319 – Faust I / II  239, 276, 306–307 – Die Leiden des jungen Werthers  306 – Die Wahlverwandtschaften  315–318 Gottfried von Straßburg – Tristan  30–33, 53 Goya, Francisco  255–258 Guattari, Félix  348–349 Hardy, Thomas  333 Harrison, Tony  186–189 Hartmann von Aue – Erec  19–20, 25, 29, 43, 48, 54 – Iwein  29, 43, 49 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  15–16, 27–28, 341, 349, 351–352 Heidegger, Martin  304, 307 Heinrich von Veldeke – Eneasroman  30 Hélinant de Froidmont  63 Hemingway, Ernest  196 Hoffmann, E. T. A.  276–277 Hogarth, William  247 Homer  44 – Ilias  239 – Odyssee  216, 223–224, 239, 277–278



Namen- und Werkregister

Hopkins, G. M.  325 Horaz – De arte poetica  139, 277 Houghton, Arthur Boyd  258–260 Hrabanus Maurus  68 Hulse, Michael  185–186, 189 Humboldt, Wilhelm von  317 Hume, David  348, 350 Ignatius von Loyola  303–304 Jacobi, Friedrich Heinrich  317 Jacques de Vitry  89–90 James, Henry  333 Jesaja  216 Johannes-Offenbarung  325 Jonson, Ben  297–299 Joyce, James  229–232, 236 – A Portrait of the Artist as a Young Man  230, 232 – Ulysses  229–232, 234 Kant, Immanuel  348–349, 351 Keats, John  44, 291, 323 Keller, Gottfried – Die drei gerechten Kammacher  307 Kierkegaard, Sören  341 Kipling, Rudyard  159 Kircher, Athanasius  128–135, 141, 143–144, 149 Konrad von Würzburg  30 – Engelhard  26, 29 – Trojanerkrieg  30–32 Kuhnau, Johann  128, 140 Lacan, Jacques  287 Lawrence, D. H.  332–333 Leibniz, Gottfried Wilhelm  352 Lennox, Charlotte  239 Lessing, Gotthold Ephraim  241, 302 Ps.-Longinus – De sublimitate  135–136

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Mandeville, Jean de  108 Mann, Thomas  318 – Der Tod in Venedig  304–305, 307 Mansfield, Katherine  151, 156 Martianus Capella  288 Masen, Jacob  123, 128, 134 Matthäus-Evangelium  216 Mattheson, Johann  129 Mazzoni, Iacopo  141–145 Meier, Herbert  281–285 Middleton, Thomas  297, 299 Montaigne, Michel de  219, 302–304 Moore, James  185 Mörike, Eduard  306, 315 Nibelungenlied  19–20, 22–26, 35 Nietzsche, Friedrich  300, 306, 348–349, 351 Owen, Wilfred  171–172, 174–175, 184 Pascal, Blaise  339 Péguy, Charles  339–342 Perrault, Charles  291 Petrarca, Francesco  288 – Canzoniere  106 – Trionfi  121 Platon  11, 141–142, 198, 206–207, 224, 339 Plessner, Helmuth  175–176 Plinius d. Ä.  125 Ponç, Joan  266–269 Praetorius, Michael  132–134 Raimbaut de Vaqueiras  63–64, 96 Reinmar  30 Rhys, Jean  239 Richardson, Samuel  239 Rossetti, Christina  326 Roth, Philip  195, 200 Rousseau, Jean-Jacques  209–210 Sartre, Jean-Paul  202 Schiller, Friedrich  27–28, 304

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Namen- und Werkregister

Schlegel, Friedrich  302, 318 Schopenhauer, Arthur  304, 306 Schrödter, Adolph  253–255 Scott, Walter  227, 312 Seneca  123 – De ira  18 Seuse, Heinrich  305 Shakespeare, William  217–221, 223, 231, 240, 285, 298, 333 – The Comedy of Errors  218 – Hamlet  231, 240 – Henry IV  239 – Measure for Measure  298 – The Merchant of Venice  218 – The Merry Wives of Windsor  239 – Othello  218 – Pericles  218 – Richard II  217 – The Tempest  218–221, 223, 231 – Twelfth Night  218, 298 – The Winter’s Tale  218 Shelley, Percy Bysshe – Ode to the West Wind  323–324 Sloterdijk, Peter  307 Sophokles – Antigone  27 – König Ödipus  10, 12, 39 Spinoza, Baruch de  348–349, 352 Steinbeck, John  338 Stoppard, Tom  240 Swift, Jonathan  152 Tacitus, Publius Cornelius  123 Tauler, Johannes  305 Tennyson, Alfred  326 Tesauro, Emanuele – Cannocchiale aristotelico  123–128, 130–134, 136–141, 146–147, 149

Thackeray, William Makepeace  242 Thérèse von Lisieux  339, 343 Thomas von Aquin  109 Thoreau, Henry David  327–331 Tieck, Ludwig  253, 318 Uguccione da Lodi  59–97 Vanderbank, John  248–250, 252 Vergil  101 – Aeneis  100, 277 Virilio, Paul  183 Walser, Martin  331 Walser, Robert  306 Walter, Otto F.  283–284 Weber, Max  221 Weise, Christian  124 Wells, H. G.  153–155, 157–158, 160 – In the Days of the Comet  154–155 – A Modern Utopia  154 – The New Machiavelli  155, 157 – The Passionate Friends  157 – The War in the Air  154 – When the Sleeper Wakes  153 – The World Set Free  157–158 Werner, Zacharias  318 Wieland, Christoph Martin  317–318 Williams, William Carlos  330 Wolfram von Eschenbach – Parzival  19–22, 25, 29, 35, 41–57 – Willehalm  26 Woolf, Virginia – To the Lighthouse  229, 232–234 – The Waves  229, 234–236 Zuccaro, Federigo  146–147 Zweig, Arnold  203