Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 60. Band (2019) [1 ed.] 9783428557950, 9783428157952

Das »Literaturwissenschaftliche Jahrbuch« wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikati

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 60. Band (2019) [1 ed.]
 9783428557950, 9783428157952

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET VON HERMANN KUNISCH IM AUFTRAG DER GÖRRES-GESELLSCHAFT

60. Band . 2019 Herausgegeben von Matthias Bauer, Susanne Friede, Klaus Ridder, Gertrud M. Rösch, Christoph Strosetzki, Angelika Zirker in Verbindung mit einem wissenschaftlichen Beirat

Peer reviewed seit 2015

Duncker & Humblot

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH SECHZIGSTER BAND

Literaturwissenschaftliches Jahrbuch Neue Folge, begründet von Hermann Kunisch, im Auftrage der Görres-Gesellschaft

Peer reviewed seit 2015 Herausgeber Prof. Dr. Klaus Ridder, Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen (Altgermanistik, federführend) Prof. Dr. Matthias Bauer, Englisches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen (Anglistik/Amerikanistik) Prof. Dr. Susanne Friede, Romanisches Seminar, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Universitätsstr. 65–67, A–9020 Klagenfurt (Romanistik) Prof. Dr. Gertrud Maria Rösch, Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Plöck 55, 69117 Heidelberg (Neugermanistik) Prof. Dr. Christoph Strosetzki, Romanisches Seminar, Universität Münster, Bispinghof 3, 48143 Münster (Romanistik) Prof. Dr. Angelika Zirker, Englisches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen (Rezensionen)

Wissenschaftlicher Beirat

Jürgen Barkhoff (Dublin), Ricarda Bauschke (Düsseldorf), Ute Berns (Hamburg), Dieter Breuer (Aachen), Sebastian Coxon (London), Monika Fick (Aachen), Rüdiger Görner (London), Elke Koch (Berlin), Florian Kragel (Erlangen), Joachim Leeker (Dresden), Stéphane Macé (Grenoble), Friedhelm Marx (Bamberg), Anja Müller-Wood (Mainz), David Paroissien (Buckingham), Richard Trachsler (Zürich), Edwin Williamson (Oxford)

Redaktion Redaktionsanschrift: Prof. Dr. Klaus Ridder, Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen. Redaktion Aufsatzteil: Dr. Ulrich Barton. Redaktion Rezensionsteil: Prof. Dr. Angelika Zirker, Englisches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen. Merkblatt zur Manuskripterstellung und Merkblatt für Abbildungen: http://bit.ly/1B7LIRN Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Beiträge sind in Dateiform und als Ausdruck an die jeweils zuständigen Herausgeber zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, entsprechend den im Merkblatt (s. o.) angeführten typographischen Richtlinien einzureichen. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion (Rezensionsteil) erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden.

Verlag Duncker & Humblot GmbH, Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET VON HERMANN KUNISCH

IM AUFTRAG DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON MATTHIAS BAUER, SUSANNE FRIEDE, KLAUS RIDDER, GERTRUD M. RÖSCH, CHRISTOPH STROSETZKI, ANGELIKA ZIRKER in Verbindung mit einem wissenschaftlichen Beirat PEER REVIEWED SEIT 2015 SECHZIGSTER BAND

2019

DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 978-3-428-15795-2 (Print) ISBN 978-3-428-55795-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-85795-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Vorwort Mit dem vorliegenden Band übernimmt Angelika Zirker die Mitherausgabe des Jahrbuchs und die redaktionelle Betreuung der Rezensionen. Damit tritt sie in die Nachfolge von Béatrice Jakobs, die diese Aufgaben seit 2014 verantwortet hatte. Die Görres-Gesellschaft sowie die Mitheraus­ geberinnen und Mitherausgeber danken ihr für die gute Zusammen­arbeit. Die Herausgeber/innen im Namen der Görres-Gesellschaft

Inhaltsverzeichnis AUFSÄTZE

Gesine Mierke (Chemnitz), Zum Aufbruch der Frühmittelaltergermanistik . . . 9 Danièle James-Raoul (Bordeaux), La poétique du premier monologue amoureux de Lavine: éléments de versification (Énéas, v.  8082–8334) . . . . . . . . . . 37 Selena Rhinisperger (Zürich), Erzählend erinnern. Erzählen als performativer Akt in der Crône Heinrichs von dem Türlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Matthias Bürgel (Venedig), »Se voues nous volés oïr et entendre, nous vos mosterrons par droite raison […] que vostre lois est noiens«. Franz von Assisi als Prediger vor Malik al-Kamil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Susanne Schul (Kassel), Dye lewynne stalte groß iamer. Prozesse der Emotionalisierung zwischen Tieren und Menschen im spätmittelalterlichen Prosa­ epos Herzog Herpin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Florian Mehltretter (München), Herrscherlob als schöne Kunst betrachtet. Überlegungen zu Boiardo, Ariost und Josquin Desprez . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Steffen Schneider (Graz), Urteil und Komödie in der italienischen Renaissance und in Giordano Brunos Candelaio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Christian Seebald (Köln), Vom Adamsspiel zur Adamsoper. Zu den Übergängen zwischen mittelalterlichem geistlichen Spiel und frühem deutschen Musiktheater am Beispiel der Hamburger Oper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Carmen Rivero (Münster), »Lope, Réactionnaire ou révolutionnaire ?« Fuenteovejuna face à l’Institution de la réligion chrétienne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Jan-Henrik Witthaus (Kassel), Provecho e interés. El pensamiento económico entre las narrativas picarescas y la Ilustración. Aproximación a una historia conceptual continuada desde el Siglo de Oro hasta la Ilustración . . . . . . . . . 243 Stefan Schreckenberg (Paderborn), Das ›Goldene Zeitalter‹ im modernen Spanien. Zur Wirkmächtigkeit und Problematik eines kulturellen und literarischen Kanons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Mirjam Haas (Mainz) und Leonie Kirchhoff (Tübingen), Genre Maketh Dog?, Francis Coventry’s Pompey the Little and Virginia Woolf’s Flush . . . . . . . . . 277

8 Inhaltsverzeichnis Angelika Zirker (Tübingen), Huckleberry Finn: Aktuelle Zensur eines Klassikers? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Nicolas Detering (Bern), Heroischer Fatalismus. Denkfiguren des ›Durchhaltens‹ von Nietzsche bis Seghers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Max Graff (Heidelberg), Stimmungen, Spannungen, Visionen. Beobachtungen zur Kriegslyrik Wilhelm Klemms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Eduard R. Müller (Seelisberg, CH), Bajla Gelblung und Johannes Bobrowskis Gedicht BERICHT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Carsten Dutt (Notre Dame, USA), Phantasmatisches Erinnern als Dimension lyrischer Memoria. Zur Meditationsfunktion eines Gedichts von Günter Eich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 BUCHBESPRECHUNGEN

Martina Bross, Versions of Hamlet: Poetic Economy on Page and Stage (von Eike Kronshage)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Elsa Plath-Langheinrich (Hg.), Goethes Flirt mit Schleswig-Holstein. Briefe an Augusta Louise zu Stolberg-Stolberg im holsteinischen Kloster Uetersen (von Max Graff)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 August Klingemann. Briefwechsel, hg. von Alexander Košenina und Manuel Zink (von Klaus Gerlach)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft. Bd. 67/2018 / Peter Wenners, Spaziergänge durch Alt-Kiel. Historischer Stadtführer auf den Spuren Theodor Storms (von Friederike Mayer-Lindenberg)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Klaus-Groth-Gesellschaft. Jahrbuch 60/2018 (von Moritz Barske)  . . . . . . . . . . . 414 Heinrich Detering, Kai Sina (Hgg.), Kein Nobelpreis für Gustav Frenssen. Eine Fallstudie zu Moderne und Antimoderne (von Jessika Bogs)  . . . . . . . . . . . . . 416 Thomas Pittrof (Hg.), Carl Muth und das Hochland (1903–1941) (von Helmuth Kiesel)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Nathalie Aghoro, Sounding the Novel: Voice in Twenty-First Century American Fiction (von Mirjam Haas)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 Namen- und Werkregister (von Ulrich Barton)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429

Zum Aufbruch der Frühmittelaltergermanistik Von Gesine Mierke Abstract The article builds on current discussions about the status of the Early Middle Ages German philology and demonstrates on the basis of various thematic areas the research perspectives for the Old High German literature. Along three subject areas (historical narratology, interdisciplinarity, mediation of Old High German in school and college), currently discussed topics such as coherence, speech scenes, figures, sound studies as well as the tradition of early literature are outlined and their relevance is illustrated through selected text examples.

Die Frühmittelaltergermanistik steckt in einer Krise. Nun gilt es Ursachen zu analysieren, Folgen abzuschätzen und nach Lösungen zu suchen.1 Einer der Gründe für die Abgeschlagenheit der althochdeutschen Zeit, ihre Verbannung an die Ränder des Faches, liegt weniger an der Attraktivität der Gegenstände als vielmehr an wissenschaftspolitischen Entscheidungen der vergangenen Jahre, die dazu beitrugen, dass die frühe Literatur mehr und mehr aus dem Fokus der Lehre und auch der Forschung geriet.2 Kurz gefasst kann es nicht darum gehen, die Adäquatheit von Lehr- und Forschungsinhalten am historischen Alter der Gegenstände zu bemessen. Wesentlicher sollte es doch vielmehr sein, dass unabhängig vom Gegenstand methodische Fähigkeiten und kulturelles Wissen im Umgang mit Texten erworben bzw. angewendet werden können, um »Texte zum Sprechen [zu] bringen«3.

1   Vgl. vor allem die Beiträge des 2017 erschienenen Heftes »Archäologie der Anfänge« in der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik [LiLi] 47 (2017). 2   Vgl. etwa Heike Sahm, » ›Die ich rief, die Geister …‹ – Kurzes Plädoyer für eine interdisziplinär integrierte Frühmittelaltergermanistik«, LiLi 47 (2017), 155–165, hier 164 f. 3   So der Titel der Festschrift für Paul Sappler: Christiane Ackermann/Ulrich Barton (Hgg.), »Texte zum Sprechen bringen«. Philologie und Interpretation. Festschrift für Paul Sappler, Tübingen 2009.

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Gesine Mierke

Hartmut Bleumer hat für den Umgang mit der frühen Literatur einen Lösungsansatz skizziert und in Bezug auf die Frühmittelalterforschung die »Faszination des Findens«4 hervorgehoben. Er betont, dass die Tätigkeit des Frühmittelalterphilologen (die Beschränkung auf die Zeit ist nicht unbedingt notwendig) jener des Archäologen gleichkomme. Diese Tätigkeit, das Hervorbringen eines Objektes, das stückweise Sichannähern an einen Kern, das Herauspräparieren des zunächst Verborgenen, so lässt sich schlussfolgern, ist es, was nicht nur Forschende, sondern vor allem auch Studierende fasziniert, wenn sie diesen Prozess auf das Ringen um das Verstehen eines Textes übertragen können. Dieser Verstehensprozess lässt sich sowohl auf die Analyse der Überlieferung, auf innerliterarische Ebenen (Narratologie), auf den historischen Kontext als auch auf Fragen der Vermittlung beziehen. Diesen Gedanken möchte ich den folgenden Ausführungen zugrunde legen und einige Möglichkeiten für die Auseinandersetzung mit der frühen Literatur skizzieren.5 Aus den gegenwärtigen Diskussionen um die althochdeutsche Literatur lassen sich folgende Forschungsfelder ableiten: 1. Historische Narratologie,6 2. Interdisziplinäre Perspektiven, 3. Überlieferung.7 Hartmut Bleumer, »Archäologie der Anfänge«, LiLi 47 (2017), 217–231, hier 223. Die Textauswahl des vorliegenden Beitrags umfasst die Anfänge volkssprachlichen Schrifttums im 9. Jahrhundert bis 1170 und endet damit in der vorhöfischen Zeit. Ich gehe über die althochdeutsche Zeit hinaus und beziehe die Literatur bis zur Kaiserchronik in die Darstellung mit ein, da es mir vor allem um die Betrachtung der Möglichkeiten des Erzählens in der frühen Zeit geht. Die Kaiserchronik ist als monumentale Großerzählung des 12. Jahrhunderts und als Summa verschiedener Facetten von Erzählen, als Sammelbecken von Kleinstformen der Darstellung sowohl als Endpunkt der frühen Zeit als auch als Aufbruch in die höfische Zeit zu sehen und soll daher hier nicht außer Acht gelassen werden. 6   Vgl. dazu Bleumer, »Archäologie«; Klaus Kipf, »Erzähler und Autorinstanz im ›Heliand‹ und in Otfrids von Weißenburg ›Liber evangeliorum‹ «, LiLi 147 (2017), 239–255; Nine Miedema, »Zur historischen Narratologie am Beispiel der Dialoganalyse«, in: Harald Haferland/Matthias Meyer (Hgg.), Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven (Trends in Medieval Philology 19), Berlin/New York 2010, 35–68. Speziell zum Hildebrandslied vgl. Udo Friedrich, »Held und Narrativ. Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur«, in: Victor Millet/ Heike Sahm (Hgg.), Narration and Hero. Recounting the Deeds of Heroes in Literature and Art of the Early Medieval Period (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 87), Berlin/Boston 2014, 175–194; Hartmut Bleumer, »Zwischen Hildebrand und Hadubrand. Zeit und Held im Hildebrandslied«, in: ebd., 209–227; Uta Störmer-Caysa, »Zeit, Alter und Gewissheit im Hildebrandslied«, in: Thorsten Fitzon et al. (Hgg.), Alterszäsuren. Zeit und Lebensalter in Literatur, Theologie und Geschichte, Berlin/Boston 2012, 289–297. 7   Vgl. dazu vor allem Stephan Müller, »Gute Geschichte/n. Literarische Selbsterfindungen und die Geschichte der Literatur des Mittelalters«, Interfaces 1 (2015), 4   5  



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Zu 1.: Zunehmend wird untersucht, inwiefern die bereits an den Texten des Hoch- und Spätmittelalters erprobten Begriffe der Historischen Narratologie auch auf die Texte der frühen Zeit anwendbar sind.8 Hartmut Bleumer hat in diesem Zusammenhang konstatiert, dass eine historische Narratologie der frühmittelalterlichen Literatur »nicht nur mit Blick auf deren Interpretationsmöglichkeiten wünschenswert« wäre, »sie wäre auch umgekehrt nützlich, um die diskreten Voraussetzungen in den Begriffshierarchien der historischen Narratologie zu überprüfen.«9 Aufs Ganze gesehen ist das Feld nicht mehr gänzlich unbestellt,10 denn es wurden bereits Vorstöße unternommen und Kategorien wie Zeit11, Kohärenz12 oder auch die Frage nach der Erzählinstanz13 am Beispiel von Texten der frühen Zeit in den Blick genommen. Ich möchte im Folgenden daran anschließen und in einem ersten Schritt die Themen Kohärenz, Redeszenen und Figuren an einigen Beispielen verdeutlichen. Zu 2.: Vor dem Hintergrund gegenwärtiger politischer Tendenzen hat Heike Sahm am Beispiel des »Germanen-Narrativ[s]«14 eine Folge der mangelnden Beschäftigung mit dem Frühmittelalter skizziert. Sie warnt vor einer ideologischen Inanspruchnahme frühmittelalterlicher Narrative und mahnt zu einer fundierten Auseinandersetzung mit der frühen Kultur und Literatur. So hat sie am Beispiel der rechtspopulistischen Vereinnahmung frühmittelalterlicher Gegenstände deutlich gemacht, wie notwendig ein kompetenter Umgang mit der kulturellen Vergangenheit gegenwärtig sei, und eine Intensivierung der interdisziplinären Zusammenarbeit vor allem der Fächer der Germanischen Altertumskunde gefordert.15

92–109; Florian Kragl, »Deutsch/Romanisch/Lateinisch/Deutsch. Neue Thesen zu den ›Pariser Gesprächen‹ und den ›Kasseler Glossen‹ «, ebd., 291–317. 8   Vgl. Hartmut Bleumer/Mathias Herweg/Klaus Kipf, »Vorwort: Archäologie der Anfänge«, LiLi 47 (2017), 141–143, hier 142. 9   Bleumer, »Archäologie«, 230. 10   Vgl. dazu grundsätzlich Bleumer, »Archäologie«, allerdings ohne konkrete Textbeispiele. Vgl. zur historischen Dialogforschung den Beitrag von Miedema, »Zur historischen Narratologie«. Zum Hildebrandslied vgl. Friedrich, »Held«. 11   Vgl. Bleumer, »Hildebrand«; Störmer-Caysa, »Hildebrandslied«. 12   Vgl. Armin Schulz, »Fremde Kohärenz. Narrative Verknüpfungsformen im ›Nibelungenlied‹ und in der ›Kaiserchronik‹, in: Haferland/Meyer (Hgg.), Historische Narratologie, 339–360; Mathias Herweg, »Kohärenzstiftung auf vielen Ebenen: Narratologie und Genrefragen in der Kaiserchronik«, LiLi 47 (2017), 281–302. 13   Vgl. Kipf, »Erzähler und Autorinstanz«. 14   Sahm, »Geister«, 156. 15   Vgl. ebd., 155–165.

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Der Frage nach den Ursachen für die gegenwärtige Situation der Frühmittelaltergermanistik sind Hartmut Bleumer, Klaus Kipf und Mathias Herweg mit Blick auf die Wissenschaftsgeschichte nachgegangen. Dabei betonen sie, dass sich die »schleichende Marginalisierung« im Bereich der frühmittelalterlichen Literatur- und Sprachgeschichte besonders im »interdisziplinären Vergleich« zeige.16 Sie beklagen eine fehlende fächerübergreifende Zusammenarbeit und fordern, vor allem methodisch an aktuelle Entwicklungen und Tendenzen der historisch ausgerichteten Fächer anzuschließen.17 Die Forderung nach interdisziplinärer Zusammenarbeit möchte ich im zweiten Abschnitt des Beitrags aufgreifen und am Beispiel der gegenwärtig diskutierten ›Sound Studies‹ einige Perspektiven aufzeigen. Zu 3.: Mit dem Problem der literaturgeschichtlichen Darstellung der althochdeutschen Zeit hat sich zuletzt Stephan Müller beschäftigt und vorgeschlagen, »gute Geschichte/n« zu erzählen. Er hebt damit darauf ab, dass ausgehend von den vorhandenen Handschriften und Fragmenten, ihrer Entstehung und ihrem Gebrauch die Literaturhistorie der Frühzeit erfasst werden könne, um gerade nicht »festgelegte[] literarhistorische[] Positionierungen bemühen zu müssen«18, die letztlich aufgrund einer bestimmten Perspektive den Blick verstellen. Müller plädiert dafür, die Selbstaussagen der Autoren und die Überlieferung aufeinander zu beziehen, um daraus ein literaturgeschichtliches Narrativ zu formen.19 Aus wissenschaftlicher Perspektive schaffe dies, so Müller, Möglichkeiten für Anschlusskommunikation.20 Aus didaktischer Perspektive ließe sich der Gedanke ebenfalls auf die Vermittlung der frühen Texte übertragen, in der entlang der Überlieferungszeugnisse und ihrer Geschichte der Umgang mit Texten (Kompetenzen) erlernt und geübt werden kann. Diesen Gedanken werde ich abschließend aufgreifen und für die Vermittlung des Althochdeutschen in Schule und Hochschule perspektivieren.

Bleumer/Herweg/Kipf, »Vorwort «, 141. Vgl. ebd., 142. 18   Müller, »Geschichte/n«, 97. 19   Zur Darstellung von Literaturgeschichte auf der Basis der Überlieferung vgl. auch Kragl, »Deutsch/Romanisch/Lateinisch/Deutsch«. Aus Kragls Ausführungen lassen sich auch Anknüpfungspunkte für die Vermittlung der Texte in der Schule schaffen, sind doch Themen wie Sprachenlernen, Sprachvermittlung, Fremdsprachenlernen für jeden Schüler in der eigenen Gegenwart präsent, s. auch Abschnitt III dieses Beitrags. 20   Müller, »Geschichte/n«, 98. 16   17  



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I. Historische Narratologie: Kohärenz, Redeszenen, Figuren 1. Kohärenz Die Frage danach, wie Erzählungen zusammengehalten werden und wie die Ordnung von Geschehen im Akt des Erzählens generiert wird, beschäftigte die literaturwissenschaftliche Forschung in den vergangenen Jahren Disziplinen übergreifend.21 In der Mediävistik standen lange vor allem die Lücken, Leerstellen und Widersprüche der vormodernen Literatur zur Diskussion.22 Aufgrund dieser »Irritationsphänomene«23 hat man vor allem auf die Alterität des vormodernen Erzählens abgehoben. Christian Schneider konnte vor diesem Hintergrund noch einmal deutlich machen, dass nicht jeder Eindruck der Irritation zwingend ein »Alteritätsphänomen« sein müsse, sondern dass gerade die Kontinuität von Erzählen nicht aus dem Blick geraten dürfe.24 In den vergangenen Jahren ist denn auch vor allem durch die Bemühungen um die Historische Narratologie zunehmend nach dem Zusammenhang und dem Zusammenhalt von Erzählungen  – nach ihrer Kohärenz  – gefragt worden, und dabei haben beide Ebenen der Erzählung Berücksichtigung gefunden.25 Literarische Prozesse narrativer Sinnbildung und »korrelativer Sinnstiftung«26 wurden anhand verschiedener Texte vor allem der hochmittelalterlichen Literatur verstärkt fokussiert.27 Aus dem Bereich der frühen Literatur sind es vor 21   Vgl. etwa den Sammelband: Julia Abel et  al. (Hgg.), Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 81), Trier 2009. 22   Vgl. Max H. Jellinek/Carl Kraus, »Widersprüche in Kunstdichtungen«, Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 44 (1893), 673–716; Friedrich Panzer, Hilde-Gudrun. Eine sagen- und literaturgeschichtliche Untersuchung, Halle a.d. Saale 1901; vgl. den Überblick bei Schulz, »Fremde Kohärenz«, 339 f. 23   Christian Schneider, »Narrationis contextus. Erzähllogiken, narrative Kohärenz und das Wahrscheinliche in der Sicht der hochmittelalterlichen Poetik«, in: Florian Kragl/Christian Schneider (Hgg.), Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011 (Studien zur historischen Poetik 13), Heidelberg 2013, 158. 24   Vgl. Schneider, »Narrationis contextus«, 158. 25   Vgl. vor allem Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Studienausgabe, hg. Manuel Braun et  al., 2Berlin et  al. 2015, 322–366; ders., »Fremde Kohärenz«; Friedrich, »Held und Narrativ«, 176. 26   Markus Stock, Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im ›Straßburger Alexander‹, im ›Herzog Ernst B‹ und im ›König Rother‹ (MTU 123), Tübingen 2002. 27   Vgl. vor allem Schulz, »Fremde Kohärenz«, 339–360. Zu Wiederholungsstrukturen vgl. vor allem Stock, »Kombinationssinn«.

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allem Beowulf und die Kaiserchronik, die unter dieser Prämisse erneut betrachtet wurden.28 Mithin wurde gerade für die Kaiserchronik, die mit Mathias Herweg als »Modelltext für narratologische Fragen und ihre Historisierung«29 gilt, gezeigt, dass das umfangreiche Textcorpus aus unterschiedlichen Erzählungen über Kohärenzbeziehungen und Äquivalenzverhältnisse zusammengehalten wird. Seit der grundlegenden Studie von Friedrich Ohly zur typologischen Struktur der Kaiserchronik wird nach den Mustern gefragt, die die zunächst scheinbar lose aneinandergefügten Episoden verbinden. Mathias Herweg hat zuletzt konkret annalistische, chronikalische und kausale Kohärenz sowie Raum und Zeit als Kohärenz­ faktoren für die Kaiserchronik ausgemacht.30 Dabei hat er mit dem Prolog, den einzelnen Viten und Binnenepisoden drei Ebenen benannt, auf denen Kohärenz gestiftet wird. Dies passiere, so Herweg, durch ein repetitives/ serielles Schema, und zwar durch Eingangs- und Ausgangformeln sowie durch bestimmte Motive und Themen, die innerhalb der Episoden auftauchen. Die einzelnen Episoden seien sinnvoll miteinander verknüpft, was durch verschiedene narrative Techniken (Wiederholung, Doppelung, Variation, Äquivalenzen auf der Textoberfläche etc.) erreicht werde.31 Dennoch geht es nicht nur um die Beziehung von Einzelepisoden, es geht darüber hinaus um Kohärenzbeziehungen innerhalb einzelner Episoden, die wiederum auf den Erzählrahmen, der durch den Prolog und die Eingangs­ sequenz über römische Kulte vorgegeben ist, zurückwirken.32 Dies sei anhand der Crescentia-Episode noch einmal kursorisch verdeutlicht.33 In die Geschichte, die von der Heiligung der Protagonistin erzählt, sind verschiedene Muster und Motive, die mehrfach in der Chronik auftauchen, eingelagert. Da geht es um genealogisch problematische Situationen einerseits, um Dreieckskonstellationen im menschlichen Zusammenleben andererseits, um Betrug und List ebenso wie um die Weitergabe der Herrschermacht. Im Ganzen eine äußerst disparate Narration also, die homogenisiert werden muss. Es ist insbesondere der Turm, den die Protagonistin zur 28   Vgl. Heike Sahm, »Unversöhnte Motivierungen. Der Schatz als Hindernis kohärenten Erzählens im Beowulf«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 131 (2009), 442–460. 29   Herweg, »Kohärenzstiftung«, 282. 30   Vgl. ebd., 284 f. 31   Vgl. dazu ausführlich ebd., 281–302. 32   Vgl. zur Rahmung durch den Prolog ebd., 287. 33   Vgl. dazu in Kürze Gesine Mierke, »Magische Säulen, sprechende Steine. Zum Zusammenhang von Architektur und Macht in der ›Kaiserchronik‹ «, in: Elke Brüggen et al. (Hgg.), Erzählen von Macht und Herrschaft. Die ›Kaiserchronik‹ im Kontext zeitgenössischer Geschichtsschreibung und Geschichtsdichtung [im Druck].



Zum Aufbruch der Frühmittelaltergermanistik

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Abwehr des Werbers bauen lässt, an dem sich Erzählfäden verbinden und Deutungsperspektiven  – auch in Bezug auf die verschiedenen Figuren  – anlagern. Entsprechend taucht er in der Erzählung wiederholt auf und lässt sich in verschiedene Richtungen ausdeuten.34 Während Crescentia ihren Schwager aus Selbstschutz gefangen hält und ihm verspricht, ihrem Mann sein Vergehen zu verschweigen, verleumdet der schöne Dietrich sie bei seinem Bruder, benennt aber ihr Vergehen nicht. Es bleibt fest in den steinernen Mauern des Turmes verborgen, in der Erzählung aber bis ans Ende präsent. Erst als der Schwager sein Vergehen beichtet, wird der Turmbau erneut thematisiert und werden seine Geheimnisse offenbar. Denn die Motivation des Baus war die Abwehr des Werbers, der nicht König werden konnte. Hier verbinden sich also mit Herrschaftsweitergabe und Minnewerbung zwei Erzählkerne. Das eigentliche Movens des Textes ist das genealogische Dilemma des Anfangs und Crescentias Entscheidung für einen der beiden Dietriche. Die Frage, ob sie die richtige Wahl getroffen hatte, bleibt mit dem Turmbau bis zum Ende des Textes präsent und damit die »abgewiesene Alternative«35 im wörtlichen Sinne sichtbar. Mit dem Turm wird ein Bauwerk mit Bedeutung aufgeladen, das über die Episode hinausstrahlt, da es sich  – wenn auch nicht an der Textoberfläche sogleich ersichtlich, so doch über die Tiefenstruktur zu erschließen  – mit dem Rahmen des Gesamtwerks, mit der Beschreibung der Kultur in Rom und der Erklärung von Monumenten in der Eingangsepisode (v. 44–246) verbinden lässt. Für die Kaiserchronik wurde mehrfach eine Rekurrenz auf die lateinischen Mirabilia Romae angenommen,36 die für den Gedanken, die Stadt anhand ihrer Sehenswürdigkeiten und Monumente abschreiten zu können, habhaft zu machen sind. Unter dieser Prämisse entspinnt sich von den Eingangssequenzen ausgehend ein innertextuelles Netz an Bezügen, das an einzelnen Bauwerken aufgespannt ist. 34   So symbolisiert der Turm die Standhaftigkeit Crescentias gegenüber dem eindringlichen Werben des schönen Dietrich. Desgleichen steht er für die ausweglose Situation Crescentias, in die sie durch den Schwager gerät, und er hält für den hässlichen Dietrich die Wahrheit über die Ereignisse zwischen Crescentia und seinem Bruder verborgen. 35   Zum Begriff vgl. Peter Strohschneider, »Einfache Formen – komplexe Regeln. Ein strukturanalytisches Experiment zum ›Nibelungenlied‹ «, in: Wolfgang Harms/ Jan-Dirk Müller (Hgg.), Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60.  Geburtstag, Stuttgart/Leipzig 1997, 43–75, hier 49, 58; Armin Schulz, »Fragile Harmonie. ›Dietrichs Flucht‹ und die Poetik der ›abgewiesenen Alternative‹ «, Zeitschrift für deutsche Philologie 121 (2002), 390–407, hier 391 f. 36   Vgl. dazu Friedrich Ohly, Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung (Forschungen zur deutschen Sprache und Dichtung 10), Münster 1940, 236.

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Diese textuellen Verbindungen stiften Kohärenz und verleihen den Episoden deutlich mehr Tiefe. Aufs Ganze gesehen geht es um Prozesse der Semantisierung und Semiotisierung, die Aufladung der Erzählung durch Struktur und Wiederholung, und das Herstellen von Äquivalenzbeziehungen auf beiden Ebenen der Erzählung. Armin Schulz hat darauf aufmerksam gemacht, dass textueller Zusammenhang nicht allein auf paradigmatischer Ebene hergestellt werden kann, sondern dass Äquivalenzen auch auf der Ebene des Discours, etwa auf der Ebene des Wortlautes erzeugt werden können.37 So zeigte er anhand der Homonymie zwischen ›Ehre‹ und ›Erz‹ im Mittelhochdeutschen, êre, dass Nähebeziehungen auf klanglicher Ebene entstehen können, die, so Schulz, »wenig elegant, aber massiv«38 auf der Textoberfläche Kohärenz herstellen. Schulz sah diese Form der Wiederholungen als eine Möglichkeit des Kaiserchronisten, heterogenes, aus unterschiedlichen Quellen stammendes Material zu homogenisieren. Die Untersuchung von Nähebeziehungen und Berührungseffekten kann zum einen intratextuell dazu beitragen, das spezifische Erzählen der Texte näher in den Blick zu nehmen. Zum anderen trägt die Beschäftigung mit Äquivalenzverhältnissen und kohärenten Zusammenhängen auch auf intertextueller Ebene dazu bei, Erzählen textübergreifend zu fokussieren. Dabei geht es nicht darum, Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Texten aufzuzeigen, sondern darum, im Vergleich der einzelnen Texte Zusammenhänge in Bezug auf die Möglichkeiten des Erzählens, die sich von den kleinen Texten bis zu den großen epischen Entwürfen zeigen, sichtbar zu machen. Das Gesamtnarrativ wäre unter dieser Prämisse eine Geschichte der frühen Literatur, in der jeder Text in seiner Einzigartigkeit dargestellt, zugleich aber auf Gemeinsamkeiten zwischen den Texten abgehoben wird. Die verbindende Frage wäre die nach dem Wie des Erzählens im Frühmittelalter. Diese Perspektive kann mit Blick auf die gesamte Literatur der frühen Zeit dazu beitragen, das scheinbar Heterogene, Disparate, Monolithische stärker in Verbindung zu bringen. Vor diesem Hintergrund schlage ich vor, die Bilder von der frühen Zeit als »Trümmerlandschaft«39 oder »Karstlandschaft«40 zugunsten eines Möglichkeitsraumes abzulösen, in Vgl. Schulz, »Fremde Kohärenz«, 347. Ebd., 355. 39   Mathias Herweg/Klaus Kipf, »Erzählen in statu nascendi. Die deutsche Literatur des früheren Mittelalters und die Narratologie«, LiLi 47 (2017), 233–238, hier 235. 40   Stephan Müller, »ik mideo dreuuet. Notizen zum Profil der Frühmittelalterforschung und einige ketzerische Gedanken zum Gegenstand historischer Philologien«, LiLi 47 (2017), 145–153, hier 148. 37   38  



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dem stärker die Kontiguitäten der frühen Texte und damit zugleich ihr Variantenreichtum Beachtung finden. Auf der Basis einer grundständigen philologischen Analyse jedes Textes sollte der Blick auch auf Ähnlichkeiten, nicht auf Abhängigkeiten, auf Äquivalenzen im Sinne der Kohärenz der literaturgeschichtlichen Darstellung gelenkt werden. 2. Redeszenen und Figuren In den vergangenen Jahren wurden Redeszenen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zunehmend untersucht.41 Dabei ging es auch um die spezifische Konstruktion fiktionaler Rede und um den Akt der Aufführung, die Performanz der Texte.42 Augenfällig ist, dass, obwohl bereits verschiedene Gattungen in den Blick genommen wurden, das Feld der frühmittelalterlichen Literatur nur punktuell untersucht wurde.43 Nine Miedema hat jüngst erneut auf die Bedeutung der Differenzierung von Erzähler- und Figurenstimmen im narrativen Kontext abgehoben und auf das große Potential der historischen Dialogforschung gerade in Bezug auf die althochdeutsche Literatur hingewiesen.44 Mit der Ausgestaltung der Erzählinstanz in Otfrids Evangelienbuch und im Heliand hat sich Klaus Kipf in jüngster Zeit ausführlich beschäftigt und herausgearbeitet, dass sich die Erzählinstanzen in den beiden Bibelepen deutlich voneinander unterscheiden.45 Während der Erzähler im Heliand in mündlicher Dichtungstradition steht, begegnet im Liber evangeliorum ein deutlich differenzierteres Sprecher-Ich, das zugleich in ver41   Vgl. Monika Unzeitig (Hg.), Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik. Komparatistische Perspektiven (Historische Dialogforschung), Berlin 2011; Nine Miedema et  al. (Hgg.), Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende (Historische Dialogforschung 2), Berlin 2012; Monika Unzeitig (Hg.), Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur (Historische Dialogforschung 3), Berlin 2017. 42   Vgl. Gerhard Wolf, »Inszenierte Wirklichkeit und literarische Aufführung. Bedingungen und Funktion der ›performance‹ in Spiel- und Chroniktexten des Spätmittelalters«, in: Jan-Dirk Müller (Hg.), ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter und Früher Neuzeit (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17), Stuttgart/Weimar 1996, 381–405, hier 382. 43   Vgl. aus den in Anm. 41 benannten Tagungsbänden die folgenden Beiträge: Nine Miedema, »Fürbitten in mittelhochdeutscher Bibeldichtung und Legende«, in: Unzeitig (Hg.), Redeszenen, 43–66; Gesine Mierke, »Die ›Rede des Autors‹ als Konzept. Kommunikation mit Gott im altsächsischen Heliand«, in: ebd., 229–246. 44   Vgl. Miedema, »Zur historischen Narratologie«. 45   Vgl. Kipf, »Erzähler und Autorinstanz«.

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schiedenen sozialen Rollen verhaftet ist. Mit dem Erzählen im Heliand hat sich jüngst auch Heike Sahm beschäftigt und auf Merkmale des heldenepischen Erzählens aufmerksam gemacht.46 Diese sieht sie etwa an der Konzeption von Helden im Text, die sich nicht vornehmlich durch ihre Exorbitanz auszeichnen, sondern auch durch ihre Augenzeugenschaft am Leben Christi und als » ›Weiter-Erzähler‹ «47 des Gesehenen. Letzteres wiederum trägt dazu bei, im Text die »Fiktion einer mündlichen, ›von allen‹ getragenen Erzählung vom Leben Jesu«48 zu erzeugen. Mit den Redeszenen ist ein weiteres Phänomen verbunden, das eingehende Betrachtung verdient: die Figur.49 Beide Gegenstände greifen durch die Fokussierung der Figurenrede ein stückweit ineinander. Markus Stock hat am Beispiel Enites kürzlich auf die Bedeutung der Figur hingewiesen und deutlich gemacht, dass Figuren als »Träger der Handlung auf der ›histoire‹-Ebene und als spezifisch Gestaltete auf der ›discours‹-Ebene«50 zu betrachten seien und Lena Zudrell hat im Anschluss daran vorgeschlagen, den »Fokus auf die Figuren als mit Handlungsmacht ausgestattete Protagonisten« zu lenken und dies anhand der Gestaltung Gaweins in Hartmanns Erec und Iwein ausgeführt.51 Abseits von der Tiefenstruktur 46   Vgl. Heike Sahm, »Scrîan, settian endi singan endi seggean for. Textgenese und Tradierung in der Fiktion des Heliand«, in: Bruno Quast/Susanne Spreckelmeier (Hgg.), Inkulturation. Strategien bibelepischen Schreibens in Mittelalter und Früher Neuzeit (Literatur – Theorie – Geschichte 12), Berlin/Boston 2017, 41–72. 47   Ebd., 64. 48   Ebd. 49   Zur Figur vgl. Florian Kragl, »Enites schöne Seele. Über einige Schwierigkeiten des höfischen Romans der Blütezeit, Figuren als Charaktere zu erzählen. Mit Seitenblicken auf Chrétien des Troyes und auf den ›Wilhelm von Orlens‹ des Rudolf von Ems«, in: Cora Dietl et al. (Hgg.), Emotion und Handlung im Artusroman (SIA 13), Berlin/Boston 2017, 117–151; Brigitte Burrichter, »Lancelot  – eine komplexe Figur zwischen höfischer Liebe und Gralsritterum«, in: Emotion und Handlung, hg. Cora Dietl et al. (SIA 13), Berlin/Boston 2017, 173–184; Seraina Plotke, »Eine flache Figur? Fragen der Introspektion und der Handlungsmotivation im ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven«, in: ebd., 185–195. Zur Figurenkonstitution am Beispiel des Nibelungenliedes vgl. Elisabeth Lienert, »Aspekt der Figurenkonstitution in mittelhochdeutscher Heldenepik«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 138 (2016), 51–75. Sie resümiert, dass Figuren in der Heldenepik vor allem »als gattungs- und/oder textspezifische Aggregate von Sagen- und Textwissen« (75) angelegt werden. 50   Markus Stock, »Figur: Zu einem Kernproblem historischer Narratologie«, in: Haferland/Meyer (Hgg.), Historische Narratologie, 187–204, hier 191. 51   Lena Zudrell, »Gawein und die historische Narratologie. Zur Rede von Figuren am Beispiel von Hartmanns von Aue Erec und Iwein«, in: Brigitte Burrichter et al. (Hgg.), Aktuelle Tendenzen der Artusforschung (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 8), Berlin et al., 101–112, hier 108.



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der Texte und der Funktion der jeweiligen Figur sollte demzufolge ihre spezifische Gestaltung größere Beachtung finden, sprich die Darstellung der Figur auf der Discours-Ebene vermehrt fokussiert werden.52 An dieser Stelle spielen auch die Redepassagen der Figuren eine Rolle, sodass sich hier die Untersuchungsgegenstände überlagern. Dass das »Innenleben« der Figuren kein Phänomen der modernen Literatur ist, sondern auch für die frühen Texte der volkssprachigen Literatur eine Rolle spielte, hat Nine Miedema am Beispiel der Heilung der blutflüssigen Frau in Otfrids Evangelienharmonie gezeigt. Sie hat frühe Formen der Fokalisierung ausgemacht und beschrieben, dass in der Darstellung Otfrids die Wahrnehmung der Frau fokussiert wird. Mithin weist Miedema darauf hin, dass gerade im Vergleich mit der lateinischen Literatur deutlich zu machen sei, dass »ein differenziertes Arsenal stilistischer Möglichkeiten zur Darstellung des Innenlebens der Figuren« vorhanden und gerade nicht die »Frage nach dem ›ersten Beleg‹ «53 wesentlich sei. Dem Hinweis Miedemas, dass die althochdeutsche Literatur im Hinblick auf Phänomene wie Fokalisierung etc. größere Berücksichtigung finden sollte,54 ist vor diesem Hintergrund noch einmal Nachdruck zu verleihen. Auch für die Konzeption der Figuren im Heliand (insbesondere Pilatus, Procla, Petrus) wäre die Untersuchung der Fokalisierung sowie der Gestaltung der Figuren lohnenswert. So wird etwa die Ambivalenz der Pilatus-Figur dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er zwar auf der Discours-Ebene als môdag (v. 5177) oder slimôdig man (v. 5247)55 vom Erzähler bezeichnet und somit von vornherein als mit negativen Attributen belegte Figur gezeichnet wird. Indes deutet sich auf der Handlungsebene die innere Zerrissenheit der Figur an. Sie wird zusätzlich durch die Umstellung gesteigert, die der Verfasser im Vergleich mit dem Matthäusevangelium vornimmt.56 Während Pilatus hier seine Hände erst nach dem letzten Verhör und vor der Freilassung Barnabas’ in Unschuld wäscht, ist 52   So plädiert etwa Harald Haferland für einen stärker anthropomorph ausgerichteten Zugang zu Figuren, vgl. dazu ausführlich Harald Haferland, »Psychologie und Psychologisierung: Thesen zur Konstitution und Rezeption von Figuren. Mit einem Blick auf ihre historische Differenz«, in: Schneider/Kragl (Hgg.), Erzähllogiken, 91–118, hier 93. 53   Miedema, »Zur historischen Narratologie«, 45, Anm. 30. 54   Ebd., 48. 55   Zitiert nach der Ausgabe: Heliand und Genesis, hg. Otto Behaghel, 10. überarb. Aufl. v. Burkhard Taeger, (ATB 4), Tübingen 1996. 56   Vgl. dazu Achim Masser, »Pilatus im Heliand«, Niederdeutsches Jahrbuch 96 (1973), 9–17, hier 14 f.; Bernhard Sowinski, Darstellungsstil und Sprachstil im Heliand, Köln 1985, 197–199.

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die Barnabasszene im Heliand der Handwaschung vorgeschaltet. Die innere Auseinandersetzung des Pilatus wird hier dadurch gesteigert, dass das Insistieren seiner Frau auch vor die Handwaschung fällt. Die Handlung Pilatus’ ist durch die Tradition klar vorgegeben, der Heliand-Dichter überträgt sie in seinen narrativen Zusammenhang, schafft eigene kausale Logiken und konzipiert Figuren.57 Gerade die Differenzen auf der Ebene von Histoire und Discours in Bezug auf die Figur liefern Raum für Deutungen, die hier bewusst angelegt sind. Systematische Untersuchungen zu Redeszenen in der althochdeutschen Literatur und ihrer Funktion könnten weiteren Aufschluss über narrative Grundsätze und somit Auskunft über das literarische Bewusstsein der Verfasser geben. Überdies schärfen sie weniger den Blick für die Differenzen zwischen mittelalterlicher und moderner Literatur, sondern heben Kontinuitäten hervor. Nicht zuletzt lenkt die Analyse von Redeszenen den Blick auf die rhetorische Verfasstheit der Texte. Damit meine ich das Erzählen auf der Grundlage rhetorischen Wissens und die Anknüpfung an rhetorische Traditionen. Mit Blick auf die Legitimation des Dichtens in der Volkssprache, wie sie Otfrid in den Widmungsvorreden verdeutlicht, sind die Rechtfertigungen für die ›neue‹ Sprache noch einmal zu betonen. Dabei ist zum einen wichtig, welche rhetorischen Mittel zum Einsatz kamen, um den ›neuen‹ Gegenstand zu legitimieren. Zum anderen aber ist bedeutsam, inwiefern sich der Erzähler selbst in der Rolle des Rhetors sieht, der in eine Kommunikation mit Gott tritt bzw. inwiefern in den Figurenreden rhetorisches Wissen und rhetorische Prinzipien vermittelt werden. Auf dieser Grundlage wäre zu überlegen, inwiefern die Texte der althochdeutschen Zeit rhetorische Experimente in der Volkssprache sind, um zu zeigen, welche Möglichkeiten ›für Rede‹ in der Volkssprache bestanden. Ludwigslied, Petruslied, Ezzolied etc. sind dann als panegyrische Texte in der Volkssprache anzusehen, die diese selbst und ihre Möglichkeiten rechtfertigen. So erzählt etwa das Ludwigslied vom Leben und den Taten Ludwigs, es preist ihn als König und stilisiert ihn ganz im Sinne des theokratischen Konzepts der Zeit als vorbildlichen christlichen Herrscher.58 Ludwig wird 57   Diese von Bernhard Sowinski als »Psychologisierung« bezeichneten Darstellungsprinzipien ließen sich mit Blick auf die Narratologie und die Anlage der Figur noch einmal genauer fassen. Vgl. Sowinski, Darstellungsstil, 231–233. 58   Vgl. zusammenfassend dazu Mathias Herweg, »Art. Ludwigslied«, in: Rolf Bergmann (Hg.), Althochdeutsche und altsächsische Literatur, Berlin et  al. 2013, 241–252.



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als gottesfürchtiger Herrscher gezeichnet, dessen Erwähltheit sich auch in seiner Kompetenz als Redner zeigt. Neben der Fähigkeit, mit Gott zu kommunizieren, wird Ludwig zugleich als guter Redner ausgewiesen. Dies lässt sich anhand der längeren Rede (die umfassendste im Text), in der Ludwig zu seinem Volk spricht, verdeutlichen: Thanne sprah luto Hluduig ther guoto: ›Trostet hiu, gisellion, Mine notstallon. Hera santa mih god Ioh mir selbo gibod, Ob hiu rat thuhti, Thaz ih hier geuuhti, Mih selbon ni sparoti, Unc ich hiu gineriti. (v. 31–35) [Darauf sagte laut der gute Ludwig: ›Tröstet euch, Freunde, meine Gefährten in der Not! Mich sandte Gott hierher und er selbst gebot mir  – wenn es euch ratsam erschiene  – hier zu kämpfen und mich selbst nicht zu schonen, bis ich euch errettet habe.]59

Ludwig, der hier bereits als guot apostrophiert wird, spricht der Redesituation angemessen zu den Umstehenden und fordert sie zum Kampf für Gott auf. Er redet als Feldherr und versucht, seine Mitstreiter mit der Aussicht auf Entlohnung von dem bevorstehenden Kampf zu überzeugen und sie zu motivieren. Aus seiner Rede folgt die Tat, und der Verlauf des Kampfes wird (in aller Kürze) skizziert: Suman thuruhskluog her, /Suman thuruhstah her (v. 52). Der Gleichklang der Kampfhandlungen korrespondiert mit den Schwertschlägen Ludwigs und vergegenwärtigt diese. Der Text gipfelt schließlich in der abschließenden Lobpreisung Ludwigs, dem Dank der Heiligen und der Bitte an Gott, Ludwig zu beschützen. Auch die einzelnen Ausrufe des Erzählers unterstreichen auf der Handlungsebene die Exzeptionalität des Protagonisten. Sie strukturieren zugleich den Text und werden zum Ende hin in der Anzahl gesteigert, sodass sie nachhaltig auf den Rezipienten wirken: So uue hin hio thes libes! (v. 54) [Wehe auf immer über ihr Leben], Ioh allen heiligon thanc! (v. 56) [Und allen Heiligen sei dank!], Uuolar abur Hluduig, Kuning unser salig! (v. 57) [Wohl abermals für Ludwig, unser gesegneter König], Gihalde inan truhtin  Bi sinan ergrehtin (v. 59) […] erhalte ihn der Herr durch seine Gnaden.]

Insbesondere das Wehklagen des Erzählers über das Leid der Feinde lässt sich auch als Metafiktion verstehen, sieht man die Kampfbeschreibung als ein Geschehen, in dem der Erzähler seine Figuren anspricht und 59   Text und Übersetzung hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe von Stephan Müller: Althochdeutsche Literatur. Eine kommentierte Anthologie, ahd./ nhd., and./nhd., übers., hg. u. komm. Stephan Müller, Stuttgart 2007.

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das mit Weherufen endet. Damit ist ein temporärer Sprung in die Gegenwart des Erzählers verbunden, der schließlich um Gottes Gnade für Ludwig bittet. Auch im Heliand wird verschiedentlich auf das richtige Sprechen Bezug genommen und etwa anhand der Reden Jesu und seiner Jünger verdeutlicht.60 Überdies ist die Begegnung zwischen dem grausamen König Herodes und den Weisen aus dem Morgenland in diesem Zusammenhang wesentlich. Der Kontrast zwischen den Gesprächspartnern wird insbesondere an ihren differenten Sprecharten manifest. Während die drei Könige Herodes in angemessener Weise und äußerst höflich begegnen (uuord spâhe uueros, v. 563)61, zeichnet sich Herodes gerade durch seine besondere Härte und Grimmigkeit (sliuurdean kuning, môdagna midi is mannun, v. 554 f.) aus. Über die rhetorischen Fähigkeiten des Königs verliert der Erzähler folglich kein Wort. Im Gegensatz dazu schildert er sehr ausführlich, dass die drei Weisen wortgewandt, eloquent, von vornehmer Abkunft seien, und dass selbst ihr Urahn sich durch rhetorische Fähigkeiten hervortat. Somit wird die Rhetorik hier gar zum Argument für die besondere Würde der eigenen Genealogie. Redeszenen können auf verschiedene Weise untersucht werden, unter dem Aspekt der Dialoganalyse, durch die Analyse von Sprecherrollen aber auch hinsichtlich der Rederituale, die beispielsweise im Kontext vormoderner politischer oder religiöser Ordnungen stehen. Der letztgenannte Aspekt bezieht sich vor allem auf Formen der Redekultur, wie sie in der mittelalterlichen Literatur begegnen. Hier lässt sich im Anschluss an die Textanalyse ein Bogen etwa zur interdisziplinär ausgerichteten Oratorikforschung, die in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen hat,62 schlagen.

60   Zur Rhetorik im Heliand vgl. James E. Cathey, »Die Rhetorik der Weisheit und Beredtheit im altsächsischen Heliand«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N.F. 37 (1996), 31–46; zur Herodes-Szene vgl. Mierke, »Die ›Rede des Autors‹ «, 235–237. 61   Zitiert nach der Ausgabe: Heliand und Genesis, hg. Otto Behaghel, 10. überarb. Aufl. v. Burkhard Taeger (ATB 4), Tübingen 1996. 62   Vgl. neuere Publikationen der Geschichtswissenschaft: Georg Strack/Julia Knödler (Hgg.), Rhetorik in Mittelalter und Renaissance. Konzepte – Praxis – Diversität (Münchner Beiträge zur Geschichtswissenschaft 6), München 2011; Jörg Feuchter/Johannes Helmrath (Hgg.), Politische Redekultur in der Vormoderne. Die Oratorik europäischer Parlamente in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a. M./New York 2008. Zur Perspektive der Germanistik vgl. die von Malena Ratzke, Christian Schmidt und Britta Wittchow organisierte Tagung »Oratorik und Literatur. Politische Rede in fiktionalen und historiographischen Texten des Mittelalters



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Für das Verständnis der Texte sind nicht nur die historischen Kontexte von Bedeutung, es sind auch die geistes- und kulturgeschichtlichen Grundlagen. So ist das Ludwigslied als frühes Beispiel eines panegyrischen Herrscherlobs zu verstehen, das konkret eine politisch-propagandistische Absicht verfolgt. Der Text ist somit eine Rede auf Ludwig, die den Herrscher selbst zum vir bonus stilisiert. Der gute Redner, als der Ludwig im Text erscheint, ist auch der gute, von Gott selbst zur Herrschaft berufene König. Damit wird ein spezifisches in antiken Traditionen verhaftetes Herrscherideal aufgerufen und mit der karolingischen Idee verwoben.63 Zugleich wird die Gattung des Herrscherlobs in der Volkssprache erprobt. Ähnliches führt auch Otfrid in seiner Widmung an Ludwig den Deutschen vor. Die Volkssprache befindet sich in der ›Versuchsphase‹, und es werden ihre Möglichkeiten ausgelotet. II. Interdisziplinarität: Sound Studies Der Hinweis auf die klangliche Dimension des Textes, wie er im Abschnitt zur Kohärenz bereits angedeutet wurde, ist unter einem weiteren Aspekt interessant, der in den letzten Jahren durch den Impuls aus den kulturwissenschaftlichen ›Sound Studies‹64 den sogenannten ›acoustic turn‹ initialisierte. Unter dieser Prämisse wird nicht nur die konkret lautliche Ebene von Texten in den Blick genommen, sondern vor allem Klangbilder, Klangfiguren und Klangkulissen erfasst sowie die Bedeutung von akustischen Phänomenen für die Struktur und Gestaltung literarischer Texte und der Frühen Neuzeit«, die im November 2016 an der Universität Hamburg stattfand. Der Tagungsband befindet sich im Druck. 63   Zur Verbindung von Redekompetenz und karolingischem Herrschaftskonzept vgl. Gesine Mierke, Memoria als Kulturtransfer. Der altsächsische »Heliand« zwischen Spätantike und Frühmittelalter (Ordo 11), Köln et al. 2008, 171–279. Die politische Oratorik ist Gegenstand jüngerer Forschung, vgl. dazu etwa den sich gegenwärtig im Druck befindenden Sammelband der Tagung »Oratorik und Literatur. Politische Rede in fiktionalen und historiographischen Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit«, die 2016 an der Universität Hamburg stattfand. Die frühmittelalterliche Literatur fand hier keine Berücksichtigung. 64   Vgl. dazu Daniel Morat, »Zur Geschichte des Hörens. Ein Forschungsbericht«, Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011), 695–716; ders., »Zur Historizität des Hörens. Ansätze für eine Geschichte auditiver Kulturen«, in: Axel Volmar/Jens Schröter (Hgg.), Auditive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung, Bielefeld 2013, 131–144. Murray Schafer hat den Begriff der Soundscape geprägt. Vgl. R. Murray Schafer, The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World, Rochester 1994 (dt. Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, übers. Sabine Breitsameter, Mainz 2010).

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hinterfragt. Obgleich die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Dimensionen des Klangs ohnehin in der Analyse stilistischer Mittel inbegriffen ist, hat Horst Wenzel 1995 wichtige Impulse gegeben, die Anlass dazu boten, Wahrnehmung auch historisch zu perspektivieren und die akustische Dimension mehr zu beachten.65 Folglich wurde die »Klangregie«66 von Texten zunehmend fokussiert und der akustischen Dimension größere Bedeutung beigemessen.67 In Anlehnung daran gilt es 65   Vgl. Horst Wenzel, Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, 51–65, 89–94, 105 f., 142–158. 66   Matthias Meyer, »Vom Lachen der Esel: Ein experimenteller Essay auf der Suche nach dem komischen Stil im Artusroman«, LiLi 171 (2013), 86–103, hier 88. 67   Vgl. dazu grundlegend zum Stand der Sound Studies in der germanistischen Mediävistik: Markus Stock, »Triôs, triên, trisô. Klangspiele bei Wernher von Teufen und Gottfried von Neifen«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 138 (2016), 365–389, hier 365–369; darüber hinaus allgemein: Trevor Pinch/ Karin Bijsterveld (Hgg.), The Oxford Handbook of Sound Studies, Oxford 2012. Zur Dimension der Akustik in der mittelalterlichen Literatur vgl. vor allem den Bamberger Tagungsband: Ingrid Bennewitz/William Layher (Hgg.), der âventiuren dôn. Klang, Hören und Hörgemeinschaften in der deutschen Literatur des Mittelalters (Imagines medii aevi 31), Wiesbaden 2013; LiLi 43, H. 171 (2013); Gert Hübner, »Klang als Form in reimreichen Liedern. Adams von Fulda Ach hülff mich leid und der mittelalterliche musiktheoretische Dichtungsbegriff«, in: Anna Symanczyk et al. (Hgg.), Klang  – Kontakte. Kommunikation, Konstruktion und Kultur von Klängen (Schriftenreihe der Isa Lohmann-Siems Stiftung 9), Berlin 2016, 57–72; William Layher, »Acoustic control: sound, gender and ›Öffentlichkeit‹ at the Medieval court«, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 86 (2012), 331–364; Uta Görlitz, »Erzählte Klänge. Formen und Funktion auditiver Wahrnehmung im ›Buch von Bern‹ «, Zeitschrift für Germanistik, N.F. 17 (2007), 518–532; Almut Schneider, »er liez ze himel tougen erhellen sîner stimme dôn. Sprachklang als poetische Fundierung normativen Sprechens«, in: Elke Brüggen et  al. (Hgg.), Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo-German Colloquium, Berlin 2012, 199–216; dies., »Vielfarbige Klänge. Liebesgaben im Diskurs der ›Synästhesie‹ «, in: Margreth Egidi et al. (Hgg.), Liebesgaben: kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Berlin 2012, 313–328; dies., »Sprachästhetik als ›ars cantandi‹. Poetik im Diskurs der ›musica‹ in Konrads von Würzburg ›Goldener Schmiede‹ «, in: Elisabeth Andersen et  al. (Hgg.), Literarischer Stil. Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. XXII. Anglo-German Colloquium Düsseldorf, Berlin 2015, 247–262; John Thomas Greenfield, »waz hân ich vernomn? (120,17): Überlegungen zur Wahrnehmung von Schall im Parzival Wolframs von Eschenbach«, in: John Greenfield (Hg.), Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Actas do Colóquio International 15 e 16 de Novembro de 2002 (Revista da Faculdade de Letras Línguas e literaturas Anexo 13), Porto 2004, 133–150; ders., »Die Wahrnehmung von Schall im Willehalm Wolframs von Eschenbach«, in: Gudrun Marci-Boehncke/Jörg Riecke (Hgg.), »Von Mythen und Mären«  – Mittelalter­ liche Kulturgeschichte im Spiegel einer Wissenschaftler-Biographie. Festschrift für Otfrid Ehrismann zum 65. Geburtstag, Hildesheim et al. 2006, 49–58; in Kürze auch



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auch, literarischen Stil neu zu beleuchten und die Sprachästhetik, Rezeptionssteuerung, den Sprachklang zu untersuchen.68 Markus Stock hat kürzlich erste Anregungen für den Minnesang geliefert und gefordert, die Klangdimension auch im Hinblick auf die Sinnkonstitution zu fokussieren.69 Bislang wurde die akustische Dimension vor allem für die höfische Epik und den Minnesang untersucht. Die Texte der frühen Zeit blieben gänzlich ausgenommen. Auf diesem Feld sind Untersuchungen denkbar, die sich mit der akustischen Dimension der frühen Literatur unter dem Aspekt a) der Kohärenz im Sinne von Nähebeziehungen auf der Wortebene, b) der Klangregie, also der Strukturierung von Texten durch Beschreibung akustischer Szenarien auf der Ebene der Histoire oder dem Einsatz von Klangfiguren auf der Ebene des Discours, c) der Wahrnehmung sowie d) der Performanz beschäftigen. Anhand der akustischen Inszenierung der entscheidenden Schlacht im Ludwigslied möchte ich die benannten Aspekte verdeutlichen. Das Ludwigslied, das wahrscheinlich zwischen dem 1./3.8.881 und dem 5.8.882 entstand,70 steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Schlacht von Saucourt, in welcher der westfränkische Herrscher Ludwig III. siegreich aus einem Kampf gegen das Normannenheer hervorging. Der Text ist als Planctus auf den vorbildlichen Herrscher ein höchst artifizieller Gesang und entsprechend stilistisch ausgestaltet.71 Martin Clauss/Gesine Mierke/Antonia Krüger (Hgg.), Lautsphären  – Akustische Perspektiven zwischen Klang und Stille (Archiv für Kulturgeschichte), Köln et  al. [im Druck]. 68   Neueste Forschungsergebnisse sind in dem Band Literarischer Stil zusammengefasst. Vgl. ausführlich Silvia Reuvekamp, »Perspektiven mediävistischer Stilforschung. Eine Einleitung«, in: Andersen et al. (Hgg.), Literarischer Stil, 1–16, hier 2 f. Vgl. etwa Albrecht Hausmann, »Stil als Kommentar. Zur inhaltlichen Funktion des Sprachklangs in Gottfrieds von Straßburg Tristan«, in: ebd., 205–223, hier 208; vor allem Stock, »Triôs, triên, trisô«. 69   Vgl. ebd., 370. Vgl. direkt dazu den Beitrag von Christoph Schanze, »Minneklang«, in: Clauss/Mierke/Krüger (Hgg.), Lautsphären [im Druck]. Zum Minnesang vgl. die Untersuchungen von Andreas Haug, »Musikalische Lyrik im Mittelalter«, in: Hermann Danuser (Hg.), Musikalische Lyrik. Teil  1: Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert, Laaber 2004, 59–129; Florian Kragl, »wort und wîse. Formen des sangbaren Verses in der deutschen Literatur des Mittelalters«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N.F. 52 (2011), 31–80; Susanne Köbele, »Rhetorik und Erotik. Minnesang als ›süßer Klang‹ «, Poetica 45 (2013), 299–231. 70   Vgl. Wiebke Freytag, »Art. Ludwigslied«, 2VL 5 (1985), Sp. 1036–1039, hier 1036. 71   Vgl. ausführlich zum Text Herweg, »Art. Ludwigslied«.

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Nach dem Erzähleingang wird Ludwigs Vita in aller Kürze abgehandelt: Er, der ohne Vater aufwächst, gelangt in die Obhut des Höchsten und wird zum Werkzeug Gottes im Kampf gegen die Heiden. Zu a): Das Thema des Textes, nämlich dass Ludwig Gott dient und dafür belohnt wird, wird eingangs abgehandelt (v. 1 f.). Anschließend erfährt der Rezipient, dass Gott Ludwig holte und ihn prüfen wollte. Durch die Erwähnung Gottes bzw. seines Handelns wird die Erzählung strukturiert und gestrafft. Es gibt in diesem Teil  keine wörtliche Rede. Zugleich wird über die Bezüge auf Gott Kohärenz hergestellt (holoda inan truhtin, koron uuolda sin god, thoh erbarmedes god). Der zweite Teil  des Textes nun zeigt nicht Gott, sondern Ludwig als handelndes Subjekt, denn er muss die ihm von Gott auferlegte Prüfung  – den Kampf gegen die Normannen – bestehen. Der folgende (dramatisierte) Teil ist durch Redeszenen gestaltet und setzt mit der Bitte Gottes um Ludwigs Hilfe ein. Dieser folgt in der Rolle des Miles christianus dem Hilferuf und agiert nun als Gotteskämpfer, was im Text dadurch zum Ausdruck gebracht wird, dass sein Handeln auf Gott bezogen wird: Tho nam her godes urlub (v. 27), Hera santa mih god (v. 33), Nu uuillih, thaz mir uolgun  Alle godes holdon (v. 36), Gidout godes uuillion (v. 39), Gode lob sageda (v. 45). Die Handlung lässt sich anhand dieser Referenzen auf Gott strukturieren und (nach-)erzählen. Und auch im Epilog wird mit dem Lob Gottes dieser Faden fortgesetzt und mit Bezug auf die Eingangssequenz, welche die Causa eröffnet, beschlossen.72 Die Erzählung lässt sich somit entlang des Agierens Gottes als handelndes Subjekt und entlang Ludwigs Handelns im Sinne Gottes (als Objekt Gottes) erzählen. Durch den Bezug zu god, truhtin wird auf der Textoberfläche Kohärenz hergestellt und der Text entlang dieser Wiederholungen strukturiert. Zu b) und c): Die Schlacht bei Saucourt ist Kulminationspunkt des Textes, da historische Ereignisse in literarischer Darstellung aufgehen und mit entsprechenden Mitteln aufbereitet werden. Ludwigs Vita gipfelt in dem entscheidenden Kampf, der somit zeichenhaft für seine Erwähltheit und seinen Dienst an Gott steht. Ludwig ist der heilige Held, der durch ein »Fenster zur Transzendenz«73 mit Gott kommuniziert und auf diese Weise Merkmale eines Heiligen erhält.74 Der Text läuft auf die Darstellung 72   Zu überlegen wäre, ob sich dionot aus v. 2 und gilobot zusätzlich aufeinander beziehen lassen. 73   Vgl. Schulz, Erzähltheorie, 144. 74   Zur hagiographischen Nähe vgl. Wolfgang Haubrichs, Die Anfänge. Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60) (Geschichte



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der Schlacht zu; im Kampf für Gott erweist sich Ludwig als ausgezeichneter Miles christianus. Dieser Höhepunkt wird auch akustisch inszeniert. So strukturieren beispielsweise akustische Mittel die Kampfschilderung. Diese lässt sich in drei Teile gliedern: Einleitung des Kampfes, Schlacht, Akklamation des Siegers. Nach der Rede Ludwigs und dem Verstummen des gemeinsamen Kyrie-Gesanges setzt der Kampf ein. Das Ende des Liedes gibt gewissermaßen das akustische Signal für den Beginn der Schlacht. Im Sinne des agonalen Prinzips wird nur der Kampf der Franken beschrieben, die ihre Feinde überwinden. Ludwig bewährt sich hier als der beste Kämpfer. Die Beschreibung des Kampfes spricht verschiedene Wahrnehmungsmodi an. So wird das akustische Szenario, der gemeinsame Gesang, durch das Bild des Blutes, das in den Wangen der Kämpfer leuchtet (bluot skein in uuangon, v. 49) und metaphorisch für den anstrengenden Kampf der Franken steht, abgelöst. Als der Gesang verstummt, beginnt der Kampf (Sang uuas gisungan,  Uuig uuas bigunnan, v. 48). Nach dem Verstummen des Kyrie erklingen die Schwerter, und Ludwig geht aus dem Kampf siegreich hervor. Die akustische Dimension, die auf der Ebene der Histoire verschiedene Lautsphären evoziert, wird durch Klangfiguren auf der Ebene des Discours unterstützt. So sind in den wenigen Versen der Schlachtschilderung Assonanz, Alliteration und Anapher bewusst eingesetzt: Suman thuruskluog her, Suman thuruhstah her. Her skancta ce hanton Sinan fianton Bitteres lides. So uue hin hio thes libes! (v. 52–54) [Den einen erschlug er, den anderen erstach er, er fügte schnell seinen Feinden bitteres Leid zu. Wehe auf immer über ihr Leben!]

Die anaphorischen Wendungen markieren Ludwigs Kraft und seine Unerbittlichkeit gegenüber den Feinden. Zugleich dienen sie der Rhythmisierung des Geschehens und erzeugen Präsenzeffekte.75 Der Rhythmus des Textes wechselt an dieser Stelle, sodass die Schwerthiebe Ludwigs im Akt der Rezeption hör- und fühlbar werden. Die Häufung der dunklen Vokale im ersten Vers unterstreicht zusätzlich die Gewalt, die das Geschehen bestimmt. Die eher düster anmutende und spannungsgeladene Situation wird durch die Ausrufe, die sich anschließen, gelöst. Der Rezipient rsp. der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit 1,1), Tübingen 1995, 175. 75   Vgl. dazu ausführlich die Arbeit von Kai Christian Ghattas, Rhythmus der Bilder. Narrative Strategien in Text- und Bildzeugnissen des 11. bis 13. Jahrhunderts, Köln et al. 2009, 11.

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Leser kann aufatmen. Schließlich wird das Ende des Textes mit dem klingenden Vers: So garo soser hio uuas, / So uuar soses thurft uuas (v. 58) [So (kampf)bereit, wie er immer gewesen ist, wo auch immer Not war] eingeleitet. Abschließend folgt die Bitte um göttliche Gnade. Insbesondere die Klangstruktur des benannten Verses, das Zusammenspiel aus Stabreim, Epipher und Wechsel im Rhythmus, hebt die abschließende Aussage, dass Ludwigs Kampfbereitschaft stets anhielt und ihn als Herrscher auswies, noch einmal hervor. Zu d): Daneben sind verschiedene Wiederholungsfiguren bewusst gesetzt. So impliziert die Wiederholung von Wörtern einerseits die Beschwörung von Ludwigs Sieg. Andererseits vergegenwärtigt das Repetieren den Kampf. Die Klangfiguren erzeugen folglich eine entsprechende Wirkung, die rhythmische Struktur unterstützt die Memorierbarkeit des Geschehens. Mit der Anrufung der Heiligen Ioh allen heiligon thanc! (v. 56) [Und allen Heiligen sei Dank!] und der Akklamation des Siegers Uuolar abur Hluduig, Kuning unser salig! (v. 57) [Wohl abermals für Ludwig, unser gesegneter König] endet der Kampf. Hier werden die Heiligen angerufen und Ludwig als siegreicher König durch die Gemeinschaft (Kuning unser) bestätigt. Somit wird die Akklamation durch die Menge vollzogen und ist als performativer Akt  – auch für den Rezipienten  – zu verstehen. Abschließend folgt die Bitte um Gottes Gnade und damit die Aufforderung, an Ludwig zu denken und für ihn zu handeln. Hier hat die akustische Dimension memorierende Funktion. Schließlich ist die Erinnerung an Ludwigs Taten Ziel des Textes, wie der in die Handschrift eingetragene Titel Rithmus teutonicus de piae memoriae Hluduico rege filio Hluduici aeque regis vorgibt. Memorierende Elemente finden sich auch in dem gegen Ende des 9. Jahrhunderts entstandenen Georgslied.76 In dem Gesang auf den heiligen Georg fallen insbesondere die Wiederholungen im Refrain (dhasz uheizs hik dhasz ist aleuhar. Hufferstunt shik Gorio dhar, v. 28) [Das weiß ich, das ist absolut wahr, da erstand Georg auf […]) und die »memorierende[] Aufzählung der Ereignisse«77, die gebetsmühlenartig das Leben des Heiligen vergegenwärtigen, auf. In einer scheinbaren Endlosschleife werden die Taten Georgs aufgesagt und lassen sich bis ins Endlose perpetuieren: Gorio fhuor […] (v. 1), fhuor er […] (v. 3), ferlhiez er […] (v. 5) [Georg 76   Vgl. Ruth Schmidt-Wiegand, 2VL 11 (2004), Sp. 516.

»Art. Georgslied«, 2VL 2 (1980), Sp. 1213–1216;

77   Wolfgang Haubrichs, »Art. Georgslied«, in: Bergmann (Hg.), Althochdeutsche und altsächsische Literatur, 132–137, hier 133.



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zog […]78, er verließ]. Dieses Wiederholen erinnert an das stetige Wiederkäuen (ruminatio) der Heilsbotschaft und der Heilsereignisse, wie es etwa im Rahmen monastischer Tischlesungen praktiziert wurde.79 Damit ist auch das Singen des Wortes eingeschlossen, das den ganzen Körper in den Memoriervorgang einschließt. Obwohl der Schreibereintrag (nequeo Vuisolf) am Ende der Handschrift genuin nichts mit dem Georgslied zu tun hat,80 scheint er im Anschluss an den Text dennoch sinnvoll, da der Struktur nach ein Ende nicht unbedingt abzusehen ist. Im Ganzen lässt die Anlage des Textes auch auf seine Verwendung als Prozessionslied, das von Geistlichen vorgetragen wurde, schließen.81 Dies wird durch die akustischen Phänomene (Wiederholung, Aufzählung etc.), die auf inhaltlicher und formaler Ebene auszumachen sind und meditative Wirkung haben, gestützt. Das Georgslied ist stilistisch ganz in seiner Zeit verhaftet; es steht dem lateinischen Hymnengesang nahe,82 bedient sich predigthafter Elemente und enthält Anklänge an die mündliche Dichtungstradition. Auf seine Nähe zu Otfrids Evangelienbuch, die sich durch ähnlichen Wortlaut in verschiedenen Wendungen auszeichnet, wurde verschiedentlich hingewiesen.83 Diese Nähe lässt sich auch unter dem Aspekt paratextueller Kohärenz fassen, die Zusammenhänge von Texten sichtbar macht. Aufs Ganze gesehen trägt die Analyse der akustischen Dimension der Texte dazu bei, das Verhältnis von Histoire und Discours unter dem Aspekt der Klangstruktur zu betrachten. Die Analyse des »Netz[es] der Klangbeziehungen«, des »Sound stratum«84 kann dazu dienen, die ästhetiMüller übersetzt fuor mit ›fuhr‹ (Müller, Althochdeutsche Literatur, 81). Vgl. dazu Raphaela Gasser, Propter lamentabilem vocem hominis. Zur Theorie der Volkssprache in althochdeutscher Zeit, Freiburg 1970, 16 f. 80   Beide Wörter sind von unterschiedlichen Händen, vgl. Wolfgang Haubrichs, »Nequeo Vuisolf. Ein Beitrag zur Mythenkritik der Altgermanistik«, in: Angela ­Bader et al. (Hgg.), Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte. Rolf Bräuer zum 60.  Geburtstag (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 300), Stuttgart 1994, 28–42. Vgl. zur Mythenbildung im Althochdeutschen auch Müller, »ik mideo dreuuet«, 148 f. 81   Vgl. Wolfgang Haubrichs, Georgslied und Georgslegende im frühen Mittel­ alter: Text und Rekonstruktion, (Theorie, Kritik, Geschichte 13), Königstein 1979, 136; Müller, Althochdeutsche Literatur, 309. 82   Schmidt-Wiegand, »Art. Georgslied«, Sp. 1213–1216, hier 1215. 83   Vgl. Schmidt-Wiegand, »Art. Georgslied«, Sp. 1215; Haubrichs, »Georgslied«, 136. 84   Arne Klawitter, Ästhetische Resonanz. Zeichen und Schriftästhetik aus Ostasien in der deutschsprachigen Literatur und Geistesgeschichte, Göttingen 2015, 335. 78   79  

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sche und affektive Wirkung der frühen Literatur stärker zu fokussieren. Dabei finden auch die Formen und Modi der Memoria, die der frühen Literatur inhärent sind, Berücksichtigung.85 Diese zeigen sich sowohl in der Überlieferung der Texte (z. B. Neumen), im Erzählen selbst oder durch die Einbindung von Texten in paraliturgische Zusammenhänge. Somit bieten die verschiedenen Ausprägungen der Memoria ein mögliches Narrativ für eine Literaturgeschichte der frühen Zeit. III. Perspektiven für die Vermittlung der althochdeutschen Literatur an Schule und Hochschule Die althochdeutsche Literatur spielt im Rahmen der Vermittlung in der Schule, in der schon die höfische Literatur kaum einen Platz findet,86 eine marginale Rolle.87 So lassen sich im Gegensatz zu den Texten des Hochmittelalters oder sprachgeschichtlichen Themen nur wenige Unterrichtsentwürfe zur frühen Literatur finden.88 Dabei hat gerade die Kompetenz85   Jüngst haben etwa für Otfrid Elke Koch und Harald Haferland erneut darauf hingewiesen, vgl. Elke Koch/Harald Haferland, »Heilsteilhabe bei Otfrid«, in: Bruno Quast/Susanne Spreckelmeier (Hgg.), Inkulturation. Strategien bibelepischen Schreibens in Mittelalter und Früher Neuzeit (Literatur – Theorie – Geschichte 12), Berlin/Boston 2017, 73–107, hier 86–88. 86   Vgl. dazu mit Verweis auf entsprechende Unterrichtsentwürfe Sahm, »Geister«, 159, hier auch Anm. 17. 87   Vgl. hierzu die statistische Analyse von Ylva Schwinghammer zur Verwendung des Althochdeutschen im Unterricht. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass mehr als 70 % der befragten österreichischen und Schweizer Lehrer und die Hälfte der befragten deutschen Lehrer angaben, althochdeutsche Texte ›zumindest fallweise‹ im Unterricht zu behandeln. Ylva Schwinghammer, Das Mittelalter als Faszinosum oder Marginalie? Länderübergreifende Erhebungen, Analysen und Vorschläge zur Weiterentwicklung der Mittelalterdidaktik im muttersprachlichen Unterricht (Mediävistik zwischen Forschung, Lehre und Öffentlichkeit 7), Frankfurt a. M. et al. 2013, 67; vgl. auch Sahm, »Geister«, 159. 88   Während es für die Texte der höfischen Zeit inzwischen zahlreiche Modelle, Entwürfe und Materialien gibt, fehlt selbiges für die frühe Literatur. Vgl. für die höfische Zeit, um nur einige zu nennen, etwa die Beiträge im Jahrbuch der Oswaldvon-Wolkenstein-Gesellschaft 15 (2005); Nine Miedema/Andrea Sieber (Hgg.), Zurück zum Mittelalter. Neue Perspektiven für den Deutschunterricht, Frankfurt a. M. 2013; Detlef Goller et  al. (Hgg.), Helden in der Schule. Akten der Tagung Kloster Banz 2014 (MimaSch 3), Bamberg 2017; Uta Goerlitz/Meike Hensel-Grobe (Hgg.), Mediävistik und Schule im Dialog (Das Mittelalter 22, H. 1 [2017]); überdies die Internetportale ›MimaSch‹ und ›mittelneu‹. Zur frühen Literatur vgl. hier die Ideen von Uta Goerlitz et  al. zur Einbindung von Paläographie sowie zu Themen wie Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Uta Goerlitz et al., »Altgermanistik und Deutschunterricht. Relevanz und Schulbezug im germanistisch-mediävistischen Curriculum:



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orientierung im Deutschunterricht (seit 2003) dazu beigetragen, das Spektrum an Texten, die im Unterricht behandelt werden können, zu erweitern.89 Das heißt mitnichten, dass alles immer geht und sinnvoll ist, es ist aber grundsätzlich möglich und daher mit Blick auf die zu vermittelnden Kompetenzen eine Frage der richtigen Textauswahl. Die Herausforderung besteht darin, eine gute Auswahl zu treffen und mit Blick auf die frühe Literatur aufzuzeigen, dass Kompetenzen vermittelt werden können und welche dies sind.90 Somit bedarf es fundierter Stundenentwürfe, welche die frühe Literatur für den Deutschunterricht attraktiv machen. Neben der Beschäftigung mit der Überlieferung der frühen Literatur sind auch die umfassenden Themenfelder Mehrsprachigkeit und Übersetzung für den schulischen Unterricht aktuell und produktiv und bieten vielfältige Anknüpfungspunkte.91 Überlegungen und Impulse«, in: Goller et  al. (Hgg.), Helden, 323–341, hier 337; Michael Klaper, » ›Komponist‹ und ›Komponieren‹ im frühen Mittelalter zwischen Umbruch und Kontinuität«, in: Goerlitz/Hensel-Grobe (Hgg.), Mediävistik und Schule, 165–182. Zur fachdidaktischen Aufbereitung der Zaubersprüche vgl. Wernfried Hofmeister/Silva Madl, »Magische Momente im Schulunterricht. Die Textgattung Zauberspruch als Paradigma für eine praxisnahe Lehramtsausbildung an der Schnittstelle zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik«, in: Wernfried Hofmeister/Ylva Schwinghammer (Hgg.), Literatur-Erlebnisse zwischen Mittelalter und Gegenwart. Aktuelle didaktische Konzepte und Reflexionen zur Vermittlung deutschsprachiger Texte (Mediävistik zwischen Forschung, Lehre und Öffentlichkeit 9), Frankfurt a. M. 2015, 207–224, dazu auch das hier erwähnte Online-Portfolio erarbeitet an der Universität Graz »Zaubersprüche verstehen lernen«. 89   Vgl. zur Auswahl von Texten Ines Heiser, »Auswahlkriterien für mittelalter­ liche Literatur im Deutschunterricht«, in: Detlef Goller et al. (Hgg.), Helden, 13–28, hier 14 f. 90   Zur Begründung der Integration mittelalterlicher Texte in den Deutschunterricht vgl. zusammenfassend die Ausführungen von Nine Miedema/Andrea Sieber, »Zurück zum Mittelalter. Neue Perspektiven für den Deutschunterricht: Einleitung«, in: Miedema/Sieber (Hgg.), Zurück zum Mittelalter, 8–10. 91   Zum Themenbereich Mehrsprachigkeit liefert etwa Florian Kragl einen interessanten Beitrag, vgl. Kragl, »Deutsch/Romanisch/Lateinisch/Deutsch«, 291–317; vgl. des Weiteren Hans Ulrich Schmid, Ich mêino facta et dicta. Code switching im frühen Mittelalter, Stuttgart 2017; Stephan Müller, »Sprachkonflikte? Mehrsprachigkeit, Verständigungsroutinen und der Beginn der volkssprachigen Schriftlichkeit im deutschen Frühmittelalter«, Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte 7 (2016), 116– 132; Heinz Siegburg, »Zwischen Annäherung und Entfremdung. Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit im Mittelalter«, in: Till Dembeck/Georg Mein (Hgg.), Philologie und Mehrsprachigkeit, Heidelberg 2014, 231–252; Helmut Glück, »Mittelalterliche Zeugnisse für den Erwerb des Deutschen als Fremdsprache«, in: Helmut Glück (Hg.), Die Volkssprachen als Lerngegenstand im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Akten des Bamberger Symposions am 18. und 19. Mai 2001 (Die Geschichte des Deutschen als Fremdsprache 3), Berlin/New York 2002, 113–124. Für den Themenkomplex ›Übersetzung‹ bietet etwa Nikolaus Henkel wichtige Anregungen, die im

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Wie aus dem schulischen so ist die Beschäftigung mit der frühmittelalterlichen Literatur auch aus dem akademischen Unterricht weitgehend verdrängt. Selbst das Althochdeutsche ist längst nicht mehr an allen Universitäten präsent. Dabei lassen sich die Grundlagenthemen für die Einführung in die Germanistische Mediävistik nicht minder gut an den Gegenständen der frühen Sprachperiode vermitteln. Basiswissen zur Überlieferung mittelalterlicher Literatur, zu Hermeneutik, Rhetorik oder Gattungslehre, wie es Hilkert Weddige in seinem Einführungsband vor allem am Beispiel der hochmittelalterlichen Literatur darstellt,92 lässt sich ebenso gut an den Textbeispielen aus der althochdeutschen Zeit erörtern. Allein es fehlt an einer adäquaten Aufbereitung. Zwar gibt es hervorragende und umfassende Einführungen in die althochdeutsche und altsächsische Sprache und Literatur93 sowie verschiedene aktuelle Abhandlungen mit sprachhistorischem, literatur- oder überlieferungsgeschichtlichem Zugang.94 Und obwohl die frühe Literatur lexikographisch, überlieferungsgeschichtlich und editionsphilologisch recht gut erschlossen ist,95 fehlt eine Darstellung, Hinblick auf den schulischen Unterricht wichtige Anknüpfungspunkte bieten. Er betont anhand der Interlinearversionen, »daß das Verfahren interlinearer Erschließung eines fremdsprachigen Textes keine Angelegenheit des Mittelalters, gar noch des frühen ist, sondern in bestimmten Fällen bis in die Gegenwart genutzt wird.« (Nikolaus Henkel, »Die althochdeutschen Interlinearversionen. Zum sprach- und literaturhistorischen Zeugniswert einer Quellengruppe«, in: Joachim Heinzle et  al. [Hgg.], Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Kolloquium 1994, Berlin 1996 [Wolfram-Studien XIV], 46–72, hier 47.) Diese Textgruppe bietet ein hervorragendes Beispiel, um sich auch mit Schülern mit Techniken des Übersetzens und Möglichkeiten der Texterschließung zu beschäftigen. 92   Vgl. Hilkert Weddige, Einführung in die germanistische Mediävistik, 9München 2017. 93   Vgl. Stefan Sonderegger, Althochdeutsche Sprache und Literatur. Eine Einführung in das älteste Deutsch. Darstellung und Grammatik, 3Berlin/New York 2003; Rolf Bergmann/Claudine Moulin/Nikolaus Ruge (Hgg.), Alt- und Mittelhochdeutsch. Arbeitsbuch zur Grammatik der älteren deutschen Sprachstufen und zur deutschen Sprachgeschichte, Göttingen 2016. 94   Grundlegend ist noch immer Haubrichs, Die Anfänge. Vgl. ebenfalls Bergmann, Althochdeutsche und altsächsische Literatur. 95   Insbesondere die Beforschung und Erschließung der althochdeutschen Glossen ist in den letzten Jahren enorm vorangeschritten. Im Folgenden nur eine Auswahl aus der aktuellen Literatur: Falko Klaes, Die älteste deutschsprachige Überlieferung der Stadtbibliothek Trier: volkssprachige Glossen und Texte im lateinischen Kontext, Trier 2017; Arend Quak, »Sprachmischung in den ›Malbergischen Glossen‹ «, Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 77 (2017), 584–600; Norbert Kruse, »Volkssprachige Glossen zu den ›Versus de volucribus, bestiis, arboribus‹ in einer ehemals Weingartner Handschrift«, Sprachwissenschaft 40 (2015), 181–202; Markus Schiegg, Frühmittelalterliche Glossen: ein Beitrag zur Funktionalität und Kontextualität mittelalterlicher Schriftlichkeit, Heidelberg 2015; Rudolf Schützeichel, »Zu neu-



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in der literaturwissenschaftliche und -theoretische Zugänge am Beispiel der althochdeutschen und altsächsischen Literatur expliziert werden.96 Hartmut Bleumer hat jüngst für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der frühen Literatur auf den Zusammenhang von Archäologie und Philologie hingewiesen. Und er hat auf der Grundlage des Konzepts der Literaturgeschichte Wolfgang Haubrichs’ noch einmal die Pluralität der Anfänge hervorgehoben.97 Daraus lässt sich ganz allgemein schlussfolgern, dass die Heterogenität des Materials, die große Vielfalt der Texte, eine Herausforderung und zugleich Chance für die Erforschung des Frühmittelalters sein kann. Überdies bietet beides, die Methode und die Betonung von Pluralität und Diversität, freilich auf unterschiedlichem Niveau und in verschiedener Komplexität Anknüpfungspunkte für den akademischen und schulischen Unterricht. Anhand jedes einzelnen Textzeugnisses kann entdeckten Glossenhandschriften und zu neuentdeckten Glossen«, in: … inti sie ni forstuontun thaz uuort thaz her sprah zi in (Tat.12,8): Klaus Siewert, Kleinere Schriften zur deutschen Philologie und Sprachwissenschaft, zu Geheimsprachen, Kodiko­ logie, Keltologie und Klassischer Philologie. Festschrift zu seinem 60. Geburtstag am 15. Februar 2014, hg. Jochen P. Becker/Christoph Gutknecht/Rudolf Post, Münster et  al. 2014, 221–258; ders., »Unbekannte althochdeutsche Glossen in zwei Wolfenbütteler Handschriften der Sammlung Gude«, in: Siewert, Kleinere Schriften, 145– 154; Klaus Siewert, »Althochdeutsche Glossen zur ›Regula canonicorum‹ des Chrodegang von Metz. Mit einer Abbildung«, in: Siewert, Kleinere Schriften, 131–140; Oliver Ernst, »Althochdeutsche Glossen als Quellen einer Sprachgeschichte ›von unten‹ «, North-western European language evolution, 62/63 (2011), 249–283; Andreas Nievergelt, »Glossen aus einem einzigen Buchstaben«, in: Mariken Teeuwen/ Irene van Renswoude (Hgg.), The annotated book in the early Middle Ages. Practices of reading and writing, Turnhout 2018, 285–304; ders., »Nachträge zu den althochdeutschen und altsächsischen Glossen (2014/15)«, Sprachwissenschaft 40 (2015), 289–340; ders., »De griffelglossen in het handschrift Parijs, BnF lat. 9389«, Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 74 (2015), 289–340; Rolf Bergmann/Stefanie Stricker, Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch, 2 Bde., Berlin et al. 2009. Auch die Althochdeutsche Grammatik liegt in neuer Ausgabe vor, vgl. Wilhelm Braune, Althochdeutsche Grammatik, Teil 1: Laut- und Formenlehre, neu bearb. Frank Heidermanns, 16Tübingen 2018. 96   Erwähnt seien hier die beiden hervorragenden Bände Christiane Ackermann/ Michael Egerding (Hgg.), Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik: ein Handbuch, Berlin 2015, und Johannes Keller/Lydia Miklautsch (Hgg.), Walther von der Vogelweide und die Literaturtheorie. Neun Modellanalysen von ›Nemt, frouwe, disen kranz‹, Stuttgart 2008. Allerdings fehlt die Explikation der Ansätze am Beispiel der frühen Literatur. 97   Bleumer formuliert so für die Frühmittelalterforschung eine ›paradigamtische Wende‹: »Das Faszinationspotential liegt vielmehr in einer Erkenntnisform, mit der Kulturgeschichte paradigmatisch erfasst werden kann. In diesem Sinne müsste Frühmittelalterforschung […] paradigmatische Kulturgeschichte sein.« (Bleumer, »Archäologie«, 224 f.).

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stückweise der Weg in die Literatur- und Kulturgeschichte erschlossen und somit die frühe Literatur in das Blickfeld zurückgeholt werden. Dabei müssen die Textzeugnisse, die wie Gesteinsblöcke aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinragen, jeweils einzeln abgeklopft werden, um an ihren Kern zu gelangen und Aussagen über das Gewesene freilegen zu können. Gerade dieser Prozess, die Rekonstruktion eines möglichen Textes bzw. Kontextes, ist es, der insbesondere den Studierenden die Grundlagen »philologischer Aneignung«98 vermitteln bzw. das Interesse an der Arbeit mit Texten erst befördern kann. Dieser Prozess ist, wie Stephan Müller betonte, für die frühmittelalterliche Literatur wesentlich klarer als für die Texte der späteren Zeit.99 Während es für die Texte der höfischen Zeit häufig sinnvoll erscheint, den Pfad ins Mittelalter über den (Um-)Weg der Rezeption zu gehen, ist dieser für die Zeit des frühen Mittelalters häufig nicht so einfach zu beschreiten.100 Der Weg, um die althochdeutschen Texte auch für den akademischen und schulischen Unterricht interessant zu machen, sollte folglich über die Überlieferung führen. Auf dieser Grundlage lassen sich sodann anhand des Textes weitere Kontexte erschließen. Ein Vorgehen, das viele Anknüpfungspunkte für fächerverbindende Unterrichtsentwürfe oder interdisziplinäre Seminare bietet. Wirft man einen Blick auf die Überlieferung der frühen Literatur, so scheinen die Texte zunächst zufällig auf uns gekommen, hineingezwängt auf die freien Stellen lateinischer Handschriften, scheinbar formlos dahingekritzelt. Nur wenige  – ausgenommen die ›großen‹ Texte  – lassen auf eine planvolle und strukturierte Abfassung schließen. Dabei kann auch die Mitüberlieferung wichtige Einblicke in den Gebrauch und die Funktionalisierung von Texten geben.101 Das Ludwigslied etwa kann mit den LerMüller, »ik mideo dreuuet«, 150. Ebd. 100   Der Hauptgrund scheint hier darin zu liegen, dass es für die spätere Literatur eine weitaus größere Anzahl und Auswahl an Rezeptionszeugnissen gibt, die für den Schüler greifbar sind. 101   Vgl. Stephan Müller, » ›Schwabenspiegel‹ und ›Prosakaiserchronik‹. Textuelle Aspekte einer Überlieferungssymbiose am Beispiel der Geschichte Karls des Großen (mit einem Anhang zur Überlieferung der ›Prosakaiserchronik‹)«, in: Eckart Conrad Lutz/Wolfgang Haubrichs/Klaus Ridder (Hgg.), Text und Text in lateinischer und volkssprachiger Überlieferung des Mittelalters. Freiburger Kolloquium 2004 (Wolfram-Studien XIX), Berlin 2006, 233–252, hier 247; zum Problem vgl. auch Wolfgang Haubrichs, »Die Edition althochdeutscher (theodisker) Texte zwischen Überlieferungstreue und Rekonstruktion«, in: Martin J. Schubert (Hg.), Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1.–3. April 2004 (Beihefte zu editio 23), Tübingen 2005, 95–118, hier 98–100. Vgl. zur Aufzeichnung althochdeutscher/altsächsischer Texte und den jeweiligen Träger98   99  



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nenden ausgehend von der Überlieferung erschlossen werden. Entsprechend lassen sich Fragen an das noch sichtbar Vorhandene anschließen und mit den Lernenden entwickeln. Ein Beispiel für den interpretatorischen Zusammenhang von Texten hat Ricarda Bauschke geliefert, indem sie auf die Verbindung von »Eulalia-Sequenz« und Ludwigslied in der Handschrift Valenciennes, bibliothèque municipale 150, hingewiesen und interpretatorische Konsequenzen daraus gezogen hat.102 Bauschke spricht von einer »Isotopie«103 und zielt damit auf »eine homogene semantische Struktur«104 der beiden Texte ab, mehr noch führt sie beide Texte auf ein »identisches übergeordnetes Thema«105 zurück. Schließlich deutet sie den Textverbund typologisch. Während Eulalia die Kirche repräsentiert, steht Ludwig als siegreicher Herrscher, als Miles christianus, für das christliche Frankenreich. Zwischen den Texten der Handschrift ergeben sich überdies paradigmatische Zusammenhänge. Betrachtet man alle Texte als ein Gesamtnarrativ, das etwa vom Walten Gottes in der Welt berichtet, dann lassen sich Bezüge auch zwischen den Texten herstellen, die wiederum unter der Prämisse der bereits ausgeführten Kohärenzproblematik auf die thematische oder narratologische Nähe zwischen Texten rekurriert. Damit werden keine intertextuellen Abhängigkeiten beschrieben, sondern Beziehungen der Nähe, die den modernen Betrachter auf thematische Zusammenhänge innerhalb der Handschriften verweisen und das Singuläre und Zufällige in der Überlieferung der frühen volkssprachigen Texte zumindest ein Stück weit obsolet erscheinen lassen. Um all dies nun wiederum auch für die Schule leisten zu können, bedarf es selbstverständlich von Seiten der Universitäten eine entsprechende Ausbildung von »engagierte[n] und informierte[n]«106 Lehrkräften, die dies umsetzen können  – auch, wenn Althochdeutsch und seine Vermittlung nicht mehr explizit in den Lehrplänen erwähnt werden. Darüber hinaus erscheint es vor diesem Hintergrund sinnvoll, die Texte und ihre handschriften den 2015 erschienenen Beitrag von Ernst Hellgardt, »Althochdeutsche Texte in liturgischen und kanonistischen Handschriften (8.–12.Jh.)«, in: Cornelia Herberichs et al. (Hgg.), Liturgie und Literatur. Historische Fallstudien (Lingua Historica Germanica 10), Berlin/Boston 2015, 23–46. 102   Vgl. Ricarda Bauschke, »Die gemeinsame Überlieferung von ›Ludwigslied‹ und ›Eulalia-Sequenz‹, in: Lutz/Haubrichs/Ridder (Hgg.), Text und Text, 209–232. 103   Bauschke, »Überlieferung«, 212. 104   Ebd., Anm. 6. 105   Ebd., 215. 106   Heiser, »Auswahlkriterien«, 15.

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Überlieferung  – auch wenn die Handschriften digital zugänglich sind  – entsprechend aufzubereiten. Hier bieten die Methoden der Digital Humanities zum einen Möglichkeiten, die Texte einem breiteren Publikum auch jenseits der Universitäten zu erschließen. Zum anderen können die Texte etwa durch das Installieren von Suchmaschinen für Anschlussfragen aufbereitet werden. Raum für sprachgeschichtliche, literaturwissenschaftliche oder historische und kulturgeschichtliche Fragen bietet zudem die Möglichkeit der Kommentierung. Im Bereich der digitalen Editionen bzw. besser im Hinblick auf die digitale Verfügbarkeit der frühen Literatur ist einiges auf den Weg gebracht; zu nennen wären hier etwa das Augsburger Glossen-Projekt, das als Online-Portal Zugang zur Überlieferung althochdeutscher Glossen verschafft,107 das Projekt ›DDD Referenzkorpus Althochdeutsch‹, das die althochdeutsche und altsächsische Literatur tiefenannotiert und auch lateinische Vorlagen miterfasst108 sowie die umfassenden Textdatenbank ­TITUS109. Gerade vor dem Hintergrund der überschaubaren Überlieferung der frühen Literatur sollten auf diesem Feld Editionsprojekte in Angriff genommen werden, die sich an den standardsetzenden Editionen wie der des Parzival-Projekts110, der Edition Welscher Gast digital111 oder der Lyrik des deutschen Mittelalters (LDM)112 orientieren und auch die frühmittelalterliche Literatur in Text und Bild per Mausklick einem größeren Publikum erschließen, erklären und die (textuelle) Welt des Frühmittelalters zugänglich machen. An diese visuelle Perspektive könnte sich gerade unter dem Eindruck der Einflüsse aus dem Bereich der Sound Studies auch eine auditive Aufbereitung der frühen Texte anschließen. Dabei wäre nicht nur an das Einsprechen und Nachhören der Texte zu denken, wodurch bereits existierende Datenbanken erweitert werden könnten. Denkbar wäre auch eine Erschließung, die Klangkulissen (wie etwa Klangfiguren, Neumen, Redeszenen etc.) kenntlich und die Literatur nach ›auditiven Kriterien‹ durchsuchbar macht. Die digitalen Möglichkeiten und Techniken könnten so den Zugriff auf die frühe Literatur im Hinblick auf die Vermittlung um eine Wahrnehmungsdimension erweitern. 107   https://glossenwiki.phil.uni-augsburg.de/wiki/index.php?title=Hauptseite [letzter Zugriff 17.9.2018]. 108   http://www.deutschdiachrondigital.de/home/[letzter Zugriff 02.02.2019]. 109   http://titus.uni-frankfurt.de/indexd.htm [letzter Zugriff 02.02.2019]. 110   Parzival-Projekt [letzter Zugriff 02.02.2019]. 111   Welscher Gast digital [letzter Zugriff 02.02.2019]. 112   Lyrik des hohen Mittelalters [letzter Zugriff 02.02.2019].

La poétique du premier monologue amoureux de Lavine: éléments de versification (Énéas, v. 8082–8334) De Danièle James-Raoul Abstract The study of the first love monologue of the Eneas, entrusted to Lavine, highlights how the musicality of the octosyllabic in this proto-novel is both traditio­nal and innovative. The purpose of this study is to clarify and reconsider the art of the anonymous versifier and to reposition it in literary history: the often regular and measured scansion 4-4 of the octosyllable, the small number of discrepancies between meter and Syntax, the low proportion of rich and leonine rhymes or even feminine rhymes are all signs of a still young, evolving versification. The frequency with which the writer breaks the verse, however, similar to that observed a few decades later in Chrétien de Troyes, is a real innovation that should be restored.

L’art d’écrire les discours rapportés qui s’est fait jour dans la seconde moitié du XIIe  siècle se traduit par des modifications radicales et un intérêt théorique nouveau.1 Comme l’a bien montré jadis Alfons Hilka,2 les discours, de l’épopée au roman, prennent non pas tant de l’ampleur que de nouvelles formes. D’une part, si les dialogues sont moins nombreux dans le nouveau genre romanesque qui s’affirme progressivement, ils y sont sensiblement plus développés, avec une tendance à varier les échanges, des efforts pour tendre vers plus de naturel et l’exploitation de diverses formes des discours rapportés. D’autre part, les monologues s’allongent et leur contenu se renouvelle. La chanson de geste exploitait certes fréquemment le procédé du monologue, mais avec des caractéristiques tout autres : une longueur restreinte à douze-quinze vers y dominait ; la plupart du temps, ce type de discours était le privilège des personnages principaux ; des épanchements, rarement des réflexions, en grande majorité quelques 1  Je me permets de renvoyer à mon ouvrage, Danièle James-Raoul, Chrétien de Troyes, la griffe d’un style, Paris 2007, 102–104 et 728–758. 2  Alfons Hilka, Die direkte Rede als stilistisches Kunstmittel in den Romanen des Chrestien de Troyes [1903], Genève 1979. Voir aussi Corinne Denoyelle, Poétique du dialogue mediéval, Rennes 2010.

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prières et, surtout, des plaintes très formulaires dans la tradition lyrique du planctus (la déploration funèbre) en étaient les motivations essentielles.3 Les romans antiques enregistrent les premiers des évolutions notables. Le Roman de Thèbes restreint le nombre de ses monologues (une quinzaine), mais développe certains d’entre eux4 : ce sont encore et surtout des plaintes qui s’y exhalent, mais leur forme en est de plus en plus souvent délibérative ; ces discours correspondent à des moments où le sujet fait le point avant de prendre une décision. L’écrivain d’Énéas5 (vers 1160) contribue à accentuer l’amplification à l’œuvre et à diversifier la teneur de ces passages : les plaintes passent à l’arrière-plan, la délibération prend de l’importance et, surtout, sous l’influence des écrivains antiques et d’Ovide, le monologue dû et consacré à l’amour qui tourmente les jeunes héros fait son apparition, habité aussi par une parole féminine. Une innovation essentielle réside dans la place conférée aux personnages féminins, en particulier à la fille de Latinus, qui, chez Virgile, restait un personnage de second plan ; la faire parler, c’est précisément consacrer toute son importance dans le roman français et, à sa suite, dans le roman allemand de l’Eneasroman (v. 1175). Son auteur, Heinrich von Veldeke, affirme en effet dans son épilogue avoir traduit le précédent en se servant de plusieurs versions disponibles. Ultérieurement, le Roman de Troie6 marquera quelque peu le pas dans cette évolution : les monologues y reprendront une taille moins considérable (jusqu’à une centaine de vers, tout de même, pour les plus longs d’entre eux), les plaintes engendrées par la mort d’un être cher en demeureront le déclencheur le plus fréquent, à côté de la délibération ou de l’amour. Quant aux chroniques de Wace, elles seront particulièrement avares de ces soliloques. Le monologue auquel je m’intéresse dans cette étude est l’un des dix monologues amoureux de l’Énéas, précisément le premier d’une longue série qui, en cette fin de roman,7 donne la parole aux deux jeunes héros : 3  Voir Hilka, Die direkte Rede, 19–32. Voir aussi les tableaux récapitulatifs donnés, 174–175. 4  Voir, par exemple, les monologues d’Ismène sur la mort d’Athis (v. 6073–6134), de Polynice sur la mort de Tydée, v. 6429–87, dans Le Roman de Thèbes, éd. Francine Mora-Lebrun (Lettres gothiques), Paris 1995. 5  Énéas, roman du XIIe siècle [1925–1929], éd. J.-J. Salverda de Grave (Classiques français du Moyen Âge 44 et 62), Paris 1983 et 1985, 2 t. Le manuscrit édité (Bibl. Laurent., Florence, Plut. XLI, cod. 44) date de la fin du XIIe siècle ou du début du XIIIe siècle. 6  Benoît de Sainte-Maure, Le Roman de Troie, éd. Emmanuèle  Baumgartner/ Françoise Vielliard (Lettres gothiques), Paris 1998. 7  En voici la liste récapitulative. 1.  Amour de Lavine (v.  8083–8334 = 252  vers) : prise de conscience ; en partie délibératif. 2.  Amour de Lavine (v.  8343–8380 =



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Lavine, la fille du roi Latinus, et le Troyen Énéas. Il peut être hâtivement considéré, à l’aune de nos connaissances littéraires contemporaines, comme convenu : il est délibératif, devant, par essence, permettre à la jeune fille de trouver une décision au problème qui l’assaille ; c’est un monologue amoureux, présentant une image orientée de la surprise de l’amour, dans la tradition proprement ovidienne. C’est une libre création, puisque ce passage n’existait pas dans l’Énéide et que l’écrivain médiéval n’a ici pas imité le modèle latin : la jeune fille, après avoir reçu les leçons de sa mère sur l’amour, un peu plus haut dans le roman, examine et reconnaît ce sentiment qui l’habite et la transforme, s’auto-analyse avec ingénuité, grâce et sincérité. C’est doublement un morceau de bravoure : au plan de la rhétorique, parce qu’il illustre bien les procédés de l’amplificatio,8 et aussi au plan de la versification : le lyrisme qui l’anime se fait entendre dans un chant particulièrement concerté des octosyllabes et c’est ce qui retiendra 38 vers) : affirmation de cet amour ; délibératif. 3. Amour de Lavine (v. 8426–8444 = 19  vers) : souffrance ; délibératif. 4.  Amour de Lavine (v.  8676–8775 = 100  vers) : aveu ; délibératif. 5. Amour d’Énéas (v. 8940–9099 = 160 vers) : prise de conscience ; en partie délibératif. 6. Amour de Lavine (v. 9130–9188 = 59 vers) : doutes. 7. Amour de Lavine (v. 9208–9228 = 21 vers) : certitude. 8. Amour de Lavine (v. 9329–9342 = 14 vers) : amour et prouesse. 9. Amour de Lavine (v. 9846–9914 = 69 vers) : doutes ; délibératif. 10. Amour d’Énéas (v. 9929–10078 = 160 vers) : doutes et remords. 8  Selon Edmond Faral, l’amplification » est la grande chose ; elle est la principale fonction de l’écrivain «  (Les Arts poétiques du XIIe et du XIIIe  siècle [1924], Genève/Paris 1982, 61). Dans la rhétorique cicéronienne latine, celle de l’Invention de Cicéron et de l’Hérennius, l’amplification est un simple moyen rhétorique qui, d’une part, est lié à la topique épidictique (par le biais des attributs des personnes et des actions) et, d’autre part, qui est propre à exciter l’indignation. Quintilien (Institution oratoire. Livre VIII, t. V, éd. et trad. Jean Cousin, Paris 1978, IV, 1–29) est le seul à envisager le lien entre l’amplificatio et des procédés formels ou des contenus tels que la gradation (incrementum), la comparaison, le raisonnement, l’accumulation (congeries). Cette façon d’exposer les choses a peut-être influencé les maîtres grammairiens et Geoffroy de Vinsauf le premier dans la conception nouvelle de l’amplification et l’élaboration d’un véritable système de l’écriture. En effet, dans la Poetria nova (éd. E. Faral, dans l’ouvrage précédemment cité), les procédés de l’amplificatio sont fixés à huit, selon un ordre d’importance croissant, comme le souligne l’auteur. Ce sont tout d’abord la paraphrase, liée au procédé synonymique (6  vers et demi lui sont consacrés), la périphrase (15 vers) et la comparaison (23 vers), cette dernière revêtant une forme explicite ou implicite (c’est-à-dire celle de la métaphore) : ces trois procédés cernent rapidement et simplement, dans le langage, l’identité de l’objet. Viennent ensuite ce que l’on traduit communément par » l’apostrophe « (exclamatio en latin, la notion de discours adressé serait sans doute plus adéquate ; 197 vers et de multiples exemples illustrant le propos) et la prosopopée (66  vers et trois exemples), qui exploitent toutes deux les ressources du discours rapporté et prennent une ampleur considérable, d’un point de vue quantitatif et qualitatif. Enfin, sont citées la digression (27 vers), la description (114 vers) et, pour finir, l’opposition (22 vers) : toutes trois détaillent et précisent l’identité de l’objet en lui-même dans le discourse.

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mon attention dans cette étude, conduite dans le sillage de quelques-uns de mes travaux antérieurs.9 L’étude de la versification dans ce proto-roman, pour reprendre la dénomination de Douglas Kelly10, nous permet de découvrir une musicalité réellement novatrice : désormais dénué de l’accompagnement instrumental qui caractérisait la chanson de geste, désormais dit ou lu, sans doute devant un public de cour peu nombreux, et non plus chanté ou psalmodié face à une grande assemblée, le roman en vers, tel qu’il s’épanouit dans la seconde moitié du XIIe  siècle, s’impose aussi nouvellement par ses effets sonores radicalement autres11. L’octosyllabe à rimes plates, vers court qui se plie à de multiples variations sonores, notamment rythmiques et rimiques, lui offre un habillage métrique commode, une sorte de prêt-àporter à particulariser : Michel Zink a ainsi pu mettre en valeur la trans-

9  Danièle James-Raoul, » La brisure du couplet dans le Chevalier au lion de Chrétien de Troyes «, Op. cit. Revue des littératures et des arts 17 (2017), en ligne, URL : https://revues.univ-pau.fr/opcit/index.php?176--agregation-2018  ; Danièle JamesRaoul, » La poétique de l’octosyllabe dans le Chevalier au lion «, dans : Estelle Doudet (éd.), Le laboratoire du roman. Le Chevalier au lion de Chrétien de Troyes, Acta Litt & Arts 6 (2018), en ligne, URL : http://ouvroir-litt-arts.univ-grenoble-alpes.fr/ revues/actalittarts/351-le-laboratoire-du-roman-le-chevalier-au-lion-de-chretien-detroyes. Pour ces études, j’ai travaillé à partir de l’édition suivante : Chrétien de Troyes, Le Chevalier au lion (Champion Classique » Moyen Âge «), éd. et trad. Corinne Pierreville, Paris 2016. Au moment de remettre cette étude, j’ai pris connaissance du bel article de Yannick Mosset auquel je renvoie, » La versification des Lais de Marie de France «, dans : Gilles Couffignal/Adeline Desbois-Lentile (éds.), Style, genres, auteurs 18, Paris 2018, 35–58. 10  Douglas Kelly, Medieval French Romance, New York/Toronto 1993, 2 sq. Sur la question de la naissance du roman, voir aussi, entre autres, outre mon ouvrage déjà cité sur Chrétien de Troyes, La griffe d’un style, Giovanna Angeli, L’» Eneas « e i primi romanzi volgari, Milano 1971 ; Udo  Schöning, » Thebenroman  – Eneasroman  – Trojaroman «, Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 235 (1991) ; Philippe Logié, » L’Enéas, une traduction au risque de l’invention «, Nouvelle Bibliothèque du Moyen Age 48 (1999) ; Emmanuèle  Baumgartner, » Le roman médiéval. Approches poétiques et narratologiques «, dans : Jean-René Valette (éd.), Perspectives médiévales. Trente ans de recherches en langues et littératures médiévales, Paris 2005, 39–57 ; Richard Trachsler, » Un siècle de lettreüre. Observations sur les études de littérature française du Moyen Âge entre 1900 et 2000 «, Cahiers de Civilisation médiévale 48 (2005), 359–379. 11  Par exemple, on pourra consulter sur ces questions Jean  Batany, » Hexamètre épique et couplet d’octosyllabes. Du calque à la parodie «, dans : Raymond Chevallier (éd.), L’épopée gréco-latine et ses prolongements européens, Paris 1981, 125–138 : 128–129 ; Piero Andrea Martina, » Il Roman d’Eneas et la tradizione grammaticale. Ancora sulla sillabazione del nome di Enea e su qualche precedente «, Romania 135 (2017), 9–31.



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parence12 de ce vers souple et comme lisse, qui s’est si bien prêté à des emplois divers et larges dans une grande diversité de textes médiévaux, hagiographiques, didactiques, historiographiques aussi bien que fictionnels ou lyriques. Le système rimique adopté est fondamentalement binaire, et la rime réunit en principe deux vers consécutifs, par sa présence puis son retour. Le vers est encore le plus souvent régulièrement scandé, mais s’autorise déjà quelques libertés. Les choix opérés par l’écrivain sont sources d’effets de sens, encore très sensibles dans notre modernité13. Précisément, je me focaliserai sur quelques points qui me semblent transposables en versification allemande : la brisure du couplet, les discordances entre mètre et syntaxe, les faits accentuels et le choix des coupes, les rimes. En effet, bien que la question concerne de manière spécifique, à peu de choses près, l’écriture des octosyllabes français, elle donne aussi des pistes pour étudier, par décalque, comparaison et prolongement, l’art de l’Eneasroman14. Cet ouvrage présente, dit-on, une versification novatrice, puisque Heinrich von Veldeke y abandonne le principe de l’allitération et de l’assonance, qui caractérisait nombre d’œuvres antérieures : il est écrit en rimes suivies. Mais il est destiné, comme son ancêtre français, à la production orale, il est lu ou récité en présence d’un petit comité restreint et choisi, souvent aristocratique. Heinrich von Veldeke est, en matière de versification, un créateur innovant aussi bien qu’un maître : il a fixé de nouvelles règles et certains des écrivains allemands des XIIe et XIIIe siècles, qui sont ses contemporains ou qui lui sont postérieurs, se réfèrent expressément à lui ; Rudolf von Ems ira jusqu’à dire de lui dans son Alexander 12  Pour reprendre le mot de Michel Zink : » cette forme métrique simple laisse, par une sorte de transparence du langage, l’attention se fixer presque tout entière sur le contenu du récit «  (» Une mutation de la conscience littéraire. Le langage romanesque à travers des exemples français du XIIe siècle «, Cahiers de Civilisation Médiévale 24 (1981), 3–27 : 6). 13  Outre la perspective historique comparative qui me guide, je fonde mon approche stylistique de la versification sur l’étude du détail textuel et son interprétation, ce qui est une approche spécifiquement française ; comme telle, cette perspective peut être remise en question et je l’accepte. 14  Sur la vaste question de l’adaptation de l’Énéas en allemand, qui excède mon propos, voir, par exemple, Joachim Bumke, Höfische Kultur, München 2008 ; Michel Huby, L’adaptation des romans courtois en Allemagne au XIIe et au XIIIe siècle, Paris 1968 ; Anna Maria Babbi, » › Eneas ‹ / › Eneit ‹. Il ms. di Parigi, B.  N.  fr.  60 «, Medioevo romanzo e medioevo germanico a confronto. Atti del Convegno, Bologna, 12 ottobre 2001, Quaderni di filologia romanza 16 (2002), 35–45 ; Silvia Schmitz, Die Poetik der Adaptation. Literarische inventio im Eneas Heinrichs von Veldeke, Tübingen 2007 ; Valentin Christ, Bausteine zu einer Narratologie der Dinge. Der » Eneas­roman « Heinrichs von Veldeke, der Roman d’Eneas und Vergils » Aeneis « im Vergleich (Hermaea, Germanistische Forschungen, Neue Folge 137), Berlin 2015.

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qu’il a, le premier, su faire › de vrais vers ‹ (Der rehter rîme alrêst began, v. 3114). Voilà qui peut aussi remettre en perspective mon étude et invite à des prolongements : j’appelle ceux-ci de mes vœux. I. La brisure du couplet » Vers à tout faire «15, l’octosyllabe est adopté sans surprise dans la triade des romans d’antiquité, Thèbes, l’Énéas et Troie. Avec ce mètre, le texte avance communément par sauts de puce réitérés, deux vers après deux vers, du fait de la forte unité qui soude précisément chaque couplet réuni par une rime semblable et qui est d’ordre non seulement sonore (rimique et rythmique) mais aussi, en principe, syntactico-sémantique : sans doute, le dimètre iambique de la poésie antique latine est-il à l’origine de ces couplets d’octosyllabes (seize syllabes au total), qui s’égrènent au fil des textes et assurent un rythme régulier, que notre lecture moderne, dans sa négligence, tend à minorer ou à faire disparaître. Les historiens du vers pensent que, dans la scansion continue de ces seize syllabes, la voix, d’abord montante, retombait au bout des huit premières syllabes, marquant une légère pause, puis montait de nouveau à partir du début du second vers de huit syllabes pour redescendre à la fin, avec une pause plus marquée, en fin de phrase ou de proposition.16 La mélodie épousait ainsi dans les premiers textes, sauf exceptions, un schéma canonique en forme de double chapeau de gendarme (ou accent circonflexe), répété de couplet en couplet. Briser le couplet, c’est introduire une longue pause, inattendue, après la première rime, parce que la syntaxe de la phrase, comme raccourcie, le nécessite. Les rimes s’en trouvant quelque peu désunies, la scansion habituelle n’est plus possible, la tonalité est autre : se fait entendre une rupture subtile, plus ou moins appuyée, dans la régularité de la musique octosyllabique attendue et prédéterminée, connue des auditeurs et par eux reconnaissable. La brisure du couplet vaut toujours pour ce qu’elle est : une perturbation, une surprise, une discordance, une rupture du train-train narratif autant que rythmique. On sait que ce procédé s’observe dès les premiers textes en octosyllabes de langue française mais il y est rare, il

15  Je reprends cette expression à Clotilde Dauphant, » L’octosyllabe, un vers à tout faire ? L’exemple du Jardin de Plaisance «, dans : Danièle James-Raoul/Françoise Laurent (éds.), Poétiques de l’octosyllabe, Paris 2018, 153–173 : 153. 16  Voir Georges Lote, Histoire du vers français, Première partie. Le Moyen Âge, Paris 1949, t. I, en ligne, URL : , 195.



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demeure l’exception, » la cohésion des deux vers accouplés étant, en général, un indice d’ancienneté «.17 On dit communément que Chrétien de Troyes, sans être l’inventeur de ce procédé, est l’un des premiers à l’employer de manière récurrente avec un grand art ; il en assure la promotion au point que, au début du XIIIe siècle, entre 1200 et 1210, la brisure du couplet sera suffisamment répandue pour que Wolfram von Eschenbach la mentionne dans son Parzival quand il évoque le fait qu’un écrivain doive connaître » toutes les règles de la versification : comment trouver des rimes et unir deux vers par le sens et la rime ou répartir le sens et la rime entre deux phrases différentes «.18 L’étude de la brisure du couplet dans notre passage met en évidence des résultats pour le moins inattendus et souligne que l’auteur de l’Énéas, en réalité, use de ce procédé avec une fréquence comparable à celle que l’on observe sous la plume de l’écrivain champenois : 55  couplets sur 127 par excès sont concernés, soit environ 43,31 % de l’ensemble. Ces chiffres rejoignent ceux que présentent les ouvrages de Chrétien de Troyes,19 alors que l’on observe seulement 4 % de brisures du couplet dans les 1500 premiers vers de la Partie arthurienne du Brut de Wace20 et 15,5 % dans la même portion de vers du Tristan de Thomas d’Angleterre.21 Dans la mesure où le monologue de l’Énéas est un passage très restreint (253 vers), qui plus est très travaillé, il m’a semblé nécessaire de remettre en perspective les résultats obtenus et de voir ce qu’il en était, non seulement sur le passage équivalent contenu dans un autre manuscrit accessible dans une édition actuelle (le ms D, BnF fr. 60, éd. Aimé Petit),22 mais aussi dans un extrait plus vaste de l’ouvrage et, à titre de sondages équivalents, dans les

Paul Meyer, » Le couplet de deux vers «, Romania 23 (1894), 1–35 : 16. von Eschenbach, Parzival (10/18), trad. et comm. Danielle  Buschinger/Wolfgang Spiewok/Jean-Marc Pastré, Paris 1989, VI, 337, 244. 19  Chrétien de Troyes, Les romans de Chrétien de Troyes édités d’après la copie de Guiot (Bibl. nat., fr. 794) (Classiques français du Moyen Âge), I. Érec et Énide, éd. Mario  Roques, Paris 1978 ; II. Cligès, éd. Alexandre  Micha, Paris 1978 ; III. Le ­Chevalier de la Charrete, éd. Mario Roques, Paris 1983 ; IV. Le Chevalier au Lion (Yvain), éd. Mario Roques, Paris 1978 ; V et VI. Le Conte du Graal (Perceval), éd. Félix Lecoy, Paris 1975, 2 t. 20  Wace, La partie arthurienne du Roman de Brut, éd. I. D. O. Arnold/M. M. Pelan, Paris 1962. 21  Thomas, Tristan, éd. Félix Lecoy (Classiques français du Moyen Âge), Paris 1991 ; publié en ligne par la Base de français médiéval, URL : http://catalog.bfm-cor pus.org/thomas. 22  Le Roman d’Éneas, éd. et trad. Aimé Petit (Lettres gothiques), Paris 1997. 17  Voir

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1500 premiers vers des deux autres romans d’antiquité, Thèbes et Troie.23 Je livre tous ces résultats  – susceptibles d’une marge d’erreur, bien sûr, mais valables globalement et comparativement  – dans le tableau qui suit, en précisant que, indépendamment d’interprétations différentes possibles, j’ai suivi la ponctuation donnée dans les éditions consultées : j’ai considéré qu’il y avait brisure du couplet dès lors que les éditrices et éditeurs des textes avaient posé après une première rime un point, un point-virgule, un point d’interrogation ou d’exclamation, ou encore deux points. Énéas, éd. J.-J. Salverda de Grave, v. 8081–8334

43,31 %

Énéas, éd. A. Petit, v. 8144–8438

43,03 %

Énéas, éd. J.-J. Salverda de Grave, v. 1–149624

27,2 %

Énéas, éd. A. Petit,

v. 1–150325

21,47 %

Wace, Partie arthurienne du Brut, v. 1–1500

  4 %

Roman de Thèbes, v. 1–1500

15,07 %

Roman de Troie, v. 1–1500

19,87 %

Thomas, Tristan, v. 1–151026

15,73 %

Chrétien de Troyes, Érec et Énide, v. 1–1500

30,1 %

Chrétien de Troyes, Cligès, v. 1–1500

42,3 %

Chrétien de Troyes, Le Chevalier de la Charrette, v. 1–1500

44,7 %

Chrétien de Troyes, Le Chevalier au lion, v. 1–1500

38,2 %

Chrétien de Troyes, Le Conte du Graal, v. 1–1500

33,9 %

L’étude serait,2456 bien sûr, à poursuivre sur l’ensemble de chacune de ces œuvres pour affiner cette vision : si mes chiffres étaient valables à l’échelle 23  Benoît de Sainte-Maure, Le roman de Troie, éd. Léopold Constans (SATF), Paris 1904, t. I. 24  Dans les 1500 premiers vers de cette édition, figurent 4 vers en plus de la numérotation: 1274a, 1274b, 1320a, 1320b. 25  L’absence des vers 412, 413 et 581 dans cette édition m’a conduite à examiner trois vers de plus … 26  Dix vers (1, 26, 1077, 1196, 1257–62) sont incomplets, n’affichant pas le mot à la rime, ce qui m’a conduite à examiner dix vers de plus …



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du roman, cela signifierait que la récurrence du procédé ne date pas de Chrétien de Troyes, comme on le dit couramment, mais plutôt de l’écrivain de l’Énéas : à ce stade de mes recherches, je dirai que c’est dans cet ouvrage qu’on enregistre un saut quantitatif dans la récurrence du procédé … Autant que je puisse en juger, l’écrivain champenois exploitera la brisure du couplet avec un art différent,27 mais les chiffres obtenus et l’examen attentif du monologue de Lavine donnent déjà quelques leçons. L’auteur de l’Énéas accorde une nette prédilection à ce procédé dans un passage qu’il souhaite mettre en valeur, puisque sa fréquence d’emploi est statistiquement moindre dans le restant de l’œuvre : assurément, la brisure du couplet relève de l’ornementation autant que de la dramatisation ; par son ostentation, similairement visible dans l’autre copie manuscrite, elle particularise le monologue. La brisure du couplet est employée, comme elle le sera sous la plume du maître champenois, comme un marquage particulièrement affine au discours rapporté directement. C’est un choix de l’écrivain, un stylème. Au plan microstructural, elle a aussi bien une valeur cataphorique qu’anaphorique : par essence, elle annonce une modification à venir immédiatement au vers suivant ou souligne rétrospectivement ce qui vient d’être dit, comme un dièse inattendu. Elle lance le vers suivant sur une piste déviée ou bien elle le referme sur lui-même, non sans théâtralité. Alors qu’elle signalera dans des textes ultérieurs, par prédilection, le passage d’un plan énonciatif à un autre (entre récit et discours ou commentaire métanarratif), ce n’est le cas ni à l’ouverture ni à la fermeture de notre texte. En revanche, le procédé est bien exploité pour pointer le changement d’interlocuteurs. Il intervient dans les vers où Lavine, de manière artificielle, se dédouble en deux elles-mêmes et donne la parole à chacune de ses facettes psychologiques contradictoires : Qu’en puis ge, lasse, se ge plor ? Or l’ain, gehui m’en ert petit. // — Fole Lavine, qu’as tu dit ? — Amors me destroint molt por lui. // — Et tu l’eschive, se lo fui ! — Nel puis trover an mon corage. // — Ja n’eres tu ier si salvage. — Or m’a Amors tote dontee. // — Molt malement t’en es gardee. // — Molt m’an ert po gehui matin,

27  Voir mon article déjà cité, James-Raoul, » La brisure du couplet dans le Chevalier au lion «.

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Danièle James-Raoul me fet fere male fin ; garrai pas longues issi. // Por coi t’arestas tu ici ? Por lo Troïen esgarder. // Bien t’an peüsses consirrer. (v.  8132–46)

La récurrence, toute de virtuosité, est presque systématique dans cet extrait, mais elle ne l’est pas, bien sûr, à l’échelle de l’ensemble du passage. Le procédé appuie de surcroît la structuration de l’œuvre, en pointant les changements de lieux (v.  8119, avant ci), de temps (p.  ex., v. 8123, avant Or, après des imparfaits), de personnages (v.  8157, du je à Amors, ou v. 8179, de la mère au je), la survenue d’une péripétie. Insistance sur une pensée, un sentiment, une émotion, il joue le rôle d’une soufflerie dramatique, tantôt intensifiant une déploration, une interrogation (p. ex., v. 8115, 8132) tantôt suggérant une pointe d’humour (v.  8169) ou d’ironie cachée sous une maxime (v.  8151). Mais ce n’est pas tout. Le procédé a également une valeur au plan macrostructural parce qu’il peut être répété sur plusieurs vers et non pas isolé. Comme dans l’exemple précédent, on observe ainsi des séries de brisures du couplet, dans lesquelles le texte versifié adopte momentanément une musicalité tout autre : le rythme se met à boiter avec obstination dans la durée, faisant l’effet d’être à contretemps, liant ce qui est séparé par la différence de la rime, séparant ce qui est lié par la rime, instaurant une esthétique nouvelle d’un contrepoint musical. Si l’on peut aisément imaginer qu’une brisure du couplet isolée produit une sorte de couac rythmique et, en même temps équivaut à un jingle dramatique propice à attirer l’attention sur un point de l’énoncé, il va de soi que la répétition de couplets brisés décuple ces mêmes effets à l’échelle de tout un passage, ainsi mis en valeur par l’art d’un écrivain particulièrement novateur et talentueux. Or ce procédé, loin d’être isolé, est dominant dans notre extrait puisque 43 brisures sur 55 sont ainsi agglomérées par groupes de deux, trois, quatre ou cinq : plus des trois quarts de l’ensemble des vers sont concernés. Outre le premier passage cité précédemment du dédoublement de Lavine, je remarque les vers 8081 + 8083 (qui établissent le passage du récit au discours), 8119 + 8121 + 8123 (dans lesquels Lavine se remémore son coup de foudre déstabilisant), 8167 + 8169 (commentaire naïf de dépit à résonance ironique), 8177 + 8179 + 8181 (alors que Lavine cherche à se persuader qu’elle en sait assez sur l’amour, le rythme boiteux apporte comme un démenti ironique à ses fausses certitudes), 8185 + 8187 + 8189 (supplique au dieu Amour), 8195 + 8197 (questionnement plein de désarroi), 8215 + 8217 + 8219 + 8221 (adresse au dieu Amour et supplique pour obtenir le remède nécessaire à la guérison),



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8271 + 8273 + 8275 et 8279 + 8281 + 8283 (nouvelle opposition entre la sage Lavine et la fole Lavine), 8295 + 8297 (règles du véritable amour), 8307 + 8309 (changement de la jeune femme devenue amoureuse), 8317 + 8319 + 8321 et 8325 + 8327 + 8329 + 8331 (ces vers entraînent la conclusion logique justifiant le triomphe de l’amour). Comme on le voit, à l’échelle de cet extrait du monologue de Lavine, l’auteur du roman d’Énéas semble donc être un véritable pionnier en matière de versification dans sa composition des couplets d’octosyllabes. II. Les discordances entre mètre et syntaxe La pause attendue en fin de vers, qu’elle soit marquée ou plus légère, est en soi une opposition forte aux phénomènes de débordements de la syntaxe sur un vers antécédent ou subséquent. On pourrait penser que la brièveté des huit syllabes est un facteur qui, sans nul doute, favorisait les enjambements, les rejets et les contre-rejets, mais cette liberté n’est guère prise au début de la littérature de langue vernaculaire28, et encore dans l’Énéas. Le cadre métrique est sensiblement respecté. Les historiens du vers constatent que les phénomènes de discordance entre le mètre et la syntaxe tendent à augmenter dans la seconde moitié du XIIe  siècle. Dans son édition du Roman de Troie de Benoît de SainteMaure, Léopold  Constans constate même un accroissement des enjambements au fil de l’œuvre : L’enjambement n’est fréquent qu’à partir de la seconde moitié du poème. Ainsi nous n’en relevons que 4 exemples dans les 2000 premiers vers, et 17 du vers 2000 au vers 14000, tandis qu’il y en a au moins 130 du vers 14000 à la fin (v. 30316).29

Une étude serait, là encore, à mener sur l’ensemble du roman d’Énéas, de peu antérieur au Roman de Troie, pour pouvoir remettre en perspective ces données, mais, comme on va le voir, le nombre d’enjambements dans notre extrait semble considérable par rapport aux chiffres avancés par le critique. Dans son art poétique, rédigé entre 1208 et 1216, Gervais de Melkley aborde l’enjambement ou le rejet (copula duorum versuum), en les présentant comme des ornements du vers. Cette attention, nouvelle par rapport aux autres arts poétiques qui n’en disent rien, suggère que la 28  De tels phénomènes sont inexistants dans les décasyllabes des premières chansons de geste et encore rares dans les alexandrins (utilisés un peu plus tardivement). Voir Jean Frappier, » Sur la versification de Chrétien de Troyes. L’enjambement dans Erec et Enide «, Research Studies 32/2 (1964), 41–49. 29  Cité par Lote, Histoire du vers français, t. I, 179.

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question est sur la sellette, d’un point de vue théorique autant que pratique : Duorum etiam versuum copula venustior erit, si in tres clausulas dintinguatur […]. (Ars poetica, II, G, 212)30 Soit : » La liaison entre deux vers sera plus belle, si l’on y distingue trois temps de la phrase […] «.

Plus précisément, dit juste après le maître grammairien, la beauté du vers est encore plus grande (venustior) si l’un des membres de phrases considérés, dont l’un enjambe le vers, est opposé à un autre sémantiquement (si per contrarietatem fiant). Par-delà l’aspect figé, très rhétorique, de cette remarque, on voit comment les phénomènes de discordance entre le mètre et la syntaxe sont perçus dès cette époque comme générateurs de surprise. Les poètes modernes ne diront pas autre chose. Et peut-être faudrait-il alors nuancer la remarque de Georges Lote pour qui, à l’époque médiévale, » les enjambements, loin d’être un signe de liberté, trahissaient tout simplement la négligence de poètes inhabiles à faire entrer leur phrase dans les limites rigides que leur imposait la métrique «.31 Le développement de l’analyse psychologique qui accompagne l’essor du genre romanesque entraîne la précision suscitant les détails et l’essor de la subordination dans l’écriture des romans. La phrase tend ainsi à se prolonger : il devient plus fréquent qu’un octosyllabe s’accroche à celui qui le suit ou le précède, sémantiquement et syntaxiquement. Tout en respectant scrupuleusement la ponctuation choisie par l’éditeur, déterminer s’il y a un enjambement ou non n’est pas toujours aisé cependant. Parfois, l’enjambement d’un vers à un autre est indéniable mais lâche, notamment dans le cas d’une coordination32 ou d’une subordination relative33 ou complétive ;34 j’en relève 22 exemples au total. Il n’y a pas à proprement parler de discordance entre mètre et syntaxe : entre les constituants coordonnés ou subordonnés sur deux vers, il existe un lien syntaxique moulé selon un rythme qui épouse le cadre métrique et en estompe légèrement les contours, 30  Selon l’exemple donné juste après ce précepte par Gervais de Melkley, Ars poetica, éd. Hans Jürgen Grabener, Forschungen zur romanischen Philologie 17 (1965), clausulas désigne ici des constituants phrastiques ou des propositions de la phrase. 31  Lote, Histoire du vers français, t. I, 11. 32  Aux v. 8089–90, 8104–05, 8175–76, 8176–77, 8239–40, 8243–44, 8264–65, 8315– 16. On pourrait aussi, indépendamment du choix de la virgule que l’éditeur place en fin de vers avant la conjonction de coordination et, rajouter les vers 8233–34. 33  Aux v. 8092–93, 8093–94, 8099–8100, 8109–10, 8153–54 (avec nuance consécutive), 8228–29, 8294–95, 8320–21. 34  Aux v. 8103–04, 8122–23, 8147–48, 8191–92, 8267–68, 8301–02.



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atténuant la pause marquée à la fin du premier vers. Parfois, la discordance est plus sensible : la syntaxe déborde du cadre étroit de l’octosyllabe et s’arroge une partie du vers suivant, plus rarement du vers précédent, ce qui revient, sinon à contrecarrer l’accent portant sur la rime, du moins à le pointer d’un bémol. Notre extrait en offre quelques rares cas seulement, qui, bien que ne désarticulant pas la syntaxe  – comme on pourra le rencontrer de manière hardie sous la plume de Chrétien de Troyes, par exemple  –, sont très sensibles, parfois couplés à une brisure du couplet, parfois enchaînés vers à vers, ce qui tend à faire craquer le moule octosyllabique plus durablement, ce qui augmente le dérèglement de la musicalité attendue du déroulement des octosyllabes. Nul doute que ces manières d’écrire sont à apprécier comme des nouveautés prosodiques dans l’histoire littéraire. Eu égard à la brièveté du mètre qui implique aisément la moitié de l’octosyllabe dans le débordement syntaxique, les rejets et contre-rejets, de taille normalement plus circonscrite, sont exceptionnels. Je compte 11 enjambements, 1 rejet et 2 contre-rejets : […] Amors l’a point, ce quit, del dart qui est de plom et fait haïr […]. (v.  8168–69 : contre-rejet) […] n’an pooie pas tant savoir par nul autre come par moi  […]. (v.  8180–81 : enjambement) Amors, an ceste novelté me demoines trop grant ferté. (v.  8205–06 : enjambement) Des or redevroie taster del bien et de la soatume […]. (v.  8218–19 : enjambement) […] el cors m’as mis une amartume peor que suie ne que fiel. (v.  8220–21 : enjambement)35 […] si rasoage ma dolor par aucune bone savor ! (v.  8223–24 : enjambement) Que as tu fet de l’oignement que soloies jadis porter a tes males dolors saner ? (v.  8228–30 avec 8229–30 : enjambement) […] se ge li çoil, bien lo savra a ces sanblanz qu’ele verra. (v.  8245–46 : enjambement) […] coment li nomerai celui dont ele m’a tant deveé […]. (v.  8245–46 : contre-rejet) […] ge ne deüsse m’amor pas atorner si vers Eneas n’an aüst Turnus autretant […]. (v.  8259–61 : rejet puis enjambement) […] bone amor vait tot solement d’un sol a autre senglement […]. (v.  8285–86 : enjambement)

35  On peut hésiter ici entre enjambement ou rejet ; dans la mesure où l’adjectif au comparatif est suivi d’un groupe nominal étalonnant la comparaison et que le rythme du vers est 4-4, je préfère la première analyse.

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[…] ne me rende tot par igal le bien aprés et la dolçor […]. (v.  8324–25 : enjambement) […] bataille ont pris, et qui vaintra sanz chalonge me doit avoir […]. (v.  8328–29 : enjambement)

Notre lecture moderne des octosyllabes médiévaux atténue en partie, par sa mollesse, les effets de ces procédés rythmiques, qui étaient sans aucun doute bien plus notables et repérables à l’époque médiévale, parce qu’ils étaient des hardiesses métriques. III. Le rythme et le choix des coupes Du fait de son étroitesse et de son accent fixe sur la dernière voyelle tonique déterminant une pause, l’octosyllabe se présente comme une surface aisée à investir, à particulariser au plan du rythme et du placement des coupes. Tout est possible, ou presque, puisque la liberté est entière. Du moins, c’est l’interprétation moderne que nous en avons.  Mais, à la suite des travaux de Gorges Lote, on admet que » les plus anciennes œuvres écrites en octosyllabes comportent deux hémistiches par vers «36 : les vers sont donc césurés 4-4 à l’origine, même si les formes non césurées ont rapidement vu le jour. 
 En théorie, dans la versification latine, toute coupe rythmique, toute pause au sein du vers doit coïncider avec une rupture sémantique : le souffle sépare ce que le sens disjoint. Geoffroy de Vinsauf, par exemple, rappelle cette règle dans la dernière partie de sa Poetria nova (rédigée entre 1208 et 1213), quand il traite de l’actio : Clausula dicta suas pausas, et dictio servet Accentus. Voces quae sensus dividit, illas Divide ; quas jungit, conjuge. (Poetria nova, v. 2034–36) Soit : » Dicte à la phrase ses pauses et que la prononciation préserve l’accentuation. Les mots que le sens sépare, sépare-les ; ceux que le sens rapproche, rapproche-les. «

On notera que cette manière de considérer la césure comme une pause est celle qui prévaudra à partir de l’âge classique dans la prosodie française.  Mais, d’une part, à l’époque médiévale, la syntaxe et la frontière entre les mesures rythmiques ne coïncident pas obligatoirement, notamment dans le cas des césures épiques ou lyriques : si les premières sont 36  Lote, Histoire du vers français, t. I, 167. Voir aussi Mosset, » La versification des Lais de Marie de France «, 48–49.



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absentes de notre extrait, les secondes y sont en revanche assez fréquentes ; d’autre part, notre perception de la phrase médiévale emprisonnée dans le cadre métrique ne correspond sans doute pas à celle des gens du Moyen Âge et nous ne pouvons qu’être hésitants en nombre d’endroits entre le choix d’un rythme appuyé sur une coupe lyrique ou déterminé par une coupe enjambante, ce qui est souvent pour nous une scansion plus familière : le système latin semble en effet s’être considérablement assoupli et avoir permis ce type de discordance entre le mot, son enchaînement, sa finale en e. Cette fluidité augmente la difficulté d’interprétation, certes inhérente à toute analyse de scansion métrique, mais encore plus grande dans un texte médiéval (dont l’oralisation tend à nous échapper), et de surcroît augmentée par la possible non-élision de e final devant voyelle, ce qui tend à déclencher une coupe lyrique.37 J’avoue être indécise sur la manière de rythmer un grand nombre de vers. Parfois, la difficulté naît de la présence au sein du vers d’un plurisyllabe long dans un enchaînement syntaxique qui nous semble fluide, comme dans le v. 8236, et  al s’en apercevra bien : naturellement, obéissant à une scansion moderne, nous enchaînons les huit syllabes sans coupe franche et nette ; faudrait-il au moins placer une légère pause après la deuxième syllabe, voire à la fin du verbe, ou poser un accent contre-tonique sur per et un accent de fin de vers sur bien ? Parfois, la présence d’un e final en troisième, quatrième ou cinquième syllabe, à la fin d’un constituant phrastique attaché de manière essentielle à ce qui suit, fait hésiter sur la lecture avec une coupe lyrique ou avec une coupe enjambante : le rythme est-il alors 4-4, à l’unisson de ce qui domine, ou bien un rythme 3-5 ou 5-3, qui annonce la prédilection moderne ? Par exemple, le vers 8270 se prête à diverses lectures : se deüsse / m’amor partir : 4-4 (avec une coupe lyrique) ; se deüs/se m’amor partir  : 3-5 (avec une coupe enjambante) ; ou même, avec une pause affective supplémentaire génératrice de suspens et entraînant une cadence mineure déceptive, se deüs/se m’amor / partir : 3-3-2 (avec une coupe enjambante). J’aurais tendance à scander en 5-3 avec une coupe lyrique le vers 8190 Molt est malvese / ta menaie, mais reconnais qu’un rythme 4-4 avec une coupe enjambante est tout à fait recevable, d’autant qu’il met en valeur un parallélisme subtil des sonorités (allitération en [m], assonance en [ę]). Les exemples similaires abondent …

37  Les exemples sont rares, mais voir v. 8125 or pantese / et or tressalt, v. 8155 ou mervoille / en ameroie, v. 8237  a mon viaire, / a ma color  (je respecte ici comme ailleurs le choix éditorial de la graphie viaire et non vïaire, qui rendrait possible une autre scansion), v. 8305 que qu’il m’an doie / avenir.

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En décalant la pause d’une voyelle tonique à un e final immédiatement subséquent, une coupe lyrique ralentit le rythme, fait traîner, par le silence qu’elle génère, la parole qui, de manière privilégiée, s’épanche alors en interrogation, doute, peine ou remontrance, ou bien encore qui se cherche ou s’observe, s’écoute aussi : » Fole Lavine, / qu’as tu dit ? «  (v.  8279) D’emblée, la plainte de la jeune femme s’égrène, accrochée à ce procédé : en témoignent le vers  8083, organisé selon un rythme 2-3-3  Lasse, / fait ele, / que ai gié ? et le vers suivant, Qui m’a sorprise, que est cié ?, de rythme 5-3. La syntaxe ou la ponctuation de l’éditeur nous guident un peu dans l’appréciation de ces coupes, mais l’indétermination règne en plusieurs endroits et le choix est définitivement subjectif : il faut l’accepter. Compte tenu de ces difficultés qui modalisent tout résultat, le rythme 4-4 me semble cependant être largement dominant dans notre extrait, cadrant un peu moins des deux tiers des vers. C’est le signe que l’octosyllabe se loge encore dans un moule rythmique traditionnel et prédéterminé. Par essence, ce rythme souligne, de manière sonore, toute binarité, aussi bien l’égalité (p. ex., v. 8099, ge sent les maus / et la dolor)38 que l’opposition (p. ex. v. 8174, sel voil amer / et il n’aint moi)39.  Mais, finalement, cette coïncidence sémantico-syntactico-rythmique est peu fréquente. Plus généralement, la symétrie tétrasyllabique est affine avec une certaine solennité, avec le sérieux de la rigueur, avec une parole stable et voulue définitive : ainsi encadrée, l’introspection à laquelle se livre la jeune héroïne en acquiert à moindres frais la puissance et l’harmonie de l’équilibre. Déchirée entre son amour insensé pour le Troyen et la nécessité dynastique d’être la promise de Turnus, Lavine, à distance d’elle-même, observe, dissèque, commente, asserte, décide, tranche : l’habillage rythmique 4-4 renforce l’argumentation menée, appuyant les avancées de l’analyse, suggérant l’emprise voulue de la froide raison sur ce qui n’est qu’ébullition du sentiment, justifiant la particularité du je et de son comportement amoureux par le recours à la généralité sentencieuse. Les exemples sont légion et je n’en donne qu’un échantillon :

38  Voir aussi v. 8125 (or pantese / et or tressalt), v. 8130 (qui m’en destroint / et me menace), v. 8169 (qui est de plom / et fait hair), v. 8197 (Soz cui maint il ? / An quel jostise ?), v. 8215 (forment me plain, / griément me dueil), v. 8237 (a mon viaire, / a ma color), v. 8311 (or me rest bon / et or le voil,), v. 8313 (or sent mon cuer, / or voil amer), v. 8325 (le bien aprés / et la dolçor). 39  Voir aussi v. 8181 (par nul autre / come par moi), v. 8188 (or m’as navree, / or soies mire), v. 8245 (se ge li çoil, / bien lo savra), v. 8312 (or m’en est grief / et si m’en doil), v. 8331 (se Turnus voint, ne m’avra mie).



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[…] dedanz le cors / une ardor sent, mes ne sai pro / qui si m’esprent […]. (v.  8087–88) […] ne sai Amors / ou com a nom, mais ne me fet / se tot mal non. (v.  8095–96) Lo Troïen  / m’estuet amer […] (v.  8127) Or m’a Amors / tote dontee. (v.  8139) L’en n’aimme pas / quant que l’an voit […]. (v.  8151) Ce m’est avis / que ge foloi […]. (v.  8173) […] ne tient d’amor / precepz ne lois qui plus que un / an velt amer : ne si velt pas / amor dobler. (v.  8296–98)

Le rythme 4-4 est encore communément employé comme une sorte de prêt-à-porter presque banal, quand il s’agit d’agencer de manière cadencée simple, sans relief particulier, des constituants phrastiques dépendants : Ai ge forfet / por ce quel vi ? N’avra Amors / de moi merci ? Il me navra /an un esgart […]. (v.  8157–59) ge ne te sai / tant bel proier que me voilles / de rien aidier ; tu me meïs / a grant desroi, il m’estovra / clamer de toi. A cui ferai / ge ma clamor ? (v.  8191–95)

Par ailleurs, dans la seconde moitié du XIIe siècle, ce rythme 4-4, originel et premier, commence à être concurrencé par d’autres possibilités. Notre extrait témoigne de l’évolution en cours. D’une part, pour environ le cinquième des vers, on note l’émergence de ce qui deviendra dans notre modernité les rythmes dominants de l’octosyllabe : 5-3 et 3-5. Le premier est massivement employé par rapport au second, infligeant au propos, parfois de manière expressive, une cadence mineure sensible, tantôt passablement ironique ou comique, tantôt donnant l’impression que celle qui parle est comme prise de court : Qui m’a sorprise, / que est cié ? Or ainz estoie / tote saine (v.  8083–84) ne velt que vers lui / preigne amor (v.  8131) Fole Lavine, /qu’as tu dit ? (v.  8134) Et tu l’eschive, / se lo fui ! (v.  8136) il an estuet dous / en un cople (v.  8175) or ne m’as leü / se mal non (v.  8187) Sor lui n’a seignor / an nul leu (v.  8199) Ma mere set molt / de tel rien (v.  8235) Autre mecine / que me valt ? (v.  8254) de ceste angoisse, / fors la mort. (v.  8256)

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n’an aüst Turnus / autretant (v.  8261) que qu’il m’an doie / avenir (v.  8305) m’antante i metrai / et ma cure (v.  8310)

Inversement, le rythme 3-5 conduit naturellement une cadence majeure, en soi propice à l’envolée, mimétique de l’espoir ou du dynamisme de la pensée : ou molt po / an esgarderoie (v.  8156)

Mais de tels exemples sont rares dans notre corpus.40 Enfin, à peu près un autre cinquième des octosyllabes est scandé avec plus de deux accents et cette anomalie rythmique signale le bouillonnement émotif de celle qui, perdue, éperdue, délibère et raisonne avec tant d’ingénuité : la passion amoureuse se présente bien comme une inordinatio, comme la rupture d’un ordre fondé en raison ; la désorganisation rythmique en est le signe mimétique. La présence, soit d’un verbe déclaratif en incise à l’ouverture du discours, soit d’une modalisation subjective (avec le verbe cuidier), soit encore d’une interjection (notamment l’adjective lasse) ou d’une adresse (à Amour), intime de scander ainsi certains vers, parce que, selon la loi de Thurneysen, chacun de ces syntagmes est nécessairement doté d’un accent propre, hors-phrase : Lasse, / fait ele, / que ai gié ? (v.  8083 : 2-3-3) Ge quit, / mien esciant, / ge ain (v.  8097 : 2-2-4)41 Ahi, / lasse, / tant mar i mui ! (v.  8115 : 2-2-4)42 Amors, molt sai bien ma leçon (v.  8185 : 2-3-3)43

Parfois, c’est l’agencement syntaxique qui tend à hacher la scansion de l’octossyllabe : un plurisyllabe long s’oppose à la fluidité (molt tient / legieremant / son feu, v. 8200 : 2-4-2),44 une énumération ternaire impose trois accents (les maus, la poine, la dolor, v. 8214 : 2-3-3),45 un adverbe plurisyllabique à finale masculine en tête de vers tente de capter un accent (Comant li porrai ge celer?  , v. 8241 : 2-3-3).46 40  On peut ainsi scander, avec une coupe enjambante, les vers 8100, 8148, 8234, 8270. 41  Avec présence d’une modalisation subjective, voir aussi les vers 8168 (4-2-2), 8233 (2-3-3), 8272 (2-4-2). 42  Avec présence d’un syntagme à valeur interjective, voir aussi les vers 8106 (2-2-4), 8132 (3-2-3), 8171 (2-2-4), 8299 (2-3-3 ou 2-4-2), 8327 (2-2-4). 43  Avec présence d’une adresse, voir aussi les vers 8189 (2-3-3), 8203 (2-4-2), 8204 (2-3-3), 8205 (2-2-4), 8207 (2-4-2 ou 2-2-4), 8216 (2-3-3), 8222 (2-4-2), 8231 (2-3-3 ou 2-2-4). 44  Voir aussi le vers 8236 (2-5-1 ?). 45  Voir aussi le vers 8244 (4-2-2). 46  Voir aussi le vers 8227 (2-4-2), 8250 (2-4-2), 8274 (2-4-2 ou 2-2-4).



La poétique du premier monologue amoureux de Lavine

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Comme dans de nombreux textes octosyllabiques de l’époque, le rythme dominant 4-4 imprime donc sa régularité au discours de Lavine et la voyelle finale e est, pour l’écrivain, une variable rythmique susceptible de multiples ajustements, bien commodes pour l’écriture en long format ; les changements occasionnés dans ce rythme n’en font que plus saillie. IV. Les rimes La question des rimes enfin, retient l’attention. La rime s’impose d’emblée comme un lieu éloquent de réflexion. On suppose qu’elle était le lieu d’une pause, c’est-à-dire d’un accent :47 elle était donc porteuse d’un dièse musical. Cette innovation marquée du roman en vers, par rapport à l’assonance qui guidait naguère les laisses épiques, s’est imposée rapidement au XIIe siècle » comme le lieu langagier par excellence, le plan où, virtuellement, l’expression prend forme. Ainsi, c’est autre chose qu’une simple commodité «48. Le choix des rimes est un enjeu de l’art, un signal auditif attendu par le public, soutien de la mémoire, synthétiseur de sens, au cœur du dialogisme romanesque. En vérité, s’attacher à l’étude des rimes dans un texte médiéval de la moitié du XIIe siècle est là encore une entreprise compliquée à mener. D’abord, parce la question de la terminologie sur ce point n’a pas été stable dans l’histoire. Les anciens métriciens, depuis le Moyen Âge jusqu’à l’époque moderne, et encore chez certains critiques du XXe siècle, parlent de rimes riches constituées d’une consonne et d’une voyelle tonique, ce que nous appelons donc aujourd’hui rimes suffisantes … Ensuite, certains critiques admettent que le e final intervient dans la rime léonine, alors même qu’il n’intervient pas dans le compte des syllabes du vers (je reviendrai plus loin sur ce point). J’ai adopté les dénominations usuelles modernes pour classer les rimes : rime pauvre avec un phonème en commun ; rime suffisante avec deux phonèmes en commun ; rime riche avec 3 phonèmes et plus en commun ; rimes léonines quand » l’homophonie s’étend sur deux syllabes, ou plutôt englobe deux voyelles prononcées «.49 Conformément aussi aux règles de la prosodie de la Renaissance et de l’âge

47  Voir Lote, Histoire du vers français, Première partie. Le Moyen Âge, Paris 1951, t. II, en ligne, URL :: http://books.openedition.org/pup/1810, 71. 48  Paul  Zumthor, La lettre et la voix. De la » littérature « médiévale, Paris 1987, 200. 49  Michèle Aquien, article » Rime «, dans : Dictionnaire de poétique, Paris 1993, 235.

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classique,50 j’ai inclus dans cette dernière catégorie les cas où l’homophonie concernait une voyelle tonique suivie d’un e et d’une ou de plusieurs consonnes finales. Au plan méthodologique, en me référant à l’histoire phonétique qui aide à approcher, au moins un peu, une prononciation restituée, j’ai opté pour les choix suivants dans l’identification des rimes. —  J’ai comptabilisé dans les rimes les consonnes finales situées derrière la voyelle tonique : de fait, elles sont prononcées et le resteront jusqu’à l’époque classique, donc même passé le XIIIe  siècle où elles disparaîtront de la langue parlée, parce que, en fin de vers, elles sont situées à la pause. Ainsi, la rime qui lie sent / malement est [ãnt] et s’analyse comme une rime riche ; dans pris / mis, elle est suffisante, puisque identifiée à [is]. —  Paradoxalement, je n’ai en revanche pas retenu dans cette identification rimique les e situés à la finale des mots, après voyelle tonique, bien que ceux-ci ne soient pas muets à l’époque médiévale comme ils le deviendront au XVIIe siècle : avant de devenir caduc ou muet, le e final médiéval est un e central. C’est l’usage actuel.  Mais peut-être faudrait-il se décider à considérer ces e à la finale comme constitutifs de la rime : je demeure à ce jour encore hésitante. Donc, dans corage / salvage, la rime est [adž] et est suffisante. — J’ai considéré que tous les [s] implosifs ne se prononçaient plus, puisqu’on estime leur disparition devant consonne sourde au milieu du XIIe siècle (celle devant consonne sonore s’étant produite un siècle auparavant). Ainsi, estre / fenestre riment sur [ętr] et la rime est riche. — J’ai estimé que les affriquées, par ailleurs appelées à disparaître au XIIIe siècle, comptaient pour un seul phonème. Dans sache / menace (avec une graphie dialectale du Nord), la rime, vraisemblablement [atš], est suffisante, comme dans foiz / destroiz, où l’homophonie se réalise sans doute sur [úẹts]. — J’ai compté une diphtongue pour un phonème plutôt que pour deux : le second phonème, faible, est instable et n’a d’existence que lié au précédent, l’ensemble vocalique constitué étant appuyé dans sa tenue. Ce choix tient d’abord au compte syllabique : une diphtongue associe par nature en une seule syllabe deux sons vocaliques et nos règles prosodiques, instaurées en français classique, le seront à un moment où notre langue ne possédera plus de diphtongues ; la question ne se posera donc pas. Il s’est imposé ensuite à moi à cause de la date de la disparition de toutes les diphtongues (sauf [au̯ ]) : le phénomène se produit en français commun à la 50  Voir

Guillaume Peureux, La fabrique du vers, Paris 2009, 66–82.



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fin du XIIe siècle, mais bien plus tôt dans les parlers de l’Ouest ; la coloration dialectale anglo-normande de l’Énéas rend possible une prononciation simplifiée dès l’écriture de l’ouvrage. Enfin, la date de la copie manuscrite qui a servi de base à l’édition de Salverda de Grave (fin du XIIe siècle ou début du XIIIe) plaidait également en faveur de la prononciation simplifiée des diphtongues. Donc, par exemple, dans plaie / aie, la rime est pauvre : l’homophonie englobe un phonème, que l’on considère la prononciation avec diphtongue, [ai̯ ], ou déjà [ęi̯ ], ou sans diphtongue, [ę] ; même calcul pour mui / lui : la rime [üi̯ ] ou [ẅi̯ ] est pauvre. Historiquement, les rimes pauvres ou suffisantes dominent, de manière écrasante jusque vers 1150, toute la production de langue vernaculaire.51 Elles sont un marqueur de la date de production du texte et on n’est donc pas surpris de constater leur prééminence dans notre passage : 23,81 % de rimes pauvres et 57,94 % de rimes suffisantes, soit 81,75 % du total (environ les quatre cinquièmes). À l’extrême inverse, les rimes riches et léonines qui commenceront à être recherchées aux alentours de 1200 et dont l’heure de gloire poétique est à venir dans la poésie des Grands Rhétoriqueurs sont fort peu représentées : 12,70 % pour les premières et quelque 5,55 % pour les secondes. À titre de comparaison, voici les chiffres observés, en appliquant les critères énoncés précédemment,52 dans les 500 premiers vers de l’Énéas et des romans de Chrétien de Troyes : Rimes pauvres

Rimes suffisantes

Rimes riches

Rimes riches léonines

Énéas, v. 8081–8334

23,81 %

57,94 %

12,70 %

5,5 %

Énéas, v. 1–500

15,6 %

60 %

15,20 %

9,20 %

Érec et Énide, v. 1–500

14,4 %

46,8 %

30 %

  8,8 %

6 %

41,6 %

52,4 %

24,4 %

Lancelot, v. 1–500

  7,6 %

44 %

23,2 %

25,2 %

Yvain, v. 1–500

  5,2 %

40 %

24,4 %

30,4 %

Perceval, v. 1–500

10,8 %

38 %

24,4 %

26,8 %

Cligès, v. 1–500

Lote, Histoire du vers français, t. II, 98. reconnais que les chiffres que je produis là bougent quelque peu par rapport à ceux que j’ai donnés dans mon article déjà cité, consacré à » La poétique de l’octosyllabe dans le Chevalier au lion « ; c’est parce que j’ai revu, affiné et stabilisé, depuis cette étude, mes critères d’identification des rimes. 51  Voir 52  Je

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Si la qualité des rimes diffère légèrement de notre extrait au corpus plus ample de l’Énéas, les résultats sont stables sur les rimes suffisantes, qui affirment leur écrasante domination dans cet ouvrage. Il faudrait poursuivre l’étude à plus grande échelle. Par ailleurs, on constate, d’un écrivain à l’autre, une forte régression du nombre de rimes pauvres à partir de Cligès ainsi que des rimes suffisantes à partir d’Érec et Énide et, inversement, un accroissement très net des rimes riches et léonines, particulièrement sensible pour ces dernières à partir de Cligès. Impression est donnée que le maître champenois affirme plus nettement ses choix de versification en la matière à partir de son troisième roman (du moins, conservé par la postérité). Cependant, il faut garder à l’esprit que le compte des phonèmes dans un vers médiéval est d’autant plus malaisé à faire que, traditionnellement, l’on ne compte pas le e final, qui correspond en français actuel à un e muet ou à un e caduc (derrière un groupe consonantique formé d’une occlusive et d’une liquide). Le compte des syllabes est simple en français moderne, où les règles sont bien établies.  Mais l’application de ces préceptes aux textes médiévaux est problématique, comme on l’a déjà signalé, dans la mesure où le e final n’est précisément pas caduc et se fait entendre jusqu’au XVe siècle sous la forme d’un e central (qui comptait encore dans le numérisme des textes littéraires les plus anciens), puis, à partir de cette date, d’un e labialisé moyen. De ce fait, dès lors que la rime est féminine, ce que nous considérons comme un octosyllabe est, en réalité, dans la prononciation des syllabes, un ennéasyllabe.53 L’Instructif de la seconde rhétorique, vers 1460, alors même que le e final sera pourtant bien moins sonore, en passe de s’effacer, le dira explicitement : Coustumement de neuf sillabes Sont souvent feminines lignes Où telz vers soient fors ou foibles Comme par ces quatre j’enseignes. Les masculines sont de huit, Aussi le plus communement Leur consonance mieulx s’i duit Ce me semble plus proprement.54

La rime féminine est donc elle aussi un facteur de perturbation dans le numérisme, elle n’est rien moins qu’anodine : elle allonge l’octosyllabe, 53  Dans cette perspective, peut-être faudrait-il revoir une fois de plus la question du compte des syllabes autant que de l’identification des rimes : mon étude est à prendre comme le témoignage d’un work in progress. 54  Instructif de la seconde rhétorique, éd. Emmanuel Buron/Olivier Halévy/JeanClaude  Mühlethaler, dans : Jean-Charles  Monferran (éd.), La Muse et le Compas. Poétiques de l’âge moderne. Anthologie, Paris 2015, 88, v. 574–81.



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induit une modulation dans la prononciation de sa fin et permet au mètre d’outrepasser la mesure convenue. Elle donne naissance à un rythme forcément différent. On sait que les époques humaniste et classique verront dans ce type de rime féminine aussi bien une » grace singuliere «55, propice à la modulation du chant, qu’un » demi-son […] mol et imbecile «.56 Les rimes masculines, en revanche, assurent dans la durée à l’octosyllabe un cadre stable, rigide et fermé. Dans notre extrait, on compte 36 rimes féminines sur un ensemble de 126 rimes, soit une proportion de 28,57 %, donnée qui rejoint celle offerte par un sondage réalisé sur les 1000 premiers vers de l’ouvrage (28,40 %). La moitié d’entre elles est employée dans des couplets isolés ; l’autre moitié correspond à des passages où leur succession réitérée étire les vers dans la durée, perturbant nécessairement le rythme  : v.  8103–10, 8119–22, 8137–40, 8163–66, 8187–90, 8307–10, 8317–20. Cette manière de disséminer ou de regrouper en paquets les rimes féminines deviendra plus accusée chez Chrétien de Troyes qui, de surcroît, augmentera leur présence dans ces ouvrages jusqu’à environ un tiers pour deux tiers de rimes masculines. Rimes féminines

Rimes masculines

Énéas, v. 8081–8334

28,57 %

71,43 %

Énéas, v. 1–1000

28,40 %

71,60 %

Érec et Énide, v. 1–1000

37,80 %

62,20 %

Cligès, v. 1–1000

42,20 %

57,80 %

Lancelot, v. 1–1000

34,80 %

65,20 %

Yvain, v. 1–1000

34,60 %

65,40 %

Perceval, v. 1–1000

34,40 %

65,60 %

La comparaison mériterait d’être encore précisée pour dire si l’évolution que l’on observe entre ces deux plumes est caractéristique d’une évolution du vers octosyllabique ou si elle n’est qu’un stylème différenciant deux écrivains. Par ailleurs, la rime induit une lecture verticale et il convient d’être attentif aux mots qu’elle réunit : mots de sens opposés, notamment dans 55  Père

Bouhours, cité par Peureux, La fabrique du vers, 236. cité par Peureux, 237.

56  Sébillet,

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l’optique d’un amour vu négativement comme une maladie douloureuse (saine / vaine, v. 8084–85 ; dolor / Amor, v. 8099–8100 ; amor / plor, v. 8131–32 ; clamor / amor, v. 8195–96 ; fiel / miel, v. 8221–22 ; confort / mort, v. 8255–56 ; amor / changeor, v. 8281–82), mots de sens voisin (mortaus / maus, v. 8091–92 ; proier / aidier, v. 8191–92 ; boisier / changier, v.  8283–84), parasynonymes (solement / senglement, v.  8285–86), mots formés sur la même racine lexicale (l’un / chascun, v. 8263–64) ou sur un même suffixe (outre tous les verbes et participes passés, on retiendra ­rasoagement / oignement, v. 8101–02 ; corage / salvage, v. 8137–38 ; folement / altrement, v. 8257–58), mots homonymes (nom / non, v. 8095–96 ; la rime sur issi / ici, v. 8143–44 porte sur des mots presque homonymes puisque l’affriquée dans ici n’est pas encore réduite). On observe aussi un jeu rimique qui fait rebondir les mots sur quatre vers, alimentés par la figure de la dérivation : esgarder / amer / ameroie / esgarderoie (v.  8153– 56). Tous ces choix sont beaucoup moins marqués qu’ils le deviendront très bientôt sous la plume de Chrétien de Troyes : ce constat suggère à sa manière l’antériorité dans le temps de l’écriture de l’Énéas. Enfin, je voudrais pointer un dernier phénomène qui caractérise l’écriture des rimes dans ce passage. Fondamentalement, l’enchaînement des rimes plates conduit à un déroulement phonique qui unifie la matière, bribe par bribe, à une micro-échelle. Or, si le principe de la partition épique des laisses, en séquences assonancées, particulièrement contraignantes, a été abandonné, des traces évidentes en subsistent encore dans la succession des vers qui laissent entendre, sous la diversité des rimes, l’unité des assonances. Les assonances suivantes courent ainsi subtilement sous les rimes et attachent les vers entre eux : assonance en [i] : v. 8115–18 (mui / lui / pris / mis) ; v. 8133–36 (petit / dit / lui / fui)  ; v.  8141–44 (matin / fin / issi / ici)  ; v.  8247–50 (die / mie / cui / celui) ; v. 8299–8302 (ansi / ami / mie / partie) ; v. 8331–34 (mie / vie / ocis / amis). assonance en [ẹ] fermé : v. 8121–24 (esgardoie / donoie / foiz / destroiz) ; v. 8145– 48 (esgarder / consirrer / savoir / veor)  ; v.  8151–56 (voit / destroit / esgarder / amer / ameroie / esgarderoie) ; v. 8161–64 (amer / coler / navree / menee) ; v. 8171–74 (amer / per / foloi / moi)  ; v.  8177–82 (volantez / asez / voir / savoir / moi / voi) ; v. 8191–94 (proier / aidier / desroi / toi) ; v. 8295–98 (trois / lois / amer / dobler).

On constate, d’une part, l’amplitude phonétique très restreinte de ces assonances (ni [o], ni [a], ni voyelles nasales …)57 qui, à deux exceptions près, s’établissent sur un patron presque standard de 4 vers ; d’autre part, le fait que celles-ci ne sont pas uniformément réparties sur le texte : une 57  Il

est vrai aussi que l’extrait examiné est court …



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très forte concentration s’établit sur les vers 8133 et 8194, à un moment du monologue où la jeune fille vient de reconnaître la nécessité qui est la sienne d’aimer le Troyen et où elle construit son raisonnement pour justifier un point de vue, celui de la folle Lavine contre lequel s’insurge son autre moitié sage. On n’est pas dans le lyrisme ou dans la plainte ; on est ici dans la force de la lutte. L’essence du monologue est proprement théâtrale : elle nous permet d’accéder aux pensées et aux sensations d’un être, en particulier d’un individu en crise, déchiré par ce qui lui arrive et ce n’est que tardivement en littérature, à la fin de l’âge classique, que les critiques s’accumuleront pour souligner le caractère éminemment artificiel de ce type de passages.58 À l’époque de l’Énéas, le monologue amoureux, surtout confié à une jeune fille qui se livre à l’introspection, est d’une grande nouveauté. Celui que nous avons étudié, à la fois touchant et plaisant, peut sembler empreint de confusion, mais cette impression est due à un foisonnement de l’écriture qui multiplie la répétition sous toutes ses formes et a pour effet d’estomper les contours de l’argumentation, privilégiant le ressassement, les redites où s’enlisent les fausses bonnes raisons, où s’enracine le plaisir de l’auditeur-lecteur. Cette générosité de l’écriture, ce choix rhétorique de la copia, s’avère particulièrement propice à traduire les intermittences d’un cœur qui ressent pour la première fois l’émoi amoureux, à dire la confusion psychique d’une jeune femme qui sait et ne sait pas, qui croit, sent et décide, alors même qu’elle n’a, en principe, pas le droit de décider quoi que ce soit pour son avenir et que l’amour est un luxe pour lors détaché du mariage. L’art de la versification mis en œuvre témoigne aussi bien d’un façonnage traditionnel (la scansion souvent binaire, la proportion faible de rimes riches et léonines ou encore de rimes féminines) que d’innovations réelles, appelées à faire souche, notamment dans la fréquence avec laquelle le couplet d’octosyllabes est brisé : il convient de restituer celles-ci, au sein de l’histoire littéraire, à l’écrivain anonyme talentueux d’Énéas plutôt qu’à Chrétien de Troyes, comme on l’a fait jusqu’alors. La poétique du vers sonorise le texte de façon originale et en module le contenu, servant la peinture de l’héroïne, sa vraisemblance psychologique, la dramatisation de la situation autant que son comique. Dans un genre narratif en devenir, écrit mais porté à l’oral dans le cadre de la performance, le vers est musique à écouter, la voix possède toute son importance : force est de reconnaître que l’on a souvent tendance à oublier que la poétique mise en jeu 58  » Il n’y a rien cependant de si contraire à l’art et à la nature, que d’introduire sur la scène un acteur qui se fait de longs discours pour communiquer ses pensées à ceux qui l’entendent « (Encyclopédie, cité par Pierre  Frantz, dans : Michel  Jarrety [éd.], Lexique des termes littéraire, Paris 2001, » Monologue «, 275).

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dans le roman médiéval est aussi celle qui caractérise l’écriture des octosyllabes. Celle-ci n’est pas seulement de l’ordre de l’ornementation, elle est de l’ordre de la pragmatique qui accomplit l’histoire, elle en est une sorte de soufflerie, de haut-parleur qui permet de la faire entendre, avec puissance, art et bonheur.

Erzählend erinnern Erzählen als performativer Akt in der Crône Heinrichs von dem Türlin Von Selena Rhinisperger Abstract This paper analyses how Heinrich von dem Türlin creates a metadiscourse about generic issues and conventions of Arthurian tales in his Romance Diu Crône by outlining the importance of narration itself for the Arthurian court. Based on two scenes where first the Arthurian court and than Gawein as main character of the tale are on the verge of forgetting themselves, the anaysis shows how processes of telling one’s own story are crucial not only for memoria but even for one’s own existence. By shifting these observations from the level of the narrated world to the narration itself the close connections between telling and being can be understood as an implicit theory of performative narration.

I. Ganz gattungskonform setzt die Handlung in der Crône Heinrichs von dem Türlin mit einem prachtvollen Fest am Artushof ein. König Artus bietet seinen Gästen Spiel, Musik und Turniere bis hin zum Festmahl, wo dann – auch das ganz den Erwartungen des Publikums entsprechend – die erste âventiure herbeigesehnt wird: Nâch der âventiur sage, dô an dem wînehten tage Artûs ze tische saz und mit sînen gesten az nâch des hoves gewonheit, dâ wart red vil gereit von disen und von jenen, nuor daz ein senen sie alle samt twanc, daz nâch âventiure ranc. diu red von tisch ze tische gienc

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und aller willen sô gevienc, daz sie ir selber vergâzen unde ungâz sâzen nuor von disen dingen. (v. 918–932)1

Das hier gleich zu Beginn des Romans anzitierte topische Motiv des Fastengelübdes greift das zuletzt in der Forschung intensiv diskutierte âventiure-Konzept des Artusromans auf.2 Âventiure als Ereignis oder Begebenheit korrespondiert immer auch mit der âventiure als Erzählung ebendieses Ereignisses. So scheint mittlerweile Konsens darüber zu herrschen, dass eine von einem Artusritter erlebte bzw. erkämpfte âventiure erst als Erzählung an den Hof zurück gelangen muss, um als solche zu gelten.3 Âventiuren, die an den Hof gelangen, sind es wiederum, die einen Artusritter dazu bringen, auszureiten. Das wechselseitige Verhältnis von âventiure-Handeln und âventiure-Erzählen hat schon Peter Strohschneider als Form performativer Rede eingestuft: Âventiure lässt sich demnach sowohl als Form eines rituell gebundenen Interaktionsgeschehens verste1   Hier und im Folgenden zitiert nach: Heinrich von dem Türlin, Diu Crône. Kritische mittelhochdeutsche Leseausgabe mit Erläuterungen, hg. Gudrun Felder, Berlin/Boston 2012. 2   Das Motiv des Fastengelübdes gelangt über die französische Tradition bereits in Wolframs von Eschenbach Parzival in die deutschsprachige Artustradition und wird in der Folge immer wieder aufgegriffen. Vgl. dazu die Ausführungen bei Ludger Lieb, »Essen und Erzählen. Zum Verhältnis zweier höfischer Interaktionsformen«, in: ders./Stephan Müller (Hgg.), Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter, Berlin/New York 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 20), 41–67, hier 65 ff. Zu den konkreten Textstellen dieser costume in den deutschsprachigen Artusromanen vgl. den Aufsatz von Wandhoff in demselben Sammelband: Haiko Wandhoff, »Künec, vernemt von mir! Zur Problematik des ehrenhaften Erzählens von der eigenen Person im Artusroman«, in: ebd., 123–142, hier 131. Eine neuere Auseinandersetzung mit diesen Textstellen bei Christine Stridde, »Das Spiel um die âventiure. Ein Versuch zu Pennincs und Pieter Vostaerts ­Roman van Walewein«, in: Beate Kellner/Ludger Lieb/Stephan Müller (Hgg.), ­Höfische Textualität. FS für Peter Strohschneider, Heidelberg 2015, 65–93, hier 68 ff. 3   Vgl. dazu ausgehend von Klaus Peter Wegera, »mich enhabe diu âventiure betrogen. Ein Beitrag zur Wort- und Begriffsgeschichte von âventiure im Mittelhochdeutschen«, in: Vilmos Ágel et al. (Hgg.), Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension. FS für Oskar Reichmann, Tübingen 2002, 229–244; neuerdings auch die unter dem Zwischentitel »IV. Âventiure – Ein Paradigma historischer Semantik« zusammengestellten Beiträge von Franz Lebsanft et al. in: Gerd Dicke/Manfred Eikelmann/Burkhard Hasebrink (Hgg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin/New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10), 311–383, sowie die weiteren Ausführungen bei Peter Strohschneider, Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur, Heidelberg 2014, insbesondere das Unterkapitel E.3. »Erzählrituale am Artushof«, 232–261; sowie Stridde, »Das Spiel um die âventiure.«.



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hen wie auch als »eine Form des Sprachgebrauchs, die konstituiert, wovon sie spricht, âventiure eben.«4 Auf die Artusritter bezogen bedeutet dies, dass sie sich nur durch diese doppelte Bedeutung von âventiure bewähren können. Ihre ausserhalb des Hofes erlebten âventiuren müssen als Erzählungen an den Hof gelangen – sei dies, indem die besiegten Ritter an den Hof geschickt werden, um von der eigenen Niederlage zu berichten, oder indem der siegreiche Artusritter selbst wieder am Hof erscheint. Diese âventiuren werden damit zu Erzählungen, die zum Ruhm des jeweiligen Artusritters beitragen und damit auch die je eigene Geschichte der Ritter konstituieren. Der Artushof wird zur Bibliothek aller Artuserzählungen, besteht aus Erzählungen und präsentiert sich als immer schon erzählter. Erzählen ist für den Artushof damit überlebenswichtig, da das Erzählen zum selbstkonstituierenden Moment wird. Um zu bestehen, muss sich der Artushof immer wieder neu erzählen  – er muss seine mære niuwen. Und mære wäre hier doppeldeutig als Erzählung seiner selbst (durch Einzelerzählungen der Artusritter) wie als Bekanntheit/Ruhm zu verstehen. Mit jeder âventiure, die an den Hof gelangt, erneuert sich dieser in einem performativen Akt und trägt damit auch seinen Ruhm weiter. Über die Abgrenzung des Begriffs der âventiure von demjenigen der mære – was Hartmut Bleumer insbesondere für Wolframs Parzival als gezielte Vorgehensweise des Erzählers gezeigt hat – gelingt auch eine Übertragung des âventiure-Konzepts von der Ebene der erzählten Welt auf die Ebene der Erzählung.5 So spiegelt sich im Anfangszitat bereits zweierlei wider: Auf der einen Seite wird der Artushof in einem Zustand beschrieben, in dem er nach âventiuren hungert, was sich im topischen Motiv der Essensverweigerung niederschlägt, das sich insbesondere in den späteren Artusromanen regelmäßig findet. Die Gesellschaft kann nicht essen, bevor nicht eine âventiure den Hof erreicht, da sie sich von diesen ernährt, von diesen lebt.6 Auf 4   Peter Strohschneider, »âventiure-Erzählen und âventiure-Handeln. Eine Modellskizze«, in: Dicke/Eikelmann/Hasebrink (Hgg.), Im Wortfeld des Textes, 377– 384, hier 379. 5   Vgl. Hartmut Bleumer, »Im Feld der âventiure. Zum begrifflichen Wert der Feldmetapher am Beispiel einer poetischen Leitvokabel«, in: Dicke/Eikelmann/ Hase­brink (Hgg.), Im Wortfeld des Textes, 347–367. 6   Vgl. zum Zusammenhang zwischen dem âventiure-Motiv und der Frage nach Alimentation insbesondere Lieb, »Essen und Erzählen«; sowie schon Elisabeth Schmid, »Buchstabenwunder, Leseabenteuer und die Bedürftigkeit des Leibes. Das Vorspiel zur Estoire del Saint Graal«, in: Volker Mertens/Friedrich Wolfzettel (Hgg.), Fiktionalität im Artusroman. Dritte Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft in Berlin vom 13.–15. Februar 1992, Tübingen 1993, 117–134.

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der anderen Seite wird dieses Motiv von Heinrich von dem Türlin gesteigert, indem der Artushof sich darüber sogar selber zu vergessen (v. 930) und damit seine Identität zu verlieren droht. Diese Gefahr kann  – wie im weiteren Verlauf der Handlung deutlich wird  – nur durch immer neues Erzählen gebannt werden. Dieses Motiv wurde zuletzt mit performativitätstheoretischen Ansätzen gedeutet, verweist aber auch auf erzähltheoretische Implikationen, die über das Begriffsfeld der âventiure hinausreichen. Der vorliegende Beitrag will nun von diesen Überlegungen ausgehend Positionen aktueller Debatten um Konzepte von literarischer Performativität sowie historischer Narratologie zu einer performativen Narratologie in spezifisch mediävistischer Perspektivierung verbinden.7 Nach einer kurzen theoretischen Einführung (II.) zu den für die mediävistische Debatte eher neueren Forschungsfeldern wird eine der vielfältigen Ausgestaltungsmöglichkeiten eines solchen Zugangs am Beispiel der Crône Heinrichs von dem Türlin gezeigt (III.). Da Heinrichs Roman als poetologisch hochreflexiver Text gelesen werden kann, eignet er sich in besonderer Weise dazu, der Frage nachzugehen, inwiefern die Gattung des Artusromans implizit auch als performative Erzähltheorie gelesen werden kann. II. Die Frage nach Performativität setzt fast zwingend eine Beschäftigung mit den Begrifflichkeiten von John L. Austin voraus, die er in seinen sprechakttheoretischen Vorlesungen geprägt hat. Hier soll vornehmlich auf den Begriff des Performativs zurückgegriffen werden, den er anfangs in Abgrenzung zu konstativen Äußerungen etablierte – bevor er im weiteren Verlauf seiner Vorlesungen seine Sprechakttheorie weiter ausarbeitete und die Kommunikationshandlungen mit der Betonung des illokutionären und perlokutionären Aktes zum Zentrum einer auf Sprecherintention ausge7   Alexandra Strohmaier hat ab 2010 erste Überlegungen dazu präsentiert, jedoch ohne Anbindung an einen spezifisch mediävistischen Kontext: Alexandra Strohmaier, »Zur Performativität des Narrativen. Vorüberlegungen zu einer performativen Narratologie«, in: Volker Munz/Klaus Puhl/Joseph Wang (Hgg.), Language and World. Part Two: Signs, Minds and Actions (Proceedings of the 32. International Ludwig Wittgenstein Symposium in Kirchberg, 2009), Frankfurt a. M. 2010 (Publications of the Austrian Ludwig Wittgenstein Society. New Series 15), 77–93; dies., »Entwurf zu einer performativitätstheoretischen Narratologie am Beispiel der Rahmenzyklen Goethes«, in: dies. (Hg.), Kultur  – Wissen  – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, Bielefeld 2013, 199– 231.



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richteten Theorie formte.8 Spätere poststrukturalistische Ansätze nahmen Austins ursprüngliche Unterscheidung wieder auf. Insbesondere Judith Butler gelang es mit dem Rückgriff auf die von Jacques Derrida entworfenen Kategorien von ›Wiederholbarkeit‹ und ›Zitathaftigkeit‹9 ein Performativitätskonzept zu etablieren, das für die Frage nach einem spezifisch performativen Erzählen fruchtbar gemacht werden kann. Indem Butler die performative Wirkung von Sprachhandlungen an einer zitathaften Wiederholung vorhergehender Äußerungen festmacht, ortet sie in den jeweiligen Wiederholungen zugleich das Potenzial der Subversion. Die Wiederholung kann nie ganz dieselbe sein und in dieser Wandelbarkeit liegt gleichwohl die Möglichkeit zur Veränderung.10 Mit den Überlegungen Butlers werden auch Fragestellungen des kulturwissenschaftlichen Ansatzes des Performativitätsbegriffs gestreift, der sich verstärkt auf das englische Verb to perform (vollziehen, tun, aufführen, vorführen) zurückbezieht und ganz allgemein die Vollzugsdimensionen sozialer Handlungen und kultureller Praktiken umfasst.11 Neben dem Vollzugscharakter einer Handlung ist dabei aber auch immer ein Aufführungscharakter einer Handlung (performance) mit angedacht, was insbesondere für die Ritualforschung wie für die Theaterwissenschaften relevant wurde.12 Sybille Krämer schließlich betrachtet Performativität wieder verstärkt unter dem Gesichtspunkt von Kommunikationshandlungen. Sie widerspricht in Bezug auf die ursprünglichen Performativa dem klassischen Kommunikationsmodell, in dem sprachliche Handlungen als Übermittlungsleistungen einer Sprecherintention gedacht werden, die wiederum auf der Kooperation von Sender- und Empfängerinstanz beruhen. Unter Rückgriff auf Judith Butler und Austins primärer Etablierung des Perfor8   Sprechakte in der Literatur erscheinen gemäß Austin stets als »parasitär«, da die Sprache in diesen Situationen »auf ganz bestimmte, dabei verständliche und durchschaubare Weise unernst gebraucht« werde (John Langshaw Austin, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1979, 43 f.). 9   Aus Derridas Sicht funktionieren performative Sprechakte nur, weil sie auf Konventionen fußen, die sie durch den jeweiligen Sprechakt zitieren, und diesen dadurch wiederholen: Jacques Derrida, »Signatur Ereignis Kontext«, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, 291–362. 10   Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a. M. 2006. 11   Vgl. dazu auch die Überblicksdarstellung bei Ulrich Barton/Rebekka Nöcker, »Performativität«, in: Christiane Ackermann/Michael Egerding (Hgg.), Literaturund Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik, Berlin/Boston 2015, 407– 452, hier 407 ff. 12   Vgl. dazu insbesondere die Ausführungen bei Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, 31–57.

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mativs zeigt sie dabei, dass ursprüngliche Performativa wie Vermählen, Taufen oder Verurteilen sich weniger an das Individuum als an ein gesellschaftliches Kollektiv richten, demnach »sind die ursprünglichen Performativa weniger an der Urszene dialogischer Wechselrede orientiert als an einer Aufführung mit Aktanden und Zuschauern. In ursprünglichen Performativa wird nicht einfach gesprochen, sondern wird im Sprechen etwas inszeniert.«13 Überträgt man diese Gedanken auf schriftlich fixierte Texte treten unweigerlich Fragen nach medialen Gegebenheiten und Bedingungen auf  – wie auch Krämers weitere Beschäftigung mit dem Performativitätsbegriff zeigt.14 Damit einher geht auch die verstärkte Fokussierung auf den Rezeptionsaspekt,15 das Lesen/Vortragen eines Werkes wird damit als wichtiger Aspekt konturiert.16 Da wir aber gerade für vormoderne Texte die tatsächliche Rezeptionssituation nie vollständig und in all ihren Dimensionen werden erfassen können, bleiben wir immer auf rhetorische, sprachliche und handlungsbezogene Elemente angewiesen, »die es uns erlauben, Modelle von Vollzügen und Wirkungsmöglichkeiten von performativen Akten zu beobachten«.17 Die Betrachtung eines Phänomens der Performativität unter sowohl sprachphilosophischen wie kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten erscheint also gerade auch für das Mittelalter sinnvoll, wo man eine zwischen Mündlichkeit – auch auf Präsenz und Körperlichkeit ausgerichtete18 – und Schriftlichkeit stehende Erzählkultur vorfindet.19

13   Sybille Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2001, 143. 14   Sybille Krämer, Performativität und Medialität, München 2004. 15   Erika Fischer-Lichte, Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012 (Edition Kulturwissenschaft 10), 137 f. 16   Vgl. dazu die Überlegungen bei Mireille Schnyder, »Kunst der Vergegenwärtigung und gefährliche Präsenz. Zum Verhältnis von religiösen und weltlichen Lesekonzepten«, in: Peter Strohschneider (Hg.), Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposium 2006, Berlin/New York 2009, 427–452. 17   Cornelia Herberichs/Christian Kiening, »Einleitung«, in: dies. (Hgg.), Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte, Zürich 2008, 9–21, hier 11. 18   Vgl. Christian Kiening, »Präsenz  – Memoria  – Performativität. Überlegungen im Blick auf das Innsbrucker Fronleichnamsspiel«, in: Ingrid Kasten/Erika FischerLichte (Hgg.), Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel, Berlin 2007 (Trends in Medieval Philology 11), 139–168. 19   Vgl. auch Justin Vollmann, »Performing virtue. Zur Performativität der ›Krone‹ Heinrichs von dem Türlin«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 130 (2008), 82–105, hier 86 f.



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Neueren Ansätzen einer Übertragung des Performativitätsbegriffs auf literarische Texte der Vormoderne ist gemeinsam, dass sie zwischen der sprechakttheoretischen bzw. sprachphilosophischen und kulturwissenschaftlichen Perspektive unterscheiden bzw. beide Perspektiven in die Überlegungen einbezogen wissen wollen. Justin Vollmann unterscheidet weiter die Vollzugs- von der Repräsentationsebene eines Textes, wobei erstere die Ebene der Darstellung meint, letztere die Ebene des Dargestellten.20 Auf der Repräsentationsebene des Textes werden Sprechhandlungen oder Aufführungen in ihrer Performativität beschrieben und erzählt, auf der Vollzugsebene hingegen wird die Aufführungssituation bzw. Inszenierung sowie die Sprechhandlung von Texten untersucht. Für eine performativitätstheoretische Methode der Literaturwissenschaft kommt nur letztere in Frage, die Betrachtung der Zugänge auf der Repräsentationsebene des Textes können als semiotisch-hermeneutische Methoden gelten.21 Cornelia Herberichs und Christian Kiening hingegen unterscheiden drei Aspekte von literarischer Performativität: (1) Sagen als Tun, (2) Wiederholung/Wiederholbarkeit und (3) Rahmung. Können die ersten beiden Aspekte in Richtung der sprachphilosophischen und kulturwissenschaftlichen Zugänge zum Performativitätsbegriff verstanden werden, so wird diesen mit der ›Rahmung‹ ein dritter Aspekt nebenangestellt, der die verschiedenen Ebenen des Textes nicht als Unterschied, sondern als Schnittstelle denkt. Gerade im Zusammenwirken dieser Ebenen wird literarische Performativität virulent: Zu denken ist deshalb ein wechselseitiges Implikationsverhältnis von Rahmung und Gerahmten und ein Verständnis von Performativität als Schnittstelle zwischen Internem und Externem. Und zu analysieren ist die Beziehung zwischen dem, was den Vollzug eines Textes allgemein kulturell und spezifisch situativ bestimmt, und dem, was der Text hinsichtlich seiner eigenen Wirkung und Verdauerung selbst zum Einsatz bringt.22

Aus diesen Überlegungen ergeben sich verschiedene Anschlusspunkte zur Erzähltheorie. Versteht man Literatur im weitesten Sinne als Kommunikationshandlung, kann über die pragmatische Narratologie eine Verbin-

Ebd., 88–91. Hierzu ausführlicher Barton/Nöcker, »Performativität«, 423–426, sowie Hans Rudolf Velten, »Performativitätsforschung«, in: Jost Schneider (Hg.) unter redakt. Mitarb. v. Regina Grundmann, Methodengeschichte der Germanistik, Berlin/New York 2009, 549–571, hier 549. Hier sind auch die Untersuchungen des Berliner SFB 447 Kulturen des Performativen zu erwähnen, die zwischen einer funktionalen und einer strukturellen Performativität unterscheiden. 22   Herberichs/Kiening, »Einleitung«, 15. 20   21  

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dung zu den sprachphilosophischen Fragestellungen hergestellt werden.23 Wenn nun weiter davon ausgegangen wird, dass literarische Äußerungen auch als Formen performativen Sprechens aufgefasst werden können,24 bietet sich eine Übertragung dieser Überlegungen auf ein erzähltheoretisches Handlungssystem der Literatur an.25 Die kulturwissenschaftlichen Fragestellungen wiederum rufen die für vormoderne Texte wesentliche erzähltheoretische Dimension der Tradierung auf. Den Aspekt der Wiederholung und Wiederholbarkeit können Texte als Mittel nutzen, sich auf eine Tradition zu beziehen, Stoffe wieder aufzunehmen und damit im Wiedererzählen26 Stoffe nicht zuletzt auch als kulturelles Wissen ihrer Zeit weiterzutragen (memoria), sowie Heilsgeschichte und Historie nachvollziehbar zu machen.27 Im Aufrufen von Erzählschemata oder auch einfach charakteristischen Elementen einer Gattung im Vorgang des Erzählens werden Erwartungen gestiftet, die im Erzählen eine Verbindung zu Erzähltraditionen aufrufen, welche wiederum erfüllt oder auch gebrochen werden können.28 Die verschiedenen Ebenen des Textes schließlich, die als Vollzugs- und Repräsentationsebene oder unter dem Begriff der Rahmung29 besprochen wurden, können auf Todorows erzähltheoretische Begriffe der histoire und 23   Alexandra Strohmaier hat in ihren Überlegungen zu einer performativen Narratologie hauptsächlich diese Verbindung stark gemacht (Strohmaier, »Zur Performativität des Narrativen«). Darüber hinaus bestehen aber weitere Anbindungsmöglichkeiten von erzähl- und performativitätstheoretischen Ansätzen, die gerade für vormoderne Texte fruchtbar gemacht werden können. 24   Vgl. hierzu auch Jonathan Culler, »Philosophy and Literature: The Fortunes of the Performative«, Poetics Today 21.3 (2000), 503–519. 25   Vgl. auch Mary Louise Pratt, Toward a speech act theory of literary discourse, Bloomington 1977, insbesondere 3–37; Sven Strasen, »Wie Erzählungen bedeuten: Pragmatische Narratologie«, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hgg.), Neue Ansätze in der Erzähltheorie (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 4), Trier 2002, 185–218, insbesondere 187. 26   Franz Josef Worstbrock, »Wiedererzählen und Übersetzen«, in: Walter Haug (Hg.), Mittelalter und Frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche, Neuansätze (Fortuna Vitrea 16), Tübingen 1999, 128–142. 27   Dazu auch der Ansatz dieser Verbindungen bei Herberichs/Kiening, »Einleitung«, 13 f. und 18 f. 28   Vgl. dazu auch insbesondere die Ausführungen bei Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, Studienausgabe, 2Berlin/Boston 2015, 191–291. Die Diskussion um die Abweichungen des arthurischen Strukturmodells von der Idee eines Erzählschemas lasse ich hier bewusst weg. Es geht mir lediglich um den Aspekt der Erwartung, die bei den Rezipienten geweckt wird, die sowohl durch Schemata wie durch einfache Wiederholungen von bereits Bekanntem (z. B. Intertextualität) hervorgerufen werden kann.



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des discours oder gar Genettes29 weitere Differenzierung von histoire, récit und narration bezogen werden und so auch das enge Verhältnis von Erzähltem mit der Erzählung (und dem Akt des Erzählens) sicht- und erfahrbar machen. Hartmut Bleumer spricht sich denn auch dafür aus, für die Betrachtung einer möglichen Erzähltheorie in historischer Perspektive auf das Modell des Slavisten Wolf Schmid zurückzugreifen: Es vereinigt die semantisch-poetischen mit den mimetisch-pragmatischen Theorieanteilen in seinen Begriffen, es zielt auf Interpretation und Deskription, es ist anschlussfähig für narrative Hermeneutiken wie für Konzepte der Rhetorik.30

Schmid unterscheidet vier Erzählebenen, Geschehen  – Geschichte  – Erzählung  – Präsentation der Erzählung (Narration), die sich gegenseitig implizieren aber auch fundieren. Indem die zunächst höchste Ebene der Narration wiederum die zunächst unterste Ebene der Geschehnisse impliziert, wird sie zur neuen Basis des Erzählmodells, welches dadurch kreisförmig wird: »Das Erzählen bringt so das Erzählte, das Erzählte aber auch das Erzählen hervor« (doppelte Korrelation des Erzählens).31 Die Unterscheidung dieser Ebenen ermöglicht in der Spiegelung der Prozesse von der Ebene der Narration auf die Ebene der Geschichte die Beobachtung eines performativen Prozesses, der wiederum im Erzählen entsteht. Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Reflexionen soll nun in der weiteren Analyse am Beispiel der Crône Heinrichs von dem Türlin gezeigt werden, dass der literarische Text diesen Zusammenhang von Performativität und literarischem Erzählen selbst thematisiert, indem er einen eigenen literarischen Diskurs aushandelt, der auch Fragen nach dem Wesen eben dieses Literarischen32 aufwirft. Dadurch präsentiert er sich selbst nicht nur als Text, der Literatur sein will, sondern auch als solcher, der Literatur 29   Auch wenn der Begriff der Rahmung bei Herberichs/Kiening, »Einleitung«, in Bezug auf vormoderne Texte in erster Linie für die Bezeichnung von ›Rahmenbedingungen‹ des Textes, also Ausstattung der Codices, Rubrizierungen, Marginalien, Überschriften, Bilder usw., gedacht wird, werden auch Paratexte wie Pro- und Epiloge angesprochen (18 f.). Für meine Überlegungen weite ich dieses Beziehungsverhältnis allgemeiner auf die verschiedenen Erzählebenen eines Textes aus. 30   Hartmut Bleumer, »Historische Narratologie«, in: Ackermann/Egerding (Hgg.), Literatur- und Kulturtheorien, 213–274, hier 218. Vgl. diesen Text auch ganz grundlegend zur Frage nach einer möglichen Historischen Narratologie. 31   Ebd., 219. Vgl. dazu auch Wolf Schmid, »Die narrativen Ebenen ›Geschehen‹, ›Geschichte‹, ›Erzählung‹ und ›Präsentation der Erzählung‹ «, Wiener slawistischer Almanach 9 (1982), 83–110, sowie ders.: Elemente der Narratologie, 3., erw. u. überarb. Aufl., Berlin/Boston 2014. 32   Ich benutze hier explizit den für das Mittelalter auch kritisch zu reflektierenden Begriff des Literarischen, weil im gezeigten Beispiel neben einem poetologischen Diskurs, der vor allem die formale Ebene von Erzählungen und Erzählen be-

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mitverhandelt und damit auch konstruiert. Heinrichs Crône kann als Text gelesen werden, der solche Prozesse und Phänomene in hohem Masse konkret ausstellt, reflektiert und damit diskursiv zur Diskussion stellt. III. Die Steigerung des anfangs besprochenen Motivs des Fastengelübdes durch das Element des Vergessens wird im Laufe der Handlung der Crône noch einmal an einer entscheidenden Stelle aufgenommen, die Anbindungsmöglichkeiten erzähltheoretischer Überlegungen an einen literarischen Performativitätsdiskurs liefert. Nach einigen erfolgreichen Kämpfen im Reich des Riesen Assiles, wo Gawein in seiner ersten âventiure König Flois zu Hilfe kommen soll, kehrt er auf dem Schloss Amurfinas ein und gerät in Minnegefangenschaft. Obwohl Gawein sich sogleich zur Schlossherrin hingezogen fühlt und ihr auch angesichts eines ihn bedrohenden huote-Schwertes (v. 8504–8577) einen Treueeid schwört, lässt Amurfina ihm einen Minnezaubertrank verabreichen, der ihn jeglicher Erinnerung an sich selbst beraubt und ihn damit in Gefangenschaft bei ihr zurückhält: da von er die sinne dâ als endelîch verlôs, daz er vil gar sinnelôs sich selben niht bekande, und wânt, daz in dem lande er ie gewesen wære herr und gebietære, sô schier was er sîn gewon und wânt, sie wær sîn êkon gewesen wol drîzec jâr. er het sîn sô vergezzen gar, daz er sîn eigenen nam weder bekant noch vernam, noch enwest, wer er selbe was. (v. 8663–8676)

In der darauffolgenden Klagerede des Erzählers wird das Prekäre an diesem Zustand herausgestrichen: âlso was er in dem lande / bî der vrouwen verlegen,33  / daz er lie gar under wegen / des riters name solte phletrifft, eben auch die Aushandlung von stofflichen Motiven und Traditionen, sowie ihrer weiteren Tradierung (Wiedererzählen) mitreflektiert wird. 33   Dabei handelt es sich um eine deutliche Anspielung an die Problematik Erecs (Hartmann von Aue, Erec. Mhd. Text und Übersetzung, hg. Volker Mertens, Stutt-



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gen (v. 8730–8733). Das Vergessen seines Namens, ja seiner Identität, wird in dieser Passage mit dem Ausbleiben von âventiuren in Zusammenhang gebracht, da das verligen mit einer ausbleibenden phlege des Ritterstandes gleichgesetzt wird.34 Gawein als der Repräsentant des idealen Rittertums, zu dem zwingend auch die ständige Bewährung durch âventiuren gehört, kann nur durch das Vergessen seiner selbst dazu gebracht werden, als Gatte35 sesshaft zu werden. Ironischerweise sind es dann genau die in dieser Hinsicht diskrepanten Erwartungen Amurfinas an Gawein, die es ihm ermöglichen aus diesem Zustand wieder hinauszufinden. Fünfzehn Tage nach der Einnahme des Zaubertranks präsentiert Amurfina eines Abends der versammelten Ritterschaft eine goldene Schüssel, auf der ein Zweikampf ihres Vaters Laniure mit Gawein abgebildet ist, aus dem Gawein als Sieger hervorgegangen war. Amurfina will ihre Landsleute damit von ihrem neuen Herrn überzeugen: Wenn sie schon ihren Vater Laniure verehrt hatten, dann müssen sie nun umso mehr Gawein verehren, der ihn im Kampf besiegen konnte. Um ihren Gatten als idealen Herrscher auszuweisen, lässt Amurfina also eine frühere âventiure Gaweins als Erzählung sowohl sicht- wie hörbar werden. Diese Bildschüssel ist es schließlich, die bei Gawein einen Selbsterkenntnisprozess in Gang setzt, an dessen Ende er sich wieder an alles erinnert. Auffallend an dieser ganzen Passage ist die starke Betonung der Rolle des Erzählens sowohl auf der Ebene der erzählten Welt, wie auf der Rezipientenebene. Dies macht sie für die Frage nach einem performativen Erzählen besonders interessant, da über die gesellschaftliche Funktion des Erzählens Bezüge zwischen den beiden Welten hergestellt werden. So wird gart 2008, v. 2971). Da das verligen bei Gawein aber durch den Zaubertrank bewirkt wird, bleibt seine Idealität als Ritter gewährleistet, auch wenn er dadurch natürlich dennoch von der hauptsächlichen ritterlichen Tätigkeit, der Suche nach âventiuren, ferngehalten wird. Vgl. hierzu auch Gudrun Felder, Kommentar zur ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin, Berlin 2006, 241. 34   Nicht zufällig wird Gawein nur ein paar Verse später als der ander Artûs (v. 8741) bezeichnet. Damit wird auf der einen Seite an die Anfangsszene der Crône zurückerinnert, andererseits im Status der zentralen Handlungsfiguren der jeweiligen Szene die Spannung zwischen dem Dasein als wirt (v. 8734) und als idealer Ritterfigur thematisiert. 35   Hierzu grundlegend Alfred Ebenbauer, »Gawein als Gatte«, in: Peter Krämer (Hg.), Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposiums in St. Georgen/Längsee vom 8. bis 13.09.1980 (Wiener Arbeiten zur Germanischen Altertumskunde und Philologie 16), Wien 1981, 33–66: »Eheschliessung eines Artusritters bedeutet Abschied vom Artushof, letztlich auch Abschied von Aventiure, Suche, Selbstverwirklichung.« (hier 35).

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gerade zu Beginn der Schüsselszene die Relevanz des Erzählers im Hinblick auf seine Vermittlerrolle betont: Nu kêrn wir z’unserm mære. wie lang er dâ wære in vrouwen Minne bande, als mich diu fabel mande, daz wil ich iu vil rehte sagen. (v. 8832–8836)

Daraufhin wird beschrieben, wie Amurfina eine goldene Schüssel auftragen lässt, auf der etwas ergraben (v. 8853) und geschriben (v. 8856) steht, nämlich das Bild eines Kampfes zwischen zwei Rittern mit einem Schriftband, in dem die Szene mit den Namen der Ritter verdeutlicht wird. Selbstverständlich beschreibt der Erzähler die dargestellte Szene nicht nur, sondern erklärt bzw. erzählt sogleich auch die entsprechende Geschichte dazu: Waz dirre strît meinte, als ez diu schrift bescheinte, daz wil ich iuch wizzen lân, als ich ez vernomen hân. (v. 8867−8870)

Zu dieser Erklärung gehört sowohl die Erzählung davon, wie es zu diesem Zweikampf gekommen ist, wie auch, was dieser Kampf ausgelöst hat und wie er deshalb als Bild und Inschrift auf der Schüssel gelandet ist: Laniure wollte daz grôz unbilde (v. 8886), also seine grosse Schmach, vor sînen ougen (v. 8887) präsent halten und hat es darum auf seiner Schüssel ergraben (v. 8890) lassen. Was von Laniure als Erinnerungsstück angefertigt wurde, kann nun für Gawein ebenfalls zu einer Erinnerungsstütze werden. Denn die Tatsache, dass Amurfina all ihre Ritter besunder ditz mære (v. 8910) sehen lassen will und es ihnen erzählen lässt,36 um Gawein als neuen Herrn am Hof zu etablieren, macht es möglich, dass Gawein erstmals nach seinem Erinnerungsverlust über sich selbst nachzudenken beginnt. vil ofte sie Gâwein an sach und marct, waz diu schrift sprach. er verstuont aber der rede niht, nuor daz er die geschiht wol marct von den bilden, wie sie sich mit den schilden 36   Vgl. dazu die Verse 8894–8916: Interessant ist hier das Zusammenspiel zwischen Bild und Schrift, zwischen sehen und sagen, das für den Anstoß eines Erinnerungsprozesses bei Gawein entscheidend zu sein scheint. Die Diskrepanz zwischen seiner durch Amurfina und die Bildschüssel erzählten Figur und seiner in seiner Erinnerungslosigkeit imaginierten Rolle an Amurfinas Hof verlangt nach einer Antwort.



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dacten und mit den swerten ein ander starc gerten, und sleg vil gewerten. Den strît sach er sô lang an, unz er sich dô sô vil versan, daz er sînen namen las und gedâht: … (v. 8936−8948)

Gaweins nun folgender Monolog erinnert sofort an die Selbstfindung Iweins nach seinem Wahnsinn wie auch diejenige Wigalois’ nach seiner kampfbedingten Ohnmacht. Anders als bei Iwein, der seine Erinnerung durch die Reflexion der Diskrepanz zwischen seinem herze (Iwein, v. 3575)37 und seinem äußeren Erscheinungsbild zurückerlangt, oder bei Wigalois, der durch einen Gegenstand aus seiner Vergangenheit, der Tasche seiner Frau Larie (Wigalois, v. 5842), wieder zu sich kommt,38 geschieht dies bei Gawein durch einen ihm zunächst völlig fremden Gegenstand: die goldene Schüssel. Erst durch die Tatsache, dass Laniure diese Schüssel dafür konzipiert hatte, sich selber bis zu seinem Tod an den Kampf mit Gawein zu erinnern, kann sie für die Selbsterkenntnis Gaweins wirksam werden. Denn damit hat Laniure es ermöglicht, dass die Geschichte des Kam­pfes immer wieder neu erzählt werden kann. Und damit wird auch die zufällige Begegnung Gaweins und Laniures  – bei Heinrich heißt es: eins tages ez von geschihte kam, / daz er Gâwein ervant, (v. 8876 f.)  – zur schicksalhaften Begegnung für Gawein:39 aus dieser zufälligen Begegnung wird eine mehrfach medialisierte Geschichte, die genau dadurch zum Schicksalsmoment Gaweins werden kann. Der Gegenstand entpuppt sich durch die erzählenden und erzählten Umstände als Teil  Gaweins. Der durch die Bildschüssel angeregte Erinnerungsprozess bei Gawein kann aber nur zu einem Ende geführt werden, wenn er aus der passiven Rolle, in der Erinnerungen an ihn herangetragen werden, hinausfindet und selbst seine memoria aktiviert. Dies geschieht in einem mehrstufigen Prozess:40 Über die Tugenden eines Aventiureritters, von dem er zuerst noch in der dritten Person spricht (v. 8950–8979), gelangt er zu seinen eige37   Hier und im Folgenden wird zitiert nach: Hartmann von Aue, Iwein, hg. u. übers. Rüdiger Krohn, komm. Mireille Schnyder, Stuttgart 2012. 38   Wirnt von Gravenberg, Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn, übers., erl. u. mit einem Nachwort vers. Sabine Seelbach/Ulrich Seelbach, Berlin/ New York 2005. 39   Natürlich ist die Begegnung auch für Laniure schicksalhaft, da er durch diese seine Rittertätigkeit an den Nagel hängt, vgl. v. 8892 f. 40   Vgl. dazu auch Felder, Kommentar, 246 f.

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nen Taten, die er sich im sogenannten Tatenkatalog (v. 8945–9054) als Aufzählung vergegenwärtigt oder vielmehr vor seinem inneren Auge Revue passieren lässt.41 Gawein erzählt sich damit quasi seine eigene Geschichte, um sich seiner zu erinnern; diese Geschichte wiederum ist zusammengesetzt aus vielen einzelnen zufälligen, aber in ihrer Fügung schicksalhaft gewordenen Begegnungen, die schließlich bis hin zu Gaweins Aufenthalt bei Amurfina führen und ihn in diesem Moment zu sich selbst zurückfinden lassen: dô, wæn, ich Gâwein hiez (v. 9046).42 Die Erinnerung seines Namens infolge der Erinnerung seiner Taten macht deutlich, dass »Gaweins Identität […] buchstäblich durch die ihm zugeschriebenen Taten konstituiert« ist.43 Was für die âventiuren und den Artushof gilt, wiederholt sich hier im Kleinen: Indem sich Gawein erzählend seiner selbst erinnert, seine Identität wieder konstituiert, vollzieht er einen performativen Akt. Dieser Handlungsabschnitt ist aber bereits der zweite, in dem die Identität Gaweins an seine Taten gekoppelt wird. Offensichtlich beruht Gaweins weit verbreiteter Ruhm auf seinen bereits vollbrachten Taten, und mit diesem Ruhm wird er schon in der ersten Aventiure bei seinem Gastgeber Riwalin44 konfrontiert, noch bevor er überhaupt im Text kämpferisch handelnd aufgetreten ist.45

Der erste Tatenkatalog findet sich an der Stelle, bevor Gawein das Reich des Riesen Assiles betreten kann, wo er König Flois zu Hilfe kommen 41   Matthias Däumer vergleicht das Evozieren von Bildern in einer Erzählwelt mit der kinästhetischen Wahrnehmung eines Films. Durch diesen Vergleich spricht er den so konstruierten Bildern in den höfischen Texten ein stark performatives Potenzial zu. Vgl. Matthias Däumer, Stimme im Raum und Bühne im Kopf. Über das performative Potenzial der höfischen Artusromane, Bielefeld 2013. 42   Vgl. Christoph Cormeau, ›Wigalois‹ und ›Diu Crône‹. Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Aventiureromans (Münchener Texte und Untersuchungen zur Deutschen Literatur des Mittelalters 57), München 1977, 126: »Seine eigene, im Denkmal abgebildete Vergangenheit holt den Protagonisten ein und in die Realität zurück.« Oder auch Matthias Meyer, Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretation und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994, 89, der davon spricht, dass »Gawein-Rolle und Gawein-Ich« in diesem entscheidenden Moment wieder zusammenfinden. 43   Elisabeth Schmid, Familiengeschichten und Heilsmythologie. Die Verwandtschaftsstrukturen in den französischen und deutschen Gralromanen des 12. und 13. Jahrhunderts, Tübingen 1986, 216. 44   Entspricht dem Pförtner Ywalîn. 45   Frank Ringeler, Zur Konzeption der Protagonistenidentität im deutschen Artusroman um 1200. Aspekte einer Gattungspoetik (Europäische Hochschulschriften. Reihe I Deutsche Sprache und Literatur 1752), Frankfurt a. M. et al. 2000, 244.



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soll. Der Pförtner Ywalîn will ihn davon abhalten, das Land zu betreten: Entweder müsse er seine Rüstung abgeben oder einen Kampf fechten, den bisher noch niemand bestanden habe. Da es undenkbar ist, dass ein Ritter seine Rüstung abgibt, versucht Ywalîn Gawein vom Kampf abzubringen, indem er ihm einige âventiuren von bekannten Figuren aus der Literatur nennt, die in ihrem Glück betrogen worden seien. Unter anderem erwähnt er dabei Lohenis, der Gawein das Pferd geraubt habe, aber dann doch wieder von diesem überlistet worden sei (v. 5992–5997). Ywalîn will seinen Gast davor warnen, sich in einer ausweglosen Situation töricht zu verhalten, wie es in seinen Augen Lohenis getan hatte. Ohne seine Identität preiszugeben, amüsiert sich Gawein darüber, dass er nicht erkannt worden ist: der red begund lachen / Gâwein, daz man in nant / unde in niht bekant (v. 6013–6015). Er spielt mit und fragt bei Ywalîn nach, ob denn Gawein seiner Meinung nach den Kampf gewinnen könnte. Damit bringt er Ywalîn dazu, Gaweins vergangene Taten in einer Aufzählung zu würdigen. Dabei fällt auf, dass sich die erwähnten Taten sowohl aus anderen Erzählungen wie auch aus Szenen aus der Crône speisen. Das Besondere dabei ist, dass Heinrich mehrere Hystera-Protera eingebaut hat: Sowohl bei der Geschichte um den Pferdedieb Lohenis wie auch innerhalb der Aufzählung finden sich mehrere âventiuren, die eigentlich erst im späteren Verlauf der Crône als Teil  von Gaweins Geschichte erzählt werden. Dazu gehören in diesem ersten Tatenkatalog der bereits erwähnte Pferdedieb Lohenis, Gaweins Kampf ûf einem castel a lît merveillôs (v. 6119), die âventiure der Sælden bluomen (v. 6107), und beim zweiten Tatenkatalog während des Erinnerungsprozesses Gaweins sein Gralsbesuch (v. 9025 f.).46 Natürlich wissen die Rezipienten zu diesem Zeitpunkt der Handlung noch nicht, dass es sich bei den genannten âventiuren um Hystera-Protera handelt.47 Wie die weiteren aufgezählten Taten sind sie vorerst als in46   Arno Mentzel-Reuters will den Gralsbesuch nicht als Hysteron-Proteron gelten lassen, da er davon ausgeht, dass Gawein den Gral auch schon vor dem Einsetzen der Handlung gesehen haben könnte. Zu dieser Interpretation kommt er, da er vant als Finden im Gegensatz zum Wissen vom Gral liest; vgl. Arno Mentzel-Reuters, Vröude. Artusbild, Fortuna- und Gralkonzeption in der ›Crône‹ des Heinrich von dem Türlin, Frankfurt a. M. et al. 1989, 41. Vergegenwärtigt man sich aber, dass Heinrich das Wort vinden auch häufiger im Zusammenhang seines Auffindens bzw. Erfindens von âventiuren (als Quellen seiner Erzählung) verwendet, dann ist diese Lesart nicht zulässig: Das vinden des Grals beinhaltet auch das Verstehen und Wissen vom Gral. 47   Im Grunde genommen spielt es auch keine Rolle, ob sich die Rezipienten im späteren Verlauf der Handlung daran zurückerinnern. Ich stütze meine Argumentation auf die Tatsache, dass diese in der Forschung so benannten Hystera-Protera Teil der Erzählung sind – und hier gehe ich ganz klar nicht davon aus, dass es sich

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tertextuelle Bezüge angelegt und dienen damit in erster Linie dazu, Gaweins Existenz über die handelnde Figur des Romans hinaus auch als immer schon vorgegebene literarische Figur zu etablieren. Dass die Geschichte bzw. Geschichten Gaweins als bereits bekannt vorausgesetzt werden, wird in der Crône als aktuell realisierter Erzählung von Gawein damit deutlich ausgestellt. Denn die Existenz Gaweins als literarische Figur ist das, was ihn zu Gawein macht. Gerade die Hystera-Protera tragen hier auch dazu bei, dies als weiteren performativen Prozess lesbar zu machen. Die Figur Gawein wird durch die ihm zugeschriebenen  – und damit wohlgemerkt erzählten – Taten konstituiert, diese wiederum sind an die Figur Gaweins gekoppelt. Darüber hinaus betont die Verbindung dieses komischen Elements von Gaweins »Konfrontation mit seiner Existenz als literarischer Figur«  – wie Matthias Meyer das genannt hat48  – mit der Figur der Hystera-Protera zum ersten Mal explizit Heinrichs von dem Türlin besonderen Umgang mit der literarischen Tradition des Artusromans, was eine Anbindung auch an erzähltheoretische Überlegungen ermöglicht. Denn schon zu Beginn des Romans wird klar, dass die literarischen Traditionen für Heinrich eine entscheidende Rolle spielen: Sowohl der Prolog als auch die erste Szene mit der Tugendprobe am Artushof zitieren immer wieder Gattungstraditionen, verkehren und hintergehen diese aber auch wieder.49 In den Spottreden Keies während dieser Becherprobe wird mit intertextuellen Bezügen auf eine Vielzahl von deutschen und französischen Erzählungen um die Artusritter verwiesen.50 Die Anbindung inhaltlicher Erzählelemente an dabei um einen Fehler Heinrichs handelt; eine Haltung, die noch bis in die 90erJahre vertreten wurde. Vgl. dazu Edmund Kurt Heller, »A Vindication of Heinrich von dem Türlin based on a Survey of his Sources«, Modern Language Quarterly 3 (1942), 67–82, hier 69; Danielle Buschinger, »Burg Salie und Gral. Zwei Erlösungstaten Gaweins in der ›Crone‹ Heinrichs von dem Türlin«, in: Krämer (Hg.), Die mittelalterliche Literatur in Kärnten, 1–31, hier 9; Fritz Peter Knapp, Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und ­Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273, Bd. 1 (Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart 1), Graz 1994, 553. 48   Meyer, Die Verfügbarkeit der Fiktion, 80. 49   Zur Irritation, die insbesondere der Anfang der Crône beim Publikum ausgelöst haben dürfte, gehört auch die Tatsache, dass das traditionelle Hoffest zu Beginn nicht an Pfingsten, sondern an Weihnachten stattfindet. Gerade durch die Betonung der gewonheit (v. 922) in Bezug auf das Anzitieren gängiger arthurischer Topoi wird diese frappante Abweichung davon unterstrichen; vgl. auch Felder, Kommentar, 40 f. 50   Die beiden Tugendproben in der Crône nehmen in der Frage nach der Erzählhaltung Heinrichs von dem Türlin ebenfalls eine entscheidende Rolle ein. Die Becherprobe, die als erste âventiure an den Artushof kommt, wird von den spottenden Kommentaren Keies begleitet, der nach dem Misslingen der Probe bei jedem Ritter



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weiter greifende Gattungstraditionen verweist damit immer wieder explizit auf das intrikate Verhältnis zwischen Erzählung und Tradition. Denn wie die einzelne Erzählung immer wieder von Gattungserwartungen bestimmt wird, so wird die Tradition auch mit jeder neuen Erzählung weiter ausgeformt, bestätigt, ergänzt und verändert. Auch wenn insbesondere die Hystera-Protera in der Forschung zu kontroversen Diskussionen geführt haben,51 so wurde doch schon verschiedentlich bemerkt, dass die Tatenkataloge inklusive Hystera-Protera eine wichtige Funktion in Bezug auf das Romanganze einnehmen: dies etwa von Lewis Jillings, der sich anhand dieser Szene Gedanken zur »cyclic nature of the Arthurian genre«52 macht, oder von Christoph Cormeau, wenn er mit Blick auf den Romanhelden bemerkt: »Der Gawein-Roman wird vor dem Hintergrund der Gawein-Erwartung inszeniert. Die Erwartung ist ein konstitutives Moment der Fiktion selbst.«53 Dabei scheinen die beiden kurz hintereinander folgenden Tatenkataloge im Hinblick auf die Konstruktion von Gaweins Identität verschiedene Funktionen zu haben. Der erste Tatenkatalog dient dazu, Gaweins Identität für die Rezipienten als ihre eigene literarische Erwartung zu entlarven. Der zweite Katalog ermöglicht dadurch, dass er von Gawein selbst realisiert wird, einen Umkehrschluss auf ebendiese Erwartung: Der Held konstruiert sich seine eigene Identität ebenfalls auf der Folie der literarischen Erwartung bezüglich seiner Figur. Die in den Tatenkatalogen eingebetteten Hystera-Protera und jeder Dame auf die Verfehlungen dieser eingeht. Dabei wird eine Vielzahl von Erzählungen verschiedener Gattungen aus der französischen und deutschen Tradition anzitiert. Das Verfahren für die zweite Tugendprobe  – die Handschuhprobe  – scheint vordergründig dasselbe. Keie kommentiert mit Spott die Verfehlungen. Versucht man auch hier, die jeweiligen intertextuellen Bezüge herzustellen, fällt auf, dass nun unter den Verfehlungen auch Ereignisse erwähnt werden, die sich im Laufe der Handlung ereignet haben. Heinrich hat damit seine eigene Erzählung quasi in die Tradition der bereits bekannten Dichtung integriert. Vgl. dazu insbesondere die Arbeiten von Hartmut Bleumer, Die ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin. Form-Erfahrung und Konzeption eines späten Artusromans (Münchener Texte und Untersuchungen zur Literatur des Mittelalters 112), Tübingen 1997, 255–263, sowie Peter Stein, Integration – Variation – Destruktion. Die ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin innerhalb der Gattungsgeschichte des deutschen Artusromans (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, 32), Frankfurt a. M. et al. 2000, 53 f. 51   Vgl. Hinweise zur Kontroverse bei Felder, Kommentar, 181: Die Vielzahl der Interpretationsansätze lässt den Schluss zu, dass die »Deutung dieses Phänomens […] wohl noch nicht abgeschlossen« ist. 52   Lewis Jillings, Diu Crône of Heinrich von dem Türlin. The Attempted Emancipation of Secular Narrative (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 258), Göppingen 1980, 51. 53   Cormeau, ›Wigalois‹ und ›Diu Crône‹, 138.

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wiederum dienen dazu, über die Szene hinauszuweisen: So wie sich Gawein aufzählend und sich selbst erzählend seine Identität konstruiert, so konstruiert auch der Artusroman als Gattung, die spezifische Erwartungen weckt, seine eigene wie auch Gaweins Identität.54 Diese Beobachtungen lassen deutlich erkennen, dass sich Heinrich stark mit der Frage beschäftigt, was es heißt, von Artus und seiner Welt erzählen zu wollen. Weitere Beobachtungen am Prolog sollen dies bestätigen und zeigen, dass Heinrichs Crône eine poetologische Auseinandersetzung ist, die die Frage nach dem Erzählen und seinen Bedingungen von allen Seiten beleuchtet. Im prologus ante rem kündigt Heinrich auf den ersten Blick an, eine Geschichte über die Anfänge und Jugend von Artus erzählen zu wollen:55 Uns ist oft geseit von manger hant vrümecheit, die Artûs der künic begienc. wâ ez sich êrste anevienc, daz ist ein teil unkunt. daz wil aber ich ze dirre stunt ein teil machen kunder und wil iu doch dar under sîner tugent anegeng sagen, wie ez in sînen kinttagen im aller êrst ergienge, und wâ sich anevienge sîner tugent loblîcher strît, den im noch diu werlt gît. (v. 161–174)

Es wurde mehrfach kritisiert, dieses Unterfangen sei von Heinrich dann doch nicht umgesetzt worden, angefangen mit der Wahl von Gawein als Haupthelden der Erzählung.56 Hier ist aber  – unter Einbezug des IweinPrologs  – auch eine andere Lesart denkbar: Hartmann von Aue führt 54   Diese Erzähltechnik Heinrichs von dem Türlin wäre in diesem Sinne auch als poetologischer Kommentar lesbar. 55   Weitere Ausführungen und Interpretationsansätze dazu bei Felder, Kommentar, 35 f. 56   Andere wiederum haben herausgestrichen, dass Gawein neben Artus als einer der Hauptrepräsentanten des Artushofes fungiere und damit der »Artushof selbst ins Zentrum« der Erzählung gerückt werde. Alfred Ebenbauer, »Fortuna und Artushof. Bemerkungen zum »Sinn« der Crône Heinrichs von dem Türlin«, in: ders./Fritz Peter Knapp/Ingrid Strasser (Hgg.), Österreichische Literatur zur Zeit der Babenberger. Vorträge der Lilienfelder Tagung von 1976, Wien 1977, 25–49. Vgl. dazu auch Meyer, Die Verfügbarkeit der Fiktion, 79 ff., der darüber hinaus eine Parallelisierung der gesellschaftlichen Stellungen von Artus und Gawein herausarbeitet.



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Artus in seinem Prolog als denjenigen ein, der nâch lobe kunde strîten (Iwein, v. 7) und von dem seine Landsleute berichten, dass er noch lebe. Dies wiederum interpretiert Hartmann sogleich dahingehend, dass der Name Artus fortlebe, auch wenn er selber gestorben sei: er hât den lop erworben, ist im der lîp erstorben, sô lebt doch iemer sîn nam. (Iwein, v. 15–17)

Diese Interpretation impliziert, dass von Artus und seinem Ruhm erzählt wird, was Hartmann dazu veranlasst, die Gegenwart als Zeit der Erzählungen gegen die Vergangenheit als Zeit der Taten auszuspielen. ichn wolde dô niht sîn gewesn, daz ich nû niht enwære, dâ uns noch mit ir mære sô rehte wol wesn sol, dâ tâten in diu werch vil wol. (Iwein, v. 54–58)

Wendet man sich mit diesen Versen im Hinterkopf wieder dem Prolog Heinrichs zu, dann erscheint folgende Lesart möglich: Die ersten drei Verse (v. 161–163) können, wie gehabt, als Gattungssignal gelesen werden, daneben betonen sie durch den zeitlichen Aspekt (oft) auch, dass die Gattung des Artusromans bereits etabliert ist. Das ez im folgenden Vers (v. 164) kann zuerst auf die vrümecheit bezogen werden (wie dies auch als Übersetzungsvorschlag in der Ausgabe von Gudrun Felder angegeben ist)57 und würde damit auf die erwähnte Absicht, die Jugendgeschichte von Artus erzählen zu wollen, hindeuten. Ez kann sich aber auch auf das sagen in v. 161, also das bereits etablierte Erzählen von Artus, beziehen. Damit würde sich auch die Doppelung in den folgenden Versen erklären lassen, wenn Heinrich sagt, dass er uns das  – d. h. das Erzählen von Artus – bekannter machen (v. 166 f.) und dar under (v. 167) auch vom Anfang seiner Tugend erzählen wolle. Neben den Anfängen des Ruhms von Artus wäre damit gleichzeitig der Anfang des Erzählens vom Ruhm Artus’ und seiner Tafelrunde gemeint. Auch die letzten drei Verse (v. 172–174) würde ich dahingehend lesen wollen: und wie das löbliche Eifern seiner Tugend fortgeführt wurde, das ihm die Welt noch immer nachsagt. Dass die Fortführung sîner tugent loblîcher strît (v. 173) nicht nur die Erzählung der Taten beinhaltet, die zum Ruhm führen, sondern auch die Erzählung davon, wie man, um Ruhm zu erlangen, immer auch auf die Erzählung angewiesen ist, wird in den gleich darauffolgenden Versen bestätigt:

57  

Heinrich von dem Türlin, Diu Crône, hg. Felder, 6.

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mit sîner reinen tugent sage sich mêret sîn lop alle tage, die wîl diu werlt vröuden phligt. er hât mit êrn sô gesigt, daz er nie vant sînen gnôz: des ist sîn lop von schulden grôz, wan in sîn nie verdrôz. (v. 175–181)

Dadurch, dass immer und immer wieder von Artus’ Tugend erzählt wird, mehrt sich sein Lob und damit natürlich auch sein Ruhm. Dies wird so lange fortgeführt, wie die Welt die Freude (im Sinne von Hoffreuden, wo das Erzählen einen großen Stellenwert hat) pflegt, will heißen: Solange erzählt wird, herrscht Freude, oder aber auch: solange Freude herrscht, wird erzählt. Die daran anschließenden 35 Verse bilden dann das Akrostichon HEINRICH VON DEM TVRLIN HAT MICH GETIHTET. Natürlich meint das mich den ganzen Roman, aber gleichzeitig ist damit auch Artus’ Ruhm, also das aus dem gleich davor liegenden Satz (v. 180 f.) und in den Akrostichon-Versen fast schon penetrant wiederholte lop, gemeint. Heinrichs Roman ist, wie die anderen Artusromane, Teil des Ruhms von Artus. Inhaltlich führen die Verse Artus’ Tugendhaftigkeit genauer aus und beklagen in fast wörtlicher Anlehnung an Hartmanns Iwein-Prolog dann seinen Tod und die artuslose Gegenwart: leider ob der lîp erstarp, im lebt doch sîn reiner nam nâch der werlt lobesam. hât er noch lemtigen prîs, ân den geist allen wîs tuot er uns lemtigen schîn mit dem erworben lop sîn. (v. 199–205)

Solange sein Lob weiter besungen und erzählt wird, bleibt er uns in einer gewissen Weise erhalten und lebendig. Artus lebt in der Erzählung und wird im immer erneuten Erzählen von ihm lebendig.58 Nicht zufällig 58   Anders als Walter Haug (Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2Darmstadt 1992, 281) oder Volker Mertens (» ›gewisse lere‹. Zum Verhältnis von Fiktion und Didaxe im späten deutschen Artusroman«, in: Friedrich Wolfzettel [Hg.], Artusroman und Intertextualität. Beiträge der Deutschen Sektionstagung der Internationalen Artusgesellschaft vom 16.–19. November 1989 in Frankfurt, Gießen 1990, 85–106, hier 86 f.) gehe ich nicht davon aus, dass Heinrich im Gegensatz zu Hartmann, der im Iwein-Prolog die artuslose Gegenwart durch die mære mehr als gut ersetzt sieht, die Nachahmung der Taten des Artus verlangt. Auch Heinrich geht es in erster Linie um das Erzählen.



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nennt sich der Autor gerade hier mit Namen: Er tritt als derjenige auf, der den Ruhm mit seiner Erzählung weiterträgt. Gleich nach der Namensnennung im Akrostichon bezeichnet sich Heinrich als tihtære: Iu wil der tihtære von künc Artûs ein mære sagen ze bezzerunge, (v. 217–219)

Üblicherweise werden diese Verse dahingehend gelesen, dass ein mære von künc Artûs, eine Geschichte von König Artus erzählt werden soll. Wäre es in einer gewagteren Lesart aber nicht auch denkbar, dass sich von künc Artûs als Enjambement auf der tihtære bezieht, dass also Heinrich sich als Dichter im Sinne eines Zusammenführenden präsentiert, der von König Artus, also von den Geschichten um König Artus berichtet, und sich daher als tihtære von künc Artûs, als Verdichter des Ruhms von Artus sieht? Eine weitere Textstelle könnte diese Lesart unterstützen: ez ist von dem Türlîn Heinrîch, des zung nie wîbes ganzen lop verlie, der vant ditz mære, wannen geboren wære künic Artûs der guote, der ie in ritters muote bî sînen zîten hât gelebt. (v. 246–253)

Matthias Meyer plädiert hier dafür, dass Heinrich beim Begriff vinden mit dem Bedeutungsspektrum von »auffinden bis hin zu dichten, com­ positare«59 spielt. Auch wenn nicht explizit vom eigenen Erfinden gesprochen wird, so sind sicher Anklänge daran sichtbar, die zumindest auf die eigenwillige Erzählart Heinrichs verweisen. Wenn Heinrich kurz darauf die Geburt von Artus in den Monat Mai legt, die dabei herrschende vröude (v. 271) zitiert und uns gleichzeitig darauf hinweist, dass diese Verbindung in den Büchern zur gewonheit geworden ist,60 dann die eigentliche Erzählung aber untypischerweise mit dem bereits genannten Weihnachtsfest am Artushof einsetzen lässt, sieht man damit schon zu Beginn des Romans ganz deutlich, dass Heinrich in seiner Crône ein ständiges Spiel der Zwei-, Doppel- und Mehrdeutigkeiten spielt. Er zitiert Gattungstraditionen und verkehrt und hintergeht diese aber auch immer wieder. Dies Meyer, Die Verfügbarkeit der Fiktion, 72. er wart in dem meien / geborn, als daz buoch seit. / daz was ein gewonheit, / daz wir dâ bî erkanden (v. 260–263). 59   60  

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ist Heinrichs Art zu erzählen und seinem Publikum zugleich die Reflexion seines Erzählens vorzuführen. Heinrich stellt das Erzählen von Artus als höchst selbstreferenzielles sowie performatives System dar. IV. Dieses selbstreferenzielle, performative System funktioniert, indem sich die Prozesse über die verschiedenen Erzählebenen spiegeln. Die Selbstfindung Gaweins durch das erzählende Erinnern seiner Taten nach der Einnahme des Minnezaubertranks wird als Prozess auf der Ebene der erzählten Welt  – oder um auf die Begriffe Wolf Schmids zurückzugreifen: auf der Ebene der Geschichte – angesiedelt. Auch der Prozess der Identifizierung Gaweins durch den Pförtner Ywalîn ist aufgrund der klaren Markierung durch Figurenrede auf der Ebene der Geschichte angelegt. Gleichzeitig wird durch die Tatsache, dass die aufgezählten Taten Gaweins in beiden Szenen eben nicht einfach nur Taten sind, die Gawein im Verlauf der Geschichte bereits vollbracht hat, sondern solche, die im Fundus der Artuserzählungen wie auch im chronologisch noch folgenden Handlungsverlauf der Geschichte (Hystera-Protera) zu verorten sind, der performative Prozess im Zusammenspiel der Erzählebenen erst möglich. Durch die intertextuellen Verweise wird auch ohne Zutun der Erzählerfigur auf die Ebene der Erzählung ausgegriffen. Dieselbe Verschränkung der Erzählebenen der Geschichte und der Erzählung findet sich im wechselseitigen Verhältnis von âventiuren und Artushof, die für ihr jeweiliges Bestehen aufeinander angewiesen sind. Sind die Artusritter auf der Ebene der erzählten Welt auf das Zusammenspiel von âventiure-Handeln und âventiure-Erzählen angewiesen, um Ruhm zu erringen, so wird auch hier dieser Prozess auf die Ebene der Erzählung übertragen, indem der Begriff der âventiure auch auf das Erzählen von Artus und seiner Welt ausgeweitet wird. So ist in der Folge auch der Artushof angewiesen auf das Zusammenspiel von âventiure-Handeln als Erzählen von ihm und âventiureErzählen, über das sich der Artushof als Gattung und übergeordnete Idee von Idealität konstituiert.61 61   Justin Vollmann sieht in seinem Aufsatz »Performing virtue« die Performativität der Crône darin gegeben, dass der Text ein Phänomen auf der Handlungsebene – die beiden Tugendproben, der sich alle Ritter und Damen am Artushof zu stellen haben – auf die Vollzugsebene überträgt: die nachvollziehende und verstehende Lektüre der Crône sei ebenfalls als Tugendprobe für den Rezipienten angelegt. Ähnlich dieser Bewegung soll hier das Zusammenspiel von âventiure-Handeln und âventiure-Erzählen von der Handlungs- auf die Vollzugsebene übertragen werden, aus dessen Vollzug sich letztlich der Artushof als Idee überhaupt erst konstituiert.



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Auf der Ebene der Präsentation der Erzählung werden diese Prozesse, die sich auf den anderen beiden Ebenen abspielen, von der Erzählerfigur explizit thematisiert. Die aktuelle Artuserzählung, in diesem Fall also die Crône, tritt in Beziehung zur Tradition der Artuserzählungen. Dies geschieht durch intertextuelle Bezüge oder durch das Aufrufen von Gattungskonventionen, welche sich sowohl durch das Personeninventar wie auch durch anzitierte Motive zusammensetzen. Die Erzählung präsentiert sich damit auch als solche, die sich selber in eine bestehende Tradition hineinerzählt – was sich auch in der Dynamik der beiden großen Tugendproben in der Crône ablesen lässt.62 Damit aber birgt sie jeweils gleichzeitig auch die Möglichkeit der Veränderung, Innovation, Subversion in sich.63 Das Zusammenspiel der verschiedenen Erzählebenen lässt sich in der Crône in sich wiederholenden und spiegelnden performativen Prozessen beschreiben. Damit kann die Kreisförmigkeit des Erzählmodells von Wolf Schmid hier zur Grundlage einer performativen Erzähltheorie werden. Durch das immer neuerliche Erzählen von Artus und seiner Welt wird diese immer wieder vergegenwärtigt, als Tradition weitergesponnen, erfährt aber auch immer wieder Neuerungen und Veränderungen. Was für die âventiure gilt, gilt in der Szene um Gaweins Selbsterkenntnis auch für den Helden: Indem Gawein sich selber als Teil  seiner literarischen oder literarisch gewachsenen Kreation begreift, kann er sich erkennen und zu sich zurückfinden. Und genau in dem Moment, in welchem dem Rezipienten klar wird, dass die Figur Gawein der Erzählung und die tradierte literarische Figur in eins fallen, wird das so stark betonte Motiv des Erzählens dahingehend lesbar, dass Heinrichs konkrete Erzählung (seine Crône) ebenfalls mit dem Erzählen der Artuswelt in eins fällt. So wie sich der Artushof durch das Erzählen selbst konstituiert, so bedeutet das Erzählen von Artus und seiner Welt immer auch, diese neu zu gestalten und aufleben zu lassen, Artus schließlich als eine Idee weiter zu erzählen  – ob diese Idee dann ideal ist oder nicht oder es zu sein habe, sei dahingestellt.

Vgl. hierzu auch die Ausführungen unter Anmerkung 50. Hier schließt der Performativitätsbegriff an die Ansätze Judith Butlers an. Vgl. Butler, Haß spricht. 62   63  

»Se voues nous volés oïr et entendre, nous vos mosterrons par droite raison […] que vostre lois est noiens« Franz von Assisi als Prediger vor Malik al-Kamil Von Matthias Bürgel Abstract The encounter between Francis of Assisi and sultan Malik al-Kamil in 1219 became in its immediate aftermath object of several historiographic, hagiographic and literary accounts. One can see that a common, yet variously developed element of all these reports is the record of the future saint surprising his audience by the frankness of his preaching of the Christian faith. This continuity stretches from the Old French Chronique d’Ernoul, which firstly introduced this aspect, to Dante’s Commedia. Actually, in the light of the eye-witness account of Thomas of Split, an enthusiastic speech of Francis at the Egyptian court could well respond to the facts: following the model of the contemporary political concionatori and their biblical archetype, Salomon, Francis surely preached in a simple but theologically profound way the Truth of Christian relevation, trusting that Divine wisdom in humility is superior to an approach which is grounded exclusively in human knowledge.

I. Eine spannungsgeladene Begegnung »Se vous nous volés oïr et entendre, nous vos mosterrons par droite raison, voiant les plus preudommes de vostre tiere, se vous le mandés, que vostre lois est noiens.«1 – »durch rechte Gründe der Vernunft«2 will Franz von Assisi im Angesicht der weisesten Männer Ägyptens Sultan Malik

1  Chronique d’Ernoul et de Bernard le Trésorier, hg. Louis De Mas-Latrie Paris 1871, 433. 2  Adolf Tobler-Lommatzsch, Altfranzösisches Wörterbuch, 12 Bde., Wiesbaden 1971, Band VIII, s.v. »raison«, 218: »par raison mit Gründen der Vernunft […] Thomas iço granter ne volt. E si volt par raisun mostrer, Que iço ne put pas ester, Trist. Thom.«

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al-Kamil die »Wertlosigkeit«/die »Unsinnigkeit«3 des mohammedanischen Gesetzes beweisen. Wir finden diese Worte im 37. Kapitel des seit dem 19. Jahrhundert unter dem Titel Chronique d’Ernoul et de Bernard le Trésorier bekannten Werkes, einer zu Ende der 1220er Jahre entstandenen Kreuzzugschronik,4 die rasch, wie die umfangreiche Manuskripttradition belegt, weite Verbreitung findet, insbesondere da sie alsbald als Fortsetzung in die altfranzösischen Übersetzungen der Historia Ierosolymitana des Wilhelm von Tyrus, auch bekannt als L’Estoire d’Eracles,5 integriert wird (hier nachfolgend schlicht Continuation genannt).6 Der fragliche 3  Ebd., Band  VI, 1965, s.v. »nïent«, 642: »Unsinn, Unnützes, Unmögliches«; Frédéric Godefroy, Dictionnaire de l’ancienne langue française et des tous ses dialectes du IX° au XV° siècle, Paris 1888, Band  5, s.v. »noient«,  512: »néant, chose de néant, chose qui ne sert à rien«; Jean-Loup Ringenbach, s.v. »néant« in: DMF 2015; http://atilf.fr/dmf (zuletzt konsultiert am 07.03.2015): »Chose ou être sans valeur«. 4  Peter Edbury und Massimiliano Gaggero bereiten eine neue kritische Ausgabe des Werkes vor. Hinsichtlich der bisherigen Forschungsergebnisse, der Handschriftentradition und der Editionskriterien s. Massimiliano Gaggero, »La Chronique d’Ernoul. Problèmes et méthode d’édition«, Perspectives médiévales 34 (2012), online veröffentlicht am 10.  September 2012, zuletzt konsultiert am 02.01.2019. URL: http://peme.revues.org/1608; DOI  : 10.4000/peme.1608; sowie ders., »L’édi­ tion d’un texte historique en evolution. La Chronique d’Ernoul et de Bernard le Trésorier«, in: Richard Trachsler/Frédéric Duval/Lino Leonardi (Hgg.), Actes du XXVIIe Congrès international de linguistique et philologie romanes (Nancy, 15–20 juillet 2013). Section 13: Philologie textuelle et éditoriale, Nancy 2017, 133–146; URL: http://www.atilf.fr/cilpr2013/actes/section-13.html (zuletzt konsultiert am 02.01.2019). 5  S. zu diesem Text nunmehr Philip Handyside, The Old French William of Tyre, Leiden 2015. Die Übersetzung resultiert aus dem ersten Viertel des 13. Jh.s; ihre Namensbezeichnung geht auf die einleitende Episode, welche den Byzantinischen Kaiser Heraclius betrifft, zurück. Zur Handschriftentradition des Eracles s.  Peter Edbury, »The French Translation of William of Tyre’s Historia. The Manuscript Tradition«, Crusades 4 (2007), 69–105. Speziell zur Kreuzzugsdarstellung und der Integration des französischen Textes s. ders., »Ernoul, Eracles and the Fifth Crusade«, in: Elizabeth J. Mylod et  al. (Hgg.), The Fifth Crusade in Context. The Crusading Movement in the Early Thirteenth Century (Crusades – Subsidia 9), London 2017, 163–174. Für eine vergleichende Analyse des lateinischen Vorbildes und der französischen Übertragung aus linguistischer Perspektive vgl. Mireille Issa, La version latine et l’adaptation française de L’historia rerum in partibus transmarinis gestarum de Guillaume de Tyr (The Medieval Translator – Traduire au Moyen Age 13), Turnhout 2010. 6  Vgl. Peter W. Edbury, »New Perspectives on the Old French Continuations of William of Tyre«, in: Crusades 9 (2010),  107–113, insbes. 108. Die Handschriften wurden von Jaroslav Folda, »Manuscripts of the History of Outremer by William of Tyre. A Handlist«, Scriptorium. Revue internationale des études relatives aux manuscrits 27 (1973),  90–95, erfasst und systematisiert. Die Siglen dieser Liste (dem Schema F + Listennummer folgend), welche auch die nur die Chronique enthalten-



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Passus stellt nicht nur eine der frühesten Erwähnungen der Begegnung des Assisiaten mit dem ägyptischen Sultan Malik al-Kamil während der Belagerung Damiettes im Jahre 1219 überhaupt, sondern auch die erste detailliertere inhaltliche Beschreibung der dabei erfolgten Unterredung dar, wobei unser Berichterstatter den franziskanischen Ordensgründer noch nicht einmal namentlich kennt und einfach von dou clercs spricht.7 Die ob ihrer offenkundigen Nähe zu den erzählten Ereignissen sowie ihres nüchternen Stiles als besonders zuverlässig geltende Quelle8 präsentiert uns dabei einen selbstbewussten und auf die Überzeugungskraft seiner Worte vertrauenden Prediger. Dieser Aspekt steht bei den zahlreichen Untersuchungen über die ›interreligiöse Zusammenkunft‹ während des Fünften Kreuzzugs, gerade auch in der jüngeren Vergangenheit, allerdings zumeist eher im Hintergrund.9 Gewiss wird oft zurecht der friedliche und innovative Charakter des dialogbasierten, auf Waffengewalt verzichtenden Austausches hervorgehoben.10 Dennoch scheint es mit Edoardo Scognamiglio, Direktor des Centro Studi Francescani per il Dialogo interreligioso e le Culture, sinnvoll zu sein, die Begegnung a priori aus jedwedem Irenismus herauszulösen:11 Das Treffen zwischen Franziskus und dem Sultan kann den Textzeugen umfassen, werden sowohl von Edbury/Gaggero als auch im vorliegenden Beitrag weiterhin verwendet. Gaggero, »La Chronique d’Ernoul«, bilanziert, dass insgesamt 54 Mss. vorliegen: 46, in denen die Chronique als Fortsetzung zu Wilhelm von Tyrus dient, acht, in denen sie ein eigenständiges Werk bildet. 7  So bereits in der Überschrift des betreffenden Kapitels; vgl. Chronique d’Ernoul, 431: »De .II. Clercs qui alerent preeschier au Soudain«. 8  Vgl. bezüglich der Faktennähe Peter W. Edbury, »The Lyon Eracles and the Old French Continuations of William of Tyre«, in: Benjamin Z. Kedar/Jonathan RileySmith/Rudolf Hastand (Hgg.), Montjoie. Studies in Crusade History in Honour of Hans Eberhard Mayer, Aldershot/Brookfield 1997,  139–153, insbes.  153; hinsichtlich des Stilurteils vgl.  z  .B.  Leonhard Lehmann, »Franziskanische Existenz unter Sarazenen als ›Interesse‹ (NbR 16) und das Lob Gottes als Brücke zwischen den Religionen«, in: Adrian Holderegger/Mariano Delgado/Anton Rotzetter (Hgg.), Franziskanische Impulse zur interreligiösen Bewegung, Stuttgart 2013, 35–57: 40. Pacifico Sella, »Francesco e il sultano. L’incontro«, Studi Francescani CVIII 2 (2011), 493–507, dort auf 495, sieht diesen Abschnitt freilich »caratterizzato da qualche pia esagerazione«, wenngleich auch er der Chronique »una certa affidabilità di fondo a quanto narra« bescheinigt; ebd., 498. 9  Exemplarisch sei hier Niklaus Kuster, »Der eine Gott und die vielen Religionen. Die universale Vision des Franz von Assisi«, in: Holderegger/Delgado/Rotzetter (Hgg.), Franziskanische Impulse, 13–34, genannt. 10  Vgl. Anna Ajello, »I frati minori e i saraceni nel XIII secolo«, Studi Francescani CVIII 2 (2011), 477–491: 477 und passim. 11  Keinesfalls sollen mit dieser philologisch-historischen Feststellung, Beiträge aus anderen Blickwinkeln, die Franziskus als Beispiel einer kulturübergreifenden Verständigung heranziehen, geschmälert werden, vgl. Alfonso Marini, »Storia contesta-

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nicht anders als spannungsgeladen, ja dramatisch gewesen sein, vereinte es doch Protagonisten zweier grundsätzlich verschiedener Kulturen, Religionen und Gesellschaften.12 Im Folgenden soll deshalb eine historisch-philologische Verortung des sich im eingangs angeführten Zitat herauskristallisierenden Kerngehaltes dieser Darstellung des Franziskus als Prediger unter Berücksichtigung der weiteren mittelalterlichen Rezeption dieser Begegnung durchgeführt werden. Die hierbei herangezogenen Quellen vereinen in ihrer Konzeption, ihrer Zielsetzung und ihrer Gattungszugehörigkeit sehr unterschiedliche Texte, von Briefen, über Chroniken bis hin zu Heiligenviten und offen literarischen Verarbeitungen. Um sie, gerade bezüglich ihrer historischen Aussagekraft, korrekt verorten zu können, sei an dieser Stelle auf die Spezifizität des mittelalterlichen Geschichtsverständnisses, das in jedem Ereignis ein Resultat göttlichen Lenkens erkennt, hingewiesen: Geschichtsschreibung ist keine reine Wiedergabe geschehener Fakten, da letztere immer auch allegorisch, tropologisch und anagogisch auslegbar sind.13 Zu berücksichtigen ist weiterhin, insbesondere was die sich nicht als reine Chroniken gebärenden Texte anbelangt, daß mittelalterliche Historiographie und Hagiographie sich gegenseitig durchmischten, wobei die Schemenhaftigkeit der Heiligenlegenden dominierte.14 Trotzdem sind letztere nicht ausschließlich unkritisch aufzufassen; vielmehr stellen sie »eine eigene Denkform, die Historisches gar nicht wollte«,15 dar. Freilich sind sowohl das Geschichtsverständnis im Allgemeinen als auch die chronistische Tätigkeit selbst starken Wandlungen unterworfen, die auch den unsere Episode betreffenden Zeitraum tangieren. So ist für das 12. Jahrhundert der Durchbruch einer neuen Form von Historiographie, welche auf der gelehrten Heranziehung und Zusammenstellung von Quel-

ta. Francesco d’Assisi e l’Islam«, Franciscana. Bollettino della Società internazionale di studi francescani 14 (2012),  1–54:  13. Aus ägyptischer Perspektive s. jetzt Azza Heikal, Saint Françoise d’Assise et le Sultan al Kamil, Paris 2018. 12  Vgl.  Edoardo Scognamiglio, Francesco e il Sultano. Lo »Spirito di Assisi« e la profezia della Pace, Padova 2011, 94. 13  Vgl. Hans-Werner Goetz, »Gottes Geschichtshandeln in der früh- und hochmittelalterlichen Vorstellungswelt«, in: Mariano Delgado/Volker Leppin (Hgg.), Gott in der Geschichte: zum Ringen um das Verständnis von Heil und Unheil in der Geschichte des Christentums (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 18), Freiburg/Stuttgart 2013, 131–157: 146 und passim. 14  Vgl. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 42009, 232 f. 15  Ebd., 233.



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len beruht, zu konstatieren.16 Diese dank den Benediktern errungene Kultur der historischen Erudition sollte sodann im folgenden Jahrhundert auch breitere und außermonastische Verbreitung finden.17 Kaum überschätzt werden kann im Rahmen dieses Prozesses die Bedeutung der Entstehung des Notarberufes innerhalb der oberitalienischen Kommunen sowie die der rhetorischen Ausbildung, welche dieser teilweise auch mit politischen Führungsaufgaben ausgestatteten Klasse zuteil wurde.18 Ferner sei darauf hingewiesen, daß sich gerade in der Theologie zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert ein neues Verständnis von Geschichte entwickelte. Hugo von Sankt Viktor ist im Rahmen der von ihm vollzogenen Aufwertung des sensus litteralis, welcher notwendiger Ausgangspunkt innerhalb seiner exegetischen Konzeption ist, eine grundlegende Zuwendung zum historischen Geschehen auch als solchem, begründet in dessen heilsgeschichtlicher Funktion, zu verdanken.19 Sodann wird der eschatologische Fokus der patristischen Geschichtstheologie abgelöst von dem Bewusstsein eines neuen, mit Christus angebrochenen Stadiums der Heilsgeschichte.20 Nach Vorarbeiten Honorius’ von Autun und Anselms von Havelberg zog Joachim von Fiore »aus der Tatsache, daß nach Christus eine unzulängliche und heillose Geschichte weiterlief, die Schlußfolgerung, daß eine wahrhaft geheilte und gute Geschichte erst noch bevorsteht«21. Dieser Gedanke, nicht gleichzusetzen mit Joachims Geschichtsschema tout court, stieß gerade bei den Franziskanern und insbesondere bei Bonaventura auf äußerst fruchtbaren Boden.22 Es ist davon auszugehen, daß er entsprechend auch in der Art, über Geschehenes zu berichten, seinen Niederschlag fand. Denn wenn Begebenheiten der zeitli-

16  Vgl. Bernard Guenée, Histoire et Culture historique dans l’Occident médiéval, Paris 1980, 360 ff. 17  Ebd., 363 f. 18  Vgl. für eine einführende Zusammenfassung Marino Zabbia, »Sulla scrittura della storia in Italia (secoli XIII-XV)«, in: Marino Zabbia (Hg.), Tra storiografia e retorica. Prospettive nel basso medioevo italiano (Reti Medievali Rivista 19/1 (2018)), 547–555, passim. 19  Vgl. Marie-Dominique Chenu, »Les deux âges de l’allégorisme scripturaire au Moyen Âge«, Recherches de Théologie Ancienne et Médiévale 18/2 (1951), 19–28, insbes. 26 f., sowie Dominique Poirel, Hugues de Saint-Victor, Paris 1998, 74 f. 20  Vgl. Joseph Ratzinger, Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura, St. Ottilien 21992 [zuerst 1959; jetzt auch in: ders., Gesammelte Schriften 2: Offenbarungsverständnis und Geschichtstheologie Bonaventuras, hg. Gerhard Ludwig Müller, Freiburg/Basel/Wien 2009, 419–646], 105 f. 21  Ebd., 110. 22  Ebd., passim.

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chen Weltabläufe bereits die Hoffnung des kommenen Heils potentiell in sich bergen konnten,23 war es gewiß angemessen, auch die Art und Weise, in der sie sich zugetragen hatten, getreu festzuhalten. Obgleich die zeitbedingten Umstände eine Vielzahl von Fälschungen ermöglichten und die Exegese des Geschilderten, eben als Ausdruck des göttlichen Willens verstanden, der Kompetenz der Theologen überlassen blieb,24 zeigt sich in den somit auf verschiedenen Ebenen zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert vollzogenen Umbrüchen, daß gerade in dem Zeitraum der hier behandelten Episode die Frage nach einer faktenbasierten Erzählung durchaus Relevanz besaß. Entsprechend signalisiert die Betonung, die Chronisten, Hagiographen und Literaten immer wieder auf die Qualitäten des Franz von Assisi als Prediger just bei der Beschreibung seiner Orientreise legten, dass nicht nur das dialogorientierte Treffen als solches,25 sondern auch dessen inhaltliche Ausformung für die dem Ordensgründer unmittelbar nachfolgenden Generationen bemerkenswert waren und somit eine nähere Untersuchung verdienen.26 II. Die Berichte des Jacques de Vitry Das früheste Zeugnis der Episode verdanken wir dem Akkoner Bischof Jacques de Vitry27, der Franziskus im Herbst 1219 persönlich in Damiette 23  Ebd.,

110. Guenée, Histoire et Culture historique, 361 f. 25  Vgl.  Gwenolé Jeusset, Saint François et le sultan, Paris 22006, 88, der betont, kein weiteres Ereignis aus dem Leben des Heiligen Franziskus sei gleichermaßen bezeugt, »[…] et par les chroniqueurs de l’Ordre, et par des historiens extérieurs. C’est, et par plusieurs d’entre eux, le seul événement mis sur parchemin, du vivant même de François, bien avant que celui-ci dicte son testament«. 26  Um den Rahmen dieses Beitrags nicht zu sprengen, konzentriert sich die folgende Analyse des Berichtes der Chronique nur auf solche der weiteren mittelalterlichen Darstellungen der Episode, welche diese durch die die erstmalige Erwähnung von Begebenheiten beziehungsweise den gewählten Erzählstil signifikant verändern oder aber ihr eine bestimmte Schlüsselposition einräumen. Ebenfalls soll eine Begrenzung auf die ca. ersten 100 Jahre nach dem Ereignis erfolgen. Für eine Zusammenstellung der verschiedenen Berichte s. Girolamo Golubovich, Biblioteca Bio-bibliografica della Terra Santa e dell’Oriente Francescano, I (1215–1300), Quaracchi 1906. 27  Zur Biographie Jacques de Vitrys (~1165–1240) vgl. immer noch Philipp Funk, Jakob von Vitry. Leben und Werke, Leipzig/Berlin 1909; jetzt aber auch Jean Donnadieu, Jacques de Vitry: Entre l’Orient et l’Occident: l’évêque au trois visages, Torn­hout 2015. Einen konzisen Überblick anhand der jüngeren Bibliographie bietet ders., »Introduction«, in: Jacques de Vitry, Historia orientalis. Introduction, édition critique et traduction par Jean Donnadieu, Tornhout 2008, vii-xiv. 24  Vgl.



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trifft.28 Im Postskriptum eines auf Frühjahr 1220 datierbaren29 Briefes an einige Vertraute fasst der Reformprediger das Geschehene knapp zusammen: Magister vero illorum, qui ordinem illum instituit, cum venisset in exercitum nostrum, zelo fidei accensus ad exercitum hostium nostrorum pertransire non timuit et cum aliquot diebus Sarracenis verbum dei predicasset, modicum profecit. Soldanus autem, rex Egypti, ab eo secreto petiit ut pro se domino supplicaret quatinus religioni, que magis deo placeret, divinitus inspiratus adhereret.30

Da alle späteren Quellen in ihren Grundzügen mit der Beschreibung des französischen Predigers übereinstimmen, können wir in den wenigen Angaben dieses vor Tod und Heiligsprechung Franziskus’ geschriebenen Berichtes den historisch gesicherten Kern des Ereignisses31 erkennen: Franz von Assisi suchte zuerst das Heer der Kreuzfahrer auf und ging dann auf eigene Initiative  – »zelo fidei accensus«32  – ins feindliche Lager, um dort Christus zu verkünden. Seine Unternehmung nötigte dem Sultan zumindest Respekt ab und war Jacques eine Notiz wert,33 auch wenn die großen Hoffnungen des furchtlosen Besuchers selbst sich wohl nicht erfüllten.34 Zu bemerken ist, dass der Kanoniker sich in seinem Report 28  Vgl. Pia Gemelli, »Giacomo da Vitry e le origini del movimento francescano«, Aevum. Rassegna di Scienze Storiche – Linguistiche – Filologiche 34/5–6 (1965), 474– 495: 486. 29  Vgl.  Lettres de Jacques de Vitry (1160/1170–1240) évêque de Saint-Jean-d’Acre. Edition critique, hg. Robert Burchard Constantijn Huygens, Leiden 1960, 54. 30  Huygens, Lettres de Jacques de Vitry, VI  bc,  256–270;  132 f. »Als ihr Oberer, der diesen Orden begründete, aber zu unserem Heer gekommen war, fürchtete er sich nicht, von Glaubenseifer entflammt, herüber zum Heer unserer Feinde zu gehen; und obwohl er den Sarazenen einige Tage das Wort Gottes predigte, hatte er wenig Erfolg. Der Sultan, der König Ägyptens, bat ihn jedoch im Geheimen, für ihn beim Herrn zu erbitten, daß er durch göttliche Eingebung sich derjenigen Religion anschließen möge, die Gott am meisten gefalle«. 31  Aufgrund der nicht-franziskanischen Herkunft der Berichte Jacques’ und anderer Quellen, kann der historische Charakter des Ereignisses als sehr wahrscheinlich gelten; vgl. Franco Cardini, »Francesco e il sultano. La storia e il messagio«, in: Nicola Pice/Felice Monetti (Hgg.), Segni del Francescanesimo a Bitonto e in Puglia. Atti del Convegno di Studi (Bitonto, 3–5 giugno 2011), Bari 2012, 73–86: 76 f. 32  Huygens, Lettres de Jacques de Vitry, VI bc, 259; 132. 33  Vgl. Sella, »Francesco e il sultano. L’incontro«, 495: »Ma da essa [scil. la lettera agli amici] si ha semplicemente notizia dell’avvenimento in quanto tale«. 34  Die Zielsetzung der Orientreise Franziskus’ ist ein vieldiskutiertes Forschungsthema, auf das an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann. Eine präzise Zusammenfassung bietet Cardini, »Francesco e il sultano«, passim, der dort erneut die These der »Militärseelsorge« vertritt; die friedensstiftenden und missionarischen Aspekte der Unternehmung betont hingegen Chiara Frugoni, Francesco e le terre dei

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durchaus nicht scheut, ihm fremdartig oder gefährlich anmutende Charakteristika der jungen Ordensgemeinschaft anzusprechen,35 sodass es, angesichts dieses keineswegs unkritischen Ansatzes gegenüber den Minoriten,36 umso auffallender erscheint, dass er die furchtlose Predigt vor den Sarazenen von Beginn seiner Berichterstattung an als eindeutiges Positivum herausstellt. Dies belegt implizit, dass Franziskus sich bei der Begegnung mit dem Sultan nicht auf eine Konfliktthemen und kontroverse Diskussionen vermeidende ›Friedensmission‹ beschränkte,37 sondern offen Christus verkündete: Andernfalls hätte der erfahrene Prediger38 gewiss die ›Erfolglosigkeit‹ der Predigt des Minoriten auf das Abweichen der von ihm selbst gegenüber Andersgläubigen verfolgten Strategie des das Evangelium ohne Umschweife verteidigenden Disputs zurückgeführt,39 erst recht angesichts des begrenzten Empfängerkreises seines Briefes.40 In seiner wenige Jahre (ca. 1225/26) später niedergeschriebenen41 Historia occidentalis geht der Augenzeuge des Kreuzzugs erneut auf die Begebenheit, die offenkundig seine Bewunderung hervorgerufen hat, ein.42 Obgleich sie, der unterschiedlichen Veröffentlichungsform entsprechend, literarisch leicht ausgeschmückt werden (die  – topische  – Charakterisierung des Sultans als wilde Bestie soll die Gefährlichkeit des Unterfangens non cristiani, Milano 2012, passim; eine Erklärung unter Bezug auf die Idee des bellum iustum (in diesem Kontext präsent in der Historia Damiatina Olivers von Köln und später auch bei Thomas von Aquin) zur Erklärung des ambigen Bildes eines einerseits die Feinde retten wollenden, andererseits aber den Kreuzzug befürwortenden Franziskus, wie es aus der Summe der Quellen resultiert, liefert Giancarlo Andenna, »Predicare o combattere«, in: ders./Barbara Bombi (Hgg.), I cristiani e il favoloso Egitto. Una relazione dall’Oriente e La storia di Damietta di Oliviero da Colonia, Genova/Milano 2009, 151–185, dort 176 ff. 35  Vgl. Huygens, Lettres de Jacques de Vitry, VI bc, 242–256; 131 f. und die Analyse von Gemelli, »Giacomo da Vitry«, 487: »Giacomo seppe subito vedere i pericoli di un ideale affidato esclusivamente all’entusiasmo personale, che molto facilmente può degenerare nel fanatismo e nell’anarchia [… e] sembra qui suggerire il sistema del noviziato«. 36  Vgl. Marini, »Storia contestata«, 29. 37  Vgl. etwa Jan Hoeberichts, »Das Missionsverständnis des Franziskus von Assisi. Das Evangelium leben, die Welt durchwandern, den Frieden bringen«, in: Holder­ egger/Delgado/Rotzetter (Hgg.), Franziskanische Impulse, 77–102: insbes. 95 ff. 38  Über den Erfolg Jacques de Vitrys als Prediger vgl. Donnadieu, »Introduction«, Xff. 39  Vgl. Hoeberichts, »Das Missionsverständnis des Franziskus von Assisi«, 95 f. 40  Vgl. hierzu Huygens, Lettres de Jacques de Vitry, 4. 41  Vgl. Donnadieu, »Introduction«, xxiii. 42  Vgl. John Frederick Hinnebusch, The Historia Occidentalis of Jacques de Vitry. A Critical Edition, Freiburg 1972.



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betonen), sind die kolportierten Ereignisse identisch mit denen des oben zitierten Briefes.43 Und wiederum stellt Jacques die Predigt des Franziskus, aufgrund derer al-Kamil hier sogar befürchtet, seine Soldaten könnten zum Christentum konvertieren, in den Vordergrund: Quem [scil. fratrem Francinum] cum ante ipsum [scil. Soldanum] pertraxissent uidens eum bestia crudelis, in aspectu uiri dei in mansuetudine conuersa, per dies aliquot ipsum sibi et suis Christi fidem predicantem attendissime audiuit. Tandem uero, metuens ne aliqui de exercitu suo, uerborum eius efficacia ad dominum conuersi, ad christanorum exercitum pertransirent, cum omni reuerentia et securitate ad nostrorum castra reduci precepit44.

Mag man in der gegenüber dem Brief auffallenden Betonung der missionarischen Früchte des Auftritts auch einen Kompensationsversuch für das in der Zwischenzeit zur Gewissheit gewordene Scheitern des Kreuzzugs erkennen,45 so bleibt die von Jacques de Vitry in dieser Textpassage vollzogene uneingeschränkte Anerkennung der Predigerqualitäten Franziskus’ davon doch unberührt.46 Dabei handelt es sich um ein Lob, das, wohlgemerkt, von einer ob ihrer Eloquenz weithin anerkannten Koryphäe auf diesem Gebiet ausgeht.47

43  In der Tat konstatiert auch eine der jüngeren Franziskus-Monographien: »Il racconto di Giacomo di Vitry risulta [quello] più attendibile«; Grado Giovanni Merlo, Frate Francesco, Bologna 2013, 81. 44  Hinnebusch, Historia Occidentalis, cap. XXXII, 162. »Als er [Bruder Franziskus] vor ihn [den Sultan] geschleppt wurde, wandelte dieser sich von einer wilden Bestie zur Sanftmütigkeit selbst, denn er sah, daß seine Erscheinung die eines Mannes Gottes war. Für einige Tage hörte er ihm sehr aufmerksam zu, während dieser ihm und den seinen den Glauben an Christus predigte. Als er jedoch fürchtete, daß einige aus seinem Heer, von der Wirksamkeit seiner Worte zum Herrn bekehrt, zum christlichen Heere überlaufen könnten, ordnete er an, ihn mit allen Ehren und unter sicherem Geleit zu unserem Felde zurückzuführen«. 45  Vgl. John Tolan, Le Saint chez le Sultan, Paris 2007, 72 f. 46  Andere Autoren (Heinrich von Avranches und Giacomo da Giano) scheuen sich zudem durchaus nicht, von einem Misserfolg Franziskus’ ob der verfehlten Konversion zu sprechen; vgl. Frugoni, Francesco e le terre dei non cristiani, 79. 47  Vgl. Huygens, Lettres de Jacques de Vitry, 4 mit einem Zeugnis des Humbert de Romans; Funk, Jakob von Vitry, 176 ff. mit einem entsprechenden Zitat Vinzenz’ von Beauvais; Ilse Schöndorfer, Orient und Okzident nach den Hauptwerken des Jakob von Vitry, Frankfurt a. M. 1997, 14: »Jakob muss aber auch ein mitreißender Redner und Prediger gewesen sein, einer der einflussreichsten seiner Zeit, sonst wäre die Berufung eines Regularkanonikers in damals relativ unbedeutender Stellung auf den freien Bischofsstuhl von Akkon nicht zu erklären«.

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III. »Ernoul« und Ercales: Ein wortgewaltiger Prediger Der unbekannte Verfasser48 des fraglichen Abschnittes der Chronique hat folglich zumindest einen mit großer Autorität ausgestatteten Vorläufer, wenn er den clerc als wortgewaltigen Redner vor dem Sultan zeichnet. Leider verfügen wir über keine präzisen Angaben bezüglich seiner Identität, noch können wir sagen, woher seine Informationen stammen.49 Aufgrund textinterner Positionierungen darf jedoch ein adeliger Laie aus dem Königreich Jerusalem, der der Entourage Jean de Briennes angehörte, als Autor angenommen werden.50 In jedem Fall ist die zwischen 1227 und 1231 erstellte Schilderung der Ereignisse erheblicher umfangreicher als die Jacques de Vitrys. Dabei stoßen wir auch auf zusätzliche inhaltliche Elemente, von denen einige allerdings dem Narrationstypus verhafteten Klischees zuzuschreiben sein dürften, so etwa die materiellen Offerten des Sultans, die Franziskus zu einem weiteren Verbleib, wenn nicht gar zur Konversion, bewegen sollten.51 Wie bei einer in ständiger Fortschreibung entstandenen und in zahlreichen Handschriften überlieferten mittelalterlichen Chronik nicht anders zu erwarten, erweist sich die Überlieferungsgeschichte der Chronique als äußerst komplex.52 Ihrerseits bereits eine modifizierte Weiterführung der wohl kurz nach 1204 entstandenen Urfassung darstellend, stand die detailreiche Kreuzzugschronik von Beginn für weitere Aktualisierungen offen; ebenso waren aber auch Auslassungen und Kürzungen mit jeder neuen Niederschrift möglich.53 Das von Gaggero und Edbury erstellte Stemma zeigt, dass es in Ermangelung eines Archetypus, unmöglich ist, einen das Original rekonstruierenden Text anhand der das Werk in eigenständiger Form übermittelnden Handschriften zu erstellen.54 Als gesichert gelten 48  Der in den Mss. der Familie I (s. infra) des Stemmas nach Gaggero erwähnte Knappe Balians von Ibelin namens Ernoul ist lediglich als Autor einer bestimmten Episode des Jahres 1187 zu identifizieren, die genauen Umstände der Fortschreibung seiner Chronik sind gänzlich unbekannt; vgl. Edbury, »New Perspectives«,  109. Gaggero, »L’edition d’un texte historique en évolution«, 138 gelangt zu dem Schluss, dass »à la reconstruction d’une volonté d’un auteur on pourrait […] substituer une stratigraphie des differents apports qui ont contribué aux formes du texte transmise par les manuscrits«. 49  So auch das Urteil von Margaret Ruth Morgan, The Chronique of Ernoul and the Continuations of William of Tyre, Oxford 1973, 147 f. 50  Vgl. Tolan, Le Saint chez le Sultan, 79 ff.; Edbury, »New Perspectives«, 109. 51  Vgl. Sella, »Francesco e il sultano. L’incontro«, 495 f. 52  Vgl. Gaggero, »La Chronique d’Ernoul«. 53  Vgl. Edbury, »The Lyon Eracles«, und ders., »New Perspectives«, passim. 54  Vgl. Gaggero, »La Chronique d’Ernoul«.



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dürfen aber die Existenz dreier Familien für die Chronique selbst, Ia (teils 1227, teils 1229 endend), Ib (1229 endend) und IIb (1232 endend, mit dem Bernard le Tésorier erwähnenden Kolophon) sowie die Abstammung aller Handschriften der auf diesen Text rekurrierenden Continuation von einem einzigen Modell.55 So ist unsere Episode in den Textzeugen der Fassung Ia nicht enthalten, weder in F16 (Bern, BB, Ms. 41) und F17 (ebd., Ms. 115), die beide 1227 enden, noch in der von F20 (St. Omer, BM, Ms. 722) übermittelten bis 1229 verlängerten Version.56 Sie findet sich jedoch, sogar mit einer Illustration versehen,57 in F18 (Brüssel, BR, Ms. 11142, ebenfalls bis 1229), die Gaggero aufgrund ihrer strategischen Position als Bindeglied zwischen den Fassungen Ia und II als Grundlage der neuen kritischen Edition bestimmt hat,58 sowie in F19 (Paris, BnF, Ms. fr. 781)59 und somit in der Unterfamilie Ib.60 Zu vermuten ist entsprechend, dass der im Heiligen Land lebende Kompilator dieser Fassung sich auf direkte Berichte aus dem Lager vor Damiette stützen konnte, die Ende der 1220er Jahre zweifelsohne noch kursierten (dem Autor des Antigraphen von Ia aber nicht vorlagen), um diese dann in seine Fortführung der Chronique zu inkorporieren.61 Von dieser Redaktion des Textes aus sollte die Episode sodann in die Continuation gelangen, wenngleich einige Fassungen sie stark komprimierten.62 55  Vgl.

Gaggero, »L’edition d’un texte historique en évolution«, 138. »New Perspectives«,  108 f.; zu den Eckdaten der verschiedenen Redaktionen s. Gaggero, »La Chronique d’Ernoul«. 57  Vgl. Frugoni, Francesco e le terre dei non cristiani, 102. 58  Vgl.  Gaggero, »La Chronique d’Ernoul«. Das Ms. lag bereits der Edition De Mas-Latries und entsprechend dem eingangs verwendeten Zitat zugrunde. 59  Vgl. http://gallica.BnF.fr/ark:/12148/btv1b9058124x/f146.zoom.r=Français%20 781 (zuletzt konsultiert am 05.01.2019); ebd., f. 141v (hier und bei allen nachfolgenden Transkriptionen normalisiere ich u/v und i/j, führe Worttrenung sowie die Verwendung diakritischer Zeichen nach modernem Usus durch und löse die verwendeten Abkürzungen in Klammern auf): »nous vous monsterrons p(ar)devant tous les plus p(re)udo(m)mes de vo tere se vous les mandés que vos lois est niens«. Das Fehlen des »par droite raison« in dieser Textfassung geht wohl auf einen Fehler des Kopisten zurück, vermutlich auf einen saut du même au même [man denke an Graphien wie p(ar)droite und p(ar)deua̅ t]. 60  Vgl. Gaggero, »La Chronique d’Ernoul«. Wir können der Episode somit den Wert einer lectio separativa zwischen Ia und Ib beimessen, die das Stemma Gaggeros und Edburys bestätigt. 61  Über die Möglichkeit der Abwesenheit einer schriftlichen Vorlage äußert sich auch Morgan, The Chronique of Ernoul, 148. 62  Vgl. Golubovich, Biblioteca Bio-bibliografica, 40 f., für ein entsprechendes Beispiel (Paris, BnF, Ms. fr.  352 = F 56). Unsere Episode findet sich ebenfalls im Liber 56  Vgl.  Edbury,

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Die Unkenntnis hinsichtlich der Identität des clerc63 seitens der Chronisten und Kopisten ist dabei ein weiterer Beleg für die von Edbury gezogene Schlussfolgerung, dass die die Chronique selbst übermittelnden Handschriften sowie die eine kürzere Fassung der Fortführung darbietenden Manuskripte einen älteren Zustand des Werkes widerspiegeln als die beiden jeweils um 1240 beziehungsweise 1250 entstandenen längeren Versionen.64 Denn in der Tat präzisiert erstere, die sogenannte rédaction Colbert-Fontainebleau, durch die Textzeugen F73 (Paris, BnF, Ms. fr. 2628)65 und F57 (Paris, BnF, Ms. fr. 2634) auf uns gekommen,66 dass es sich bei dem Besucher im Lager des Sultans um niemand geringeren als den hom, qui comenca l’ordre des Freres Menors, si ot nom frere Franceis, qui puis saintefia et fu mis en auctorité, si que l’en apele saint Franceis67,

handelte. Was die Aktivitäten Franziskus’ anbelangt, tilgt jedoch just diese Fassung, die in Gaggeros Stemma der Unterfamilie d1 entspricht, die Unterredung mit dem Sultan und kommentiert lediglich: … i fist moult de bien, et demora tant que la vile fu prise. Il vit le mal et le peché qui comenca a creistre entre les gens de l’ost,68

um sodann lapidar zu schließen: … fu une piece en Surie, et pui s’en rala en son pais.69

Die somit vorgenommene Ersetzung erklärt sich offenkundig durch die zwischenzeitlich abgeschlossene Kanonisierung des Assisiaten und die entsprechende Ausbreitung seiner Verehrung: Um zu vermeiden, dass die Unterredung mit al-Kamil angesichts des Ausbleibens sichtbarer Missiode acquisitione Terrae Sanctae (1229–1230), einem weiteren Text in lingua d’oeil, der nur in der von Francesco Pipino 1320 erstellten lateinischen Fassung auf uns gekommen ist, welche freilich der Passage der inhaltlichen Auseinandersetzung zwischen den beiden Protagonisten entbehrt; vgl.  Frugoni, Francesco e le terre dei non cris­ tiani, 102 f. 63  Es ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich, dass Franziskus sich in der Epistola ad omnes clericos selbst deutlich als clericus versteht und bezeichnet; vgl. Lothar Hardick, »Gedanken zu Sinn und Tragweite des Begriffes ›Clerici‹ «, Archivum Franciscanum Historicum 1 (1957), 7–26. 64  Vgl. Edbury, »New Perspectives«, 110. Weitere Belege finden sich in Gaggero, »La Chronique d’Ernoul». 65  Diese Handschrift diente als Basis der Edition des Recueil des Historiens de Croisades, Historiens occidentaux, Paris: Imprimerie Impériale 1859, vol. II (nachfolgend Recueil). 66  Vgl. Gaggero, »L’édition d’un texte historique en évolution«, 135. 67  Recueil, 348. 68  Ibid. 69  Ibid.



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nierungserfolge als gescheitertes Unterfangen des ›neuen‹ Heiligen interpretiert werden könnte, wird sie schlichtweg aus der Chronik gestrichen. Zugleich konzentriert der Bericht seine Aufmerksamkeit auf das Fehlverhalten des Kreuzfahrerheeres und verweist mit einer allgemeinen Floskel auf das dennoch exemplarische (fist moult de bien) Wirken Franziskus’. Interessant ist jedoch insbesondere, dass diese massive inhaltliche Substitution zweifelsfrei beweist, dass die anonymen clercs aus der Chronique von einem um 1240 in Akkon agierenden Neu-Arrangeur des sogenannten Eracles (also der Continuation) problemlos als Franziskus und ein weiterer Ordensbruder dekodiert werden konnten.70 Folglich kommt der Tatsache, dass andere spätere Fassungen und Weiterführungen des Textes das Streitgespräch in unveränderter Form beibehalten, herausragende Bedeutung zu: Auch ihren jeweiligen Verfassern muss die fragliche Identifikation des Protagonisten der Episode durchaus nicht schwer gefallen sein, erst recht angesichts der Aufnahme der Begegnung in die zwischenzeitlich veröffentlichten hagiographischen Viten (s. infra). Dennoch gibt die zur rédaction Colbert-Fontainebleau textkritisch kollaterale »rédaction de Lyon«71, die zweite der oben erwähnten längeren Versionen, um 1250 entstanden und übermittelt durch die Textzeugen Florenz, BML, Ms. Plut. XLI.10 (F70) und Lyon,72 BM, Ms. 828 (F72),73 die Unterredung präzise nach dem überlieferten Text der Chronique wieder.74 Wie Gagge70  Gerade die Herkunft dieses Textzeugen lässt die Hypothese, dass die alternative Schilderung des Aufenthalt Franziskus’ lediglich auf einen (vielleicht materiell) fehlerhaften Antigraphen zurückgehen könnte höchst unwahrscheinlich erscheinen: Edbury, »The French Translation«, 85 hat gezeigt, dass die produktive Aktivität in den Skriptorien Akkons die systematische Verwendung nicht fest gebundener Manuskripte zur schnelleren Herstellung eines einzigen Exemplares vorsah. Diese Methode wird von Edbury gerade in Bezug auf F73 belegt: Dem Kopisten wäre es also gewiss nicht schwergefallen, zur Ersetzung eventuell fehlender Blätter schlichtweg auf das betreffende Faszikel eines anderen Kodizes des Skriptoriums zurückzugreifen. 71  Gaggero, »L’édition d’un texte historique en évolution«, 135. 72  Die Varianten dieses Manuskripts werden teilweise im zweiten seitens des Recueil wiedergegebenen Textes, der dem Textzeugen F77 (Paris, BnF, fr. 9082) folgt, wiedergegeben, s. ebd., 346–351. Vgl. bezüglich der ekdotischen Verortung des Lyoner Kodizes Edbury, »The Lyon Eracles«, passim. 73  Ibid. 74  Dort ff. 319v-320r; vgl. http://teca.bmlonline.it/ImageViewer/servlet/ImageView er?idr=TECA0000726776#page/642/mode/1up [zuletzt konsultiert am 05.01.2019]. Mein aufrichtiger Dank gilt Kasser Helou (Paris) für die wertvollen Auskünfte über das das 1290 in Akkon begonnene und nach dem Fall der Stadt im Veneto vollendete Manuskript. Nachfolgend die Transkription des hier im Vordergrund des Interesse stehenden Zitates: »(Et) se vos nos volés oÿr (et) entendre nos vos mostrerons par droite raison devant les plus sages homes de v(ost)re terre q(ue) vos estes tos perdus (et) v(ost)re loi est noient« (f. 320r). Die Edition dieser Handschrift war Objekt von

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ros Stemma zeigt,75 gehört der dieser Redaktion entsprechenden75 mutmaßlichen Unterfamilie d2 ebenfalls die Handschrift Paris, BnF, Ms. fr. 9086 (F50) an, die zunächst der rédaction Colbert-Fontainebleau folgt, die Ereignisse ab dem Jahre 1187 an dann aber gemäß der überlieferten Continuation nachzeichnet.76 Die Begebenheit wird also auch von später verfassten massiv in die Textsubstanz eingreifenden Kopisten gemäß der oben geschilderten Art und Weise tradiert. In der Tat hält sich in diesem Punkt ebenfalls der von Gaggero als hinsichtlich der Continuation als ekdotisch herausragend klassifizierte Textzeuge London, BL, Ms. Yates Thompson 12 (F38)77 exakt an die bereits in der Chronique enthaltene Schilderung der Ereignisse.78 Und auch in der italienischen Heimat der Franziskusbiographien, in welcher das Werk eine durchaus nicht unbedeutende Verbreitung findet,79 ist unverändert weiterhin von dou clercs die Rede, die versuchen, den Sultan in einem vernunftbasierten Disput zu bekehren, wie etwa die um 1295 in der Lombardei entstandene Handschrift Paris, BnF, Ms. fr. 2631 (F74) belegt, wo wir erneut

Helous Dissertationsschrift: Thèse pour obtenir le grade de Docteur de l’Université Paris-Sorbonne, Discipline »Études médiévales«. Présentée et soutennue par KasserAntton Helou le 08 décembre 2017  : Étude et édition de L’Estoire d’Outremer d’après le manuscrit Firenze, Biblioteca Medicea Laurenziana Pluteus LXI.10, f. 274– f. 336. Sous la direction de: Mme Jacqueline Cerquiglini-Toulet – Professeur émérite, Université de Paris-Sorbonne. 75  Vgl. Gaggero, »La Chronique d’Ernoul«. 76  Gaggero, »L’édition d’un texte historique en évolution«, 135. 77  Ibid. 78  Vgl. http://www.bl.uk/manuscripts/Viewer.aspx?ref=yates_thompson_ms_12_ fs001ar (zuletzt konsultiert am 03.01.2019), c. 207r. 79  Außer den in Italien selbst angefertigten Handschriften Mss. und dem nachfolgend erwähnten volgarizzamento [zu denen auch der bereits genannte Textzeuge F77 (Paris, BNF, Ms. fr. 9082), entstanden in Rom, zählt], informieren ebenfalls verschiedene Fragmente und die Bibliotheksinventare der großen signorie über die weite Verbreitung des Textes; vgl. Paolo Rinoldi, »La tradizione dell’Estoire d’Eracles in Italia. Note su un volgarizzamento fiorentino«, in: ders./Gabriella Ronchi (Hgg.), Studi sui volgarizzamenti italiani due-trecenteschi, Rom 2005,  65–97; insbes.  76 ff. Ein literarisches Fortleben des Textes lässt zudem die Verarbeitung just der hier behandelten Begegnung in den Conti di antichi cavalieri vermuten, vgl. Cesare Segre/ Mario Marti (Hgg.), La prosa del Duecento, Milano/Napoli 1959, 550. Auch dort (Novelle XVI) ist tatsächlich nur von »doi fratri cristiani« die Rede; Alberto Del Monte (Hg.), Conti di antichi cavalieri, Milano 1972, 137. Eine Präsenz des Eracles im Novellino ist nach Paolo Rinoldi, »Il saladino in Italia. Materiali per la storia del mito e il racconto dell’adoubement«, Studio Mediolatini e Volgari 49 (2003), 151– 178: 161 (Teil II dieses Aufsatzes findet sich in Heft 50 (2004), 225–250) ebenfalls wahrscheinlich.



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(Et) se vos nos volés oïr (et) entendre nos vos mostrerons par droite raison par devant les plus sages homes de v(ost)re terre que vos estes tous perdus (et) v(ost) re loi est noie(n)s;80

lesen. Ebenso übersetzt das durch den Kodex Florenz, BML, Ms. Plut. LXI.45 überlieferte toskanische volgarizzamento getreu: che se noi volete udire e intendere noi vi mosterremo p(er) diritta ragione i(n) presenza de’ piu savi uomini di vostra terra che voi siete tutti p(er)duti e che vostra legge è niente.81

Auch wenn den Verfassern dieser deutlich späteren Niederschriften der Continuation (das volgarizzamento ist in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu verorten)82 die Identität des christlichen Disputanten eindeutig bewusst gewesen sein muss, wie implizit das Gegenbeispiel der rédaction Colbert-Fontainebleau belegt, sahen sie offenkundig doch keinen Grund, den Charakter der Unterredung zu verändern: Der namentlich nicht genannte Franziskus bleibt ein mutig auftretender apostolischer Prediger, der in einer respektvollen, aber kontrastreichen Debatte den Wahrheitsanspruch der eigenen Religion wortgewaltig behauptet. Die in der Historia occidentalis evozierte Redegewandtheit des Assisiaten, wird in der Chronique und ihren Fortführungen somit durch ein direktes Beispiel illustriert. Mehr noch, Franziskus selbst ist es, der auf die wirkmächtige Kraft seiner Worte verweist und ankündigt, al-Kamil und dessen intellektueller Elite durch eine rationale Argumentation die Falschheit des mohammedanischen Gesetzes beweisen zu können. Diese Betonung der Geisteskraft des hinlänglich eher ob seines Lobes der sancta simplicitas bekannten Heiligen ist gewiss auffallend: Franziskus werden aufgrund des Inhaltes seiner Rede derartige intellektuelle Qualitäten zugestanden, dass sie die Weisheit der gebildeten Entourage des arabischen Herrschers hätten verblassen lassen. Die von Jacques de Vitry erwähnte 80  Vgl. URL: http://gallica.BnF.fr/ark:/12148/btv1b9058863f/f890.zoom.r=fran cais%202631.langDE (zuletzt konsultiert am 03.01.2019], c. 431v. 81  http://teca.bmlonline.it/ImageViewer/servlet/ImageViewer?idr=TECA0000736 253&keyworks=Plut.61.45#page/510/mode/1up (zuletzt konsultiert am 03.01.2019), c. 250v. Die kritische Edition des Textes war Thema der Promotionsschrift von Pantalea Mazzitello, Edizione critica del volgarizzamento fiorentino dell’Estoire d’Eracles (Biblioteca Medicea Laurenziana, ms. Plut LXI.45), Parma 2016. Ich danke der Verfasserin für die großzügigen Informationen über die Handschrift und deren textkritische Verortung. 82  Vgl. Pantalea Mazzitello, »I gallicismi nel volgarizzamento toscano dell’Estoire d’Eracles«, in: Atti del convegno »L’esperienza delle Crociate e gli scambi culturali nel tardo Medioevo«, Milano, 6–7 febbraio 2017 (Rencontres. Civilisations médiévales), Paris, im Druck.

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Wortgewalt des Bettelmönchs wird in der Chronique folglich genauer definiert und auf eine außerordentliche Eloquenz in einem argumentativen Vortrag zurückgeführt.83 IV. Heinrich von Avranches: Die Begegnung als geistliches Heldenepos Weder die offen missionarische Offensive als solche noch ihr auf eine intellektuelle, mit vernunftbasierten Argumenten untermauerte Konfrontation angelegter Inhalt entsprechen verbreiteten Franziskusvorstellungen, die sich oft vorrangig aus den hagiographischen Quellen zu speisen scheinen. In der Tat verzichtet Tommaso da Celano, der erste offizielle Biograph des Heiligen,84 in seiner auf Geheiß Gregor IX. verfassten85 Vita beati Francisci zur gleichen Zeit (1229) darauf, auf den Wortlaut der Predigt vor dem Sultan einzugehen und hebt nur allgemein die facundia des poverello gegenüber den Ungläubigen hervor.86 Jedoch entsteht vor dem Hintergrund dieser recht trockenen ersten hagiographischen Skizze des Aufeinandertreffens zwischen dem Bettelmönch und dem Herrscher eine literarische Repräsentation der Begebenheit,87 welche den Gehalt der Predigt des Franziskus weiter aus83  Vgl.  auch den weiten semantischen Rahmen von »raison« Robert Martin s.v. »raison«, in: DMF 2015 [http://www.atilf.fr./dmf, zuletzt konsultiert am 07.03.2015]: »IV: Faculté d’argumenter, de bien juger; p. méton. attitude, comportement que cette faculté induit; lieu de cette faculté, l’esprit; A: Faculté d’argumenter, de bien juger, de discerner le vrai du faux, le bien du mal, ensemble des facultés intellectuelles considérées dans leur état normal de fonctionnement, bon sens, entendement, jugement«. 84  Über das Leben des um 1215 in den Franziskanerorden eingetretenen Biographen († 1260) ist nur wenig bekannt; vgl. Raimondo Michetti, Francesco d’Assisi e il paradosso della minoritas. La Vita beati Francisci di Tommaso da Celano (Nuovi Studi Storici 66), Rom 2004, 28 ff. für einen kurzen Überblick. 85  Michetti, Francesco d’Assisi e il paradosso della minoritas, 7 ff. 86  Vgl. Thomae de Celano Vita prima sancti Francisci, I, XX, 57, hg. Enrico Menestò et  al., Assisi 1995,  332: Sed quis enarrare sufficiat, quanta coram eo mentis constantia consistebat, quanta illi virtute animi loquebantur, quanta facundia et fiducia legi christianae insultantibus respondebat? Vgl. Egidio Forcellini/Giuseppe Furlanetto, Lexicon Totius Latinitas, konsultiert auf http://linguax.com/lexica/ (zuletzt konsultiert am 03.01.2019), s.v.: Facundus appellatur, qui facile et eleganter dicit. 87  An der Darstellung Celanos in der Vita Sancti Francisci orientieren sich zudem grundlegend die entsprechenden Passagen im Reimoffizium des Jordan von Speyer, in einer zwischen 1250–1256 entstandenen anonymen Vita, in der Cronaca von Giordano da Giano sowie im Laetabundus des Thomas von Capua, dem einzigen liturgischen Text, der die Episode aufgreift; vgl. Tolan, Le Saint chez le Sultan, 117. Zu



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schmückt und detaillierter wiedergibt als jede andere uns vorliegende Quelle. Wiederum werden dabei seine Qualitäten in der Führung rationaler Debatten und im Überzeugen des Gegenübers durch eine intellektuell stringente Argumentation hervorgehoben und nun eindeutig bis ins Unwahrscheinliche übersteigert, erscheint der Heilige hier doch gar als sich des scholastischen Diskussionsstils bedienender Gelehrter. Bei besagtem Text handelt es sich um die Legenda versificata des Poeten und Rhetoriklehrers Heinrich von Avranches.88 Dieses auf das Jahr 1230 datierbare und Gregor IX. gewidmete Werk89 gibt nicht einfach die Vita beati Francisci Celanos in Versform wieder, sondern präsentiert deren Inhalte, mit zusätzlichen Elementen versehen, als geistliches Heldenepos.90 Francesco Marzella zufolge manifestiert sich die heroische Dimension des Franziskus am deutlichsten in seiner Ankunft im christlichen Lager vor Damiette sowie in der folgenden Predigt vor dem Sultan. Heinrich ist dabei der einzige unter den die Episode behandelnden Autoren, der die von Franziskus in der Unterredung angeführten Argumente einzeln und mit einem Anspruch Recht hat Emanuela Prinzivalli, »Un santo da leggere. Francesco d’Assisi nel percorso delle fonti agiografiche«, in: Maria Pia Alberzoni (Hg.), Francesco d’Assisi e il primo secolo di storia francescana, Torino 1997, 70–116: 78, darauf hingewiesen, dass die Bedeutung der Vita Sancti Francisci als einzige auf päpstlichen Wunsch hin entstandene Franziskusbiographie nicht unterschätzt werden sollte. Wie erst in jüngerer Zeit durch ein von der Bibliothèque Nationale de France erworbenes Manuskript (N.A.L. 3245) nachgewiesen werden konnte, verfasste Tommaso unter dem Generalat von Elia da Cortona (1232–1239) zudem eine Neubearbeitung des Textes, die eine Zwischenstufe zwischen dieser ersten Fassung und der späteren Vita Secunda darstellt; vgl. Jacques Dalarun, »La vita del beato padre nostro Francesco«, Frate Francesco, n. s., 81 (2015), 289–386. 88  Zu Leben und Werk von Heinrich von Avranches (1187/88 oder 1189/90– 1262/63) s. Konrad Bund, »Studien zu Magister Heinrich von Avranches VI: Die Vita des Dichters und ein Dichterstreit um die Metra, Papst Gregor IX. und die Legenda Versificata S. Francisci 1230«, Mittellateinisches Jahrbuch 49/2 (2014), 225– 297, sowie die dort (226) genannten Studien des an einer Gesamtedition Heinrichs arbeitenden Autors. 89  Ebd., 281. 90  Ebd.,  262, s.  zu diesem Aspekt auch Francesco Marzella, »La predica di Francesco al Sultano nella Legenda sancti Francisci versificata di Enrico di Avranches«, in: Gloria Larini (Hg.), Controversie. Dispute letterarie, storiche, religiose dall’Antichità al Rinascimento, Padova 2013, 167–193: 268 und passim, erw. Fassung v.  dems., »Il doctor disertus dal rex persarum. Francesco e il Sultano nella Legenda sancti Francisci versificata di Enrico di Avranches«, Nuova rivista storica 116/2 (2012), 375–398, sowie Tolan, Le Saint chez le Sultan, 127 ff. Die epische Dimension des Werkes erkannte zuerst Michael Bihl, »De Legenda versificata s. Francisci auctore Henrico Abrincesni«, Archivum Franciscanum Historicum 22 (1929), 3–53: 24; s. weiterhin Giuseppe Cremascoli, »I classici nella Legenda sancti Francisci versificata di Enrico di Avranches«, Studi Medievali 3, 40 (1990), 523–534.

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auf Vollständigkeit wiedergibt.91 Dies geschieht allerdings nicht in Form eines wirklichen Streitgespräches, sondern durch eine rhetorisch profilierte Rede des Protagonisten, die in ihrer Struktur dem Credo nachempfunden zu sein scheint:92 Der Poverello erläutert die fundamentalen Glaubensinhalte des Christentums als ob er ein Philosoph oder, wie Heinrich selbst, ein Magister wäre,93 im Stile dessen, der von vorneherein weiß, die Wahrheit auf seiner Seite zu haben.94 Dabei bedient er sich gar der aristotelischen argumentativen Beweisführung, wie durch den entsprechenden terminus technicus ›syllogizat‹ (v.  150) signalisiert wird.95 Marzella zeigt in seinem Artikel überzeugend auf, dass die von Heinrich in dieser Passage verwendeten Lexeme eindeutig auf das Ambiente der Lehre und der akademischen Diskussion verweisen: Franziskus lehrt mit Eloquenz (docet ore diserto, v. 174), lässt durch seine Worte die Wahrheit in sein Publikum einfließen (insinuet, v.  152), widerlegt die ›Schule‹  – und nicht, wie bei Ernoul, das ›Gesetz‹  – Mohameds (scholam Machometi damnat, v.  153), argumentiert und erbringt gegenüber seinen Gegnern Beweise (probat, v.  154) für die dogmatischen Fundamente des christlichen Glaubens.96 Es fällt nicht schwer, diese Stelle als rein literarische Ausschmückung97 zu identifizieren: Der anglonormannische Magister stilisiert »seinen Heros in Kategorien des gesellschaftlichen Selbstverständnisses der ritterlich-höfischen Welt als heldenhaften Kämpfer (fortis miles) wider das Böse und die Sünde«98. Die Qualitäten als Prediger und das theologisches Wissen werden bei Heinrich ergo zu einem intellektuellen Schwert, das Franziskus zum Triumph über seine Feinde verhilft. Ohne hier im Detail auf die dornige Frage der persönlichen Bildung Franziskus’ eingehen zu können, sei angemerkt, dass diese zwar die unmittelbar der Vita Sancti Francisci zu entnehmenden Informationen überstiegen haben wird, dabei aber keinesfalls doktrinäre Kenntnisse beinhaltete.99 Wie 91  Marzella,

»La predica di Francesco al Sultano«, 169. 182–186. 93  Ebd., 182. 94  Vgl. Frugoni, Francesco e le terre dei non cristiani, 94. 95  Vgl. Marzella, »La predica di Francesco al Sultano«, 183. 96  Ebd., 182. 97  Zu diesem Vorgehen Heinrichs s.  Bund, »Studien zu Magister Heinrich von Avranches«, 261–262. 98  Ebd., 66. 99  Bezüglich der Bedeutung der von Franziskus selbst verwendeten und auch in der Vita beati Francisci zitierten Bezeichnung als idiota vgl. das Urteil von Attilio Bartoli Langeli, »Le radici culturali della ›popolarità‹ francescana«, in: Il francesca92  Ebd.,



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Attilio Bartoli Langelis Studien der Franziskus-Autographen100 gezeigt haben, ist vielmehr von einem ›mittleren‹ Bildungsniveau auszugehen, das den praktischen Bedürfnissen eines seiner merkantilen Herkunft gemäß gebildeten alphabetisierten illitteratus entsprach.101 Auch wenn mit Recht angenommen werden darf, dass sich der Bildungsstand des Ordensgründers im Laufe der Jahre erweiterte102 und sich die Originalität und Ausdruckskraft seiner Textproduktion als umgekehrt proportional zu seinen begrenzten handschriftlichen und (lateinischen) sprachlichen Fähigkeiten entwickel­

nesimo e il teatro medievale. Atti del convegno nazionale di studi, San Miniato, 8–9– 10 ottobre 1982, Castelfiorentino 1984, 41–58, der diese Selbstdefinition als eine »rivendicazione della propria cultura« (ebd., 56) bezeichnet, aber s. auch Anselmo Mattioli, » ›Idiota‹. Mancanza di cultura o amore di ritiratezza? Note di lessicografia francescana«, Il Santo 27 (1987), 121–144, passim. 100  Zuletzt inklusive umfassender Bibliographie: Attilio Bartoli Langeli, »Fran­ cesco d’Assisi«, in: Giuseppina Brunetti/Maurizio Fiorilla/Marco Petoletti (Hgg.), Autografi dei letterati italiani. Le Origini e il Trecento, t. I, Roma 2013, 171–179. 101  Vgl. Attilio Bartoli Langeli, »Gli scritti da Francesco. L’autografia di un illitteratus«, in: Frate Francesco d’Assisi. Atti del XXI Convegno Internazionale, Assisi, 14–16 ottobre 1993, Spoleto 1994,  101–159:  121 f., und ders., Gli autografi di frate Francesco e di frate Leone, Turnhout 2000, insbes. 23 ff. Vgl. hinsichtlich des Bedeutungswandels der Begriffe litteratus/illitteratus im 12. Jh., bei dem ersterer auf eine universitäre Formation hinweist, John Raymond Shinners/William J. Dohar, Pastors and the Care of Souls in Medieval England, Notre Dame/Indiana, 34 f. 102  Vgl. Pietro Messa, Le fonti patristiche negli scritti di Francesco d’Assisi. Prefazione di Giovanni Miccoli, Assisi 1999, 113. Messa demonstriert in seiner Studie überzeugend die diesbezügliche Bedeutung der Brevierrezitation, durch die Franziskus patristische und andere Autoren indirekt kennenlernen konnte; ebd.,  200–202 und passim. Ebenso ist davon auszugehen, dass Franziskus mit der Diakonenweihe zumindest gewisse theologische Grundkenntnisse erhielt, wie es das IV. Laterankonzil, dessen Reformkonstitutionen er unterstützte, vorsah. Für die Bestimmungen des Konzils hinsichtlich der Ausbildung des Klerus vgl.  Michele Maccarrone, » ›Cura animarum‹ e ›parochialis sacerdos‹ nelle costituzioni del IV concilio lateranense (1215). Applicazioni in Italia nel sec. XIII«, in: Pievi e parrocchie in Italia nel Basso Medioevo (sec. XIII-XV). Atti del VI Convegno di storia della Chiesa in Italia (Firenze, 21–25 sett. 1981), Roma 1984,  81–195, insbes.  81 ff.,  106 ff.,  130 ff. Franziskus als Diakon ist durch Tommaso da Celano dokumentiert; vgl. Thomae de Celano Vita prima, I, XXX, 86 (361). Sicherlich wird auch die Aufnahme einiger gebildeter fratres in den Orden von 1214–1215 an nicht ohne Einfluss auf Franziskus geblieben sein. In den Sinn kommt hier natürlich unmittelbar Cäsarius von Speyer, der bei der Ausarbeitung der Ordensregel entscheidend mitwirkte; vgl. Gianfranco Contini, »Un’ipotesi sulle ›Laudes creaturarum‹ «, in: ders., Varianti e altra linguistica, Torino 1970, 141–159: 156 [zuvor in: Rendiconti dell’Accademia Nazionale dei Lincei. Classe di Scienze Morali, Storiche e Filologiche, s. VIII, 43/3–4 (1963), 179–194]. Eine Standortbestimmung zur kulturellen Formation Franziskus’ findet sich in Carlo Paolazzi, Lettura degli »Scritti« di Francesco d’Assisi, Milano 22004, 48 ff.

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ten,103 ist die Zeichnung der Predigt vor dem Sultan als ›Dogmatiklektion‹, gerade unter Berücksichtigung der nicht vorhandenen theologischen Formation des Heiligen, sicherlich als literarische Ergänzung Heinrichs mit dem Ziel der Demonstration der Außergewöhnlichkeit Franziskus’ zu betrachten.104 Die Beschäftigung mit theologischen Feinheiten überlässt der Minoritengründer bewusst den entsprechend ausgebildeten Spezialisten,105 gewiss nicht nur aus Demut und realistischer Selbsteinschätzung, sondern auch aufgrund seines expliziten Willens zur Orthodoxie und zum Gehorsam gegenüber Rom.106 Freilich, eine inhaltliche Basis für die Darstellung Franziskus’ als gelehrter Magister liefert letztlich bereits die Chronique: »par droite raison«  – »c’est à dire, par argumentation logique«.107 Der altfranzösische Text stimmt also in seiner Grundaussage mit Heinrichs Schilderung überein, wobei der gemeinsame inhaltliche Kern durchaus von den älteren Zeugnissen Jacques de Vitrys und zudem sogar von einer muslimischen Quelle, einer Biographie des ägyptischen Theologen und Juristen Fakhr ad-din al-Fàrisi, die von einem ›erinnerungswürdigen Erlebnis‹ des Intellektuellen mit einem christlichen Religiosen berichtet,108 gestützt wird: Es gab eine Diskussion über den wahren Glauben zwischen Franziskus und dem Sultan beziehungsweise dessen Beratern, bei der es dem Minderbruder in irgendeiner Form gelang, seine Mitdisputanten durch sein Auftreten zumindest zu beeindrucken.109 Stellt die systematisch-argumentative Predigt der Legenda versificata gewiss eine dichterische Freiheit Heinrichs dar, so erscheint eine schlichte Berufung Franziskus’ auf grundlegende 103  Vgl. Bartoli

Langeli, »Francesco d’Assisi«, 176. Manselli, »Henri d’Avranches e l’Islam«, in: ders., Scritti sul Medioevo, Rom 1994, 251–262: 259 [zuvor bereits in Renato Traini (Hg.), Studi in onore di F. Gabrieli nel suo LXXX compleanno, II, Roma 1984, 459–467]. 105  Vgl. Bartoli Langeli, »Le radici culturali della ›popolarità‹ francescana«, 45–46. 106  Vgl. Messa, Le fonti patristiche, 335–337. 107  Tolan, Le Saint chez le Sultan, 82. 108  Vgl.  Francesco Gabrieli, »San Francesco e l’oriente islamico«, in: Espansione del francescanesimo tra Occidente e Oriente nel secolo XIII: atti del VI convengo internazionale, Assisi, 12–14 ottobre 1978, Assisi 1979, 105–122, insbes. 116 ff. Zweifel an dieser auf Louis Massignon zurückgehenden Identifikation Franziskus’ mit dem dort erwähnten Missionar vermeldet Tolan, Le Saint chez le Sultan, 23; 455 ff.; dafür spricht sich Marco Bartoli, »Ma Francesco ha davvero incontrato il sultano?«, La porta d’oriente 3 (2007), 25–33: 31 f., aus. Roberto Rusconi, »Francesco d’Assisi, santo«, in: Dizionario biografico degli Italiani, Bd. 49, Rom 1997, 664–678: 668, nennt die Erwähnung »una labile traccia« der Begegnung. 109  Vgl. Sella, »Francesco e il sultano«, 497 f., der sogar von einem »successo, quasi sicuramente insperato« Franziskus’ spricht. 104  Vgl.  Raoul



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Glaubensdogmen plausibel,110 zumal wir wissen, dass ihn der in Paris und Mainz Theologie lehrende Cäsarius von Speyer und der ebenfalls ob seiner Bildung bekannte Pietro Cattani auf der Orientreise begleiten.111 Im Übrigen sind auch in der Legenda versificata die vom Sultan zusammengerufenen Weisen Zuhörer der dogmatischen Streitrede, was eine Kenntnis der Chronique seitens des anglonormannischen Dichters vermuten lassen könnte.112 V. Bonaventura da Bagnoregio: Die Begegnung als exemplum Angesichts der Parallelen zwischen den vorgenannten Texten ist es umso interessanter zu beobachten, dass die im Jahre 1266 zur einzig offiziell gültigen Franziskusvita deklarierte Legenda Maior des Bonaventura da Bagnoregio die Erzählung von der Predigt Franziskus’ vor Malik al-Kamil signifikant verändert. Die wesentliche Innovation des Doctor seraphicus besteht dabei in dem vor allem aufgrund seiner bildlichen Darstellungen populären Bericht113 über eine von Franziskus nach seiner Predigt dem Sultan vorgeschlagenen Feuerprobe: Quodsi haesitas propter fidem Christi legem Mahumeti dimittere, iube ignem accendi permaximum, et ego cum sacerdotibus tuis ignem ingrediar, ut vel sic cognoscas, quae fides certior et sanctior non immerito tenenda sit.114

Die Entscheidung über den Besitz der Glaubenswahrheit obliegt also nicht mehr der besseren Argumentation. Die islamischen Geistlichen entziehen sich der Herausforderung sofort und der Sultan verwehrt Franziskus aus Angst vor einem Volksaufstand sogar, sich alleine den Flammen

»De Legenda versificata«, 39. Le fonti patristiche, 136; s. aber auch Hilarin Felder, Geschichte der wissenschaftlichen Studien im Franziskanerorden, Freiburg i. Br. 1904, 73. 112  Vgl. Marzella, »La predica di Francesco al Sultano«, 179 f. Auch die Kenntnis zusätzlicher Quellen Heinrichs könne jedoch nicht ausgeschlossen werden, so weiter Marzella. 113  Vgl.  Frugoni, Francesco e le terre dei non cristiani,  25 f., sowie das komplette Kapitel V: Il peso delle immagini, 125–151. 114  Bonaventurae de Balneoregio Legenda maior sancti Francisci, IX, 8, 9, hg. Stefano Brufani Menestò et  al. (Fontes franciscani 861), Assisi 1995. »Wenn Du aber zögerst, das Gesetz Mohameds zugunsten des Glaubens an Christus abzulegen, so befehle, dass ein möglichst starkes Feuer entzündet werden möge; und ich werde mit Deinen Priestern in dieses Feuer treten, so daß Du erkennen mögest, welcher Glaube mit vollem Recht als gewisser und heiliger zu erachten ist«. 110  Vgl. Bihl,

111  Vgl. Messa,

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zu stellen.115 Diese Version scheint auf den ersten Blick der von Heinrich von Avranches und dem Verfasser der Chronique, im Grunde aber auch von Jacques de Vitry und Tommaso da Celano geschilderten ›vernunftbasierten‹ Konfrontation diametral gegenüberzustehen. Wie von Sr. Mary Malone nachgewiesen, ist für ein korrektes Verständnis der modifizierten Erzählung Bonaventuras jedoch ein Blick auf das komplette neunte Kapitel der Legenda Maior unabdingbar.116 Denn die vom Generalminister des Ordens bekanntermaßen konsequent weiterverfolgte Identifizierung des Gründers mit Christus selbst wird an dieser Stelle im Element der Sorge Franziskus’ um das Heil der anderen sichtbar gemacht. Sowohl die Orientreise als solche, als auch das dem Sultan vorgeschlagene ordalium, welches sich in die das besagte Kapitel beherrschende Feuer- und Liebesmetaphorik einfügt, wollen entsprechend als Ausdruck des Wunsches der völligen Einswerdung mit Christus gelesen werden.117 Innerhalb dieses Verständnisrahmens erscheint somit auch die Predigtaktivität vor dem Sultan sowohl als ein aus dem Bedürfnis den Nächsten zu Christus zu führen entstandener Akt der Liebe, als auch als ein weiterer Schritt auf dem Weg zur konsequenten christoformitas. Auch die Erzählung von der Bereitschaft zur Feuerprobe erschließt sich vor dem Hintergrund der tieferen theologischen Bildsprache der Legenda Maior, welche die Etappen zur mystischen Einheit mit Gott in einem »Liebesbrand« gemäß Bonaventuras eigenem Itinerarium mentis in Deum nachzeichnet.118 So erklärt sich ebenfalls der Kontrast zu den früheren Quellen: Der spätere Kirchenlehrer möchte an dieser Stelle gezielt die eschatologische und theologische Dimension der Orientreise Franziskus’ verdeutlichen.119 Dies wird implizit durch Bonaventuras Erwähnungen des Ereignisses im De S. Patre Nostro Francisco, sermo II und in den Collationes in

115  Bonaventurae Legenda maior sancti Francisci, IX, 8, 14: Soldanus autem optionem accipere se non audere respondit, quia seditionem populi formidabat […]. 116  Vgl.  Mary Malone, »Il desiderio di martirio di Francesco d’Assisi nella Le­ genda Maior di Bonaventura di Bagnoregio«, Studi Francescani 108/2 (2011), 509– 524. 117  Malone, »Il desiderio di martirio«, insbes. 518. 118  Vgl. Prinzivalli, »Un santo da leggere«, 107. 119  Dabei leugnet Bonaventura keineswegs, dass Franziskus dem Sultan gegenüber auch argumentiert habe; vgl. Bonaventurae Legenda maior, IX, 8, 6: Tanta vero mentis constantia, tanta virtute animi tantoque fervore spiritus praedicto Soldano praedicavit Deum trinum et unum, et Salvatorem omnium Iesum Christum, ut evangelicum illud in ipso claresceret veraciter esse completum: ›Ego dabo vobis os et sapientiam cui non poterunt resistere et contradicere omnes adversarii vestri‹ (Lk 21,15).



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Hexaëmeron bestätigt.120 Ihre didaktische Ausrichtung rückt diese beiden Texte in die Nähe der Bonaventura im Liber exemplorum Ordinis Minorum des Ms. BAV, Ottob.Lat. 522 als Wiedergabe des Augenzeugenberichtes von Frate Illuminato zugeschriebenen Erzählungen, in denen Franziskus zwei ihm vom Sultan gestellte Proben unter explizitem Verweis auf die Differenz zwischen Ungläubigen und Christen löst.121 Wie Pacifico Sella gezeigt hat, sollen diese beiden exempla den Brüdern als Anregungen zur Kreuzzugspredigt dienen.122 Die Feuerprobe in der Legenda maior erfüllt eine ähnliche Funktion bei unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtung: Ein allgemeines zur Nachahmung empfohlenes Konzept, die sich verzehrende Gottesliebe des Heiligen, wird anhand eines konkreten Beispiels verdeutlicht. Diese gegenüber dem hagiographischen Text vorgenommene inhaltliche Zuspitzung, erklärt auch, warum Bonaventura in den Collationes und dem sermo II den Sultan eine philosophische Debatte über den Glauben vorschlagen lässt, die Franziskus unter Verweis auf die Unfassbarkeit desselben für die Vernunft ablehnt: Nur wenn man bereits über den Glauben verfüge, könne er mithilfe der ratio erfasst werden. Auch die Argumente der Heiligen Schrift setzten den Glauben voraus.123 In beiden Texten verweigert der Sultan wiederum die von Franziskus vorgeschlagene Feuerprobe. Im sermo II ist er jedoch so tief vom Glauben des Heiligen beeindruckt, dass er innerlich die christlichen Glaubenswahrheiten anerkennt.124 Der didaktische Charakter dieser Erzählungen Bonaventuras ist, angesichts des veränderten Zielpublikums,125 offenkundig und die Aussage des exemplums tritt eindeutig hervor: Die Philosophie taugt nicht, um die Ungläubigen zum christlichen Glauben zu führen.126 120  Vgl.  Bonaventurae de Balneoregio De s. patre nostro Francisco, sermo II, in: Doctoris seraphici s. Bonaventurae Opera omnia, t. IX, Ad Claras Aquas (Quaracchi), Typographia collegii s. Bonaventurae, 1901,  575–582, und dess. In Hexaëmeron, III, vii, ed. Ferdinandus Delorme, Ad Claras Aquas, Florentiae Typographia collegii s. Bonaventurae, 217. 121  Vgl.  Livarius Oliger, Liber exemplorum fratrum minorum saeculi XIII (excerpta e cod. Ottob. Lat. 522), Antonianum 2 (1927), 203–276, 250 f. zu beiden Berichten. 122  Vgl. Sella, »Francesco e il sultano«, 504 f. 123  Vgl. Bonaventurae De s. patre nostro Francisco, 579: ›Fides nostra est super rationem et ratio non est efficax nisi credenti, et non possum arguere per sacram Scripturam, quia ipsi non credunt sacrae Scripturae‹. 124  Ebd., 580: Et ex illa hora habuit fidem christianam impressam in corde suo. 125  Vgl. Sella, »Francesco e il sultano«, 504 ff. 126  Vgl. Tolan, Le Saint chez le Sultan, 217 f.

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VI. Franziskus, der concionator Es ist offenkundig, dass der ungewöhnliche Charakter des Treffens vor Damiette in der Tat von allen Texten betont wird.127 Die Quellen stimmen überein, dass, in welcher Form auch immer, eine dialogbasierte und keineswegs auf einen Austausch von Höflichkeitsfloskeln limitierte, sondern die Glaubensdifferenzen vielmehr deutlich aufzeigende Begegnung zwischen Franziskus und dem Sultan stattfand, bei der Franziskus, der simplex und illitteratus, einen nachhaltigen Eindruck auf seine gebildeten Kontrahenten hinterließ.128 Zu berücksichtigen ist dabei freilich, dass – auch wenn es angesichts der heute zumeist mit Franziskus verbundenen (und sicherlich nicht falschen) Vorstellungen der Liebe zu den Armen, zur Schöpfung und zum Frieden überraschen mag  – für die Zeitgenossen und die dem Assisiaten unmittelbar nachfolgenden Generationen die Fähigkeiten als mitreißender Prediger zu den maßgeblichen Charakteristika seines Wirkens gehörten.129 Vor diesem Hintergrund entbehren die von dem französischen Chronisten Franziskus in den Mund gelegten Worte durchaus nicht an Wahrschein127  Vgl.  Ajello, »I frati minori e i saraceni«,  477. Es sei darauf hingewiesen, dass das Erstaunen kreierende Element die Art und Weise beziehungsweise der Ausgang der Unterredung gewesen sein werden und nicht die Tatsache eines »interreligiösen Dialoges« als solche. Schon Michele Maccarrone, Studi su Innocenzo III (Italia Sacra. Studi e Documenti di Storia Ecclesiastica 17), Padova 1972, 120 ff. erinnert an diplomatische Friedensverhandlungen, die Papst Innozenz III. persönlich mit dem Sultan aufnahm. Hinsichtlich weiterer Kontakte zwischen Christen, wie Oliver von Köln, und Malik al-Kamil s.  Tolan, Le Saint chez le Sultan,  24, sowie Andenna, »Predicare o combattere«, 156 ff. sowie, bezüglich der später von Friedrich II. erzielten zwischenzeitlichen Einigung, 182 ff. An die weite Verbreitung von von gegenseitigem Verständnis geprägten Kontakten zwischen Muslimen und Christen zur Zeit der Kreuzzüge verweist Cardini, »Francesco e il sultano«, 80 f. 128  Vgl. Sella, »Francesco e il sultano«, 498. Hinsichtlich des durchaus nicht irenischen Charakters des Zusammentreffens vgl.  Gabrieli, »San Francesco e l’oriente islamico«, 115. 129  Vgl.  Carlo Delcorno, »Origini della predicazione francescana«, in: Francesco d’Assisi e Francescanesimo dal 1216 al 1226, Atti del IV Convegno internazionale, Assisi, 15–17 ottobre 1976, Santa Maria degli Angeli-Assisi 1977,  125–160, dort 128 ff., wo der Autor auch auf die sehr frühe bildliche Darstellung des Heiligen in der Heiligen Grotte von Subiaco verweist, die ihn ebenfalls als Prediger repräsentiert. Dass die Predigt bereits zu den Charakteristika der frühen fraternitas gehörte, zeigt auch das Gewicht, das ihr in der den ›leonischen‹ Quellen zugehörenden De inceptione vel fundamento Ordinis et actibus illorum fratrum Minorum qui fuerunt primi in religione et soci Beati Francisci beigemessen wird; vgl. Marco Bartoli/Alfonso Marini, Da Assisi al mondo. Storia e riflessioni del primo secolo francescano, Trapani 2010, 41 f.



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lichkeit. Über ein entschiedenes Auftreten mit dem Versuch, das Publikum durch eine direkte Ansprache zu überzeugen (»que vostre lois est niens« stellt vermutlich dennoch, angesichts der generellen Tendenz zur Vermeidung direkter Polemik in den Schriften des Franziskus,130 eine Überspitzung dar) und von effektvollen, fast an die Ankündigung einer theatralischen Darbietung gemahnenden an die Zuhörer gerichteten Aufforderungen (»Se vous nous volés oïr et entendre«) berichten in der Tat auch die auf uns gekommene Zeugnisse über Franziskus als öffentlichen Redner.131 Zu denken ist hierbei etwa an die in der bekannten Bezeichnung des Heiligen als giullare di Dio hervortretende Aufnahme gauklerhafter Vortragsmodi und Ausdrucksweisen,132 an die Verwendung von Gesten sowie an die herausragende Rolle des exemplums bei der Predigt.133 Einen äußerst wertvollen Augenzeugenbericht hinsichtlich dieser Charakteristika verdanken wir Thomas von Split, der Franziskus zu Mariä Himmelfahrt 1222 in Bologna hörte. Der Chronist und spätere Archidiakon bezeugt, dass Franziskus stilistisch und technisch somit einen typischen Vortragsmodus der politischen Redner, der concionatori, wählte.134 Gerade in diesem Stil liegen die volkstümlichen und schauspielerhaften Züge seiner Predigt begründet.135 Besonderes Augenmerk verdient die Einleitung der Passage, in der Thomas den Begriff der concionatori einführt:

130  Vgl. Delcorno, »Origini della predicazione francescana«, 136. Möglich ist natürlich auch ein »Lernprozess« des Heiligen, der gerade durch die Erfahrungen der Orientreise ausgelöst wurde, wie Jeusset, Francesco e il Sultano,  120 ff. vermutet. Dies würde auch die Abweichungen zwischen dem von Jacques de Vitry in der Historia occidentalis, Kapitel XXXII, geschilderten Auftreten der Franziskaner und den Anweisungen des Ordensgründers im 16. Kapitel der Regula non bullata erklären. 131  Vgl. Raoul Manselli, »Il francescanesimo come momento di predicazione e di espressione drammatica«, in: Il francescanesimo e il teatro medievale. Atti del convegno nazionale di studi, San Miniato, 8–9–10 ottobre 1982, Castelfiorentino 1984, 121–133, insbes. 122, 129. 132  Vgl.  Carlo Paolazzi, »Francesco d’Assisi, la ›lode‹, il Cantico e la letteratura volgare«, in: Il francescanesimo e il teatro medievale. Atti del convegno nazionale di studi, San Miniato, 8–9–10 ottobre 1982, Castelfiorentino 1984, 71–120: insbes. 117 f. 133  Vgl. Manselli, »Il francescanesimo come momento di predicazione«, 123–125. 134  Vgl. Enrico Artifoni, »Gli uomini dell’assemblea. L’oratoria civile, i concionatori e i predicatori della società comunale«, in: La predicazione dei frati dalla metà del ’200 alla fine del ’300, Atti del XXII Convegno internazionale di Assisi, 13–15 ottobre 1994, Spoleto 1995, 141–188: 161 ff. 135  Vgl. Delcorno, »Origini della predicazione francescana«, 150 f.; Bartoli Langeli, »Le radici culturali della ›popolarità‹ francescana«, 43.

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… de his enim tribus spiritibus racionalibus [scil. Angeli, homines, demones] ita bene et discrete proposuit, ut multis literatis, qui aderant, fieret admiracioni non modice sermo hominis ydiote.136

Die Rede Franziskus’ muss folglich formal durchdacht gewesen sein; andernfalls ließen sich das Erstaunen und die Anerkennung der anwesenden literati nicht erklären.137 In der Tat entsprechen auch die gauklerhaften Elemente, die seine Predigt unterstützen, die vorgespielten Szenen genauso wie Details seiner Kleidung, einer bewusst eingesetzten Strategie, um sein Publikum durch einen innovativen und gänzlich individuellen Stil emotional zu berühren.138 Franziskus konzipiert, so Carlo Delcorno, die Predigtaktivität nicht als eine vermittelbare Technik, sondern als ein immer neues und unvorhersehbares »Spiel«139. Die logische Schlussfolgerung ist, dass Franziskus sehr wohl, wenngleich sicherlich unterstützt von einigen gebildeten Mitbrüdern, in der Lage war, seinen Vortrag dem jeweiligen Publikum gemäß anzupassen, nicht anders, als er es de facto auch in seinen Schriften tat. Dank Gianfranco Contini wissen wir, dass Franziskus diese je nach Genre und Adressatenkreis auf stilistisch unterschiedlichen Ebenen verfasste und entsprechend den Gebrauch des cursus variierte.140 So fehlt der cursus etwa in den an private Empfänger gerichteten Epistolae, wie in der an Bruder Leone oder in der Ad quendam Ministrum, während er in den an ein Kollektiv gerichteten Briefen durchgängig respektiert wird.141 Auch die Laudes creaturarum lassen inhaltlich und formell eine sehr bewusste Kon-

136  Zitiert nach: Ex Thomae Historia pontificum Salonitanorum et Spalatinorum, hg. Lothar von Heinemann, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptorum, XXIX, Hannoverae 1892,  568–598: 580. »Von diesen drei vernunftbegabten Wesen (Engeln, Menschen und Dämonen) trug er so trefflich und präzise vor, dass viele Gebildete, die anwesend waren, mit nicht geringer Bewunderung die Predigt des ungebildeten Mannes wertschätzten«. 137  Vgl. Artifoni, »Gli uomini dell’assemblea«, 161. 138  Vgl. Delcorno, »Origini della predicazione francescana«, 156–158. 139  Delcorno, »Origini della predicazione francescana«, 158. 140  Vgl. Contini, »Un’ipotesi sulle ›Laudes creaturarum‹ «, passim. 141  Contini, »Un’ipotesi sulle ›Laudes creaturarum‹ «, 152–156. Ebenfalls wird der cursus in der für Honorius III. vorbereiteten Regula bullata konsequenter durchgeführt als in der Regula non bullata, was natürlich als intentional zu werten ist und zudem erneut die Vermutung einer Entstehung in Kollaboration mit den gebildeten Mitbrüdern des Franziskus nahe legt  – »ovviamente si pensa subito a Cesario da Spira«, so Contini selbst bezüglich der Konzeption der Regula non bullata.



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zeption und Wahl der Ausdrucksform erkennen.142 Warum sollte Franziskus bei mündlichen Vorträgen grundsätzlich anders vorgegangen sein und auch diese, gegebenenfalls von den gelehrten Ordensbrüdern unterstützt, nicht stilistisch auf ihre jeweiligen Adressaten zurechtgeschnitten haben? Dieser Frage kommt im Hinblick auf die Begegnung mit Malik al-Kamil umso stärkeres Interesse zu, berücksichtigt man, dass der Heilige, wie erwähnt, just von Cäsarius von Speyer auf seiner Orientreise begleitet wurde.143 Bei aller literarischen Phantasie Heinrichs von Avranches  – dass Franziskus den Inhalt seiner Predigt mithilfe seiner Berater an den an philosophische Disputationen gewöhnten Adressaten orientierte, ist nur wahrscheinlich, auch wenn allein schon die Sprachbarriere zwischen ihm und Malik al-Kamil vermuten lässt, dass die Form seines dann wohl von professionellen Übersetzern ins Arabische übertragenem Vortrags144 der der Bologneser piazza entsprach und entsprechend die dramatischen, extralinguistischen Stilmittel der ars concionandi umso stärker ausspielte.145 VII. Dante Alighieri: Die Predigt vor dem Sultan als Werk der Nachfolge Christi Versuchte Franziskus vor Malik al-Kamil also etwa tatsächlich das mohammedanische Gesetz mit vernunftbasierten Argumenten, »a droite raison«, zu widerlegen? Eine direkte Polemik erscheint, mit Blick auf den Inhalt der Franziskusschriften,146 wie schon gesagt, unwahrscheinlich und 142  Vgl. Paolazzi,

»Francesco d’Assisi, la ›lode‹, il Cantico«, 94. Le fonti patristiche, 136. 144  Vgl.  Gabrieli, »San Francesco e l’oriente islamico«,  115. Gabrieli scheint das Französische als Sprache der vor dem Sultan gehaltenen Predigt zu präferieren, hält aber auch das Lateinische sowie das heimatliche volgare Franziskus’ für möglich. Delcorno, »Origini della predicazione francescana«, 141, vermutet, dass Franziskus außerhalb der Italia mediana möglicherweise in einer Mischsprache aus Latein und volgare predigte. 145  Es erscheint durchaus plausibel, dass gerade die einfache und mitreißende Sprache einer mit apostolischem Eifer vorgetragenene Rede [vgl. Felder, Geschichte der wissenschaftlichen Studien, 33 f.], dem Sultan zumindest Respekt abnötigte. Diese Idee stimmt im Übrigen auch mit dem Zeugnis Tommaso da Celanos überein; vgl. Felice Accrocca, Un santo di carta. Le fonti biografiche di san Francesco d’Assisi, Milano 2013, 90: »La sua era una predicazione infuocata, che penetrava nell’intimo dei cuori e riempiva di ammirazione le menti di tutti« [das Kapitel des Bandes erschien zuvor unter dem Titel La Vita beati Francisci di Tommaso da Celano. Un’opera elevata e complessa, Frate Francesco 70 (2004), 481–501]. 146  Für den Wert der Scritti des Heiligen zur Ableitung möglicher Predigtinhalte vgl. Delcorno, »Origini della predicazione francescana«, 135–136. 143  Vgl. Messa,

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entspringt wohl eher dem ›epischen‹ Blickwinkel des französischen Chronisten.147 Delcorno weist jedoch darauf hin, dass die Epistola ad fideles, die bedeutendste franziskanische Predigt-summa, implizite, aber starke antikatharische und antiwaldesische Akzente enthält und sich die Beziehung zu den Ungläubigen bei Franziskus analog zu der zu den Häretikern gestaltete.148 Einerseits habe Franziskus faktisch das Kreuzzugsideal durch seinen Gewaltverzicht überwunden, anderseits aber in der radikalsten Form überhaupt, nämlich im in der Predigt vor dem Sultan als Krönung der sequela Christi gesuchten Martyrium, realisiert.149 Wie aber kommt es nun, dass ein Großteil der die Episode behandelnden Texte gerade die menschliche Geisteskraft dieser Predigt in den Vordergrund stellt, während Bonaventura die Begegnung doch, wie gesehen und wohl dem verbreiteten Franziskusbild viel eher entsprechend, als exemplum für den den Verstand übersteigenden Glauben präsentiert? Ich glaube, dass eine weitere literarische Erwähnung der Aufsehen erregenden interreligiösen Begegnung einen Schlüssel sowohl zur Auflösung dieses vermeintlichen Widerspruchs,150 als auch zum Verständnis des Nexus ›Franziskus als Prediger‹ / ›intellektueller Triumph‹ bietet, und zwar die Verse 100–105 des XI. Gesangs151 von Dantes Paradiso: 147  Vgl.  hinsichtlich dieser Aspekte in den altfranzösischen Kreuzzugschroniken Bernard Hamilton, The Leper King and his Heirs. Baldwin IV and the Crusader Kingdom of Jerusalem, Cambridge 2000, 9. 148  Vgl. Delcorno, »Origini della predicazione francescana«, 138. 149  Delcorno, »Origini della predicazione francescana«, 139. Zu der Idee einer spirituellen Überwindung des Kreuzzugsideals bei Franziskus s.  Franco Cardini, » ›Nella presenza del soldan superba‹. Bernardo, Francesco, Bonaventura e il superamento spirituale della crociata«, in: ders., Nella presenza del soldan superba. Saggi francescani, Spoleto 2009, 41–91 [zuvor unter dem Titel: » ›Nella presenza del soldan superba‹. Bernardo, Francesco, Bonaventura e il superamento spirituale dell’idea crociata«, Studi francescani 71 (1974), 199–250]. Auch die Friedenspredigt des Franziskus bewegt sich nach Raimondo Michetti, »François d’Assise et la paix révélée. Réflexions sur le mythe du pacifisme franciscain et sur la prédication de paix de François d’Assise dans la société communale du XIIIe siècle«, in: Rosa M. Dessi (Hg.), Prêcher la paix et discipliner la société. Italie, France, Angleterre (XIIIe–XVe siècle), Turnhout 2005, 279–312, zwar außerhalb einer irdischen Logik, ist aber nicht der Strategie der Kreuzzüge als solcher entgegengesetzt, sondern vielmehr als eine spirituelle Entwicklung derselben von einer anderen Warte aus zu verstehen. 150  »Vermeintlich«, weil es sich letztlich um ein bewusst gelebtes, inhärent christliches Paradoxon handelt, was bereits von Gregor IX. in der Kanonisierungsbulle Mira circa nos (1228) explizit in Bezug auf Franziskus in seiner Funktion als Prediger thematisiert wird; vgl. Prinzivalli, »Un santo da leggere«, 77 f. 151  Für einen ersten Gesamtüberblick über die komplexe Problematik von Par. XI und die zahlreichen Studien zum Verhältnis Dante-Franziskus s.  Lucia Bodecchi,



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E poi che, per la sete del martiro, ne la presenza del Soldan superba predicò Cristo e li altri che ’l seguiro, e per trovare a conversione acerba troppa la gente e per non stare indarno, redissi al frutto de l’italica erba152.

Hierbei ist zunächst die Bedeutung, die Dante der Begebenheit als solcher einräumt, herauszustellen. Dantes Thomas von Aquin in den Mund gelegte biographische Skizze Franziskus’ geht auf bestimmte Charakteristika und mit dem Heiligen unweigerlich verbundene Thematiken sehr ausführlich ein, gibt jedoch nur wenig konkrete Episoden aus dessen Leben wieder. Hauptquelle153 seiner Franziskusvita ist, nach allgemeiner Auffassung, die Legenda maior Bonaventuras.154 Umso auffallender ist es, dass der Dichter aus dem zahlreichen Material seiner Quelle just das Treffen mit Malik al-Kamil auswählt und dieses Ereignis sowie die Darstellung des Ordensgründers als Prediger155 somit populären Episoden wie der San Francesco nella Commedia di Dante, Ravenna 2013 und die dort angeführte Bibliographie. 152  Dante Alighieri, La Commedia secondo l’antica vulgata, hg. Giorgio Petrocchi, Milano 1967, vol. IV, 184 f. 153  Vgl.  das Urteil von Andrea Mazzucchi, »Per una geneologia della sapienza. Lettura di Paradiso, XI«, Rivista di Studi Danteschi 9/2 (2009),  225–261, dort  226, der vor einer unnötigen Vervielfachung der von Dante zur Konstruktion seiner Franziskusvita herangezogenen Quellen warnt. 154  So auch Anna Maria Chiavacci Leonardi, »Il Francesco di Dante«, in: dies., Le bianche stole. Saggi sul »Paradiso« di Dante, Firenze 2010, 83–95, insbes. 86 [zuvor in: Stefano Brufani/Enrico Menestò (Hgg.), Assisi anno 1300, Santa Maria degli Angeli  – Assisi 2002, 517–529] und Emilio Pasquini, »San Francesco in Dante«, in: ders., Fra Due e Quattrocento. Cronotopi letterari in Italia, Milano 2012, 95–104, insbes. 99. Ein entscheidendes Indiz bei der Identifikation der dantesken Quelle ist die wie in der Legenda maior von der historischen Realität abweichende chronologische Abfolge von Orientreise und Rombesuch; es können aber auch Entsprechungen zwischen zahlreichen Formulierungen nachgewiesen werden; vgl. Bodecchi, San Francesco nella Commedia, 313 ff. Paola Nasti, Favole d’amore e »saver profondo«. La tradizione salomonica in Dante, Ravenna 2007, insbes. 182 ff. zeigt zudem, ohne die Nähe der Erzählung Dantes zur Franziskusvita Bonaventuras zu bestreiten, interessante Bezüge zum Sacrum commercium Beati Francisci cum Domina Pauperate auf. Eine Kenntnis seitens des Dichters von Bonaventuras Collationes in hexaëmeron, welchen entsprechende Relevanz für das korrekte Verständnis von Par. XI zukäme, ist die Grundthese von Teodoro Forcellini, Fonti teologiche francescane della Commedia di Dante (Medioevo Francescano  – Opera Prima 1), Spoleto 2018, der jüngsten Untersuchung hinsichtlich der von Dante verwendeten franziskanischen Quellen. 155  Die Bedeutung unserer Episode in diesem Zusammenhang sowie den spezifischen Wert, den Dante der Predigt Franziskus’ beimisst (»predicò« ist sogar ein ha-

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Vogelpredigt oder der Begegnung mit einem Leprakranken156 vorzieht. Nicht minder bemerkenswert erscheint, dass der Dichter das spektakulärste und, wie die Darstellungen in der bildenden Kunst zeigen, bereits zu seiner Zeit bekannteste Element dieser Begegnung, die Feuerprobe,157 jedoch mit keinem einzigen Vers erwähnt. Dante betont vorrangig zwei Aspekte bezüglich der Orientmission des Heiligen: Zum Einen unterstreicht der Dichter natürlich  – und hier folgt er Bonaventuras Legenda maior ganz und gar  – den der sequela Christi, wie aus der die entsprechenden Lexeme in den Hauptakzent des Verses setzenden Metrik (pre|di|cò |Crìs|to e |li al|tri che ‘l |se|guì|ro) und der übergeordneten syntaktischen Konstruktion (beginnend mit der »sete del martirio« und endend mit den Stigmata), in welche die Begebenheit eingewoben ist, resultiert. Zum Anderen aber erfüllt Franziskus diese christoformitas hier gerade als Prediger, wobei sich zeigt, dass seine Anwesenheit in Italien zur Bekämpfung der Häresien wertvoller ist als outremer,158 eine Idee, die wir im Übrigen schon bei Heinrich von Avranches antreffen.159 Seine Überzeugungskraft, die efficacia verborum Jacques de Vitrys, bringt geistliche Früchte: Franziskus bewirkt eine konkrete Veränderung in seinem Gegenüber und wenn dieses, wie der Sultan und seine Berater,160 pax in der Commedia), zeigt insbesondere Concetto del Popolo, »Gregorio IX e il dittico di Par. XI-XII«, in: ders., »Noi leggevamo un giorno …«. Parole. Lingua. Esegesi, Alessandria 2011, 43–66, auf. In die gleiche Richtung weisen die Studien von Giuseppe Ledda, »Modelli agiografici nella formazione religiosa e nell’opera letteraria di Dante, relazione presentata al Seminario internazionale Dante’s Intellectual Formation – University of Notre Dame, Notre Dame in Rome – Roma, 13–14 marzo 2014«, online zu finden auf: https://www.academia.edu/8741891 (zuletzt konsultiert am 04.01.2019). Allgemein zum Verhältnis zwischen Dante und der zeitgenössischen Predigttradition s. nunmehr Nicolò Maldina, In pro del mondo. Dante, la predicazione e i generi della letteratura religiosa medievale, Rom 2018. 156  Vgl. die jeweiligen Kapitel I, 5 (Kuss eines Leprakranken) und XII, 3 (Vogelpredigt) der Legenda maior. 157  Vgl. Frugoni, Francesco e le terre dei non cristiani, 125–151. 158  Man vergesse nicht, dass für Dante der Islam als eine häretische Abspaltung aus dem Christentum hervorgegangen ist, wie aus der Präsenz Mohammeds unter den Schismatikern in Inf. XXVIII hervorgeht (vgl. Paola Locatin, »Maometto negli antichi commenti alla ›Commedia‹ «, L’Alighieri 20 (2002), 41–75: 41): Die Aktivität Franziskus’ im Orient unterscheidet sich folglich inhaltlich kaum von der Bekämpfung der Häresien in Italien. 159  Vgl.  Manselli, »Henri d’Avranches e l’Islam«,  255. Zu einem möglichen Einfluss Heinrichs auf Dante s. Giovanni Nencioni, »Note dantesche«, Studi Danteschi 40 (1963), 7–56: 25–30. 160  Hinsichtlich der mangelnden Bereitschaft des Sultans das Wort Gottes zu empfangen, begründet in der superbia des Herrschers – eine Hinzufügung Dantes gegen-



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schlicht noch nicht reif (»acerbo«161) für die Ernte ist, besteht sein Zeugnis im Akt der Predigt selbst. Dantes Poesie unterstreicht diese Bedeutung der furchtlosen Rede vor dem Sultan durch die stilistische und prosodische Konstruktion des Verses: Man bemerke das eröffnende und durch die Einführung des ersten finiten Hauptverbs den Spannungsbogen lösende predicò, den deutlichen Zusammenhang von Handlung und Inhalt im eine soeben generierte Erwartung direkt wieder auflösenden Aufeinandertreffen vor der Zäsur von predicò und Cristo, die zu diesem Zweck eingeführte Verlangsamung des Verses zum Hauptakzent auf der vierten Silbe, die den Namen des Heilands gleichsam triumphierend herausbrechen lässt, die Markierung der Nachfolge durch die Betonung von seguiro im zweiten Hauptakzent sowie die den Vers als solchen hervorhebende interne Assonanz: Die Predigt stellt für Dante ein direktes Werk im Auftrag Christi dar, sodass folglich Franziskus’ diesbezügliche Qualitäten nachhaltig betont werden. VIII. Der sermo humilis des Franziskus als Audruck »salomonischer« Weisheit Angesichts der in der Kritik des Gesanges oft im Vordergrund stehenden Diskussion um das Verhältnis zwischen Franziskus und »Madonna Povertà« mag die Zeichnung des Heiligen mit Zügen eines kämpferischen Predigers an dieser Stelle auf den ersten Blick überraschend anmuten. Ruft man sich jedoch den narrativen Kontext von Paradiso XI in Erinnerung, so erscheint die Evokation dieses Aspekts nur allzu logisch: Wir befinden uns im Sonnenhimmel, in dem Dante auf die spiriti sapienti trifft. Die Herausstellung der ›intellektuellen Qualitäten‹ Franziskus’ ist entsprechend alles andere als erstaunlich. Warum aber fungiert gerade Franziskus als Beispiel herausragender Geisteskraft? Zur Beantwortung dieser Frage muss unter anderem bedacht werden, dass die wahre Weisheit für Dante, Thomas von Aquin und der über den verwendeten Quellen; vgl. Umberto Bosco, »Il canto XI del Paradiso (marzo 1964)«, in: Lectura Dantis Scaligera, Firenze 165, 387–418 [dann in: ders., Dante vicino, Caltanissetta/Rom 1966, 316–341]: 400 f. – erlaube ich mir auf Matthias Bürgel, »Note sulla superbia del sultano (Paradiso XI, 101)«, Bollettino Dantesco per il Settimo Centenario 5 (2016), 27–44 zu verweisen. 161  Zur Bedeutung des Adjektivs acerbo innnerhalb der Semantik der Commedia s. Emilio Pasquini, »Una postilla per maturi-acerbo (Inf. XIV 48 e XXV 18)«, in: Isabella Becherucci et al. (Hgg.), L’entusiasmo delle opere. Studi in memoria di Domenico De Robertis, Lecce 2012, 521–525.

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von diesem angeführten biblischen Tradition folgend, in einer intellektuellen Zurücknahme liegt, die sich der Grenzen des menschlichen Verstandes bewusst ist: Ubi humilitas, ivi sapientia, zitiert der Aquinate just bezüglich der Frage der affektiven Wahrheitserkenntnis das salomonische Buch der Sprichwörter (11, 2),162 was einen wertvollen Schlüssel zum vollständigen Verständnis des Gesanges und nicht zuletzt zu der der Demut Franziskus’ entgegengesetzten Hochmut (superbia) des Sultans liefert.163 Paola Nasti hat gezeigt, inwiefern gerade die Figur König Salomons Dantes Idealbild von wahrer Erkenntnis und praktisch angewandter, in göttlicher Liebe verankerter Weisheit entspricht:164 Die Weisheit des im cielo del sole selbst präsenten Salomons ist für Dante in dessen Demut angelegt.165 Die der franziskanischen Tugend schlechthin in diesen canti eingeräumte Bedeutung liefert eine wesentliche Begründung für die Anwesenheit Franziskus’ ausgerechnet im cielo dei sapienti.166 In der Tat belegt Nasti in ihrer Studie anhand konkreter Textbezüge, dass die Brautmetaphorik des Salomon zugeschriebenen Canticum canticorum in Par. XI dazu dient, das für Dante offenkundige gemeinsame Element der intellektuellen Erfahrung Bonaventuras, der Handlungen des Assisiaten und der Weisheit Salomons darzulegen und zu enthüllen: Für alle drei eröffnet die amor Dei den Weg zur Erkenntnis höherer Wahrheiten.167 Gerade das Bewusstsein um die Grenzen menschlichen rationalen Verstehens im demütigen Erkennen der eigenen Begrenztheit, lässt Franziskus, wie einst Salomon, auch intellektuell durch eine außerordentliche Form ›wahren Wissens‹ reüssieren. Der Gründer des Minoritenordens, die ›seraphische‹ Verkörperung spiritueller Perfektion, welche sich in der Allegorie der mystischen bräutlichen Vereinigung und dem in dem Erhalt der Stigmata vollzogenen excessus mentis realisiert, kann so zu einem Spiegelbild Christi, des göttlichen Wortes selbst werden, um welches herum sich die Mani162  Vgl. Thomae de Aquino Summa Theologiae, II-II, qu 162, ar 3, ra 1 [zitiert nach: Opera omnia, iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita, t. X, cura et studio fratrum eiusdem ordinis, Romae, Ex Typographiae Polyglotta, 1899, p. 316]: Alia autem est cognitio veritatis affectiva. […] Unde et Proverb. xi dicitur: ›Ubi humilitas, ibi sapientia‹. 163  Vgl. Bürgel, »Note sulla superbia del sultano«, 42 ff. 164  Vgl. Nasti, Favole d’amore e »saver profondo«, 165 ff., 214 ff. und passim. 165  Ebd., 217. 166  Vgl. aber auch Carlo Paolazzi, »Francesco e i frati minori nella Commedia«, Testo, 61/62 (2011), 35–43: 43. 167  Vgl. Nasti, Favole d’amore e saver »profondo«, 193; Hinsichtlich der übernatürlichen Quelle der Weisheit Franziskus’ sowie seiner Einordnung durch Dante als »Kirchenlehrer« s. zudem Felder, Geschichte der wissenschaftlichen Studien, 59.



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festationen kultureller Brillanz im Sonnenhimmel gruppieren und das fähig ist, das Geschenk der göttlichen Weisheit zu erhalten.168 Es ist gewiss anzunehmen, dass Dante Franziskus auch als Prediger als von dem Bewusstsein, diese höhere, auf Christus selbst hindeutende Form der Wahrheit zu vertreten, erfüllt ansieht. Denn die demütige Zurückhaltung Salomons manifestiert sich für die mittelalterlichen Kommentatoren des Hoheliedes gerade im Stil dieses Textes, der freilich die Komplexität inhaltlicher Wahrheiten keineswegs ignoriert, sondern einen Aufstieg zu letzteren mittels eines entsprechenden Interpretationsprozesses überhaupt erst ermöglicht.169 Für Beda Venerabilis etwa ist die salomonische, aus den Schriften den Königs ableitbare Weisheit just aufgrund des in ihnen identifizierbaren sermo humilis ein ethisches und rhetorisches Modell.170 Es scheint somit, dass Dante mit der Reminiszenz der Begegnung mit dem Sultan den Prediger Franziskus in diese salomonische Tradition einreiht und bewusst auf diese hin bezogen gestaltet. Dabei geht die Begründung dieser Operation deutlich über eine Annäherung der beiden spiriti sapienti rein aufgrund ihrer Demut hinaus. Erinnern wir uns noch einmal an den Bericht Thomas von Splits und die dort vollzogene Klassifizierung der Vortragsart Franziskus als modus concionandi. Es handelt sich hierbei um einen Begriff, der im Mittelalter nicht nur auf die klassische Rhetorik (die pseudociceronianische Ad Herennium), sondern auch auf Salomon selbst zurückgeführt wurde.171 So erklärt Jacques de Dinant, von 1247– 1259 Bischof von Arras, in seiner Ars arengandi, dass der König des Volkes Israel diese Bezeichnung aus seiner Klugheit heraus für die eigene Person vorgenommen habe: Nomen concionatoris fuit ipsius prudentissimi Salomonis, qui Salomon Ecclesiasten se voluit nominare. Dicitur enim ecclesiastes secundum linguam Hebraycam [!] concionator.172

Salomon-Ecclesiastes (Kohelet), der vor der Versammlung sprechende Mann, ist also das Modell des concionatore, eben des politischen Redners, und in dieser Funktion als Idealbild in der mittelalterlichen Literatur fest verankert. Entsprechende Belege für diese mit Isidor von Sevilla einsetzen-

Forcellini, Fonti teologiche francescane, 5, 21 ff. und passim. Favole d’amore e »saver profondo«, 227 f. 170  Ebd., 220. 171  Vgl. Artifoni, »Gli uomini dell’assemblea«, 181 ff. 172  Zitiert nach ebd., 181 f., n. 86. 168  Vgl.

169  Vgl. Nasti,

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de Tradition173 finden sich von Alkuin von Tours über Rupert von Deutz, Honorius von Autun und Hugo von Sankt Viktor bis hin zu Bonaventura.174 Es ist also nicht nur die praktische Weisheit des Franziskus, die einem modus operandi Salomons entspricht, sondern auch der beiden gemeinsame Redestil der concionatores. Der Kontext der Episode (der Schauplatz im Sonnenhimmel und die Präsenz Salomons)175 lässt es sehr plausibel erscheinen, dass der dem Sultan Christus predigende Franziskus für Dante das idealtypische kontemporäre exemplum dieses Rednertyps verkörperte. Auch wenn Dante den Verlauf der Unterredung mit Malik al-Kamil nicht beschreibt, kann vor diesem kulturellen Hintergrund davon ausgegangen werden, dass er sich einen im sermo humilis sprechenden Franziskus vorstellt, der gerade aufgrund dieser Bescheidenheit aber selbst die intellektuelle Herausforderung am Hof des Sultans meistert. Folglich ist es die salomonische Tradition, die den Prediger-Franziskus Dantes in Übereinstimmung mit dem Zeugnis des Thomas von Split bringt. Auch für den Autor der Commedia war der Heilige bei der Predigt ein concionator.176 Die demütige Weisheit des Franziskus, die ihre Wirkung ebenfalls auf den Sultan und seine Berater nicht verfehlte, ist für Dante identisch mit der des alttestamentarischen Königs, was auch erklärt, warum er gerade diese Episode für seine Franziskusvita auswählt: Sie dient als exemplum der praktischen, eben »salomonischen« Weisheit des Heiligen, für den die von ihm selbst in der Salutatio virtutum evozierte regina sapientia und die sancta simplicitas unzertrennliche Schwestern sind.177

173  Vgl.  Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum, ed. W. M. Lindsay, Oxford 11911, 41971, VI, 2: Secundum librum Coheleth vocavit, qui Graece Ecclesiastes dicitur, Latine Contionator, eo quod sermo eius non specialiter ad unum, sicut in Proverbiis, sed ad universos generaliter dirigatur. 174  Vgl. Artifoni, »Gli uomini dell’assemblea«, 182–187. 175  Bereits in Par. X, 109–114, weist Thomas von Aquin Dante auf die Anwesenheit Salomons hin. 176  Wie die Studie Artifonis zeigt, ist die Kenntnis dieses Rednertyps allgemein geläufig. Auch Thomas von Split muss entsprechend keine Schwierigkeiten gehabt haben, die passende Kategorie zur Einordnung des Vortragsstils Franziskus’ zu finden. 177  Vgl. Carlo Paolazzi, »Francesco, la teologia e la ›Lettera a frate Antonio‹ «, in: Guido Ravaglia (Hg.), Antonio uomo evangelico. Convegno di studi nell’VIII Centenario della nascita e nel 50° di proclamazione a Dottore della Chiesa (Bologna, 22–23 febbraio 1996), Padova 1997, 39–61; insbes. 54.



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IX. Eine der Vernunft zugängliche Predigt der geoffenbarten Wahrheit Wenn nun die clercs in der Chronique »par droite raison« vor dem Sultan argumentieren, so ist zu überlegen, ob damit nicht auch der anonyme Autor dieses Textes auf das biblisch begründete Modell der concionatores anspielt. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass der altfranzösische Chronist literarische Ausschmückungen durchführt und so ebenfalls mit dieser Formulierung ein topisches Motiv antiislamischer Polemik, die Irrationalität des mohammedanischen Gesetzes,178 aufnimmt. Es kann jedoch als wahrscheinlich gelten, dass sein Bezug auf eine intellektuelle, mit dem Verstand zulänglichen Argumenten geführte Diskussion als solche entweder auf ihm direkt vorliegende Informationen oder aber auf eine intelligente Interpretation des bloßen Faktums seinerseits zurückgeht und dass für ihn im einen wie im anderen Fall daraus die Evidenz der Rede eines concionators vor dem Sultan resultiert. Wie sonst sollte der Besuch zweier, dem Chronisten noch nicht einmal namentlich bekannter Geistlicher bei Malik al-Kamil, bei dem diese offenbar einen tiefen Eindruck auf den Herrscher hinterlassen hatten, abgelaufen sein, wenn nicht nach dem ihm gewiss vertrauten Vorbild des politischen Redners, der sich am biblischen Modell des stilistisch zurückhaltenden, deshalb aber nicht minder tiefe Wahrheiten verkündigenden Autor des Ecclesiastes orientierte? Die christlichen Verkündiger hatten dem Sultan offensichtlich durch eine stilistisch einfach gehaltene, aber überzeugend dargelegte und durch ihre eigene amor Dei von göttlicher Weisheit beseelte Rede Respekt abverlangt. Das entspricht in der Tat genau dem, was sich aus dem Franziskus in der Chronique zugeschriebenen Zitat ableiten lässt: Die Satzstruktur und die verwendeten Lexeme sind schlicht, aber semantisch präzise und die Gesamtaussage eindeutig. Zugleich verweist das entschiedene Auftreten des Redners auf ein apostolisches Selbstverständnis, das die Überzeugung umfasst, eine tiefe theologische Erkenntnis zu besitzen, die aufgrund ihrer grundlegenden Verwurzelung in der göttlichen Wahrheit die rein weltlichintellektuelle des Gegenübers übersteigt. Filtert man diese Kernbotschaft aus der in der Chronique kolportierten Version der Begegnung heraus, so zeigt sich, dass der Text an dieser Stelle wohl eher eine literarische Interpretation, denn eine Ausschmückung eines historischen Geschehens vornimmt  – im Unterschied zu Henri d’Avranches oder den Actus beati 178  So angedeutet auch von Tolan, Le Saint chez le Sultan, 82. Das Motiv ist auch zur Dantezeit noch weit verbreitet, so ist etwa eines der Kapitel der Confutatio Alcorani (1300) des Riccoldo da Montecroce Quod est lex irrationabilis betitelt; vgl. die Edition von Johannes Ehmann, Würzburg 1999.

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Francisci et de sociorum eius (1327–1337) und ihrem berühmten volgarizzamento, den Fioretti (ante 1396), in denen der Sultan am Ende seines Lebens gar zum Christentum konvertiert.179 Diese Umformungen belegen jedoch, genau wie der Raum und die Bedeutung, die so verschiedene Autoren wie Jacques de Vitry, Ernoul, Bonaventura und Dante dem Treffen vor Damiette beimessen, umso deutlicher das narrative Potential der Episode. Wie immer sich die Unterredung mit Malik al-Kamil im Einzelnen auch gestaltet haben mag  – allein der Versuch, das respektierte und ernstgenommene Gegenüber »par droite raison« im Vertrauen auf Gott zu überzeugen, muss dem, der der Feder den Vorzug vor dem Schwert gibt, als Triumph erscheinen. Das literarische Fortleben des zentralen Gehaltes der Episode, wie er in der von der Chronique wiedergegebenen Fassung Gestalt annimmt, erklärt sich somit sowohl durch deren zumindest in Grundzügen gegebene Übereinstimmung mit der historischen Ausrichtung der Orientreise Franziskus’, als auch durch die von ihrem Inhalt ausgehende Anziehungskraft.

179  Die Episode findet sich in Kap. XXVII der Actus (ed. Cambell/Bigaroni/Boccali, in: Stefano Brufani Menestò et  al. (Hgg.), Fontes franciscani,  2143 ff.) und Kap. XXIV der Fioretti (ed. Quaracchi, in: Fonti Francescane, Padova 32011, 1174 ff.). Bezüglich des volkssprachlichen Textes s. nunmehr die Arbeiten von  Sara Natale, »Attorno all’edizione critica dei Fioretti di san Francesco. Riflessioni sull’ambiente di  produzione di Actus, Fioretti e Considerazioni sulle stigmate«, Franciscana 15 (2013), 173–208; dies., »La traduzione degli Actus beati Francisci et sociorum eius. I Fioretti di san Francesco«, in: Lino Leonardi/Speranza Cerullo (Hgg.), Tradurre dal latino nel Medioevo italiano: »translatio studii« e procedure linguistiche, Firenze 2017, 121–140; dies., »I volgarizzamenti delle fonti francescani. Alcuni chiarimenti sul testo e sulla tradizione dei Fioretti di san Francesco«, in: Gli studi francescani: prospettive di ricerca. Atti dell’incontro di studi in occasione del 30° anniversario dei Seminari di formazione: Assisi, 4–5 luglio 2015, Spoleto 2017, 61–96.

Dye lewynne stalte groß iamer Prozesse der Emotionalisierung zwischen Tieren und Menschen im spätmittelalterlichen Prosaepos Herzog Herpin Von Susanne Schul Abstract From the beginning of Herzog Herpin the young protagonist seems to be chosen for the extraordinary as he is separated from his parents right after his birth and must survive in the wilderness. This is accomplished by getting him involved in relationships with animals or otherworldly figures. Guarded by three fairies and a lion, the protagonist of this infancy story experiences motherhood not from his biological mother. Motherhood is rather attributed to several different figures that look after him. Thus a multidimensional matrix of care-relationships emerges that is characterized by the interacting categories of gender, species, descent, religion, age and social positioning. The paper explores them as forms of emotionalization between animals and humans in text-image-arrangements of three versions of the Herzog Herpin by applying theoretical concepts of the Cultural Animal Studies.

Ich wil uch sagen von dem kinde, das daz die lewynne vier tage in der hole zoch.1 – Diese Fürsorge-Beziehung, in der eine Löwin den kindlichen Helden beschützt und umsorgt, hebt der Erzähler des Prosaepos als einen bedeutsamen Erzählanlass hervor. Der Frage, wie ein Säugling jenseits der menschlichen Zivilisation im Wald überleben kann, begegnet die Erzählung, indem das Kind kurzzeitig in eine tierliche Gemeinschaft aufgenom-

1  Herzog Herpin (B), Bl. 3v, 34,8 f. Das Prosaepos wird nach folgender Ausgabe zitiert: Herzog Herpin. Kritische Edition eines spätmittelalterlichen Prosaepos, hg. Bernd Bastert, Berlin 2014. Die kritische Edition nach der Leithandschrift B mit einem ausführlichen Variantenapparat und der kritische Kommentar mit materialphilologischer Beschreibung und Erschließung der Handschriften ermöglichen eine systematische Analyse der Texte und in Verbindung mit den digital zugänglichen Papierhandschriften eine vergleichende Interpretation der Text-Bild-Relationen. Vgl. Ute von Bloh/Bernd Bastert, Loher und Maller. Herzog Herpin: Kommentar und Erschließung, Berlin 2017.

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men wird.2 Derartige enfance-Episoden, die von der besonderen Geburt und Kindheit eines Helden berichten, zählen zu den typisierten Bestandteilen heroischer Narrative, in denen das Kind von Beginn an zum Außerordentlichen prädestiniert erscheint. Sie entwerfen die Koordinaten, in denen sich die Heldenidentität zwischen Selbstbezug und sozialer Zuschreibung positioniert, führen spezifische Problemkonstellationen ein und stellen den Prozess des ›Held-Werdens‹ dar.3 Im Herzog Herpin wird der kindliche Held zwar durch seine adelige Herkunft in eine dynastisch-genealogische Ordnung eingeschrieben, aber durch die Vertreibung der Eltern vom Hof und durch die Trennung von der Familie in einer wilden Sphäre verortet, in der ›anderweltliche‹4 und ›tierliche‹5 2  Vgl. zu sogenannten ›Wilden Kindern‹, die in ›tierliche‹ Gemeinschaften integriert werden, u. a. Udo Friedrich, Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter, Göttingen 2009, 321–335; Hansjörg Bruland, Wilde Kinder in der Frühen Neuzeit. Geschichte von der Natur des Menschen, Stuttgart 2008, 12 ff.; Larissa Schuler-Lang, Wildes Erzählen  – Erzählen vom Wilden. ›Parzival‹, ›Busant‹ und ›Wolfdietrich D‹ (Literatur  – Theorie  – Geschichte 7), Berlin 2014, 249–310; Susanne Schul, » ›Wolfsbegegnung mit Folgen‹: Interspezifische Fürsorge-Relationen in der Wolfdietrich-Epik«, in: Forschungsschwerpunkt »Tier  – Mensch  – Gesellschaft« (Hgg.), Vielfältig verflochten. Interdisziplinäre Beiträge zur Tier-Mensch-Relationalität, Bielefeld 2017, 223–241, hier 229 f. 3  Vgl. zur Bedeutung der enfance-Geschichten für Helden-Konstruktionen u. a. Friedrich Wolfzettel, »Zur Stellung und Bedeutung der ›Enfance‹ in der altfranzösischen Epik I«, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 83 (1973), 317– 348; ders., »Zur Stellung und Bedeutung der ›Enfance‹ in der altfranzösischen Literatur II«, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 84 (1974), 1–32; Gunhild u. Uwe Pörksen, »Die Geburt des Helden in mittelhochdeutschen Epen und epischen Stoffen des Mittelalters«, Euphorion 74 (1980), 257–287; Manfred Kern, »Thymos, Kultur und Geschlecht. Perspektiven einer traumatologischen Lektüre der chanson de geste«, in: Johannes Keller/Florian Kragl (Hgg.), Mythos  – Sage  – Erzählung. Gedenkschrift für Alfred Ebenbauer, Göttingen 2009, 173–192, hier 176 f.; Julia Weitbrecht, »Genealogie und Exorbitanz. Zeugung und (narrative) Erzeugung von Helden in heldenepischen Texten«, ZfdA 142,3 (2012), 281–309, hier 283–285. 4  Der Begriff ›anderweltlich‹ wird genutzt, um den Einfluss der Feen hervorzuheben, die die Handlungsspielräume des Helden durch ihre Wünsche vorherbestimmen. Vgl. zur Rolle der Feen in den mittelfranzösischen Epen François Suard, »Das Artusreich und die Andere Welt. Zur Funktion des Wunderbaren in der späten Chanson de Geste«, in: Friedrich Wolfzettel (Hg.), Artusroman und Intertextualität (Beiträge zur deutschen Philologie 67), Gießen 1990, 165–180. 5  Vgl. zum Begriff ›tierlich‹ innerhalb der deutschsprachigen Cultural Animal Studies u. a. Gabriela Kompatscher/Reingard Spannring/Karin Schachinger, HumanAnimal Studies. Eine Einführung für Studierende und Lehrende, Münster/New York 2017, 223.



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Bindungen seinen Lebensweg prägen.6 Hierbei erweist sich der fürsorgebezogene Umgang als ein mehrfach relationales Gefüge, in dem sich Faktoren wie Geschlecht, Spezies, Herkunft, Religion, Alter und soziale Position in der Gruppe wechselseitig beeinflussen.7 Die Rolle der ›Mutterschaft‹ wird in dieser Kindheitsgeschichte von mehreren Akteuren besetzt und erhält durch den Transfer in einen ›tierlichen‹ Kontext eine ganz eigene Evidenz, die sich gegenüber äußeren Einwänden behaupten muss. Das Prosaepos verhandelt ein mehrfaches Affiziert-Werden und greift auf divergierende, tradierte Geschlechterkonzepte zurück, die auch über die Speziesgrenzen hinweg ihre Wirkung entfalten.8 Somit entsteht ein Beziehungsgeflecht, das 6  Vgl. Jan de Vries, »Das Modell eines Heldenlebens«, in: ders.: Heldenlied und Heldensage (Sammlung Dalp, 78), Bern 1961, 281–301; Klaus von See, »Held und Kollektiv«, ZfdA 122,1 (1993), 1–35; Christa Agnes Tuczay, »Helt und kühner degen – Untadelige Männlichkeit zwischen Aggression und Angst im literarischen Diskurs«, in: Barbara Hindinger/Martin-M. Langer (Hgg.), Ich bin ein Mann! Wer ist es mehr? Männlichkeitskonzepte in der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2011, 43–65, hier 48 f.; Udo Friedrich, »Held und Narrativ. Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur«, in: Victor Millet/ Heike Sahm (Hgg.), Narration and Hero. Recounting the Deeds of Heroes in Literature and Art of the Early Medieval Period, Berlin/Boston 2014, 175–195; Elisabeth Lienert, »Exorbitante Helden? Figurendarstellung im mittelhochdeutschen Heldenepos«, Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung 1 (2018), 38–63, hier 40 f. 7  Vgl. zu Relationalität und intersektionalen Ansätzen u. a. Gudrun-Axeli Knapp, »Über-Kreuzungen: zu Produktivität und Grenzen von ›Intersektionalität‹ als ›Sensitizing Concept‹ «, in: Mechthild Bereswill et al. (Hgg.), Geschlecht (re)konstruieren. Zur methodologischen und methodischen Produktivität der Frauen- und Geschlechterforschung (Forum Frauen- und Geschlechterforschung 38), Münster 2013, 242– 262; Falko Schnicke, »Terminologie, Erkenntnisinteresse, Methode und Kategorien – Grundfragen intersektionaler Forschung«, in: ders./Christian Klein (Hgg.), Intersektionalität und Narratologie. Methoden  – Konzepte  – Analysen (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 91), Trier 2014, 1–33; Andreas Kraß, »Einführung: Historische Intersektionalitätsforschung als kulturwissenschaftliches Projekt«, in: ders. et  al. (Hgg.), Durchkreuzte Helden. Das ›Nibelungenlied‹ und Fritz Langs Film ›Die Nibelungen‹ im Licht der Intersektionalitätsforschung, Bielefeld 2014, 7–47; Mareike Böth/Susanne Schul, »Abenteuerliche ›Überkreuzungen‹. Vormoderne Intersektional«, in: dies./Michael Mecklenburg (Hgg.), Abenteuerliche ›Überkreuzungen‹. Vormoderne intersektional, Göttingen 2017, 9–39. 8  Vgl. zu ›Mutterschaft‹, Familien- und Geschlechterkonstellationen u. a. Claudia Brinker-von der Heyde, Geliebte Mütter – Mütterliche Geliebte. Rolleninszenierung in höfischen Romanen (Studien zu Germanistik, Anglistik und Komparatistik 123), Bonn 1996, 40–55; Lydia Miklautsch, Studien zur Mutterrolle in den mittelhochdeutschen Großepen des elften und zwölften Jahrhunderts (Erlanger Studien 88), Erlangen 1991; Ulrike Gaebel, »Weibliche Krieger. Crossdressing in deutschen Chansonde-Geste-Adaptionen des 15. und 16. Jahrhunderts«, Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 11 (1999), 363–382; Ute von Bloh, »Gefährliche Maskeraden. Das Spiel mit den Status- und Geschlechterrollen (›Herzog Herpin‹, ›Loher und

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den Handlungsverlauf mehrdeutig perspektiviert und Möglichkeiten bietet, emotionsbezogene Interaktions- und Bewertungsmuster im Austausch zwischen Tieren und Menschen zu reflektieren. Der Beitrag nimmt diese mehrdeutigen Fürsorge-Relationen im Herzog Herpin in den Blick und stellt die Text-Bild-Gefüge der Fassungen A, B und C einander vergleichend gegenüber. Theoretische Ansätze der Cultural Animal Studies aufgreifend rekonstruiert die Analyse die narrativen, kulturellen und sozialen Repräsentationen einer ›Begegnung der Arten‹ und fragt danach, welche emotionalen Aushandlungsmodi zum Tragen kommen, wenn Menschenkind und Löwin im fiktionalen Möglichkeitsraum miteinander in Kontakt treten.9 I. Verkörperte Emotionen: Materiell-semiotische Ebene der Tier-Mensch-Relationen Emotionen als Motivationen des Handelns nehmen einen wichtigen Platz nicht nur in der Psychologie, Soziologie und Kognitionsforschung ein, sondern fordern auch eine kulturwissenschaftliche Reflexion über ihre historische Genese ein. Hierbei stellt sich allerdings die grundsätzliche Frage, ob und wie moderne Konzepte von Emotionalität bei der Analyse von differenten Kulturen und historischen Zeugnissen produktiv gemacht werden können.10 Im Folgenden stehen emotionale Diskurse und Praxen Maller‹, ›Königin Sibille‹, ›Huge Scheppel‹)«, in: Wolfgang Haubrichs/Hans-Walter Herrmann (Hgg.), Zwischen Deutschland und Frankreich. Elisabeth von Lothringen, Gräfin von Nassau-Saarbrücken (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 34), St. Ingebert 2002, 495–515; Silke Winst, » ›Heiden‹, Riesen, Gotteskrieger*in: Intersektionale Differenzierungsprozesse in den spätmittelalterlichen Prosaepen Herzog Herpin und Loher und Maller«, in: Schul/Böth/Mecklenburg (Hgg.), Abenteuerliche ›Überkreuzungen‹, 193–220; Lina Herz, Schwieriges Glück: Kernfamilie als Narrativ am Beispiel des »Herzog Herpin«, Berlin 2017. 9  Vgl. Ute von Bloh, »Die Rationalisierung des Wunderbaren. Text und Bild der Löwenepisode in Handschriften und Drucken der ›Historie von Herzog Herpin‹ «, Chloe. Beihefte zum Daphnis 20 (1994), 513–542; dies., »Über Wunder, das Staunen und Erschrecken und über die Grenzen des Wirklichkeitsentwurfs im Herzog Herpin«, in: Wolfgang Harms/Stephen Jaeger (Hgg.), Fremdes wahrnehmen  – fremdes Wahrnehmen, Stuttgart/Leipzig 1997, 221–238. 10  Vgl. zur literarhistorischen Emotionsforschung u. a. Claudia Benthien et  al. (Hgg.), Zur Geschichte der Gefühle, Köln 2000; Ingrid Kasten et al. (Hgg.), Kulturen der Gefühle in Mittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart 2002; Jutta Eming, Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebesund Abenteuerromanen des 12.–16. Jahrhunderts, Berlin 2006; dies., »Emotionen als Gegenstand mediävistischer Literaturwissenschaft«, JLT 1,2 (2007), 251–273; Sabine Flick et  al. (Hgg.), Emotionen in Geschlechterverhältnissen. Affektregulie-



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von ›Mutterschaft‹ im Fokus, die in mehrdeutiger, zum Teil  widersprüchlicher Weise dargestellt werden: Als biologische Tatsache, Liebesbeziehung oder Schicksal ebenso wie als Verhandlungssache, Rolle auf Zeit oder Gemeinschaftsaufgabe. Die Fülle der Zuschreibungen verweist auf die soziale Vielfalt von Fürsorge-Beziehungen, deren Ambivalenz gleichermaßen befreiend und verunsichernd auf die beteiligten Akteure wirken können. Diese Vielfalt ist aufs engste mit sozialen Prozessen des Aushandelns verflochten, die Grenzbereiche und Übergangsformen sichtbar machen können. ›Mutterschaft‹ setzt sich als komplexer Handlungsvollzug nicht nur aus verschiedenen emotionalen Facetten zusammen, sondern wechselt auch das sprachliche und außersprachliche In-Erscheinung-Treten im Laufe der Zeiten, Räume und Medien. Es braucht daher einen differenzierenden Blick auf Fürsorge-Praxen und ihre mediale Thematisierung, um diese in ihren mehrfachen Wechselbezügen zu erfassen und zu analysieren.11 Während diese Mehrdeutigkeit von ›Mutterschaft‹ bereits in menschlichen Beziehungsgefügen herausfordernd wirkt, erweist sie sich in einer Fürsorge-Relation zwischen Tieren und Menschen noch einmal neu akzentuiert. Zwar erscheint sie auf den ersten Blick als positiv konnotierte emotionale Hinwendung, tatsächlich knüpfen sich an sie aber ambivalente Gefühlszuschreibungen.12 Denn die Antwort auf die Frage, inwieweit rung und Gefühlsinszenierung im historischen Wandel, Bielefeld 2009; Rüdiger Schnell, Haben Gefühle eine Geschichte? Aporien einer History of Emotions, Göttingen 2015. 11  Vgl. Barbara Thiessen/Paula-Irene Villa, »Mütter und Väter: Diskurse – Medien  – Praxen. Eine Einleitung«, in: dies. (Hgg.), Mütter  – Väter: Diskurse, Medien, Praxen (Forum Frauen- und Geschlechterforschung 24), Münster 2009, 7–25, hier 12 f.; Cornelia Schadler, Vater, Mutter, Kind werden: Eine posthumanistische Ethnographie der Schwangerschaft, Bielefeld 2013, hier 29–38; Mechthild Bereswill, »Komplexität steigern. Intersektionalität im Kontext von Geschlechterforschung«, in: dies. et  al. (Hgg.), Intersektionalität und Forschungspraxis  – Wechselseitige Herausforderungen (Forum Frauen- und Geschlechterforschung 43), Münster 2015, 210–230, hier 216. 12  Vgl. Jessica Ullrich, »Interspecies Mothering in der zeitgenössischen Kunst«, in: Reingard Spannring et al. (Hgg.), Tiere – Texte – Transformationen. Kritische Perspektiven der Human-Animal Studies, Bielefeld 2015, 111–134; dies., »Who cares for animals? Interspezies-Fürsorge in der zeitgenössischen Kunst«, Figurationen: Animal traces 1/15 (2014), 78–98; Jane E. Burns/Peggy McCracken (Hgg.), From Beasts to Souls. Gender and Embodiment in Medieval Europe, Notre Dame 2013; Carola Sachse, »Tiere und Geschlecht. ›Weibchen‹ oder ›Männchen‹? Geschlecht als Kategorie in der Geschichte der Beziehungen von Menschen und anderen Tieren«, in: Gesine Krüger et al. (Hgg.), Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, 79–104.

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Menschen bestimmten Tieren erstens emphatisch präsentierte Gefühle entgegenbringen und wie diese zweitens in unterschiedlichen Kontexten und medialen Formaten zum Ausdruck gebracht werden, hängt auch davon ab, ob und in welchem Maße sie diesen Tieren ihrerseits eine Empfindungs- und Gefühlsfähigkeit zuschreiben.13 Die noch jungen Cultural Animal Studies setzen sich mit derartigen Fragen zur Kontextualität, Historizität und Medialität von Tier-Mensch-Relationen kritisch auseinander. Aus dieser Perspektive sind Tiere stets auch als mediale Tiere zu verstehen, da sie immer in Ordnungen eingebunden sind, welche die Blicke, Wahrnehmungen und Interaktionen organisieren und auf diese Weise auch die Erzählungen um sie und mit ihnen strukturieren.14 Die Auswahl, Verhandlung und Bewertung von medial vermittelten Tier-Mensch-Beziehungen folgt gesellschaftlich verankerten Präferenzen. Während sich die Nähebeziehung zu Tieren in modernen Diskursen eng mit Ideen emotionaler Individualisierung verbindet, überwiegt in der Vormoderne ein segmentär-stratifikatorisches Ordnungsmodell, das sich auch in emotionalen Diskursen der Zeit spiegelt. Das bedeutet, Verwandtschaft und Genealogie sowie die Stellung innerhalb der Ständegesellschaft und innerhalb eines christlich geprägten Weltbilds bestimmen die sozialen Wertungen. Diese Ordnungen finden als Erzählmuster auch Eingang in die erzählten Welten und können sowohl bestärkt oder kommentiert als auch unterlaufen oder völlig neu entwickelt werden.15 Auf diese Weise entsteht im Erzählen ein 13  Vgl. zur Emotionalität in Tier-Mensch-Beziehungen u. a. Pascal Eitler, »Der ›Ursprung‹ der Gefühle  – reizbare Menschen und reizbare Tiere«, in: Ute Frevert et  al. (Hgg.), Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a. M. 2011, 93–119; Gabriela Kompatscher-Gufler, » ›… nicht, um es zu töten, sondern um es zu streicheln.‹ (Herbert von Clairvaux, 12. Jh.): Literarische Dokumente der Tierliebe im Mittelalter«, Tierstudien 3 (2013), 13–23; Clemens Wischermann, »Zwischen ›Vieh‹ und ›Freund‹. Historische Annäherungen an das Selbst eines Tieres«, in: Viktoria Krason/Christoph Willmitzer (Hgg.), Tierisch beste Freunde, Berlin 2017, 49–87; Susanne Schul: »(V)Erlesene Animalität: Intersektionale Emotionalisierungsprozesse im spätmittelalterlichen Heldenepos«, in: dies./Böth/ Mecklenburg (Hgg.), Abenteuerliche ›Überkreuzungen‹, 239–280, hier 253–256. 14  Vgl. Roland Borgards, »Tiere in der Literatur. Eine methodische Standortbestimmung«, in: Herwig Grimm/Carola Otterstedt (Hgg.), Das Tier an sich. Disziplinenübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz, Göttingen 2012, 87–118; ders., »Tiere und Literatur«, in: ders. (Hg.), Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2016, 225–245, hier 230 f. 15  Vgl. Thomas Macho, »Tier«, in: Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch historischer Anthropologie, Weinheim/Basel 1997, 62–85; Stefan Rieger, »Tiere und Medien«, in: Roland Borgards (Hg.), Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2016, 30–37, hier 33 f.; Gesine Krüger et  al., »Animate History: Zugänge und Konzepte einer Geschichte zwischen Menschen und Tieren«, in: dies. et  al. (Hgg.), Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, 9–33;



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Möglichkeitsraum, der unterschiedliche Blicklenkungen auf ›liebvolle‹ Tier-Mensch-Beziehungen eröffnet. Tiere können bspw. als Gefühlsventil oder als Effekt um- und abgeleiteter Eigen- oder Ersatzliebe in Erscheinung treten, sie können sich aber auch selbst als Akteure emotionaler Praktiken zeigen.16 Literarische Repräsentationen von Emotionen sind dabei weder auf neurobiologische Vorgänge zu reduzieren, noch als rein kulturelle Konstruktionen zu betrachten. Vielmehr verschränken sich im Erzählen von Emotionen kulturell Vermitteltes und subjektiv Erlebtes. Der historische und soziale Kontext bildet den Rahmen, in dem Emotionen wahrgenommen, gestaltet, artikuliert und mit Sinn versehen werden können.17 Dies geschieht in Literatur in erster Linie durch Sprache, aber auch dort spielt körperliche Expression von Mimik und Gestik eine zentrale Rolle, so dass menschliche und tierliche Körper zugleich als Empfindungs- und Handlungsträger zu analysieren sind.18 Somit tritt die Bedeutung des Körpers als ein Ankerpunkt für Differenz, aber auch als Hand-

Judith Klinger/Andreas Kraß (Hgg.), Tiere: Begleiter des Menschen in der Literatur des Mittelalters, Köln et al. 2016; Sabine Obermaier (Hg.), Tiere und Fabelwesen im Mittelalter, Berlin/New York 2009; Gabriela Kompatscher et  al. (Hgg.), Partner, Freunde und Gefährten. Mensch-Tier-Beziehungen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit in lateinischen Texten, Wien 2014. 16  Vgl. Karsten Balgar, »Leiblichkeit und tierliche Agency. Die Handlungsfähigkeit von Tieren im Kontext von Leiblichkeitskonzepten«, in: Markus Kurth et  al. (Hgg.), Das Handeln der Tiere. Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies, Bielefeld 2016, 137–148, hier 143 f.; Susan McHugh, »Literary animal agents«, PMLA 124/2 (2009), 487–495, 487 f.; Schul, » ›Wolfsbegegnung mit Folgen‹ «, 227– 232; dies., »Wildes Lieben? Von Emotionalisierungsprozessen zwischen Tieren und Menschen erzählen«, Human-Animal Studies: literaturkritik.de (2018) H. 2, http:// literaturkritik.de/wildes-lieben-von-emotionalisierungsprozessen-zwischen-tierenund-menschen-erzaehlen,24147.html (letzter Zugriff am 14.12.2018). 17  Vgl. Anne-Charlott Trepp: »Gefühl oder kulturelle Konstruktion? Überlegungen zur Geschichte der Emotionen«, Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung  7 (2002), 86–103; Ingrid Kasten, »Emotionalität und der Prozess männlicher Sozialisation. Auf den Spuren der Psycho-Logik eines mittelalterliche Textes«, Querelles  7 (2002), 52–71; Simone Winko, »Über Regeln emotionaler Bedeutung in und von literarischen Texten«, in: Fortis Jannidis et al. (Hgg.), Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte (Revisionen 1), Berlin/New York 2003, 329– 348. 18  Vgl. Paula-Irene Villa, »Verkörperung ist immer mehr. Intersektionalität, Subjektivierung und der Körper«, in: Helma Lutz et al. (Hgg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes, Wiesbaden 2010, 203–223, hier 203 f. u. 218; Hannelore Bublitz, »Sehen und Gesehenwerden  – Auf dem Laufsteg der Gesellschaft. Sozial- und Selbsttechnologien des Körpers«, in: ­Robert Gugutzer (Hg.), Body Turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports (Materialitäten 2), Bielefeld 2006, 341–362, hier 345.

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lungsressource für Annäherungsprozesse  – also für ›verkörperte Emotionen‹  – besonders hervor.19 Diese relationale Ausrichtung vertritt auch Donna Haraway in ihrer Monographie When Species Meet,20 wenn sie mithilfe der Rekonstruktion körperlicher Praktiken erforscht, wie sich Tiere und Menschen in einen Interspezies-Kontakt einbringen können. Durch die Konzentration auf materiell-semiotische Verschränkungen lässt sich eine dualistische Unterscheidung von Verkörperung und Materialität auf der einen sowie von Diskurs und Sprache auf der anderen Seite aufbrechen und stattdessen ihre Wechselwirkungen fokussieren. Haraways Ansatz aufgreifend richtet sich der Fokus der Analyse darauf, wie im Rahmen wechselseitiger Wahrnehmungsprozesse ein ›Tier‹- bzw. ›Mensch-Werden‹ im Erzählen gestaltet wird und ob ein »Miteinander-Werden«21 im gemeinsamen Agieren möglich ist. Emotionen sind in diesem Sinne sowohl konstitutiv für die Etablierung von Dauerhaftigkeit als auch für die Veränderung von Werte- und Bezugssystemen in Beziehungsformen. Die mehrdeutigen Fürsorge-Relationen, in die der kindliche Held integriert wird, eröffnen eine Grenzsphäre, in der das gewohnte ›Eigene‹ endet und das ungewohnte ›Fremde‹ beginnt, in der aber auch ein Austausch zwischen den ›Arten‹ möglich wird. Diese Markierung von Nähe und Distanz, von Vertrautem und Andersartigem entsteht allerdings erst durch die sozialen Praktiken im Kontakt der handelnden Akteure. Gleichzeitig sind diese aber wiederum von denjenigen sozialen und kulturellen Ordnungen abhängig, von denen sie gerahmt werden.22 Im intermedialen Zusammenspiel von Sprach-Bildern und Bilder-Sprache stehen erzählende und erzählte Differenzmarkierung in einem Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit, da sie einerseits den Prozess des Erzählens selbst und andererseits einzelne Elemente in der Erzäh19  Vgl. zum Körper als ›Aushandlungsort‹ Susanne Schul, HeldenGeschlechtNarrationen. Gender, Intersektionalität und Transformation im Nibelungenlied und in Nibelungen-Adaptionen (Medien – Literaturen – Sprachen in Anglistik, Amerikanistik, Germanistik und Romanistik 14), Frankfurt a. M. 2014, 45–51. Vgl. in ähnlicher Weise auch Kraß, »Einführung: Historische Intersektionalitätsforschung«, 14 u. 17, der den Körper im Sinne einer »übergreifende[n] Dimension« als »Garant oder Medium« sowie als »Schauplatz der Kategorien« bezeichnet. Vgl. zu emotionaler Performanz und Verkörperung Elke Koch, Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters (Trends in Medieval Philology 8), Berlin 2006, 60–63. 20  Donna Haraway, When Species Meet, Minneapolis/London 2008. 21  Ebd., 4. 22  Vgl. Candace West/Sarah Fenstermaker, »Doing Difference«, in: dies. (Hgg.), Doing Gender, Doing Difference. Inequality, Power, and Institutional Change, New York 2002, 55–80.



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lung präsent halten. Demzufolge sind emotionale Praktiken immer auch durch spezifische Wissenskontexte organisiert und notwendigerweise körpergebunden, d. h. sie werden mit dem Körper ausgeführt und sind für die Akteure der Praktiken zugleich ›spürbar‹. Hierbei stehen ›verkörperte Emotionen‹ in ihrer jeweiligen praktischen Hervorbringung im Fokus, die sowohl innerhalb der Erzählwelten als auch im Rezeptionsprozess von Text und Bild versteh- und interpretierbar sind.23 II. Verhandelte Emotionen: Narrativ-poetologische Ebene der Tier-Mensch-Relationen Der Herzog Herpin zählt zu den frühesten Beispielen eines großepischen Erzählens in deutschsprachiger Prosa.24 Er ist im Umkreis des Hofes der Elisabeth von Lothringen und Nassau-Saarbrücken in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden, beruht auf einer französischsprachigen Quelle aus dem 14. Jahrhundert25 und ist in drei, voneinander unabhängigen, illustrierten Papierhandschriften überliefert, die jeweils nur diese eine Erzählung enthalten.26 23  Vgl. Andreas Reckwitz, »Praktiken und ihre Affekte«, Mittelweg 36, H. 1/2 (2015), 27–45, hier 35; Stefan Hirschauer, »Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns«, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hgg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, 73–91, hier 75. 24  Der Herzog Herpin ist über genealogische und chronologische Verknüpfungen mit drei weiteren Texte verbunden – Königin Sibille, Loher und Maller, Huge Scheppel –, die in einem vierteiligen Epen-Zyklus Stoffe aus dem Sagenkreis um Karl den Großen und seine Nachkommen verhandeln. Vgl. u. a. Markus Kohlmeier, Analyse und Vergleich der Normendarstellung in ausgewählten frühneuhochdeutschen Prosaromanen unter Berücksichtigung der Zivilisationstheorie von Nobert Elias, Frankfurt a. M. et al. 2001; Ute von Bloh, Ausgerenkte Ordnung. Vier Prosaepen aus dem Umkreis der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: ›Herzog Herpin‹, ›Loher und Maller‹, ›Huge Scheppel‹, ›Königin Sibille‹ (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 119), Tübingen 2002a, 92 ff.; Ulrike Gaebel, Chansons de geste in Deutschland. Tradition und Destruktion in Elisabeths von Nassau-Saarbrücken Prosaadaptationen, Digitale Dissertation http://www.diss.fu-ber lin.de­/2002/8/gaebel [letzter Zugriff am 24.11.2018], 43 ff.; Bernd Bastert, Helden als Heilige. Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum (Bibliotheca Germanica 54), Tübingen 2010, 248. 25  Die französische Chanson de geste-Vorlage des Lion de Bourges bietet als stofflich originale Neuschöpfung vom Anfang des 14. Jahrhunderts bereits ein breites thematisches sowie strukturelles Erzählspektrum, vgl. Bastert, Helden als Heilige, 369; Gaebel, Chansons de geste in Deutschland, 29. 26  Vgl. von Bloh/Bastert, Kommentar und Erschließung, 235–246.

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− A: Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 464, nordbair./fränk., 1487, Papier, 15 Blätter und 816 Seiten, (bis 426 illustriert, später sind die Illustrationen nicht mehr ausgeführt).27 − B: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 46 Novissime 2°, rheinfränk., um 1455, Papier, 172 Blätter (bis Bl. 42v illustriert, später sind die Illustrationen nicht mehr ausgeführt).28 − C: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 152, niederalem., um 1475, Papier, 337 Blätter, Werkstatt Ludwig Henfflin (durchgehend illustriert).29

Alle drei Handschriften spielen in je differenten Kombinationen von Text und Bild spezifische Konfliktkonstellationen von Herrschafts- und Statusverlust, von Verbannung und Verfolgung sowie von Trennung und Wiedervereinigung in sich immer wieder kreuzenden Erzählsträngen durch. Hierbei verbinden sich heroische, romanhafte, hagiografische und historisierende Narrationsmuster miteinander, Grenzziehungen zwischen Referenzgattungen als strukturell unterschiedliche Textformate werden brüchig und serielle Erzähltechniken laufen einer kohärenten Sinnstiftung immer wieder entgegen. Das Prosaepos bleibt in seiner Stoffwahl zwar noch dem Mittelalter verpflichtet, es zeichnet sich aber bereits durch neuartige Modi des Erzählens aus.30 Ein perspektivischer Wechsel zwischen den Einzelgeschichten der getrennten Familienmitglieder erfolgt durch Erzählersteuerung und reihenhaft-variierendes Wiedererzählen, so dass 27  Digitalisat: Historie von Herzog Herpin (A), Ms. germ. fol. 464, Handschriften digital. ©  Staatsbibliothek zu Berlin  – Preußischer Kulturbesitz: http://resolver. staatsbibliothek-berlin.de/SBB0000EB9300000000. 28  Digitalisat: Herzog Herpin (B), Cod. Guelf. 46 Noviss. 2°, Diplomatische Edition des Textes von Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, hg. v. Bernd Bastert, Ursula Kundert. Wolfenbüttel, 2015. ©  HAB Wolfenbüttel: http://dig­ lib.hab.de/mss/46noviss-2f/start.htm. 29  Digitalisat: Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: ›Herpin‹ (C), Cod. Pal. germ. 152, Heidelberger Bestände digital. ©  Universitätsbibliothek Heidelberg: https:// digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg152. 30  Vgl. u.  a. Jan-Dirk Müller, »Volksbuch/Prosaroman im 15./16. Jahrhundert. Perspektiven der Forschung«, IASL Sonderheft 1 (1985), 1–128; 4 ff.; Heike Sievert, »Geschichten von Helden, Heiden und Herrschern. Überlegungen zur Typologie des Prosaromans am Beispiel der Rezeption der chanson de geste im 16. Jahrhundert«, Jahrbuch für internationale Germanistik 29 (1997) 2, 124–164, hier 126 u. 129; Bastert, Helden als Heilige, 134; Gaebel, Chansons de geste in Deutschland, 49–54; Udo Friedrich, »Wahrnehmung – Experiment – Erinnerung. Erfahrung und Topik in Prosaromanen der Frühen Neuzeit«, in: Hedwig Röckelein/Udo Friedrich (Hgg.), Experten der Vormoderne zwischen Wissen und Erfahrung (Das Mittelalter 17), Berlin 2012, 75–94, Rabea Kohnen, »Akkumulation und Überblendung. Zu seriellen Strategien des Erzählens im ›Herzog Herpin‹ «, in: Bernd Bastert et al. (Hgg.), Wiederholen/Wiederholung, Heidelberg 2014, 175–194.



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Wahrnehmungs- und Fokalisierungsinstanzen wechseln und sie gleichzeitig auf eine familiäre Zusammenführung zusteuern. Um zu untersuchen, wie im Erzählen Spielregeln sozialer Ordnung und Differenzierung ausgestellt, aber auch aufgebrochen werden, wie sich sozialer Status und Geschlechteridentitäten vervielfältigen und wie sich Mechanismen von Inklusion und Exklusion entfalten, gilt es, das komplexe Zusammenspiel von Inhalt, Struktur und Vermittlungsform in den Blick zu nehmen.31 Für die Textanalyse steht die Wolfenbütteler-Handschrift (B) im Zentrum, während für die Analyse der Illustrationen alle drei Fassungen des Herzog Herpin einander vergleichend gegenüber gestellt werden. Die Fassung (B) ist die längste und bietet den umfangreichsten Textbestand, dagegen überliefert die Heidelberger-Handschrift (C) eine Fassung, die sich durch Umstellung, Kürzung und Variation auszeichnet. In der Berliner-Handschrift (A) und der Wolfenbütteler-Handschrift (B) sind die Bildprogramme zwar unvollständig ausgeführt, doch gestalten alle drei Handschriften die enfance-Episode auch als Bild-Erzählung aus und widmen der Begegnung mit der Löwin je zwei Abbildungen.32 Text und Bild sind auf eine gemeinschaftliche Rezeption hin konzipiert und halten je eigene narrative Verfahren bereit. Die Bilder leiten oft in Kombination mit Beischrift einen neuen Textabschnitt ein und strukturieren bzw. organisieren auf diese Weise auch die Textlektüre. Sie lenken die Erwartungshaltung der Rezipient_innen und bieten gleichzeitig ganz eigenständige Erzählmuster und Stiltraditionen an.33 In der Heidelberger-Handschrift (C), die als einzige ein vollständiges Bildprogramm überliefert, nehmen die Federzeichnungen die Hälfte bis zu zwei Drittel der einspaltig geschriebenen Blätter ein und 31  Vgl. Armin Schulz, Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: ›Willehalm von Orlens‹ – ›Partonopier und Meliur‹ – ›Wilhelm von Österreich‹ – ›Die schöne Magelone‹ (Philosophische Studien und Quellen 161), Berlin 2000, 322–324; Schul, HeldenGeschlechtNarration, 61–78; Gaebel, Chansons de geste in Deutschland, 50; Herz, Schwieriges Glück, 95 f. 32  Vgl. von Bloh, »Die Rationalisierung des Wunderbaren«, 523–529 u. 538 f.; Eva Wolf, »Die Sprache der Bilder: Bild-Erzählung in den Handschriften der Romane der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken«, in: Wolfgang Haubrichs/Hans-Walter Herrmann, Zwischen Deutschland und Frankreich. Elisabeth von Lothringen, Gräfin von Nassau-Saarbrücken (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 34), St. Ingebert 2002, 607–622, hier 607 f.; Lena Glassmann, Die Berliner Herpin-Handschrift in der Staatsbibliothek zu Berlin (Ms. Germ. Fol. 464). Ein illustrierter Prosaroman des 15. Jahrhunderts, Saarbrücken 2015, 47–63. 33  Vgl. Historie von Herzog Herpin: Farbmikrofiche-Edition der Handschrift Heidelberg, Universitäts-Bibliothek, Cod. Pal. Germ. 152. Literarhistorische Beschreibung der Handschrift von Ute von Bloh, München 1990, 38–46.

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fokussieren die Figuren-Interaktionen. In der Berliner-Handschrift (A) nehmen mehrere Bilder meist den nachfolgenden Text als eine Art ›Bilderzählung‹ vorweg, während die Bilder in der Wolfenbütteler-Handschrift (B) direkt in den ein- und zweispaltigen Text eingeklebt werden, einen weiträumigen Blick auf Landschaften, Architektur und soziale Gemeinschaft eröffnen und den Betrachter damit auf Distanz halten.34 Das ›Stillstellen‹ ausgewählter Szenen im Bild setzt dabei einen Prozess der narrativen Aktualisierung in Gang, der über das Dargestellte hinausreicht. Auf diese Weise wird das Bild mit Bedeutung aufgeladen, weil es das Gehörte oder Gelesene in einen Kontext stellt, den der wissende Betrachter aufzurufen vermag. Der Text kann die Vieldeutigkeit der pictura auf eine Möglichkeit des Verstehens hin zuspitzen; gleichzeitig lässt er auch eigene, in Worten ›gemalte‹ Bilderzyklen vor dem inneren Auge entstehen, die zu den Illustrationen in Beziehung treten.35 Es gilt somit zu untersuchen, wie die Bilder das wortreich Beschriebene einsichtig machen, welche Episode der Erzählung sie herausheben und wie die Kombinationen von Text und Bild die ›verhandelten Emotionen‹ jeweils in Szene setzen. 1. Wie die hertzogin im walde vnder eynem eich boum eyns schonen sons genas36: Außergewöhnliche Geburt und soziale Isolation des kindlichen Helden Herzog Herpin wird aufgrund einer Intrige am Hof Karls des Großen zum Tod verurteilt, eine Strafe die nur durch das Gnadengesuch seiner hochschwangeren Gemahlin Alheyt in eine lebenslängliche Verbannung umgewandelt wird. Das Herzogspaar büßt alle Ländereien ein, muss Frankreich verlassen und verliert auf dem Weg ins Exil in Italien noch seine Gefolgsleute und den gesamten Besitz, da sie überfallen und beraubt werden. Herpin und Alheyt gelingt jedoch die Flucht zu Fuß in einen großen Wald, der sich als eine dichte, weglose Wildnis erweist, die das Ehepaar nur mit großer Anstrengung überhaupt zu durchdringen vermag: Dürch den walt sy gingen – got wolle sy behüden – durch breme vnd dorne vnd da es aller dickeste was, das yne weder schüwe noch hoisen ane belieben. Der 34  Vgl. von Bloh, »Die Rationalisierung des Wunderbaren«, 508 f.; Wolf, »Die Sprache der Bilder«, 610 f.; Glassmann, Die Berliner Herpin-Handschrift, 49 f. 35  Vgl. Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, 195–204; Claudia Brinker-von der Heyde, Die literarische Welt des Mittelalters, Darmstadt 2007, 117 f. 36  Bildüberschrift, in: Herzog Herpin (C), Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 152, Werkstatt Ludwig Henfflin, um 1470, fol. 6v.

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hertzoge begonde zü syner hußfrowen zü sprechen: »Ffrouwe, ich möchte üch des wol zw heiligen sweren, mir were vil lieber, das möchte ir mir vor war gelauben, das mir der konnige von Frankrich das leben hette genommen, dann ich uch also sol sehen bedrüpniße lyden. Ich weyß vor war, myn hertz brichet mir noch in myme lybe vor leyde.«37

Dieser Handlungsraum erscheint prädestiniert für die Begegnung mit dem Undomestizierten und Ungeordneten, dem ›Anderweltlichen‹ und ›Animalen‹ und in ihm scheint eine ständige Gefährdung für Leib und Leben zu lauern. Der Herzog verzweifelt an dem Leid, das seine Ehefrau durch ihn erfahren muss, hadert mit sich und hält selbst das Todesurteil plötzlich für eine angemessene Alternative, anstatt weiterhin ihre Anstrengung mitansehen zu müssen. Der verbale Emotionsausdruck wird mit Bezug auf das gebrochene hertz als innerer Instanz explizit gemacht, so dass Herpin sein psychisches Empfinden als körperliches Erleben des Leidensdrucks vermittelt.38 Dies verweist mittelbar auf die Intensität seiner Liebe und die Qualität der Bindung zu seiner Ehefrau. Die reflexive Bekräftigung ihrer Verbindung im Angesicht der Verbannung erfährt jedoch eine unerwartete Erwiderung. Denn plötzlich bricht ein Schmerzensschrei aus der Herzogin heraus, ihre Wehen haben eingesetzt. Alheyt muss sich auf einer Lichtung unter einem Eichenbaum niederlassen, da sie nicht mehr weitergehen kann: Da wart die frouwe bedrüpliche schrien. Vnder eyme eychen baume rüget er. Da kam der frouwen ein we, das sy sere lude kreysch, sy sprach: »Maria, gottes muoder, komme mir zu helffen«, vnd sprach zü yrme herren: »Herre, ich versehe mich mit gotz hulffe ein kint geberen.« »Ffrouwe«, sprach der hertzog, »das bedrubet mir myn hertze. Es enist hie keyn frouwe, die üch da zu helffen möge, oder keynerley, das uch trösten mag.«39

Die Notlage der Königin, im Wald ihr Kind gebären zu müssen, und ihr drastisches Schmerzerleben werden durch die in kurzer Abfolge wiederkehrenden Schreie und ihr hilfesuchendes Bittgebet betont. In der Beratung des Paares darüber, wie sie mit dieser außergewöhnlichen Situation umgehen sollen, tritt die strukturierende Wirkmacht der Kategorie ›Geschlecht‹ deutlich hervor. Der Herzog sieht sich abrupt in die Rolle des passiven Beobachters versetzt. Schwangerschaft und Geburt ebenso wie Geburtshilfe definiert Herpin als ein ganz und gar weiblich geprägtes Erfahrungswissen, in dem sich Körperwahrnehmung und -verständnis kreuzen, so dass er sich nicht einmal befähigt sieht, seiner Frau tröstenden 37  Herzog

Herpin (B), Bl. 2r, 28,17–29,13. Koch, Trauer und Identität, 50 f.; Herz, Schwieriges Glück, 105. 39  Herzog Herpin (B), Bl. 2r, 28,17–29,13. 38  Vgl.

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Beistand zu leisten. Schwangerschaft wird zu einem essenziellen Bestandteil von Naturalisierungsmustern, mit denen gender über sex – also kulturelle Geschlechterrollen über den Geschlechtskörper – legitimiert werden.40 Der männlichen Handlungsunfähigkeit steht allerdings das unabwendbare Fortschreiten der Geburt gegenüber, welches ein direktes Handeln notwendig macht. Alheyt weiß sich nicht anders zu helfen, als ihren Ehemann auszusenden, um weibliche Unterstützung für sie zu suchen. Auf diese Weise wird das Paar noch vor der Geburt des Kindes getrennt: »Herre«, sprach sye, »ir müßt hinweg, ir enhant nit ferre vor den walt hin vß, obe ir ergen eyniche frouwe mögent finden. Lieber herre, ylet üch snelleclich. Ich wil myn we lyden also geduldeclich ich kan.« Da schied sich der hertzog balde von dannen.41

Alheyt gelingt es in ihrer Hinwendung zu Herpin zwar, aus dem Kampf gegen die Schmerzen ein Akzeptieren des Schmerzes zu machen und auf diese Weise ihre Leidensbereitschaft zu demonstrieren. Aber auch wenn sie versucht, geduldig wartend auszuharren, muss sie doch schon kurze Zeit später ganz allein im Wald, allerdings mit göttlichem Beistand, einen Sohn zur Welt bringen: er [Herpin] was aber nit ferre, das gleubt vo war, daz got der frouwen eynen schonen sone beschwert hat.42 Die Schwangerschaft leitet nun unmittelbar zur ›Mutterschaft‹ über und damit zu einem typisierten ›Weiblichkeitsideal‹, an dem der Erfolg weiblicher Lebensentwürfe gemessen wird. ›Mutterschaft‹ bindet sich zum einen an die körperliche Disposition ›der Frau‹ zur Geburt, zum anderen handelt es sich aber auch um ein soziales Handlungsmuster, in dem sich ethische Kategorien – wie Liebe, Hingabe, Leiden, Dulden und Dienen  – kreuzen und in Bezug zu Religiosität und Symbolwert stehen. Auf diese Weise erfolgt eine Vermischung eines mehr oder weniger klar definierten Idealtypus von ›guter Mutterschaft‹ mit individuellen Erfahrungen im Umgang mit Kindern, die vor allem der Sicherung des Überlebens des Kindes dienen und zu dessen Aufnahme in die Gemeinschaft durch Pflege, Zuwendung und Schutz beitragen.43 Dies bedeutet, dass sich eine fürsorgebezogene Haltung aber nicht nur der leiblichen Mutter zuordnet lässt. Ganz im Gegenteil, die Herzogin markiert sie geradewegs als eine soziale Ressource, indem sie das emotionale Band  auf mehrere Parteien aufteilt: Sie evoziert die ›Mütterlichkeit‹ Gottes. Diese Pluralisierung der Fürsorge-Bindung wird im 40  Vgl. Schadler, Vater, Mutter, Kind werden, 15 f.; Thiessen/Villa, »Mütter und Väter«, 13 f. 41  Herzog Herpin (B), Bl. 2r, 29,13–17. 42  Herzog Herpin (B), Bl. 2r, 29,18 f. 43  Vgl. Brinker-von der Heyde, Geliebte Mütter – Mütterliche Geliebte, 16 f. u. 35 f.



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Prosaepos mit den Bedingungen räumlicher Ordnung, religiöser Kommunikation und familiärer Dimensionen verknüpft. Zuerst ruft Alheyt während der Geburt die Gottesmutter als Vorbild aller Mütter an und bittet sie um Hilfe. Maria dient ihr als gefühlsbetonte Identifikationsfigur, da sie Freuden und Leiden mit ihrem Kind teilt, an ihrem ›Mitleiden‹ fast zerbricht und doch demütig dem göttlichen Willen folgt.44 Nach der Geburt überantwortet die Herzogin das Überleben und die Zukunft ihres Kindes dann Gottes Verantwortung. Als Körper- und Erinnerungszeichen beglaubigt ein rotes Kreuz auf der Achsel des kindlichen Helden dessen göttliches Auserwähltsein und verortet ihn gleichzeitig innerhalb der christlichen Gemeinschaft:45 Vff des kindes rechter achsel, das ist war, stunt ein rot crütze, das ersach die frouwe. Da nam sy ir kint vnd halsete vnd küste is vnd reyß ein stuck abe von irem sijden rock, den sy an hatte, vnd wickelt das kint dar inne. Sij sag, das es ein son was vnd lobet got von gantzem hertzen. Sy sprach: »Du rechter erbe von Burges, wie bist du so gar enterbet. Got wolle dir narunge bescheren vnd dinen lip behüden.«46

Diese religiöse Versicherung steht  – wie die Herzogin ihrem Neugeborenen gegenüber betont  – im Gegensatz zur Destabilisierung, die die Herrschaftslinie des Herzoghauses erfahren hat. Denn einerseits verbürgt die Schönheit des Säuglings zwar seinen Adel und die dynastische Abkunft markiert den Rang eines Herzogs, andererseits trägt das Kind aber das väterliche Erbe der sozialen Deklassierung und radikalen Vereinzelung mit sich. Aufgrund der unsicheren Lebenslage von Mutter und Kind – vor allem durch die Erfahrung von Verbannung und Gewalt sowie die Erwartung von Exil und materieller Not  – sieht Alheyt im Gebet ihre einzige Handlungsressource. Das Gefühl, mit der eigenen körperlichen und seelischen Not nicht allein zu sein, ist für sie eine Erfahrung, die das Überdauern perspektiviert.47 Ihre Fürbitte deutet auf den weiteren Handlungsverlauf hin, da das Überleben ihres Sohnes schon bald von diesem göttlichen Beistand abhängig sein wird, wie es die Abbildung der HeidelbergerHandschrift (C) in Szene setzt: 44  Vgl. Gert Hübner, Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im Eneas, im Iwein und im Tristan (Bibliotheca Germanica 44), Tübingen/Basel 2003, 48 f.; Herz, Schwieriges Glück, 107 f. 45  Vgl. Christiane Ackermann/Klaus Ridder, »Trauer  – Trauma  – Melancholie. Zum ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach«, in: Wolfram Mauser/Joachim Pfeifer (Hgg.), Trauer (Freiburg Literaturpsychologische Gespräche, Jahrbuch für Literatur und Psychologie 22), Würzburg 2003, 83–108, hier 92 f. 46  Herzog Herpin (B), Bl. 2r, 29,19–26. 47  Vgl. Brinker-von der Heyde, Geliebte Mütter – Mütterliche Geliebte, 220 f.

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Abb. 1: Wie die hertzogin im walde vnder eynem eich boum eyns schonen sons genas: Universitätsbibliothek Heidelberg, Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: ›Herpin‹ (C), Cod. Pal. germ. 152, fol. 6v  – CC-BY-SA 3.0.

Während die Herzogin nämlich ihr Kind noch im Arm hält, es zärtlich liebkost, umsorgt, küsst, umarmt und wickelt  – und auf diese Weise positiv konnotiertes Fürsorgeverhalten demonstriert  – wird sie plötzlich aus dem Hinterhalt von bewaffneten Räubern überfallen, soll entführt und verkauft werden: Uff der selben zijt, als die frouwe also lag, kamen dry mörder zu ir. Da sye die edele frouwe sahen, schöne vnd wyße, eyner sprach zu dem andern: »Die frouwe müssen wir stelen, wir wollen sij wol sere düre verkeuffen.« Sy hüben vff die hertzogynne vff ein phërt.48

Unvermittelt wird die Freude über das schöne und gesunde Kind von Argwohn, Kummer und Verlustangst überdeckt, denn den Säugling wollen die Räuber auf der Lichtung zurücklassen. Die Herzogin beginnt erneut laut und verzweifelt zu schreien und versucht dann in einer direkten Ansprache an das Erbarmen der Räuber zu appellieren: 48  Herzog

Herpin (B), Bl. 2v, 30,5–9.

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Die frouwe wart mit luder stymme kryschen, sji sprach: »Ir lieben herren, lassent mich durch godes willen rüwen, ich bin aller erst eins kindes genesen, das mögent ir wol hie vor üch sehen ligen. […] Ach, lieben herren, lasset mich alhie lygen. Wölt ir ye, das ich mit uch riden, so gebent mir myn sone, das er nit hungers sterbe vnd von den wylden dyeren nit verderbe.«49

Trotz der Gefahr, in der sich die Herzogin selbst befindet, richtet sich ihr Fokus einzig auf das Wohl ihres Kindes aus. Die Gefährdung, die dem Leben des Kindes allein im Wald durch Hunger und von wilden Tieren droht, benennt sie ausdrücklich. Mit diesem Argument evoziert Alheyt bereits die spätere Interspezies-Beziehung, in der es gerade ein wildes Tier sein wird, das ihrem Sohn das Leben rettet. Sowohl emotionale als auch rationale Argumente bleiben bei den Räubern jedoch ohne Wirkung, denn die Männer sehen in der Pflege eines schreienden Säuglings keinen Gewinn, sondern nur eine Belastung. Auf die Einsicht der Herzogin, dass sie ihr Kind zurücklassen muss, folgt ein Gefühlsausbruch, so dass sich die Intensität ihrer ›Mutterliebe‹ in der Intensität ihres Leidens spiegelt:50 Da die frouwe das horte, sy viel in omacht zehen werbe vff eÿn ander, sy konde sich nit getrösten. Die diebe furtten die frouwe hinweg  – got gebe yne ewigen flüch  – durch den grüselichen walt. Das we, die frouwe da leyt, das mochte nieman sagen.51

Das Unvermögen der Herzogin, sich selbstbestimmt zur Wehr zu setzen, und der daraus resultierende untröstliche Schmerz, den selbst der Erzähler nicht in Worte zu fassen vermag, finden einen expressiven körperlichen Ausdruck. Die Herzogin verliert jeden Halt, bricht gleich zehnmal hintereinander ohnmächtig zusammen und wird doch von den Räubern verschleppt, welche der Erzähler für dieses Handeln verflucht. Das Kind bleibt allein im Wald zurück. 2. Wie vier wuntschel frauwen kamen in den walt vnd fonden daz kynt und eine yglich gab ym eyn wuntschel52: Göttlicher Schutz und ›anderweltliche‹ Anlagen des kindlichen Helden Nach der Trennung des Kindes von beiden Elternteilen richtet sich die Aufmerksamkeit des Erzählers auf die Errettung des Säuglings, die durch göttliche Hilfe erfolgt: 49  Herzog

Herpin (B), Bl. 2v, 30,9–18. Koch, Trauer und Identität, 34. 51  Herzog Herpin (B), Bl. 2v, 30,24 ff. 52  Bildüberschrift, in: Herzog Herpin (B), Herzog August Bibliothek, Cod. Guelferbytanus 46 Nov. 2°, Bl. 2vb. 50  Vgl.

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Hye wil ich ein wyle von der frouwen lassen vnd wil üch sagen von dem kind, dem got helffen wolde. Da kamen vier fien, das sint wunschel frouwen. Sy sahen an das kint vnd begonden es vff wickelen, sy sahen das crütz rot vnd clar.53

Die Praktiken der ›Mutterschaft‹ werden nun auf weitere Akteure übertragen, so dass mitten im typisierten Raum der Gefährdung und außerhalb der höfischen Sphäre doch ein Netzwerk der Fürsorge entstehen kann, das sich sowohl durch ›anderweltliche‹ als auch durch ›tierliche‹ Bezugspunkte auszeichnet.54 Einer linearer Erzählweise folgend dient die enfanceEpisode dazu, das Kind in seiner Disposition zwischen Verwilderung und Hof als Helden und Herrscher zu positionieren. Die Spannung zwischen heroischen und höfischen Elementen wird in einen kommunikativen und performativen Prozess der Heroisierung eingebunden, der dem Kind spezifischen Qualitäten und Herausforderungen zuschreibt und ihn im Erzählen zum Helden ›macht‹.55 Zuerst finden vier Gabenfeen den verlassenen Säugling, die ihn durch ihre Befähigung zur Wunscherfüllung mit ›anderweltlichen‹ Anlagen ausstatten können. Während Feenwesen in literarischen und geistlichen Diskursen wiederholt mit Erscheinungsformen des Dämonischen oder Teuflischen in Verbindung gebracht werden, erhalten die wuntschel frauwen hier durch ihr direktes Nachfolgen auf das göttliche Hilfsgebot eine christlich-religiöse Absicherung.56 In der Abbildung der Wolfenbütteler-Handschrift (B) werden zwei Aspekte dieser Episode zusammengeführt: Zum einen die Entdeckung des kreuzförmigen Males, zum anderen die Konsequenzen dieser Entdeckung. Die vier Feen umschließen das im Vergleich zu ihnen sehr große Kind in einem Kreis und nehmen es sitzend in ihrer Mitte auf, beschauen und berühren es. Eine der Feen hält das Kind auf ihrem Schoß und bekräftigt  – ebenso wie eine zweite Fee  – mit ausdruckstarkem Fingerzeig den Wunsch- oder Zaubergestus. Der Zuspruch der Gaben steht im Mittelpunkt der Fürsorge-Beziehung, während die beiden anderen Feen das Kind ebenfalls an Armen und Beinen halten und stützen. Hierbei zieht das rote Kreuz, das in der Rückenansicht zwischen den Schultern platziert 53  Herzog

Herpin (B), Bl. 3r, 31,6–10. Armin Schulz, »in dem wilden wald. Außerhöfische Sonderräume, Liminalität und mythisierendes Erzählen in den Tristan-Dichtungen: Eilhart  – Béroul  – Gottfried«, DVjs 77 (2003), 515–547; Schul, »Wildes Lieben?«. 55  Vgl. Lienert, »Exorbitante Helden?«, 41 f.; Schul, HeldenGeschlechtNarrationen, 324–337. 56  Vgl. Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, 50–56; von Bloh, Historie von Herzog Herpin: Literarhistorische Beschreibung, 19. 54  Vgl.



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Abb. 2: Wie vier wuntschel frauwen kamen in den walt vnd fonden daz kynt und eine yglich gab ym eyn wuntschel: Herzog Herpin (B), Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelferbytanus 46 Nov. 2°, Bl.  2vb.57

wurde, die Blicke der dargestellten Figuren ebenso wie der Rezipienten_ innen auf sich. Denn an diesem Körperzeichen57 erkennen die Feen die besondere Bestimmung des Kindes. Es veranlasst sie zu ihren Wünschen, deren physische Exorbitanz damit gleichzeitig eine christliche Motivierung erhält.58 Der kindliche Körper, der eigentlich im Heranwachsen erst zum heroischen Handeln befähigt ist, wird zum Produkt einer magisch›anderweltlichen‹ Materialisierung, wenn die wuntschel frauwen  – von denen die vordere, rotgekleidete mit einem Besen und die ältere, schwarzgekleidete mit einer Krücke ausgestattet sind – als Hexen oder Schicksalsfrauen auftreten, die über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestimmen können. Die Heldengenese zeichnet sich als eine Verschränkung von Geschlecht, Alter, Stand und ›Erwählt-Werden‹ aus, wenn sich die FeenWünsche in den Heldenkörper einschreiben, ihn optimieren und dessen Handlungspotenz erhöhen:59

57  ©  Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: http://diglib.hab.de/mss/46-no viss-2f/start.htm. 58  Vgl. Historie von Herzog Herpin: Farbmikrofiche-Edition der Handschrift Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelferbytanus 46 Nov. 2°. Kunsthistorische Einführung und Beschreibung der Handschrift von Eva Wolf, München 2000, 26 f. Die Heidelberger-Handschrift (C) setzt die Feen-Begegnung nicht ins Bild. 59  Vgl. von See, »Held und Kollektiv«, 37; Schul, »(V)Erlesene Animalität«, 251 f.

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Die eyne sprache: »Ich wil dem kinde geben ein groß riche gabe, das es wieder vff kommet. Ich wil, das es nit sol erstochen oder erslagen werden in keym stryde, da sin lip hin kompt, vnd das ÿne keyn diere geschedigen möge.« »Frouwe«, sprach Orian, »das kint mag ich wol liep han. Ich wil yme ouch eyne gabe geben, das man yne vörche. Ich wil, das er der küneste werde, der vff ertrich lebe.«60

Die ersten beiden Feen verleihen dem Kind sowohl die Fähigkeit, im Kampf unverwundbar als auch aufgrund seiner außerordentlichen Tapferkeit gefürchtet zu sein. Das Gaben-Ritual stiftet somit zum einen Gemeinschaft, indem das Kind durch göttlichen und ›anderweltlichen‹ Beistand vor gefahrvollen Situationen in der Wildnis und im Kampfgeschehen geschützt wird. Die zweite Fee evoziert außerdem eine emotionale Verpflichtung gegenüber dem Kind. Zum anderen verweisen die einzigartigen Anlagen aber bereits auf ein konfliktbehaftetes Verhältnis zwischen Held und Hof. So knüpft sich an die ersten beiden Gaben ein furchterregendes Charisma, das der zu erwartenden heroischen Exzeptionalität und Transgressivität entspricht und eine Überschreitung gesellschaftlicher Normen miteinbezieht.61 Durch die Prophezeiungen erfolgt eine heroische Sinngebung vor der eigentlichen Heldentat und die Intention zukünftiger Handlungen wird in der Gegenwart in diese hineinprojiziert. Somit trägt schon der Säugling die Veranlagung zu sozialer Anerkennung ebenso wie zu sozialer Bedrohung in sich. Dye drytte ffrouwe sprach snellich: »Ich wil, ee dann er in ere styge, das er habe vil pin vnd armüt.« Morgue, die vierde frouwe, wart bedrübet, sÿ sprach: »Frouwe, was ziegent ir das arme kint? Ir hant ym eyn böse gabe geben. Ich wil das kint, ee üwer wonsch vor sich gee, eyn konnigrich sol regieren vnd sol eyn kron vff syme heubet han, die sol clare lüchten.« Da schieden die frouwen hinweg vnd liessen das kint lygen also, das sye es daraffter numme berürten.62

Die dritte Fee erweist sich als weniger großzügig  – was sich in den Reaktion der vierten Fee spiegelt  –, denn sie wünscht dem Kind, dass es zunächst große Not erleiden soll, bevor es gesellschaftliches Ansehen gewinnen kann. Mit diesem Wunsch wird der Prozess des ›Held-Werdens‹ mit Praktiken des Erduldens von Leid und des Durchhaltens agonaler Situationen verknüpft, so dass sich die heroische Qualität der Exemplarität abzeichnet.63 Die vierte Fee gleicht die Aussicht auf Widerstand, Risiko 60  Herzog 61  Vgl.

Herpin (B), Bl. 3r, 31,10–17. Lienert, »Exorbitante Helden?«, 52 f.; Friedrich, »Held und Narrativ«,

175 f. 62  Herzog Herpin (B), Bl. 3r, 31,17–25. 63  Vgl. Tuczay, »Helt und kühner degen«, 48 f.

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und Gefahr durch ihren finalen Wunsch aus, der dem Kind die Fähigkeit und Möglichkeit zusichert, am Ende ein Königreich zu regieren. Enfance und Bewährung in der Wildnis stehen somit am Anfang der Erzählung und zeichnen gleichzeitig den Lebensweg vor, so dass der kindliche Held trotz seiner räumlichen und sozialen Ausgrenzung in den FeenWünschen immer wieder auf die höfische Sphäre bezogen bleibt.64 Das Handlungsgeschehen ist mit dieser ›anderweltlichen‹ Verheißung grundlegend von ihrem Ergebnis her motiviert, wenn das entwurzelte Kind im Verlauf der Ereignisse sein rechtmäßiges Erbe zurückerobern wird. Das Prosaepos folgt damit einerseits einer finalen Ausrichtung, andererseits wird diese aber mit einem episodenhaften Erzählen verknüpft, so dass eine vielfach überkreuzende Erzählstruktur im Trennen, Suchen und Finden entsteht.65 Dementsprechend wird die Chronologie des ›Held-Werdens‹ durch eine eingeschobene Episode durchbrochen und in einem retardierenden Moment hinausgezögert, wenn stattdessen die emotionale Bindung und der Verlustschmerz des Helden-Vaters fokussiert wird: Hie lassen ich von dem kinde vnd sagen wieder von dem vader […]. Er ginge also lange, das er den eychen baume fant, den hat er gezeychent, aber er enfant weder hußfrouwe noch kint, des begonde er sere erschrecken. Da mag yederman prüben, das es yme leyt was, er schrey vnd süffczet, manchen slag er yme gap, das daz rode blüt vff die erde floß. Es wante an eyme cleynen, das er sich selber gedöt hette. Er sprach mit luder stimme: »Ach got, wie sol es mir nü ergan […]. Ach frouwe, wo syt ir nü? Wer sol mich nü trösten? Maria, godes müder, ich besorge, das ich mich selbst döde.« Da slug er sich mit sÿner füste, das er vff die erde viel.66

Der Erzähler kündigt den Szenenwechsel an und zeichnet die erschreckende Trennung und die beharrliche aber auch zermürbende Suche des Herzogs nach, der seine Ehefrau und das Kind nicht mehr finden kann. Diese Verlusterfahrung führt bei Herpin zu einem verbalen und physischen Ausbruch, so dass sich das Ausmaß seiner Klage und Besorgnis in einem mehrfachen Adressatenbezug abbildet  – mit Selbstansprache, mit dem Appell an Gott und Maria, mit dem Ausruf an seine abwesenden Frau – und ihren Ausdruck im Schreien, Seufzen, Sich-selbst-Schlagen, im 64  Vgl.

Weitbrecht, »Genealogie und Exorbitanz«, 286 f. Herz, Schwieriges Glück, 106 f.; Udo Friedrich et al., »Anfang und Ende«, in: ders. et al. (Hgg.), Anfang und Ende: Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne (Literatur – Theorie – Geschichte 3), Berlin 2014, 11–30; Harald Haferland, »Motivierung im Erzähltext. Ein Systematisierungsversuch mit einem Blick auf die Geschichte des Erzählens«, in: Martha Hórvath/Katja Mellmann (Hgg.), Die biologisch-kognitiven Grundlagen narrativer Motivierung, Münster 2016, 13–54. 66  Herzog Herpin (B), Bl. 3r, 32,10–33,6. 65  Vgl.

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eigenen Todeswunsch und schließlich im Zusammenbruch findet. Auf diese Weise wird zumindest über das Gedenken auch der Vater in die Fürsorge-Relation einbezogen.67 Herzog Herpin begibt sich nun auf eine Suchfahrt, die den episodenhaften Handlungsverlauf durch das wiederkehrende Narrativ des Verlierens und Wiederfindens strukturiert: Eine cleyn wiele wil ich hertzog Herpin geswigen vnd so es zijt ist, wil ich vorbas von yme sagen. Ich wil uch sagen von dem kinde, das daz die lewynne vier tage in der hole zoch.68 Die Feen haben in ihren Wünschen auch diejenigen Beziehungen definiert, die der Junge zu wilden Tieren aufbauen wird. Die Wünsche spiegeln die Ängste, die die Herzogin vor ihrer Entführung artikuliert hat, sie gleichen diese aber durch schützende Beziehungsformen aus: Somit eröffnen sich neuartige Wege einer ›Begegnung der Arten‹.

3. Wie eyn lewynne das kint fant und drugk is in ein hole vnd seugt is bisz an den vierden dag69: Affiziert-Werden in einer ›Begegnung der Arten‹ Unmittelbar nachdem die Feen verschwunden sind, tritt bereits der erste Wunsch in Kraft und damit bestätigt sich der besondere göttliche Schutz, unter dem der kindliche Held steht. Eine Abbildung der BerlinerHandschrift (A) setzt die ›anderweltlichen‹ und ›tierlichen‹ Bezugspunkte der enfance-Episode simultan in Szene (siehe nächste Seite). Die Waldlichtung im Vordergrund ist durch eine Buschreihe in zwei Bereiche unterteilt. Im linken Bildteil stehen die vier Feen, werden räumlich auf Distanz gehalten, können nur auf den am Boden liegenden nackten Säugling blicken und ihn aus der Ferne mit ihren Wünschen versehen. Auch er trägt auf seiner Schulter das angedeutete Kreuz.70 Im Netzwerk der Fürsorge-Relationen beschränkt sich die körperliche Interaktion des Betastens, Behütens und Aufnehmens auf die Seite des Interspezies-Kontakts. Die Löwin, die in allen Bildern der drei Handschriften mit einer Mähne dargestellt ist  – somit männliche und weibliche Körperattribute vereint –, leckt das Kind ab und beugt sich mit weit geöffneten Maul über 67  Vgl. Koch, Trauer und Identität, 56 f.; Hübner, Erzählform im höfischen Roman, 135 f.; Herz, Schwieriges Glück, 107 f. 68  Herzog Herpin (B), Bl. 3v, 34,6–9. 69  Bildüberschrift, in: Herzog Herpin (B), Herzog August Bibliothek, Cod. Guelferbytanus 46 Nov. 2°, Bl. 3ra. 70  Vgl. Glassmann, Die Berliner Herpin-Handschrift, 72.



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Abb. 3: Historie von Herzog Herpin (A), Staatsbibliothek zu Berlin  – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ., S. 14.71

es. Diese Darstellung erinnert an die schützende und lebenspendende Körperpraxis von Löwin71 und Löwe im Umgang mit ihren Jungtieren im Millstätter Physiologus: So ist diu dritte nature sin, swenne diu Lewin daz welf totiz erwirfet, dar zuo sich diu muotir rihtet. si huotet sin dri tage, unz daz der vater chumet dare. so blaeset er undir daz antluzze der jungen, lebentich werdent si an den stunden.72 71  ©  Staatsbibliothek zu Berlin  – Preußischer Kulturbesitz: http://resolver.staats bibliothek-berlin.de/SBB0000EB­9300000000. 72  Millstätter Physiologus, Str. 8, zitiert nach: Der Millstätter Physiologus. Text, Übersetzung, Kommentar v. Christian Schröder (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 24), Würzburg 2004, 66. Konrad von Megenberg überliefert mit Bezug auf Augustinus eine Variation der Erweckung; hier erschrecken und erwachen die schlafenden Jungtiere durch das Gebrüll des Löwenvaters (vgl. Konrad von Megenberg, Buch der Natur III.A.37 Von dem lewen, 168,14–16. Zitiert nach: Robert Luff/Georg Steer [Hgg.], Das ›Buch der Natur‹ Konrads von Megenberg, Bd. 2  – Kritischer Text nach den Handschriften (Texte und Textgeschichte 54), Tübingen 2003).

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Die Fürsorge-Beziehung ist auch hier in ein relationales Gefüge integriert, wenn die Löwin ihr Junges zunächst tot zur Welt bringt, es bewacht und behütet bis der Löwe nach drei Tagen kommt, um ihm Leben einzuhauchen. Der Löwe wird im Physiologus zum Zeichen der göttlichen Schöpfungskraft, das Löwenjunge wird auf Christus und seine Auferstehung hin ausgelegt. Der Naturdeutung folgend bekommt die ›Begegnung der Arten‹ im Herzog Herpin auf diese Weise auch eine christlich-allegorische Prägung.73 Die grosse wilde lewynne erhält dabei einen deutlich agentiven Status, da ihr Tätig-Sein als handlungstreibende Kraft im Interspezies-Kontakt hervortritt, auch wenn im Hintergrund der schützende göttliche Einfluss eine friedliche Begegnung zwischen Tier und Mensch initiiert. Die Perspektive auf die Bedingungen dieses Interaktionsmodus hin auszurichten, erfordert aber  – wie Donna Haraway betont  – eine erhöhte Sensibilität für ein andersartiges Gegenüber, eine Offenheit für verbale und non-verbale Mitteilung und für die jeweilige Fähigkeit der Erwiderung. Sowohl im Text als auch im Bild wird ein ›MiteinanderWerden‹ erzählt: im Umkreisen, im Anschmiegen und im Lecken – wie es die Berliner-Handschrift (A)  – darstellt, oder im vorsichtigen Aufnehmen und zwischen den Zähnen Tragen  – wie es die Heidelberger-Handschrift (C) zeigt (siehe nächste Seite).74 Die Löwin tut dem Säugling aber nicht nur nichts zuleide, sondern sie umsorgt, ernährt und schützt ihn sogar:75 Dye grosse wilde lewynne durch den walt gieng. Als balde sye das kint sach, so ylete sye zü yme. Sye dede yme keyn leyt, sy begonde es zu lecken, sye nam es in yre zene ynd drüg es durch den walt. Sy brochte es vor ir hoele vnd stieß es dar inne. Vier dage seugete sy es mit yrer mylch.76

Diese Hinwendung zum Kind vervielfältigt sich im intermedialen Arrangement, wenn es bspw. im Zweitdruck heißt: si [die Löwin] begund es lieblich zu lekken / nam es darnach in jr zeen / vnd teht jm doch keinen 73  Vgl. zur Symbolik und zum Verhalten des Löwen u. a. Manfred Zips, »Zur Löwensymbolik«, in: Helmut Birkhan et  al. (Hgg.), Festschrift für Otto Höfler zum 65. Geburtstag, 2 Bde., Wien 1968, Bd. II, 507–518; Peter Bloch, [Art.] »Löwe«, in: LCI III, Rom et  al. 1971, Sp. 112–119; Clemens Zerling, [Art.] »Löwe«, in: ders., Lexikon der Tiersymbolik. Mythologie – Reliogion – Psychologie. Völlig neu überarb. u. erw. Neuausg., Klein Jasedow 2012, 197–203; Andreas Kraß, »Noble Doppelgänger. Der Löwe als Begleiter des Menschen in der Literatur«, in: ders./Judith Klinger (Hgg.), Tiere: Begleiter des Menschen in der Literatur des Mittelalters, Köln et  al. 2016, 163–182. 74  Vgl. Haraway, When Species Meet, 16 f. u. 36 f.; Ullrich, »Who cares for animals?«, 95 f. 75  Vgl. Schul, » ›Wolfsbegegnung mit Folgen‹ «, 229 f.; Friedrich, Menschentier und Tiermensch, 328 f. 76  Herzog Herpin (B), Bl. 3r, 32,5–9.



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Abb. 4: Wie ein lewy kam vnd das kint das die hertzogin In dem wald gelassen hat In Ir hol trüg: Universitätsbibliothek Heidelberg, Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: ›Herpin‹ (C), Cod. Pal. germ. 152, fol. 7v  – CC-BY-SA 3.0.

schaden.77 Das Adverb vereindeutigt die Beziehungsqualität und ruft die Liebkosungen der Herzogin in Erinnerung, kurz bevor die Mutter-KindBindung gewaltvoll beendet wurde. Auf diese Weise erhält dieser Transfer der ›Mutterschaft‹ eine textstrukturierende, wiederholende und gleichzeitig proleptische Dimension, da auch diese fürsorgende Beziehung ein erzwungenes Ende finden wird.78 Doch zunächst bietet der geteilte Lebensraum der Löwen-Höhle, der in den Handschriften im Gegensatz zur weiten Lichtung als abgegrenzter Schutzraum entworfen ist, eine begrenzte Zeit von Geborgen-Sein und Zweisamkeit. Gleichwohl wird die Zuwendung des Raubtiers aber auch in ihrer spezifischen Eigenart präsentiert und 77  Historie von Herzog Herpin, Zweitdruck, Bl. 13r, gedruckt in Frankfurt bei Thomas Rebart und Wiegand Hans Erben, um 1567. Zitiert nach dem Berliner Exemplar, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Yu 1930 R.; Vgl. Ralf Konczak, Studien zur Druckgeschichte zweier Romane Elisabeths von Nassau-Saarbrücken ›Loher und Maller‹ und ›Herpin‹, Frankfurt a. M. 1991; von Bloh, Ausgerenkte Ordnung, 36–54. 78  Vgl. Schulz, Poetik des Hybriden, 322.

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changiert wiederholt zwischen Faszination und Gefährdung, zwischen Annäherung und Abgrenzung. Diese ambivalenten Zuschreibungen können antik-naturkundliche Erzähltraditionen berücksichtigen, so betont u. a. Konrad von Megenberg im Buch der Natur (um 1349–1350) mit Bezug auf Solinus: daz der leo niht leiht zuern, er ʃei dann geʃert oder gelaidigt. Wenn aber er erzuernt wirt, ʃo zerreizzt er den zornmacherz e mal. Den geʃtrachten tuot er niht. Waz er gevangner vint, den vertregt er auch. Er ertoet den menʃchen nuemer mit willen, in hunger danne gar ʃer.79

Einerseits zeigt sich in den angeführten Exempeln wiederholt die Befähigung des Löwen, mit Menschen in Kontakt zu treten, Aggressionen zu zügeln und Schwächere zu schonen, gleichzeitig wird die ihm ›von Natur aus‹ zukommende Wildheit immer wieder betont. Als liminales Symbol oszilliert der Löwe somit zwischen den Bedeutungswelten des Höfischen und Wilden. Da die Löwin im Herzog Herpin für den Identitätsdiskurs des Helden  – auch durch die erzählte Figurenwahrnehmung  – zur Identifikationsfigur gemacht wird, partizipiert bereits das Kind an dieser transgressiven Qualität.80 Hierbei kommt der innigen Körperpraxis des Säugens eine besondere Bedeutung zu, wie es die Abbildung die WolfenbüttelerHandschrift (B) zeigt (siehe nächste Seite). In ihrer Körperhaltung umschließt die Löwin das Kind mit ihrer Gestalt, nimmt es ähnlich, wie die Feen zuvor in ihre Mitte. Mit einer Zitze am Hinterleib säugt sie das vor dem Stamm der Eiche liegende Kind und mit dem Kopf beugt sie sich zu ihm vor, um es zu lecken. Beide Figuren sind auf diese Weise aufs engste miteinander verbunden und veranschaulichen eine nährende Zuwendung und emotionale Verbundenheit gleichermaßen in Körperpraxis und Körperausdruck.81 Diese ambivalenten Darstellungsmuster des ›Miteinander-Werdens‹ rufen zum einen den antiken Erzähltypus der tierlichen ›Mutterschaft‹ in der Tradition von Romulus und Remus auf. Zum anderen steht die Löwin, die im Auftrag des nährenden Gottes handelt, auch hagiographischer und literarischer Tradition

von Megenberg, Buch der Natur III.A.37 Von dem lewen, 168,21–24. Iwein gilt die Gemeinschaft eines Menschen mit einem Löwen als Auszeichnung, denn die Hofgesellschaft schließt aufgrund dieser Beziehung auf die außerordentlichen Qualitäten des Ritters (Hartmann von Aue, Iwein, v. 4811–17. Zitiert nach: Hartmann von Aue, Iwein. Mhd./Nhd, übers. Rüdiger Krohn, komm. Mireille Schnyder, Stuttgart 2011). 81  Vgl. Wolf, Historie von Herzog Herpin. Kunsthistorische Einführung und Beschreibung, 26 f. 79  Konrad 80  Im



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Abb. 5: Wie eyn lewynne das kint fant und drugk is in ein hole vnd seugt is bisz an den vierden dag: Herzog Herpin (B), Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelferbytanus 46 Nov. 2°, Bl.  3ra.82

des Gefährtentieres82 nahe.83 Auf welche Weise die Löwin die Befähigung zum Nähren des Kindes erhält, bleibt offen. Ob sie ein Jungtier verloren hat, ob der Milchfluss  – geistlicher Tradition folgend  – als ein Ausweis von Mutterliebe gilt oder ob sie durch göttliches Eingreifen zur nährenden Helden-Mutter ›gemacht‹ wird, erzählen weder Text noch Bild. Im Säugen wird aber ein deutlicher struktureller Zusammenhang zwischen Gebären und Nähren hergestellt und damit erneut eine verkörperte Nähe zur leiblichen Mutter angedeutet. So vervollständigt das Trinken der Muttermilch  – Isidor von Sevilla entsprechend  – einen Ernährungskreislauf, der im Mutterleib begonnen hat.84 Das Säugen erneuert demzufolge nach der Geburt die leibliche Verbindung zwischen Mutter und Kind und es entsteht ein absolutes Nähe- und gleichzeitiges Abhängigkeitsverhältnis. Ein Erzählmotiv, das in der höfischen Literatur besonders dort genutzt wird, wo der außergewöhnliche Charakter und Status der Frau im Beziehungsgefüge betont werden soll.85 Der Muttermilch kommt dabei allerdings nicht nur eine Nährende, sondern auch eine charakterbildende Wirkung zu, indem die Kinder beim Trinken das Wesen der Mutter in 82  ©  Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: http://diglib.hab.de/mss/46-no viss-2f/start.htm. 83  Vgl. Bruland, Wilde Kinder, 102 f.; Kraß, »Noble Doppelgänger«, 167 f. 84  Vgl. Brinker-von der Heyde, Geliebte Mütter – Mütterliche Geliebte, 218. 85  Vgl. ebd., 220.

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sich aufnehmen. Da sich in der Löwin weiblich und männlich geprägte Eigenarten kreuzen, vermag sie sowohl ein mütterliches Erbe der triuwe als auch ein väterliches Erbe von sterke, manheit, Großmut, herrschaftlicher Macht und Vornehmheit als Tugenden weiterzugeben ebenso wie Wildheit, Übermut, Kühnheit und Gewaltbereitschaft. Auf diese Weise unterstützt das tierliche Nähren einen weiteren Wunsch der Feen, die dem Helden eine außergewöhnliche  – hier nun ›löwengleiche‹  – Tapferkeit und furchterregende Ausstrahlung prophezeit haben.86 4. Wie ein Ritter In dem wald Iagt vnd das kint by der lewyn fant87: Reflexion der Fürsorge-Beziehung und Reintegration des kindlichen Helden Nach vier Tagen wird die exklusive Zweisamkeit von Löwin und Säugling aufgehoben und eine textinterne Außenperspektive eingeführt, die das ›Miteinander-Werden‹ von Tier und Mensch reflektiert: Uff den vierten dag iaget ein ritter vom Lamparten. […] Nahe bij dem selben walde lag das sloß vff eyme hohe felse. Der ritter reit durch den walt, syn iage honde vnd winde lieffen mit yme. Got wolde, das er den tag abeture fant.88

Der Ritter Baldewin sowie sein ›tierliches‹ und menschliches Gefolge begegnen auf der Jagd eben jener Löwin, die das verlassene Kind in ihre Obhut genommen hat. Der Erzähler markiert die hieraus folgende TierMensch-Interaktion als ein abeture, als eine wunderbare Begebenheit und ein Wagnis, das erneut auf ein göttliches Eingreifen zurückgeführt wird.89 Hierbei wird die Ambivalenz der Wahrnehmung im Umgang mit dem ›Animalen‹ augenfällig, wenn Domestizierung und Wildheit miteinander konfrontiert werden, um eine Grenzposition der Löwin vorzuführen: Er fant die lewin, die des kindes warte. Sy sprange yme entgeigen, ÿne zu zurryssen, aber die honde, die vmb yne lieffen, beschutten yne vnd sprongen gein der lewynne, das sij von grymme schumete. Des herren knechte drungen vff die

86  Vgl.

von Bloh, »Die Rationalisierung des Wunderbaren«, 520. Herzog Herpin (C), Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 152, Werkstatt Ludwig Henfflin, um 1470, fol. 9r. 88  Herzog Herpin (B), Bl. 3v, 34,14–19. 89  Vgl. von Bloh, »Die Rationalisierung des Wunderbaren«, 521; vgl. Nicola Gess/ Mireille Schnyder, »Staunen als Grenzphänomen. Eine Einführung«, in: dies. et  al. (Hgg.), Staunen als Grenzphänomen (Poetik und Ästhetik des Staunens 1), Paderborn 2017, 7–18, hier 8 f. 87  Bildüberschrift:

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lewynne. Das das die lewynne sach, das man sy begonde zu dringen, da lieff sy snelliclich zu ir hoelen, der herre vnd sin knechte folgeten ir alles nach.90

Während der Erzähler den Angriff der Löwin auf Baldewin mit ihrer Fürsorge-Beziehung verknüpft, tritt sie für den Ritter und die Jagdgemeinschaft eindeutig als ein Aggressor auf, wenn sie sogar ›vor Zorn schäumt‹. Dem gilt es sich geschlossen entgegenzustellen. Die Abbildung der Berliner-Handschrift (A) erzählt die Ereignisse dieser ›Begegnung der Arten‹ simultan:

Abb. 6: Historie von Herzog Herpin (A), Staatsbibliothek zu Berlin  – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ., S. 47.91

Im rechten Vordergrund91 befindet sich der Säugling in der von dichter Vegetation eingefassten Löwen-Höhle. Davor ist die zum Kampf auf die Hinterpfoten aufgerichtete Löwin zu sehen, die mit weit aufgerissenem Maul, ausgestreckten Krallen und Zunge Jäger und Hunde abzuschrecken sucht, um das Kind mit ihrer wehrhaften Verkörperung abzuschirmen. Erneut verbinden sich dabei männliche und weibliche Attribute, da die 90  Herzog

Herpin (B), Bl. 3v, 34,9–25 u. 35,1. zu Berlin  – Preußischer Kulturbesitz: http://resolver.staats bibliothek-berlin.de/SBB0000EB­9300000000. 91  ©  Staatsbibliothek

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Zitzen der Löwin deutlich zu sehen sind.92 Baldewin hingegen beobachtet das Geschehen aus der Distanz, hält sich hinter den Jägern auf seinem Pferd sitzend mit dem Schwert bereit zum Angriff. Er kann sich die aggressive Reaktion der Löwin nun ebenfalls nur noch durch die Rolle der beschützenden ›Mutterschaft‹ erklären. Und so lässt er die Jäger in der Höhle nach einem Löwen-Jungen suchen, das er aufziehen kann: Sy sahen die hüle, da sy inn ginge. Der ritter rieff mit luder stymme: »Ir herren, gent furbas vnd besehent, was in der hülen sye, aber yrgen eyn ionger lewe da were, den ich züge.«93 Doch was die Jäger finden, übersteigt alle Erwartungen. In allen drei Handschriften löst die Einsicht, dass ein Menschenkind von einer Löwin umsorgt und beschützt wird, grundsätzlich Erstaunen aus, erhält die Aura des Wunderbaren und provoziert die Frage, wie ein solches ›Miteinander-Werden‹ wohl entstanden sein kann: Das wundert alle die da woren wie das kint da hin kommen were.94  – wie es in der Heidelberger-Handschrift (C) heißt. Gleichzeitig werden ambivalente Gefühle animiert, die von Neugierde über Freude  – wie in der Berliner-Handschrift (A)95  – bis hin zum Entsetzten reichen  – wie in der Wolfenbütteler-Handschrift (B):96 Die knechte gingen in die hüle. Als bald sy dar inne kamen, da sahen sy ein cleyn kint dar inne ligen, da wurden sy sere erfert vnd der ritter selber begonde sich zü senen. Yne name grosse wonder, da er das kint gesach also clein vnd iung mit solichem wesen.97

Mittels reflexiven Wissens lassen sich die Eindrücke der Jäger nicht ordnen, denn hier verlaufen die Grenzen des Vertrauten, so dass sich Baldewin  – in Konfrontation mit dem Fremden  – zum eigenen Schutz erst einmal segnet. Ob es sich hier nämlich um ein dämonisches Einwirken oder göttliches Wunder handelt, ist für die Jagdgemeinschaft nicht klar zu 92  Vgl. Glassmann, Die Berliner Herpin-Handschrift, 73. Von Bloh verweist bei dieser Darstellung auf den heraldisch springenden Löwen aus Wappenbildern als mögliches Vorbild und vermutet allerdings aufgrund der Mähne, dass es sich hierbei um ein männliches Tier handle (dies., »Die Rationalisierung des Wunderbaren«, 524–526). 93  Herzog Herpin (B), Bl. 3v, 35,1–4. 94  Herzog Herpin (C), 35,7. 95  Herzog Herpin (A), 35,8 und auch im Erstdruck: Da wurde[n] sie erfert / vn[d] der Ritter selber begunde sich zusegen / wan in nam groß wunder. Da er d[a]z kind sah (Historie von Herzog Herpin, Erstdruck (d): Straßburg, Johann Grüninger 1514: ›Der weis Ritter // wie er so getruwlich bei stund ritter Leu//wen / des Hertzogen sun von Burges / das er zu letst ein künnigreich besaß‹. Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Sign.: Yu 1921). 96  Vgl. von Bloh, »Die Rationalisierung des Wunderbaren«, 517 f. 97  Herzog Herpin (B), Bl. 3v, 35,4–9.

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erkennen. Das Staunenswerte dieser Beziehung wird aber im Kontrast der Eigenarten der beteiligten Akteure augenfällig.98 Die Differenz der Spezies geht mit Alters-, Geschlechts- und Handlungs-Differenzen einher: menschlich, männlich, klein und jung  – in der Berliner-Handschrift (A) auch noch von hoffelichem und clarem wesen99 steht im Gegensatz zu ›tierlich‹, weiblich, groß, wild, agil und gefährlich. Das passt nicht zusammen und das gilt es zu trennen: Er [Ritter Badewin] sprach zu synen knechten mit luder stymme: »Bringet mir das kint, das heyß ich üch!« Sy holten das kint vsser der hoelen. Da begonde die lewynne mit grosser stymme brummen vmb das selbe kint, daz ir genommen wart. Das ertrich begonde sij kratzen mit yren clauwen, große iamer vnd lyt stalt das diere da.100

Diese Ambivalenz zwischen weiblichen und männlichen Handlungspraktiken setzt die Abbildung der Wolfenbütteler-Handschrift (B) prägnant in Szene:10

Abb. 7: Wie ein riter hiez badwin jaget vff den vierten dag in dem walde vnd fant dasz kint by der lewynne in der hole vnd name daz mit yme vnd det is deuffen vnd lewe nennen: Herzog Herpin (B), Herzog August Bibliothek, Cod. Guelferbytanus 46 Nov. 2°, Bl. 3va.101

98  Vgl.

Gess/Schnyder, »Staunen als Grenzphänomen«, 8 f. Herpin (A), 35,11–12. 100  Herzog Herpin (B), Bl. 3v,35,9–15. 101  ©  Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: http://diglib.hab.de/mss/46-no viss-2f/start.htm. 99  Herzog

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Hier ist die Tier-Mensch-Interaktion in eine weiträumige, von oben gesehene Landschaft mit Flusslauf, Waldbestand, Felsen und befestigter Stadt eingebettet und es wird gezeigt, wie die Löwin das Kind im Kampf beschützt und es währenddessen säugt: Ihre tierliche Verkörperung ist gleichermaßen gewaltfähig und gefährlich wie nährend und bewahrend. Dies gilt sowohl als Zeichen des Affiziert-Seins der Akteurin selbst als auch als Akt des Vor-Augenführens und der Beglaubigung ihrer Bindungsqualität: Dy lewynne stalte groß iamer vnd leyt vmb das kint, das ir genomen wart, sy viel vff die erde vnd vff den weg.102 Die Schreie und die Ohnmacht des Tieres verlaufen parallel zur emotionalen Reaktion der Herzogin zuvor, so dass die Trennung des Kindes von seiner Mutter narrativ verdoppelt wird, wie es die Abbildung der Heidelberger-Handschrift (C) zeigt, wenn der Säugling von einem Jäger an Baldewin übergeben wird:

Abb. 8: Wie ein Ritter In dem wag Igt vnd das kint by der lewyn fant: Universitätsbibliothek Heidelberg, Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: ›Herpin‹ (C), Cod. Pal. germ. 152, fol. 9r  – CC-BY-SA 3.0.

Zwar ist Löwin in die Höhle zurückgezogen, doch nimmt sie in ihrer gefährlichen Körperpräsenz die gesamte Öffnung ein. Die Erfahrung des 102  Herzog

Herpin (B), Bl. 3v, 35,16 f.



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Verlusts des Kindes durch einen gewaltvollen Eingriff erzeugt auch hier einen emotionalen Ausdruck. Die Löwin beginnt verzweifelt zu toben, brüllt so laut, so dass der ganze Wald erdröhnt, wie der Erzähler in der Fassung C hervorhebt. Und außer sich vor Schmerz und Kummer wühlt sie das Erdreich mit ihren Klauen auf.103 Im Gegensatz zur Herzogin sucht die Löwin mit wehrhaftem Handeln die Trennung vom Kind zu verhindern, bleibt aber ebenfalls erfolglos. Da sie den Rittern jedoch unterliegt, ist ihr emotionaler Gestus protestierende Anklage und resignierende Annahme der erzwungenen Situation zugleich. Der Emotionsausdruck geht mit der ›tierlich‹ und männlich konnotierten Praxis des SichWehrens einerseits und der prekären weiblichen Position im hierarchisch organisierten Geschlechterverhältnis andererseits einher. Der Vorrang des leiblichen Erlebens, der Ausdruck ›tierlicher‹ Eigenart und der Status emotionsbezogener Kommunikation als Handlung kommen dabei gleichermaßen in den Blick.104 Dieses emotionale Handeln des Raubtieres reizt die Ritter zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Erfahrungswissen. Ihr Staunen und die Bezeichnung als grosses wonder indiziert eine (noch) nicht kategorisierbare Fremdheit und konstituiert damit eine Grenze des Verstehens, Wissens und Fühlens. Der Tier-Körper wird zum ›Aushandlungsort‹ der Differenzierung, da er nicht nur für die ›tierliche‹ Eigenart einsteht, sondern auch in Beziehung zum ›Anderen‹ tritt, wie sich an Baldewins Reaktion zeigt: Da sprach der ritter: »So mir sante Mertin, ich gesehe ein grosses wonder in der starcken lewynne, die sich vmb des kindes willen so betrüplichen stellet.«105 Er ruft Stankt Martin als Schutz-Heiligen und Nothelfer an und verortet die interspezifische Fürsorge-Relation damit als mitfühlendes, unterstützendes und schützendes Handeln. Dem Staunen, der Freude oder dem Entsetzen über das Wunderbare wohnt aber eine Ambivalenz inne, wenn es zu einem eine Grenze der Wahrnehmung, des Wissens und der emotionalen Erfahrung markiert, zum anderen aber bei den Rittern auch einen Handlungsimpuls der Regulation des Unbekannten auslöst. Das Außerordentliche dieser ›Begegnung der Arten‹ gilt es wieder in eine gewohnte Ordnung einzuhegen. Von dem Erfahrungswissen der Ritter geht somit eine normalisierende Macht aus, während die kommunikative Funktion des Emotionsausdrucks der Löwin ins Leere läuft. Wie zuvor bei der 103  Im Iwein wühlt der angriffslustige Löwe das Erdreich ebenfalls mit seinen Klauen auf, so dass die Riesen sich vor dem Tier fürchten (vgl. Hartmann von Aue, Iwein, v. 6690 f.). 104  Vgl. Koch, Trauer und Identität, 53. 105  Herzog Herpin (B), Bl. 4r, 35,18–20.

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Herzogin wird auch hier die Beziehung durch ein männlich-gewaltvolles Eingreifen abrupt beendet: »Ich sehen des weysen eyn rot crütz: So mir der got, der win vsser wasser machte«, sprach der ritter, »das kint ist kommen von hohem geslechte, es ist eins konnigs oder eins hertzogen oder sust eins fursten kint. […] So mir der lebendige got, das kint wil ich dragen in mynen pallas vnd wil yme zu stunt ein amme dun süchen. Kan ich es gefügen, es sal keynen bresten lyden.«106

Als Baldewin das Kreuz auf der Schulter des Kindes entdeckt, interpretiert er das Körperzeichen als Beweis der hohen Geburt des Säuglings. Er beschließt, das Kind aufzunehmen und es von einer Amme am Hof aufziehen zu lassen. Erneut wird der kindliche Held innerhalb eines Fürsorge-Netzwerks verortet und auf diese Weise in die höfische Gemeinschaft reintegriert. Das Prosaepos entwirft zwar alternative Beziehungsformen, in die das Kind hineingeboren oder in die es kurzzeitig versetzt wird: Geburt in der Wildnis, verlassener Herzogssohn, von Gott beschützt, von Feen ausgestattet und durch eine interspezifische Fürsorge gerettet. Doch mit dem Verlassen des Waldes kehrt das Kind nun in den Rahmen der höfischen Zivilisation zurück und erfährt eine ritterliche Erziehung, die damit als soziale Norm bestätigt und verfestigt wird: Er [Baldewin] reyt vß dem walde vnd gedachte an das kint, wie es da were kommen. Die lewynne ginge yme alles noch vnd kreysche gar lude. Der ritter hieß, man solde ir kein leyt dün vmb des kindes willen, das sij liep hatte.107

Die Löwin folgt den Rittern nach und brüllt laut. Dies wird in der Berliner-Handschrift (Abb. 6) als zweite Szene zeitlich und räumlich in den Hintergrund versetzt dargestellt.108 Baldewins Wahrnehmung und Bewertung des ›Miteinander-Werdens‹ bezeugt abschließend noch einmal den agentiven Status der Löwin, denn er befiehlt seinen Männern, dem Tier aufgrund der besonderen Fürsorge-Beziehung, die es mit dem Kind verbindet, nichts anzutun. Die Beobachtung der ›Löwenkindschaft‹ regt ihn viel mehr dazu an, dem Kind einen Namen zu geben, der adelige Herkunft, Auserwähltheit, Herrschaftsbefähigung und animalische Signatur miteinander verknüpft: Das kint ließe er zu stunt deuffen mit rade der synen. Sy hiessen das kint Lewe vmb der lewÿnne willen. Er zog das kint in der burg, menlich, clein vnd groß, nanten es Lewe.109 Den mehrdeutigen Fürsorge-Relationen kommt somit eine Auszeichnungsfunktion zu, die 106  Herzog

Herpin (B), Bl. 4r, 35,20–36,6. Herpin (B), Bl. 4r, 36,6–9. 108  Vgl. Glassmann, Die Berliner Herpin-Handschrift, 73. 109  Herzog Herpin (B), Bl. 4r, 36,13–16. 107  Herzog

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die Pluralität der Identitäten des Helden spiegelt und die ›Begegnung der Arten‹ ist dabei als machtvolles Potential von Heldenmännlichkeit zu verstehen. III. die lewynne starp von leyde vmb des kindes willen110: Prozesse der Emotionalisierung zwischen Tieren und Menschen – ein Fazit Abschließend stellt sich allerdings die Frage, was eigentlich aus der Löwin geworden ist. Der Erzähler beantwortet sie wie folgt: So sagt vns die kronick, do vß ich diß genomen han, daz die lewynne starp von leyde vmb des kindes willen.111 Diesen Verweis auf die Chronik, aus der dieser Bericht über den Tod der Löwin stammt, verbindet die enfance-Episode mit der Bezugnahme auf einen faktualen und historisierenden Erzählmodus, der die Wunder-Erfahrung der Ritter im Umgang mit dem Raubtier im Quellenbefund bestätigt. Die Qualität der Fürsorge-Beziehung spiegelt sich auch hier in der Intensität des Leidens der Löwin, so dass ihre Qualen in ihrem Liebestod gipfeln. Auf diese Weise wird der Prozess der Emotionalisierung zwischen Tier und Mensch erneut als außergewöhnlich ausgezeichnet, aber gleichzeitig erhält er in der Chronik eine zusätzliche Beglaubigung. Dem verkörperten Affiziert-Sein des übermäßig liebenden Raubtieres wird damit im Geschichtszeugnis Autorität verliehen. Es hat sich gezeigt, dass die drei Fassungen des Herzog Herpin das mehrdeutige Fürsorge-Verhalten in der enfance-Episode aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, Grenzziehungen zwischen den ›Arten‹ hinterfragen und den Prozess des ›Held-Werdens‹ als InterdependenzVerhältnis inszenieren. Deshalb gilt es die arten- und geschlechterdifferenten, alters- und rangbezogenen sowie körperlich und emotional geprägten Dimensionen der jeweiligen Interaktionspraktiken zu untersuchen. Dabei evozieren und stabilisieren die entworfenen Fürsorge-Beziehungen einerseits ›anderweltliche‹ und ›tierliche‹ Grenzmarkierungen, sie schaffen aber andererseits auch Übergangsbereiche. Den Ansätzen der Cultural Animal Studies folgend standen die Kontextualität, Historizität und Medialität der jeweiligen Darstellungs- und Aushandlungsformen in Text und Bild im Fokus. Das mediale Zusammenspiel einer Zur-Schau-Gestellten Begegnung, von Blicklenkungen, Fürsorge-Verhalten und kurzzeitig geteilten Lebensräumen haben sich als zentrale Bestandteile des zueinander In-Be110  Herzog 111  Herzog

Herpin (B), Bl. 4r, 36,21 f. Herpin (B), Bl. 4r, 36, 20–22.

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ziehung-Tretens herausgestellt. Hierbei dienten vor allem Körperkontakt und Körperausdruck der emotionalen An- und Fürsprache. Den fürsorgebezogenen Interaktionen war dabei zwar ein Moment der verunsichernden Re-Flexion zu eigen, der auf die Begrenztheit des je ›eigenen Bereichs‹ verweist, sie haben aber auch immer wieder den Blick auf etwas ›Neu­ artiges‹ geöffnet. Besonders der Interspezies-Kontakt wurde in Text und Bild als ein zeitlich begrenztes ›Miteinander-Werden‹ entworfen, das das ›Sein‹ beider Seiten reflektierte und sich über die Interaktionen hinausgreifend in die Heldenidentität eingeschrieben hat. Hierbei trat die Löwin als handelnde und fühlende Akteurin in Erscheinung, die spezifische Formen des Empfindens, Wahrnehmens und Verkörperns von Emotionen ausagiert. Diese reichten von Mitgefühl und Empathie über Zuneigung und Liebe bis hin zu Kummer, Angst, Verlustschmerz und Aggression, die auch in der erzählten Figurenwahrnehmung reflektiert wurden. Somit erweist sich diese ›Begegnung der Arten‹ als überaus wirkmächtig für einen kindlichen Helden, der den Ausbruch aus gewohnten Ordnungen nun als ›löwenhafte Eigenart‹ sogar im Namen trägt, so dass das Wilde dem Höfischen eingeschrieben wird. Diese mehrdeutige Ko-Konstitution von Tieren und Menschen, die im Herzog Herpin entworfen, kann verdeutlicht, wie sie nur mittels einer relationalen Verhältnisbestimmung zueinander zu rekonstruieren und zu verstehen sind. Zum einen wird dabei der Aspekt der Differenzmarkierung der Spezies bestätigt, zum anderen stellt die Erzählung das Prinzip der Oppositionsbildung und die Plausibilität dieser Dichotomie aber auch immer auf die Probe. Auf diese Weise werden die entworfenen Fürsorge-Beziehungen in der Kindheitsgeschichte zum Ausgangpunkt der wiederkehrenden Auseinandersetzung mit der ›hybriden‹ Mehrfachzugehörigkeit des Helden gemacht, der von Beginn an im Dazwischen positioniert wird  – durch sein ›Ausgestoßen‹-, ›Erwählt‹-, ›Anderweltlich‹-, ›Tierlich‹-, ›Heroisch‹- und ›Höfisch-Werden‹.

Herrscherlob als schöne Kunst betrachtet Überlegungen zu Boiardo, Ariost und Josquin Desprez Von Florian Mehltretter Abstract The encomiastic efficiency of Ariosto’s tale of Ruggiero and Bradamante in the Orlando furioso could be questioned on the grounds of inconsistency with tradition, fictionality and irony. A glance at other instances of panegyrics, notably in music, as well as an analysis of the moon scene in Ariosto’s epic (canto 35) show, however, that these techniques engender a specific brand of ambiguity that neither cancels nor overemphasizes the intended praise of the dedicatee, but serves to adjust the volume of the encomiastic discourse in order to steer clear of mere flattery. At the same time, by inscribing a specific model reader, Ippolito d’Este (who has to understand this special type of praise), into a text that was to be printed  – and thus intended for a general reader  – the Orlando furioso transposes part of the pragmatic hors-texte into the aesthetic structure of the poem. Hence, panegyrics can be regarded as a fine art.

Herrscherlob ist eine der Pflichten staatstragender Literaten der Antike wie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Man kann es als lästige rhetorische Übung betrachten oder als unliebsame pragmatische Dimension, die beide irgendwie im Widerspruch zum eigentlich Literarischen stehen könnten. Diese Anschauung war besonders im 19. und 20. Jahrhundert verbreitet, und ihre Verfechter suchten oft, auf ihrer Basis Propaganda und eigentliche Dichtung systematisch von einander zu scheiden.1 In jüngerer Zeit hat man  – vielleicht überzeugender  – beobachtet, wie be1  Vgl. hierzu Roger Baillet, »L’Arioste et les princes d’Este. Poésie et politique«, in: Antonio Rotondo (Hg.), Le pouvoir et la plume. Incitation, contrôle et répression dans l’Italie du XVIe siècle. Actes du colloque international, Paris 1982, 85–95, hier 85. Baillet zeigt, dass nicht nur diese Anschauung als solche antiquiert ist, sondern dass sie auch im Falle Ariosts ausblenden muss, dass der Dichter ein genuines Interesse an der Sicherung der Este-Herrschaft hatte. In diesem Zusammenhang werden unter anderem auch ältere Lektüren von Ariosts I. Satire zurückgewiesen, die darin eine grundsätzliche Distanznahme von der herrschenden Dynastie erblicken wollten (88–91).

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stimmte Spielformen enkomiastischer Dichtung durch Erhöhung der Selbstreferenz zu einer Art von Freiheit von solchen Zwängen gelangen und mit der epideiktischen Funktion nur noch spielen.2 Eine solche Betrachtung im Sinne einer Außenrelation zwischen dem eigentlich Literarischen und einer ihm fremden Funktionalisierung sowie die damit verbundenen Fragen der Bewertung sollen hier weitgehend beiseite bleiben. Stattdessen soll im Folgenden versucht werden, gerade nach dem spezifisch Künstlerischen in der Ausgestaltung des Herrscherlobs selbst zu fragen und am Ende auch die ästhetischen Konsequenzen für eine heutige Rezeption solcher Texte in den Blick zu nehmen: In wie fern kann Herrscherlob auf der Ebene der Produktion als Kunst betrieben worden sein  – und in welchem Maße kann gerade die Enkomiastik auch für die seither sich bis in die Gegenwart weiter entwickelnde Rezeption eine ästhetische Dimension haben?3 I. Als sich Matteo Maria Boiardo in den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts daran setzte, gemäß einer im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit dominierenden Denkform4 die illustre Genealogie seiner Landesherren in sein gerade entstehendes Rolandsepos Orlando innamorato lobend einzubauen, stellte sich ihm ein Problem: Von dieser Familiengeschichte zirkulierte bereits des Längeren eine literarische Version, und zwar eine, die in Boiardos eigener Zeit zunehmend als problematisch empfunden wurde. In dem allegorischen Lehrgedicht Il Dittamondo, das Fazio degli Uberti in der Mitte des 14. Jahrhunderts auf den Spuren Dantes schrieb, wird an einer Stelle auf die Este als Abkömmlinge der Familie Maganza (der ›Mainzer‹) angespielt; 1435 spricht Guglielmo Capello in seinem Kom2  Vgl. hierzu Christoph Huber, »Herrscherlob und literarische Autoreferenz«, in: Joachim Heinzle (Hg.), Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, Stuttgart/Weimar 1993, 452–473; Jens Haustein, »Autopoietische Freiheit im Herrscherlob. Zur deutschen Lyrik im 13. Jahrhundert«, Poetica 29, 1/2 (1997), 94–113. 3  Diese Frage (und einige der hier vorgelegten Hypothesen) wurden von mir 2009 skizzenhaft und in einem belletristischen Rahmen zunächst für Boiardo gestellt (Der verliebte Roland des Matteo Maria Boiardo, erz. u. komm. Florian Mehltretter, mit einer Ausw. der Übers. v. J.D. Gries, München 2009, 153–176) und 2012 in einem Vortrag auf Ariost ausgedehnt. Die vorliegende Fassung erhielten diese Überlegungen anlässlich eines Vortrags in Klagenfurt 2018. 4  Vgl. hierzu u. a. Kilian Heck/Bernhard Jahn (Hgg.), Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen 2000.



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mentar zum Dittamondo von dem Herzog von Ferrara als ›Abkömmling des Hauses Ganelons und von königlichem Blute schon vor Pippin.‹5 Dies ist aus zwei Gründen ungünstig: Zum einen überzeugt das (im Moment der Erhebung Borsos zum Herzog) wichtige Argument, das Haus Este entstamme einer älteren fränkischen Linie als das französische Königshaus, in dem Moment nicht mehr so recht, in welchem die europäischen Könige dazu übergehen, ihre Abstammung auf die Herrscher des antiken Troja zurückzuführen. Zum anderen ist diese Anciennität teuer erkauft, nämlich durch die Abstammung von Ganelon, dem Verräter aus dem Rolandslied und seinem Hause. In der Tat wird, wie Martin Gosmann gezeigt hat, diese potentiell ehrenrührige Abstammung bereits in einem Geschichtswerk des frühen 14. Jahrhunderts gegen die Este ins Feld geführt.6 Dies ist die falsche Genealogie, und Boiardo wird sie in seinem Verliebten Roland um-erzählen, wohl eine Idee seines Onkels Tito Vespasiano Strozzi aufgreifend. Aus des Onkels lateinischem Heldengedicht Borsias übernimmt Boiardo als neuen Stammvater der Este einen gewissen Rugerius (der von dem Riccieri der Aspromonte-Dichtung abstammen könnte), italianisiert seinen Namen zu Rugiero und denkt ihm als Braut die Amazone Bradamante zu.7 Aber ihm fällt noch etwas Besseres ein, um die 5  »Questo è il gran marchese di Ferrara e de Este il quale per anticho fu di Maganza de la casa di Gaino e di real stirpe prima di Pipino de la seconda genealogia«, ms. Estense Ital. 483, α. P. 4.7, zitiert nach: Antonia Tissoni Benvenuti, »Note preliminari al commento dell’ ›Innamoramento de Orlando‹ «, in: Ottavio Besomi/Carlo Caruso (Hgg.), Il commento ai testi, Basel/Berlin/Boston 1992, 277–309, hier 306. Tissoni Benvenuti arbeitet heraus, dass die Abstammung von Ganelon bei Capello noch nicht als problematisch empfunden wird. Dass sie von Boiardo abgewiesen und geradezu ins Gegenteil verkehrt wird, beruht also wohl, so Tissoni Benvenuti, auf einer Veränderung der Bewertung durch Borso oder Ercole (306). Als flankierende Motivation für diesen Wandel lässt sich die oben angeführte Notwendigkeit anführen, jenseits der karolingischen Epoche auf antike Abstammung zurückzugreifen, um mit dem französischen (und englischen) Königshaus mithalten zu können. 6  Martin Gosmann, »Ariosto’s Orlando Furioso and the Restoration of the Este Image«, in: Rudolf Suntrup/Jan R. Veenstra (Hgg.), Self-Fashioning. Personen(selbst) darstellung, Frankfurt a. M. et al. 2003, 109–133, hier 112. Gosmann zitiert ein ungedrucktes Manuskript des Johannes de Nono: Liber genealogiae aliquorum civium urbis Padue tam nobilium quam ignobilium, et primo de ipsorum moribus, Venedig/ Marciana 271 membr. saec. XV. a 388 I.226 [L.X, LXIX], fols. 192r-224v., hier 193v: Fertur […] hij nobiles marchiones fuerunt de progenie beugani proditoris (bei Gosmann Anm. 112). 7  Es ist ungeklärt, ob Strozzis 1505 nach Jahrzehnten der Arbeit unvollendet liegen gebliebene Borsias als erster Text jenen Rugerius einführt oder ob der Onkel vielmehr Boiardos Erfindung (die immerhin bereits in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts greifbar ist) seinerseits übernommen hat, vgl. Die ›Borsias‹ des Tito

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Este von der verräterischen Dynastie der Mainzer zu lösen: Er behauptet, dass die Mainzer, weit entfernt davon, die Vorfahren der Este zu sein, im Gegenteil deren Stammvater Rugiero auf verräterische Weise umgebracht haben sollen. Ahi traditrice casa di Magancia! ben te sostiene il celo in terra a torto; Al fin serà Rugier poi per te morto. (OI, II, xxi, 54)8

Diese besondere Betonung des Verrats wird im übrigen (wie Marco Dorigatti herausgearbeitet hat) auf beinahe alle Todesfälle in Rugieros Ahnenreihe ausgedehnt und hat eventuell mit der traumatischen Erfahrung der Verschwörung der ›Velaschi‹ gegen die Este-Herrschaft zu tun.9 Umgekehrt werden bei Boiardo und Ariost beinahe alle Abkömmlinge des Mainzer Hauses zu Verrätern oder Gaunern. Rugieros Tod wird an der oben zitierten Stelle von dessen Ziehvater, dem Magier Atalante, vorausgesagt; diese Prophezeiung wird allerdings in Boiardos langem, aber unvollendetem Roman nicht mehr narrativ eingelöst. Hier stellt sich die Frage nach der Stimmigkeit innerhalb einer Tradition: Wie kann es gehen, dass sich das Lob der Herrscherfamilie auf eine dynastische Erzählung gründet, die in offensichtlichem Widerspruch zu den bis dato bekannten Überlieferungen steht  – ja: eine neue Gegentradition aufmacht? Diese Frage ist (zumindest aus heutiger Sicht) auch eine Frage nach historischer Faktizität und Fiktionalität. Das Neu-Erfinden einer Überlieferung im Widerspruch zum bisher Gewussten wirft poten­ tiell für jeden Leser die Frage nach Wahrheit und Erfindung auf, auch Strozzi. Ein lateinisches Epos der Renaissance. Erstausgabe mit Kommentar, hg. Walther Ludwig, München 1977, und darauf aufbauend Marco Dorigatti, »Rugiero and the Dynastic Theme from Boiardo to Ariosto«, in: Jane Everson/Diego Zancani (Hgg.), Italy in Crisis 1494, Oxford 2000, 92–128, hier 97. Dorigatti zeigt auch, dass weder Boiardos eigene Carmina in laudibus Estensium noch die Historiae Ferrariae von Pellegrino Pisacani oder Ricobaldos Istoria imperiale Rugerius erwähnen, zeigt die Abstammung aus der Aspromonte-Tradition auf (97) und rekonstruiert einen nützlichen Stammbaum der Este von Priamos bis zu Rugiero aus Boiardos Angaben (96). Riccardo Bruscagli argumentiert freilich überzeugend, dass der Rugerius der Borsias auffallend skizzenhaft angelegt ist und Boiardo die Figur sehr viel weiter entwickelt, was nach Bruscaglis Einschätzung dafür spricht, dass der lateinische Rugerius das Anfangsstadium, der italienische Rugiero hingegen die daraus entwickelte Version ist (Riccardo Bruscagli, »Ruggiero’s Story. The Making of a Dynastic Hero«, in: Jon Whitman [Hg.], Romance and History. Imagining Time from the Medieval to the Early Modern Period, Cambridge 2015, 151–167, hier 156). 8  Die Zitate aus Boiardos Innamorato folgen der Ausgabe: Matteo Maria Boiardo, Orlando innamorato, hg. Riccardo Bruscagli, 2 Bde., Turin 1995. 9  Vgl. Dorigatti, »Rugiero and the Dynastic Theme«, 98–105.



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wenn eine trennscharfe Ausdifferenzierung von Historie und Fiktion in der in Rede stehenden Epoche noch nicht erreicht ist. Auf dieses Problem wird weiter unten näher einzugehen sein, aber zunächst soll noch ein zweites aufgesucht werden, und zwar in der ungleich berühmteren Fortsetzung des Verliebten Roland, nämlich dem Rasenden Roland von Boiardos Ferrareser Nachfolger Ludovico Ariosto. Ariost nimmt in seinem Orlando furioso die Fäden getreulich dort auf, wo Boiardo sie bei seinem Tod hat liegen lassen, mit Ausnahme der RugieroErzählung. Denn Ariost bringt diese  – anders als andere Fortsetzer des Romans wie Valcieco in seinem Quinto libro von 1514  – zu einem guten Ende; keineswegs löst er Boiardos Ankündigung von Rugieros Tod ein. Sein (nun mit einem Doppelkonsonanten toskanisierter) Ruggiero und seine Bradamante können am Ende des Romans nach schwerer Prüfung und nach Ruggieros Konversion heiraten, und Ruggiero erschlägt sogar beim Hochzeitsbankett im finalen Zweikampf noch den gefährlichsten Krieger des gegnerischen Lagers: ein happy end auf der ganzen Linie, das in scheinbarem Widerspruch zu Boiardos Ankündigung von Ruggieros Tod steht (wenngleich Ruggieros einst zu erwartendes Ableben bei Ariost durchaus mehrmals prophezeit wird).10 Ariost verschiebt also den Tod seines dynastischen Helden in einen narrativ leer gelassenen Raum jenseits des mit starker Finalwirkung inszenierten guten Endes, und die zweite Frage, welche sich hier erhebt, ist demgemäß diejenige nach der Konsistenz dieser Fortsetzung: Ariost gibt sich so viel Mühe, auch noch den kleinsten Faden Boiardos aufzunehmen  – warum nicht auch Ruggieros Tod? Wird seine dynastische Erzählung durch die Verwandlung des heroischen Opfers in einen siegreichen Bräutigam nicht inkonsistent oder doch zumindest unvollständig?11 10  Zu Ariosts Ringen mit diesem Problem, das unter anderem dazu führt, dass er die vorhergesagte Lebensspanne Ruggieros zwischen der Edition von 1516 und der von 1532 verlängert, vgl. die erhellenden Ausführungen von Marco Dorigatti, »Rugiero and the Dynastic Theme«, 106–112. Eventuell hätte, wie Charles P. Brand (»Ariosto’s Continuation of the Orlando Innamorato«, in: Cecil H. Clough [Hg.], Cultural Aspects of the Italian Renaissance [Festschrift Kristeller], Manchester/New York 1976, 377–385, hier 379 f.) darlegt, Ruggieros Tod in der Erweiterung, die mit den Cinque Canti begonnen wurde, erzählt werden sollen. Festzuhalten ist jedoch die starke Finalwirkung des guten Endes des Furioso, die eine solche Fortführung erschwert hätte. 11  Natürlich ist die Narration von Ruggiero und Bradamante nicht das einzige enkomiastische Element des Romans. Zu erwähnen sind insbesondere verschiedene Vorausweisungen auf den künftigen Glanz der Este, etwa im dritten oder auch im letzten Gesang. Diese Stellen sind jedoch weniger von den hier aufgeworfenen Problemen betroffen und sollen daher hier außen vor bleiben.

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Diese Frage, die in gewisser Weise die Stimmigkeit und damit das Gelingen des Herrscherlobs betrifft, kann aber nicht beantwortet werden, ohne dass noch ein drittes Problem aufgeworfen würde, und zwar dasjenige der berühmten Ariostschen Ironie und (damit verbunden) der Gültigkeit im Text vorgebrachter Aussagen. Um dies näher auszuführen, gilt es, einen Blick in die berühmte Mondszene des Orlando furioso zu werfen, in welcher der Text selbst über seine Geltungsbedingungen reflektiert. Held der Mondszene ist der schon in der Tradition vor Boiardo und Ariost tendenziell komische englische Ritter Astolfo. Dieser hat sich nach verschiedenen Handlungsumschwüngen ein besonderes Reittier angeeignet: den Hippogryphen, ein fliegendes Pferd, das Astolfo nun durch die erzählte Welt trägt. Astolfo fliegt mit dem Hippogryphen auf den Berg des irdischen Paradieses, wo er den Evangelisten Johannes trifft. Mit dem Wagen des Propheten Elias fahren Johannes und Astolfo sodann hinauf zum Mond. Ähnlichkeiten mit Dantes Göttlicher Komödie sind beabsichtigt und teils parodistisch. Auf dem Mond führt Johannes Astolfo dann in das Tal der verlorenen Dinge. Dieses Tal ist quasi eine Komplementär-Welt zur Erde, denn alles, was auf Erden verloren gegangen ist, wird dort aufbewahrt. Astolfo sieht hier die Kronen untergegangener Reiche ebenso wie ausgeschüttete Suppen und sogar die Auswirkungen der Konstantinischen Schenkung, die ja durch den mit stilkritischem Scharfsinn von dem Humanisten Lorenzo Valla bereits 1440 erbrachten Fälschungsnachweis für die Kirche ebenfalls verloren sind. Unter den verlorenen Dingen finden sich außerdem Ampullen mit dem Verstand, den die Menschen zu Heerscharen verlieren, darunter auch dem Orlandos, den Astolfo mitnimmt, um ihn dem Besitzer nach seiner Rückkehr wieder einzuflößen. Wichtig ist, dass gerade in diesem eher komischen Zusammenhang auch das Lob der Familie der Este ertönt. Ein wenig später nämlich begegnet Astolfo den Parzen und erfährt, dass ein besonders schöner goldener Lebensfaden, der bei diesen schon fertig lagert, einmal dem Kardinal Ippolito d’Este gehören wird, Ariosts Gönner von herzoglichem Geblüt und Widmungsträger des Gedichts. Und genau hier folgt eine Passage, die geeignet ist, jedes Fürstenlob in Frage zu stellen. Astolfo sieht, wie die Allegorie der Zeit die Namen der Menschen in den Fluss des Vergessens wirft; nur die Schwäne, also die Dichter, können die Namen einiger doch noch aus dem Wasser holen (während die Geier, die wohl für die höfischen Schmeichler stehen, sie wieder ins Wasser fallen lassen). Der Nachruhm der Menschen hängt also von den Dichtern ab, und zwar nicht nur die Tatsache des Ruhmes, sondern auch sein Inhalt:



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Non sì pietoso Enea, né forte Achille fu, come è fama, né sì fiero Ettorre (OF 35.25, 1–2)12

So fromm war Aeneas nicht, noch so stark Achilles oder Hektor  – sie sind nur durch die Hände der Schriftsteller (»l’onorate man degli scrittori«, 35.25, 8) dazu gemacht worden.  Auch Augustus, heißt es in diesem Zusammenhang, war nicht so heilig wie Vergil es berichtet, und am Ende müssten wir, wollten wir Homers Verse kritisch beurteilen, davon ausgehen, dass in Wirklichkeit die Griechen vor Troia unterlagen und gar Penelope keine ehrbare Frau war: che i Greci rotti, e che Troia vittrice, e che Penelopea fu meretrice. (OF 35.27, 7–8)

Dem Vollzug des Fürstenlobes folgt also sofort eine metapoetische Allegorie, die darauf insistiert, dass die Herren dieser Welt Unsterblichkeit nur durch den wenig verlässlichen Gesang der Dichter erlangen können, also just durch den Gesang etwa Ariosts, in dem all dies gesagt wird. Damit ist zugleich zugegeben, dass die Dichter lügen können, und dass nicht alles, was wir über die Großen der Geschichte lesen, auch wahr ist. Das dritte hier zu bearbeitende Problem ist also: Wird das Herrscherlob bei Ariost nicht geradezu durchgestrichen, ungültig gemacht? Nun könnte man auf alle drei Fragen eine einfache Antwort finden: Die Familiengeschichte der Este ist einfach Fiktion. Deshalb ist es unproblematisch, sie inkonsistent weiter zu erzählen. Das Herrscherlob ist eben deshalb ungültig, weil es auf offensichtlicher Fiktion beruht und sogar bei Ariost im Text selbst als lügnerisch erwiesen wird. Die Enkomiastik zerstört sich mithin quasi selbst. Daran sieht man (könnte man hinzusetzen), dass Macht nicht auf die sich selbst durchstreichenden Schreibakte natürlicher Sprachen gegründet werden kann und dass besonders reflektierte Texte wie derjenige Ariosts diesen Umstand selbst offenlegen. Eine solche Lektüre könnte (falls man ihre Prämissen akzeptieren möchte) allerdings noch nicht das historisch Spezifische dieses Falls erklären; sie würde diese Dichtung lediglich als einen weiteren Text in einer natürlichen Sprache erweisen. Um etwas Spezifischeres über sie sagen zu können, sollte man den zeitgenössischen Rezeptionsrahmen mit betrachten und mithin die situationsabstrakte literarische Semantik mit einer möglichen Pragmatik verbinden. Wie Klaus W. Hempfer in seiner großen Studie Diskrepante Lektüren zur Rezeptionsgeschichte des Orlando furioso gezeigt hat, wird in den 12  Zitate aus dem Orlando furioso nach der Ausgabe: Ludovico Ariosto, Orlando furioso, hg. Lanfranco Caretti, 2 Bde., Turin 1966.

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außerordentlich zahlreichen Rezeptionsdokumenten zu diesem Roman nie die Absicht Ariosts, die Este zu loben, in Frage gestellt. Es war zumindest für die Zeitgenossen nicht erkennbar, dass dieses Herrscherlob selbst­ destruktiv sein könnte. Ein einziger Kommentator (Alberto Lavezuola, 1584) bemerkt die widersprüchlichen Verhältnisse in der Mondszene, wertet sie aber als Kunstfehler: Ariost mache mit der Aussage, die Dichter könnten lügen, sein Herrscherlob zunichte, so wie Penelope nachts das Gewebe auftrennte, das sie tagsüber wob. Disfà egli dunque tutta la sua trama ordita, & per mostrarsi troppo intendente dell’historie, par che non s’avvegga dell’inconveniēte in ch’egli cade, & contra la sua principale intentione, ch’era di ritrovare alla detta serenissima casa antichissimi Principi […] Questo è un volere à guisa di Penelope guastare tutto il lavoro, fatto il giorno.13

Gerade das Deutungspotential des Penelope-Vergleichs, hier eine inszenierte und gewollte Selbstaufhebung der Enkomiastik zu konstatieren, ergreift Lavezuola in keiner Weise. Er tadelt lediglich Ariost wegen seiner Ungeschicklichkeit. Nun sind aber die bis hierhin gefundenen Deutungen wohl aus heutiger Sicht konsensfähig. Insofern wäre es unsinnig, sie mit dem Hinweis auf den zeitgenössischen Verständnishorizont einfach zu verwerfen. Es gilt vielmehr, diese Befunde zu differenzieren und zu vertiefen und nach etwas anderen Lösungen für die drei aufgeworfenen Probleme zu suchen. Dabei kann ein Blick auf das Herrscherlob in einer benachbarten Kunst, nämlich der Musik, Anregungen für die Betrachtung literarischer Enkomiastik bereitstellen. II. Im Jahr 1481 berichtet ein Mantuaner Diplomat beiläufig davon, wie er Ercole I d’Este mit einigen Mitgliedern seiner Kapelle dabei antraf, aus Messbüchern zu musizieren, wobei interessanterweise kein Text gesungen 13  Alberto Lavezuola, »Osservationi del Sig. Alberto Lavezuola, sopra il Furioso di M. Lodovico Ariosto«, in: Orlando Furioso di M. Lodovico Ariosto Nuovamente adornato di Figure di Rame da Girolamo Porro Padovano Et Di Altre cose che saranno notate nella seguente facciata, Venedig 1584, 30r/v, zitiert nach Klaus W. Hempfer, Diskrepante Lektüren. Die Orlando-Furioso-Rezeption im Cinquecento. Historische Rezeptionsforschung als Heuristik der Interpretation, Stuttgart 1987, 206. In dem betreffenden Kapitel Hempfers (198–207) finden sich die nach wie vor wichtigsten Überlegungen zum zeitgenössischen Interpretationshorizont der Enkomiastik.



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wurde, sondern Solmisationssilben  – also Tonnamen, die sich auf die Position eines Tons in einem Tonsystem beziehen und dadurch ungeübten Sängern zugleich das Treffen der Intervalle erleichtern: lo quale trovai in mezo [a] parechi cantori, et havendo cantato alquanto non canzone ma la sol fa suso libri de messa ad suo piacere […]14

Nun war Ercole als guter Musiker bekannt und hätte es vielleicht nicht wegen mangelnder Treffsicherheit nötig gehabt, die Stücke auf Solmisationssilben zu singen. Daher ist es verlockend, anzunehmen, diese Art der Aufführung ziele auf die Offenlegung musikalischer Strukturen, welche gerade mit diesen Solmisationssilben zusammenhängen. Einen solchen Zusammenhang gibt es etwa in der Missa Hercules dux ferrarie, die Josquin Desprez dem Herzog gewidmet hat; allerdings spricht ihr spätes Druckdatum (1505 bei Petrucci in Venedig) wohl gegen die Verbindung dieser speziellen Komposition mit dem referierten Bericht des Mantuaner Diplomaten. Dennoch soll im Folgenden diese Komposition auf ihren Umgang mit der Enkomiastik untersucht werden, und zwar gerade im Zusammenhang mit den erwähnten Solmisationssilben (deren Relevanz für die zeitgenössische Wahrnehmung durch die erwähnte Musizierszene am Hofe Ercoles I als erwiesen gelten dürfte). Die Komposition beruht auf einem sogenannten soggetto cavato, also einem Melodiemodell, das aus extramusikalischen Gegebenheiten gewonnen ist: Zunächst vorweggenommen durch den Superius, also die Oberstimme, singt die zweitunterste Stimme, der Tenor, eine langsame Linie, die in den meisten, aber nicht allen Abschnitten so etwas wie das tragende Gerüst (Tenor) des Werkes ist. Diese Melodie ist nun von dem Ausdruck Hercules, dux Ferrarie abgeleitet, der quasi der besondere Name oder auch die Widmung dieser Messe ist (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: Soggetto cavato der Missa Hercules dux Ferrarie von Josquin Desprez

Der Ausdruck Hercules dux Ferrarie wird gewissermaßen durch ein metaphorisches Verfahren auf der Ebene des Signifikanten gegen einen 14  Das Zitat findet sich bei Lewis Lockwood, Music in Renaissance Ferrara 1400– 1505, Oxford 1984, 136.

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anderen Ausdruck vertauscht, den Ausdruck »Re-ut-re-ut-re-fa-mi-re.« Das gemeinsame Dritte beider Silbenfolgen ist die Abfolge der Vokale: E-u-e-u-e-a-i-e. Der neue Ausdruck ist also dem ersetzten vokalisch ähnlich, gehört aber einer anderen Sprache an, nämlich der Sprache der Musik. Es handelt sich um Notennamen, eben die bereits erwähnten Solmisationssilben: arbiträre bzw. konventionelle Zeichen, welche sich auf die relative Position der betreffenden Töne innerhalb eines Tonsystems beziehen (›relativ‹ bedeutet, dass auch bei einer Transposition die Bezeichnungen erhalten bleiben). Nur wer diese Zeichen kennt, kann allerdings von der Melodie auf den Namen des Herzogs schließen. Nun wird auch deutlich, warum es verlockend (wenn auch vielleicht historisch gewagt) ist, die oben referierte Szene, in der der Herzog aus Messbüchern in Solmisationssilben singt, gerade mit dieser Messe in Verbindung zu bringen: Die Silben erlauben aufgrund ihres vokalischen Gleichklangs immer auch den Durchblick auf den Namen des Widmungsträgers. Das gilt vor allem für den Tenor, aber auch für die (zugegeben seltenen) Fälle, in denen die anderen Stimmen motivisch auf ihn Bezug nehmen. Mit dem Referat dieser musikhistorischen Tatsachen soll hier keineswegs jenen Recht gegeben werden, die der Meinung sind, die historisch plausibelste Ausführung dieser Musik habe sich grundsätzlich der Solmisationssilben (oder gar des Herzognamens selbst), und nicht des Messetextes zu bedienen. Dies ist schon deshalb nicht naheliegend, weil die von dem Mantuaner Diplomaten berichtete Musizierszene eine private und auch als besondere dargestellte ist, die nicht dem normalen Gebrauch einer polyphonen Messe im Gottesdienst entspricht. Eine solche Ausführung mit Solmisationssilben anstelle der Sätze des Messordinariums würde zudem gerade die Textierung (die letztlich bei solcher Musik nicht immer in allen Einzelheiten durchdacht ist) in den Mittelpunkt stellen und nicht die sehr viel interessantere Tatsache, dass es ja die kompositorische Struktur der Musik selbst ist, die – wenn auch indirekt über eine Phonemrelation – vom Namen des Herzogs abhängt.15 Im Kyrie (Abb. 2) sieht (bzw. hört) man, wie – nach einer Vorausimitation der Oberstimme  – die zweitunterste Stimme die Tonfolge in langen Notenwerten einführt, und wie auch das Gewebe der übrigen Stimmen 15  Vor allem die in manchen Tonaufnahmen gepflegte Praxis, im Tenor tatsächlich die ganze Zeit den Text Hercules dux Ferrarie zu singen, würde die ganze Sache trivialisieren. Denn ganz abgesehen von der Frage, welchen Text man eigentlich auf den Krebsgang dieser Melodie singen soll, lenkt diese Praxis geradezu davon ab, dass nicht der Text, sondern eben die Noten bzw. Töne auf den Herzog verweisen.

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16  Nach der Ausgabe: Josquin Desprez, Werken, hg. Albert Smijers, Bd. 17, Leipzig 1937, 19 f., http://ks4.imslp.info/files/imglnks/ usimg/e/ee/IMSLP48972-PMLP103396-J17_-_Desprez,_Josquin_-_(2.2)_Missa_Hercules_Dux_Ferrariae.pdf [25.11.2018].

Abb. 2: Kyrie der Missa Hercules Dux Ferrarie von Josquin Desprez16

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von den Tonwechseln dieser Stimme abhängt  – anachronistisch könnte man sagen: von den ›Harmoniewechseln‹, die den Rest in verschiedene Farben tauchen. Diese Musik kann einer Diskussion der drei oben aufgeführten Probleme von Ariosts Herrscherlob mehrere Anregungen geben. Zunächst einmal ist festzustellen, dass der Name des Herzogs (bzw. dessen metaphorischer Stellvertreter) der Komposition als strukturtragendes Element eingeschrieben ist. Er ist Bedingung der Licht- und Schattenwirkungen der Musik, er ist Stütze der modalen Konstruktion und Aufhänger für die eigentliche ästhetische Information, die wohl nicht in der Wiederholung dieser schlichten Weise besteht, sondern in der Varietas und Copia der Formulierungen, die die übrigen Stimmen kontrapunktisch dazu vortragen, in den immer neuen satztechnischen Umgebungen, in die die Melodie eintritt bzw. die sie ermöglicht – auch den Veränderung der Intensität, die durch Lagenwechsel des Tenors provoziert wird. Der Name (oder sein musikalisches Substitut) ist also erstens Bestandteil eines ästhetischen Gewebes und nicht mehr lediglich ein Mittel, um auf den Eigentümer des Kunstwerks zu verweisen; der Name Hercules wird zu einem Element innerhalb eines Systems künstlerischer Zeichen und seine Referenz auf die Außenwelt wird gedämpft, wenn auch nicht getilgt. Zweitens wird dieser Name indirekt durch das Werk auch interpretiert: Der Tenor trägt nämlich in der ganzen Messe seine Formel genau zwölfmal vor (auf verschiedenen Tonhöhen und teils im Krebsgang, aber insgesamt zwölfmal). Diese für die Länge einer Messe relativ geringe Zahl ist erkauft durch längere tenorlose, nur dreistimmige, also weniger klangvolle Abschnitte. Die angesichts dieses gewissen Nachteils vermutlich mit vollem Bedacht gewählte Zwölfzahl sollte man dementsprechend als kommunikativ relevant einstufen und wohl als Verweis auf die zwölf Arbeiten des Herkules deuten. Dadurch wird der mythologische Anklang, den die stolzen Eltern dem kleinen Ercole mit in die Wiege gelegt haben, sozusagen ästhetisch eingelöst: Ercole ist ein Herkules. Dies ist ein propositionaler Effekt dieser Musik – aber es ist ein schwach propositionaler Effekt, ein schwaches Implikat. Es ist nicht die scharf hervortretende Hauptaussage der Komposition. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass es historisch keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dass dem Herzog von Ferrara in irgendwie informativer Weise genau zwölf besondere Taten zugeschrieben werden konnten.17 Die mythologische 17  Der Dodekathlos des Herkules sieht konstitutionell zwölf Arbeiten vor, aber beispielsweise in Le fatiche di Hercole, das Pieroandrea dei Bassi zwei Generationen



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Gleichsetzung geschieht mithin in gewisser Weise vermittels eines fiktiven Arguments. Die Begründung des Lobes wird also abgeschwächt und fiktionalisiert – und zwar ohne dass dies dem Lob als solchem abträglich sein müsste. Warum? Es soll hier die These vertreten werden, dass es nicht zu den Gelingensbedingungen des lobenden Sprechakts gehört, dass er wohlbegründet sein muss. Das Lob darf zwar wohl nicht gänzlich unbegründet bleiben. Aber das liegt eher daran, dass auf der thematischen Ebene des Sprechakts gesagt werden muss, wofür jemand gelobt wird; und natürlich kann es ein Qualitätsmerkmal von Lob sein, dass es begründet wird. Aber es ist keine notwendige Bedingung  – wie übrigens auch umgekehrt eine wohlbegründete Darlegung erfreulicher Tatsachen noch nicht als hinreichend für ein Lob gelten kann. Es muss etwas hinzutreten: Dies kann ein Ornament sein; nicht umsonst ist das rhetorische Ornament als ästhetisches Element traditionell gerade mit dem epideiktischen Genus besonders verbunden. Es kann eine Emphase sein oder auch eine Übertreibung. Als Übertreibung, als hyperbolisches Sprechen, kann man in der Tat die Begründung der herkuleischen Statur des Herzogs von Ferrara durch die zwölf Taten, ausgedrückt durch die zwölf statements des Cantus firmus, auffassen. Das Lob wird insofern ästhetisch begründet. Etwas Ähnliches konstatiert Jens Haustein anhand deutscher enkomiastischer Dichtung des 13. Jahrhunderts: Herrscher jener Epoche können seiner Beobachtung nach sogar ein genuines Interesse daran haben, nicht für reale Eigenschaften gelobt zu werden, sondern »literarisiert«, metaphorisch »in allgemeinere Zusammenhänge« gestellt zu werden, und zwar durch eine »selbstreferentielle […] Literatur, die […] mit höchst artifiziellen Mitteln«18 Sinn zu stiften vermag. Lob kann also ein fiktives Element umfassen, ohne dadurch ungültig zu werden; das ist sicher bei so etwas wie einem Kompliment der Fall. Andererseits stellt sich gerade anhand dieser fiktiven Komponente auch die Frage nach der Grenze zwischen Lob und Schmeichelei  – die nicht nur für die Hofkultur der Renaissance sehr wichtig war, sondern in Ariosts Mondszene durch die Opposition zwischen den Schwänen (den Dichtern) früher für Niccolò III d’Este schrieb (vgl. Tissoni Benvenuti, »Note preliminari al commento dell’ ›Innamoramento de Orlando‹ «, 301), sind es deren 23. Man hätte also die Zahl auch individuell für Ercole I verändern können, wenn man eine spezifische Referenz intendiert hätte. 18  Haustein, »Autopoietische Freiheit im Herrscherlob«, 111.

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und den Raben und Geiern (den Schmeichlern) in den Raum gestellt wird (vgl. OF 35.13).19 Man könnte in diesem Zusammenhang überlegen, in wie weit eine Offenlegung der ornamentalen, emphatischen, hyperbolischen oder gar fiktiven Komponente des Lobes die Grenze zur Schmeichelei gewissermaßen absichern und damit das Gelingen der Enkomiastik allererst garantieren kann. Ich komme darauf zurück, will aber hier schon festhalten, dass der Unterschied zwischen den Dichtern und den Schmeichlern in der Mondszene gerade vom Gelingen des Herrscherlobes her markiert wird: Die Dichter, die Schwäne, sichern den Ruhm der Herrschenden, während die Schmeichler, dargestellt durch die unedlen Greifvögel, die Namen derer, deren Lob sie heucheln, wieder in den Fluss des Vergessens fallen lassen.20 III. Vor diesem Hintergrund sollen nun die drei aufgeworfenen Probleme des Herrscherlobs bei Ariost diskutiert werden. Dabei wird vor allem die Beobachtung der Einschreibung des Herrschernamens in eine ästhetische Gestaltung von Nutzen sein. Das erste Problem betraf das Verhältnis von Geschichte und Fiktion: Wie kann es sein, dass chronikale Gegebenheiten, aus denen etwa die genealogische Exzellenz des Hauses Este folgen soll, einfach umerzählt werden? Eine Antwort ergibt sich unmittelbar aus unseren Überlegungen zu der Messe von Josquin: Kunstwerke können schwach propositionale Effekte erzeugen und dennoch loben. Die dabei aktualisierten semantischen Gehalte treten in ästhetische und nicht so sehr logische Zusammenhänge ein. Das argumentative Element und sogar die Einzelheiten der Aussage sind möglicherweise für die Enkomiastik nicht wichtig, ja: auch fiktive Begründungen scheinen möglich. 19  Eine Theorie der Schmeichelei soll in diesem Zusammenhang nicht versucht werden, zumal obige Überlegungen sich ja gerade diesseits der Grenze zur Schmeichelei situieren; vgl. für eine solche aber Jean Starobinski, »Sur la flatterie«, in: ders., Le remède dans le mal. Critique et légitimation de l’artifice à l’âge des Lumières, Paris 1989, 61–90. 20  Eine differenzierte Betrachtung dieser Szene findet sich bei Baillet, »L’Arioste et les princes d’Este«: Ariost ironisiert zwar den Wahrheitsgehalt der Dichtung, aber er bringt damit nicht sein ganzes Gebäude zu Fall. Wirkliche Dichter existieren, lobenswerte Fürsten auch. Die guten Herrscher, die nicht zwischen Schmeichlern, schlechten Dichtern und guten Dichtern zu wählen wissen, riskieren ihren Nachruhm; die schlechten Herrscher, die sich durch gute Dichter Ruhm verschaffen, riskieren jedoch auch »que la vérité se découvrira un jour« (94).



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Die Fiktionalisierung von Historie schadet also nicht dem enkomiastischen Sprechakt als solchem; aber wie steht es mit dessen historiographischem Anteil? Denn den Menschen der Frühen Neuzeit war es ja nicht grundsätzlich gleichgültig, ob jeweils eine wahre oder eine erfundene Geschichte erzählt wurde. Die Wahrheitsmaxime menschlicher Kommunikation ist sicher um vieles älter (und vermutlich sogar grundlegend), und gerade die hier in Rede stehende Epoche erlebt eine  – oft gattungsspezifische  – Ausdifferenzierung von historischen Wahrheitsansprüchen.21 Gleichgültig ist es also in der in Rede stehenden Epoche nicht, ob Wahres oder Erfundenes erzählt wird, aber unter bestimmten Umständen kann es funktional äquivalent sein  – dann nämlich, wenn der historische Tatsachenbericht und eine etwa erfundene Geschichte hinsichtlich ihres abstrakten Wahrheitsgehalts gleich sind; wenn Geschichte und Fiktion gleichermaßen als Allegorien einer eventuell transzendenten, jedenfalls aber tieferen Wirklichkeit zu verstehen sind. Das Buch der Weltgeschichte und das erfundene Buch verweisen in diesem Fall gleichermaßen auf die göttliche Wahrheit, die hinter beiden steht  – um Gedanken zu variieren, die Andreas Kablitz vor einiger Zeit einmal vorgetragen hat.22 Martin Gosmann meint Ähnliches, wenn er im Zusammenhang mit der Überformung der Geschichte im Dienste des Lobs der Este darauf hinweist, dass die menschliche Historie in dem fraglichen Zeitraum meist nicht um ihrer 21  Vgl. hierzu Nikolaus Becker, Die Ritterepik von Boiardo, Ariosto und Tasso im Spiegel von Geschichtlichkeit und Gegenwart. Faktizität, Fiktionalisierung, Historiographie, Berlin 2018, Volltext: https://refubium.fu-berlin.de/handle/fub188/22474, hier 77. Becker arbeitet unter anderem heraus, dass die Unterscheidung zwischen Fiktion und Fakt auch von einem Autor wie Boiardo genrespezifisch unterschiedlich behandelt wurde (119), was auf ein Differenzbewusstsein hinweist. Gleichwohl war auch in dominant historiographischen Texten, insbesondere solchen, die sich mit Regionalgeschichte befassten, fiktionale Überformung der berichteten historischen Tatsachen »eine stillschweigende Übereinkunft« (182). In diesem Zusammenhang ist auf die terminologische (und damit verbunden systematische) Schwierigkeit hinzuweisen, dass je erst herauszuarbeiten wäre, ob es sich um ›fiktionales‹ Erzählen im Sinne einer Konvention oder um ›fiktive‹ Überformung außerhalb oder am Rande solcher Konventionen handelt. Zu diesem Fragenkomplex vgl. auch Walter Haug, »Geschichte, Fiktion und Wahrheit. Zu den literarischen Spielformen zwischen Faktizität und Phantasie«, in: Fritz P. Knapp/Manuela Niesner (Hgg.), Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter, Berlin 2002, 115–131; Frank Bezner, »Pellegrino Prisciani und die Praxis der Historia. Ferrareser Renaissance-Historiographie und ihr Kontext«, in: Frank Bezner/Kirsten Mahlke (Hgg.), Zwischen Wissen und Politik. Archäologie und Genealogie frühneuzeitlicher Vergangenheitskonstruktionen, Heidelberg 2010, 41–70. 22  Vgl. Andreas Kablitz, »Dichtung und Wahrheit. Zur Legitimität der Fiktion in der Poetologie des Cinquecento«, in: Klaus W. Hempfer (Hg.),  Ritterepik der Renaissance. Akten des deutsch-italienischen Kolloquiums, Stuttgart 1989, 77–122.

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selbst willen betrachtet wird, sondern in Bezug auf ein allgemeingültiges ethisches Modell, und hierfür kommen historische Fakten und Mythen gleichermaßen in Frage.23 Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Grenze zwischen dem, was wir aus heutiger Sicht als erweisbare Tatsachen und was wir als Fiktionen erachten, manchmal fließend ist (und, wie Klaus W. Hempfer meint, auch bewusst verwischt werden kann),24 insbesondere im Kielwasser der mittelalterlichen Universalgeschichte, die immer auch exemplarisch überformt ist. Davon sind um 1500 noch beträchtliche Reste vorhanden, auch wenn diese Denkform schon zunehmend von einem stärkeren Bewusstsein für historische Faktizität in Frage gestellt wird (Genealogien mit fiktiven Elementen werden indes noch lange verfasst werden). Man könnte also sagen: Ein Text wie Boiardos Orlando innamorato oszilliert zwischen einem Nacherzählen dessen, was das Buch der Geschichte erzählt und einem Neu-Erzählen eines neuen Buchs; beiden Büchern gemeinsam aber ist die tiefere Bedeutung der Größe des Hauses Este. Darin liegt ihre Wahrheit. Dennoch kann, wie gesagt, eines der beiden Bücher fiktional sein. Ein enkomiastischer Sprechakt hat damit eine gewisse poetische oder ästhetische Freiheit, die auch Fiktion einschließt. Aber geht dies so weit, dass die erzählte Geschichte sogar auf innere Stimmigkeit verzichten kann? Damit ist das zweite Problem angesprochen, dasjenige der Konsistenz. Boiardo kündigt den Tod Ruggieros, des Ahnherrn der Este, an, aber Ariost erzählt ihn in seiner Fortsetzung und Vollendung von Boiardos Gedicht nicht. Vielmehr läuft bei ihm alles auf ein happy end hinaus, ein Hochzeitsbankett und den siegreichen Kampf des Schlüsselhelden mit dem wichtigsten Vertreter des feindlichen Lagers. Aber auch das Problem der Konsistenz kann man hier in einem ästhetischen Horizont betrachten und insbesondere fragen, ob diese Gestaltung an bestimmte poetische Muster anschließt. In der Tat lässt sich Ariosts glückliches Textende durch ein zentrales Strukturmerkmal der italienischen Rolandsepik erklären: Alles Erzählte ist in diesem Repertoire die endlos ausweitbare Vorgeschichte eines heroischen Endes, das selbst quasi aus dem Blick gerät. In der Rolandsepik ist 23  Vgl. Gosmann, »Ariosto’s Orlando Furioso and the Restoration of the Este Image«, 118. 24  So die zentrale These von Klaus W. Hempfer, »Funktionen des Faktischen in der Fiktion oder das Überspielen einer Grenze in Ariosts ›Orlando Furioso‹ «, in: Ulrike Schneider/Anita Traninger (Hgg.), Fiktionen des Faktischen in der Renaissance, Stuttgart 2010, 45–60.



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dieses Ende natürlich dasjenige Rolands bei Roncesvaux. Schon in der Chanson d’Aspremont aus dem zwölften Jahrhundert und der davon abhängigen italienischen Aspromonte-Dichtung erleben wir den noch jungen Roland, der große Taten gegen die in Kalabrien einfallenden Sarazenen vollbringt, ohne dass sein die Texttradition eigentlich begründendes Ende in Sicht wäre. Die Vorgeschichte zu erzählen  – das wird gerade für die italienischen Ritterepiker eine interessante Option sein, um ihre Helden nicht immer gleich sterben lassen zu müssen. In den folgenden Jahrhunderten wird Roland insbesondere in der italienischen Tradition der Rolandsdichtung transformiert von einem im Heeresverband gefallenen Hauptmann in einen fahrenden Ritter, der auszieht, um in der Art der Ritter der Tafelrunde Abenteuer zu suchen – also von einem punktuell heroisch Endenden zu einem seriell Siegenden. Er wird dabei verschoben aus der epischen Welt Karls des Großen und seines Heeres in eine der Welt der bretonischen Sagen analoge Umgebung, in der Einzelkämpfer in verzauberten Wäldern wunderbare Aventüren bestehen und interessante Begegnungen mit dem weiblichen Geschlecht haben (etwas, das in der Karlsgeste eher unwichtig ist): sei es, dass sie verfolgten Damen Beistand leisten, sei es, dass sie in die Fänge gefährlicher Magierinnen geraten. Diese Transformation Rolands erfolgt in Italien in mehreren Schritten. In dem anonymen franko-venezianischen Epos Entrée d’Espagne (Liber Introitus Yspanie, um 1320/1340) verlässt Orlando nach einem Streit mit Karl dem Großen Heer und Hof, um als fahrender Ritter hinaus zu ziehen und Abenteuer zu suchen. Er geht ins Heilige Land und begegnet dort dem Wunderbaren, dem Übernatürlichen und den  – zunächst abgewehrten  – Versuchungen der Erotik. Später wird ihm sein Ende in den Pyrenäen geweissagt. Boiardo nutzt ein Jahrhundert später diesen Freiraum der Vorgeschichte, um in seinem Orlando innamorato Roland erstmals als verliebten Ritter darzustellen; hier kommt auch die schöne, aber moralisch nicht ganz einwandfreie Angelica, Prinzessin von Cathay, ins Spiel, die allen christlichen Rittern den Kopf verdreht, und eben auch Orlando. Schließlich setzt Ludovico Ariosto den unvollendet gebliebenen Roman Boiardos mit seinem Orlando furioso fort und überbietet den ›verliebten‹ durch einen ›rasenden‹, aus Liebe wahnsinnig gewordenen Roland. Sein Ende ist auch hier in weiter Ferne  – und eben diese Technik überträgt Ariost auf Ruggiero. Auch dessen Ende wird wie dasjenige Rolands aus der Erzählung ausgelagert. Die literarische Fiktion gestaltet hier insofern einen Raum des Aufschubs aus. Dies ist eine Figur, die in der italienischen Literatur von großer Bedeutung ist. Wie Gerhard Regn gezeigt hat, beruht etwa Petrarcas Canzoniere wesentlich auf einer Poetik des Aufschubs, und eine solche

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ist nach Albert Russell Ascolis und Sergio Zattis Auffassung auch innerhalb von Ariosts Romanzo am Werk.25 Die literarische Rede breitet sich in einem Raum aus, der sich von dem heroischen Ende des Protagonisten emanzipiert, es abdrängt und verschweigt und der deshalb noch einmal in besonderer Weise ein fiktionaler Raum ist (aber damit ist nicht gesagt, dass nicht irgendwann doch die Mainzer Ruggiero ans Leder gehen werden). Noch bleibt aber das dritte und größte der anfangs aufgeworfenen Probleme zu bearbeiten, dasjenige der Ironie. Über Ariosts Ironie ist viel gesagt worden. Vielleicht tritt bei Ariost der Ritterroman in eine Phase distanzierter, ironischer Selbstbeobachtung ein, die insbesondere fiktionsironische Gesten begünstigt. Dies wird zweifellos befördert durch das frühneuzeitliche Bewusstsein von der Pluralisierung der möglichen Weltbeschreibungen  – durch ein potentiell (aber in den seltensten Fällen aktuell) ironisches Bewusstsein also. Dabei sollte man allerdings zweierlei nicht übersehen: Einerseits ist dieses Stadium des Ritterromans die letzte Konsequenz einer früh einsetzenden gattungsinternen Entwicklung, die schon bei Renaut de Beaujeu um 1200, also eine Generation nach den diskursbegründenden Texten von Chrétien de Troyes, so etwas wie Fiktionsironie beinhaltet – übrigens ganz wie später bei Ariost auch in dem Sinne, dass der Fortgang der Erzählung bei Renaut spielerisch von der Gunst der Dame des Erzählers abhängig gemacht wird.26 Boiardo schätzt sodann die narrative Metalepse (das Personal einer intradiegetisch erzählten Novelle tritt plötzlich auf der primären diegetischen Ebene auf – vgl. OI, I, xi), die ja ebenfalls über die Frage der Fiktionsebene die Frage nach der Fiktionalität in den Vordergrund holt. Ariost aktualisiert und steigert insofern ein Dispositiv zur Fiktionsironie, das auch in älteren Texten bereits vorhanden ist.27 25  Vgl. Gerhard Regn, »Poetik des Aufschubs. Giovanni Colonna und die Architektur des Canzoniere (zu RVF CCLXVI und CCLXIX)«, in: ders./Klaus W. Hempfer (Hgg.), Petrarca-Lektüren. Gedenkschrift für Alfred Noyer-Weidner, Stuttgart 2003, 185–211; Albert Russell Ascoli, Ariosto’s Bitter Harmony. Crisis and Evasion in the Italian Renaissance, Princeton 1987, 20 und passim (»deferral« wird hier allerdings hauptsächlich in Bezug zu Evasionstaktiken angesichts von Krisen gesetzt) und Sergio Zatti: »Retoriche del desiderio narrativo«, in: MIMESIS. Il testo, la figuralità, il mondo, http://www.mimesis.education/uncategorized/sergio-zattiretoriche-del-desiderio-narrativo [23.11.2018] (hier im Sinne eines Aufschubs des Endes eines lustvollen Texts). 26  Vgl. Renaut de Beaujeu, [Li biaus desconneus] Le bel inconnu ou Giglain fils de messire Gauvain et de la Fée aux Blanches Mains, hg. Célestin Hippeau, Paris 1860, 1 und 216–217. 27  Damit soll an dieser Stelle eine grundsätzliche Möglichkeit von Fiktion benannt sein, ohne dass damit eine spezifische These zu einer etwa die Romantische Ironie



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Andererseits ist damit noch nicht unsere Frage nach der spezifischen Wirkung der Ironie in der Mondszene beantwortet, insbesondere nach ihrer Wirkung auf die enkomiastische Gesamtkonzeption. Wird hier das Lob der Este ironisch aufgehoben? Dies soll in der Tat nicht vollkommen in Abrede gestellt, aber doch differenziert werden. Ich will hierzu die Ironie auf die oben angestellten allgemeinen Überlegungen zum enkomiastischen Sprechakt rückbeziehen und dabei vor allem zwei Aspekte stark machen: die ästhetische oder poetische Komponente und die Frage nach der Grenze zur Schmeichelei. Zunächst zur ästhetischen Komponente: Wir sahen an der Musik Josquins, dass Lob auch darin bestehen kann, dass der Name des Herrschers in eine ästhetische Textur eingewoben wird, die keineswegs argumentativ sein muss, ja sogar nur schwach propositional sein kann. Dieser Umstand ist sicherlich unabhängig davon, welcher Art das ästhetische Vergnügen ist, das uns dieses Gewebe bereitet. Schon Klaus W. Hempfer hat herausgearbeitet, dass in den historischen Rezeptionsdokumenten zum Orlando furioso etwa die Ironisierung der fahrenden Ritter (soweit sie erkannt wird) meist der Funktion des Vergnügens, des diletto, zugeordnet wird.28 Ironie und die daraus resultierende Komik können also ästhetische Verfahren sein. Sie können uns (unter anderem) erfreuen. Auf einer ähnlichen Linie liegt Niklas Benders These, die ›Brechung‹ des Heroischen in der Gestalt Ruggieros trage trotz der damit verbundenen Relativierung des Status des Este-Vorfahren gerade deshalb zum Herrscherlob bei, weil sie der ästhetischen Komplexität des Textes entspricht.29 Aber damit ist die Frage noch nicht vom Tisch, ob nicht die Ironie doch etwas vom Gehalt der lobenden Rede erfassen könnte; ob also nicht der Preis dieser unterhaltsamen Form der Darbietung doch eine Ambiguisierung des Dargebotenen ist. Eine Ambiguisierung scheint in der Tat anzunehmen – aber eben keine Aufhebung. Um dies zu verstehen, begeben wir uns abschließend nochmals in die Mondszene. Zwei Stanzen, in denen Ariost scheinbar ziemlich hart am Wind segelt, sind die 28. und 29. des 35. Gesangs, in der sich der Evangelist Johannes höchstpersönlich als enkomiastischer Autor darstellt: präludierenden Ironie Ariosts impliziert sein muss, wie sie kürzlich von Christian Rivoletti, Ariosto e l’ironia della finzione, Venedig 2014, vorgetragen wurde. 28  Vgl. Hempfer, Diskrepante Lektüren, 208–243. 29  Vgl. Niklas Bender, »Heldendarstellung in Ariostos Orlando furioso. Herrscherlob und erzählerisches Ingenium in postheroischen Zeiten«, Romanistisches Jahrbuch 69 (2018), 119–158, hier 143. Bender gibt bei seiner These der ›Brechung‹ m. E. freilich der Entwicklung zum dynastischen Helden, die Ruggiero durchmacht, zu wenig Gewicht. Vgl. hierzu Bruscagli, »Ruggiero’s Story«, 164.

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Gli scrittori amo, e fo il debito mio; ch’al vostro mondo fui scrittore anch’io. (OF 35.28, 7–8)

Auch ich, der Evangelist Johannes, heißt es hier sinngemäß, war in eurer Welt ein Schriftsteller und ich habe von Christus den Lohn für mein lobendes Schreiben empfangen: E sopra tutti gli altri io feci acquisto che non mi può levar tempo né morte: e ben convenne al mio lodato Cristo rendermi guidardon di sì gran sorte. (OF 35.29, 1–4)

Johannes hat Christus gelobt, so wie Ariost Ippolito d’Este lobt, und er hat dafür den angemessenen Lohn erhalten. Man könnte insofern argwöhnen, selbst das Neue Testament erscheine damit in der Optik des Orlando furioso als gekaufte Lügengeschichte, so wie Homers Geschichte von der treuen Penelope. Aber eine solche Lektüre wäre voreilig, denn diese Rede wird innerfiktional im Himmel gehalten. Der Lohn, den Johannes hier ganz offensichtlich bekommen hat, das Paradies, zeugt zumindest einmal innerhalb der Textwelt des Orlando furioso von der Wahrhaftigkeit dessen, was Johannes beschrieben hat: nämlich von der Macht Gottes, seine Diener ins Paradies zu befördern. Insofern kann man hier nicht von einer Destruktion des biblischen Wahrheitsanspruches reden  – wohl aber von einer Ambiguisierung. Klaus W. Hempfer hat gezeigt, dass schon die Rückbindung des Textes an die faktische Beziehung zu den Este im Proöm, aber auch die performative Einlösung der in der Mondszene als Aufgabe der Dichter dargestellten »Immortalisierungsleistung« im Personenkatalog in Gesang 46 eine »durchgängig direkt ironische Lesbarkeit« der Enkomiastik ausschließen  – nicht aber eine subtile Unterminierung.30 Die Ambivalenz, die dadurch entsteht, kann, wie hier behauptet werden soll, als Bestandteil des ästhetischen Vergnügens aufgefasst werden. Zugleich könnte sie aber  – und das ist der zweite Aspekt  – ein entscheidender Bestandteil erfolgreichen Herrscherlobes sein, denn dadurch wird, wie oben schon angedeutet, die Grenze zur Schmeichelei in die Enkomiastik eingezeichnet. Die Offenlegung der Fiktion und der Übertreibung, die ironische Ambiguisierung rettet den Text davor, bloß schmeichelhaft zu sein. Vielmehr suggerieren diese Distanzierungsgesten, dass hier einer lobt, der es nicht nötig hat; umso wertvoller ist die von ihm ambivalent abgefederte Preisung. Vielleicht ist dies sogar eine der erfolgversprechendsten Möglichkeiten, lobende Rede sozusagen in die richtige Lautstärke zu 30  Hempfer,

»Funktionen des Faktischen«, 48–50.



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bringen, denn Ambiguisierung muss im Gegensatz etwa zu feiner Differenzierung nicht auf jene hyperbolische Emphase verzichten, die für den lobenden Sprechakt so typisch ist. Jenseits des Herrscherlobes als eines solchen wird dem Kardinal Ippolito also ein zweifaches Kompliment gemacht: erstens, dass er den ästhetischen Modus dieser Ironie versteht, und zweitens, dass er zu schätzen weiß, dass derjenige, der ihn preist, sich von den billigen Schmeichlern abgrenzt. Dieses Kompliment könnte zugleich als Versuch aufgefasst werden, den fürstlichen Leser auf solche humorvolle Kennerschaft zu verpflichten.31 Für ihn wird sozusagen eine besondere Version der Rolle des idealen Lesers in den Text eingeschrieben. IV. Unabhängig von der Frage, ob Ippolito dieses Kompliment tatsächlich verstanden, angenommen oder gar verdient hat, unabhängig auch von irgendwelchen privaten Intentionen des Autors, wird damit die Leserrolle des Gönners eine wesentliche Dimension dieses Textes. Und doch handelt es sich nicht um einen für den Kardinal verfassten Privattext, sondern um einen der ersten Texte der Geschichte des gedruckten Buches, die direkt vom Autor für den Druck hergerichtet wurden und also ebenso sehr mit einem anonymen, gar bürgerlichen Leser rechnen mussten. Für diesen allgemeinen Leser wird nun aber der hoffentlich Spaß verstehende Kardinal Ippolito selbst zu einer Figur des Textes, die er mitlesen muss, wenn er diese Effekte verstehen will  – so, wie für manche Hörer der Hercules-Messe der solmisierende Herzog Ercole zu einem impliziten Aspekt der musikalischen Textur wird. Die Widmungsträger werden mit Haut und Haar und Solmisationssilben in die ästhetische und fiktionale Faktur der Kunstwerke eingesogen. Die darin liegende Verwandlung des Pragmatischen ins Ästhetische funktioniert allerdings am besten dann, wenn uns die auf diese Weise gepriesenen Herrscher nicht mehr gegenwärtig sind, wenn also die Referenz auf sie an Relevanz verliert. Vor allem ältere Texte und Artefakte sind 31  Im Falle Ippolitos ist um Unterschied zu dessen Schwester Isabella d’Este Gonzaga nicht sicher von großer Kennerschaft in Bezug auf Ritterromane auszugehen, vgl. Giorgio Masi, » ›The Nightingale in a Cage‹. Ariosto and the Este Court«, in: Donald Beecher/Massimo Ciavolella/Roberto Fedi (Hgg.), Ariosto Today. Contemporary Perspectives, Toronto et al. 2003, 71–92, hier 75.

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deshalb besonders faszinierend, weil sie sich mit einer für uns nicht mehr existenziell folgenreichen, aber geschichtlich rekonstruierbaren Wirklichkeit auf diese Weise ästhetisch anreichern. Im Horizont späterer Rezeption wird so das scheinbare historische Außen der Kunst ein Bestandteil des ästhetischen Innen. Herrscherlob ist insofern nicht nur im Kontext seiner Entstehung ein Fall von künstlerischer Textgestaltung, es ist für spätere Leser, die Zaungäste der Geschichte, gänzlich in schöne Kunst aufgelöst.

Urteil und Komödie in der italienischen Renaissance und in Giordano Brunos Candelaio Von Steffen Schneider Abstract The essay examines the practice of judgement in Giordano Bruno’s comedy Candelaio. The comic effect of the piece is largely due to the asymmetry between those with poor judgment and those who are intellectually superior to them. Bruno addresses the importance of an untroubled power of judgement both in the prologue and in various passages of the text. The characters’ practice of judgement thus constitutes the plot of Candelaio and is at the same time explicitly thematized throughout the text. The essay shows that the representation of judgment in Candelaio is intertextually connected with the history of comedy in the Cinquecento. Comedy writers such as Bibbiena and Machiavelli already discovered the practice of judgement as a source of laughter. Bruno follows their models but complicates the plot and deepens the reflection on judgment by drawing on ideas from his work De umbris idearum, in which he lays the foundations of his epistemology. In Candelaio, however, Bruno is not interested in spreading philosophical views. It is rather a question of mocking social conventions, the contingency of which is uncovered.

I. Candelaio im Gesamtwerk Brunos Giordano Brunos einzige Komödie, Candelaio, entstand vermutlich in Paris, wo er sich ab 1581 aufhielt; gedruckt wurde sie 1582 bei Guillaume Julien, dessen Name im Frontispiz der Erstausgabe in italianisierter Form als Guglielmo Giuliano erscheint.1 Es gehört mit den im selben Jahr erschienen Schriften zur Gedächtniskunst (De umbris idearum, Ars memo1  Zur Entstehung des Candelaio s. Anna Laura Puliafito Bleuel, Comica pazzia. Vicissitudini e destini umani nel Candelaio di Giordano Bruno, Florenz 2007, 9–11. Dort auch ein Abdruck des Frontispiz (5). Wichtige Informationen über die verschiedenen Editionen des Candelaio bei Giovanni Aquilecchia, »Saggio di un commento letterale al testo critico del Candelaio«, Filologia e critica 16 (1991), 91–125, hier 93 f.

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riae, Cantus circaeus, De com­ pendiosa architectura et complementi artis Lullii) zu seinen frühesten erhaltenen Werken; zwei frühere Schriften sind verloren. Die Tatsache, dass ein angehender Philosoph mit seinen ersten ernsthaften Texten auch eine Komödie vorlegte, ist durch­aus ungewöhnlich und hat in der Brunoforschung dazu geführt, dass man Candelaio zunächst lange Zeit eher stiefmütterlich behandelte, was sich auch in der Editionsgeschichte widerspiegelt. Während frühere Herausgeber sich in der Regel auf die Publikation der italienischen Dialoge beschränkten,2 ist es erst seit der von Yves Hersant und Nuccio Ordine geleiteten Edition der Œuvres complètes üblich geworden, die Komödie als ersten Text im Reigen der italienischen Werke abzudrucken und das Stück endlich als vollwertigen Teil  von Brunos Schaffen zu begreifen.3 Diese editorische Aufwertung hat dazu geführt, dass die Forschung zunehmend nach den philo­so­phischen Implikationen der Komödie fragte und in ihr zahlreiche Reflexe der nola­ nischen Philosophie wieder­ erkannte. Dabei lassen sich grundsätzlich zwei komple­ mentäre Perspektiven der Forschung unterscheiden: Die erste betrifft die gnoseologische Dimension, also die Er­ kennt­nisprobleme, die in Candelaio dargestellt werden; dabei geht es insbesondere um das adäquate Erfassen der Wirklichkeit, also um Erkenntnis- und Urteilsvorgänge. Die zweite Perspektive betrachtet die Komödie unter kosmologischen Gesichtspunkten und deutet das Stück unter Rückgriff auf Brunos Naturphilosophie als Allegorie kosmischer Struk­ turen. Exempla­risch wird diese Auffassung von Sergius Kodera formuliert, der die Dynamik des Begehrens, das die Komödienfiguren motiviert und die Handlung vorantreibt, als Ausdruck der allgemeinen kosmischen vicissitudo deutet. Vicissitudo meint bei Bruno die unendliche Produktivität der Materie, die permanent Neues hervorbringt und Altes vernichtet, bezeichnet also die Dynamik der Veränderung und Erneuerung und schließt auch die Fortuna ein, die aus menschlicher Sicht häufig wie ein plan- und zielloses Geschehen anmutet.4 Auch Marco Arnaudo fasst die fiktionale 2  Das ist der Fall in den Ausgaben: Giordano Bruno, Dialoghi italiani, nuovamente ristampati con note da Giovanni Gentile, hg. Giovanni Aquilecchia, Florenz 31958; Giordano Bruno, Dialoghi filosofici italiani, hg. Michele Ciliberto, Mailand 2000. 3  Die Œuvres complètes sind ab 1993 bei Les Belles Lettres in Paris erschienen, der Candelaio bildet den ersten Band. Die deutschsprachige Gesamtausgabe der italienischen Werke (GBW) wurde ab 2005 unter Leitung von Thomas Leinkauf im Meiner Verlag publiziert; die italienische Ausgabe, die auf dem Text von OC beruht, ist: Giordano Bruno, Opere italiane, hg. Nuccio Ordine, 2 Bde., Turin 2002. 4  Sergius Kodera, »Einleitung« in: Giordano Bruno, Candelaio/Der Kerzenzieher, übers., komm. u. hg. Sergius Kodera, Hamburg 2013, xi–cvii, hier lxx. Zum Begriff der vicissitudo bzw. vicissitudine Maria Elena Severini, »Vicissitudine e tempo nel



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Welt des Candelaio als eine Metapher für Brunos neuen Kosmosbegriff: Die Unübersichtlichkeit der Figuren und Handlungsstränge, der chaotische Charakter einer wuchernden Sprache veranschaulichen seiner Meinung nach die chaotische Fülle des unendlichen Kosmos.5 Die kosmologische Lesart erscheint jedoch als problematisch, weil Brunos Kosmologie zum Zeitpunkt der Niederschrift des Stücks noch gar nicht aus­formuliert war. Außerdem steht sie vor dem Problem, dass die Entsprechungen zwischen der unübersichtlichen kosmischen Wirklichkeit und der schwer zu überblickenden Komödienfiktion nur sehr vage und allgemein sind  – viel mehr als das Merkmal der Unübersichtlichkeit hat Candelaio mit dem Universum nicht gemein, zumal Aussagen über den Kosmos in dem Theaterstück keine bedeutende Rolle spielen. Es scheint daher plausibler, die Komödienfiktion von Candelaio nicht metaphysisch und naturphilosophisch, sondern literaturgeschichtlich zu begründen: Bruno greift ganz typische Verfahrensweisen der commedia erudita, die sich im 16. Jh. entwickelt hatte, auf und übersteigert sie. Gleichzeitig führt er eines der wichtigsten Themenfelder der Komödie fort. Es handelt sich um das Urteilen und die Urteilsfähigkeit, deren Bedeutung für die Komödie im Folgenden ausführlich erörtert werden. Indem Bruno mit dem Urteil ein bedeutendes Moment im Erkenntnisvorgang thematisiert, greift er ein Problem auf, dass er auch in den zur selben Zeit verfassten philosophischen Schriften behandelt. Candelaio befindet sich daher in einem doppelten intertextuellen Dialog: Einerseits mit den anderen Komödien des Cinquecento, andererseits mit Brunos Schriften zur Gedächtnistheorie. Beide Beziehungen werden in den folgenden Ausführungen untersucht: Nach den Erläuterungen zur fundierenden Rolle des Urteils für die Komödie wird seine besondere Funktion anhand von zwei exemplarischen pensiero di Giordano Bruno«, in: Fabrizio Meroi (Hg.), La mente di Giordano Bruno, Florenz 2004, 225–258; Fabio Raimondi, Il sigillo della vicissitudine. Giordano Bruno e la liberazione della potenza, Padua 1999; Nicoletta Tirinnanzi, »Materia e vicissitudine«, Quaestio 7 (2007), 395–418. 5  Marco Arnaudo, »Alla palestra dell’intelletto. Una lettura del Candelaio di Giordano Bruno«, Italica 84 (2007), 691–707, hier 694: »Il pensiero di Bruno ha distrutto le sfere aristoteliche e postulato un universo di infinita varietà senza centro, forma e confine, in cui gli elementi costituiscono una molteplicità inesauribile e stanno liberamente uno sopra all’altro, uno accanto all’altro, uno in mistione e dissoluzione dell’altro. Analogamente, il testo del Candelaio mira a dare una specie di visione totale di un mondo di incontenibile varietà, il cui sviluppo enciclopedico gravita intorno ai temi centrali dell’amore […], dell’alchimia […], della cultura libresca […] e dell’arte […], e si espande ad inglobare una nutrita selva di personaggi dalle classi sociali più basse, dotati dunque di ancora ulteriori interessi, scopi, strategie ed approcci al reale.«

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Stücken des Cinquecento, Bibbienas Calandria und Machavellis Mandragola, dargestellt. Nach einer kurzen Inhaltsangabe und Handlungsanalyse von Candelaio wird der Dialog mit Brunos Gedächtnistheorie anhand von einem Exkurs zu De Umbris idearum erläutert. Auf dieser Grundlage können die Eigenarten des Candelaio gegenüber den Gattungsmodellen und gegenüber der Philosophie besser erfasst werden. II. Urteile und Fehlurteile in der Komödie der Renaissance Seit es in der europäischen Literatur eine Komödientheorie gibt, ist diese nicht nur mit der Frage nach dem Komischen, sondern auch mit der Frage nach der Qualität des Urteilens verknüpft. In der Dramatik besitzt die Praxis des Urteilens mehrere Ebenen: Auf der Ebene der Rezeption setzt die Beurteilung einer Handlung als komisch die aktive Urteilsfähigkeit der Zuschauerinnen und Zuschauer voraus. Innerhalb der Handlung sind es die lächerlichen Figuren, die meistens Fehlurteile fällen und daher komisch wirken; ihnen stehen die mit ausreichender Intelligenz und Auffassungsgabe versehenen überlegenen Figuren gegenüber, welche durch List, Intrige, Spott oder andere Mittel die Lächerlichkeit ihrer Gegner ausnutzen oder bloßstellen. Bereits in Platons Philebos, der eine frühe Theorie des Komischen enthält, werden wichtige Aspekte des komischen Urteils entfaltet: Platon bezieht sich auf die Fehlurteile der lächerlichen Figur und auf das urteilende Publikum. Wie Sokrates feststellt, besteht die Natur des Lächerlichen, das den Auslöser für die komische Wirkung der Komödie bildet, in einer »Schlechtigkeit«, die aus der Fehleinschätzung einer Person über ihr eigenes Wesen bzw. über ihre Fähigkeiten hervorgeht.6 Die verfehlte Selbsterkenntnis ist für Sokrates der Grund des Lächerlichen. Er unterscheidet drei Formen der Selbstverkennung. Die erste bildet das Fehlurteil über den eigenen Wohlstand. Gemeint ist die falsche Meinung des Lächerlichen, reicher oder besitzender zu sein als in der Wirklichkeit. An zweiter Stelle folgt das Fehlurteil über den eigenen Körper, also der Glaube, schöner und größer zu sein, als es der Fall ist. Als dritte und wichtigste 6  Sokrates spricht von einer »Schlechtigkeit, die von einer gewissen Beschaffenheit beigenannt wird, und zwar von der gesamten Schlechtigkeit der Teil, welcher den entgegengesetzten Zustand enthält des von dem delphischen Spruch Ausgedrückten.« Platon, Philebos, in: ders., Werke, hg. Gunther Eigler, Bd. 7, bearb. Klaus Widdra, 255–443, hier 381 (48c). Sokrates bezieht sich damit, wie aus dem Weiteren hervorgeht, auf die Aufforderung »Kenne dich selbst«, die in Form einer Inschrift am Tempel des delphischen Apollon angebracht war.



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Möglichkeit identifiziert Sokrates sodann die moralische Selbstüberschätzung, die in der Verblendung besteht, sich für gut und tugendhaft zu halten, während man es in Wahrheit nicht oder in deutlich geringerem Maße ist.7 Das verfehlte Urteil der lächerlichen Person erklärt Sokrates aber noch nicht per se für komisch. Damit gelacht werden kann, muss ausgeschlossen werden, dass der Aus­gelachte in der Lage ist, den Lachenden zu bestrafen. Das Gelächter wird somit an eine soziale Hierarchie gebunden, ausgelacht werden nur diejenigen, die entweder sozial schwächer sind oder sich aus anderen Gründen nicht rächen können oder wollen. Der komische Effekt stellt sich also nur dort ein, wo keine Gefahr für die lachen­de Person besteht. Aristoteles wird das in seiner Poetik dahingehend abwandeln, dass seiner Ansicht nach »das Lächerliche keinen Schmerz und kein Verderben verursacht«.8 Diese Verallgemeinerung ist fortan in den Theorien des Komischen eine geläufige Grundannahme.9 Platons Konzeption des Lächerlichen und des Lachens bleibt an eine moralistische Sichtweise gebunden, das Lächerliche wird als Abweichung von dem ethischen Postulat der Selbsterkenntnis als einer Form der Wahrheitserkenntnis aufgefasst. Doch auch das Lachen als Lustempfindung ist für Platon moralisch problematisch, denn er geht davon aus, dass die Lust angesichts des Unglücks anderer auf eine schlechte Empfindung, nämlich den Neid, zurückgeht: »Wer aber neidet, der wird sich wohl immer über die Übel des Nächsten erfreut zeigen.«10 Die Kapitel über die Komödie aus Aristoteles’ Poetik sind bekanntlich verschollen. Aus der Beobachtung, dass die Komödie in vieler Hinsicht als Gegensatz zur Tragödie entworfen ist,11 sowie aus den spärlichen allgemeinen Bemerkungen in den erhaltenen Passagen der Poetik lässt sich jedoch manches rekonstruieren. Für unsere Argumen­tation ist interessant, dass Aristoteles die Handlung der Tragödie aus dem tragischen Fehler (hamartia) des Helden ableitet, was implizit ein fehlgeleitetes Urteil voraussetzt. Ähnliches scheint unter geänderten Bedingungen auch für die

7  Diese

drei Formen werden aufgeführt in Platon, Philebos, 381–383 (48e). Poetik, griech./dt., hg. u. übers. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982,

8  Aristoteles,

17.

9  Vgl. Karlheinz Stierle, »Komik der Handlung, Komik der Sprachhandlung, Komik der Komödie«, in: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hgg.), Das Komische (Poetik und Hermeneutik VII), München 1976, 237–268, hier 251. 10  Platon, Philebos, 379 (47b). 11  Manfred Fuhrmanns Kommentar in Aristoteles, Poetik, 116.

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Komödie zu gelten. In einem bekannten Passus der Poetik schreibt Aristoteles: Die Komödie ist, wie wir sagten, Nachahmung von schlechteren Menschen, aber nicht im Hinblick auf jede Art von Schlechtigkeit, sondern nur insoweit, als das Lächerliche am Häßlichen teilhat. Das Lächerliche ist nämlich ein mit Häßlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht, wie ja auch die lächerliche Maske häßlich und verzerrt ist, jedoch ohne den Ausdruck von Schmerz.12

Ein Fehler liegt also für Aristoteles vor, der das Lächerliche verursacht; doch ob und in welcher Weise ein solcher Fehler auf ein Fehlurteil zurückzuführen ist, darüber erfahren wir nichts. Die Überlegungen der beiden griechischen Philosophen sind durchaus nützlich, um manche Aspekte der italienischen Komödien des 16. Jahrhunderts zu verstehen. Jedoch sind diese Komödien weniger das Produkt einer Auseinandersetzung mit antiker Komik­ theorie und ihrer frühneuzeitlichen Rezeption13 als vielmehr Ergebnis der Imitation lateinischer Vorbilder und ihrer Anpassung an den höfischen Kontext, in dem sie in der Regel auf­geführt wurden. Die höfische Gesellschaft, die sich im Lauf des 16. Jahrhunderts heraus­bildet, ihre Werte und Umgangsformen bilden den Horizont der Komödie: Die banale und alltägliche Wirklichkeit der Komödienhandlung erlaubt es dem Autor, eine große Distanz zum elitären Selbstverständnis der Hofgesellschaft herzustellen, wodurch ein unbeschwertes Lachen möglich wird.14 Die lächerlichen Perso­nen lassen genau die Tugenden vermissen, die am Hof am meisten geschätzt werden: Anmut, Klugheit, Urteilsvermögen, aber im Triumph der listigen Intelligenz über die lächerliche Dummheit können die Höflinge dann doch die Apotheose der richtig verwendeten Urteilsfähigkeit feiern und darin ihre Werte bestätigt sehen. Das lässt sich besonders an den beiden erfolgreichsten Stücken zeigen, die am Beginn der Komödienentwicklung stehen, nämlich der Calandria des Bibbiena (aufgeführt 1513 in Urbino) und der Man­dra­gola des Machiavelli (vermutlich aufgeführt 1514–1515 in Florenz). Poetik, 17. den frühneuzeitlichen Komiktheorien vgl. Andreas Kablitz, »Lachen und Komik als Gegenstand frühneuzeitlicher Theoriebildung. Rezeption und Verwandlung antiker Definitionen von risus und ridiculum in der italienischen Renaissance«, in: Lothar Fietz et  al. (Hgg.), Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart, Tübingen 1996, 123–153. 14  Siro Ferrone, »Il teatro«, in: Eugenio Malato (Hg.), Storia della letteratura italiana, Bd. IV: Il primo Cinquecento, Rom 1996, 909–1009, hier 925–931. 12  Aristoteles, 13  Zu



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Calandro, der komische Held in der Calandria, hat es sich in den Kopf gesetzt, die schöne Santilla für sich ge­winnen zu können, bei der es sich eigentlich um den als Frau verkleideten cleveren, hübschen und jungen Lidio handelt. Lidio besucht, als Santilla verkleidet, regelmäßig Calandros Ehefrau Fulvia und betrügt mit ihr Calandro, der sich seinerseits in den als Frau ver­kleideten Geliebten seiner Frau verliebt. Calandro, der betrogene Betrüger, verkörpert damit den typi­schen Antihelden der Renaissance­ komödie: unfähig, sich selbst und seine Fähig­keiten sowie die Gefühle und Bedürfnisse der anderen zu beurteilen, begeht er eine Serie lächerlicher Handlungen, die ihn zum Gespött des Publikums werden lassen. Platons Bestimmung des Lächerlichen als Fehlurteil hinsichtlich der eigenen Fähigkeiten trifft ohne Zweifel auf den lächerlichen Protagonisten der Komö­die zu, allerdings lässt sich darin anders als bei Platon kein moralischer Standpunkt erkennen, ganz im Gegenteil  – moralische Standards werden in der Calandria ver­wor­fen: Es siegt nicht die Tugend über das Laster, sondern die Schläue über die Dummheit. Die christlichen und humanistischen Tugendideale werden sogar explizit aufgeweicht. Das geschieht in einer zentralen Szene des ersten Akts, wo es zu einer Diskussion zwischen Lidio und seinem Latein­lehrer, dem Humanisten Polinico, kommt. Polinico fordert von Lidio, er möge seine erotische Leidenschaft zügeln und sich lieber seinem Studium widmen und die Tugend ehren. Polinico vertritt somit das humanistische Ethos; der Tugendbegriff ist für ihn nicht verhandelbar, er betrachtet seine Geltung als unabhängig von den indivi­duellen Leidenschaften und von der jeweiligen Situation. Lidios Liebes­leidenschaft für eine verheiratete Frau ist aus Sicht dieses Tugendbegriffs schlecht und zugleich gefährlich. Doch Lidio und sein schlauer Diener Fessenio lachen Polinico aus: Für sie besitzt das Erreichen des erotischen Ziels einen eigenen Wert und diese Überzeugung führt zur Relativierung des Tugend- und Moralbegriffs. Fessenio argumentiert nämlich gegenüber Polinico, dass die Tugenden sexueller Enthaltsamkeit bzw. ehelicher Treue nur für alte Menschen gültig seien, da deren erotische Leidenschaft und Potenz erloschen seien: E non sei però Salamone; né consideri che una cosa al vecchio, una al giovane, una ne’ pericoli e una nel riposo si conviene. Tu, che vecchio sei, la vita tieni che a lui ricordi. Lidio, che giovane è, lassa che le cose faccia da giovane. E tu al tempo ed a quel che piace a Lidio te accomoda.15

Moralische Werte sind also für Fessenio und Lidio abhängig von Kontingentem: dem Lebensalter, der Situation, den Personen. Was für Lidio richtig ist, ist für Polinico falsch. Daraus ergibt sich, dass Handlungsopti15  Bibbiena,

La Calandria, hg. Paolo Fossati, Turin 1967, 27.

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onen nicht an moralischen Maßstäben, sondern an der jeweiligen Situation, in der gehandelt werden muss, zu bemessen sind. Das Urteilsvermögen ist nicht mehr länger im Bunde mit einer humanistischen und christlichen Tugendkonzeption, sondern wird strategisch. Es geht jetzt darum, die Kräfte im Spiel richtig zu erfassen, die eigenen Fähigkeiten und die der anderen richtig beurteilen und daraus seine Schlüsse ziehen, wenn die geplante Aktion mit Erfolg zu Ende geführt werden soll. Dieser strategische Urteilsbegriff wird auf die Spitze getrieben in Machiavellis La Mandragola. Auch hier geht es um die Eroberung einer verheirateten Frau, die jedoch mit ihrer Eroberung nicht von vorneherein einverstanden ist. Weil Lucrezia zunächst aus moralischer Überzeugung die eheliche Treue nicht verletzen will, muss der Liebhaber gemeinsam mit seinen Verbündeten die Verführung minutiös planen. Machiavellis Stück zeigt detailliert, in welchen taktischen Schritten der Betrug vollzogen werden muss, damit der Liebende an sein Ziel gelangen kann.16 Es führt dabei vor Augen, über welche ausgezeichnete Urteilsfähigkeit der listige Liebende bzw. sein Verbündeter verfügt. Das wird gleich zu Beginn der drama­ ti­schen Handlung deutlich, wo Callimaco seinem Diener eine genaue und ehrliche Stärken-Schwä­che-Analyse liefert, die von einer scharfen Urteilskraft zeugt, wie man sie Verliebten sonst eher weniger zutraut. Dem steht die Verblendung des Ehemannes Nicia gegenüber, der wie besessen von dem Wunsch ist, Kinder zu zeugen, was ihm auf natürlichem Wege versagt bleibt. Es ist dieser Wunsch, der ihn blind und angreif­bar macht, weil er sein Unterscheidungs- und Urteilsvermögen trübt und ihn den Intrigen seines Gegners ausliefert, der sich als Arzt ausgibt und sich auf diese Weise Zugang zur Ehefrau verschafft. Eine Besonderheit des Stücks von Machiavelli ist die durchgängige Reflexion auf den inganno als Grundstruktur der sozialen Ordnung: Nicia täuscht sich selbst, Bruder Teofilo als sophistischer und korrupter Priester täuscht die fromme Lucrezia und natürlich sind Callimaco und sein Stratege Ligurio die Strippenzieher, von denen die ganze Betrugs­ maschine ihren Ausgang nimmt. Aufschlussreich für das Verständnis der Täuschung bzw. des Betrugs ist die einleitende Kanzone, die Hinweise auf die persönliche Situation des Autors und auf die Aussage des Ganzen enthält. Wichtig ist hier zunächst die Thematisierung der Selbsttäuschung: »dietro 16  Zu Machiavellis anthropologischen Annahmen und seiner Komödientheorie vgl. Peter Werle, » ›Di cosa nasce cosa e ’l tempo la governa‹. Zum Konflikt von Anthropologie und Gattungskonventionen in Machiavellis Komödie La Mandragola«, in: Andreas Kablitz/Gerhard Regn (Hgg.), Renaissance  – Episteme und Agon. Für Klaus Hempfer anläßlich seines 60. Geburtstages, Heidelberg 2006, 173–187.



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alle nostre voglie, / andiam passando e consumando gli anni«.17 Es handelt sich um eine Selbsttäuschung, weil das Streben nach Wunscherfüllung die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit verstellt. Das führt nach Ansicht des Textes dazu, dass ungenutzte Lebenszeit verstreicht und die »inganni del mondo«, also die Täuschungen und Fallen, die uns von anderen gestellt werden, unerkannt bleiben: ché chi il piacer si toglie per viver con angosce e con affanni, non conosce gli inganni del mondo; o da quai mali e da che strani casi oppressi quasi  – sian tutti i mortali.18

Die moralistische Kritik der von ihrem Begehren fehlgeleiteten Menschen wird von einer erkenntniskritischen Perspektive begleitet: Wenn der Trug der Welt seine Ursachen im fehlgeleiteten Begehren hat, dann kann er nur durch die klare Erkenntnis dessen, was ist, durchschaut werden. Die Kanzone lässt sich daher als ein Appell an die Zuschauer deuten, die Betrügereien und die Selbst­ täuschungen im Stück zum Anlass für eine erhöhte Wachsamkeit im eigenen Leben zu nehmen. Bezweckt wird somit auf der Seite des Publikums eine Schärfung des Urteilsvermögens. Die kurze Betrachtung der beiden genannten Werke hat ergeben, dass das Urteilen als soziale Praxis ein zentrales Thema in der Komödie des sechzehnten Jahrhunderts darstellt. Die Urteilstätigkeit der Komödienfiguren richtet sich meistens gegen die moralischen Normen der Gesellschaft, sie bezweckt deren Überschreitung. Dabei geht es allerdings nicht darum, diese Normen grund­sätzlich in Frage zu stellen, sondern lediglich um ihre punktuelle Überwindung, um zu einem gesetzten Ziel zu gelangen. Der außermoralische Charakter der Komödien zeigt sich auch daran, dass sie eine Solidarisierung mit den intriganten Figuren erzeugen und dass das Lachen auf Kosten der Opfer geht. Die Komödie als soziale Institution ist also keine moralische Besserungsanstalt, sondern treibt ganz offensichtlich eine neuartige Urteils­praxis voran, die zeitgleich auch in den epochalen Werken Machiavellis (Il principe) und Castigliones (Il cortegiano) ausformuliert wird  – zwei Texte, die zeigen, dass die Tätigkeit des Urteilens in einer von der Fortuna regierten und von ständig wechselnden und unvorhersehbaren Situationen und Kontexten geprägten Wirklich­keit sich nicht mehr an absoluten Werten orientieren kann. Es ist vielmehr 17  Niccolò Machiavelli, Mandragola. Clizia, hg. Ettore Mazzali, Mailand 1995, hier 91. 18  Ibid.

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gefordert, jede einzelne Situation und die Kräfte, die dabei im Spiel sind, richtig einzuschätzen und auf dieser Grundlage die eigenen Handlungsoptionen bestmöglich zu nutzen. III. Il Candelaio im Kontext der Komödiengeschichte Was nun Giordano Brunos Komödie Il Candelaio angeht, so ist diese bedeutend später entstanden als die bisher genannten Werke: fast siebzig Jahre liegen zwischen der Calandria und der Mandragola auf der einen und dem Candelaio auf der anderen Seite. Von den Komödien, die in der Zwischenzeit entstanden waren, sind für Bruno vor allem die Werke Pietro Aretinos wichtig: aufgrund ihrer antiklassischen Sprache und Struktur bilden sie ein wichtiges Bindeglied zwischen den ersten Komödien des Jahrhunderts und Brunos Candelaio19, in dem es auch eine Anspielung auf Aretinos Komödie Il Maresciallo gibt.20 Einerseits knüpft Bruno an die Thematik des Urteilens an, die aus Calandria und Mandragola bekannt ist, anderer­ seits übersteigert er die traditionelle Komödienstruktur und bedient sich einer neuen sprachlichen Komplexität, indem er unterschiedlichste Sprachregister benutzt; hierzu gehören derbe Zoten, das makka­ ronische Latein, eine grotesk entstellte philosophische Terminologie. Brunos Anti-Akademismus und Anti-Klassizismus geht schon aus dem Titel seiner Komödie hervor. Er lautet: »Candelaio. Comedia del Bruno Nolano, Academico di nulla Academia detto il Fastidito. In tristitia hilaris, in hilaritate tristis.«21 Die Forschung hat vielfach darauf hingewiesen, dass 19  Aretino verfasste u. a. folgende Komödien: Cortigiana (1525/1534); Lo Ippocrito (1541–1542); Il Filosofo (1546). 20  In Szene XXIV des fünften Akts wird erzählt, dass Carubina sich nicht entscheiden konnte, ob sie Bonifacio zum Mann nehmen sollte oder nicht. Ihre Gesprächspartnerin antwortete auf jedes Argument für oder gegen Bonifacio abwechselnd mit »Prendilo« und »Non lo prendere«. Dies erinnert sehr stark an eine Szene aus Aretinos Marescalco, wo die Vor- und Nachteile des Heiratens abgewogen werden, vgl. Pietro Aretino, Teatro, hg. Giorgio Petrocchi, Mailand 1971, 15–18 und 82–83. Hierzu Ordine, »Introduzione«, in: Giordano Bruno, Opere italiane, hg. Nuccio Ordine, 2 Bde., Turin 2002, Bd. 1, 9–190, hier 46, Anm. 119. Ordine verweist zu Recht auch auf Rabelais’ Le Tiers livre. Weiterführend ist Marcel Tétel, Rabelais et l’Italie, Florenz 1969, 32–59. Aretino wird von Bruno auch in Spaccio de la bestia trionfante und in De gli eroici furori zitiert. Im zweiten Dialog des Spaccio nennt Bruno die Namen der Kurtisanen aus Aretinos Ragionamenti (Bruno, Opere italiane, Bd. 2, 278) und in Furori übernimmt er einige Verse aus einem Spottgedicht Aretinos (Bruno, Opere italiane, Bd. 2, 530). 21  Giordano Bruno, Candelaio, in: ders., Opere italiane, Bd. 1, 257–424. In dieser Ausgabe fehlt allerdings der hier genannte Originaltitel der Erstausgabe. Er ist abgedruckt in Bruno, Candelaio/Kerzenzieher, 1.



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diese Widmung ein poeto­ logi­ sches Programm in nuce enthält. Die Bezeichnung comedia ordnet nämlich Candelaio zwar der konventionellen Gattung zu, jedoch wird diese Setzung zugleich präzisiert: Indem sich der Autor nämlich als »Academico di nulla Academia« benennt, markiert er seine Abweichung nicht nur vom poetischen Aristotelismus der zweiten Jahr­hundert­hälfte, sondern überhaupt von den Versuchen, Dichtung und gleich aber beansprucht er als Akademiker Sprache zu normieren.22 Zu­ ernstgenommen zu werden, weist also auf den verborgenen Ernst hin, der in seinen komischen Späßen versteckt ist. Die Mischung aus Spaß und Ernst wird variiert in dem Motto In tristitia hilaris, in hilaritate tristis, das oft gattungstheoretisch gedeutet wird, nämlich als eine Aussage über die Ambivalenz der Handlung, deren glücklicher Ausgang letztlich genauso gut auch ein tragischer sein könnte.23 Das Motto lässt sich aber auch auf eine ethische Grundhaltung gegenüber den auf der Bühne dargestellten Affekten beziehen, denn die Handlungen, die das Gelächter erregen, entstehen aus einer Dummheit heraus, die im Grunde Anlass zur Traurigkeit gibt. Umgekehrt kann die traurige Grundstimmung des Autors oder des Zuschauers durch das Schauspiel der Dummheit aufgeheitert werden. Diese Deutung des Mottos wird durch die Antonomasie »il Fastidito« bestätigt, mit der sich der Autor selbst als »verdrießlich«24 charakterisiert. Der Sinn dieses Wortes erhellt sich aus einer Stelle im Antiprologo der Komödie, in der der Autor des Stücks folgendermaßen beschrieben wird: L’autore, si voi lo conosceste, dirreste ch’have una fisionomia smarrita: par che sempre sii in contemplazione delle pene dell’inferno; par sii stato alla pressa come le barrette: un che ride sol per far comme fan gli altri; per il più lo vedrete fastidito, restio e bizarro: non si contenta di nulla, ritroso come un vecchio d’ottant’anni, fantastico com’un cane ch’ha ricevute mille spellicciate, pasciuto di cipolla.25

Der Autor Bruno wird hier als Eigenbrötler charakterisiert, der sich den sozialen Konventionen höchstens zum Schein anpasst (»che ride sol per far comme fan gli altri«), aber eigentlich ein eigenbrötlerischer, verdrießlicher Fantast ist, dem die Welt feindlich begegnet, der also lebt wie ein geprügelter Hund. Mit der Erwähnung des Hundes verweist die Stelle auf 22  Eine explizite Kritik am poetologischen Aristotelismus findet man im ersten Dialog der Eroici furori, vgl. Giordano Bruno, De gli eroici furori, in: ders., Opere italiane, Bd. 2, 485–753, hier 528. 23  Sergius Kodera, »Einleitung«, xiv, spricht von der »potentielle(n) Konvertibilität von der Tragödie in die Komödie«. 24  So die Übersetzung Koderas in: Bruno, Candelaio/Kerzenzieher, 1. 25  Bruno, Candelaio, 275.

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die philosophische Schule des Kynismus, die sich durch ihre Respektlosigkeit gegenüber Autoritäten und die Verachtung von Besitz und Wohl­stand auszeichnete und die in Brunos Denken einen konstanten Bezugspunkt bildet.26 Die kynische Grundhaltung, die eine illusionslose Betrachtung mensch­li­chen Handelns ermöglicht, ist per se nicht zum Lachen geeignet, doch mag die Komödie als eine Art Therapie dienen, die eine punktuelle Befreiung von der exis­tentiellen Traurigkeit des Schriftstellers ermöglicht. Aber worum geht es in dem Stück? IV. Handlung des Candelaio – eine kurze Synopse Candelaio hat die ungewöhnliche Eigenart, dass hier gleich drei komische Haupt­figuren präsentiert werden.27 Da ist zunächst der bereits erwähnte Bonifacio, dessen homo­sexuelle Neigung allen beteiligten Figuren bekannt ist, obwohl er, wegen der Ächtung der Homosexualität, aus Gründen der Geheimhaltung eine Ehe führt. Bonifacio verliebt sich unglücklich in die Prostituierte Vittoria. Der zweite komische Held ist Bartolomeo. Er hat sich der Alchemie verschrieben und kann nur an Eines, nämlich die Herstellung von Gold, denken. Dabei betreibt er aber die Alchemie nur auf eine sehr oberflächliche Weise ohne wahre Kenntnisse. An dritter Stelle folgt Mamfurio, ein pedantischer Humanist: Er unterrichtet Latein und schreibt hochgradig lächerliche Gedichte, außer­dem drückt er sich in einem unverständ­ lichen lateinisch-italienischen Kauder­ welsch aus, das komische Effekte produziert. Die drei Figuren  – der Verliebte, der Alchemist, der Pedant  – gehören zum gängigen Repertoire der Renaissancekomödie. Nuccio Ordine zufolge entsprechen sie außer­dem den drei Beispielen für lächerliche Charaktere aus Platons Philebos: Bonifacio täuscht sich hinsichtlich seines Äußeren, da er annimmt, seine Angebetete würde sich nur aufgrund seines Äußeren in ihn verlieben; Bartolomeo hält sich bereits für reich, obwohl das Gold,

26  Zur Rezeption des Kynismus bei Bruno vgl. Nikolaus Largier, »Rhetorik der Erfahrung. Kynische Kritik und theoretische Neugierde in der Frühen Neuzeit«, in: Klaus Krüger (Hg.), Curiositas. Welterfahrung und ästhetische Neugierde in Mittelalter und früher Neuzeit, Göttingen 2002, 111–145. 27  Die Übersteigerung und Multiplizierung traditioneller dramatischer Elemente – Verdreifachung der Handlung, der Prologe etc. – wird von der Forschung meist als Beleg für die Strukturanalogie mit Brunos Konzeption eines unendlich wandelbaren, unübersehbaren Kosmos angesehen. Vgl. neben den in Fußnote 4 genannten Werken auch Heather A. Sottong, »Excess and Antagonism in Giordano Bruno’s Il candelaio«, Carte italiane 2 (2011), 1–13.



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das er herstellen will, noch gar nicht existiert; Mamfurio wiederum bildet sich ein, ein tugendhafter Pädagoge zu sein, während er doch in Wirklichkeit nur ein lächerlicher Pedant ist.28 Die Auswahl dieser Charaktere enthält also einen deutli­chen Hinweis auf Platons Theorie des Komischen, die von den poetischen Komik­theorien der zweiten Hälfte des 16. Jahr­ hunderts häufig heran­gezogen wurde.29 Mit dieser expliziten Bezugnahme auf Platon schreibt sich Bruno in ein Komikverständnis ein, das die fehlende Urteilskraft der komischen Figuren ins Zentrum rückt, wobei die Komik erst durch den Kontrast mit den ihre Überlegenheit nutzenden scharfsinnigen Figuren entsteht, die über die Dummheit triumphieren und sie zu Fall bringen. Aller­dings findet gegenüber Platon auch eine bedeutende Verschiebung statt. Denn obwohl zutrifft, dass die drei Figuren ein von außen betrachtet lächerliches Selbst­bild haben, so verspottet Bruno doch vor allem die daraus sich ergebende Unfähigkeit, die Wirklichkeit adäquat zu beurteilen und auf dieser Basis erfolgreich zu handeln. Lächerlich sind die Figuren also nicht allein wegen ihrer falschen Meinung von sich, sondern weil sie die Situationen, die sich in der Handlung ergeben, falsch einschätzen und sich deshalb dauerhaft übertölpeln lassen. Die moralische Sichtweise Platons, bei der es um die Einsicht in das Wahre und um ein der Wahrheit angemessenes Verhalten geht, wird bei Bruno, wie in der Komödie des 16. Jahr­ hunderts überhaupt, aufgegeben. Der Akzent liegt dagegen auf dem Erlangen des eigenen Vorteils bzw. auf dessen komischem Scheitern. Brunos Komödie teilt diesbezüglich die gleichen Voraussetzungen wie die ersten volkssprachlichen Komödien des Jahrhunderts. Aber er verändert die dramatische Syntax durch die Verstrickung der drei komischen Paradigmen zu einem Handlungs­ganzen. Was die Intrige angeht, so verfügt jede der drei Figuren über ihren eigenen Handlungs­strang, der vielfältig mit den anderen Handlungssträngen verflochten wird. Wie häufig in den Komödien geht die Handlung nicht von den komischen Hauptfiguren, sondern von den Schlauen aus, die die Dummen zum Handeln verleiten. Bei diesen Schlauen handelt es sich um eine ganze Gruppe von marioli, also Spitzbuben, die beabsichtigen, aus ihren Opfern mög­lichst viel Gewinn zu ziehen. So wird Bartolomeo von einem Gauner aus­ genutzt, der sein Geld nimmt, um ein sehr teures alchemis­tisches Pulver zu besorgen. Mamfurio dagegen lässt sich in einer verwickelten Geschichte seines Geldes und seiner Kleider be­rauben. Die 28  Dies alles nach Ordine, »Introduzione«, 45–47; über die Bedeutung des Philebos in Candelaio vgl. auch 43–45. 29  Ordine, »Introduzione«. Hierzu auch ders., Teoria della novella e teoria del riso nel Cinquecento, Neapel 1996, 76–82.

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kompli­zierteste und wichtigste Intrige entspannt sich allerdings um Bonifacio, der mit der jungen und, glaubt man dem allgemeinen Urteil, wunderschönen Carubina verheiratet ist, aber sein Auge auf die Prostituierte Vittoria geworfen hat. Schon in dieser Situation liegt eine gewisse Komik: Vittoria wäre, wie jede Prostituierte, für Geld zu gewinnen; aber Bonifacio nimmt den Umweg über einen Zauberer namens Scaramuré, der eine Puppe herstellt, die Vittoria repräsentiert. Durch die Manipulation der Puppe soll Bonifacio sich Vittoria geneigt machen. Als Vittoria versteht, dass sie aus Bonifacio keinen Gewinn ziehen kann, verbündet sie sich mit der Kupplerin Lucia und dem mariolo Sanguino zu einer Intrige gegen Bonifacio. Der Plan ist folgender: Lucia lässt Bonifacio glauben, dass die magische Prozedur erfolgreich war und Vittoria sich nach ihm verzehrt; daher sei sie bereit, ihn in der Nacht zu empfangen. Allerdings soll Bonifacio sich verkleiden und in der Gestalt des Malers Gioan Bernardo Vittoria aufsuchen, um nicht von anderen Personen erkannt zu werden. Gleichzeitig wird Bonifacios Ehefrau Carubina ein­geweiht: Sie soll sich als Vittoria verkleiden und an deren Stelle Bonifacio im Dunkeln empfangen. Auf diese Weise soll der untreue Ehemann entlarvt und bestraft werden, wobei die Strafe sehr handfest ist, denn Carubina misshandelt ihren Gatten auf die übelste Art. Doch damit nicht genug: am Ende von Akt IV wird deutlich, dass die geplante Intrige noch einen weiteren Zweck hat. Nicht nur Bonifacio plant einen Seitensprung, sondern auch seine Gattin Carubina, die dem Maler zugetan ist. Der Höhepunkt des Stückes besteht in folgender Situation: Nachdem Bonifacio enttarnt und bestraft wurde, begibt er sich, immer noch als Gioan Bernardo verkleidet, mit Carubina auf den Weg nachhause, wo er von dem echten Gioan Bernardo über­rascht wird, der natürlich über das ganze Manöver Bescheid weiß, weil er an der Planung beteiligt war, obwohl offen bleibt, in welchem Ausmaß das der Fall ist.30 Der Maler unterstellt Bonifacio, er habe in der Verkleidung Straftaten begangen oder geplant und ruft die Polizei herbei, die Bonifacio verhaftet – wobei es sich hier wiederum nicht um echte Polizisten, sondern um eingeweihte marioli handelt, die Bonifacio in ein falsches Gefängnis bringen. Dadurch, dass Bonifacio nun aus dem Weg geräumt ist, ergibt sich für Carubina und Gioan Bernardo die ersehnte Gelegenheit zu einem Schäferstündchen. Am

30  Für Kodera (»Einleitung«, xix) ist Sanguino der hauptsächliche Strippenzieher der Bonifacio-Intrige. In der Tat geht wohl der Plan Bonifacio zu bestrafen von ihm aus. In Akt II zieht er sich mit Vittoria ins Haus zurück, um ihr seinen Bestrafungsplan zu erläutern, vgl. Bruno, Candelaio, 317. Andererseits ist Gioan Bernardo der hauptsächliche Nutznießer der Intrige, er ist bei seinem Auftauchen in Akt IV in alle Details so selbstverständlich eingeweiht, dass der Verdacht naheliegt, er müsse an der Entstehung des Plans zumindest maßgeblich beteiligt sein.



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Ende wird Bonifacio schließlich befreit und versöhnt sich mit seiner Frau und dem Maler, nicht ahnend, dass er hintergangen wurde, wodurch auch diese Versöhnung noch einen zutiefst ironischen Charakter besitzt. V. Die Thematisierung des Urteils und seine theoretischen Grundlagen Es ist deutlich, dass die Handlung und die Komik des Candelaio dadurch zustande kommen, dass die grundsätzliche Fehleinschätzung der Wirklichkeit durch die komischen Figuren von den richtig urteilenden Spitzbuben und Intriganten aus­genutzt wird. Der in dieser Konfiguration der Komödie zunächst nur implizierte Vorgang des Urteilens wird im Verlauf des Stücks mehrfach zum Thema und dadurch ausdrücklich reflektiert, was zu der Annahme berechtigt, dass die Reflexion auf Erkenntnisprozesse und Urteilspraktiken einen ganz wesentlichen Aspekt des Can­delaio darstellen. Das deutet sich schon im Titelwort an: Candelaio weist aufgrund seiner Ambi­guität sowohl in den Bereich der derben Komödientradition als auch in den der Philosophie.31 Candelaio, der Kerzenzieher, ist nämlich einerseits eine obs­ zö­ ne Metapher für einen passiven Homosexuellen und bezieht sich in diesem Fall auf die Figur des Bonifacio, der in der Komödie seine sexuelle Orientierung ändert und sich nun der Liebe zu einer Frau (Vittoria) verschreibt. Somit klingt in dem Wort die für die Komödie der Zeit typische Lust am obszönen Spaß und an der Verun­glimpfung an. Andererseits verweist das Wort direkt in Giordano Brunos Philosophie und hier in den Bereich der Erkenntnistheorie: candelaio ist als Berufs­ bezeichnung abgeleitet von candela, la­teinisch lampas. Das Wort verweist auf licht­metaphysische Vorstellungen, die besonders im von Bruno rezipierten Neuplatonis­mus verbreitet waren. Die Lichtmetaphysik ist von zentraler Bedeutung für Brunos Konzeption des Erkenntnisvorgangs, der unter anderem in De umbris idearum behandelt wird. Der enge Zusammenhang zwischen Candelaio und dieser lateinischen Schrift wird auch im Widmungsbrief des Candelaio an die Fee Morgana ausdrücklich erwähnt. Bruno schreibt darin an Morgana: eccovi la candela che vi vien porgiuta per questo Candelaio che da me si parte, la qual in questo paese ove mi trovo potrà chiarir alquanto certe Ombre dell’idee le quali in vero spaventano le bestie […].32

31  So auch Puliafito Bleuel, Comica pazzia, 12 f.; Kodera, »Einleitung«, xiif. weist auf die neuplatonischen Bezüge der Lichtmetapher hin. 32  Bruno, Candelaio, 262.

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Das Licht der Kerze verweist bei Bruno auf die Bedingung menschlicher Erkenntnis: Er denkt das Kerzenlicht nicht mehr platonisch als einen bloßen Abglanz des transzendenten Lichts, sondern als unvermeidbare und unhintergehbare Zugehörig­keit des Menschen in die Sphäre der Abbilder und Schatten. In De umbris wird diese Bedingtheit des Denkens so beschrieben: Wie kann es aber sein, dass der derjenige, dessen Sein nicht im eigentlichen Sinn wahr und dessen Wesen nicht Wahrheit ist, das Vermögen und die Wirklichkeit der Wahrheit hat? Es muss ihm genügen  – und das ist schon viel  – im Schatten des Guten und Wahren zu sitzen. Ich sage nicht im Schatten des natürlichen und ra­tio­ nalen Wahren und Guten – denn dann müsste man es als falsch und böse bezeichnen  – sondern des metaphysischen, ideellen und übersubstantiellen Wahren und Guten. So wird die Vernunftseele, gemäß ihrem Vermögen, des Wahren und Guten teilhaftig, und wenn sie auch nicht so viel Macht hat, dass sie dessen Bild ist, so ist sie doch nach dessen Bild, während der durchsichtige Kristall der Seele, der von dem Dunkel begrenzt wird, welches das Wesen des Körpers ausmacht, im menschlichen Geist eine Ahnung von dem Bild hat, sofern der Geist einen Antrieb hierzu verspürt. Aber in den inneren Sinnen und im Verstand, von denen wir begrenzt werden und durch welche wir Lebewesen sind – erfahren wir nur Schatten.33

In dieser Passage behauptet Bruno, dass jede menschliche Erkenntnis verschattet sei und eine direkte Erkenntnis des Wahren und Guten unmöglich bleibe. Sodann unterscheidet er zwischen zwei Stufen der Wirklichkeit ebenso wie zwischen zwei Ebenen der menschlichen Seele: Das Erkenntnisobjekt kann entweder metaphysisch und ideell oder natürlich sein, dementsprechend sind die Schatten entweder solche von geistigen oder solche von natürlichen Objekten. Das Erkennt­ nissubjekt verfügt über Intellekt auf der einen Seite und über Verstand und Sinne auf der anderen. Im Intellekt ist eine gewisse Spur des ursprünglichen Objekts noch erfahrbar, in den natürlichen Vermögen dagegen nur noch Schatten. Das bedeutet, dass das Zeugnis der Sinne und des Verstandes schwächer ist als das des Intellekts. Für eine möglichst wahrheitsgetreue Erkenntnis 33  Giordano Bruno, De umbris idearum, in: ders., Opere mnemotechniche, unter der Leitung v. Michele Ciliberto hg. Marco Matteoli et  al., Bd. I, Mailand 2004, 1–378, hier 42–44, meine Übersetzung. Lateinisches Original: Qui autem fieri potest, ut ipsum, cuius esse non est proprie verum et cuius essentia non est proprie veritas, efficaciam et actum habet veritatis? Sufficiens ergo est illi atque multum, ut sub umbra boni verique sedeat. Non inquam sub umbra veri bonique naturalis atque rationalis – hinc enim falsum diceretur atque malum –, sed metaphysici, idealis et supersubstantialis. Unde boni et veri pro sua facultate particeps efficitur animus, qui et si tantum non habeat ut eius imago sit, ad eius tamen est imaginem, dum ipsius animae diaphanum, corporis ipsius opacitate terminatum, experitur in hominis mente imaginis aliquid, quatenus ad eam appulsum habet; in sensibus autem internis et ratione, in quibus animaliter vivendo versamur, umbram ipsam.



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ist daher eine Kontrolle über die Vermögen notwendig, der Intellekt muss Herr im Haus bleiben und sich nicht von den übrigen Sinnen stören lassen. Bruno erläutert nämlich, dass es zwei Schatten gebe: den Schatten des Todes und den Schatten des Lichts. Der Schatten des Todes entsteht, »wenn die höheren Vermögen faul und müßig sind oder sich den unteren Vermögen unterordnen, wenn sich die Vernunftseele in den Grenzen des körperlichen und sinnlichen Lebens einschließt«; der Schatten des Lichts dagegen wird erweckt, »wenn die unteren Vermögen sich von den oberen dominieren lassen, die nach ewigen und höheren Gegenständen streben«.34 Was Bruno in De umbris zu begründen versucht und was in späteren Schriften genauer definiert wird, ist eine Gedächtniskunst, die nicht nur eine artifizielle Methode zum Einprägen von Sachverhalten sein will, sondern eine Methode zur Ordnung und Strukturierung der Wirklichkeit durch Zeichen.35 Da die Wirklichkeit aufgrund der unendlichen Fülle des sich in ihr verwirklichenden Einen unendlich ist, ist auch der Produktivität des Geistes, der Erfindung und Kombination von Zeichen keine Grenze gesetzt. Dagegen ist es der Mensch selbst, der sich begrenzt, wenn seine Vernunft, wie es oben heißt, müßig ist und er es zulässt, dass sie von den Sinnen oder dem Verstand dominiert wird. Dies ist die Spur, die von De umbris in den Candelaio führt. Dass es in diesem Stück um die Auswirkungen der geistigen Unordnung geht, die zur Verwirrung der Zeichen führt und die Unterscheidbarkeit von Sein und Schein gefährdet, wird im Proprologo ausgesprochen: Eccovi avanti gli occhii: ociosi principii, debili orditure, vani pensieri, frivole speranze, scoppiamenti di petto, scoverture di corde, falsi presuppositi, alienazion di mente, poetici furori, offuscamento di sensi, turbazion di fantasia, smarito peregrinaggio d’intelletto; fede sfrenate, cure insensate, studi incerti, somenze intempestive, e gloriose frutti di pazzia.36 34  Bruno, De umbris idearum, 46–48: […] umbra videlicet tenebrarum et – ut aiunt – ›mortis‹, quod est cum potentiae superiores emarcescunt et ociantur aut subserviunt inferioribus, quatenus animus circa vitam tantum corporalem versatur atque sensum; et umbra lucis, quod est cum potentiae inferiores superioribus adspirantibus in aeterna eminentioraque obiecta subiiciuntur […]. 35  Über Brunos Gedächtniskunst wurde sehr viel geschrieben. Grundlegend für das Verständnis von De umbris ist Rita Sturlese, »Per un’interpretazione del De umbris idearum di Giordano Bruno«, Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa. Classe di lettere e filosofia, Serie 3.22 (1992), 942–967. Anregend ist auch: Stephen Clucas, »Giordano Bruno’s De imaginum, signorum et idearum compositione. Art, Magic and Mnemotechnic«, Physics 38 (2001), 75–98; ders., »Simulacra et Signacula. Memory, Magic and Metaphysics in Brunian Mnemonics«, in: Hilary Gatti (Hg.), Giordano Bruno. Philosopher of the Renaissance, Aldershot 2002, 251–272. 36  Bruno, Candelaio, 277.

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Der Proprologo macht mit allem Nachdruck darauf aufmerksam, dass wir uns im Candelaio in einer gnoseo­logischen Dimension befinden. Was die drei komischen Figuren angeht, so sind sie die besten Beispiele für die Konsequenzen eines von Begierden geleiteten Denkens: falsche, müßige Prinzipien und Annahmen, Frivolität und Vergeb­ lichkeit der Wünsche, Verdunkelung der Sinne und Störung der Fantasie, Umher­schweifen des Intellekts und vernachlässigte Studien blockieren die Wahr­nehmung und das Denken und rufen als Wirkung das Chaos hervor. Über die Effekte eines solchen Urteils- bzw. Erkenntnisprozesses heißt es zusammenfassend am Ende des Proprologo: »In conclusione vedrete in tutto non esser cosa di sicuro: ma assai di negocio, difetto a bastanza, poco di bello, nulla di buono.«37 Nicht nur in den Prologen, sondern auch im Haupttext wird die Tätigkeit des Urteilens mehrfach thematisch, und das geschieht entweder implizit, zum Beispiel wenn zwei Mal in der Komödie minutiös ein Vorgang der Schlussfolgerung beschrieben wird, oder aber durch die direkte Nennung des Terminus giudizio. Für die minutiöse und komische Beschreibung eines Urteilsvorgangs gibt es im Text zwei Beispiele. Das erste kommt in Akt I vor, als Bonifacio auf Bartolomeo trifft und sich über dessen seltsam exaltiertes Verhalten wundert. Wegen der Länge zitiere ich diese Stelle abgekürzt: Veggo ben che sète percosso, vi veggio cangiato di colore, vi ho udito adesso lamentare, intendo il vostro male […]. Molti sono de giorni che ti ho visto andar penoso e astratto […]. »Diavolo« dicevo io, »a costui non è morto qualche propinquo, familiare e benefattore […], dumque è inamorato […]«. Adesso ti sento proferir queste dolce parole: conchiudo più fermamente che di quel tossicoso mèle abbi il stomaco ripieno.38

Bonifacio nimmt zuerst Sinneseindrücke auf: Er beobachtet Bartolomeo und speichert die Zeichen von dessen seltsamem Verhalten im Gedächtnis. Daraufhin bildet er Hypothesen (ist ein Verwandter, ein naher Mensch, ein Gönner gestorben?), die er durch Abgleich mit den zur Verfügung stehenden Informationen wieder verwirft. So gelangt er zum Schluss und urteilt, dass Bartolomeo verliebt sein muss. Darin täuscht er sich, denn Bartolomeos Gedanken kreisen nicht um eine Frau, sondern um das Gold, von dem er besessen ist. Jedoch entsteht die Komik an dieser Stelle nicht aufgrund des Fehlschlusses, denn dazu sind die Symptome des Bartolomeo zu sehr denen eines Verliebten ähnlich. Eher kann man sich über die Parodierung des in seine Einzelschritte zerlegten Urteilsvorgangs amüsie37  Ebd., 38  Ebd.,

281. 285.



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ren. Bruno scheint somit den Diskurs der Philosophie selbst als Quelle des Komischen zu nehmen, dabei aber nicht über die Philosophie spotten zu wollen, sondern über den eklatanten Widerspruch zwischen Bonifacios ausgeprägter Denkfaulheit und dem Aufwand, den er angesichts von Bartolomeo betreibt. Eine analoge Stelle findet sich am Ende der Komödie. Hier ist es Mamfurio, der aus seiner habituellen Stumpfheit erwacht und erkennt, dass er und seine Mitspieler sich die ganze Zeit über in einem Theater befunden haben, der also die Fiktionalität der Komödie durchschaut. Auch hier ist der Vorgang des Urteilens in seine Einzelschritte zerlegt, aber anders als Bonifacio drückt sich Mamfurio im pseudophilosophischen Jargon aus: Quo melius videam, per corroborar l’intuito e firmar l’acto della potenza visiva, acciò l’acie de la pupilla più efficacemente per la linea visuale emittendo il radio a l’obiecto visibile, venghi ad introdur la specie di quello nel senso interiore, idest mediante il senso comone collocarla nella cellula de la fantastica facultade, voglio applicarmi gli oculari al naso. Oh veggio di molti spectatori la corona.39

Die Sprache des Pedanten beschreibt unter Rückgriff auf gelehrtes und philoso­ phisches Vokabular (intuito, acto, potenza visiva, senso interiore etc.) den Vor­gang der visuellen Wahrnehmung, die Weitergabe des Bildes, die Formung eines Fantasie­bildes und die abschließende Folgerung: Wir sind ja im Theater! Mamfurio, der ansonsten jede Situation falsch beurteilt, sieht an dieser Stelle zum ersten Mal die Wahrheit und lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Differenz zwischen dem auf der Bühne stattfindenden Spiel und Schein und der nichtfiktionalen Wirklichkeit. Was Mamfurio angeht, so ist mit ihm noch ein weiterer Urteilsbegriff verbunden, der für die gesamte Frühe Neuzeit von großer Bedeutung war: der rhetorische. Die Komik der Figur Mamfurio besteht nämlich darin, dass er, der doch ein großer Nachahmer des Cicero sein will, sich sowohl in seinen Gedichten als auch in seiner Alltagssprache im aptum vergreift. Seine Rede ist sowohl in sich unstimmig, da sie die absonderlichsten Worthäufungen und Argumente enthält, als auch in Hinsicht auf den Anlass und das Publikum unpassend. Eine der Hauptaufgaben, mit welchen die antike Rhetorik das iudicium des Rhetors beauftragte, war aber gerade diejenige, auf das Angemessene zu achten: »Iudicium heißt die Fähigkeit, das, was Kunst und Sprache zur Verfügung stellen, zu beurteilen und zu unterscheiden hinsichtlich der Brauchbarkeit für das Kunstwerk.«40 Der Candelaio, 422 f. Ueding/Bernd Steinbrink, Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode, Stuttgart 2005, 223. 39  Bruno, 40  Gert

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Begriff der Brauchbarkeit meint die innere und äußere Angemessenheit einer Rede. Mamfurios Sprechweise enthält aber viele Belege dafür, wie er beides verfehlt. So liest er in einer Szene von Akt II ein Gedicht vor, mit dem er Ovids Beschreibung des kalidonischen Ebers imitieren möchte: O porco sporco, vil, vita disutile: ch’altro non hai che quel gruito fatuo col quale il cibo tu ti pensi acquirere […].41

Das hier das iudicium des Möchtegerndichters komplett versagt, muss wohl nicht im Einzelnen nachgewiesen werden, jedenfalls dann nicht, wenn man den humanis­ tischen Maßstab gekonnter imitatio klassischer Modelle zugrunde legt. Auch bei anderer Gelegenheit demonstriert Mamfurio sein Unvermögen, adäquat zu einem bestimmten Publikum zu sprechen: Als er von den marioli ausgeraubt wird, stößt er folgende Hilferufe aus: »Olà, Olà, cqua cqua, aggiuto, agiuto! […] A l’involatore, al surreptore, al surreptore, al fure, amputator di marsupii et incisor di crumene!«42 Da niemand versteht, was er sagen will, bleibt er ohne Hilfe. Sein fehlendes Urteilsvermögen verhindert, dass er in angemessener Weise zu seinen Zuhörern spricht, die mit den aus dem Lateinischen abgeleiteten Wörter involatore, surreptore, amputator di marsupii nichts anfangen können. VI. Der Maler Gioan Bernardo und die Beherrschung der Fortuna Die komischen Helden in Candelaio versagen vollständig wegen ihrer fehlgeleiteten Fantasie und ihrer mangelnden Urteilskraft und werden genau deshalb zu Opfern der Fortuna. Anders verhält es sich wiederum mit den zahlreichen Übeltätern, die dank ihrer Schlauheit in der Lage sind, das Unterste nach oben zu kehren und die Gesetzlosigkeit zum Gesetz zu erklären. Doch erst in der Gestalt des Malers Gioan Bernardo vollendet sich die Reflektion Brunos auf den Zusammenhang von Urteilskraft und Fortuna. Gioan Bernardo ist die Schlüsselfigur des Stücks: Zwar erscheint er in den ersten Akten eher am Rande, mit dem vierten und fünften Akt rückt er aber in eine beherr­schende Funktion. Gioan Bernardo ist als Gegenbild zu den Narren konzipiert, da er über ein besonders klares und untrügliches Urteil verfügt. Als zum Bei­spiel der Betrüger Cencio versucht, ihm weiszumachen, dass er es durch die Alchimie zu großen Reichtümern Candelaio, 309. 341.

41  Bruno, 42  Ebd.,



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bringen könne, fragt Gioan Bernardo ihn, wieso er dann in so ärmlichen Kleidern herumlaufe und entlarvt außerdem den Betrug, mit dem Cencio den leichtgläubigen Bartolomeo hinters Licht geführt hat. Gekränkt von so viel kühler und spöttischer Intelligenz entgegnet ihm Cencio: »Pensate voi solo di aver giudicio, e di aver apportato un grandissimo argomento«43. In diesem Zusammenhang ist auch die metaphorische Bedeutung der Tätigkeit des Malers bedeutsam: Gioan Bernardo stellt Porträts her  – so erfahren wir in Akt I, dass Bonifacio bereits ein von ihm verfertigtes Porträt besitzt und sich noch ein weiteres wünscht  –,44 doch vor allem tut er dies in einem übertragenen Sinn, da er den Figuren ihr Verhalten kritisch vor Augen führt und ihnen den Spiegel vorhält. Als Bonifacio wichtigtuerisch behauptet, dass ihm andere Dinge als die Späße des Malers durch den Kopf gehen, antwortet ihm Gioan Bernardo: È buon segno quando le cose vanno per la mente, guàrdati che la mente non vadi essa per le cose: per che potrebbe rimaner attaccata con qualch’ una di quelle, et il cervello la sera in darno l’aspettarebbe a cena; e poi bisognasse far come la matre di fameglia ch’andava cercando lo intellecto co la laterna.45

In Gioan Bernardos Worten klingen Aspekte aus De umbris und aus dem Proprologo an, denn er verspottet Bonifacio, weil dessen Intellekt den Dingen anhängt  – in diesem Fall der sinnlichen Liebe  – und nicht umgekehrt der Intellekt das Verhalten steuert, wie es eigentlich sein sollte. Weil Gioan Bernardo hier und auch an anderen Stellen offensichtlich Positionen wiedergibt, die sich in anderen Schriften des Autors finden, aber auch wegen des Namens, der als Anagramm von Giordano Bruno ge­ deutet werden kann, wird er im Allgemeinen als ein Sprachrohr des Autors verstanden.46 Das mag partiell der Fall sein, es ist aber trotzdem festzuhalten, dass in der Welt der Komödie auch Gioan Bernardo letztlich ein Täuscher und Illusionskünstler ist, freilich ein geschickter, dessen Handeln im Unterschied zu den drei komischen Figuren zum Erfolg führt: durch seine List gelangt er an sein Ziel, das Vergnügen einer mit Carubina verbrachten Liebesnacht. Er steht daher ganz in der Tradition der rinascimentalen Komödienfiguren vom Schlage eines Callimaco. Mit ihm hat Gioan Bernardo die Fähigkeit gemein, die Fortuna durch den Gebrauch des Ver43  Ebd., 44  Ebd.,

300. 295.

45  Ebd. 46  Ordine, »Introduzione«, 65; Puliafito Bleuel, Comica pazzia, 84; Christiane Schultz, »Ein Philosoph im Theater. Anmerkungen zu Brunos Komödie Il Candelaio«, in: Willi Hirdt (Hg.), Giordano Bruno. Tragik eines Unzeitgemäßen, Tübingen 1993, 107–136.

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standes sowie mit Hilfe der Gelegenheit zu besiegen.47 Gegenüber Ascanio erklärt er seinen Triumph so: Quantumque questo bene ch’ho posseduto questa sera, non mi sii stato concesso da dèi e la natura; benché mi sii stato negato dalla fortuna: il giudizio mi ha mostrata l’occasione; la diligenza me l’ha fatta apprendere pe’ capelli; e la perseveranza ritenirla. In tutti negocii la difficultà consiste che passi la testa: perché a quella facilmente il busto et il corpo tutto succede.48

Gioan Bernardo bringt hier noch einmal auf den Punkt, worin die erkenntnis­theore­tische Reflexion des Candelaio besteht und zieht zugleich das Fazit der rinasci­mentalen Komödie: Die nüchterne und klare Urteilskraft, verstanden als Fähigkeit, eine von Fortuna herbeigeführte Situation zu beherrschen, ist die Bedingung für den Erfolg des Handelns, wobei sich das Handeln auch im Fall Gioan Bernardos nicht an ethi­schen Normen orientiert, sondern am Eigeninteresse. Meist, und so auch hier, besteht dieses im Erlangen der Gunst einer (verheirateten) Frau. Die größte Gefahr liegt da­gegen in der Selbstverliebtheit, der Überschätzung der eigenen Fähigkeiten oder in der Täuschung des Verstandes durch die Leidenschaften und Fan­tasien. Die eigene Leidenschaft zu kontrollieren und die Fantasien der anderen zu be­einflussen, das ist die Kunst, die Gioan Bernardo beherrscht. An der Figur des Gioan Bernardo wird aber auch deutlich, worin der Unterschied zwischen der Philosophie und der Komödie besteht: Es sind erstens die vollkommen unterschiedlichen Ziele, welche die Komödienfigur und der Autor Giordano Bruno anstreben, denn dem Maler geht es nicht um Erkenntnis, sondern um die Befriedigung seiner erotischen Leidenschaft. Auch kann man nicht sagen, dass Gioan Bernardo philosophiert, er benutzt lediglich seinen Verstand. Zweitens weisen die zahlreichen Anspielungen auf die Philosophie in Candelaio darauf hin, dass wir es mit einer analogen Reflexion über Urteil, Erkenntnis, Täuschung und Wahn zu tun haben, die von der Komödie mit anderen Mitteln und zu anderen Zwecken betrieben wird als in Brunos philosophischen Schriften, in denen er im Übrigen sehr häufig auf theatralische Mittel zurückgreift. Bruno 47  Zur impliziten Auseinandersetzung Brunos mit Machiavelli siehe Sergius Kodera, »Einführung«, lxxxviii-ci; ders., »The (In)discreet Presence of Machiavelli in Giordano Bruno’s Candelaio«, in: Henning Hufnagel/Anne Eusterschulte (Hgg.), Turning Traditions Upside Down. Rethinking Giordano Bruno’s Enlightenment, Budapest/New York 2013, 159–179. Zu Bruno und Machiavelli ist außerdem lesenswert: Miguel Angel Granada, »Maquiavelo y Giordano Bruno. Religión civil y crítica del Cristianismo«, in: ders., Giordano Bruno, Universo infinito, unión con Dios, perfección del hombre, Barcelona 2002, 169–196. 48  Bruno, Candelaio, 408.



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baut also in seine philosophischen Werke literarische Elemente ein und in seine Komödie philosophische, ohne dass deshalb die Grenzen zwischen Literatur und Philosophie vollständig verwischt werden. Die philosophischen Anspielungen in Candelaio haben drittens die Funktion, die Komik der Erkenntnis zu modellieren und sie erzeugen komische Effekte durch den Kontrast mit der trivialen Wirklichkeit. Dass in der Komödie nicht die Laster, sondern die Dummheit bestraft wird, bedeutet noch keine Sanktionierung des unmoralischen Verhaltens durch die Autoren. Es ist eher wahrscheinlich, dass die soziale Funktion der Stücke darin bestand, den Zu­schauerinnen und Zuschauern einen auf die Fiktion begrenzten Freiraum zur Verfü­gung zu stellen, der eine Entlastung von den strengen Verhaltensnormen der dama­ligen Zeit erlaubte. Andererseits belegen sie aber auch, dass die intellektuelle Elite des 16. Jahrhunderts, zu der die Komödienschreiber und ihr Publikum oft gehörten, eine freie und flexibel agierende Urteilskraft präferierten, was darauf hindeutet, dass sie sich der hohen Kontingenz moralischer Normen und sozialer Wertvorstellungen bereits bewusst waren. Diese Kontingenz und ihre Auswirkungen zu reflektieren, ist die Leistung der Gattung Komödie.

Vom Adamsspiel zur Adamsoper Zu den Übergängen zwischen mittelalterlichem geistlichen Spiel und frühem deutschen Musiktheater am Beispiel der Hamburger Oper Von Christian Seebald Abstract The thesis of the birth of opera as a result of late humanistic reception of anti­ quity at the turn of the 17th century has been a commonplace idea within the discussion of dramatic genres. Yet the dominant narrative of change or renewal tends to obscure phenomena of continuity and anachronism which are nonetheless relevant for the tradition of premodern theatre. Those residues of an outlasting dramatic tradition are the focus of this paper which is especially concerned with the transitions between the broad stream of medieval liturgical drama and early modern opera. It is to be shown how close the ties in particular are between the new genre of music theatre and the older theatrical models and their continuities. At the same time the specific achievements and innovations of the younger operatic genre can be accentuated even more distinctly. This paper will concentrate on a paradigmatic case from the early times of German music theatre, the Hamburg inaugural opera Adam from 1678, to demonstrate the characteristic links as well as transformations between the traditions of the medieval liturgical and early modern protestant drama and the operatic genre of the 17th century.

I. Von jeher gehört die These von der Geburt der Oper im Zuge späthumanistischer Antike-Rezeption an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert zu den Gemeinplätzen einer auf die dramatischen Genres bezogenen Gattungsdiskussion. Der Topos vom »produktive[n] Mißverständnis«,1 das eben nicht zur Wiederbelebung der griechischen Tragödie, wie sie sich die Kunsttheoretiker und Gelehrten der Florentiner Camerata erhofft hatten, 1  Manfred Fuhrmann, »Antike (Rezeption)«, in: Ulfert Ricklefs (Hg.), Das Fischer Lexikon Literatur, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1996, Bd. 1, 60–79, hier 72.

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sondern zu etwas ganz Anderem geführt hat, reklamiert indes nicht nur einen folgenreichen Neuanfang für das Musiktheater, sondern propagiert im Zusammenhang eines übergreifenden kulturgeschichtlichen Epochendiskurses ein weiteres Mal die Grenze, die das Zeitalter der Renaissance von der ihm vorausliegenden Zwischenzeit trennt. Das die Perspektive der Forschung bislang dominierende große Narrativ des Umbruchs oder Neubeginns muss freilich die Kontinuitäten und Anachronismen, die Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen verdecken, die gleichwohl auf den verschiedenen kulturellen Feldern und diskursiven Ebenen und gerade auch für das Theater der Vormoderne zu konstatieren sind. Diesen Residuen einer die Zeiten überdauernden dramatischen Tradition nachzugehen, ist das Ziel meiner folgenden Überlegungen, die sich speziell den Übergängen zwischen dem breiten Strom des mittelalterlichen geistlichen Spiels und der Kunstform der Oper widmen werden. Es geht darum aufzuzeigen, wie sehr das neue musiktheatralische Genre im Einzelfall dann doch auf ältere Modelle und deren Kontinuitäten bezogen bleibt. Zugleich gewinnen die ureigenen Leistungen und Innovationen der jüngeren Opernform vor diesem Hintergrund ein umso schärferes Profil, insofern sich deren spezifische Umakzentuierungen auf der Grundlage der Verbindungslinien zu den älteren Darstellungsformen noch einmal anders fassen lassen. Ich greife einen paradigmatischen Fall aus des Anfängen der Hamburger Oper heraus, um daran die Rückbezüge des deutschsprachigen Musiktheaters des 17. Jahrhunderts auf die Tradition des geistlichen Spiels des Mittelalters wie auch deren Verwandlung zu explizieren. Als das neu erbaute Hamburger Opernhaus am Gänsemarkt im Januar des Jahres 1678 seine Türen für den Spielbetrieb öffnete, war dies der Beginn der ersten stehenden Oper der ökonomisch wie kulturell prosperierenden Reichs- und Hansestadt an der Elbe. Über 50 Jahre, bis 1738, sollten hier in annähernd kontinuierlicher Folge mehr als 300 verschiedene, meist deutschsprachige Bühnenstücke aufgeführt und damit ein bedeutendes Kapitel in der Geschichte nicht nur des deutschen, sondern zugleich auch des europäischen Musiktheaters geschrieben werden. Das Repertoire der Hamburger Oper prägten in den Jahren des Anfangs neben Stoffen aus der antiken Mythologie und Geschichte, wie sie generell für die Frühgeschichte des Genres charakteristisch sind, insbesondere biblische Sujets. Den Auftakt machte dabei ein Singe-Spiel mit dem Titel Der erschaffene/ gefallene und auffgerichtete Mensch, eine Adam-und-Eva-Oper, deren Libretto verfasst wurde von Christian Richter, dem Autor von insgesamt drei der frühesten Hamburger Operntexte, während die Komposition in den Händen des vormals Gottorfer Hofkapellmeisters und Schütz-Schülers Johann Theile lag, der 1675 nach Hamburg übergesiedelt war und mit



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zum Kreis der Initiatoren des Opernbetriebs gehörte. Mit der szenischen Präsentation der Erzählung vom Sündenfall und der Vertreibung des ersten Menschenpaars aus dem Paradies steht die Adamsoper an der Spitze einer Serie von biblischen Opern, die in der ersten Dekade der Spielzeit des Hauses am Gänsemarkt gegeben wurden. Ihr folgen bald die ebenfalls alttestamentlichen Stücke Michal und David (1679), Die Macchabäische Mutter (1679) sowie Esther (1680), bevor im Jahre 1681 auch das Neue Testament mit der Geburth Christi vertreten ist, die ihrerseits wiederum in typologischer Perspektive auf das Erstlingswerk und seine Darstellung des Sujets von Adam und Eva zurückweist. Nach einem längeren, bisweilen durch politisch motivierte Unterbrechungen des Opernbetriebs bedingten Zeitabstand erscheint 1689 schließlich mit Cain und Abel die unmittelbare Fortsetzung der Geschichte vom Erschaffenen, gefallenen und auffgerichteten Menschen. Geistliche, aber nicht im engeren Sinne biblische Sujets repräsentieren im selben Zeitraum weiterhin die beiden Singspiele Die Heilige Eugenia und Polyeuct aus den Jahren 1688 und 1689, ersteres nach italienischer Vorlage, letzteres nach der Tragödie Pierre Corneilles.2 Seit jeher ist die Adamsoper in Verbindung gebracht worden mit dem sog. Hamburger Theologenstreit, der sich am Neubau des Opernhauses und den Initiativen zur Installation des ständigen Opernbetriebes entzündete.3 So kam es in den Anfängen und ersten Jahrzehnten der Hamburger Oper immer wieder zu mitunter heftig geführten Kontroversen zwischen den Befürwortern des neuen Genres und Teilen der städtischen, insbesondere pietistisch gesinnten Geistlichkeit, die den musiktheatralischen Aufführungen überaus skeptisch oder gar feindlich gegenüberstanden. Als originäre Programmschrift und Fanal der Operngegner gilt allgemein Anton Reisers, des Hauptpastors an St. Jacobi, Theatromania von 1681, die »ein Florilegium von Zitaten gegen das Theater« insbesondere aus der lateinischen und griechischen Patristik bietet und zwischen den Exzerpten

2  Siehe dazu die Spielplanübersicht bei Hans Joachim Marx/Dorothea Schröder, Die Hamburger Gänsemarkt-Oper. Katalog der Textbücher (1678–1748), Laaber 1995, 469 f. (Anhang 5). 3  Hierzu und zum Folgenden im Überblick Hans Joachim Marx, »Geschichte der Hamburger Barockoper. Ein Forschungsbericht«, in: Constantin Floros/Hans Jo­ achim Marx/Peter Petersen (Hgg.), Studien zur Barockoper (Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 3), Hamburg 1978, 7–34; neuerdings in diskurshistorischer Perspektive Bernhard Jahn, Die Sinne und die Oper. Sinnlichkeit und das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des nord- und mitteldeutschen Raumes (1680–1740) (Theatron 45), Tübingen 2005, 126–169.

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»behutsame Applikationen auf die Hamburger Situation« einstreut.4 Auf Reisers Theatromania antwortete der Sänger und Schauspieler Christoph Rauch 1682 mit einer Gegendarstellung unter dem Titel Theatrophania, was wiederum Reiser zu einer zweiten Stellungnahme provozierte. Der Streit zog sich speziell im Kreis des Hamburger Klerus zwischen den Kritikern und Apologeten der Oper, zwischen Pietisten und orthodoxen Lutheranern, über Jahre weiter hin und führte schließlich dazu, dass man auch Gutachten auswärtiger Instanzen, etwa der theologischen und juristischen Fakultäten der Universitäten Rostock und Wittenberg, zur Legitimität und ethischen Valenz der Oper einholte. Im Vorfeld der Eröffnung der Oper zu Beginn des Jahres 1678 intervenierte vor allem der kürzlich von den Dänen vertriebene und nun in der Hansestadt residierende Herzog Christian Albrecht von Holstein-Gottorf, der als einer der Initiatoren und Mäzene der Gänsemarktbühne gilt, beim Hamburger Rat, um gegen die Oper lancierte öffentliche Predigten und Polemiken des Klerus unterbinden zu lassen. In diesem Zusammenhang mag denn die Adamsoper als glücklicher Schachzug seitens der Inauguratoren und Apologeten des Operninstituts um den ersten Operndirektor und späteren Senator Gerhard Schott erscheinen, insofern hier »ein erstes Beispiel einer gottwohlgefälligen Oper zur Diskussion«5 gestellt werden sollte. Wie Werner Braun vermutet hat, könnte die Adamsoper nicht als offizielles Eröffnungsstück am 2.  Januar 1678 (nach dem Julianischen Kalender) zur Aufführung gelangt, sondern bereits einige Tage früher, vielleicht am 27. oder 28.  Dezember des Vorjahres, im Rahmen einer Voraus­ eröffnung vor ausgewähltem Publikum im neuen Haus gespielt worden sein  – um den Geistlichen die Einfhrung der Operen zu recommendiren, wie es in einem zeitgenössischen Bericht heißt.6 Möglicherweise, so Werner Braun, habe Gerhard Schott als Hausherr gar »für die potentiellen Gegner, Dulder und Beförderer ›Freikarten‹ ausgegeben«.7 Mein Beitrag zielt im Folgenden darauf, die hier berührte Funktionalisierung der ersten Hamburger Oper und ihren unter der Perspektive der 4  Jahn, Die Sinne und die Oper, 129; vgl. Werner Braun, Vom Remter zum Gänse­ markt: aus der Frühgeschichte der alten Hamburger Oper (1677–1697), Saarbrücken 1987, 90 f. 5  Silke Leopold, Die Oper im 17. Jahrhundert (Handbuch der musikalischen Gattungen 11), Laaber 2004, 279. 6  Auli Apronii vermehrte Reise-Beschreibung, von Franco Porto Der Chur-Brandenburg Durch Teutschland/ Holland und Braband/ England/ Franckreich […], hg. Adam Ebert, o. O.,  Franco Porto 1724, 31; vgl. Braun, Vom Remter zum Gänsemarkt, 17. 7  Braun, Vom Rentner zum Gemüsemarkt, 37.



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Sujetwahl besonderen Status, der freilich auch und gerade im Kontext der frühen Serie der biblischen Opern zu sehen ist und die Grenzen des Genres auf andere Gattungskonzepte hin ausweitet, genauer zu eruieren. Dass wohl nicht nur apologetische Tendenzen mit diesem Stück in Verbindung zu bringen sind, mag an dieser Stelle zumindest angedeutet sein. In den Blick nehmen möchte ich dann vornehmlich die Bezüge zwischen der Hamburger Adamsoper mit ihrer spezifischen Darstellung der biblischen Schöpfungsgeschichte und der Tradition des geistlichen Spiels sowie die möglichen Vermittlungswege zwischen der mittelalterlichen heimischen Spiel- und Theaterkultur und der frühneuzeitlichen importierten Kunstform der Oper. Dass es hier gleichermaßen um Verbindendes wie Trennendes, Kontinuitäten wie Neueinsätze bzw. Transformationen geht, wird deutlich werden. Ich beginne zunächst mit einer knappen Skizze zu Inhalt und Dramaturgie des Hamburger Eröffnungsstückes.

II. Am Anfang der fünfaktigen Handlung steht der Höllensturz Luzifers: Ein in der Lufft schwebender Engel stößt den Hoffärtigen samt seinem Gefolge in den Abgrund. Von hier an nimmt das heilsgeschichtliche ›Drama‹ seinen Lauf: Jehovah schafft, als Höhe- und Endpunkt vorausgegangener Schöpfungsakte, den Menschen und beauftragt ihn mit der Pflege des Paradiesgartens. Er beschließt weiterhin die Erschaffung Evas aus Adams Rippe, um dem Einsamen eine Gefährtin an die Seite zu geben. Gottes Gebot zur Nutzung des Gartens Eden folgt das Verbot des e i n e n Baumes der Erkenntnis und seiner Früchte. Mit der Zweisamkeit des seligen Menschenpaares inmitten der Idylle des Paradiesgartens schließt der erste Akt. Der zweite Aufzug spielt allein in der Hölle und führt Luzifers und seiner Gesellen Rachepläne als neiderfüllte Reaktion auf die eigene Vertreibung aus dem Himmel und die Erhöhung des Menschen vor Augen. In zentraler Positionierung zeigt der dritte Akt das Resultat der teuflischen Ränke: die Verführung Evas, die den Apfel Adam weiterreicht, durch den listenreichen Teufelsgefährten Sodi sowie das Triumphgeschrei des Chorus Diabolorum angesichts des  – aus ihrer Sicht  – unmöglich wiedergutzumachenden Falls der Menschen. Der vierte Akt setzt sodann ein mit dem ›Streit der Töchter Gottes‹, konkret von Justitia und Misericordia, um die gerechte Bestrafung oder barmherzige Schonung der sündhaft gewordenen Menschen (›Paradiesprozess‹), und deutet zuletzt Gottes unermesslichen Ratschluss an, den einen zu finden, der sowohl Gottes Gerechtigkeit wie Barmherzigkeit zufriedenstellen, Jehovas Recht erfüllen wie das schuldige Menschengeschlecht erlösen könne. Im fünften Akt schließlich fällt Jehova das Urteil über Adam und Eva und die Schlange. Die Menschen werden aus dem Paradies vertrieben. Ihrem mühseligen und beschwerlichen Erdendasein wird jedoch, mit der Erscheinung des Salvator, die Verheißung künftiger Erlösung und Tilgung der Sünde entgegengestellt. Mit dem Lob der göttlichen Huld

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und Ehre durch Justitia und Misericordia, Adam und Eva sowie den Chorus Angelorum mündet die Handlung in den konventionellen Lieto fine.8

Der eigentlichen Opernhandlung setzen die überlieferten Versionen des Librettos9 ein als Vorrede bezeichnetes Vorspiel voran, das »in einer gleichsam natürlichen Theologie die Entstehung der Welt bzw. die Ordnung des ›unförmlichen Chaos‹ vorstellt«10 und die dabei hervorgebrachten Vier Elemente im Streit zeigt, wem unter ihnen der Vorrang gebühre mit Blick auf Macht und Nutz[en].11 Sie wenden sich alsbald den von ihnen am meisten wert gehaltenen Cimbrischen Auen und der edle[n] Stadt zu, der zu Ehren das nachfolgende Singe-Spiel dargeboten wird: Ihr Edlen dieser Stadt! | Die sie an stat der Sttzen hat/  | So lasset denn die hohe Gunst | Ermunteren die angestimm’te Kunst; | Damit sie sich zu euren Ehren | Lß’t knfftig ferner hren!12 Der Reverenz an die Stadt Hamburg und ihre Autoritäten sowie dem Appell zur Protektion der angestimm’te[n] Kunst geht einzig in der wohl ältesten Version des gedruckten Librettos ein Prolog voraus, der Omnipotentia Oder Majestas im monologischen Vollzug der verschiedenen Schöpfungsakte vor der Erschaffung des Menschen zeigt und mithin die unmittelbare Vorgeschichte der Opernhandlung berührt.13 Nach der Trennung von Licht und Finsternis, dem ersten Differenzierungsakt gegenüber einer zeitenthobenen Ewigkeit, erfolgt der Engelssturz  – der dann breiter auch zu Beginn des ersten Aktes vorgeführt werden wird  –, bevor sich die Schöpfungswerke des zweiten bis sechsten Tages anschließen.14 Das genaue Verhältnis der beiden Vorspiele zueinander bleibt freilich einigermaßen unklar. So könnte der Prolog mit seiner »Verherrlichung der Allmacht Gottes«15 eher an die Hamburger Geistlichkeit gerichtet gewesen sein, 8  Zitate nach dem Librettodruck Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, MS 639/3:1, Nr. 1 (bei Braun mit der Sigle: Da). 9  Zur Überlieferungs- und Textgeschichte eingehend Braun, Vom Remter zum Gänsemarkt, 19–26. 10  Ebd., 21. 11  MS 639/3:1, Nr. 1, Bl. A2v–[A4]r. 12  MS 639/3:1, Nr. 1, Bl. A3v–[A4]r. 13  Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, MS 640/3:1, Nr. 1 (bei Braun mit der Sigle: A), der Prolog ohne Blattzählung; Faksimiledruck in: Reinhart Meyer (Hg.), Die Hamburger Oper. Eine Sammlung von Texten der Hamburger Oper aus der Zeit 1678–1730, 3 Bde., München 1980, Bd. 1, 3–58, der Prolog hier 7–11. 14  Werner Braun zufolge könnte der Prolog »bei noch geschlossenem Vorhang und von unsichtbaren Sängern dargeboten worden sein«, da »ein Hinweis auf eine szenische Ausstattung fehlt«. Der Engelssturz »wäre dann lediglich akustisch verdeutlicht zu denken« (Braun, Vom Remter zum Gänsemarkt, 43). 15  Ebd.



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während sich die sog. Vorrede mit dem Preis Hamburgs ausdrücklich an die weltliche Obrigkeit der Stadt wendete. Ob daraus resultiert, dass der Prolog also aus konkretem Anlass im Rahmen des Opernstreits singulär die sonst häufiger überlieferte Vorrede ersetzte oder aber beide nacheinander gespielt wurden (was jedenfalls hinsichtlich der inhaltlich annähernd chronologischen Folge von Prolog und Vorrede und der differenten Perspektivierung durchaus plausibel scheint), ist nicht mit letzter Sicherheit zu entscheiden. Unverkennbar sind die Kontinuitätslinien zwischen der Adamsoper und dem geistlichen Spiel des Mittelalters, das Schöpfung und Sündenfall im Rahmen unterschiedlicher Spieltypen und dramatischer Konstellationen thematisiert. Eher selten sind zwar explizite Paradiesspiele nach dem Muster der ersten Hamburger Oper, wie sie in der Volkssprache mit dem altfranzösischen Adamsspiel, einem der ältesten volkssprachigen Dramentexte überhaupt, oder, im deutschsprachigen Bereich, mit den mittelniederdeutschen Kasseler Paradiesspiel-Fragmenten (2. Hälfte 14. Jh.) und Arnold Immessens Spiel von Sündenfall und Erlösung (um 1480) bezeugt sind.16 Verbreitet sind aber entsprechende Einzelszenen vom gefallenen Menschen im Kontext umfassenderer geistlicher Dramentypen, von Passions- oder Fronleichnamsspielen, die den Sündenfall und den mitunter vorausgehenden Engelssturz meist als Beginn weitgespannter heilsgeschichtlicher Darstellungen etablieren. Typische Szenen oder Szenenkomplexe, die auch die Hamburger Adamsoper (in dieser Reihenfolge) aufweist, sind: der Sturz Luzifers, die Schöpfung (Erschaffung des Menschen), weiterhin Verführung und Sündenfall samt rahmender Teufelsszenen (Klage Luzifers, Rat der Teufel, Triumph der Hölle), Bestrafung der Schuldigen und Vertreibung aus dem Paradies sowie schließlich das mit der Verheißung der Versöhnungs- und Erlösungstat Christi verschränkte allegorische Motiv vom Streit der Töchter Gottes,17 das im Zuge der Auslegung von Ps 84,11 f. und speziell im Anschluss an eine Predigt Bernhards von Clairvaux (zu Mariä Verkündigung) ab Mitte des 12. Jahrhunderts für den christlich16  Vgl. Hansjürgen Linke, »Drama und Theater«, in: Ingeborg Glier (Hg.), Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. 1250–1370. Zweiter Teil: Reimpaargedichte, Drama, Prosa (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart III/2), München 1987, 153–233, hier 219; ders., »Kasseler (mittelniederdeutsche) Paradiesspiel-Fragmente«, 2VL 11 (2004), Sp. 830 f. Offenbar in einem umfassenderen Zusammenhang präsentiert den Sündenfall ein nicht mehr erhaltenes Regensburger Spiel vom Jahr 1194. Ob auch die Kasseler Paradiesspiel-Fragmente nur Teile eines umfänglicheren Spiels überliefern, ist offen (Linke, »Drama und Theater«, 219). 17  Vgl. Waltraud Timmermann, »Streit der vier Töchter Gottes«, 2VL  9 (1995), Sp. 396–402.

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theologischen Diskurs virulent wird und dann auch Eingang in die spätmittelalterliche Spieltradition findet (Paradiesprozess). Ich verdeutliche die Traditionslinien, aber auch Verschiebungen exemplarisch anhand eines Vergleichs mit dem altfranzösischen Adamsspiel, dessen Kern die Darstellung des Sündenfalls bildet. Hieran reihen sich der Brudermord Kains an Abel und eine Prophetenprozession an, in der »Geburt, Leiden und Tod Jesu vorhergesagt werden«.18 Rainer Warning hat die Ambivalenzen und Transgressionen herausgearbeitet, die das altfranzösische Spiel in seinem Verhältnis zur liturgischen Feier auszeichnen, insofern es einerseits an liturgische Praktiken anknüpft, andererseits aber gerade etwas aufnimmt, »was die liturgische Vorlage eigens ausgegrenzt hatte«.19 Denn während die liturgischen Sexagesima-Responsorien des Liber Responsalis Gregors des Großen, die das Gerüst des volkssprachigen Spiels liefern, die Darstellung des Sündenfalls bewusst aussparen, integriert das Adamsspiel ebenjene Verführung Evas durch die Schlange auf der Basis des biblischen Berichts und baut sie gar weiter aus. Die hier ersichtlichen Tendenzen hat Warning im Sinne einer Remythisierung gedeutet: Indem das Spiel die eigentliche Verführung im Kontext einer mit kunstvollen Spannungs- und Steigerungseffekten kalkulierenden umfänglichen Teufelsszene ausspiele, baue es »in der Gestalt Satans einen dramatischdualistischen Widerpart zu der göttlichen Figura der Eingangs- und Schlußszenen auf«.20 Dieser für das Spiel charakteristische dramatische Widerpart Gottes mache »Anschaubarkeit von Heilsgeschichte als eines Heilsdramas«21 erst möglich, und in dieser Bildhaftigkeit tendiere der »dargestellte dramatische Dualismus« wirkungsästhetisch zum »substantiellen Dualismus«.22 Insbesondere im Motiv der List erkennt Warning einen genuin mythischen Zug, den das volkssprachige Spiel im Sinne dramatischer Wirksamkeit zu nutzen weiß, und dies umso mehr, wenn die List des Bösen sich als »Heilstat der antidemiurgischen Macht« geriert, »die den Menschen aus der Weltgefangenschaft, in der ihn der Schöpfergott 18  Tobias Leuker, Vom ›Adamsspiel‹ bis Jodelle. Theologische und humanistische Gelehrsamkeit im frühen französischen Theater (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 78), Köln et al. 2016, 23. Hier grundsätzlich auch noch einmal zur Frage der Werkgestalt, d. h. der Zusammengehörigkeit der genannten drei Teile und ihrer Abgrenzung von einer noch folgenden Endzeitvision (Dit des Quinze Signes). 19  Rainer Warning, Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 35), München 1974, 123. 20  Ebd., 124. 21  Ebd., 127. 22  Ebd., 129.



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hält, befreit«, und mithin eine »dogmatisch bekämpfte Position des Mythos« anzitiert.23 Schließlich aktualisiert das französische Spiel in einer Warnung Adams an Eva24 auch das allein in den Apokryphen überlieferte »Mythologem vom Engelssturz als dramatischen Gegenpol« zum Sündenfall. Dadurch wird, so Rainer Warning, »eine Verschiebung im Strukturgefüge der Geschichte« erreicht, insofern »eine heilsgeschichtlich ›kardinale Funktion‹ in ein Oppositionsschema gebracht und damit der ›Erzählfolge‹ des Mythos integriert« wird: »Gott verstieß Luzifer und schuf als Ersatz den Menschen – Luzifer aber rächte sich, indem er Adam und Eva verführte.«25 Doch Heilsgeschichte erscheint nicht nur in »ihrem Anfang«, sondern »auch in ihrem Fortgang mediatisiert«. Denn die listige Rache des Gestürzten provoziert wiederum eine »göttliche Gegenrache« im Signum der List.26 Im Adamsspiel wird dies im Zusammenhang der göttlichen Verfluchung der Schlange in den Bahnen der sog. Rekapitulationstheorie angekündigt, wenn von der Wurzel die Rede ist, die aus dem Leib der betrogenen Frau emporwachsen wird, um die Macht der Schlange zunichtezumachen.27 Die Hamburger Adamsoper nun folgt in ihrer übergreifenden Struktur ganz der von Warning bereits für das Adamsspiel beschriebenen mythischen Erzählfolge mit ihren Akzentuierungen eines dramatischen Dualismus.28 Am Anfang steht der  – hier nun auch zumindest ansatzweise sze23  Ebd.,

132. vost traïr ja son seignor | E soi poser al des halzor. | Tel paltonier qui ço ad fait | Ne voil que vers vus ait nul retrait (»Er wollte einst seinen Herrn verraten und sich an die Ehrentafel setzen. Ich möchte nicht, daß ein Schurke, der das getan hat, mit dir Umgang pflegt!«): Das altfranzösische Adamsspiel, übers. u. eingel. Uda Ebel, München 1968, v. 289–292. 25  Warning, Funktion und Struktur, 133. 26  Ebd. 27  Femme te portera haïne: | Oncore te iert male veisine. | Tu son talon aguaiteras, | Cele te sachera le ras. | Ta teste ferra de itel mail | Qui te ferra mult grant travail. | Encore en prendra bien conrei | Cum porra vengier de toi. | Mal acointas tu sun traïn; | Ele te fra le chief enclin. | Oncore raïz de lui istra | Qui tos tes vertuz confundra (»Das Weib wird dich mit ihrem Haß verfolgen: sie wird dir eine böse Nachbarin sein. Du wirst sie in die Ferse stechen, und sie wird dir den Kopf zertreten. Deinen Kopf wird sie mit einem Hammer schlagen, der dir große Pein verursachen wird. Und sie wird weitere Anstalten treffen, sich an dir zu rächen. Zu deinem Unglück hast du dich mit ihr eingelassen; sie wird dir den Kopf zertreten. Aus ihr wird außerdem eine Wurzel hervorgehen, die all deine Kräfte vernichten wird«: Das altfranzösische Adamsspiel, hg. Ebel, v. 479–490). 28  Ich folge darin Walter Haug, dass die von Warning für das mittelalterliche geistliche Spiel reklamierte »Remythisierung […] zunächst einmal im Blick auf die dramatische Umsetzung zu sehen« ist. »Sie erlaubt es, ja, sie erzwingt es, daß das 24  Il

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nisch ausgespielte – Höllensturz Luzifers, der den eigentlichen Anfang der Heilsgeschichte als einen abgeleiteten erscheinen lässt und das dramatische Geschehen allererst in Gang setzt. Der im zentralen dritten Aufzug breit entfalteten Verführungsszene geht im zweiten Aufzug noch eine Ratsszene des auf Rache sinnenden Luzifer und seiner Gehilfen voraus, die zum listigen Plan des schlauen Teufelsdieners Sodi führt, dem Eva und Adam dann im dritten Akt zum Opfer fallen werden. Während der vierte Akt  – anders als das Adamsspiel – mit dem Motiv vom Streit der Töchter Gottes den Paradiesprozess aufnimmt und den Weg zum Satisfaktionswerk Christi andeutet, das sowohl den Ansprüchen der göttlichen Gerechtigkeit Genüge tut als auch den Sündern Versöhnung erwirkt, zeigt der fünfte Akt mit der Rückkehr Jevohas, Verfluchung der Schlange, Verurteilung Adams und Evas und ihrer Vertreibung aus dem Paradies wieder eine größere Nähe zum altfranzösischen Spiel. Es entfällt in der Oper mit der Gregorianischen Sequenz freilich die Rückbindung an die spezifische liturgische Praxis der lateinischen Kirche, wie sie für das Adamsspiel charakteristisch ist. Der prinzipiell in freier poetischer Faktur gestaltete Operntext bewahrt zwar punktuell Reminiszenzen oder gar wörtliche Zitate des Genesistextes in Luthers Übertragung, doch hat sich das Thea-

trotz der Erlösung zugelassene Böse sich einen Freiraum erspielt, in dem es sich leibhaftig entfalten kann. Man weiß zwar, daß der Teufel am Ende heilsgeschichtlich den kürzeren ziehen wird, daß es […] nur einen scheinbaren Dualismus gibt, einen Dualismus aus der anmaßenden Sicht des Teufels; aber damit man die Überwindung dieses dualistischen Anspruchs zeigen kann, muß man ihm einen gewissen Entfaltungsraum eröffnen. Und dieser stellt sich wesentlich anders dar als in den apokryphen oder legendarischen Teufelsgeschichten« (»Rainer Warning, Friedrich Ohly und die Wiederkehr des Bösen im geistlichen Schauspiel des Mittelalters« in: HansJoachim Ziegeler (Hg.), Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2004,  361–374, hier  368). Von daher geht es mir bei der Diskussion tendenziell mythisch-dualistischer Strukturen (konkret im Sinne eines Götterkampfes) zuvorderst um Effekte dramatischer Vergegenwärtigung und performativer Verselbständigung, wodurch sich eine spezifische Perspektive auf die Reihe der hier betrachteten Dramentexte und die jeweils zwischen ihnen aufzudeckenden Kontinuitäten oder Transformationen gewinnen lässt, und weniger um den Nachweis eines »archetypisch-naturhafte[n] Substrat[s]« (Warning, Funktion und Struktur, 31). Zur verspäteten Rezeption und Wirkung von Warnings interpretatorischem Ansatz in der mediävistischen Spielforschung und speziell zu seiner Bedeutung für eine » ›performative‹ Wende der Spielforschung« zuletzt noch einmal Cornelia Herberichs, »Die ›Zwieschlächtigkeit der Aufführung‹ und die ›double diffusion‹ von Arnoul Grébans ›Le Mystère de la Passion‹. Zu Rainer Warnings Thesen zur Ambivalenz des Passionsspiels aus überlieferungsgeschichtlicher Perspektive«, in: Jörn Bockmann/Regina Toepfer (Hgg.), Ambivalenzen des geistlichen Spiels. Revisionen von Texten und Methoden, Göttingen 2018,  195–219, hier 195–198.



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ter hier im Horizont »neuzeitlicher Ausdifferenzierung«29 vom Kult gelöst. In diesem Sinne lässt denn auch der dritte Aufzug dem Verführungsspiel des Teufelsgehilfen Sodi im Zeichen des mythischen Dualismus freien Lauf. In der Rolle des listigen Betrügers und in Gestalt der Schlangen30 nähert er sich Eva und verleitet sie in schmeichelnd-verführerischer Rede zur verbotenen Speise, wobei er sich, wie im Adamsspiel, des alten mythischen Arguments von der Unterdrückung des Menschen durch den Schöpfergott bedient: Die Mißgunst ist’s die euch die Frucht verbeut! | Denn GOtt weiß wohl/ wenn ihr die Frucht genieß’t/ | Daß ihr alsdenn den Himmel euch erkieß’t; | Denn dieser Baum hat solche Krafft/ | Daß er aus Menschen Gtter schafft! (MS 639/3:1, Nr. 1, Bl.  C3r). Als Adam hinzutritt, entfaltet sich die Szene zum genretypischen Liebesduett. Eva preist die Schönheit und Güte der Frucht und ihre Potenzen für ein himmlisches Leben und reicht sie Adam, der sich aus Furcht vor dem Gebot Gottes zunächst zögerlich zeigt, dann aber auf Evas eindringliches Zuraten hin doch davon kostet. Nachdem sein Anschlag geglückt ist, erscheint Sodi verwandelt in seiner wahren Teufelsgestalt auf der Bühne und rühmt sich in einer zweistrophigen Arie seiner listige[n] Rencke, die das Menschenpaar zu Fall gebracht, Gott gekränkt und Luzifer wieder zu Frieden gestellt haben (III,5): 1. Listige Rencke/ | Die ich erdencke/ | Glcken viel besser als Lucifers Macht; | Weil man ihr Raasen nur spttisch verlach’t/ | 2. Schmeichlende Reden | Knnen entblden/ | Daß man nach hheren Sachen noch trach’t/ | Biß man betrglich zum Fall ist gebracht! (Bl.  [C4v]–Dr). Dabei wird in der Figur des Sodi im Kreis der Vertrauten 29  Jan-Dirk Müller, »Kulturwissenschaft historisch. Zum Verhältnis von Ritual und Theater im späten Mittelalter«, in: Gerhard Neumann/Sigrid Weigel (Hgg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000, 53–77, hier 59. 30  Szenenanweisung zu III,1 (MS 639/3:1, Nr. 1, Bl. C2v). – Im afrz. Adamsspiel hat der Teufel nach allerlei Verführungsreden gegenüber Adam und zuletzt – erfolgreicher – gegenüber Eva den Schauplatz verlassen und sich in die Hölle zurückgezogen (Tunc recedat Diabolus ab Eva, et ibit ad infernum: Ebel, Das altfranzösische Adamsspiel, hg. Ebel, nach v. 276), bevor die Schlange unmittelbar im Anschluss an Adams Warnung an Eva, sich nicht mit dem Teufel einzulassen, am Stamm des verbotenen Baumes erscheint, worauf sich Eva ihr zuwendet und ihrem Rat Gehör schenkt (Tunc serpens artificiose compositus ascendit juxta stipitem arboris vetito [wohl vetite, C.S.]. Cui Eva proprius [wohl propius, C.S.] adhibebit aurem, quasi ipsius ascultans consilium: Das altfranzösische Adamsspiel, hg. Ebel, nach v. 292). Die Gestalten sind demnach zwar deutlich geschieden, aber dennoch legt der Kontext der Szene nahe, dass hier der Teufel selbst agiert und eingreift, als er den Eindruck gewinnt, »daß seine Sache schief geht« (Erich Auerbach, »Adam und Eva«, in: ders., Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen/Basel 1946, 139–166, hier 143; vgl. Warning, Funktion und Struktur, 130 f.).

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Luzifers zugleich der Typus des Hofmanns und Politicus31 und mithin ein Repräsentant des zeitgenössischen absolutistischen Herrschaftssystems karikiert, dessen verschlagene Klugheit sichtbar den draufgängerischen Parolen der als grobschlächtige Militärs alter Façon gezeichneten Beratern Belial und Legio überlegen ist. Den Potenzen des dramatischen Dualismus mythischer Prägung, die die Oper speziell mit den Teufelsszenen erkennen lässt, stehen indes spezifisch theologische Diskursivierungen gegenüber, die den ästhetischen Lizenzen des Teufels- und Verführungsspiels entgegensteuern und sie in den Horizont der Verkündigung »zurückzuspielen« suchen.32 So stellt sich die Debatte der allegorischen Figuren Justitia und Misericordia über die rechte göttliche Reaktion auf die Verfehlung und den Ungehorsam des Menschen zur Sühne der verletzten Gerechtigkeit Gottes (vermittelt über Bernhard von Clairvaux) unverkennbar in die Tradition der Satisfaktionslehre Anselms von Canterbury, der es um die »systematische Ausgrenzung des Teufels«33 aus dem Erlösungswerk zu tun ist. Danach ist nur der Mensch gewordene Gott dazu fähig, durch das unermessliche Ereignis seines freiwilligen und unschuldigen Todes eine »äquivalente Gegenleistung« für die »unendliche[] Verschuldung des Menschengeschlechts« zu erbringen, wenn aufgrund »der Gerechtigkeit Gottes und der rechten Ordnung seiner Herrschaft […] die Sünde nicht folgenlos bleiben [darf]«.34 Doch ist in den Worten der Figur des Salvators, die am Ende der Oper in einer sonderlichen hellen Machina auf der Bühne 31  Vgl. zum Begriff und Konzept des Politicus Wilfried Barner, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, 2Tübingen 2002, 135–142. 32  Jan-Dirk Müller, »Mimesis und Ritual. Zum geistlichen Spiel des Mittelalters«, in: Andreas Kablitz/Gerhard Neumann (Hgg.), Mimesis und Simulation (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 52), Freiburg i. Br. 1998, 541–571, hier 542. 33  Warning, Funktion und Struktur, 149. Man wird Warning darin zustimmen können, dass die Verdrängung des teuflischen Widersachers aus dem Erlösungsgeschehen und sein Ersatz durch die Justitia Gottes letztlich, aufgrund der »Spaltung der göttlichen Instanz in einen Heils- und einen Gerechtigkeitswillen« (167), doch wieder dualistische Züge zum Vorschein bringt, die etwa auch in der Hamburger Adamsoper im Rahmen des Paradiesprozesses mit dem Verweis der Misericordia auf Satans List/ die dich [Gott] zu krncken tracht’t, oder der Forderung der Justitia, die schuldigen Menschen in hllische Flammen fallen zu lassen, zum Ausdruck kommen (IV,1; MS  639/3:1, Nr. 1, Bl.  D2v–[D3]r), so dass ein Stück weit offenbleibt, »von wem denn nun eigentlich die Menschheit losgekauft werden muß, von Gottes Gerechtigkeit oder von ihrem systematischen Konkurrenten, dem Teufel« (Warning, Funktion und Struktur, 169). Immerhin aber bleibt Luzifer mit seinen Gesellen nach dem Triumph der Hölle am Ende des zentralen dritten Opernaktes konsequent von allem weiteren Geschehen (Paradiesprozess, Gottes Urteil, Verheißung künftiger Erlösung) ausgeschlossen. Keiner der Teufel betritt fortan mehr die Bühne. 34  Gunther Wenz, Versöhnung. Soteriologische Fallstudien (Studium Systematische Theologie 9), Göttingen 2015,  123–142, hier  128; zur Anselm-Rezeption und



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erscheint,35 um den gefallenen Menschen die sich künftig ereignende Versöhnung durch die Menschwerdung Gottes zu verkünden (V,8), mit der Betonung des Strafleidens Christi und der vom Menschen her allein entscheidenden Voraussetzung des Glaubens die genuin Luthersche Perspektivierung Anselms greifbar:36 1. Durch den versprochnen Weibes-Saamen | Und meinen grossen GOttes-Nahmen | Solt ihr des Vaters Huld erwerben/| Und nicht so trostloß sterben! 2. Ich/ ich vertilge eure Snden/ | Durch mich solt ihr Genade finden; | Hallt’t euch an mich mit festen Glauben | Und last euch den nicht rauben! 3. Durch meinen Tod/ durch schweres Leiden | Erwerb ich euch die Himmels-Freuden; | Halt’t euch an mich mit festen Glauben/ Und last euch den nicht rauben (Bl.  [E4rv]).

Fragt man nach konkreten Vermittlungswegen zwischen der Tradition des mittelalterlichen geistlichen Spiels und der frühneuzeitlichen Kunstform Oper, so fällt der Blick denn insbesondere auch auf das protestantische Drama des 16. Jahrhunderts.37 Mit Valentin Voiths Lieblich Spiel/ von dem herlichen vrsprung: Betrbtem Fal. Gnediger widerbrengunge […] des Menschen, das 1538 in Magdeburg im Druck publiziert wurde,38 teilt Richters und Theiles Oper immerhin den dreigliedrigen Titelbeginn, wenn auch nicht die in ausgedehnten Monologen der Figuren wie auch in pointierten Argumenta und Sentenzen des Nebentextes39 hervortretenden Narrativierungstendenzen und Züge »einer gereimten dogmatik«,40 die einer dramatischen Durchgestaltung entgegenwirken. Als statuarische Figuren erscheinen Adam und Eva zu Beginn des ersten Aktes, um nacheinander die Zusammenhänge ihrer Erschaffung vorzutragen, und analog referiert Luzifer ihrer Bedeutung für das spätmittelalterliche geistliche Spiel (freilich noch nicht für das afrz. Adamsspiel!) Warning, Funktion und Struktur, 146–161. 35  V,8 (MS  639/3:1, Nr. 1, Bl.  [E4]r). In der wohl ältesten Librettoversion A ist noch von einer schwebenden Wolcke die Rede (MS 640/3:1, Nr. 1, Bl.  [E4]r; vgl. Braun, Vom Remter zum Gänsemarkt, 25). 36  Zu Luthers Anselm-Rezeption Wenz, Versöhnung, 143–162. 37  Ich beschränke mich im Folgenden auf Repräsentanten der nord- und mitteldeutschen Dramentradition. 38  Ein schn Lieblich Spiel/ von dem herlichen vrsprung: Betrbtem Fal. Gnediger widerbrengunge. Mseligem leben/ Seligem Ende/ vnd ewiger Freudt des Menschen aus den Historien heiliger schrifft gezogen gantz Trstlich, Magdeburg: Michael Lotther 1538. 39  Diese kommentierenden Inhaltsangaben und Anmerkungen zu den einzelnen Akten (Argumentum) und Szenen (Summa) sind doppelt verzeichnet, insofern sie sowohl dem Dramentext en bloc vorangestellt wie auch den jeweiligen Akten und Szenen, auf die sie sich beziehen, noch einmal separat vorgeordnet sind. 40  Hugo Holstein, »Einleitung«, in: Dramen von Ackermann und Voith, hg. Hugo Holstein (BLVS 170), Tübingen 1884, 143–154, hier 152.

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(Luciper oder der Sathan aus der schlange)41 in Szene I,2 die Hintergründe seiner Rebellion gegen Gott und den Höllensturz, um darauf seine Verwandlung in die Gestalt der Schlange anzukündigen, deren listige Verführung die dem Menschen zugedachte Position als Ersatz für die gefallenen Engel erschüttern soll. Erst hier, mit dem Verführungsakt, kommt eine Spielhandlung ansatzweise in Gang, ohne doch genuin dramatisches Potential zu entfalten. Denn um Eva und Adam zum Genuss der verbotenen Speise zu verleiten, genügt allein der Hinweis, man habe offenbar Gottes Gebot missverstanden, der seinen Geschöpfen die seligmachende Frucht niemals in böser Absicht vorenthalten würde. Voith setzt den Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies an den Anfang einer Szenenreihe, die über Kain und Abel, Abraham und David den Bogen zur Geschichte von Christi Erlösungswerk schlägt, mit der die alttestamentlichen Episoden jeweils in typologischer Perspektive verbunden sind. Hieran soll in der Weise eines animierten Lehr- und Merkbildes42 im Anschluss an ein von Luther und Cranach entwickeltes Bildthema43 die Antithese der beiden Zeitalter des Gesetzes und der Gnade und die Überwindung des Gesetzes durch die Gnade vor Augen gestellt werden. Als Verbindungsglieder zwischen den verschiedenen Episoden der Heilsgeschichte fungieren denn auch die allegorischen Figuren Gesetz, Sndt und Todt, die im Zusammenspiel mit ihrem vierten Gesellen Sathan als Feinde der gefallenen Menschen agieren. Ihre in den einzelnen Szenen stets von Neuem demonstrierte Macht zur Verfolgung und Anfechtung der Sünder wird erst durch Christi Heilstat im abschließenden fünften Akt gebrochen. Und doch ermutigt sein fester Glaube an Gottes Verheißung künftiger Erlösung durch Christus bereits Adam, sich seinen vier Feinden nicht zu beugen, sondern ihren Ansprüchen entgegenzutreten: Darumb trotz Teuffel wann du kumpts |

41  So die Figurenbezeichnung im Nebentext zu Szene I,2 (Ein schn Lieblich Spiel, Bl. Biijv). 42  Glenn Ehrstine, »Seeing is Believing: Valten Voith’s ›Ein schön Lieblich Spiel von dem herlichen vrsprung‹ (1538), Protestant ›Law and Gospel‹ Panels, and German Reformation Dramaturgy«, Daphnis 27 (1998), 503–537, hier 516. Vgl. bereits Almut Agnes Meyer, Heilsgewißheit und Endzeiterwartung im deutschen Drama des 16. Jahrhunderts. Untersuchungen über die Beziehungen zwischen geistlichem Spiel, bildender Kunst und den Wandlungen des Zeitgeistes im lutherischen Raum (Heidelberger Forschungen 18), Heidelberg 1976, 18–26; zuletzt Christian Schmidt, Drama und Betrachtung. Meditative Theaterästhetiken im 16. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 93), Berlin/Boston 2018, 211– 213, der speziell den Aspekt »einer meditativen Rezeption« zum Ziel der Gottes­ erfahrung akzentuiert (219). 43  Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 72011, 520.



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Das du mir auch ein herlein krumpts/ | So ich gleube an diesen helt  | Ich furcht dich nicht mit deiner welt/ | Darumb gehe hin an deinen ort.44 Größere Parallelen zur Hamburger Adamsoper zeigt Bartholomäus Krügers, des Stadtschreibers und Organisten in Trebbin, Newe Action von dem Anfang und Ende der Welt von 1580. Dies fünfaktige Stück umfasst – ähnlich wie mitunter auch das katholische Fronleichnamsspiel  – den Zeitraum der gesamten Welt- und Heilsgeschichte von der Schöpfung und vom Sturz Luzifers bis zum Jüngsten Gericht, mit der gantze[n] Historia unsers HErrn vnd Heylandes Jhesu Christi45 im Zentrum – dabei aber nun mit dezidiert zeitgeschichtlichen Anspielungen im Zeichen konfessioneller, antipäpstlicher Tendenz.46 Die Geschichte von Adam und Eva steht also samt dem Engelssturz am Ausgangspunkt des heilsgeschichtlichen Weltendramas lutherischer Prägung, vorgeschaltet ist einzig die Überhebung Luzifers. Sie installiert den Teufel und seine Gesellen  – wie dann auch in der Hamburger Oper  – als »dramatisch-dualistischen Widerpart«47 zur göttlichen Trinität und motiviert alles weitere Geschehen, »derart, daß auf jeden ›Zug‹ Gottes stets ein ›Gegenzug‹ des Teufels erfolgt, der ›das von Gott Getane in seinem Bestand zu vernichten oder doch wenigstens in seinem Wert zu verderben sucht‹ «.48 Dennoch sind hier einige im Sinne Warnings dem Mythischen zuzuweisende Positionen, wie sie noch die Adamsoper in der Tradition des mittelalterlichen Spiels erkennen lässt, zugunsten der Vorgaben des Dogmas geräumt. So wird hier die Erschaffung des Menschen nicht im Sinne eines Ersatzes für den gefallenen Luzifer dargestellt, denn sie liegt handlungschronologisch dem Höllensturz voraus. Von daher erscheint der »heilsgeschichtliche Anfang« gerade nicht »mediatisiert« und in ein mythisches »Oppositionsschema« gebracht (Warning, Funktion und Struktur, 133). Luzifer rebelliert zunächst auch nicht gegen die Oberhoheit Gottes, sondern gegen seine Unterordnung unter den gezeugten schn Lieblich Spiel, Bl. Diijr (II,3). 45  Schauspiele aus dem sechzehnten Jahrhundert. Zweiter Theil: Bartholomäus Krüger, Jakob Ayrer, hg.  Julius Tittmann (Deutsche Dichter des sechzehnten Jahrhunderts 3), Leipzig 1868, 1–120, hier 7 (Zitat aus dem Werktitel). 46  Zu den Traditionslinien, aber auch Verschiebungen zwischen Krügers Drama und dem spätmittelalterlichen geistlichen Spiel, speziell dem Fronleichnamsspiel, Barbara Könneker, »Luthers Bedeutung für das protestantische Drama des 16. Jahrhunderts. Geschichte und Heilsgeschichte in Bartholomäus Krügers ›Newer Action von dem Anfang und Ende der Welt‹ «, Daphnis 12 (1983), 545–573; zu Krügers Konzeption weiterhin Meyer, Heilsgewißheit und Endzeiterwartung, 183–234. 47  Warning, Funktion und Struktur, 124. 48  Könneker, »Luthers Bedeutung«, 562 f., mit Verweis auf Klaus Ziegler, »Das deutsche Drama der Neuzeit«, in: Wolfgang Stammler (Hg.), Deutsche Philologie im Aufriß, 3 Bde., 2., überarb. Aufl., Berlin et al. 1957–1960, Bd. 2 (1960), Sp. 1997–2350, hier 2037. 44  Ein

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Christus als zweite Person der Trinität (Lucifer komt mit seinem haufen, tragen einen stuel und wollen denselben zwischen Gottes des vaters und des sons stuel einsetzen: I,1, nach v.  79). Die Verführung steht hier dann auch nicht unter den Vorzeichen der teuflischen Rache am Menschen, sondern soll dazu führen, dass Gottes Geschöpf der Gewalt Luzifers anheimfällt, womit dessen Macht und reich gemeret wäre (I,2, v.  224  ). Und schließlich berührt der teuflische Plan zur Verführung Evas kaum das Moment der Unterdrückung des Menschen durch den Schöpfergott, sondern setzt, positiv, auf das Argument der übergroßen Potenz der verbotenen Frucht (wer davon ißet, werd Got gleich) sowie darauf, es sei Got kein ernst gewest mit seinem Gebot (I,2, v.  213 u. 215).

Wie in Hamburg gibt es freilich einen den Sündenfall initiierenden Rat der Teufel um Luzifer, findet sich im Anschluss daran der Paradiesprozess (hier nun neben Deus Pater und Jesus Christus mit den Figuren Veritas, Justitia, Misericordia, Pax, und Satan als Ankläger),49 der übergeht in Gottes Beschluss zur Erlösung der Menschheit durch Christus, während aber gerade die Verführungsszene und die Darstellung des Sündenfalls selbst und somit gleichsam das Herzstück der Hamburger Oper ausgespart bleiben (die Darstellung ersetzt die detaillierte Schilderung des Verführungsplanes durch den Luzifer-Gehilfen Satan während der Beratung in der Hölle in I,2). Der Bestrafung der Sünder und ihrem Ausschluss aus dem Paradies folgt erneut eine Teufelsversammlung, die die göttliche Reaktion auf den Sündenfall halb besorgt, halb ungläubig-triumphierend zur Kenntnis nimmt und zum Ende des ersten Aktes in einem wilden Tanz kulminiert. Für Krügers Drama im Ganzen leistet dabei vor allem auch das verschiedentlich in die Spielhandlung integrierte lutherische Kirchenlied die Rückbindung an die Liturgie. So beschließt etwa der Chor der Engel die Beratung im Himmel (I,3), die die soteriologische Heilstat Christi in dessen eigenen Worten ankündigt, mit dem Nicolaus Decius zugeschriebenen Gloria-Lied »Allein Gott in der Höh sei Ehr«,50 das als eines der ältesten deutschen evangelischen Kirchenlieder überhaupt gilt.51 Kaum zwei Jahre vor der Uraufführung der Hamburger Adamsoper publizierte der einem »angesehenen luth[erischen] Predigergeschlecht«52 49  Noch deutlicher als in der Hamburger Oper treten hier  – etwa mit Satan als Kläger und dem Motiv des Loskaufs (I,3, v.  457 f.)  – jene Ambivalenzen zwischen den Ansprüchen von »Gottes Gerechtigkeit« und dem » ›Recht‹ des Teufels« hervor (Warning, Struktur und Funktion, 168, vgl. o. S. 216 Anm. 33). 50  Vgl. Meyer, Heilsgewißheit und Endzeiterwartung, 191. 51  Hans-Otto Korth, »Decius, Nicolaus«, 2MGG, Personenteil, Bd. 5 (2001), Sp. 643–645. 52  Hans Heinrich Eggebrecht/Werner Braun, »Dedekind, Constantin Christian«, in: Wilhelm Kühlmann et al. (Hgg.), Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 13 Bde., 2Berlin/New York 2008, Bd. 2, 570 f.



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entstammende Dresdener Dichter und Komponist Constantin Christian Dedekind seine Sammlung von Music-bekwehmen Schau-Spielen unter dem Titel Heilige Arbeit ber Freud und Leid der alten und neuen Zeit (1676), die er Herzog August von Sachsen-Weißenfels, damals Oberhaupt der Fruchtbringenden Gesellschaft, dedizierte.53 Sie präsentiert im Ganzen vier große Stücke über alttestamentliche Sujets, darunter als erstes, analog zum heilsgeschichtlichen Nexus, die Geschichte von Adam und Eva, da­ rauf Abel, Isaak und Abraham sowie Simson.54 Das umfängliche VohrSpiel zu Adam und Eva weist zumindest konzeptionell auf den singulär überlieferten Prolog der Hamburger Adamsoper, indem es Jehova in monologischer Rede und begleitet von den jeweils als Aria bezeichneten Lobgesängen des Engelchores die Vorgänge seines eigenen Schöpfungswerkes erzählen lässt, die in der Adamsoper als performative Akte gestaltet sind.55 Die nachfolgende, zwar musikdramatisch disponierte (nach Ahrt eines Musicalischen Schau-Spiels/ eingerichtet),56 aber offenbar weder vertonte noch je aufgeführte Handlung stimmt zwar hinsichtlich einer Reihe von entscheidenden Handlungsteilen, Szenen und Motiven mit Richters und Theiles Gestaltung überein, zeigt aber auch deutliche Unterschiede. Dies betrifft vor allem die dramaturgische Anlage in drei Akten, das Fehlen des Engelssturzes und  – stattdessen  – die Eröffnung des ersten Aktes mit der Verführungsszene, wobei der Verführer, die Schlange, auch hier auf das Motiv der Repression des Menschen durch seinen Schöpfer setzt 53  C. Chr. D. heilige Arbeit ber Freud und Leid Der alten und neuen Zeit/ in Music-bekwehmen Schau-Spielen/ ahngewendet. durch Andren Lfflers Verlag/ gedrukkt zu Dreßden/ 1676. Vgl. dazu Irmgard Scheitler, Deutschsprachige Oratorienlibretti. Von den Anfängen bis 1730, Paderborn et al. 2005, 53–62. 54  1. Versndigte und begnadigte Aelteren/ Adam und Eva/ nach Ahrt eines Musicalischen Schau-Spiels/ eingerichtet; 2. Erster Mrterer Abel/ Trauer Schau-Spiel/ zur Musica bekwehmlich eingerichtet; 3. Drama zur Musica, den Wunder-gehorsahmen Isaak und großglubigen Abraham/ vohrstllende; 4. Simson/ ein Traur-Spiel zur Music eingerichtet. – Alle vier Stücke stehen als Vohr-Bildere (Dedekind, Heilige Arbeit, Widmungsvorrede, Bl. a3r) jeweils wiederum in typologischer Beziehung zu den vier neutestamentlichen Stücken von Dedekinds früherer Sammlung Neue geistliche Schau-Spiele/ bekwehmet zur Music (1670): 1. Himmel auf Erden/ Das ist Gott als Mnnsch/ im Freuden-Spiele der Gebuhrt Christi/ vohrgestllet; 2. Stern aus Jakob und Kinder-Mrder Herodes/ verfasset in ein singendes Trauer-Spiel. Andrer Teil von Jesus Gebuhrt; 3. Sterbender Jesus, auf Thrhnen-reicher Schau-Bühne eines bluhtigen Trauer-Spieles/ zu schuldigster Erinnerung/ wehmhtigst vohrgestllet; 4. Siegender Jesus/ in einem Freuden-Spiele Seiner triumphierlichen Hllen-Fahrt und Auferstehung/ vohrgestllet. 55  Siehe die Zusammenfassung im vorangestellten Argumentum (Dedekind, Heilige Arbeit, Bl.  Aijr): Im Vohr-Spiel erzhlet JEHOVA die Werke der Schpfung/ welche/ in zwischen-spielenden Arien, vom Engel-Kohre gelobet werden. 56  So die Erläuterung im Titel (Dedekind, Heilige Arbeit, Bl. Ar).

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und Eva mit der Aussicht auf die bislang allein Gott vorbehaltene Erkenntnis von Gut und Böse ködert. Weitere Divergenzen gegenüber der Adamsoper betreffen die Profilierung der Handlungsrolle des Christus hinsichtlich des Sühne- und Versöhnungsgeschehens (tatsächlich wird die Figur des Jehova von II,4 an durch Christus ersetzt)57 sowie  – umgekehrt  – die Reduktion der in Hamburg weiträumigen Teufelsszenen auf die Agenten Schlange und Satan, wodurch die Möglichkeiten der Teufelshandlung im Sinne eines dramatisch-dualistischen Prinzips und Movens erkennbar eingeschränkt werden. Satan tritt allein im Nach-Spiel auf, um im Dialog mit der Personifikation der Hoffnung seine Unterlegenheit angesichts des Vollzugs des göttlichen Erlösungswerks zu erfahren (er kann die gefallenen Menschen lediglich noch plagen | und bei der Wllt verstnken: Bl.  [Civr]). Die Positionen von Satan und Schlange, die im vorangestellten Personenverzeichnis als des Satans verfhrerischer Werkzeug eingeführt wird (Bl. Aiijv), sind deutlich geschieden, eine Darstellung der Schlange als »Metamorphose des Teufels«58 wird gerade vermieden. Immerhin: Wenn auch Dedekinds Gestaltung des Stoffes hin und wieder eigene Wege geht, sind mögliche Anknüpfungspunkte und Kontinuitäten, speziell unter dem dominanten Aspekt der musikdramatischen Struktur, evident. Denn tatsächlich ist es die konsequente musikdramatische Disposition, wodurch sich die Hamburger Adamsoper am Weitesten von den geistlichen Spielen früherer Zeiten entfernt. In der basalen Trennung von Rezitativ und Strophenlied bzw. Ritornellarie, wie sie in den vier verschiedenen gedruckten Fassungen des Librettos in unterschiedlich präziser Auszeichnung hervortritt  – Johann Theiles Musik ist leider restlos verloren  –, gibt sich das Modell der italienischen Oper zu erkennen. Ein Spezifikum ist der, so Werner Braun, auffallend » ›chörige‹ Charakter« der Hamburger Adamsoper, der sich »in acht mehr als zweistimmigen Nummern« und speziell den vollstimmigen Engel- und Teufelschören niederschlägt59 und das Werk über das biblische Sujet hinaus in die Nähe von Oratorium und Historie bzw. verwandter geistlicher Formen des deutschen Sprachraums rücken lässt. Von diesen unterscheidet sie tendenziell wiederum ihre Textgrundlage, die sich bisweilen zwar dem Bibeltext annähert, grundsätzlich aber eine freie poetisch-dramatische, zu Remythisierung neigende Trans57  Den Übergang markieren die Worte Jehovas in II,4: Den ich/ von Ewigkeit/ aus mihr erzeuget/ | dem werde es [als Richter, C.S.] heimgegeben (Dedekind, Heilige Arbeit, Bl. Bvr). 58  Warning, Funktion und Struktur, 128. 59  Braun, Vom Remter zum Gänsemarkt, 46.



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formation der Schöpfungsgeschichte darstellt, sowie vor allem die explizit performative Dimension der Handlung. Freilich fehlen in der ersten Hamburger Oper aufgrund der stofflichen Vorgaben des biblischen Prätexts die sonst üblichen, genretypischen amourösen Verwicklungen und Intrigen, wenngleich das Liebesthema im Kontext der Darstellung des Paradies­ lebens des ersten Menschenpaars und speziell auch der Versuchung Adams seinen Platz hat. Die Bühnenrealisierung, die die Inszenierungsanweisungen der gedruckten Libretti andeuten, lässt zwar insgesamt wenige Bühnenbilder, dafür aber einen »Reichtum an Maschineneffekten« vermuten.60 Die drei heilsgeschichtlichen Schauplätze Himmel, Paradies bzw. Erde und Hölle sind wohl auf einer Simultanbühne mit mindestens zwei differenten Niveaus zu denken (dies freilich noch in Entsprechung zu einer mittel­ alterlichen Bühnensituation, wie sie etwa die Rubriken des altfranzösischen Adamsspiels nahelegen),61 wobei eine als fahrbare Oberbühne fungierende grosse Machina – die freilich erst in den jüngeren Librettoversionen explizit erwähnt wird62  – entweder zusätzlich zu einer »festen zweistöckigen Bühne« eine »dritte, und zwar bewegliche Ebene« markierte oder aber, im Falle einer »beweglich zweistöckige[n]« Bühne, für den jeweils höheren von zwei Schauplätzen genutzt wurde.63 Mit Hilfe von Gurtvorrichtungen und kleineren Flugmaschinen konnten zudem Bühnenbewegungen zwischen oder jenseits von diesen Ebenen bewerkstelligt werden. Damit dürfte das verfügbare Spektrum der weitreichenden technisch-mechanischen Möglichkeiten der Hamburger barocken Opernbühne sogleich bei der ersten Aufführung, bei der Darstellung von Adam und Eva, zum Einsatz gelangt sein. III. Ich komme zurück auf die initiale Frage nach dem Status und der Funktion der ersten Hamburger Oper. Sie mag im Licht einer apologetischen Kampagne im Hamburger Opernstreit dazu beigetragen haben, den Geistlichen die Einfhrung der Operen zu recommendiren64 und »den löblichen Zweck der Opern« zu verdeutlichen, wenn diese, in den Worten 60  Ebd., 51.

Funktion und Struktur, 134–136. MS 639/3:1, Nr. 1, Bl. [D4rv]: Bühnenanweisungen zu IV,4: Die grosse Machina gehet auff, und V,1: Unter wehrender Music gehet die grosse Machina wieder Erdwerts. 63  Braun, Vom Remter zum Gänsemarkt, 40 f. 64  S. o. Anm. 6. 61  Warning, 62  So

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ihrer zeitgenössischen Apologeten, »zur Ehre Gottes, zur Liebe der Tugend und Flucht der Laster, als auch zu einer geziemenden Ergötzlichkeit, zur Aufnahme der von Gott verliehenen Gabe der Vocal und Instrumentalmusik« gereichten.65 Tatsächlich lenkt die Wahl des Sujets aber vice versa, als Komplement zu einer Auratisierung qua Partizipation am Heiligen,66 den Blick auf den universalen Geltungs- und Verbindlichkeitsanspruch der neuen Kunstform Oper, was die Vermittlung existenzieller, normativer (Glaubens-)Inhalte im Modus mimetischer Repräsentation vergangenen Heilsgeschehens anbelangt.67 Und nicht zufällig fällt der Ter65  Aus einer Replik Johann Friedrich Mayers, Pastors an St. Jacobi in Hamburg, auf Johann Winckler, Pastor an St. Michaelis, zitiert nach: Johannes Geffcken, »Der erste Streit über die Zulässigkeit des Schauspiels (1677–1688)«, Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 3 (1851), 1–33, hier 24; vgl. Marx, »Geschichte der Hamburger Barockoper«, 13. 66  Vgl. dazu die Überlegungen von Bruno Quast (am Beispiel von Thomas Murners Großem Lutherischen Narren), Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit (Bibliotheca Germanica 48), Tübingen/Basel 2005, 198. 67  Gerade dieser Aspekt hat freilich negative Reaktionen der zeitgenössischen pietistischen Gegner der Oper provoziert. So charakterisiert der Gothaer Gymnasialrektor Gottfried Vockerodt die Hamburger Adamsoper, die er selbst nicht gesehen hatte, im Rückblick zwar als ein ehrbar Stck von Erschaffung der Welt und erwägt, es sei dies möglicherweise das Beispielstück gewesen, das die Hamburger ›Operisten‹ der Wittenberger Theologischen Fakultät zur Begutachtung vorgelegt hätten, kritisiert an anderer Stelle aber besonders auch die jenigen Schauspiele als nicht erbaulich, welche zwar von geistlichen Materien handeln/ aber auff eine weltfrmige ungeistliche Art/ und Gottes Wort nicht als Gottes Wort vorhalten/ sondern unter abentheurlichen Extravagantzien und Poetischen fictionen/ daß es seine Krafft verlieret (Mißbrauch der freyen Knste/ insonderheit Der Music/ nebenst abgenthigter Errterung der Frage: Was nach D. Luthers und anderer Evangelischen Theologorum und Politicorum Meinung von Opern und Comdien zu halten sey? […], Frankfurt 1697,  139 u. 116). Und bereits 1681 hatte Anton Reiser das Prinzip der theatralischen Mimesis in seiner Theatromania im Anschluss an Tertullian den listenreichen Täuschungen Satans, die zum Sündenfall führten, an die Seite gestellt: Die erste Menschen sind von dem leidigen Satan gefllet worden. Wie so? Wahrlich auff keine andere Weiß/ als da derselbige auf dem grossen Schau-Platz des Paradieß-Gartens/ in welchen er listiglich eingeschlichen/ mit dem Schlangen-Balg bedecket/ und gleich als mit einer Larv vermummet ein solch Trauer-Spiel angefangen/ mb welches willen der ewige Sohn Gottes ein wahrer Mensch werden/ und Knechts-Gestalt an sich nehmen mssen/ damit wir das verlohrne gttliche Eben-Bild wiedermb erlangen mchten. Wann demnach sonst nichts wre/ so konte dieses alleinige Exempel gnugsam seyn/ die Spiel-Larven uns verdchtig zu machen (Theatromania, Oder Die Wercke Der Finsterniß […], Ratzeburg 1681, 33 f.). Das Gutachten der Wittenberger Theologischen Fakultät vom 30.  Dezember 1687 war dagegen zu dem Schluss gelangt, dass Repraesentationes, und Frstellungen als solche schon immer auch ein Element göttlicher Verkündigung gewesen, [d]aher die spielende Frstellungen/ oder frstellende Spiele/ an und fr sich keine sndhaffte Wercke, die Opera musicalia



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min der Erstaufführung  – zumal im Falle der erwogenen Vorauseröffnung – in die Weihnachtszeit, was den typologischen Verweischarakter des Adamssujets im Kontext christlicher Heilsgeschichte nachdrücklich herausstellt und von daher die Konvention mittelalterlicher Spielzeiten aufnimmt, wo »[m]it dem Zeitpunkt der Aufführung […] zugleich eine ›Heilszeit‹ gesetzt [ist], die die Urszene des Heils erneuert«.68 Und ganz in diesem Sinne werden am Ende die »Grenzen«69 zwischen der Spielsituation und der Zuschauerrealität aufgehoben, insofern die zunächst auf Adam und Eva bezogene interne Botschaft des Schlusschors So wird euch (uns) das Leben geschenck’t (V,9)70 – wie zuvor schon die Heilszusage des Salvators71  – in kerygmatischer Perspektive extern referiert auf die christliche Gemeinde im umfassenden Verständnis. Indem die Adamsoper als programmatisches Eröffnungsstück sodann die heimische volkssprachige, insbesondere norddeutsch-protestantische dramatische Tradition explizit aufruft und fortschreibt, markiert das Hamburger Operninstitut zumindest in seinen Anfängen eine tendenzielle, konservative Abgrenzungsbewegung gegenüber den für das Musiktheater prägenden italienischen und französischen Einflüssen der Zeit. Hier wie in der durchweg deutschsprachigen Komposition des Adam-Librettos offenbart sich ein Zug zur Eigenständigkeit, der für die Reihe der frühen Hamburger biblischen Opern im Ganzen charakteristisch ist.72 oder Singe-Spiele vielmehr zu den adiaphoris zu rechnen und insofern zulässig seien: Es knnen auch Biblische Historien/ Sprche/ Propheceyungen in solchen Singe-Spielen auff gebhrende Art/ Christlich und erbaulich/ mit gottseeliger Gravität ohne alle rgerliche Sptterey/ mit eingefhret werden (Vier Bedencken Fhrnehmen Theologischen und Juristischen Facultäten […] Was doch von denen so genandten Operen zu halten, Frankfurt a. M. 1693, Bl. [A4]v, B2r–B3r). 68  Jan-Dirk Müller, »Präsenz des Heils und Repräsentation. Zur Alterität des Geistlichen Spiels«, in: Anja Becker/Jan Mohr (Hgg.), Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8), Berlin 2012, 263–284, hier 272. 69  Ebd., 263. 70  So wird euch (uns) das Leben geschenck’t/ | Und eben dadurch die sprudlende Hlle gekrnck’t; | Die Gttliche Huld | Vergiebet die Schuld; | Drum wird auch durch heiliges Loben | Die Gttliche Ehre erhoben (MS 639/3:1, Nr. 1, Bl. [E4v]). 71  V,8: Durch den versprochnen Weibes-Saamen usw. (siehe o. S. 217). 72  In allegorischer Verhüllung wird das Thema von Sündenfall und Erlösung dann erneut in der Oper Charitine oder Gttlich-Geliebte von 1681 aufgenommen (Text von Hinrich Elmenhorst, Musik von Johann Wolfgang Franck). Hier stehen sich der mächtige König Zelotes und sein Sohn Philandro (d. h. Gott Vater und Christus) auf der einen und der von ihnen abgefallene Fürst Phyloctetes (der Teufel) auf der anderen Seite gegenüber, der die von Philandro erwählte Braut Charitine (die menschliche Seele) aus Rache für seine Verbannung vom Königshof zu Fall zu bringen sucht.

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Schließlich manifestiert sich nicht zuletzt aufgrund der spezifischen Medialität und im Zeichen von Kommerzialisierung und Professionalisierung des musiktheatralischen Genres gegenüber der apologetischen wie moraltheologischen Funktion eine genuin ästhetische Perspektive. Auf sie  zielt die Apostrophe der Personifikation des Feuers am Ende der dra­ matisierten Vorrede zur Adamsoper, indem sie den dezidierten Kunst­ charakter der musiktheatralischen Darstellung des Heilsgeschehens von Schöpfung und Sündenfall reklamiert und diese Kunst im Dienste urbaner Repräsentation der Gunst der Vertreter des städtischen Regiments an­ empfiehlt  – auf dass sie deren Fama mehre: Ihr Edlen dieser Stadt! | Die sie an stat der Sttzen hat/ | So lasset denn die hohe Gunst | Ermunteren die angestimm’te Kunst; | Damit sie sich zu euren Ehren | Lß’t knfftig ferner hren!73 Gerade von hier aus betrachtet werden die Distanzen des frühneuzeitlichen Musiktheaters zu den Ambivalenzen des mittelalter­ lichen geistlichen Spiels »zwischen (liturgischem) Ritus und (spielerischer) Mimesis«74 wie auch zu den strikteren »Grenzziehungen« des Reforma­ tionsdramas im Sinne »szenisch realisierte[r] Theologie«75 sichtbar: als Indizien eines komplexen Emanzipationsprozesses, der dann vor allem im Laufe des 18. Jahrhunderts unter den Vorzeichen tiefgreifender Verschiebungen im Horizont christlich-theologischer Welt- und Geschichtsdeutung die »Autonomisierung« des Ästhetischen, die »Formierung der Kunst aus dem Kult«76 vorantreiben wird.

Die Verführungsszene scheint auf im Kontext eines von Phyloctetes im königlichen Garten veranstalteten wollüstigen Gastmahls, dessen Speise Charitine sinnenfreudig genießt, worauf sie vom König in die Sklaverei verstoßen wird. Der verliebte Philandro aber macht sich auf, Charitine zu befreien, und verhilft ihr nach tödlicher Verwundung und Gefangenschaft und schließlich allmächtiger Überwindung seiner Feinde zur Gnade und Rückkehr an den Königshof (dazu Jahn, Die Sinne und die Oper, 155–159). 73  Siehe o. S. 210. 74  Quast, Vom Kult zur Kunst, 110. 75  Müller, »Kulturwissenschaft historisch«, 76. 76  Quast, Vom Kult zur Kunst, 8.

» Lope, Réactionnaire ou révolutionnaire ? « Fuenteovejuna face à l’Institution de la réligion chrétienne De Carmen Rivero Abstract By reading Fuenteovejuna in the light of both Spanish and European (especially the French) political discourse,  this study presents a contribution to the debate on the alleged reactionary or revolutionary character of the drama.

Aucune œuvre ne survit à travers les siècles sans critique controversée, et Fuenteovejuna ne fait pas figure d’exception. L’interprétation de l’œuvre dans la première moitié du XXe siècle a fluctué entre deux pôles, représentés par Marcelino Menéndez Pelayo et Joaquín Casalduero. Alors que le premier attribue un caractère politique à l’œuvre,1 le second nie toute intention politique et attribue le seul rôle principal au thème de l’amour.2 C’est la base de la ligne d’interprétation métaphysique ou platonisante menée par Leo Spitzer. Il félicite Casalduero d’avoir été le premier à montrer que la pièce n’avait aucune intention politique ou révolutionnaire, comme le prétendait Menéndez Pelayo. Bien plus, il s’agirait d’un problème métaphysique.3 Pour Spitzer, le dialogue sur l’amour entre les bergers dans le premier acte est d’une importance capitale dans la structure de la pièce, qui commence et se termine par l’harmonie musicale. Lope a ainsi transformé la Fuenteovejuna historique en un lieu hors du temps dans une espèce d’âge d’or. Selon cette interprétation, Fuenteovejuna serait une sorte d’Arcadia dont l’harmonie est perturbée par le Commandeur.4 Dans l’œuvre, cependant, il n’y a pas seulement une confrontation entre 1  Marcelino Menéndez Pelayo, Estudios sobre el teatro de Lope de Vega, Santander 1949, 175. 2  Joaquín Casalduero, » Fuenteovejuna «, Revista de Filología Hispánica V (1943), 21–44. 3  Leo Spitzer, » A central theme and its structural equivalent in Lope’s Fuenteovejuna «, Hispanic Review 23 (1955), 274–292, ici: 274. 4  Ibid., 290–292.

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les forces métaphysiques, comme le fait remarquer Spitzer, mais aussi une confrontation entre les structures sociales.5 Le Commandeur n’est pas seulement une sombre force du désordre,6 mais aussi un tyran. López Estrada souligne le caractère politico-juridique du terme » tyran «, dont l’usage est une variante qu’en fait Lope par rapport à la la Chronique de Rades.7 Ignorer la thèse traditionnelle sur le caractère révolutionnaire semble donc, comme l’affirment Alborg8 et Feito9, beaucoup moins judicieux que de se limiter à celle-ci. Néanmoins, dans les études qui donnent à Fuenteovejuna une signification politique, il y a d’énormes variations en termes d’interprétation entre ceux qui voient Lope comme un penseur réactionnaire10 et ceux qui, au contraire, le voient comme un révolutionnaire qui soutient ouvertement la rébellion du peuple contre l’oppression du tyran.11 Ce travail est destiné à examiner d’abord cette question du même point de vue qui a inspiré les études de Braschi,12 Fiore13, Herrera14 ou Blue15:

5  Anthony Cascardi, Ideologies of History in the Spanish Golden Age, Pennsylvania, 1953, 38. 6  Spitzer, » A central theme «, 290. 7  Francisco López Estrada, » Los villanos filósofos y políticos «, Cuadernos Hispanoamericanos, 238–240 (1969), 518–542, ici: 531. 8  Juan Luis Alborg, Historia de la literatura española, 5 Bde., Madrid 1967, Bd. 2, 318. 9  Francisco E. Feito, » Fuenteovejuna o el álgebra del amor «, in: Manuel Criado de Val (éd.), Lope de Vega y los orígenes del teatro español, Madrid 1981, 391–397, ici: 392. 10  Díez Borque/José María, Sociología de la comedia española del siglo XVII, Madrid 1976, 129–130: » Lope no fue nunca un disidente en materia política ni una naturaleza problemática y me interesa como punto de partida aceptar la calificación de Amado Alonso, que comparto: › Lope ha sido el más grande poeta de la conformidad ‹. Evidentemente no poseía una doctrina política madurada […] por ello la comedia de Lope defenderá siempre el estatismo « ; Geoffrey Ribbans, » Significado y estructura de Fuenteovejuna «, in: José Francisco Gatti (éd.), El teatro de Lope de Vega, Buenos Aires 1962, 91–123, ici: 119. 11  Rudolph Schevill, The dramatic art of Lope de Vega, Berkeley, 1918. 12  Eduardo Braschi, » Fuenteovejuna y la justificación «, Revista de Estudios Hispánicos 1–4 (1972), 89–99. 13  Robert L. Fiore, Drama and Ethos. Natural-Law Ethics in Spanish Golden Age Theater, Kentucky, 1975, 17. 14  Bernal Herrera Montero, » Fuenteovejuna y el maquiavelismo «, Criticón 45 (1989), 131–151, ici: 134. 15  William R. Blue, » The politics of Lope’s Fuenteovejuna «, Hispanic Review 59 (1991), 295–315, ici: 295.



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l’étude du drame à partir de fondements juridico-philosophiques valables à l’époque de Lope. L’approche de Gómez Moriana semble particulièrement utile pour ce projet. Celui-ci ajoute la légitimité de la rébellion à la ligne de pensée qui prend racine avec Aristote, passant par Saint Thomas d’Aquin et se retrouve finalement chez des auteurs comme Suárez, Molina et Mariana, qui approuvent le tyrannicide dans certaines circonstances.16 La première partie du travail sera dédiée à cette question, tandis que dans la deuxième partie, la dimension politique de l’œuvre de Lope sera mise en relation avec la Contre-Réforme. L’objectif sera d’essayer de montrer dans quelle mesure la pièce peut être comprise comme une réplique de l’éthique politique protestante. Considérant que Lope utilise l’Historia General de España de Juan de Mariana comme source de son œuvre, qui est en accord avec Rades en ce qu’il souligne la tyrannie du Commandeur et son soutien à Juana la Beltraneja,17 il est probable qu’il n’ignorait pas le traité du même auteur traitant du tyrannicide. Une analyse intertextuelle révèle en tout cas des similitudes intéressantes entre le traité politique et l’œuvre de Lope. Le traité de Mariana sur la monarchie de 1599 permet avant tout d’établir une distinction claire entre roi et tyran, ce qui évite l’erreur de caractériser les Rois Catoliques comme les figures les plus machiavéliques de l’œuvre, et le Commandeur comme le moins machiavélique.18 Avec cela, il s’éloigne beaucoup de ce que Lope présente réellement dans son œuvre. La singularité du traité politique de Machiavelli est la séparation de l’éthique et de la politique. Lope définit le tyrannique Commandeur19 par contre comme un mauvais chrétien. Laurencia20, tout comme Frondoso, sont surpris d’un tel comportement de la part de quelqu’un qui porte la croix sur sa poitrine et devrait lui rendre justice en tant que bon chrétien.21 16  Antonio Gómez-Moriana, Derecho de resistencia y tiranicidio, Santiago de Compostela/Porto 1968, 24. 17  Blue, » The politics «, 312. 18  Herrera, » Fuenteovejuna y el maquiavelismo «, 143. 19  Aussi lorsque Mariana consacre son traité au monarque, les principes défendus peuvent aussi s’appliquer au bon gouvernement de ses ministres: » Soyez soumis, à cause du Seigneur, à toute autorité établie parmi les hommes, soit au roi comme souverain, soit aux gouverneurs comme envoyés par lui pour punir les malfaiteurs et pour approuver les gens de bien  (1 Pierre, 2: 13–14) «. Dans l’œuvre de Lope, le pouvoir des Rois Catholiques et du Commandeur sont clairement opposés l’un à l’autre. 20  Lope, Fuenteovejuna, v. 811–813. 21  Ibid., v. 829.

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Lope présente le tyran sur la base de caractéristiques similaires à celles de Mariana, qui s’inspire de miroirs princiers chrétiens. Un tyran est celui qui règne avec la luxure, la cupidité, la violence et la cruauté au détriment du bien commun.22 Il n’y a aucun doute sur les actes de luxure et de débauche du Commandeur, que les hommes et les femmes de la ville connaissent et condamnent.23 Laurencia en apporte la preuve lorsqu’elle se plaint du grand nombre de filles de la ville qui ont été déshonorées par le Commandeur.24 Son caractère violent est exprimé à plusieurs reprises. Le maire le désigne comme » muy descomedido « et » guiado por la sinrazón « ;25 Barrildo comme » bárbaro homicida «.26 En ce qui concerne sa cupidité, le maire l’accuse de voler la propriété de ses sujets,27 bien que, selon Mariana, le bon prince chrétien ne peut exiger des impôts excessifs du peuple.28 La cruauté apparaît dans l’œuvre comme l’un des traits les plus caractéristiques du Commandeur. Son manque d’indulgence est évident à d’innombrables occasions, tant chez les hommes que chez les femmes29 qui implorent la miséricorde : MENGO ¡Piedad, piedad, pues sois hombre noble! COMENDADOR … azotadle hasta que salten los hierros de las correas.30

Selon le jésuite Ribadeneira, ce comportement est indigne d’un bon prince chrétien. Il insiste sur le fait que la justice doit toujours être accompagnée de la miséricorde: 22  Juan de Mariana, Del Rey y de la Institución de la Dignidad Real, Buenos Aires 1945, 74. 23  Lope, Fuenteovejuna, v. 937–938. 24  Ibid., v. 193–195. 25  Ibid., v. 1320–1324. 26  Ibid., v. 1485–1486. 27  Ibid., v. 2394–2401. 28  Pedro de Ribadeneira, Tratado de la religión y virtudes que debe tener el príncipe cristiano para gobernar y conservar sus Estados, contra lo que Nicolás Maquiavelo y los políticos deste tiempo enseñan, in: Id., Obras escogidas, Madrid, 449–587, ici: 532–534; Mariana, Del Rey, 79. 29  Lope, Fuenteovejuna, v. 1029–1275. 30  Ibid., v. 1248–1250.



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No hay cosa que haga al hombre más semejante a Dios, como dijo Cicerón, que el perdonar y el dar la vida a los hombres, ni con que los mismos hombres queden más cautivos y aprisionados con cadenas de amor [y] de respeto […] que cuando el príncipe, pudiéndolos castigar, los perdona y les da la vida, mereciendo ellos la muerte; porque no solamente los perdonados quedan obligados a amar y servir al príncipe que les hizo tanta merced; pero todo el pueblo se le aficiona y se admira y alaba aquella clemencia y blandura.31

D’autre part, des dirigeants stricts et rigoureux attirent la haine de leurs sujets, mettant en danger leur propre État et risquant des rébellions populaires.32 Le Commandeur en est un bon exemple, alors que les Rois Catoliques sont des représentants de la position opposée. Le Roi pardonne au Maestre en croyant qu’il a été mal conseillé par Fernán Gómez33 et fait preuve ainsi d’indulgence à l’égard du peuple, sachant qu’ils ont commis un délit très grave.34 Le fait que les Rois catoliques gagnent le soutien de leurs sujets au travers de leur indulgence ne fait pas d’eux des figures machiavéliques, comme le prétend Herrera.35 Celles-ci montrent plutôt un comportement exemplaire d’un prince chrétien, dans lequel c’est l’application de la vertu qui conduit au bien commun. Ce comportement est à son tour souligné avec un Commandeur qui, conformément aux caractéristiques du prince machiavélique, maîtrise l’art de la guerre,36 tandis que le peuple, suivant la tradition du › miroir-princier ‹ chrétien37 demande la paix,38 qui sera donnée finalement par les Rois. La vertu comme jouant un rôle fondamental est en plus soulignée par le fait que le Commandeur tente d’humilier tout le monde, mais surtout par la façon dont le tyran décrit par Mariana cible en premier lieu les citoyens vertueux.39 D’abord sur Frondoso, parce qu’il défend l’honneur de Laurencia; puis sur Mengo, qui essaie de protéger celui de Jacinthe. Enfin, dans le cas d’Esteban, qu’il frappe avec son propre

Tratado de la religión, 546. 548. 33  Lope, Fuenteovejuna, v. 2338–2340. 34  Ibid., v. 2442–2445. 35  Herrera, » Fuenteovejuna y el maquiavelismo «, 147. 36  Lope, Fuenteovejuna, v. 591–594. 37  Klaus Garber, » Der Frieden im Diskurs des europäischen Humanismus «, en: Klaus Garber (ed.), Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion  – Geschlechter –Natur – Kultur, München 2001, 113–144. 38  Lope, Fuenteovejuna, v. 865–867. 39  Mariana, Del Rey, 82. 31  Ribadeneira, 32  Ibid.,

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bâton : » ¿A un viejo palos das? «  — de cette manière, il est accusé par Pascuala.40 Contrairement au bon prince qui, selon Mariana, juge avec sévérité ceux qui violent la propriété et la vie des sujets,41 le Commandeur soutient ceux qui le font, en suivant son exemple. C’est ce que montre la scène où Mengo demande au Commandeur de punir Flores et Ortuño pour avoir essayé de violer Jacinthe et de lui donner la permission de la ramener saine et sauve à ses parents. Au lieu de cela, le Commandeur donne à ses serviteurs la permission de fouetter Mengo.42 Si l’on considère ce qui précède, il ne fait aucun doute que le Commandeur peut être dépeint comme un tyran dans le sens des miroirs princiers chrétiens de l’époque, comme celui de Ribadeneira ou Mariana.43 La tyrannie du Commandeur peut être vue de cette façon dans son manque de miséricorde, sa luxure, sa cruauté et sa cupidité, ainsi que dans sa politique, très éloignée du bien commun, comme le résume le maire Esteban : ALCALDE ESTEBAN La sobrada tiranía y el insufrible rigor del muerto Comendador, que mil insultos hacía, fue el autor de tanto daño. Las haciendas nos robaba y las doncellas forzaba, siendo de piedad extraño.44

Il n’est donc pas surprenant que Laurencia, tout en anticipant l’évolution ultérieure des événements, le compare à Elagabal,45 l’empereur romain qui se caractérise par son fanatisme et sa dévotion à la colère et à ses désirs sexuels,46 et qui a finalement été assassiné par la Garde prétorienne. En agissant en dehors de la loi47 et d’une manière misérable alors qu’il aurait dû le faire de manière exemplaire, le tyran, selon Mariana, inverse Fuenteovejuna, v. 1636. Del Rey, 75. 42  Lope, Fuenteovejuna, v. 1223–1232. 43  Mariana, Del Rey, 75; Ribadeneira, Tratado de la religión, 546. 44  Lope, Fuenteovejuna, v. 2394–2401. 45  Ibid., v. 1175–1176. 46  Gibbon, Edward, The Decline and Fall of the Roman Empire, Middlesex 1960, 71–74. 47  Lope, Fuenteovejuna, v. 1804. 40  Lope,

41  Mariana,



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l’ordre de la République.48 En fait, c’est cette inversion qui soutient toute l’œuvre de Lope. Lope traite un asunto de honor, comme il le recommande lui-même dans son Arte nuevo de hacer comedias.49 Pour le Commandeur, l’honneur est propre exclusivement à la noblesse.50 Néanmoins, l’honneur dans la pièce est un attribut des villageois, car ils se comportent de manière vertueuse, alors que le Commandeur, comme indiqué ci-dessus, donne constamment des exemples d’un comportement peu honorable inapproprié à son titre.51 Ainsi l’honneur n’est pas une question de naissance ou de titre, mais » patrimonio del alma «, comme le dira plus tard Calderón dans la célèbre citation de El alcalde de Zalamea.52 A partir de cela, on comprend le sens de la défense de son père, que Jacinthe formule devant le Commandeur : JACINTA […] porque tengo un padre honrado que si en alto nacimiento no te iguala, en las costumbres te vence. (v. 1260–1263)

L’honneur est donc l’un des éléments qui constituent l’unité thématique de l’œuvre. Il permet de lire la pièce dans le sens de Parker53 comme le développement d’une protestation contre l’attentat à l’honneur collectif du Commandeur. Il ne montre pas à ses vassaux l’amour qu’un père montre à ses enfants, comme le ferait un bon souverain.54 Au lieu de cela, il les méprise55 et les traite comme des esclaves: COMENDADOR Con vos hablo, hermosa fiera, y con esa otra zagala. ¿Mías no sois? Del Rey, 85. Arte Nuevo de hacer comedias, ed. Enrique García Santo-Tomás, Madrid

48  Mariana, 49  Lope,

2006, 149. 50  Julio Matas, » El honor en Fuenteovejuna y la tragedia del Comendador «, en: Manuel Criado de Val (ed.), Lope de Vega y los orígenes del teatro español, Madrid 1981, 385–390, ici: 389. 51  Lope, Fuenteovejuna, v. 811–813; v. 829. 52  Calderón, El alcalde de Zalamea, ed. Jose María Díez Borque, Madrid 1990, v. 873–876. 53  Alexander Parker, » Reflections on a new definition of Baroque drama «, Bulletin of Spanish Studies 119 (1953), 142–151, ici: 144–145. 54  Mariana, Del Rey, 75. 55  Lope, Fuenteovejuna, v. 987–988.

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PASCUALA Sí, señor; mas no para cosas tales.56

Si les femmes n’ont pas d’honneur, les hommes ne peuvent pas non plus le défendre. Ce faisant, Frondoso (ou plus tard Mengo dans une scène parallèle avec Jacinthe), du point de vue du Commandeur, fait une ten­ tative de révolte contre son autorité et contre l’ordre établi au nom de celle-ci: COMENDADOR ¡Que a un capitán cuya espada tiemblan Córdoba y Granada, un labrador, un mozuelo, ponga una ballesta al pecho! El mundo se acaba, Flores.57

Le Commandeur ne permet ni au Maire ni au Conseiller de restaurer l’honneur collectif. En essayant, le Commandeur se réfère à La Politique d’Aristote,58 dans laquelle le philosophe grec affirme l’existence naturelle des seigneurs et des esclaves.59 Si un homme est né esclave, il ne devrait pas se plaindre de sa situation, car l’esclavage est en fin de compte la chose la plus appropriée pour lui.60 L’esclave, comme le souligne le Commandeur,61 est un bien, un être humain en possession d’un autre être humain.62 Dans cette référence critique à Aristote culmine la caractérisation du Commandeur comme tyran63 et en débute la recherche d’une solution au conflit. Le peuple suit exactement les mesures que Mariana propose de prendre dans de tels cas. Cela commence par la distinction habituelle entre un tyran par usurpation et par consentement.64 Lope indique clairement qu’il s’agit d’un tyran par consentement. Dans le premier acte, le Commandeur

Fuenteovejuna, v. 601–604. v. 1044–1048. 58  Ibid., v. 973–976. 59  Aristóteles, Política, trad. Manuela García Valdés, Madrid 1988, 56–57. 60  Miguel Ángel García Mercado, » El problema de la esclavitud en Aristóteles «, Pensamiento 64/239 (2008), 151–165, ici: 159. 61  Lope, Fuenteovejuna, v. 601–604. 62  Aristóteles, Política, 64. 63  Blue, » The politics «, 300–303. 64  Mariana, Del Rey, 98–99. 56  Lope, 57  Ibid.,



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est accueilli par ses serviteurs.65 Des cadeaux et des dons lui sont donnés66 et il remercie ses sujets pour l’amour qui lui a été exprimé.67 Quand un dirigeant devient tyran par consentement, selon Mariana, le peuple doit chercher la voie du dialogue.68 C’est ce que font le conseiller et le maire lorsqu’ils implorent le Commandeur pour une République de Paix.69 Ceci est fait en accord avec les miroirs princiers chrétiens70 comme montré ci-dessus, auxquels le Commandeur répond significativement par la force.71 Si le Commandeur insiste sur sa tyrannie, le peuple selon Mariana devrait le réprimander.72 C’est ce que font le conseiller et le maire.73 Si, cependant, le tyran reste cohérent et stable dans son attitude, le peuple peut le destituer.74 Ceci est fait par le maire qui remet Fuenteovejuna aux Rois catoliques.75 C’est cette scène dans laquelle le Commandeur lui arrache le bâton et le frappe avec, bien qu’il soit un homme plus âgé.76 Ainsi, la tentative d’enlèvement a également échoué. Dans ce cas, selon Mariana, il est permis d’ôter la vie du dirigeant. Les citoyens doivent se rassembler pour chasser le tyran et venger les crimes intolérables du régent.77 Le tyrannicide doit être justifié par une brève consultation au cours de laquelle l’assassinat est justifié comme relevant de la légitime défense.78 C’est ce qui se passe à l’Assemblée, où d’autres solutions possibles au conflit sont d’abord examinées, puis rejetées comme pas réalisables. Si le régent, à ce stade, ignore la République,79 continue à voler les biens,80 à témoigner de peu d’estime pour les lois publiques81 et à se montrer aussi méprisant

Fuenteovejuna, v. 529–533. v. 568. 67  Ibid., v. 545–546. 68  Mariana, Del Rey, 100. 69  Lope, Fuenteovejuna, v. 865–867. 70  Garber, » Der Frieden «, 113–144. 71  Lope, Fuenteovejuna, v. 1012–1015. 72  Mariana, Del Rey, 100. 73  Lope, Fuenteovejuna, v. 971–986. 74  Mariana, Del Rey, 100. 75  Lope, Fuenteovejuna, v. 1619–1630. 76  Ibid., v. 1631–1636. 77  Mariana, Del Rey, 101. 78  Ibid., 101. 79  Lope, Fuenteovejuna, v. 1695. 80  Ibid., v. 2394–2401. 81  Ibid., v. 1785. 65  Lope, 66  Ibid.,

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envers la sacro-sainte religion,82 alors, selon Mariana, il ne pourrait en aucun cas être pardonné. Le Commandeur n’a pas seulement attaqué l’honneur de ses sujets, mais aussi leur vie. Fernán Gómez a déjà ordonné la pendaison de Frondoso, » sin sentencia, sin pregones «83, c’est-à-dire hors la loi, quand la rébellion du peuple commence et apparaît juste à temps pour interrompre la › justice ‹84 du Commandeur. Le tyrannicide est donc exécuté dans le cadre d’une défense légitime, comme le stipule Mariana. Le Commandeur a violé l’honneur du peuple dans son ensemble,85 qui prend donc, en tant que protagoniste collectif, la décision de tyrannicide86 et en accepte également les conséquences en tant que collectif. La mort du Commandeur n’est donc pas le résultat d’une impulsion irrationnelle, comme le prétend Carter,87 mais l’aboutissement d’une série de mesuras antérieures, dont la plupart se retrouvent dans le traité de Mariana. Le tyrannicide ne représente pas une rupture avec la raison et l’ordre, mais plutôt sa restauration après qu’il a été inversé par le Commandeur,88 et ce, par un pouvoir caractérisé par une orientation vers les passions au détriment de la raison et du bien commun. Carter89 attribue également un caractère irrationnel à la décision du peuple, citant l’absence du savant Leonelo à la réunion où le tyrannicide est décidé. Cet argument semble insuffisant si l’on considère, d’une part, que Leonelo, à son retour de Salamanque, nie être un expert en droit90 et, d’autre part, que ses deux seules apartés dans l’œuvre servent à critiquer la défense de l’honneur du peuple, qu’Esteban et le conseiller local expriment à un commandeur manifestement tyrannique.91 Du point de vue de Mariana la mort du Commandeur serait justifiée. Il n’est cependant pas surprenant que les Rois catoliques, qui n’ont pas connaissance des motifs de l’insatisfaction du peuple à l’égard du Com-

82  Ibid.,

v. 811–829; v. 1275–1276. v. 1785. 84  Ibid., v. 1854–1855. 85  Ibid., v. 1667–1668. 86  Ibid., v. 1805–1809. 87  Robin Carter, » Fuenteovejuna and tyranny: some problems of linking drama with political theory «, Forum for Modern Language Studies XII (1977), 313–336, ici: 326. 88  Mariana, Del Rey, 85; Lope, Fuenteovejuna, v. 1804. 89  Carter, » Fuenteovejuna and tyranny «, 328. 90  Lope, Fuenteovejuna, v. 895–899. 91  Ibid., v. 981, 1021. 83  Ibid.,



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mandeur92 et qui reçoivent le rapport du tyrannicide par la main de l’un de ses serviteurs, Flores,93 comprennent d’abord ce meurtre comme une attaque sérieuse contre l’autorité qui appelle une punition exemplaire.94 Fuenteovejuna ne reconnaît que le roi comme seigneur, qui selon Mariana entend à différence du tyran les lamentations de ses sujets.95 Ainsi, Esteban, Frondoso et Mengo présentent les motifs du tyrannicide afin de se déclarer finalement innocents.96 Bien qu’il s’agisse d’un délit grave (après tout, c’était la plus haute autorité publique du lieu à qui on a pris la vie), le roi décide à ce propos pardonner à son peuple.97 La raison donnée par le roi, à savoir que la culpabilité ne peut être attribuée à un seul individu, semble se fonder davantage sur la magnanimité qui caractérise le bon roi par opposition au tyran que sur l’impossibilité d’appliquer la sanction. Le Roi aurait pu punir quelques rebelles pour donner l’exemple à tous, comme le Maestre l’a fait lorsqu’il a conquis Ciudad Real, en ordonnant des décapitations, des bâillonnements et des flagellations publiques.98 Le pardon royal, avec lequel l’œuvre atteint son sommet, légitime la mort du tyran par la main du peuple et  – si l’on va au bout de cet argument – celle du roi lui-même, s’il se transforme en tyran.99 Les rois catholiques acceptent donc dans l’œuvre de Lope un concept de souveraineté qui s’écarte de l’absolutisme monarchique qui était répandu en Europe à cette époque et qui est représenté notamment dans le traité de Bodin, qui donne au monarque un pouvoir illimité.100 Dans le discours politique le différend entre Jacques Ier et Francisco Suarez exprimait de façon paradigmatique cette opposition. Selon Suárez le monarque ne tirerait pas son pouvoir directement de Dieu, mais du peuple.101 Et si ce n’est pas le cas, écrit le philosophe espagnol ironiquement, le roi d’Angleterre devrait prouver quand Dieu, par une apparition ou un signe spécial, l’a choisi lui

92  Ibid.,

v. 691–694. v. 1948–2013. 94  Ibid., v. 2025. Le fait que les rois exigent d’abord la punition pour le tyrannicide du peuple ne signifie pas automatiquement que Lope ne rejette pas la rébellion, comme le fait Carter, » Fuenteovejuna and tyranny «, 330. 95  Mariana, Del Rey, 76. 96  Lope, Fuenteovejuna, v. 2391–2441. 97  Ibid., v. 2445. 98  Ibid., v. 505–511. 99  Blue, » The politics «, 309. 100  Jean Bodin, Les six Livres de la République, Faksimiledruck der Ausgabe Paris 1583, Darmstadt 1961, 122–211. 101  Francisco Suárez, Principatus politicus, Madrid 1965, 26–28. 93  Ibid.,

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ou l’un de ses prédécesseurs comme roi de Grande-Bretagne.102 Il nie également que l’acceptation de l’origine humaine du pouvoir royal entraîne inévitablement des rébellions ou des révoltes parce que le peuple a volontairement transféré son pouvoir au roi et ne peut se rebeller contre celui-ci à moins qu’il ne se transforme en tyran.103 Selon Mariana aussi, l’autorité royale n’est légitime que si elle est tirée du peuple et qu’elle est limitée par celui-ci:104 Finalmente nadie dudará de que en la república reside la potestad para contener los excesos del príncipe si tal vez inficionado con los vicios y perversidad e ignorando el verdadero camino de la gloria quiere mejor ser temido de los súbditos que amado.105

Cette idée trouve son expression littéraire dans l’œuvre de Lope: la république a plus de pouvoir que son propre souverain s’ils participent ensemble au même objet ou à la même idée.106 Par conséquent, selon Mariana, le Souverain ne doit jamais oublier que le pouvoir du peuple est toujours plus grand que le sien et que l’obéissance à celui-ci est invalide s’il statue contre la loi naturelle et positive. Un prince devient illégitime lorsqu’il agit contre le bien commun et contre la volonté du peuple et, dans ce cas, la République peut décider d’un commun accord de le tuer. Mariana écrivit son œuvre en 1599, quelques années après l’assassinat d’Henri III de France, pour signaler à Philippe III, fait roi à partir de 1598, l’affaiblissement du pouvoir, ce qui pour un roi signifierait le manque d’amour de ses disciples.107 Le souverain doit savoir que s’il opprime la république et se rend insupportable et intolérable par ses crimes, il court le risque d’être assassiné.108 Le monarque doit donc à tout prix éviter de devenir un tyran, faute de quoi son sort risque d’être » la muerte de aquellos a los que trata como esclavos «.109 Le travail de Lope peut être compris de la même manière que ce conseil au roi. Bien sûr, souligne Mariana, il n’y a pas de rébellions en Espagne grâce à la bonne conduite des rois.110 Lope reprend aussi cette idée dans Fuenteovejuna en choisissant le Com102  Ibid.,

40. 36. 104  Mariana, Del Rey, 116–120. 105  Ibid., 122. 106  Ibid., 120–121. 107  Ibid., 85. 108  Ibid., 102. 109  Ibid., 83. 110  Ibid., 102. 103  Ibid.,



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mandeur comme tyran et non l’un des ancêtres de Philippe III, dont la caractérisation positive contraste à son tour avec la tyrannie de ses adversaires. Il est important selon ces auteurs que la monarchie espagnole continue cette bonne conduite et évite les erreurs du pays voisin. Le thème du tyrannicide, qui relie les œuvres de Mariana et de Lope, ne peut donc pas être compris en dehors du contexte de la Réforme et de son éthique de l’obéissance.111 Calvin se réfère à Saint-Paul en qualifiant le mépris de l’autorité de péché. Dans la lettre aux Romains, l’apôtre affirme : Que toute personne soit soumise aux autorités supérieures; car il n’y a point d’autorité qui ne vienne de Dieu, et les autorités qui existent ont été instituées de Dieu. C’est pourquoi celui qui s’oppose à l’autorité résiste à l’ordre que Dieu a établi, et ceux qui résistent attireront une condamnation sur eux-mêmes.112

Dans une argumentation similaire, Calvin affirme que si tout le pouvoir venait de Dieu, une rébellion contre le Souverain serait au même temps une rébellion contre Dieu. Même si le Roi est injuste et tyrannique, il reste un représentant de Dieu envoyé pour punir l’humanité de ses péchés: […] ceux qui s’y portent injustement et violentemente sont élevez de lui pour punir l’iniquité du peuple.  Mais les uns et les autres semblablement tiennent la dignité et majesté laquelle il a donné aux supérieurs, légitime. Un mauvais roi est une ire de Dieu sur la terre: […] c’est qu’en un homme pervers et indigne de tout honneur, lequel obtient la supériorité publique, reside néanmoins la même dignité et puissance laquelle notre Seigneur, par sa parole, a donnée aux ministres de sa Justice, et que les sujets, quand à ce qui appartient à la obéissance due à sa supériorité, lui doivent porter aussi grande révérence qu’ils feraient à un bon Roi, s’ils en avoient un.113

Au lieu de se rebeller contre la violence de la tyrannie, un bon chrétien, selon Calvin, devrait réfléchir pendant sa souffrance et dans la prière aux raisons qui pourraient l’avoir amené dans une telle situation: […] si nous sommes cruellement vexés par un Prince inhumain, ou pillés et robés par un avaricieux […] ou méprisés et mal gardés par un nonchalant, si même 111  Luther traite également de la question du tyrannicide dans le cadre de son éthique de guerre (Ob Kriegsleute, 1526). Le pouvoir politique a une origine divine, c’est pourquoi on devrait être sauf quelques exceptions très concrètes obéissant aux supérieurs. Le sujet est un pécheur et n’a pas du moins en principe le droit de se plaindre de sa mauvaise situation, même si c’est la guerre ou la tyrannie. C’est seulement Dieu qui a le droit de punir le tyran (Svend Andersen, Macht aus Liebe. On the Reconstruction of a Lutheran Political Ethic, Berlin/New York 2010, 48–51). 112  Romains, 13:1–7. 113  Jean Calvin, Institution de la religion chrétienne, Genève 2008, 775, Ortographe modernisée.

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nous sommes affligés pour le Nom de Dieu par un sacrilège et incrédule, premièrement réduisons-nous en mémoire les offenses qu’avons commises contre Dieu, lesquelles sans doute, sont corrigés par tels fléaux.114

Le positionnement de Calvin ne peut être compris que dans le contexte des guerres de religion. L’hérésie des anabaptistes avait conduit à des guerres paysannes en Allemagne. Ces paysans avaient humilié et exécuté le comte Ludwig von Helfenstein, le gendre détesté de l’empereur Maximilien Ier, à Weinsberg en 1525 dans un événement historique similaire à ce décrite par Lope à Fuenteovejuna. Calvin se distanciera donc des anabaptistes et proposera cette » éthique de l’obéissance « pour gagner le roi et les princes et seigneurs du royaume de France au protestantisme.115 Si l’on considère le contexte européen de l’époque, l’œuvre de Lope ne peut être comprise comme un simple rappel au monarque des dangers qui pourraient se cacher sous son règne. En même temps, elle peut aussi être comprise comme un éloge de la liberté dont jouissent les sujets du Roi en Espagne pendant la Contre-Réforme, si l’on compare cela avec les droits que la Réforme accorde aux sujets du pays voisin. Revenons à la question initiale: Lope est-il un penseur réactionnaire ou le révolutionnaire qui, selon Menéndez Pelayo,116 écrit l’œuvre la plus démocratique du théâtre espagnol? Ma réponse est: ni l’un ni l’autre. Lope défend une vision de la monarchie dont le pouvoir est clairement limité par le peuple. Cela se fait en accord avec les traités politiques des jésuites de son temps, ce qui contribue à une importante modernisation du concept de souveraineté117 par rapport au discours politique européen de l’époque.118 Lope ne peut 114  Ibid. 115  Seulement quand le Roi agit contre les commandements de Dieu, nous devrions selon Calvin obéir à Dieu plutôt qu’à l’homme. Néanmoins, cela ne signifie pas que Calvin puisse être appelé apôtre de la résistance contre la tyrannie, puisque la désobéissance doit toujours être passive et que la victime de la tyrannie non religieuse n’est pas autorisée à prendre les armes. On est plutôt obligé de résister à l’oppression dont on est victime plutôt que d’essayer d’y mettre fin soi-même (Jules Racine St-Jacques, L’honneur et la foi. Le droit de résistance chez les Réformés français (1536–1581), Genève, 2012, 38–48). 116  Borque/María, Sociología de la comedia española, 129–140. Amando Carlos Isasi Angulo, » Carácter conservador del teatro de Lope de Vega «, Nueva Revista de Filología Hispánica XXIII (1973), 265–279, ici: 271. 117  Nous nous écartons donc du désaccord que Serrano voit entre le conformisme des traités politiques de l’époque et le non-conformisme dans le travail de Lope (Carlos Serrano, » Méthaphore et idéologie: sur le tyran de Fuenteovejuna de Lope de Vega «, Les langues néo-latines: revue des langues romanes LXV [1971], 31–53, ici: 52). 118  Bodin, Les six Livres de la République, 211.



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donc pas être facilement et de manière réductrice décrit comme un réactionnaire.  Mais il n’est pas non plus le révolutionnaire démocratique que Menéndez Pelayo voit en lui.119 Le pouvoir ne passe pas du monarque au peuple, comme ce serait le cas dans la transition vers un régime démocratique. Le peuple finit par se rendre au monarque et ne retrouve pas le statut d’acteur libre comme il est de coutume en démocraties.120 L’œuvre représente donc définitivement un éloge de l’ordre social établi par la Contre-Réforme. Cela garantit pour lope, comme il essaie de le montrer dans Fuenteovejuna, une plus grande liberté que dans les pays de la Réforme.

119  Menéndez Pelayo, Estudios, 175. Cela se retrouve également dans l’interprétation d’Alborg: » Se ha discutido muchas veces si Fuenteovejuna es un drama revolucionario. Lo es sin duda alguna «. (Juan Luis Alborg, Historia de la literatura española: Época barroca, Madrid 1970, 317). 120  Charles Taylor, »  Why we need a radical redefinition of secularism «, in: Eduardo Mendieta et al. (éds.), The power of religion in the public sphere, New York 2011, 34–59, ici: 43.

Provecho e interés. El pensamiento económico entre las narrativas picarescas y la Ilustración. Aproximación a una historia conceptual continuada desde el Siglo de Oro hasta la Ilustración. De Jan-Henrik Witthaus Abstract The category of interest has formed part of the economic discourse since the 17th century and in this context adopts a variety of meanings, for instance the interest of credits or the individual advantages of a business or a contract. Conceptual history, however, points out that this concept has a strategic function within the introduction of economic sciences in the Enlightenment: the sublimation of passions which turns them into economic interests and which helps to improve the mutual treatment of human beings in society. The following article provides a short overview showing the evolution of the category of interest from the picaresque literature to the treaties and articles published in the context of the first liberalism in Spain that is to say the second half of the 18th century.

I. La categoría del interés en la literatura picaresca La consideración del interés particular puede ser un ingrediente esencial en recetas para el éxito. Sin embargo, visto tal interés desde una perspectiva más general, del mismo modo puede ser caracterizado como una problemática base de cohesión social. Estos dos mensajes nos llegan desde la tradición picaresca. El primero nos lo transmite el narrador de la Vida de Lazarillo de Tormes, que refiere una historia de un individuo con moderado éxito, que para el protagonista tiene, sin embargo, un precio muy alto: el cotilleo que se desata en razón de la supuesta menage à trois en su propia casa. El qué dirán le molesta poco, su divisa es otra máxima que recibe de su madre y que él mismo repite en el último capítulo: »amarrarse a los buenos, por ser uno dellos […].«1 Aquí se articula no solamente la búsqueda del provecho individual, sino que se presupone un modelo 1  Anónimo,

Lazarillo de Tormes, ed. Francisco Rico, Madrid 2002, 15.

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social dudoso, ya que se da el consejo de que, para perseguir el interés particular, es preciso relacionarse con los individuos sociales que forman parte de un estamento social superior o que, por lo menos, disponen de más medios económicos para mejorar la situación del sujeto interesado. Este deseo de escalada social se despliega ampliamente en otra novela picaresca, a saber, en el Buscón de Quevedo. Aun cuando la misma narrativa se halla en nuce ya en al Lazarillo, es necesario, no obstante, advertir que en en esta novela anónima el vocablo interés no aparece. En el Guzmán de Alfarache, en cambio, dicha noción y sus variantes gramaticales o semánticas se repiten con frecuencia. Aquí el interés representa una categoría de la sátira social y mediante esta se nos comunica que se trata de un nexo fatal entre los individuos. Así pues, cuando Guzmán medita sobre su padre, que fue un usurero, se permite una precisa digresión: Que en materia de interés -por lo general, de quien siempre voy tratando, sin perjuicio de mucho número de nobles caballeros y gente grave y principales, que en todas partes hay de todo-, diré de paso lo que en algunos deudos de mi padre conocí el tiempo que los traté. Eran amigos de solicitar casas ajenas, olvidándose de las propias; que se les tratase verdad y de no decirla; que se les pagase lo que se les debía y no pagar lo que debían; ganar y gastar largo, diese donde diese, que ya estaba rematada la prenda y -como dicen- a Roma por todo.2

Es sumamente instructivo que en este apartado se aplique la noción de interés no en el propio sentido del dinero que se carga como coste de los créditos.3 El sujeto con intereses no es el padre de Guzmán, sino que lo son justamente los deudores que deberían pagar los intereses de sus deudas, pero siguen en cambio sus propios intereses en un sentido más amplio. Estos sujetos con intereses dañan al colectivo por faltar a la reciprocidad del trato social. Esperan un determinado comportamiento, sin cumplir a su vez con una postura correspondiente. Esperan que se les 2  Mateo Alemán, Guzmán de Alfarache, ed. José María Micó, Madrid 2000, t. 1,132 y ss. 3  Véase Sebastián de Covarrubias, Tesoro de la lengua castellana, Madrid 1674, 79d. Aquí se hace hincapié en el significado económico de la palabra, que dentro de un sistema de valores cristiano resulta ser muy problemático. En cambio, en el tratado Suma de tratos y contratos (1569) Tomás de Mercado ofrece una interpretación benévola del negocio y de la vida económica: »Digo que en las mercadurias necesarias se ha de tener respeto principalmente al bien común y también, secundariamente, a la ganancia de los mercaderees, para que, con el cebo de interés y gusto, insistan y trabajen mejor en proveer la ciudad.« (Suma de tratos y contratos, ed. Nicolás Sánchez-Albornoz, Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes [fecha de consulta: 7–10 2015] .



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diga la verdad, pero mienten. Piden dinero, pero no pagan. Se alojan en casas ajenas, pero no ofrecen las suyas. Así, en este párrafo, el interés se presenta como el elemento de una economía perturbada, que se introduce en el justo intercambio de los actores sociales. A partir de ahí, en la tradición picaresca la categoría del interés se enmarca en la sátira de los representantes de los estamentos sociales. Con frecuencia se tematiza, por ejemplo, la codicia de los médicos, como en el cuarto capítulo del Guzmán: »tiene tres caras el médico: de hombre, cuando lo vemos y no lo habemos menester; de ángel, cuando dél tienen necesidad; y de diablo, cuando se acaban a un tiempo la enfermedad y la bolsa y él por su interés persevera en visitar.«4 Son numerosos los tipos sociales que se ven reflejados en las novelas picarescas. Se satiriza a los representantes del clero, a los escribanos o abogados, o a los poetas o a los comediantes. En varios casos los términos interés o provecho indican soborno y corrupción. Así en el Buscón, cuando Pablos está en la cárcel y provee al carcelero con dinero para que le ayude y le saque del calabozo, éste pide más para acallar y satisfacer a otros personajes implicados en el trato como, por ejemplo, al alcaide: »Ahorre de pesadumbre, que con ocho reales que dé al alcaide, le aliviará; que esta es gente que no hace virtud si no es por interés.«5 La virtud ya no se ejerce de por sí, sino con el refuerzo del interés monetario. Los comediantes y autores de comedia se guían por la misma máxima. Por el interés económico se plagian las comedias ya existentes, se descomponen y se aprovechan las partes obtenidas para obras desafortunadas: Confesóme [el compañero poeta] que los farsantes que hacían comedias todo les obligaba a restitución, porque se aprovechaban de cuanto habían representado, y que era muy fácil, y que el interés de sacar trescientos o cuatrocientos reales les ponía aquellos riesgos […].6

No obstante, en la novela picaresca el tema del teatro es tratado en un sentido más amplio y, como ya leemos en el célebre manual de Ernst Robert Curtius,7 se expande al campo total de la interacción social. Como ha demostrado Urs Urban en un artículo bastante reciente, el interés particular y la disimulación como comportamiento social se dan la maAlemán, Guzmán de Alfarache, t. 1, 177. de Quevedo, La vida del Buscón, ed. Fernando Cabo Aseguinolaza, Barcelona 1993, 178. 6  Quevedo, La vida del Buscón, 211. 7  Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen 1993, 148–154. 4  Mateo

5  Francisco

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no.8 Así, por ejemplo, aproximadamente al comienzo de la obra de Alemán, Guzmán invierte su dinero en su vestimenta, para impresionar a unas señoras supuestamente provenientes de estamentos sociales superiores. Los medios financieros se presentan como inversión en el propio beneficio futuro y, al mismo tiempo, fundamentan una interacción distorsionada por el engaño. A este respecto, Guzmán es influido por el aspecto espléndido de un galán con quien se topa en las calles de Toledo: »El vestido del hombre me puso codicia y, como el dinero no se ganó a cavar, hacíame cocos desde la bolsa. […] Fuime de allí a la tienda de un mercader, saqué todo recaudo, llamé un oficial, corté un vestido […].«9 Al final los intentos de Guzmán van a fracasar, pero solamente porque los otros resultan ser más listos y más experimentados en ese juego social, que en el Siglo de Oro es denominado engaño. Cabe resumir que en la tradición narrativa de la literatura picaresca la noción del interés y sus isotopías semánticas forman parte de un análisis social crítico. Se observa no solamente la depravación moral de los individuos, sino que se alude además a la pérdida de valores de índole ética, lo cual llega a tener serias consecuencias en cuanto a la cohesión social y la coexistencia entre los representantes de los grupos sociales. Bien es cierto que el comportamiento del antihéroe resulta ser justificable ante un panorama social en el cual reina la corrupción y el engaño, de manera que en este contexto social la astucia del pícaro puede ser caracterizado como una variante de »autoafirmación« o bien una »afirmación subversiva«.10 Sin embargo los protagonistas picarescos –aún cuando los textos en cuestión contengan esta intención– no logran aportar un serio modelo de comportamiento social, sin que más bien se convierten en porta­voces irónicos de la crítica social.

8  Urs Urban, »Tausch und Täuschung. Performative Kompetenz als Grundlage ökonomisch erfolgreichen Handelns im spanischen Pikaro-Roman«, en: Beatrice Schuchardt/Urs Urban (eds.), Handel, Handlung, Verhandlung. Theater und Ökonomie in der Frühen Neuzeit in Spanien, Bielefeld, 2014, 161–177. 9  Mateo Alemán, Guzmán de Alfarache, t. 1, 342. 10  Véase Hans Gerd Rötzer, Der europäische Schelmenroman, Stuttgart 2009, 32– 53; Hans Blumen­berg, La legitimidad de la edad moderna, trad. Pedro Madrigal, Valencia 2008, 125–227.



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II. La categoría del interés y la reflexión moralista e n el siglo XVIII Así se hace patente que en la tradición picaresca encontramos un corpus de textos en los que se transmite una serie de categorías relevantes para la crítica social. Habría que seguir estas pistas, que se hallan en las novelas mencionadas, a través de la segunda mitad de la época barroca. Lo cierto es que en el siglo XVIII observamos dos tendencias, en primer lugar la continuación de la crítica moralista que a veces se convierte en sátira social,11 así por ejemplo, en la prensa de los llamados Espectadores que aparecen en la segunda mitad de la centuria. Es decir, lo que se observa durante la Ilustración es que se recoge el potencial moralista de la picaresca y que se lo adapta al discurso dieciochesco. En segundo lugar se advierte la revaloración de la categoría del interés siempre y cuando se trate del provecho o el progreso de un colectivo o de una nación. En este sentido es muy usual la noción del bien común, que representa un criterio imprescindible en el discurso de la utilidad, tan transcendental en el contexto de la Ilustración.12 Para ejemplificar la primera tendencia conviene traer a colación la defensa de las órdenes monásticas que encontramos en el Teatro crítico universal de Benito Jerónimo Feijoo –obra clave de la temprana Ilustración en España–. Aquí, en el artículo sobre la »Verdadera, y falsa urbanidad«13 el padre benedictino impugna el lugar común de que los frailes son personas menos obligadas a las exigencias del honor entendido como

11  En cuanto a la crítica moralista en la novela picaresca véase Christian Wehr, »La vida de Lazarillo de Tormes und die Form der Individualität im Roman«, en: Christoph Ehland/Robert Fajen (eds.), Das Paradigma des Pikaresken, Heidelberg 2007, 25–43. 12  Acerca de la felicidad y de la felicidad pública véase Pedro Álvarez de Miranda, Palabras e ideas. El léxico de la Ilustración temprana en España, Madrid 1992, 275– 283; Beate Möller, »Das Konzept der felicidad zwischen Affekt und Ökonomie in der spanischen Literatur des 18. Jahrhunderts«, en: Susanne Schlünder/Andrea Stahl (eds.), Affektökonomien. Konzepte und Kodierungen im 18. und 19. Jahrhundert, Paderborn 2018, 241–258. En cuanto a las conexiones entr la estética y las teorías sociales véase Konstanze Baron, »Ökonomien der Anteil­nahme. Das Interesse als Schlüsselbegriff der Ästhetik des 18. Jahrhunderts«, en: Susanne Schlünder/Andrea Stahl (eds.), Affektökonomien. Konzepte und Kodierungen im 18. und 19. Jahrhundert, Paderborn 2018, 151–168. 13  Benito Jerónimo Feijoo, »Verdadera y falsa urbanidad«, en: Benito Jerónimo Feijoo, Teatro crítico universal, tomo 7, Madrid, 1778 [fecha de consulta: 27-072017] .

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norma social. A este respecto añade una explicación sobre el sentido de la verdadera hombría de bien. El motivo, porque ordinariamente los hombres cometen acciones ruines, es la nimia adhesión a los propios intereses. Falta éste al amigo, aquél al pariente, el otro al bienhechor, porque les tira más el propio interés, que la amistad, que la gratitud, que el parentesco. Ahora bien: es manifiesto, que el interés propio tiene más fuerza en los más de los Seculares, que en los Religiosos. Todos los casados encuentran a cada paso un gran estorbo para obrar con generosidad, en la atención que tienen al interés de su consorte, y de sus hijos: tropiezo de que carecen los Religiosos, y demás Eclesiásticos. ¡Cuántos, si no tuviesen otro motivo de interés, que el de la propia persona, le abandonarían bizarramente por obrar conforme a las leyes del pundonor; pero las conveniencias de la mujer, y de los hijos, los arrastran, y obligan a ejecutar alguna ruindad, que sin ese atractivo no ejecutarían!14

Es cierto que la sátira en Feijoo está influida estilísticamente más bien por el pen­samiento moralista del clasicismo francés. No obstante, aquí la crítica articula un punto de vista puramente religioso. Se recogen ahí las reservas de la propia tradición en cuanto al interés y se despliega el potencial de análisis social a que se apuntaba ya en los textos picarescos del siglo anterior. En el párrafo citado se hace patente que el interés es un principio de cohesión social que meramente funciona a un nivel horizontal. No sólo impulsa la interacción económica, incluso de forma fraudulenta y traicionera, en cuanto al prójimo que puede ser amigo, pariente o bienhechor. Asimismo, en este lugar se critica la mala influencia de las familias en las sociedades, como núcleos de la cohesión colectiva en que se concentran pequeños grupos que incorporan intereses individuales. Justamente por el celibato, los frailes carecen de un entorno familiar y mantienen su independencia. Feijoo no sólo defiende a los monjes de las acusaciones que ponen en evidencia su falta de honradez y comportamiento. Es preciso añadir que lo que se critica aquí es la secularización de ciertas estructuras sociales coe­ táneas de Feijoo, secularización que se lleva a cabo por relaciones atadas por los intereses y los lazos de parentesco. Se lamenta el reemplazamiento de una orientación vertical y transcendente por una red de relaciones totalmente horizontales. Utilizando las palabras del historiador del derecho Pierre Legendre se puede decir: »Nous sommes entrés dans l’ère de la communication binaire et de la quantification des rapports duels […].«15 14  Benito

Jerónimo Feijoo, »Verdadera y falsa urbanidad«. Legendre, »Sur la question dogmatique en Occident. Aspects théoriques«, Paris 1999, 41s. No obstante, para Legendre la era de la comunicación binaria representa una ilusión que tiene su fundamento en el olvido de las estructuras comunicativas dogmáticas que siempre van a través de terceras instancias, bien que estas 15  Pierre



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En esta línea de pensamiento se continúa la valoración negativa de la noción del interés, y se refuerza esta connotación con adjetivos como particular o individual. En cambio, el atributo de desinteresado cobra un significado positivo, que se asocia al campo semántico de la imparcialidad y por tanto afecta al juicio individual. Además, con ello se alude a la falta de egoísmo, y al altruismo. Así, por ejemplo, curiosamente en la Vida de Torres Villarroel, al comienzo, cuando ofrece su autorretrato, se perfila como una persona que ha »conservado un aborrecimiento espantoso a los intereses, honras, aplausos […].«16 Posteriormente, cuando discurre sobre sus enfermedades, destaca »que a los médicos que me asistían debí una piedad cristiana imponderable, una aplicación oficiosa a mis alivios y un deseo muy desinteresado de mi salud […].«17 Cabe añadir otro párrafo sumamente ilustrativo, que hemos encontrado en el Lazarillo de Ciegos Caminantes, donde el personaje Concolorcorvo defiende al colonialismo español y lo caracteriza por su abnegación y altruismo,18 poniendo en evidencia la alternativa que, según este personaje, al final no fue el modelo elegido por los españoles, con lo cual se opone las obras éticas a las obras económicas: […] porque si los españoles, siguiendo el sistema de las demás naciones del mundo, hubieran ocupado los principales puertos y puestos de estos dos grandes imperios con buenas guarniciones, y tuvieran unos grandes almacenes surtidos de bagatelas […], y dejasen a los incas, caciques y señores pueblos en su libertad y ejerciendo abominables pecados, lograría la monarquía de España sacar de las Indias más considerables intereses.19

Como en el caso del texto redactado por Feijoo, citado más arriba, a través de estas palabras de Concolorcorvo, el lector puede formarse una idea posible de qué quiere decir concretamente »secularización«20: una instancias en la época moderna son distintas de las que hemos heredado de la Edad Media. 16  Diego de Torres Villarroel, Vida, ed. Dámaso Chicharro, Madrid 1990, 96. 17  Torres de Villarroel, Vida, 261. 18  Dejamos al lado la cuestión de la verdadera autoría del Lazarillo de Ciego Caminantes, dado que en nuestro contexto no tiene importancia. 19  Concolorcorvo, Lazarillo de Ciegos Caminantes, Buenos Aires 1942 [fecha de consulta: 28-08-2017]: . Ver específicamente el capítulo 16. 20  Como telón de fondo de la discusión véase Blumenberg, La legitimación de la edad moderna, 13–124.

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interacción no regulada ni reglamentada por una tercera persona, instancia o institución que imponga las normas para dicha interacción21. La visión de una colonización española de América sometida únicamente a criterios económicos –visión aquí criticada– se aleja de lo que supuestamente ocurrió: una colonización guiada por las máximas de la religión cristiana y por la exigencia de la misión, guiada por instancias que pueden adquirir el valor del Gran Otro, el emperador, el papa, Dios. III. El interés como categoría económica22 El reformismo borbónico se caracteriza por una apropiación considerable del discurso económico. Dentro del catálogo de las medidas que se emprenden para fomentar el adelanto de la nación, la economía obtiene una posición central. Esta instauración de discurso que se flanquea con publicaciones de Gerónimo de Uztáriz, de Juan Enrique Graef y de Bernardo Ward y más adelante con tratados de Francisco Cabarrús, Valentín de Foronda y Gaspar Melchor de Jovellanos, lleva a contradecir otras ideologías, todavía influyentes en el pensamiento dieciochesco.23 Así podría ser mencionada la discusión sobre el lujo, que en el pensamiento moralista de la época frecuentemente es considerado como vicio, pero en contextos económicos suele ser elogiado como fomento de la industria y de las exportaciones.24 La categoría del interés conlleva un idéntico potencial de conflictividad. No obstante, la emergencia del discurso económico posibilita su uso neutral o incluso positivo, por ejemplo cuando se habla de ferias y mercados, en que se juntan los »interesados en ventas y compras«, como en el Lazarillo de Ciegos Caminantes.25 Una de las precondiciones relevantes para la rehabilitación del interés es la que repre­ senta la noción del bien común. El bien común puede ser considerado como una especie de interés colectivo. A medida que llega a 21  Véase Pierre Legendre, »Sur la question dogmatique en Occident. Aspects théoriques«, 23–73. 22  Véase Jan-Henrik Witthaus, »El hombre económico: La España ilustradada entre el mercader honrado y el liberalismo«, en: Christoph Strosetzki (ed.), El poder de la economía: la imagen de los mercaderes y el comercio en el mundo hispánico de Edad Moderna, Madrid 2018, 327–352. 23  Véase Pere Molas Ribalta, »Economía, Política, Derecho«, en: Francisco Aguilar Piñal (ed.), Historia literaria de España en el siglo XVIII, Madrid 1996, 915–964. 24  Véase como ejemplo una de las Cartas Marruecas de José Cadalso, ed. Russel P. Sebold, Madrid, 2000, 245–249 [carta 41]. 25  Véase el capítulo 3 del Lazarillo de Ciegos Caminantes.



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ser un objetivo político prioritario, la sociedad se convierte en un público virtual, en una especie de Gran Otro, ante el cual se realizan las transacciones económicas. El bien común no solo significa un ideal político, sino además un concepto que produce cierta presión social.26 Otra vez citando a Pierre Legendre, se puede decir que las ideologías reemplazan instancias más antiguas (el emperador, Dios etc.): »Les idéologies sont en fait des substituts sécularisés de la théologie politique et du système de croyance chers à l’Occident.«27 Para uno de los representantes importantes del pensamiento económico, Juan Enrique Graef, el gobierno representa la instancia que tiene que coordinar los intereses del pueblo con el bien común. El término del interés es integrado en el vocabulario de la política y da testimonio de su gran conyuntura.28 En este sentido leemos en la revista titulada Discursos Mercuriales y publicada por Graef de 1752 a 56,29 la siguiente observación: El gobierno que sabe unir constante e inseparablemente los intereses del pueblo con los de la Corona obliga a que éste le sea favorable en cualquier suceso y se ofrezca para ejecutar las cosas más arduas en beneficio de todos.30

La Corona, según esto, se ve en la obligación de sintetizar »los intereses del pueblo« para destilar el »beneficio de todos«. Los intereses particulares, en cambio, resultan ser dañosos para la nación y deben ser incorporados en un esfuerzo común. Bien sé que tal vez me dirán que […] la comodidad y bien particular es el único objeto que debe desvelar a los hombres. ¡Bella moral! Los maquiavelistas teóricos la enseñan; los maquiavelistas prácticos la demuestran en su modo de vivir y de acumular riquezas.31

En este párrafo se expresa un considerable centralismo, pues se entiende que la economía de la nación debe ser regulada, que no puede funcionar 26  Véase en este contexto el cuarto discurso (1781) del periódico El censor, donde se hace palpable la presión social que se intenta ejecer en cuanto a la nobleza ociosa. 27  Legendre, »Sur la question dogmatique en Occident. Aspects théoriques«, 59. 28  Véase Albert O. Hirschman, The Passions and the Interests. Political Arguments for Capitalism before its Triumph, Princeton 1997. 29  Véase Jan-Henrik Witthaus, »Los Discursos Mercuriales de Juan-Enrique Graef. Acerca de la constitución de la esfera pública a mediados del siglo VIII«, en: M. E. Cantos Casenave (ed.), Redes y espacios de opinión pública. De la Ilustración al Romanticismo. Cádiz, América y Europa ante la Modernidad, Cádiz 2006, 51–65. 30  Juan Enrique Graef, Discursos mercuriales, ed. Francisco Sánchez-Blanco, Sevilla 1996, 207. 31  Ibid., 203 (cursiva en la versión original).

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por sí sola sin que se desate una dinámica perjudicial que lleva a la acumulación de dinero privado. Creemos que la noción del bien común, tan importante en la revista de Graef, representa un concepto que en numerosos discursos dieciochescos ejerce una influencia dominante, especialmente cuando se ve afectado el comercio, que se considera como ciencia. Hasta la recepción del liberalismo en España a finales del siglo, el bien particular o los intereses individuales parecen ser problemáticos y se les percibe como en las antípodas del bien común. En el último cuarto del siglo los ilustrados Foronda y Jovellanos se encargan de difundir las tesis del liberalismo, que se expresan en las obras del Adam Smith. Ahora se hace posible pensar que se llega a la felicidad pública, si cada uno persigue su interés particular. Si antes el bien común podía conceptualizarse como una instancia de presión social, como la otra cara del individuo económico, ahora es caracterizado incluso como pretexto del gobierno para obstruir toda dinámica comercial.32 En el Informe sobre la ley agraria Jovellanos destaca la categoría del interés particular como un atributo fundamental del ser humano que este recibe de Dios. A este sagrado interés debe el hombre su conservación, y el mundo su cultura. Él solo limpió y rompió los campos, descuajó los montes, secó los lagos, sujetó los ríos, mitigó los climas, domesticó los brutos, escogió y perfeccionó las semillas y aseguró en su cultivo y reproducción una portentosa multiplicación a la especie humana.33

En este lugar el interés se presenta como el motor de la historia de la civilización. Bien es verdad que los intereses particulares necesitan ser armonizados para generar el progreso social. Sin embargo, según el pensamiento liberal esta reconciliación de intereses se efectúa naturalmente. Cuanto menos intervenga el gobierno, según esto, mayor será el beneficio de todos. Así, el bien común parece ser un resultado a que se llega por la propia dinámica de las cosas.

32  Véase por ejemplo el párrafo siguiente, que se encuentra en las Cartas económicas de Valentín de Foronda (citado por Cristóbal Cladera, Espíritu de los mejores diarios literarios que se publican en Europa, Madrid 1787, 593 f.): »De ningun modo exîja Vm. de sus vasallos que empleen sus caudales de este ó de aquel modo, baxo el especioso pretexto del bien público, pues en este caso ya no son dueños absolutus de sus haveres sino unos admi­nistra­dores espuestos al arbitrio de otro.« 33  Gaspar Melchor de Jovellanos, Espectáculos y diversiones públicas; Informe sobre la Ley Agraria, ed. Guillermo Carnero, Madrid 1998, 243.



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IV. Conclusión En estos últimos párrafos, tomados del Informe sobre la ley agraria de Jovellanos, se intenta una justificación fundamental de la interacción económica, que desde la tradición picaresca hasta la reflexión moralista del siglo XVIII y los tratados económicos representa un objeto de rechazo y sospecha. Se convierte en un elemento central de la sátira de los estamentos y tipos, que en otras formas y otros géneros vuelve en el siglo XVIII. Es cierto que el liberalismo, descrito en el célebre estudio de Antonio Elorza,34 distingue entre las formas legítimas del comercio por un lado y el engaño y la corrupción por el otro. Sin embargo, no cabe duda de que, en cuanto al comercio, el espacio de maniobra se expande. La categoría del interés particular es rehabilitada, y –como indica de modo negativo el párrafo tomado del Teatro crítico universal de Feijoo– esta transición se realiza ante el telón de fondo cultural que denominamos secularización. En Jovellanos los fundamentos conceptuales son religiosos, pero lo que se concluye de ahí, es una antropología que implica a un ser humano, que si es criatura de Dios, del mismo modo representa un ser económico que en el juego social de los intereses personales enriquece a la comunidad en su totalidad, comunidad que, a su vez, resulta ser la instancia imaginaria del futuro decimonónico ante la cual se desenvuelve cada actividad política o actividad políticamente relevante. Al profundizar el estudio de los géneros literarios mencionados en este lugar y al ampliar los corpus respectivos se obtendrían ciertamente resultados sumamente reveladores. Sería instructivo asimismo –perspectiva que no hemos podido abordar en este artículo– observar las conexiones que pueden trazarse entre los debates sobre las bellas artes y las bellas letras por un lado y los textos económicos citados arriba por el otro. Teniendo en consideración tan sólo el interesante dato de que Immanuel Kant en su Crítica del juicio separa del interés la satisfacción que subayace al juicio del gusto, se entreverá que tal estudio sin duda aportaría nuevos aspectos a la cuestión de cómo se relacionan los pensamientos económicos y estéticos en el siglo dieciocho.35

34  Véase Antonio Elorza, La ideología liberal en la Ilustración española, Madrid 1970. 35  Véase Karlheinz Stierle, »Diderots Begriff des ›Interessanten‹  «, Archiv für ­Begriffsgeschichte 23/1 (1979), 55–76; Konstanze Baron, »Ökonomien der Anteil­ nahme«.

Das ›Goldene Zeitalter‹ im modernen Spanien Zur Wirkmächtigkeit und Problematik eines kulturellen und literarischen Kanons1 Von Stefan Schreckenberg Abstract Speaking of a ›Golden Age‹ or a Siglo de Oro in reference to Spanish history, culture and literature transforms an ancient myth into a historiographical concept, which seems rather problematical, even contradictory, and at the same time, seen in a wider European context, exceptional. Nevertheless, the Siglo de Oro is still being used not only as a key term in contemporary academic works  – inside and outside Spain – on the Early Modern period, but also as a highly controversial idea in political and ideological debates, especially on behalf of what may or may not be Spanish identity. This article seeks to give a brief overview of the discussions that try to define the concept of the Siglo de Oro and to present the literary canon as well as the ideological implications linked to it. Starting in the aftermath of the epoch itself, in other words the 18th century, it focuses on the convergence of the political and aesthetical discussions that oppose the ›Two Spains‹ during the 20th century in terms of how to choose and interpret their ›classics‹. Finally, it tries to give a (necessarily incomplete) view on the actual situation, where the Golden Age myth still interferes not only in literary but also in socio-political debates.

I. Einleitung Die sogenannte »Schwarze Legende« (Leyenda negra), also die antispanische Propaganda in der Frühen Neuzeit aus meist englischer oder französischer Feder, präsentiert das katholische Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts als Hort der Intoleranz, Repression und Rückständigkeit 1  Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um die erweiterte Fassung eines Vortrags in der Sektion Empfehlung und Verbot  – Kanon und Zensur bei der 119. Generalversammlung der Görres-Gesellschaft im September 2016 in Hildesheim.

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und als Mutterland der Inquisition. Bei den Glaubensgerichten der Inquisition konnten im schlimmsten Fall Menschen, aber nicht selten eben auch Bücher verbrannt werden. 1834 wurde die spanische Inquisition zwar offiziell abgeschafft. Die fatale Verquickung von staatlicher und kirchlicher Zensur wiederholte sich rund 100 Jahre später jedoch noch einmal während des fast vier Jahrzehnte dauernden Franco-Regimes, das sich selbst als ›national-katholisch‹ definierte. Im Zentrum der folgenden Überlegungen soll aber nicht die Zensur, sondern ihre Kehrseite, der Kanon, stehen. Jede Zensur bedarf des Kanons. Denn die Aufgabe der Zensurbehörde besteht bekanntlich darin, Häresien zu bekämpfen, also die Abweichung von der wahren Lehre zu verhindern, die wiederum in kanonischen Schriften niedergelegt ist. Wie ein Blick in den Duden zeigt, versteht man unter Kanon  – abgesehen von der musikalischen Bedeutung  – im Wesentlichen dreierlei: die Gesamtheit der für einen bestimmten Bereich geltenden Regeln; die Liste mustergültiger Autoren und Werke; schließlich, im engeren theologischen Sinne, die Liste der für verbindlich erklärten biblischen Schriften. Kanonisierte Texte sind solche, denen man Glauben schenken kann, sei es im Sinne einer moralischen oder einer ästhetischen Norm. Texte, die gegen die moralische Norm verstoßen, werden verboten. Texte, welche nicht den ästhetischen Normen entsprechen, gelten als minderwertig, werden aussortiert und fallen dem Vergessen anheim. Eng verknüpft mit der Idee eines literarischen Kanons ist die Vorstellung einer Klassik und von Klassikern.2 Die meisten Gesellschaften definieren für sich eine bestimmte Epoche, deren Autoren und Werke den Kernbestand ihres kulturellen Kanons bilden. Klassiker werden nicht nur an Schulen und Universitäten gelesen und gelehrt, sondern erfüllen auch eine wichtige Funktion bei der Konstruktion kollektiver Identitäten. Dies gilt besonders für die Herausbildung der modernen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, die ja, wie Benedict Anderson gezeigt hat, vor allem »imaginäre Gemeinschaften« (imagined communities) sind, deren Zusammenhalt sich nicht zuletzt auf gemeinsame Lektüreerfahrungen stützt. Aber auch schon vor und nach dem 19. Jahrhundert ist die Bezugnahme auf eine Blütezeit, eine Klassik oder eben ein Goldenes Zeitalter konstitutiv für das Selbstwertgefühl nationaler Gemeinschaften.3 Im Folgenden soll anhand eines historischen Überblicks mit einem Schwerpunkt auf den Entwicklungen im 20. und 21. Jahrhundert gezeigt werden, dass dies für 2  Siehe hierzu Wilhelm Voßkamp (Hg.), Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG Symposion 1990, Stuttgart/Weimar 1993, vor allem die einleitenden Überlegungen des Herausgebers, 5–7. 3  Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities, London/New York 2006 [1983].



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Spanien in besonderem Maße und gleichzeitig in einer besonders widersprüchlichen Weise gilt. Die Ausführungen stützen sich auf eine Reihe von Forschungen, die in den letzten Jahrzehnten zum spanischen Kanon und zum Konzept des Siglo de Oro unternommen worden sind.4 Sie versuchen diese in einer Weise zu perspektivieren, welche den Wandel, aber auch das ungebrochene polemische Potenzial der Vorstellung eines Goldenen Zeitalters bis in die unmittelbare Gegenwart Spaniens deutlich macht. Auf den ersten Blick scheint es kaum eine andere europäische Nation zu geben, die sich so emphatisch und mit ungebrochenem Selbstbewusstsein auf ein Goldenes Zeitalter, das Siglo de Oro, beruft. Bei genauerer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass dessen inhaltliche Füllung in hohem Maße umstritten und Gegenstand leidenschaftlicher ästhetischer, aber auch ideologischer Auseinandersetzungen ist. Entlang der Frage, was das Siglo de Oro ist und inwiefern es Maßstab für die spanische Identität sein soll, muss oder darf, lassen sich zentrale Debatten der spanischen Kulturgeschichte bis in die unmittelbare Gegenwart nachzeichnen. II. Sonderfall Spanien: Ein antiker Mythos zur Bezeichnung einer identitätsstiftenden Epoche Wie Hanno Ehrlicher betont, kann Literaturgeschichtsschreibung nie ganz wertfrei sein. Dies gelte besonders für die Epoche, »die eine Kultur als ihre modellhafte ›Klassik‹ definiert hat und die daher den Kernbereich des unvermeidlichen Kanons der Tradition darstellt«.5 Explizit wertende Epochenbezeichnungen sind historisch betrachtet keine Seltenheit. So knüpfen Autoren der italienischen Renaissance an die antike Tradition an, 4  Vgl. Alberto Blecua, »El concepto del Siglo de Oro«, in: Leonardo Romero Tobar (Hg.), Historia literaria/Historia de la literatura, Zaragoza 2004 [1978], 115–160; Fernando Valls, La enseñanza de la literatura en el franquismo 1936–1951, Barcelona 1983; Frank Baasner, »Die umstrittene Klassik. Das Siglo de Oro in der spanischen Literaturgeschichtsschreibung des 18. und 19. Jahrhunderts«, in: Wilhelm Voßkamp, Klassik im Vergleich, 212–231; José María Pozuelo Yvancos/Rosa María Aradra Sánchez, Teoría del canon y literatura española, Madrid 2000; Hanno Ehrlicher/Stefan Schreckenberg (Hgg.), El Siglo de Oro en la España contemporánea, Frankfurt a. M./ Madrid 2011; Hanno Ehrlicher, Einführung in die spanische Kultur des Siglo de Oro, Berlin 2012; Roland Béhar, » ›Siglo de Oro‹: ambigüités d’un saeculum aureum hispanique«; GEMCA: Papers in progress 1 (2012), 95–123, online unter: http://gemca. fltr.ucl.ac.be/docs/pp/GEMCA_PP_1_2012_006.pdf (zuletzt aufgerufen am 10.03. 2019); Gabriel Núñez, »Las historias de la literatura y la canonización de autores y obras en el sistema educativo español«, Revista de Literatura, Vol. 76, No. 151 (2014), 39–55. 5  Ehrlicher, Einführung, 11, Hervorh. im Original.

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die eigene Epoche als Wiederkehr eines mythischen Goldenen Zeitalters zu betrachten, wie es beispielhaft Vergil in der vierten Ekloge der Bucolica mit Blick auf das Zeitalter des Augustus formuliert. Der Humanist, Theologe und Philosoph Egidio da Viterbo sieht Anfang des 16. Jahrhunderts in den Pontifikaten der Päpste Julius II und Leo X die Wiederhehr eines christlichen Goldenen Zeitalters.6 In Frankreich etabliert sich später die Bezeichnung des Grand Siècle für das 17. Jahrhundert. In modernen Literaturgeschichten mit wissenschaftlichem Anspruch erfolgt die Einteilung jedoch meist nach nüchterneren Kriterien, sei es unter Zuhilfenahme etablierter Epochen- und Stilbegriffe (Mittelalter, Renaissance, Barock, Klassizismus, Romantik usw.), der Regierungszeit von Herrschern (elisabethanische oder viktorianische Epoche) oder, am objektivsten, durch die schlichte Angabe von Jahrhunderten (v. a. in italienischen und französischen Literaturgeschichten). Nicht so im Fall Spanien. Bis heute findet man in vielen Literaturgeschichten den Begriff des Siglo de Oro oder, im Plural, der Siglos de Oro zur Bezeichnung des Zeitraums, der vom Ende des 15. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts reicht. Historische Orientierungspunkte sind der spanische annus mirabilis 1492 (Eroberung Granadas, Entdeckung Amerikas, Publikation der ersten spanischen Grammatik von Antonio de Nebrija) für den Beginn und für das Ende der Tod Calderón de la Barcas 1681 oder, aus einer politischen Perspektive, der Beginn des Erbfolgekrieges nach dem Tod Carlos’ II, des letzten Habsburgers auf dem spanischen Thron, im Jahr 1700. Laut Frank Baasner ist diese ungewöhnlich lange spanische ›Klassik‹ im europäischen Vergleich in zweifacher Hinsicht interessant: Zum einen aufgrund der frühen Entstehung des Epochenkonzeptes, denn schon die Zeitgenossen verfügten über ein ausgeprägtes Bewusstsein der besonderen Qualität ihrer kulturellen Leistungen.7 Zum anderen aufgrund der ebenfalls früh einsetzenden kontroversen Definition und Bewertung der Epoche. Unter dem Etikett Siglo de Oro werden ästhetisch sehr disparate Erscheinungen zusammengefasst, die auf verschiedene Literaturmodelle Bezug nehmen. 6  Egidio da Viterbo, De Ecclesiae Incremento (1507) und Historia XX saeculorum (ca. 1513), vgl. Garry W. Trompf, The Idea of Historical Recurrence in Western Thought, Berkeley 1979, 299. 7  So wurde laut Hans-Ulrich Gumbrecht die »Regierungszeit Philipps II. nicht erst aus der wahrhaft kontrastreichen Perspektive des XVII. Jahrhunderts zum siglo dorado […], sondern schon von den Zeitgenossen  – zugleich mit der dichosa edad Karls V.  – als edad gloriosa gefeiert«; Gumbrecht, Eine Geschichte der spanischen Literatur, Frankfurt a. M. 1990, 302; vgl. auch Fritz Schalk, »Das goldene Zeitalter als Epoche«, Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Literaturen 199 (1963), 85–98.



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Baasner unterscheidet eine universalistische Konzeption, die sich an Regelpoetiken und antiken bzw. italienischen Vorbildern orientiert, von einer nationalen, die an Traditionen und Formen des spanischen Mittelalters anknüpft.8 Im 20. Jahrhundert versuchen Literaturgeschichten dieser Heterogenität der spanischen Blütezeit Rechnung zu tragen, indem sie das ›Goldene Zeitalter‹ in zwei Phasen und folgerichtig damit auch zwei Siglos de Oro unterteilen, zuweilen mit den Bezeichnungen Renaissance für das 16. Jahrhundert und Barock für das 17. Jahrhundert.9 Damit wird für Baasner allerdings die Frage, worin die übergreifenden, einheitsstiftenden Wesensmerkmale des ›Goldenen Zeitalters‹ bestehen, nicht beantwortet.10 Gleichwohl operieren auch die meisten Geschichten der spanischen Literatur und Kultur aus deutscher Feder weiterhin mit dem Begriff des Siglo de Oro.11 Das hartnäckige Überleben eines mythischen Konzepts zur wissenschaftlichen Bezeichnung einer Epoche ist erklärungsbedürftig. Hartmut Stenzel stellt fest: »Das Siglo de Oro ist als kulturgeschichtlich notwendiger Mythos eine Besonderheit« und ergänzt: »Siglo de Oro ist ein litera8  Vgl. Baasner, »Die umstrittene Klassik«, 212; Baasner spricht von der »innere[n] Dialektik der Glanzperiode spanischer Literatur« von »Verschiedenenheit und Einheit, Universalität und Nationalität« (214). 9  Diese Aufteilung findet sich bereits 1937 in der ersten Auflage der Historia de la Literatura Española von Angel Valbuena Prat, der dort allerdings das 17. Jahrhundert als Epoca Nacional betitelt. Mit den Etiketten Renacimiento und Barroco operieren die zwei Bände zu den Siglos de Oro in der einflussreichen Historia y crítica de la literatura española (1980–2000), die unter der Leitung von Francisco Rico herausgegeben wurde und die gleichzeitig eine Anthologie von wichtigen, auf diese Weise ebenfalls kanonisierten Artikeln der Forschungsliteratur liefert. Dagegen vermeidet die jüngst unter der Gesamtleitung von José-Carlos Mainer herausgegebene Literaturgeschichte (2010–2013) den Oberbegriff Siglo(s) de Oro ebenso wie die Epochenbezeichnungen Renaissance und Barock. Stattdessen findet man die Titel La conquista del clasicismo 1500–1598 (Bd. 2) und El siglo del arte nuevo 1598–1681 (Bd. 3), was im Prinzip den beiden Klassik-Modellen bei Baasner entspricht (klassizistische Nachahmung der Antike vs. arte nuevo als nationales Literaturkonzept). 10  Baasner verweist auf Valbuena Prat, der trotz der Trennung von einer »unidad integral superior« der beiden Siglos de Oro ausgeht. Einen ähnlichen Widerspruch konstatiert er bei Ludwig Pfandl, der 1924 in Spanische Kultur und Sitte des 16. und 17. Jahrhunderts. Eine Einführung in die Blütezeit der spanischen Literatur und Kunst zwar konkurrierende Traditionen wahrnimmt, dennoch von einer unerreichten inneren Geschlossenheit der spanischen Kunst und Literatur zwischen 1550 und 1680 spricht. 11  Vgl. Christoph Strosetzki (Hg.), Geschichte der spanischen Literatur, Tübingen 1991; Hans-Jörg Neuschäfer (Hg.), Spanische Literaturgeschichte, Stuttgart 1997; Hartmut Stenzel, Einführung in die spanische Literaturwissenschaft, Stuttgart 22005; Hanno Ehrlicher, Einführung.

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turgeschichtlich nicht präzisierbarer Begriff«.12 Dies hindert Stenzel allerdings nicht daran, ihn im historischen Teil seiner Einführung in die spanische Literaturwissenschaft zu verwenden. Auch Juan Manuel Rozas verweist in seiner Historia de la literatura española de la Edad Media y Siglo de Oro darauf, dass Spanien von allen westlichen Ländern das einzige sei, welches seine Geschichte auf der Basis eines antiken Mythos konstruiere. Spanien, so Rozas, benötige diesen Mythos, in dem die Vorstellung einer vergangenen Blütezeit eng verknüpft ist mit dem Gedanken gegenwärtiger Dekadenz, »para explicarse a sí misma«  – also zur Erklärung seiner nationalen Identität.13 Im Folgenden soll die historische Entwicklung der Bedeutung dieses Mythos von Blütezeit, Dekadenz und möglicher Wiedergeburt für die spanische Kulturgeschichte in ihren wichtigsten Etappen nachgezeichnet werden. III. Die Idee vom Goldenen Zeitalter im 18. Jahrhundert und in der Romantik Die ersten Beispiele für eine rückblickende Bewertung der spanischen Literatur der Frühen Neuzeit als eines Siglo de Oro finden sich Mitte des 18. Jahrhunderts. Nach dem Sieg der Bourbonen im Erbfolgekrieg 1713 steht das politisch wie wirtschaftlich geschwächte Spanien unter starkem französischem Einfluss und befindet sich in einer tiefen Identitätskrise. Die Rückbesinnung auf vergangene Größe soll zur Stärkung und Erneuerung des Nationalbewusstseins beitragen. Die spanischen Aufklärer reklamieren für ihr Land eine Blütezeit, die es ebenso mit der italienischen Renaissance wie mit dem Grand Siècle der französischen Klassik aufnehmen könne. Zunächst bezieht sich die Rede von einem »siglo de oro de la poesía castellana« (Luis José Velázquez, Orígenes de la poesía castellana, Málaga 1754)14 allerdings nur auf Dichter des 16., allenfalls des frühen 17. Jahrhunderts (Boscán, Garcilaso, Fray Luís de León, Cervantes). Autoren, die den durch die französische doctrine classique geprägten Stilvorstellungen nicht entsprachen (das anti-aristotelische Theater von Lope de Vega und Calderón, die barocke Lyrik von Góngora und Quevedo), 12  Stenzel, Einführung, 126–127. Stenzel verweist auf Albert Blecua, der feststellt, dass der Begriff ab Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem »término vago« geworden sei, von dem niemand mehr so recht wisse, auf welche Epoche genau er sich beziehe; Blecua, »El concepto del Siglo de Oro«, 160. 13  Juan Manual Rozas, Historia de la literatura española de la Edad Media y Siglo de Oro, 2 Bde., Madrid 31987, Bd. II: El Siglo de Oro, 387. 14  Zit. nach Blecua, »El concepto del Siglo de Oro«, 118.



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blieben aus dem Kanon verbannt, galten gar als Verbreiter eines schlechten Geschmacks. Der Jesuit Francisco Javier Lampillas verfasst einige Jahrzehnte nach Velázquez eine Verteidigungsschrift der spanischen Literatur gegen Anfeindungen aus Italien, den Ensayo histórico-apologético de la literatura española contra las opiniones preocupadas de algunos escritores modernos italianos (1782–1784), in der er den Rahmen des Siglo de Oro und damit des spanischen Kanons deutlich weiter fasst: Er verweist auf die großen antiken Autoren, die von der iberischen Halbinsel stammen (Quintilian, Seneca, Lukan), auf den Kirchenvater Isidor von Sevilla und auf eine erste Blütezeit der spanischen Kultur im Mittelalter, in der die spanische Dichtung und Wissenschaft dank der fruchtbaren Zusammenarbeit mit Arabern und Juden alle anderen europäischen Völker übertroffen habe.15 Im 16. Jahrhundert trete Spanien dann bereits in sein zweites Siglo de Oro ein. Lampillas rühmt die militärischen Erfolge der spanischen Könige, die Meisterwerke von Kunst und Literatur und nicht zuletzt Spaniens unvergleichlichen Beitrag zur Verteidigung der wahren Religion gegen ihre Feinde (die Reconquista, die Inquisition und das Konzil von Trient als Kampf gegen die Reformation). Er sieht die spanische Literatur des 16. Jahrhunderts im Vergleich zur italienischen als überlegen an, verteidigt das Theater von Lope de Vega und hält Cervantes für den größten Dichter überhaupt. Laut Alberto Blecua legt Lampilla mit dieser Argumentation die Grundlagen einer nationalistisch ausgerichteten Literaturgeschichtsschreibung, die sich im 19. und 20. Jahrhundert weiterentwickelt und deren Auseinandersetzung mit liberaleren Ansätzen bis in die Gegenwart ihre Spuren hinterlässt.16 Bis Ende des 18. Jahrhunderts bleibt die nach heutigem Verständnis im engeren Sinne barocke Literatur vom spanischen Kanon weitgehend ausgeschlossen. Dies ändert sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit dem zunehmenden Einfluss der europäischen Romantik auf die ästhetischen Diskussionen in Spanien. Die Abkehr vom Stilideal des Klassizismus zeigt sich am deutlichsten im Streit um die Bewertung des spanischen Barocktheaters.  August Wilhelm Schlegel stellt in seinen Wiener Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (1809–1811 publiziert) fest, dass von den modernen europäischen Völkern nur die Engländer mit Shakespeare und die Spanier ein originales, nationales Theater hervorgebracht haben, das sich in seiner Eigenständigkeit mit dem Theater des antiken Griechenland messen könne. Die Blütezeit des spanischen Theaters situiert Schlegel in der zweiten Hälfte des 16. und vor allem im 15  Vgl. 16  Vgl.

ebd., 120. ebd.

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17. Jahrhundert. Er stellt drei Perioden fest, die er mit den Namen Cervantes, Lope de Vega und Calderón de la Barca verbindet. Calderón, so Schlegel, überflügele alle anderen spanischen Dramenautoren seiner Zeit an Kühnheit, Fülle und Tiefe: »In ihm hat das romantische Schauspiel der Spanier den Gipfel der Vollendung erreicht«.17 1814 übersetzt Nicolas Böhl de Faber Teile der Schlegel-Vorlesungen ins Spanische löst damit bei seinen Zeitgenossen eine heftige Debatte um die Bewertung der Dramen des 17. Jahrhunderts, speziell der Werke Calderóns aus. Der Versuch der Rehabilitierung des ›alten‹ spanischen Theaters geschieht bei Böhl aus einer konservativen Perspektive und wird von den liberalen Intellektuellen zunächst abgelehnt.18 Erst gegen Ende der 1820er Jahre ändert sich dies, als die Romantik auch von den progesistas entdeckt wird. Mit dem romantischen Stilideal und der Betonung des Kriterium nationaler Eigenständigkeit geht einher, dass auch andere barocke Autoren wie Quevedo und Góngora, die den Neoklassizisten bislang als Verderber des guten Geschmacks galten, gegenüber Renaissance-Dichtern wie Garcilaso de la Vega oder Fray Luis de León, die sich stärker an italienischen oder antiken Vorbildern orientiert hatten, aufgewertet werden. Hatten die Aufklärer das Siglo de Oro fast ausschließlich im 16. Jahrhundert situiert, verschieben die Romantiker nun den Fokus auf das 17. Jahrhunderts, bevor es Ende des 19. Jahrhunderts zu einer ›ästhetischen Synthese‹ zwischen beiden Auffassungen kommt.19 Die Ausdehnung des Goldenen Zeitalters der spanischen Literatur auf mehrere Jahrhunderte zeigt sich anschaulich in der Erinnerungssymbolik am Eingang des 1896 fertiggestellten Hauptgebäudes der Spanischen Nationalbibliothek: Als erstes begegnet der Besucher den sitzenden, ehrwürdigen Gründungsvätern der Patristik und des Hochmittelalters (Isidor de Sevilla und Alfonso X ›El Sabio‹). Bei den stehenden Statuen und den Reliefporträts über dem Eingang finden sich Vertreter der Renaissance (Antonio Nebrija, José Luis Vives, Juan de Mariana, Fray 17  August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Erster u. zweiter Teil (= Schlegel, Kritische Schriften und Briefe V u. VI, hg. Edgar Lohner), Stuttgart et al., 1966–1967, 260. 18  Die Wende hin zu einer positiven Wertung Calderóns erfolgt nicht zuletzt durch einen Vortrag von Agustín Durán aus dem Jahr 1828, in dem dieser ein flammendes Plädoyer für das spanische Barocktheater und gegen die neoklassizistische, französisch beeinflusste Kritik daran hält (vgl. Durán, Discurso sobre el influjo que ha tenido la crítica moderna en la decadencia del Teatro Antiguo Español, y sobre el modo con que debe ser considerado para juzgar convenientemente de su mérito peculiar, Málaga 1994). 19  Vgl. Blecua, »El concepto del Siglo de Oro«, 132: »Es decir, se ha producido lo que denominaría Hegel la sintesis estética, tras la tesis dieciochesca y la antítesis romántica«.



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Abb. 1: Blick auf den Haupteingang der Spanischen Nationalbibliothek in Madrid (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Madrid_-_Biblioteca_ Nacional_02.jpg)

Luis de León), des Barock (Lope de Vega, Calderón, Quevedo) sowie mit Cervantes ein Autor, der an der Schwelle zwischen beiden Epochen steht.20 IV. Das Siglo de Oro als Gegenstand politischer Debatten in der Moderne 1. Von der ästhetischen zur politischen Wertung Eine wichtige Entwicklung des 19. Jahrhunderts besteht in der zunehmenden Politisierung der Debatten um das Siglo de Oro, d. h. in der 20  Baasner kommentiert die teilweise bis heute zu beobachtende Tendenz, die große Heterogenität der spanischen Kultur der Frühen Neuzeit unter dem Schlagwort Siglo de Oro einzuebnen, kritisch: »Die heutige Verwendung des Epochenetiketts ›siglo de oro‹ ist also Erbe einer bequemen, prinzipiellen und vor allem geschichtsphilosophischen Diskussionen ausweichenden Haltung, die im 19. Jahrhundert politisch und ästhetisch motiviert war. […] Die Versuche, eine ›übergeordnete‹ Einheit zu finden […] haben bisher nur stets in der nationalen Größe und Ehre einen gemeinsamen Nenner gefunden. Dabei konnten die auch heute noch spürbaren Differenzen zwischen den ›dos Españas‹, den beiden Spanien, zwar verdeckt, aber nicht überwunden werden«; Baasner, »Die umstrittene Klassik«, 226.

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Aufspaltung in eine liberale und eine konservative Literaturgeschichtsschreibung. Wurde die Frage danach, was alles zum Goldenen Zeitalter gehören soll, im 18. Jahrhundert noch überwiegend nach ästhetischen Gesichtspunkten geführt, treten nun, im Kontext der ideologischen Auseinandersetzung zwischen den »zwei Spanien«, die das gesamte 19. Jahrhundert prägt und im Bürgerkrieg 1936 ihren Höhepunkt findet, politische Kriterien hinzu. Je nach politischem Standpunkt werden bestimmte Personen, Werke und Ereignisse in den Vordergrund gerückt oder zurückgewiesen. Bei den Liberalen stehen Autoren und Texte hoch im Kurs, die das Freiheitsstreben des Volkes gegen Formen von Willkürherrschaft inszenieren, wie z. B. Lope de Vegas Drama Fuenteovejuna. Die politische Entwicklung Spaniens ab Mitte des 16. Jahrhunderts (die Herrschaft Philipps II, die Gegenreformation, den Aufstieg der Jesuiten, die Machtfülle der Inquisition) sehen sie hingegen äußerst kritisch. Für die Konservativen macht gerade der erfolgreiche Widerstand gegen die Reformation und andere moderne europäische Strömungen den Wesenskern des Goldenen Zeitalters und damit der spanischen Identität überhaupt aus. In diesem Zusammenhang ist auf den einflussreichen Philologen und Literaturhistoriker Marcelino Menéndez y Pelayo (1856–1912) zu verweisen, der in seinen Schriften immer wieder die untrennbare Verknüpfung der ›echten‹ spanischen Kultur mit der katholischen Lehre betont, z. B. in seiner dreibändigen Geschichte der Häretiker in Spanien (Historia de los heterodoxos españoles, 1880–1882). Als einer der wichtigsten spanischen Intellektuellen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wacht er über den literarischen Kanon als Quelle einer spanischen Identität nach seiner Vorstellung, ähnlich wie seine monumentale Statue noch heute die Eingangshalle der Biblioteca Nacional beherrscht. 2. Das Verhältnis des liberalen Spanien zum Siglo de Oro 1898 verliert Spanien im Krieg gegen die USA seine letzten Kolonien, was als endgültiger Bruch mit der glorreichen imperialen Vergangenheit interpretiert wird und die Diskussionen um eine notwendige ›Wiedergeburt‹ (regeneracionismo) der spanischen Kultur und Identität neu entfacht. Dabei stehen sich auf der einen Seite Konservative und Neo-Katholiken, auf der anderen Seite Regeneracionistas und Vertreter der liberalen Bildungseinrichtung Institución Libre de Enseñanza gegenüber.21 Die libera21  Die 1876 von Francisco Giner de los Ríos aus Protest gegen die Suspendierung liberaler Professoren an der Universidad Central de Madrid gegründete Institución



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len Erneuerer der spanischen Kultur sind geprägt vom Bewusstsein der Rückständigkeit ihres Landes im Vergleich mit den europäischen Nachbarn. Dabei bleibt umstritten, ob die Erneuerung in einer Rückbesinnung auf die Werte des Siglo de Oro bestehen soll oder ob nicht im Gegenteil die Gründe für den kontinuierlichen Abstiegs Spaniens gerade in den falschen Weichenstellungen der nur vermeintlich ›goldenen‹ zwei Jahrhunderte nach 1492 zu suchen sind. Rund drei Jahrzehnte später, in den 1920er Jahren, ist bereits  – auch dank des Wirkens der Institución Libre de Enseñanza  – eine neue Generation von Dichtern und Künstlern herangewachsen, durch die die spanische Kultur wieder Anschluss an die europäischen Entwicklungen findet. Bemerkenswert ist, dass die sog. Generación del 27, zu der z. B. Federico García Lorca und Rafael Alberti gehören, ihren Namen einer Zusammenkunft anlässlich des 300. Todestages des Barock-Lyrikers Luis de Góngora im Jahr 1927 verdankt. Die hochartifizielle Kunst des Barock mit ihrer formalen Perfektion wird in den Dienst einer geistigen Erneuerung gestellt.22 Aber nicht nur in der kühnen Metaphorik Góngoras finden die jungen Avantgarde-Lyriker Inspirationsquellen aus den Siglos de Oro. Auch die Romanzen-Dichtungen, die comedias nacionales und sogar die seit 1765 verbotenen autos sacramentales werden von den 27ern neu interpretiert oder bilden die Grundlage für eigene Werke.23 Die Verknüpfung von klassischem Kanon, Bildungsauftrag und politischer Propaganda wird besonders anschaulich in der studentischen Theatergruppe La Barraca. Unter der Leitung von Federico García Lorca zog sie ab 1932 im Rahmen der Bildungsarbeit der Zweiten Republik durch die spanische Provinz, um einer Bevölkerung mit geringer Schulbildung Werke von Cervantes, Lope de Vega und Calderón de la Barca nahe zu Libre de Enseñanza wollte moderne Bildung jenseits von staatlichen und kirchlichen Einflüssen ermöglichen. Sie stand der Reformpädagogik nahe und stellt in der spanischen Bildungslandschaft ihrer Zeit eine Ausnahme dar. Sie richtete sich an die bürgerlichen Eliten, wurde von wichtigen spanischen Intellektuellen unterstützt und hatte in den 1930er Jahren großen Einfluss auf das Bildungsprogramm der Zweiten Republik. 22  Vgl. auch Sebastian Neumeister, »Klassik in Spanien: die comedia des 17. Jahrhunderts«, in: Wilhelm Voßkamp (Hg.), Klassik im Vergleich, Stuttgart/Weimar 1993, 199–211, hier vor allem 208. 23  Vgl. Carey Kasten, »Tradición propagandística: el auto sacramental franquista«, in: Ehrlicher/Schreckenberg (Hgg.), El Siglo de Oro, 255–269. Kasten zeichnet die Wiederentdeckung des auto sacramental durch die Avantgarden der 1920er Jahre nach. Sie verweist gleichzeitig auf seine politische Deutung in der Zweiten Republik im Sinne eines arte popular, noch bevor die Gattung zum Propagandainstrument der falangistischen Kulturpolitik wurde.

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bringen. Gleichzeitig sollte auf diese Weise die spanische und internationale Öffentlichkeit von den pädagogischen und ideologischen Prinzipien der Republik überzeugt werden.24 Bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges ist unter den ästhetisch wie politisch progressiven Kräften Spaniens die Referenz auf die Literatur Siglo de Oro also keineswegs verpönt, sondern im Gegenteil integraler Bestandteil des Projektes, Anschluss an die europäische Moderne zu finden. Bezeichnender Weise sind die Jahre von 1898 bis 1936 von einigen spanischen Historikern und Philologen rückblickend als »Silbernes Zeitalter« der spanischen Kultur tituliert worden.25 Dazu werden neben den Autoren der Generationen von 1898 und 1927 auch der Philosoph José Ortega y Gasset oder der Mediziner Santiago Ramón y Cajal gezählt, der 1906 den Nobelpreis erhält. Die Rede von einer Edad de Plata zeigt deutlich, dass für die kulturelle Blütezeit Spaniens im 20. Jahrhunderts das Siglo de Oro Referenzpunkt, aber auch unerreichbares Vorbild ist.

3. Das Goldene Zeitalter im Dienst der franquistischen Ideologie Eine besonders umfassende und gleichzeitig problematische Instrumentalisierung des Siglo de Oro für ideologische Zwecke findet in den Jahren der frühen Franco-Zeit statt. Die franquistische Interpretation der spanischen Geschichte ist dabei auf zwei große Ziele ausgerichtet: Zum einen geht es um die Beschreibung einer unveränderlichen spanischen Identität, die in einer Verbindung von imperialem und katholischem Sendungsbewusstsein bestehe, zum anderen um die Rechtfertigung des Militärputsches von 1936 gegen die Zweite Republik, die aus Sicht der Franquisten die anti-España verkörperte. In franquistischer Lesart bestand die erste goldene Zeit Spaniens in der christlichen Ordnung des frühen Mittelalters seit der Konversion der westgotischen Herrscher vom Arianismus zum Katholizismus im Jahr 589. Dieses mythische Urspanien wird im 8. Jahrhundert durch die arabische Eroberung an den Rand des Untergangs gedrängt. Der Kampf gegen die ›Ungläubigen‹, die Rückeroberung der Iberischen Halbinsel und die Wiederherstellung der Glaubenseinheit des christlichen Abendlandes sei deshalb für Jahrhunderte die wichtigste Aufgabe aller Spanier gewesen. Mit den katholischen Königen ist dieses Ziel 1492 erreicht; gleichzeitig beginnt Spanien die Evangelisierung und Zivilisierung 24  Vgl.

ebd., 257 f. hierzu José Carlos Mainer, La edad de Plata (1902–1939). Ensayo de interpretación de un proceso cultural, Barcelona 1975. 25  Vgl.



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Amerikas und wird zum größten Imperium der Frühen Neuzeit.26 Aber auch in dieser Zeit größter Machtentfaltung muss das ›wahre‹ Spanien sich äußerer und innerer Feinde erwehren. In einem falangistischen Schulbuch zur Formación del Espíritu Nacional von 1945 betont der Autor, dass Spanien im 16. Jahrhundert ein Verharren in seiner mittelalterlichen Weltordnung der Anpassung an die europäische Renaissance vorgezogen habe. Die Einflüsse der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft (Galilei, Descartes) werden als ebenso schädlich angesehen wie die der Reformation (v. a. Erasmus von Rotterdam). In dieser Vorstellung wird unter Siglo de Oro also nicht der Beginn der Neuzeit verstanden, sondern die Rückkehr zu einer verklärten christlichen Idealgesellschaft vor der arabischen Invasion. Im späten 17. Jahrhundert beginne dann der langsame Abstieg Spaniens. Aufklärung, Liberalismus, Rationalismus und Positivismus, die Verschwörung von Kommunisten, Juden und Freimaurern münden schließlich in das Chaos der Zweiten Republik, in welcher Anarchie und mörderischer Antiklerikalismus herrschen. Das wahre Spanien stand demnach 1936 kurz vor der Auslöschung und konnte nur durch den Aufstand der nationalen Bewegung gerettet werden. Die Verherrlichung der imperialen Vergangenheit und die Ablehnung zentraler Strömungen der Moderne gehen in der franquistischen Geschichtsschreibung einher mit der Stilisierung der Gegenwart zur Wiederkehr des Goldenen Zeitalters. Der caudillo Franco soll als Wiedergeburt der katholischen Könige und ihrer Nachfahren verstanden werden.27 Im Kontext dieser hochgradig ideologisierten Geschichtsdarstellung degeneriert auch der Literaturunterricht zum Instrument patriotischer, moralischer und religiöser Indoktrinierung.28 Beim Blick in die Lehrpläne der 1940er Jahre wird deutlich, dass der von den Bildungspolitikern des Franco-Regimes vorgeschlagene Kanon praktisch alle wichtigen Autoren und Texte enthält, die schon in den Poetiken und Literaturgeschichten des 18. und 19. Jahrhunderts aufgeführt sind. Dabei findet zunächst offenbar keine Selektion nach stilistischen oder selbst ideologischen Kriterien statt. Religiöse Texte wie die mystische Lyrik von Theresa von Avila und Johannes vom Kreuz oder die autos sacramentales von Calderón stehen neben sehr weltlichen Texten wie den Schelmenromanen, deren Autoren zum Valls, La enseñanza, 61–63. falangistischen Schulbuch Formación del espíritu nacional von 1945 wird Fernando el Católico als »primer caudillo auténtico« tituliert. Der Jesuit Herrera Oria vergleicht 1941 in seiner Historia de la educación española die Situation von Isabel I bei ihrer Thronbesteigung mit der Francos am Ende der »Gran Cruzada anticomunista«; Valls, La enseñanza, 67–68. 28  Vgl. ebd., 97. 26  Vgl. 27  Im

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Teil  konvertierte Juden gewesen sein sollen. Allen genannten Texten wird eine literarische Qualität zugesprochen, die als Beleg für die Größe der spanischen Kultur herhalten muss. Allerdings werden die Literaturlehrer angehalten, ihre Schüler auf mögliche ideologische oder moralisch-religiöse Irrtümer der Autoren hinzuweisen. Auch kam es vor, dass die Texte des Kanons im Sinne der franquistischen Ideologie und Moralvorstellungen bearbeitet wurden. Die Zensur machte dabei nicht einmal vor dem größten Heiligtum der spanischen Literatur, dem Don Quijote halt. 1947, anlässlich von Cervantes’ 400. Geburtstages, bezeichnet Francos Erziehungsminister die Botschaft des Romans zwar als Ausdruck des »ewigen Geistes Spaniens« (»el espíritu permanente de España«).29 Unterrichtet wurde der Don Quijote jedoch meist in der sog. edición áurea, einer kommentierten Ausgabe des Jesuiten Rufo Mendizábal von 1945, in der alle Kraftausdrücke und Anspielungen auf Sexualität oder auch nur körperliche Nacktheit getilgt waren. Insgesamt stand im franquistischen Literaturunterricht die schlichte Behauptung einer patriotischen Gesinnung der Werke sowie die Beschäftigung mit der vorbildlichen Biographie ihrer Autoren (Cervantes als Kriegsheld in der Seeschlacht von Lepanto 1571) gegenüber einer echten Auseinandersetzung mit den Inhalten der Texte des Siglo de Oro klar im Vordergrund.30 4. Vom ›Goldenen Zeitalter‹ zum ›Zeitalter der Zerrissenheit‹ Die massive Vereinnahmung des Siglo de Oro durch den Franquismus führte auch dazu, dass oppositionelle Autoren und Intellektuelle begannen, die herausragende Bedeutung der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts für die spanische Identität in Frage zu stellen oder sie zumindest ganz anders zu interpretieren als in der national-katholischen Lesart. Einen sehr wichtigen Impuls in diese Richtung geben die ebenso einflussreichen wie umstrittenen Thesen von Américo Castro (1885–1972). In seinen Studien España en su historia − Cristianos, moros y judíos (1948) und La realidad histórica de España (1954, dt.: Spanien, Vision und Wirklichkeit, 1957) vertritt der Kulturhistoriker und Philologe die Ansicht, dass die historischen Ursprünge der spanischen Identität nicht in der römischen Provinz Hispania oder im Westgotenreich liegen, sondern in den Jahrhunderten der sog. convivencia, des friedlichen Zusammenlebens der drei Kulturen – Christentum, Islam und Judentum – auf der Iberischen Halbinsel zwischen 711 und 1492. Castro beschreibt islamische Traditionen im spanischen 29  Ebd., 30  Vgl.

146. ebd., 146–149.



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Alltagsleben, spricht von christlich-arabischen Institutionen und weist auf die wichtige Rolle der spanischen Juden hin. Die spanische Identität ist für Castro nicht nur im Mittelalter, sondern bis in die Gegenwart eine trikulturelle. In seiner Interpretation werden Juden und Muslime nicht mehr, wie in fast allen früheren Darstellungen der spanischen Geschichte, als Fremdkörper und Bedrohung des spanischen Wesens, sondern als dessen integraler Bestandteil verstanden. Damit verliert die Reconquista mit der sich anschließenden Vertreibung Andersgläubiger und der Verfolgung von Konvertiten ihren Status als Gründungsmythos der spanischen Identität und des Siglo de Oro.31 Juan Goytisolo, einer der wichtigsten spanischen Autoren und Essayisten der letzten Jahrzehnte, sieht ähnlich wie Castro die Reconquista im Gegenteil als spanischen ›Sündenfall‹ und Beginn einer Identitätskrise, die bis heute andauere. Goytisolo schreibt in seiner Essaysammlung España y los Españoles, die bereits Ende der 1960er Jahre entstand, aber erst nach Francos Tod in Spanien erscheinen durfte: Cuando los Reyes Católicos acaban con el último reino moro en la Península y decretan la expulsión de los judíos asistimos al primer acto de una tragedia que, durante siglos, va a determinar, con rigurosidad implacable, la conducta y actitud vital de los españoles. Contrariamente a la versión usual de nuestros historiadores, el edicto de expulsión de los judíos no cimenta en absoluto la unión de aquellos; antes bien, los escinde, los traumatiza, los desgarra. […] Las bases de la discordia secular entre españoles aparecen netamente desde entonces y la herida abierta por el edicto real de marzo de 1492 no cicatrizará jamás.32 31  Berühmt geworden ist die Polemik zwischen Américo Castro und dem Historiker Claudio Sánchez-Albornoz. Obwohl Sánchez-Albornoz wie Castro als Republikaner nach dem Bürgerkrieg ins Exil geflohen war, vertritt er mit Blick auf die Reconquista eine Position, die der traditionellen Interpretation entspricht. Er bezeichnet die Reconquista als großartige Unternehmung, als »normal reacción contra la traidora invasión islámica de España« (dt.: »normale Reaktion auf die verräterische islamische Invasion Spaniens«) und als Schlüssel zur ganzen Geschichte Spaniens; Claudio Sánchez-Albornoz, De la Andalucía islámica a la de hoy, Madrid 1983, 32–33; vgl. hierzu Fabian Sevilla, Die »Drei Kulturen« und die spanische Identität, Tübingen 2014. 32  Juan Goytisolo, España y los Españoles, Barcelona 2002, 27–28. Dt.: »Die Auslöschung des letzten maurischen Königreiches auf der Halbinsel durch die Reyes Católicos und die von ihnen befohlene Vertreibung der Juden bilden den ersten Akt einer Tragödie, die jahrhundertelang mit unerbittlicher Härte die Lebenshaltung der Spanier bestimmen sollte. Entgegen der landläufigen Geschichtsauffassung hat das Vertreibungsedikt die Einheit des Volkes keineswegs gefestigt; es wurde dadurch vielmehr gespalten, in ein Trauma gestoßen, zerrissen. […]. Deutlich zeigen sich von da an die Gründe der durch Jahrhunderte fortdauernden Zwietracht unter den Spaniern; offen liegt die Wunde, die durch das königliche Edikt vom März 1492 aufgerissen wurde und nie vernarben sollte.« (Goytisolo, Spanien und die Spanier, Frankfurt a. M. 1982, 34).

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Diese neue Perspektive auf die spanische Geschichte hat auch eine teilweise Neubewertung des Kanons zur Folge. Aus dem Goldenen Zeitalter wird bei Américo Castro La edad conflictiva (1961)  – ein Zeitalter der Konflikte und der Zerrissenheit. Gleichzeitig treten Werke, Autoren und Interpretationsansätze in den Fokus, die von problematischer Identitätsbildung, von Konflikten und Existenznöten der conversos zeugen. Zu nennen wären etwa die Tragikomödie La Celestina von Fernando de Rojas (um 1500), der Pícaro-Roman Guzmán de Alfarache von Mateo Alemán (1599–1604) oder das Werk des Humanisten und Philosophen Juan Luis Vives. Mit den Thesen Castros und Goytisolos findet eine radikale Umwertung bisheriger Vorstellungen vom Siglo de Oro statt. Die Blütezeit der spanischen Kultur beginnt nicht, sondern endet 1492, denn ihr entscheidendes Merkmal ist die fruchtbare Verbindung christlicher, jüdischer und muslimischer Einflüsse.33 Alles, was in der konservativen oder national-katholischen Darstellung die Größe und das Wesen Spaniens ausmacht, hat in dieser Lesart vielmehr zu dessen Niedergang geführt. Als weiteres Beispiel für eine Reaktion auf den franquistischen Missbrauch des Siglo de Oro ließe sich die einflussreiche Studie des Historikers José María Maravall La cultura del Barroco (1975) nennen, die unmittelbar vor Francos Tod erscheint. Darin charakterisiert der Autor die Barockkultur insgesamt als eine konservative und staatlich gelenkte. Speziell das Theater des Siglo de Oro erscheint bei Maravall als ein kulturelles Dispositiv zur Festigung der Machtallianz von Thron und Altar.34 Wie Fernando Doménech gezeigt hat, ist die Vorstellung, dass es sich bei den Dramen Lope de Vegas und vor allem Calderóns um erzkonservative, katholischabsolutistische Propaganda handele, seit den 1980er Jahren in Spanien durchaus verbreitet und fand z. B. auch Eingang in die post-franquistischen Schulbücher.35 Nach Jahrzehnten der nationalistischen Glorifizierung der Klassiker schlägt das Pendel zu Beginn der spanischen Demokratie in die entgegengesetzte Richtung aus. Den Versuch einer ganz neuen Sicht auf das vermeintliche ›Goldene Zeitalter‹ der spanischen Literatur stellt auch die dreibändige Historia so33  Allgemein zur Bedeutung des Datums 1492 als Erinnerungsort im kollektiven Gedächtnis der spanischen Kultur vgl. Steffen Jost, »1492 como lugar de memoria español. Análisis del desarrollo de la memoria cultural en España desde elf in del siglo XIX«, in: Ehrlicher/Schreckenberg (Hgg.), El Siglo de Oro, 103–121. 34  José María Maravall, La cultura del Barroco, Barcelona 1975. 35  Fernando Doménech Rico, »De la escena al manual. El canon moderno de Lope de Vega«, in: Ehrlicher/Schreckenberg (Hgg.), El siglo de Oro, 53–82, hier v. a. 76 f.



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cial de la literatura española (en lengua castellana) (im Folgenden HSLE) von Carlos Blanco Aguinaga, Julio Rodríguez Puértolas und Iris Milagros Zavala von 1978 dar. Wenige Jahre nach dem Ende der Diktatur wird hier erstmals der Versuch einer Gesamtbetrachtung der spanischen Literatur aus marxistischer Perspektive unternommen. Bezeichnender Weise wählen die Autor/innen für das zweite Hauptkapitel des ersten Bandes, welches das 16. und 17. Jahrhundert behandelt, die Überschrift Edad Conflictiva, womit ein klarer Bezug zu Américo Castro hergestellt wird. Das marxistische Verständnis von Literatur als intellektuellem Überbau einer sozioökonomischen Basis und als Widerspiegelung von Klassenkonflikten im jeweiligen historischen Moment bedeutete für die traditionelle spanische Literaturgeschichtsschreibung mit ihrer Idee von Literatur als Ausdruck einer ewigen, universellen oder eben spezifisch nationalspanischen conditio humana eine heftige Provokation. Im politischen Klima der Transición mit ihren neuen ideologischen Freiheiten entwickelte sich die HSLE zu einem Verkaufserfolg mit mehreren Neuauflagen. Gleichzeitig erfuhr sie aus der liberalen Presse und dem bürgerlichen akademischen Milieu heftige Kritik.36 Das Ziel der drei Autor/innen besteht darin, die verborgenen ideologischen Implikationen der kanonisierten Werke zu entlarven und die Funktion der Literatur als Waffe im Klassenkampf offenzulegen. Wie José Carlos Mainer in seiner kritischen Rezension aus dem Jahr 1979 feststellt, ist diese neue Literaturgeschichte jedoch keineswegs radikal innovativ, was ihre Struktur und die Auswahl der behandelten Werke aus dem traditionellen Kanon betrifft.37 Das Siglo de Oro taucht in der HSLE zwar nur in Anführungszeichen als das sogenannte ›Goldene Zeitalter‹ auf. Trotz der Verurteilung ihrer reaktionären Ideologie und ihres dogmatischen Charakters gesteht die HSLE den Werken dieser Epoche jedoch hohe ästhetische Qualitäten (»obras sorprendentes«; »fuerza, rigor, enorme riqueza expresiva«; dt.: »überraschende Werke«; »Kraft, Präzision, enormer Reichtum des Ausdrucks«) und eine historische Sonderstellung zu. Die Edad Conflictiva erscheint auch hier als eine Art ›Klassik‹ oder ›Goldenes Zeitalter‹, obwohl dieses Konzept in einer marxistischen Perspektive eigentlich nicht vorgesehen sein dürfte: »Grandeza y miseria de la Edad Conflictiva, uno de los periodos clave, quizá el central, de la Historia y la literatura castellanas« (dt.: »Größe und Elend des Zeitalters der Konflikte, eine der Schlüsselepochen der kastilischen 36  Vgl. hierzu José Luis Bellón Aguilera, »La Historia social de la literatura española. Recepción y polémica«, Sociología Histórica 2 (2013), 239–261. 37  José Carlos Mainer, »Un antimanual: la Historia social de la literatura española«, Juni 1979; vgl. Bellón Aguilera, »La Historia social«, 253.

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Geschichte und Literatur, vielleicht die wichtigste überhaupt«).38 Gleichzeitig gesteht die HSLE einigen Autoren des Barock in ihrem verzweifelten Versuch, die scheinbar harmonische Ordnung des Mittelalters gegen den unaufhaltsamen Aufstieg der kapitalistischen Gesellschaft zu verteidigen, ein erstaunliches Maß an Modernität zu: Con el característicamente español retraso post-tridentino, la obra de Quevedo es extraordinario reflejo de esta contradicción, de la angustia del hombre barroco que, no sin algo de razón, suele compararse con al angustia existencial de los escritores modernos que también se encuentran en la encrucijada de un cambio radical de estructuras.39

Hier zeigen sich deutliche Anklänge an die Vorstellung einer zerrissenen spanischen Identität, wie sie von Américo Castro geprägt und dann auch von Juan Goytisolo formuliert wurde.40 Gut ein Jahrzehnt nach der HSLE erscheint in Deutschland eine spanische Literaturgeschichte von Hans-Ulrich Gumbrecht. Auch er vermeidet die Bezeichnung Siglo de Oro zur Epocheneinteilung und ordnet seine Kapitel stattdessen nach den Jahreszahlen einschneidender historischer Ereignisse. Obwohl er die ideologischen Prämissen von Aguinaga, Puértolas und Zavala nicht teilt, liefert er ähnliche Argumente für die besondere Qualität der spanischen Literatur von 1550–1700, die uns heute als ›klassisch‹ erscheine, weil sie »für die Leser nachfolgender Epochen nicht nur unter dem Vorzeichen ›historischen Interesses‹ nachvollziehbar und genießbar« sei.41 Aus der Spannung von neuzeitlicher Subjektivität, die laut Gumbrecht Spanien zur Zeit der Katholischen Könige auszeichnet, und der Rückkehr zu mittelalterlich-kosmologischen Sinnstrukturen in der Gegenreformation entstehen Texte, die von ironischen Brechungen und tiefen Ambivalenzen geprägt sind und gerade deswegen zu Klassikern der Weltliteratur werden können. Erneut finden wir hier die paradox an38  Carlos Blanco Aguinaga/Julio Rodríguez Puértolas/Iris M. Zavala, Historia social de la literatura española (en lengua castellana), Madrid 21981, 328 f. 39  Aguinaga, Historia social, 389. Dt.: »Mit seiner für Spanien charakteristischen post-tridentischen Rückwärtsgewandtheit legt das Werk Quevedos in außerordentlicher Weise von diesem Widerspruch Zeugnis ab, von der Not des barocken Menschen, die man oft, und nicht zu Unrecht, mit der existenziellen Not der modernen Schriftsteller verglichen hat, die sich ebenfalls am Scheideweg eines radikalen Strukturwandels befinden.« 40  Mainer hält fest: »Este libro marxista debe mucho más a la interpretación liberal-radical [gemeint ist hier vor allem Américo Castro] de la historia de España que a las fuentes que confiesa«; vgl. Bellón Aguilera, »La Historia social«, 254. 41  Hans Ulrich Gumbrecht, Eine Geschichte der spanischen Literatur, Frankfurt a. M. 1990, 286.



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mutende Beobachtung, dass aus politisch-ideologischer Rückständigkeit (»el característicamente español retraso post-tridentino«, s. o.) eine Literatur erwächst, die in mancher Hinsicht einen Vorgriff auf die Moderne darstellt: »Denn was sich im Siglo de Oro erst abzeichnete, ist zu einer intellektuellen Grundstruktur der Moderne geworden«.42 V. Abschließende Überlegungen zur Situation im gegenwärtigen Spanien Es ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, eine umfassende Beschreibung der Bedeutung des Konzeptes Siglo de Oro für die spanische Gegenwartskultur zu geben. Gleichwohl seien abschließend einige Hinweise und thesenartige Bemerkungen versucht, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität erheben: Texte aus der Epoche des oder der Siglo(s) de Oro, verstanden als der Zeitraum zwischen 1492 und 1700, bilden weiterhin den Kernbestand des klassischen literarischen Kanons in Spanien. Dieser Kanon setzt sich im Wesentlichen aus den in den vorangegangenen Abschnitten genannten Autoren zusammen und ist seit Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend stabil. Nur selten rücken neue Autoren, vereinzelt auch Autorinnen, die im traditionellen Kanon gegenüber den etablierten Namen bisher nur als zweitrangig galten, in die erste Reihe.43 Die mythischen und geschichtsphilosophischen Implikationen der Idee eines Zyklus von Aufstieg, Blüte, Verfall und möglicher Wiederkehr sind in den letzten Jahrzehnten hinter dem bloßen Begriff Siglo de Oro weitgehend verblasst.44 Im Vergleich zu den international anschlussfähigeren Epochenbezeichnungen Renaissance und Barock wirkt die Rede von einem Goldenen Zeitalter eher unspezifisch, betont allerdings den kulturge42  Ebd.,

300. Indikator für den Bereich des Theaters kann das Programm des Centro Nacional de Teatro Clásico in Madrid gelten, dessen staatlicher Auftrag in der Pflege und Verbreitung des spanischen Nationaltheaters vor 1900 besteht, »unter besonderer Berücksichtigung des Siglo de Oro« (»con especial atención al Siglo de Oro«; vgl. online unter: http://teatroclasico.mcu.es/la-comp/que-es-la-cntc/ [zuletzt aufgerufen am 10.03.2019]). Auf dem Spielplan dominieren zwar Werke von Lope de Vega, Calderón, Tirso de Molina und Cervantes, aber in den letzten Jahren wurden z. B. auch Texte von Rojas Zorilla, Moreto oder Sor Juana Inés de la Cruz inszeniert. Nur vereinzelt findet man hier auch Stücke von Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts, wie Moratín, Zorrilla und jüngst Ventura de la Vega. 44  Vgl. Blecua, »El concepto del Siglo de Oro«, 160. 43  Als

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schichtlichen Zusammenhang zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert. Die ideologische Vereinnahmung der Texte hat im demokratischen Spanien tendenziell abgenommen. Es dominiert in der Hispanistik der Versuch einer eher nüchternen Betrachtung von Werken und Autoren, unter weitgehendem Verzicht auf explizite national-identitäre Argumentationsmuster. So ist inzwischen die Bedeutung muslimischer und jüdischer Einflüsse, aber auch reformatorischer Ideen (z. B. die Wirkung Erasmus’ von Rotterdam) für die Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts allgemein anerkannt. Gleichzeitig hat man aber auch wieder Abstand genommen von einer übertrieben idealistisch-verklärenden Sicht der convivencia, wie sie in der Nachfolge Américo Castros teilweise zu finden war.45 Trotz der genannten Tendenzen bleiben die kanonischen Autoren und Werke in Spanien aber immer noch Gegenstand des Nationalstolzes und gesellschaftlicher Debatten. Spanische Kultur und spanische Identität bleiben mit dem Konzept des Goldenen Zeitalters und der Idee eines literarischen Kanons, der einen wesentlichen Bestandteil des kulturellen Erbes bildet, eng verbunden. Als exemplarisch für dieses Phänomen kann der Umgang mit Miguel Cervantes und seinem Don Quijote, dem unbestritten wichtigsten Text des Kanons überhaupt, gelten. In einem aktuellen Lesebuch für den spanischen Literaturunterricht werden der Autor und sein Meisterwerk wie folgt vorgestellt: Miguel de Cervantes representa la culminación del arte de la novela, un género del que se le considera supremo maestro en todo el mundo. […] su universal prestigio se debe a El ingenioso hidalgo don Quijote de la Mancha convertida casi desde la fecha de su publicación en la novela más famoso de todos los tiempos.46

Mit der hyperbolischen Glorifizierung Cervantes’ und seines Don Quijote zum überzeitlichen Höhepunkt der Weltliteratur geht einher, dass beide als pars pro toto für die spanische Kultur des Siglo de Oro bzw. die spanische Kultur überhaupt gelten sollen. Folgerichtig heißt das spanische 45  Dabei bleibt es gerade in der deutschen Hispanistik ein wichtiges Interpretationsmuster, die ›theologische Involution‹ (Gumbrecht) und gesellschaftliche ›Verspätung‹ Spaniens seit dem 17. Jahrhundert mit der Entstehung von Frühformen moderner Identität zusammenzudenken und darin die besondere Qualität der Literatur dieser Zeit zu sehen; vgl. z. B. Wolfgang Matzat/Bernhard Teuber (Hgg.), Welterfahrung – Selbsterfahrung: Konstitution und Verhandlung von Subjektivität in der spanischen Literatur der Frühen Neuzeit, Tübingen 2000. 46  José Manuel Cabrales/Guillermo Hernández, [Manual de] literatura española y latinoamericana. 1. De la Edad Media al Neoclasicismo, Madrid 32010. Dt: »Miguel de Cervantes verkörpert den Höhepunkt des Romans, eine Gattung, in der er als der weltweit größte Meister gilt. […] Seinen universellen Ruhm verdankt er dem Werk Der scharfsinnige Edelmann Don Quijote de la Mancha, das gleich nach seiner Veröffentlichung zum berühmtesten Roman aller Zeiten wurde.«



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Kulturinstitut, das für die Verbreitung der spanischen Sprache und Kultur in der Welt zuständig ist, Instituto Cervantes. Die Wichtigkeit von Cervantes für das kulturelle Selbstverständnis Spaniens spiegelt sich auch in der Publikationsflut anlässlich seines 400. Todestages im Jahr 2016 wider.47 Wie sensibel das Thema des Siglo de Oro und der damit verbundenen Vorstellung vergangener Größe in Spanien auch im 21. Jahrhundert immer noch ist, zeigt die Polemik um den britischen Historiker Henry Kamen. 2006 veröffentlicht er zunächst in spanischer Sprache die Studie Del Imperio a la Decadencia. Los mitos que forjaron la España moderna (»Vom Imperium zur Dekadenz. Die Mythen, aus denen das moderne Spanien geschmiedet wurde«). 2008 erscheint die englische Fassung unter dem Titel Imagining Spain. Historical Myth and National Identity. Kamen geht es darum, zentrale Mythen, auf denen die moderne spanische Identität beruht, in Frage zu stellen und teilweise zu dekonstruieren. Fast alle diese Mythen haben ihren Ursprung im 16. Jahrhundert, also im frühen Siglo de Oro. In gewisser Weise antwortet der Brite auf eine Monographie von Gustavo Bueno, die 2005 im gleichen spanischen Verlag erschienen ist wie ein Jahr später Kamens Buch. Sie trägt den Titel: España no es un mito: claves para una defensa razonada (»Spanien ist kein Mythos. Schlüssel zu einer vernünftigen Verteidigung«). Kamens Thesen ihrerseits wurden von Teilen der spanischen Öffentlichkeit scharf kritisiert, darunter von Arturo Pérez-Reverte, Mitglied der Real Academia Española und Autor einer erfolgreichen Reihe von historischen Abenteuer-Romanen, die im 17. Jahrhundert spielen und viele der Mythen des Siglo de Oro thematisieren.48 Im Vorwort der englischen Fassung seines umstrittenen Buches unterstreicht Kamen die nach seiner Ansicht ungebrochene Wirksamkeit der Idee des Goldenen Zeitalters und ihr Konfliktpotenzial für die aktuelle spanische Gesellschaft. One of the most extraordinary aspects of Spain’s sixteenth century is that many Spaniards are still living in it. In a sense, they have never left it. The sixteenth century has dictated a good part of their ideas and aspirations, their visions of the past and of the future. Pick up any newspaper, any novel, and you will find 47  Eine einen sehr anschaulichen Eindruck von der Mythisierung Cervantes’ und des Don Quijote bot die Ausstellung Miguel de Cervantes: de la vida al mito (1616– 2016), die 2016 in der spanischen Nationalbibliothek zu sehen war. Es sei besonders auf den Beitrag von José Álvarez Junco im Ausstellungskatalog verwiesen, der sich der Bedeutung Cervantes’ für die nationale Identität widmet (Biblioteca Nacional de España 2016: 185–247). 48  Pérez-Reverte bezeichnete Kamen in einem Beitrag auf seiner Webseite als »Hispanisten Nicht-Spaniens«, was an den Vorwurf der Franquisten gegenüber den Republikanern erinnert, eine anti-España zu repräsentieren; vgl. online unter: http:// www.perezreverte.com/articulo/patentes-corso/164/el-hispanista-de-la-no-hispa nia/ (zuletzt aufgerufen am 10.03.2019).

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echoes of the sixteenth century somewhere. […]. Not without reason did Franco choose emblems  – the yoke and the arrows  – that belonged to the epoch. Not without reason did Gerald Brenan, in The Spanish Labyrinth, find clues to Spanish socialism and Spanish anarchism in the ideas of the Golden Age. It was an age that created, and is creating, Spain, not only because of those who still yearn for it but also on account of those who feel they must reject it passionately.49

Die polemische These, dass viele Spanier immer noch im 16. Jahrhundert lebten, scheint Pérez-Reverte in einem Interview einige Jahre zuvor zu bestätigen. Gefragt nach der Intention seiner Romane über den fiktiven Capitán Alatriste antwortet er: »Con los Alatriste yo quería contar la España del Siglo de Oro, que no está tan lejos de la España de ahora«.50 Auch für Kamens Behauptung, dass selbst in der journalistischen Tagesberichterstattung überall Spuren des Goldenen Zeitalters zu finden sind, lassen sich leicht Belege finden. Zu denken sei etwa nur an die Forderung der rechtspopulistischen Partei Vox nach den andalusischen Wahlen im Dezember 2018, den Feiertag der Autonomen Region auf den 2. Januar zu verlegen, das Datum der Einnahme Granadas und das symbolische Ende der Reconquista im Jahr 1492.51 Wenn Kamen recht hat, dann lohnt sich die Auseinandersetzung mit dem Kanon des Goldenen Zeitalters weiterhin, ist sogar unverzichtbar für jeden, der sich ernsthaft mit der spanischen Geschichte, Literatur, Politik und Gesellschaft auseinandersetzen will. Lust und Last bleibt das Siglo de Oro auch für den universitären Lehrer, der die Herausforderung annimmt, seine Studierenden für komplexe Texte zu interessieren, im Idealfall sogar zu begeistern, deren Inhalte und historische Kontexte bei der ersten Begegnung sehr fremd und schwierig erscheinen mögen. Ihr ästhetischer und gedanklicher Reichtum kann aber gerade für eine junge Leserschaft einen großen Gewinn darstellen.

49  Henry Kamen, Imagining Spain. Historical Myth and National Identity, New Haven/London 2008, IX. 50  Arturo Pérez-Reverte, »El Dios reccionario nos jodió vivos«. (Entrevista de Javier Valenzuela con Arturo Pérez-Reverte.), in: El País, 15.  November 2003. Zu einer kritischen Analyse des Spanien-Bildes in den Alatriste-Romanen von PérezReverte vgl. meinen Beitrag: »El sitio de Breda de Calderón y Las lanzas de Velázquez en El sol de Breda de Arturo Pérez-Reverte. Transformaciones de un lugar de memoria«, in: Schreckenberg/Ehrlicher, El Siglo de Oro, 213–232. 51  Die satirische Internet-Zeitung El mundo today kommentiert süffisant, ganz im Sinne Kamens: »Vox se disuelve después de que alguien les haya explicado que la reconquista ya se hizo en el siglo XV«, online unter: https://www.elmundotoday. com/2018/12/vox-se-disuelve-despues-de-que-alguien-les-explique-que-la-recon quista-ya-se-hizo-en-el-siglo-xv/ (zuletzt aufgerufen am 10.03.2019).

Genre Maketh Dog? Francis Coventry’s Pompey the Little and Virginia Woolf’s Flush1 By Mirjam Haas and Leonie Kirchhoff Abstract In The New Biography, Virginia Woolf notes that there is a paradox inherent to the genre of biography, i. e. that of »truth« and »personality«.2 »[P]ersonality«, she argues further, can only be truly conveyed through aesthetic selection and manipulation of the facts of a life, through fiction. Animal biography challenges both of these categories: what is a true dog character and how close can an author come to a life-like depiction of it? Virginia Woolf’s Flush: A Biography (1933) as well as the earliest English example of animal biography, Francis Coventry’s The History of Pompey the Little or The Life and Adventures of a Lap Dog (1751), are, in their own way, concerned with this issue. Influenced by their generic predecessors, the texts explore the narratological possibilities which an animal biography can offer, from satirical purposes to aesthetic objectives, from mere functionalisation to sentient animals. Woolf is essentially affected by contemporary discussions of biography and the challenges imposed by creating a dog »personality«. This is fundamental for the depiction of Flush as having an individual (anthropomorphised) character, rather than being depicted as a mere, and changeable type. Pompey the Little, in contrast, serves as a mostly silent and apparently objective observer of society, who, by watching and imitating his masters’ manners, offers eighteenth-century society a ruthlessly unembellished look into the mirror. Consequently, his animal character is, for satirical purposes, reduced to a mere type rather than a complex, not to mention »truth[ful]«, depiction of a nonhuman character. In this paper, we argue that genre expectations interact with two further aspects, i. e. literary history and historical as well as philosophical developments, and all three decisively influence how the two texts understand and relate human as well as non-human experience. 1  This paper is based on a talk we gave at the interdisciplinary workshop Tiere wissen – Tiere erzählen, organised by Marion Darilek and Angelika Zirker, at Tübingen University in June 2017. We want to thank the participants of said workshop and especially Angelika Zirker and Matthias Bauer as well as an anonymous reviewer for their invaluable comments and feedback on earlier versions of this paper. 2  Virginia Woolf, »The New Biography«, in Granite and Rainbow: Essays by Virginia Woolf, London 1958, 149.

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In both Francis Coventry’s Pompey the Little (1751) and Virginia Woolf’s Flush (1933), dogs seem to take centre stage: the two novels have the names of their animal protagonists in their title and attempt to represent their ›doggish‹ lives  – to a certain degree at least. And yet, they are centred just as much, and often more, on the humans surrounding them. Pompey’s story is one of constant change as he is passed from hand to hand, from owner to owner, adapting his personality to the circumstances and presenting an intricate perspective on eighteenth-century London life. The dog acts as a silent observer of human behaviour behind closed doors who adopts and mirrors his changing owners’ personality  – physically as well as psychologically. The interest, then, is rather on the possibilities and insights into human character and behaviour which the dog figure offers as ›man’s best friend‹ than on the narratological challenges and, indeed, opportunities that lie in the depiction of a dog and its animalistic way of perceiving the world. Woolf’s Flush picks up where Coventry leaves off and, in a sense, makes the best of both worlds. Flush is the hero of an animal biography concerned with an actual, historical dog who offers ›his‹ biographer an unusual view into the life of his owner, the nineteenth-century poet Elizabeth Barrett Browning (in the following EBB). In order to tell the latter’s story, Woolf partly functionalises the dog, as Coventry does, as he allows her to get closer to her human subject in body and mind. Thus, Flush, too, adapts to and mirrors his owner’s behaviour. This does not, however, keep the text from exploring and questioning the narratological problems and possibilities a dog hero offers. Where Coventry merely works with picaresque anecdote, almost exclusively aiming at satire, Woolf works with what she calls »AUTHORITIES«,3 mostly poems and letters referring to Flush written by and to EBB, complemented by Woolf’s own knowledge of dogs and their natural behaviour: not being able to speak human language, sensing the world via smell rather than sight, etc.4 Woolf, Flush, ed. Kate Flint, Oxford 2009, 107. for example, Flush regards himself in the mirror and EBB humanises him and thinks him to be »a philosopher« (Woolf, Flush, 23), his initial reaction is quite ›doggish‹: »Then she would make him stand with her in front of the looking-glass and ask him why he barked and trembled. Was not the little brown dog standing opposite himself? But what is ›oneself‹? Is it the thing people see? Or is it the thing one is? So Flush pondered that question too, and, unable to solve the problem of reality, pressed closer to Miss Barrett and kissed her ›expressively‹. That was real at any rate.« (32) Dogs do not recognise their own reflection in the mirror; so far, Woolf’s representation is realistic; Stanley Coren, »Does My Dog Recognise Himself in a Mirror?: Humans and Dogs React Differently to Their Reflection in Mirrors«, Psychology Today 7 (July 2011), https://www.psychologytoday.com/blog/canine3  Virginia 4  When,



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What makes both dog protagonists so appealing, then, is that they offer an unconventional perspective on the societies they live in and especially on ›their‹ human owners. In doing so, they highlight the paradox of literary animal biography between »blatant fictionality« and its »simultaneous insistence on truth and reliability«.5 Biography demands ›proof‹  – but animal biography can only ever provide evidence in a very limited fashion. As human beings we cannot possibly know what a dog thinks or feels (not even when he is standing right next to us), we can only make assumptions.6 As a genre, however, animal biography adapts the rules of corner/201107/does-my-dog-recognize-himself-in-mirror. This does not imply that dogs are not self-aware but rather that they experience, as Woolf (and EBB; see below) has so poignantly observed, the world differently. Where humans see, dogs smell (see Flush, 86). And, according to more recent research, they do recognise their own smell (Coren). Therefore, Flush’s reaction to the mirror (at least in those scenes where he does not recognise his own reflection; see Flush, 17 and 32) is quite realistic – or, at least, flirts with a realistic portrayal of dog behaviour. In this vein, Flush’s conception of what »reality« is, too, seems rather convincing for a dog – to him, touch is real, not ideas: he »kissed her ›expressively‹. That was real at any rate«. Though a dog pondering on the question of reality itself may seem an unlikely (though, perhaps, not impossible) scenario, the scene tells us more about the way EBB sees her dog and interprets his behaviour than about Flush’s own thoughts and feelings. Here, as in so many places, we perceive Flush through EBB and thus EBB through Flush – the dog’s and his mistress’s biography merge. Especially as the passage also includes a citation from one of the just mentioned »AUTHORITIES«, i. e. a letter by EBB that she wrote to H. S. Boyd: »he can’t bear me to look into a glass, because he thinks there is a little brown dog inside every looking glass, and he is jealous of its being so close to me. He used to tremble and bark at it, but now he is silently jealous, and contents himself with squeezing close, close to me and kissing me expressively« (Flush, 122n32 »expressively«). Woolf uses and incorporates such sources of Flush’s life, which may come in the form of anecdotes, observations, and fancies (e. g. EBB’s poems on her dog; see, e. g., Flush, 105), into her text, giving it the (pretend) authority of the written source. The hero himself, however, must remain »dumb« (19). 5  Even though this statement refers to the genre of animal autobiography, the paradox is also characteristic of animal biography. Frederike Middelhoff, »Literary Autozoographies: Contextualizing Species Life in German Animal Autobiography«, Humanities 6.23 (2017), 1–26, here 11. Kevin L. Ferguson adopts the view that it is impossible for a human being to depict an animal’s life accurately in animal biography as »in fact pets can only be bred in the imagination, that what pets are is a way to see the imaginative possibilities of human expression. Animals in general, and pets in particular, provide us human observers a means for articulating our sense of self in the world«; Kevin L. Ferguson, »Pets in Memoir«, in: Jeanne Dubino/Ziba Rashidian/Andrew Smyth (eds.), Representing the Modern Animal in Culture, New York 2014, 81–99, here 97. Thus, animal biography is understood as a paradoxical endeavour in a double sense as the animal the biography is based on is understood as a construct of the human imagination rather than as an independent being. 6  Ferguson discusses this issue in »Pets in Memoir« as does Herman in his recent article, »Animal Biography; Or, Narration Beyond the Human«. Here, he expresses

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biography such as delineating an entire life, focussing on ›great‹, important or fascinating personalities, working with ›facts‹ and anecdotes (i. e. sources). Thus, it evokes the idea of (literary) realism: »It may have happened, it may not have happened: but it could have happened«.7 Both our texts form part of this tradition as they identify as (literary) biography or life-writing: The History of Pompey the Little: Or, the Life and Adventures of a Lap-Dog and Flush: A Biography. While Coventry often keeps his protagonist’s animal features to a minimum, opting for a portrayal of Pompey that allows for the implementation of social satire, i. e. the dog is a didactic tool, Woolf’s text heightens the perceived realism not least via the fact that the dog Flush really did exist as well as the author’s inclusion of her own knowledge and observance of actual dog behaviour, i. e. the dog is an end in itself. And, yet, regardless of the realism of their dog depictions, a shift of focus from the animal protagonist towards the human characters initially in the background takes place throughout both novels. The dog’s view allows for defamiliarization, a novel and unexplored perspective on the human subject8 – from the outside as well as the inside as the dogs do not merely observe but mirror their respective human owner’s behaviour. The shift towards a greater interest in the consciousness of the actual dog and its perception of life that takes place from mid-eighteenth to early-twentieth-century fiction, from Pompey to Flush, can be connected to several factors. The central factor this paper is concerned with is the one of genre expectations: can we even consider Pompey to be an animal biography? In how far does Woolf’s concept of New Biography influence Flush – and is yet ridiculed by it? Two further factors are very influential and interact with this first aspect: literary history and historical as well as philosophical developments. As to literary history, Coventry wrote his work just as the novel set out as an independent literary genre in England and merged this new form with a very old one the idea that although, strictly speaking, animal autobiographies can never be factual, they can still be more or less so. He introduces a »continuum« on which the narrative can move between a representation of the animal that »is strongly committed to truth« versus a version of the animal that is »weakly committed to the truth or fact[…]«; David Herman, »Animal Autobiography; Or, Narration beyond the Human«, Humanities 5.4 (2016), here 6. Herman’s approach thus anticipates the generic issues that are going to be discussed in more detail in this article: the distinction between either the exploitation of the generic possibilities, or the actual representation of the animal, its specific behaviour and experiences. 7  Mark Twain, The Prince and the Pauper, London 1997, 7. 8  For a thorough discussion of the »double dialectic of empathy and defamiliarization«, see Lars Bernaerts et  al., »The Storied Lives of Non-Human Narrators«, Narrative 22 (2014), 68–93, here 69.



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indeed, i. e. that of biography  – and, in the picaresque and satirist tradition, makes fun of both. Woolf’s text is a modernist one, exploring narratological possibilities and human as well as non-human consciousnesses. Satire, however, is just as important for her animal biography. Furthermore, historical as well as philosophical developments shape both narratives. Especially Descartes and his understanding of animals as »automata« has influenced philosophical and ethical thinking about animals as well as triggered (re-emerging) opposition.9 These philosophical discussions also influenced the two texts’ approaches to capturing animal consciousness.10 Only if humans acknowledge that animals do have some sort of rationality, memory and mode of expression, does it become conceivable for animals to tell their ›own‹ stories beyond acting like humans and expressing human ends. Finally, the focus on genre expectations will serve as a means to connect all these issues, as the rather different roles the texts assign to the animals  – from narrative device to mouthpiece for the sentient animals’ perspective  – begin and end with the form they have been moulded into: genre maketh dog.

I. The History of Pompey The title of Coventry’s social satire The History of Pompey the Little: Or, the Life and Adventures of a Lap-Dog (1751) suggests a generic paradox: it combines the »Dignity of History«11 with the »insignificance of a lap-dog«.12 The mock aspiration to write history (a seemingly ›serious‹ genre that, upon close consideration, only »pick[s] truth out of partiality«)13 and the ambition to delineate the biography of a lap-dog, indicate

9  Peter Harrison, »Descartes on Animals«, The Philosophical Quarterly 42.167 (1992), 219–227, here 220. 10  Leading up – via Jeremy Bentham and Charles Darwin – to the contemporary philosophical and ethical discussion of the moral status of animals as influenced by the philosopher Peter Singer’s Animal Liberation (1975); Peter Singer, Animal Liberation, 2nd ed., New York 1990. 11  Francis Coventry, The History of Pompey the Little: Or the Life and Adventures of a Lap-Dog, ed. Robert Adams Day, Oxford 1974, 6. 12  Freya Johnston, »Little Lives: An Eighteenth-Century Sub-Genre«, The Cambridge Quarterly 32.2 (2003), 143–160, here 160. 13  Philip Sidney, An Apology for Poetry, ed. Geoffrey Shepherd, 3rd edition, Manchester 2002, 89. See further: »The historian scarcely giveth leisure to the moralist to say so much, but that he, loaden with old mouse-eaten records, authorizing himself (for the most part) upon other histories, whose greatest authorities are built upon

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Coventry’s own reflections on the popular genre of »Life-writing«.14 Instead of writing about an important historical personality, e. g. Pompey the Great, Coventry decides to write a history of the lap-dog Pompey the Little, cheekily arguing that during this »Life-writing Age […] no Character is thought too inconsiderable to engage the public Notice«.15 Accordingly, Coventry aspires to explore the parodic possibilities a dog protagonist offers to the »Life-writing« enterprise. He thereby exploits the generic features of biographies, imitating the presumptuous claim of biographical writing to adhere only to facts, for example, by introducing fictive letters between two ladies of society as evidence, thus drawing attention to its most evident limitations.16 Pompey’s special status as a popular companion of humankind is employed to satirically depict his mistresses and masters. In mirroring those that take care of him, he offers an intricate picture of society at the expense of his doggish qualities. This technique necessitates Pompey’s loss of animal characteristics, as the narrative is not interested in him, the sentient dog, but rather in Pompey, the reflecting figure and ›hidden camera‹. II. Pompey, the Dog? This becomes particularly obvious in the last chapter of Pompey’s biography. It is only here that the narrator returns to the hero of the story, portraying his »Character« in a short »CONCLUSION« that resembles a postscript: Having thus traced our Hero to the Fourteenth Year of his Age, […] nothing now remains, but to draw his Character, for the Benefit and Information of Posterity. […] and therefore we will […] proceed to his Religion, his Morals, his Amours, &c. in Conformity to the Practice of other Historians. It is to be remembered, in the first Place, to his Credit, that he was a Dog of the most courtthe noble foundation of hearsay; having much ado to accord different writers and to pick truth out of partiality« (our emphasis). 14  Coventry, Pompey, 5. Keenleyside points out that by »Life-writing«, Coventry alludes to the writing of biographies; Heather Keenleyside, »The First-Person Form of Life: Locke, Sterne, and the Autobiographical Animal«, Critical Inquiry 39.1 (2012), 116–141, here 116. Compare also Woolf’s ideas on »The New Biography«, which include every kind of life as long as there is evidence enough to write such a life. 15  Coventry, Pompey, 5. Zirker notes that through replacing »Great« with »Little« the title directly hints at the »(mock-)heroic features« of its protagonist; Angelika Zirker, »Dogs and Horses as Heroes: Animal (Auto)Biographies in England, 1751– 1800«, helden. heroes. héros., special issue 3 (2018), 17–25, here 17. 16  Coventry, Pompey, 31–32.



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ly Manners, ready to fetch and carry, at the Command of all his Masters, […] Far be it from us to deny, that in the first Part of his Life he gave himself an unlimited Freedom in his Amours, and was extravagantly licentious, not to say debauched, in his Morals[.] […] As to Religion, we must ingenuously confess that he had none; in which respect he had the Honour to bear an exact Resemblance to all well-bred People of the present Age[.] […] In Politics, it is difficult to say whether he was Whig or Tory, for he never was heard, on any Occasion, to open his Mouth on that Subject[.] […] For the latter Part of his Life, […] a Pthisic came very seasonably to relieve him from the Pains and Calamities of long Life. Thus perished little Pompey, or Pompey the Little, leaving his disconsolate Mistress to bemoan his Fate, and me to write his eventful History.17

While venturing to situate Pompey the Little in the literary tradition of biography, the narrator simultaneously mocks the genre by delineating the character of a lap-dog »for the Benefit and Information of Posterity«. The conclusion can therefore be understood as a parody of the biographical literary tradition.18 The genre-specific features are applied to Pompey, a dog, whose biography will most likely not have any relevant influence on (human) »Posterity«. For satirical purposes, Pompey is often anthropomorphised and shown to reflect proper human experiences of anguish and despair; for example, in order to convey his »deplorable […] Condition«.19 These »explicit descriptions of the feelings, thoughts and subjective states of the experiencing character«, here rendered by a covert narrator, purport to be features of an ›authentic‹ biography while putting into question whether a truthful depiction of human or, in this case, animal emotions is possible at all.20 When left by his mistress, Pompey is inspired to deliver a dramatic solil17  Ibid.,

201–204; our emphasis. the beginning of his work, Coventry sees himself compelled to »detain the Reader […] with a Panegyric on the canine Race« in order to justify his present undertaking to »writ[e] the Adventures of a Lap-dog« (ibid., 1). The panegyric is a pseudo-historical account of instances in »ancient and modern History« that prove the value of dogs to humankind. Drawing on random facts, Coventry, for example, states: »Julius Pollux’s informs us, that the Art of dying purple and scarlet Cloth was first found out by Hercules’s Dog.« However, a footnote in the present edition by Robert Adams Day explains that Pollux inserted »the story of Hercules’ dog […] as a diversion for the student« (209). Coventry thus shows how a story can easily be turned into a fact and how his own haphazard and mostly fictitious facts can contribute to the emergence of a story. 19  Ibid., 79. 20  Middelhoff, »Literary Autozoographies«, 5. For more information see also »experientiality«, a term coined by Monika Fludernik with regard to essential features of narrativity; Monika Fludernik, Towards a »Natural« Narratology, London 2002, here 98. 18  At

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oquy, a highly aesthetic form of expression, that ends in an apostrophe addressed to »Cruel, cruel Fortune«: At last, a Watchman picked him up, and carried him to the Watch-house. There he spent his Night in all the Agonies of Horror and Despair. ›How deplorable, thought he, is my Condition, and what is Fortune preparing to do with me? Have I not already gone through Scenes of Wretchedness enough, and must I again be turned adrift to the Mercy of Fate? What unrelenting Tyrant shall next be my Master? Or what future Oysterwoman shall next torture me with her Caresses? Cruel, cruel Fortune! when will thy Persecutions end?‹21

Pompey is here attributed not only with the capability to reflect on his situation and, at least, imitate the display of (human) emotions as seen in the theatre,22 but also with exceptional rhetorical skills, though some of them borrowed.23 Pompey’s inflated linguistic choices such as »unrelenting Tyrant«, as well as the use of the archaic »thy«, allude to features of a soliloquy in post-Restoration drama. His performance therefore not only highlights the presentation of his self-pity, but also stresses the degree to which he imitates and mirrors his human companions. The experiences he has gathered in taverns and the theatre clearly influence his presentation of despair. Further, Pompey’s ›borrowing‹ of a passage from other fictional biographies for his dramatic speech ironically shows how the narrator appropriates the ›discursive elements‹ of biographical writing, suggesting biographical authenticity. However, this practice also draws attention to the artificial nature of his or, in fact, any biographical construction.24 This becomes further apparent in the rare flashes of Pompey’s perfectly doggish habits that are set in opposition to his inclination to imitate human manners. Indeed, passages such as the previous one are contrasted with descriptions of Pompey’s exclusively dog-like behaviour that often goes along with a change of his fortune or is simply used for comic effect.25 Those Pompey, 79; our emphasis. ›theatrical education‹ is owed to Lady Tempest: »He quickly became a great Admirer of Mr. Garrick’s acting at the Play-house, grew extremely fond of Masquerades, passed his Judgment on Operas, and was allowed to have a very nice and distinguishing Ear for Italian Music« (30). This also leaves it open whether Pompey’s feelings are genuine or merely an imitation of staged emotions that are not actually heart-felt. 23  As Zirker observes in her article, the apostrophe directed at »Cruel, cruel Fortune!« is taken from Fielding’s novel Tom Jones, written in 1749; Zirker, »Dogs and Horses«, 19. 24  Middelhoff, »Literary Autozoographies«, 25. 25  See for example Coventry, Pompey, 33, 57f, 67, 68, 132, 161, and 177. 21  Coventry, 22  Pompey’s



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scenes show Pompey »indulging himself« in behavioural patterns that can be observed in most dogs.26 When spending an afternoon in the park with his mistress, his »Curiosity« and his newfound freedom that incites »Pleasure by Novelty« suggest his doggish delight in running around the park, »rolling« in the grass and exploring his surroundings by sniffing at »something or other«.27 Being away from his mistress, he assumes forms of dog-like behaviour that culminate in a mad »Chace« after a bird.28 However, his animalistic conduct is fatal for his happiness. Pursuing the »Bird« with »such Eagerness and Alacrity«, he loses his mistress and  – while she forgets about him altogether – his fate turns to the worse.29 His behaviour is indeed more often than not regarded as inconsiderate and inappropriate, which often leads to his dismissal as his owners’ favourite pet. Actually, not only Pompey’s imitation of human manners but also his doggish behaviour is exploited for satirical purposes30 and serves to drive the plot forward. The fact that Pompey is portrayed as a hero whose restless life and episodic adventures are recounted suggests generic similarities to the picaresque novel. In this context, his doggish behaviour, which should be considered natural, marks him as a ›picaro‹ who, according to human standards, behaves inappropriately. His repeated expulsions, the result of such behaviour, further suggest his role to be merely functional. He is, after all, just the keyhole through which readers are offered a peak at the absurdity of human affairs. Pompey’s impotence regarding the authority over his own fate and his own story, marks a critical aspect of animal bio­graphies. He, as well as his fellow subjects in animal fiction, must ultimately »rely […] on human narrators for the delivery of their tale«.31 It is therefore only fitting that 26  Ibid.,

41.

27  Ibid. 28  Ibid. 29  Ibid. 30  Howling, for example, is an instinctive behavioural pattern, which is considered a relic from the dogs’ wild ancestors and can be observed mostly as a reaction to the howling of fellow dogs. However, Pompey’s »howling« in response to the sisters’ chanting is used to a comic effect in order to ridicule the »screaming sisters« who apparently resemble a pack of howling dogs rather than a female choir: »our hero sat very composed and quietly before the fire; but when they began to chant their hymns, surprized and astonished with the novelty of this proceeding, he fell to howling with the most sonorous accent, and in a key much higher than any of the screaming sisters«; Coventry, Pompey, 67; our emphasis. 31  Christina Lupton, »Giving Power to the Medium: Recovering the 1750s«, The Eighteenth Century 52.3–4 (2011), 289–302, here 296.

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Coventry’s novel has been referred to as an It-narrative. In fact, the generic term highlights the problematic downgrading of animals as mere objects. Categorising Coventry’s Pompey as an It-narrative emphasises its animal protagonist’s lack of control over his own life and Coventry’s disregard of the fact that a dog is actually a sentient being, not a lifeless object.32 This attitude towards animals was not uncommon during the seventeenth and eighteenth century. It was based on the Aristotelian philosophy developed and promoted by Descartes in his Discourse on the Method and, Meditations on First Philosophy, first published in 1637, which claims that animals are machines devoid of reason or a Rational Soul.33 He thus argumentatively denied animals the capacity for emotions and the ability to actually suffer. Coventry’s neglect of Pompey’s animalistic perceptions and reactions is therefore aligned with the contemporary notion of animal (non-)sentience. For this reason, the choice of a lap­dog as the hero of his picaresque novel is unlikely to have been influenced by the desire to explore the narratological possibilities of representing a dog’s consciousness. Rather, the choice of a »non-human individual« that reflects society’s ›brutishness‹ hints towards the fact that this novel is primarily intended to be a satire of human behaviour as well as a parody of several literary genres; in this case, a parody of the picaresque novel as well as the biographical genre.34 III. Biography and/or Social Satire Although Pompey is, according to the title, the protagonist and »Hero«35 of the story, his thoughts, feelings and personal development are not necessarily the main focus. He is rather employed as a ›voyeuristic tool‹ that, for »Want of Speech«,36 presents supposedly uncommented

32  The anthology British It-Narratives, for example, includes Coventry’s dog biography. Mark Blackwell (ed.), British It-Narratives, 1750–1830, 4 volumes, London 2012, volume 2. 33  René Descartes, Discourse on Method and Meditations on First Philosophy, ed. David Weissman/William Theodore Bluhm, New Haven 1996, here 29. 34  Zirker, »Dogs and Horses«, 18. 35  Coventry, Pompey, 17. 36  Ibid., 30. Animals’ inability to express their feelings and thoughts through language is ironically commented on. In fact, Pompey laments his speechlessness »for by that means he [is] prevented the pleasure of boasting of the Favours he receiv[es]« (31). Although, the narrator claims that »[i]f he could have spoken, […] he would have used the Phrases so much in fashion« (30), Pompey is unable to speak to his human masters and is therefore, to his great displeasure, also unable to adopt their propensity to brag.



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»revelations about human society«.37 Choosing a lap-dog, the popular pet of ladies that accompanied them as a fashionable asset nearly day and night, enables the narrator to present an intimate picture of society: like an object, rather than a sentient being, Pompey is passed on through the various social classes from the reading rooms of the ladies to the beggars’ dirty shelters in the streets. This perspective allows the narrator to conveniently follow Pompey, the silent keeper of society’s most intimate secrets, into the homes of the most and least distinguished society. In Pompey the Little, the dog therefore serves as a means that provides an apparently objective ›camera perspective‹, while ridiculing social conventions. This becomes obvious in Coventry’s mingling of terms that are commonly used with reference to the animal world and that are now applied to a human context and vice versa. Most strikingly, the issue of »breeding« is employed in the context of human education.38 Throughout the story several allusions refer to the breeding of dogs, such as the narrator’s statement that »it was usual for all the Acquaintance of Lady Tempest to solicit and cultivate [Pompey’s] Breed«.39 Breeding is here used as a term that describes the procreation of favourable character traits or features in dogs. More often, though, the term is transferred to a human context, namely when talking about the education and manners of upper-class men and women. Although this term is not unusual when talking about »bringing up: formerly in [the] sense of ›education‹ «, the mockery is the more ›biting‹ when applied in the context of a biography of a lap-dog.40 This is, for example, the case with Lady Betty’s grand-mother, who has the ambition to »take her grand-daughter out of the tempta-

37  Johnston, »Little Lives«, 158. Pompey is rarely the focus of the different chapters, the titles of which already suggest that Pompey will hardly be mentioned at all: »Book I, Chapter III  – Another Conversation between Hillario and a celebrated Lady of Quality,« or »Book I, Chapter X – The Genealogy of a Cat, and other odd Matters«, »Book II, Chapter VIII – A Description of a Drum«, including one chapter that relates »a curious dispute on the immortality of the soul, in which the name of [the] hero will but once be mentioned«. Indeed, most chapters relate bizarre conversations (esp. Chapters III, IV, VII in Book I), odd matrimonial customs (Chapters V, XII, XIV in Book I) as well as ludicrous philosophical contemplations (Chapters VII, VIII in Book I and Chapters I, IX, XII in Book II) and religious indoctrinations (Chapter XIII). As a consequence, the hero of the story is at times completely forgotten, causing the narrator to beg pardon for »having so long neglected to mention his Name« (15). 38  See ibid., 17, 60, 154, 189. 39  Ibid., 31. 40  »breeding n.«, OED Online, Oxford University Press, December 2018, www. oed.com/view/Entry/23023.

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tions of a wicked seducing age into her own family, and breed her up a Methodist«.41 Another example involves a lady who discusses her »Territories« and »Dominions« in the house after having been criticised for not meeting the »Company at the Bottom of the Stairs«, which was assumed to show bad »Breeding«: ›I am amazed that you can be guilty of such a Solecism in Breeding: It surprizes me, that you are not sensible of the Impropriety of it  – Will it not shew much greater Respect and Complaisance to meet your Company at the Bottom of the Stairs, than to stand like an Indian Queen receiving Homage at the Top of them?‹ ›Yes, my Dear! answered her Ladyship; but you know my Territories do not commence till the Top of the Stairs; our Territories do not begin below Stairs; and it would be very improper for me to go out of my own Dominions-Don’t you see that, my Dear?‹42

The choice of terms is reminiscent of a discussion about a dog’s territorial behaviour.43 This peculiar reciprocity between Pompey’s function as a mirror of society and the suggestion of society’s adoption of ›animal etiquette‹ further satirizes social conventions. Similarly, the terminology used to describe Pompey is often suggestive of the genre’s paradoxical ambition to portray the dog’s world in expressly human terms and conditions: for example, in the biographer’s description of Pompey as a »Dog of the most courtly Manners, ready to fetch and carry, at the Command of all his Masters«, the first word of the sentence, «Dog,« could easily be replaced by man, woman, child, or gentleman »of the most courtly Manners«.44 Only the latter part of the sentence opposes the initial anthropomorphism to Pompey’s doggish feats, such as his readiness »to fetch and carry, at the Command of all his Masters«.45 Ironically, this could also be understood the other way around, suggesting that men’s eagerness »to fetch and carry, at the Command of all […] Masters« Pompey, 60. 154; our emphasis. 43  Even though the OED’s first entry for »territory« as »an area selected by an animal or group of animals and defended against others« (zoology, 1.d.) is from 1774, and thus postdates the publication of Pompey, territorial behaviour in animals has been exploited for centuries (see watchdogs). Thus, though the word may not have been used in an explicitly zoological sense before 1774, the analogy holds. »territory, n.1«, OED Online, Oxford University Press, December 2018, www.oed.com/ view/Entry/199601. 44  Coventry, Pompey, 202. 45  Ibid. 41  Coventry, 42  Ibid.,



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is an essential prerequisite in order to be considered a gentleman of the »most courtly Manners«.46 Coventry’s rhetoric thus exploits the unique possibilities of his particular choice of hero: it depicts Pompey’s doggish behaviour, while simultaneously mocking society’s conception of »courtly Manners«.47 Again, the dog assumes a mirror-function that reflects and thus ridicules society’s mannerisms. Another instance that manifests the peculiar blend between the world of dogs and men is Coventry’s reference to »the catalogue of human beings«,48 which is reminiscent of Macbeth’s »in the catalogue ye go for men […] All by the name of dogs«.49 In both cases, the hierarchical order among dogs that classifies each dog »according to the gift which bounteous nature / Hath in him closed« is used to point out that, among men, a similar distinction or social order applies.50 Indeed, several situations reflect Pompey’s »social aspirations« and his desire to improve his position in this man-made hierarchy.51 Anthropomorphised Pompey is just as distinguished as his mistress. He only socialises with »Dogs of Quality« and affects »a most hearty Contempt for all of inferior Station«, and even »pretend[s] to know at first Sight, whether a Dog had received a good Education«.52 His pride in »shew[ing] his Collar at Court« echoes his mistress’ ambition to go out and watch others while at the same time being seen by others just as »vain of their Finery«.53 His function as an instrument to portray and ridicule social conventions and ceremonies is enhanced by his own vain behaviour that is an imitation of his masters and mistresses’ vanity. Pompey’s adventures therefore not only serve to present the world from the perspective of a lapdog, but also to question the ways in which social roles are constructed by offering a mirror figure that reflects human behaviour right back at us.54 In doing so, it necessarily reduces Pompey’s animal character to a (changing) type rather than 46  Ibid. 47  Ibid. 48  127. 49  William Shakespeare, Macbeth, ed. Sandra Clark/Pamela Mason, London 2015, 3.1.93–96. 50  Ibid., 3.1.99–100. 51  Johnston, »Little Lives«, 151. 52  Coventry, Pompey, 30. Pompey’s insistence on a »good Education« (30) is reminiscent of the ladies’ conversation about good »Breeding« (154) discussed earlier in this article, playfully making the cynical entanglement of human and animal world all the more prevalent. 53  Ibid., 30. 54  Zirker, »Dogs and Horses«, 19.

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presenting the reader with a complex, not to mention »truth[ful]«, presentation of the nonhuman character.55 Thus, Pompey’s history  – parallel to his characterisation  – must remain secondary, whereas the main purpose of Coventry’s novel is the presentation and critique of the extravagancies of eighteenth-century society, ranging from munificent to stingy patrons, bizarre conversations and coquetries of a married couple up to the ruthless behaviour of his childish masters and absurd as well as touching encounters with all kinds of personages. Throughout the narrative, Pompey merely copies his fellow creatures and thus (involuntarily) acts as a silent but ironic commentator of the persons he meets during his adventures. The representation of Pompey is furthermore essentially influenced by its generic predecessors. It draws on features of biography, the picaresque novel as well as social satire. IV. A Question of Good Breeding: Flush as Satire We have suggested that the main difference between Coventry’s and Woolf’s novels lies in their differing approaches to the genre of biography which, in turn, influence the way the authors represent their respective protagonists. This depiction of the animals can further be connected to generic expectations beyond biography, i. e. social satire, and the eighteenth-century picaresque novel vs. modernist style. The re-emerging philosophical and historical understanding of animals as potentially rational creatures towards the end of the eighteenth century  – as mirrored in the anonymous Memoirs of Dick, the Little Poney (1799) and firmly established towards the end of the nineteenth century in Anna Sewell’s Black Beauty (1877)  – opens the possibility to fully explore animal consciousness.56 As we have seen, Coventry mainly instrumentalises Pompey and is not very interested in his animal qualities; Woolf, however, puts a lot of effort into creating a ›realistic‹ representation of her animal protagonist. And yet, we find astonishingly similar scenes to the ones that we have just been discussing in Coventry’s Pompey in Woolf’s text. Astonishingly so because, as Kelly Sultzbach notes, »[i]n some of Woolf’s work« – 55  Middelhoff,

»Literary Autozoographies«, 11. to Descartes introducing the idea of thinking of animals (and people) as machines, dogs especially were long held to be rational and logical creatures and were represented in literary texts accordingly. For examples, see Matthias Bauer, »The Language of Dogs: Mythos and Logos in Emily Dickinson«, Connotations 5.2–3 (1995/96), 208–227, here 215. 56  Prior



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including Flush and the short story Kew Gardens (1919)  – »nonhuman animals assume key roles, with a status equivalent to their human counterparts. Thus Woolf implies their independent agency and a lateral, rather than hierarchical, relationship to the human species«.57 What we find in Flush, however, are not exclusively genuine (if humorous) attempts at displaying the world as it is  – or rather could be  – experienced by a dog, but also clearly satirical tendencies that freely impose human ideas of (English) social hierarchy onto ›dog society‹.58 Similar to Pompey, Flush here functions as a mere mirror figure: [T]he dogs of London, Flush soon discovered, are strictly divided into different classes. Some are chained dogs; some run wild. Some take their airings in carriages and drink from purple jars; others are unkempt and uncollared and pick up a living in the gutter. Dogs therefore, Flush began to suspect, differ; some are high, others low; and his suspicions were confirmed by snatches of talk held in passing with the dogs of Wimpole Street. »See that scallywag? A mere mongrel! … By gad, that’s a fine Spaniel. One of the best blood in Britain! … Pity his ears aren’t a shade more curly … There’s a topknot for you!«59

Some of the experiences Flush has clearly coincide with Pompey’s: he, too, has to discover that, in London, »dogs are not equal, but different«.60 The satirical streak in Woolf’s, for want of a better word, Biography, becomes apparent in this scene and her technique is similar to Coventry’s. It is not ›dog society‹ or, rather, social behaviour that is portrayed and ridiculed here, but human society. Flush as well as the ›high‹ dogs surrounding him seem, according to their ›conversations‹ (it is assumed that dogs can speak to each other, though they are incapable of understanding human speech),61 ready enough not only to understand but also to incorporate this very human lesson. As the scene goes on, Flush is, in fact, quite anxious to figure out his own place within ›dog society‹ and, considering himself in the mirror in human fashion, he is rather pleased to 57  Kelly Sultzbach, Ecocriticism in the Modernist Imagination: Forster, Woolf and Auden, Cambridge 2016, 93. 58  From a naturalist’s viewpoint, this imposition is not completely wilful: dogs, too, have an innate understanding of social hierarchies. They live in packs (whose members are replaced by human family/household members in pet dogs) in which some lead and others follow. These social positions, however, are by no means determined by birth right and it is exactly this human idea of social difference, of aristocracy and good breeding, that Woolf ridicules here. See also Woolf’s quotation of Sir Philip Sidney on the long established »aristocracy of dogs«; Woolf, Flush, 7. 59  Woolf, Flush, 23; our emphasis. 60  Ibid., 22. 61  »The fact was that they [i. e. Flush and EBB] could not communicate with words«; ibid., 27.

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find himself to be an »aristocrat«.62 Flawless in appearance, he looks just like a proper cocker spaniel ought to look and is treated (drinking from a »purple jar«) accordingly.63 His humanness is nearly tangible at this point  – as he is dog, why should he care or even be aware of his »birth and breeding«?64 But as he is anthropomorphised, Flush turns out to be rather a »snob«,65 recognising the very idea of human social hierarchies that Sultzbach and other critics claim Woolf’s texts to be free of. He is being instrumentalised and humanised to a degree that is similar to Coventry’s treatment of Pompey. So far, Coventry’s and Woolf’s motives are similar, their common aim being the satirising of English class distinctions, and so are their techniques. Both texts make use of the dogs’ alleged outside view on human society and, indeed, their copying of human behaviour exposes the superficiality of animals (and humans) insisting on ›breeding‹. The texts achieve this in a manner similar to allegories or beast fables, where the animals really just stand in for human characters; they reflect human conditions and world views onto ›dog society‹. We can recognise ourselves in them because they are ourselves. But, at least in Woolf’s case and in scenes other than the one discussed so far, Flush nevertheless shows non-human characteristics.66 This is because Flush can be understood as having what Woolf calls in her 1927 essay The New Biography a »personality«  – and, as we will show below, this genre-specific requirement is essential for the dog having an individual (albeit anthropomorphised) character rather than being merely a changeable type (cf. Pompey above).67 For Woolf, the exploration of the dog perspective is an end in itself, which opens up new possibilities of imaginatively understanding and relating animal and human consciousness.

62  Ibid.,

23.

63  Ibid. 64  Ibid. 65  Ibid., 66  See

75. Sultzbach, Ecocriticism, 93; cf. also Pompey’s natural behaviour discussed

above. 67  Virginia Woolf, »The New Biography«, in: Granite and Rainbow: Essays by Virginia Woolf, London 1958, 149. The very word is also used in the novel in reference to the dog; Woolf, Flush, 45. Though, perhaps, it does not completely ascribe a »personality« to Flush in his own right as he always reflects his mistress on some level (see below).



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V. Flush, the Dog? Heavy curls hung down on either side of Miss Barrett’s face; large bright eyes shone out; a large mouth smiled. Heavy ears hung down on either side of Flush’s face; his eyes, too, were large and bright: his mouth was wide. There was a likeness between them. As they gazed at each other each felt: Here am I  – and then each felt: But how different! […] Broken asunder, yet made in the same mould, could it be that each completed what was dormant in the other? She might have been  – all that; and he  – But no. Between them lay the widest gulf that can separate one being from another. She spoke. He was dumb. She was woman; he was dog. Thus closely united, thus immensely divided, they gazed at each other.68 Her face with its wide mouth and its great eyes and its heavy curls was still oddly like his. Broken asunder, yet made in the same mould, each, perhaps, completed what was dormant in the other. But she was woman; he was dog.69

The first and the last moments in which Flush and EBB look at each other and recognise themselves in their counterpart are arranged symmetrically within the book (beginning and ending their acquaintance) and mirror each other structurally. They form the frame for the text, its possibilities and its limitations.70 Even though the distance between EBB and Flush can never be closed, as they are divided by their very different way of experiencing the world (language and sight vs. feeling and smell), they are connected to each other as a reflection in the mirror is to its original.71 They can never touch, never exist in the world of the other, are »[b]roken asunder«, and yet they are the same. They complement each other, can see themselves in the other, and, perhaps, are able to see themselves, as in an actual looking-glass, more clearly from a small distance. In both of these scenes, it is hard to tell whether the heterodiegetic biographer focalises on EBB’s, Flush’s or both their consciousnesses. This illustrates the interconnectedness of the two protagonists as well as the biographer (and the reader); their minds, it seems, melt together, the ›bond‹ between them 68  Ibid.,

18–19. 105. 70  For a discussion of the function of the semicolon in »She was woman; he was dog«  – dividing and uniting across sentences and species  – see Sultzbach, Ecocriticism, 108. 71  For a more detailed analysis of this scene, see ibid., 107–108, as well as Craig Smith, »Across the Widest Gulf: Nonhuman Subjectivity in Virginia Woolf’s Flush«, Twentieth Century Literature 48.3 (2002), 348–361. Matthias Bauer made us aware of the fact that Woolf uses the word »likeness« (Flush, 18) rather than mirror here, which emphasises that they both reflect and are reflected in the other without one being the original. 69  Ibid.,

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growing ever stronger. All three (or four) consciousnesses can only be expressed in human language, but nevertheless a kind of symbiotic relationship is established as the »nonhuman animal[…] assume[s a] key role[…], with a status equivalent to [its] human counterpart[…]«.72 Flush, like Coventry’s Pompey, mirrors his owner as well as the society he lives in  – but different from Pompey, his owner also mirrors him. Hence, genre as well as modernist stream-of-consciousness style (see the examples given above) necessitate a certain psychological depth in Flush’s character, while Pompey’s must remain a blank, ever adaptable to the changing circumstances of picaresque satire. Woolf explores the possibilities offered by the dog’s point of view not only to depict the human but also the animal world – reflecting the (re)shift towards a philosophical and ethical understanding of animals, if not as rational, then at least as sentient beings. As early as in his 1781 An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Jeremy Bentham, defying Descartes, questions whether animals really are incapable of feeling and suffering. Charles Darwin, in the nineteenth century, further promotes this more traditional understanding of animals as he often spoke about the capacity of animals to feel pain, and their many similarities to the human animal. He accepted without question that animals were capable of many emotions and experiences, both similar and different to humans. Darwin even proposed that at least some animals were capable of self-consciousness[.]73

Woolf’s own time, the early twentieth century, was again »characterised by the behaviourist movement«, which was somewhat paradoxically »driven by the idea that only observable behaviour should be studied, discrediting any subjective experiences, intention, or emotions in animals«.74 A theory, however, which also had its contenders such as the psychologist »[William] McDougall, who argued that emotions were what drives behaviour, not inbuilt reflexes«.75 Whereas Woolf’s method may be partly borrowed from the behaviourists  – whether she studies human or animal life  –, Flush is clearly endowed with the ability to feel and is additionally given a sense of self-awareness (see above); a self-awareness that must always be closely linked to human consciousness in a narrative world created by a human mind. Narratologically speaking, Woolf’s Bio­ graphy seems not so much to »question and deride claims of referentiality, Ecocriticism, 93. Proctor, »Animal Sentience: Where Are We and Where Are We Heading?«, Animals 2.4 (2012), 628–639, here 629. 74  Ibid. 75  Ibid. 72  Sultzbach, 73  Helen



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factuality and authenticity in conventional auto/biographies«,76 but rather makes use of the imaginative possibilities inherent in animal biography and turns them into an asset that enables the narrative to provide the poet’s dog with a true  – animal  – personality in the first place. In stark contrast to Pompey, Flush is an animal protagonist who embodies much more than Descartes’ ›animal machine‹; a feeling, suffering and even thinking ›beast‹. Woolf combines this new idea of the animal and the possibilities and demands of novel and biography as modes of character and life-writing to create a rather life-like representation (where convenient) of her dog protagonist. This may be as close as it is humanely possible to come to the historical Flush and his relationship to EBB, as »the life which is increasingly real to us is the fictitious life« and »it dwells in the personality rather than in the act«.77 VI. Flush: A New Biography The paradox of telling a dog’s life ›realistically‹ is mirrored and, perhaps, even determined by the (uncertain) genre of the text. The first sentence of Flush: A Biography situates it, somewhat uncomfortably between two very different traditions of life-writing: »It is universally admitted that the family from which the subject of this memoir claims descent is one of the greatest antiquity«.78 On the content level, we seem to firmly move in the realm of traditional biography, biography of the ›old‹ kind that concentrates on writing the lives of great men (and families).79 We are not to forget, however, that we are partly dealing with the biography of a ›great woman‹, i. e. EBB’s, and whereas we can get an idea of what she thought and felt about Flush and other matters (given the authenticity of the written sources she and others left behind), we can never really know what the dog, the historical Flush, thought and felt. Whereas the representation of Flush’s inner world must rely on conjecture (though founded on observation), his background and personal history is based on facts. We are reading the »memoir« of a »subject« yet unidentified as to species,

76  Middelhoff,

»Literary Autozoographies«, 11. The New Biography, 155. 78  Woolf, Flush, 5. 79  The kind of biography Woolf’s own father, Leslie Stephen, would have written for the Dictionary of National Biography of which he was the first editor. See Kate Flint (ed.), »Introduction«, in Flush, written by Virginia Woolf, Oxford 2009, xii– xlvi, here xiv. In her definition of »The New Biography«, Woolf finds issue with both terms ›great‹ and ›m[a]n‹. 77  Woolf,

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which  – or, rather, who  – »claims descent […] of the greatest antiquity«. This sense of factuality, however, is immediately undermined and ridiculed by the sentence that follows it: »Therefore it is not strange that the origin of the name itself is lost in obscurity«.80 It is, indeed, so »antiqu[e]« that it cannot even be traced down, which exposes the biographer’s work (in general) as speculative and his or her interest as triggered by »antiquity« rather than matter. This sense of ridicule is heightened when the great family name turns out to be »Spaniel«.81 In echoing the famous beginning of Jane Austen’s novel Pride and Prejudice (1813)  – »It is a truth universally acknowledged, that a single man in possession of a good fortune, must be in want of a wife«  –, the first sentence of Flush outright evokes the genre of the novel, ›outing‹ itself as literary.82 It is the art of the novelist, and it certainly is no coincidence that the great character writer Austen and, hence, the novel of manners is alluded to here, not to write true histories/biographies but, on the contrary, to write true characters. Personality – especially dog personality –, it would seem, is created in and through fiction much more realistically than in non-fiction.83 Novel and ›biography‹ are connected by a common aim  – i. e. to represent their subject(s) as life-like as possible. If the aim of The New Biography is to portray »personality« truthfully (»it could have happened«)84 through fiction, then, in the context of Flush, the question ensues whether and how one can portray a dog’s »personality« truthfully? Woolf approaches this problem, not unsurprisingly, imaginatively  – and perhaps a little evasively  – by not asking ›who is Flush?‹ 80  Woolf,

Flush, 5.

81  Ibid.

Austen, Pride and Prejudice, London 1994, 3. question whether non-fictional writing can represent factual life convincingly is an old and ongoing point of debate: »While the origins of biography and the novel are substantially allied, the use of fictional techniques and the possibility of soundly interweaving the two forms have been points of chronic dispute. The novelist Henry James, who also wrote biography, believed that only fiction could capture the otherwise elusive qualities of life«; Catherine N. Parke, Biography: Writing Lives, London 2002, 19. As recently as 2012, the Scottish novelist and memoir writer Candia McWilliam remarked in a talk given at the Oxford Centre for Life-Writing that »Biography is true. Fiction is made up. I’m hoping to tell you that part of the success of the best biographical writing is an openness to the made-up in the pursuit of truth, and that this is so in fiction also«; Candia McWilliam, »Where May Truth Lie? Fiction in Memory, Memory in Fiction«, University of Oxford Podcasts (20 February 2012), http://podcasts.ox.ac.uk/where-may-truth-lie-fiction-memorymemory-fiction, here 00:30:44–00:30:59. 84  Twain, Prince, 7. 82  Jane 83  The



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but rather ›how is Flush?‹85 And her answer lies in imagining his doggish experience of the world. His first entrance into EBB’s house in Wimpole Street may serve to illustrate the point: But as Flush trotted up behind Miss Mitford [his first owner] he was more astonished by what he smelt than by what he saw. Up the funnel of the staircase came warm whiffs of joints roasting, of fowls basting, of soups simmering—ravishing almost as food itself to nostrils used to the meagre savour of Kerenhappock’s penurious fries and hashes. Mixing with the smell of food were further smells—smells of cedarwood and sandalwood and mahogany; scents of male bodies and female bodies; […] Each room as he passed it […] wafted out its own contribution to the general stew; while, as he sat down first one paw and then another, each was caressed and retained by the sensuality of rich pile carpets closing amorously over it.86

Within the realm of the narrative, this seems to be a realistic representation of a dog, because Flush, similar to actual dogs, mostly lives »in the world of smell«.87 As there is no way of knowing  – beyond the narrative filtered through a human consciousness  – what effect Mr. Barrett’s house had on the historical Flush when he first encountered it, ›realistic‹ is an intricate term here. We are dealing, as it is, with an ›imagined dog‹. The possibility of exploring this imagined doggish world in the first place, however, is prompted by the still developing general, philosophical and scientific understanding of animals, and especially pets, as conscious beings during the twentieth and the twenty-first centuries.88 Woolf’s work can be understood as pioneering for this movement and it is well known that the author harboured a great interest in dogs as well as other animals.89 Hence Flush is, as »Quentin Bell writes in the biography of his aunt, ›[…] not so much a book by a dog lover as a book by someone who would love to be a dog‹ «.90 And the world Woolf presents to us as smelt through a dog’s nose is an intense one, a playground for the modernist writer to explore, a feast of the senses and of synaesthesia.91 This goes far beyond Coventry’s rather limited representation of Pompey’s doggish 85  Quite

in the vein of the behaviourist movement mentioned above. Flush, 15; our emphasis. 87  Ibid., 86. 88  Cf. Singer, Animal Liberation. 89  Flint, »Introduction«, xii-xiv. 90  Ibid., xiii. 91  See Feuerstein for an in-depth analysis of »Flush’s canine epistemology, which functions primarily by way of scent«; Anna Feuerstein, »What Does Power Smell Like?: Canine Epistemology and the Politics of the Pet in Virginia Woolf’s Flush«, Virginia Woolf Miscellany 84 (2013), 32–34, here 32. 86  Woolf,

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qualities as a picaresque feature. Pompey’s nonhuman view of the world and the narrative possibilities this perspective offers, apart from a keyhole-view on human society, are largely left unexplored. Pompey remains an ›it‹ rather than becoming a ›he‹. This is quite different in Woolf’s text. Flush’s sensations are explored, even though she acknowledges Flush’s world to be inaccessible to the »biographer« and to Flush’s mistress EBB, as »there are no more than two words and one-half for what we smell» and »with all her poet’s imagination Miss Barrett could not divine what Wilson’s [the maid servant’s] wet umbrella meant to Flush; what memories it recalled, of forests and parrots and wild trumpeting elephants«.92 Thus, a paradox is created on the metalevel of the text as it tries to achieve something that it simultaneously declares to be impossible; i. e. an accurate representation of the way a dog experiences the world. While the »biographer« of Flush claims that it is language that fails »the greatest poets« in this attempt,93 it is language too that gets them  – and the biographer (understood as poet and hence ›maker‹?)94  – out of the dilemma. Woolf does not recreate doggish sensations that human beings are incapable of perceiving; rather, she shifts the focus by using synaesthesia and enables a new view  – often literally, as her descriptions of Flush’s power of smell are quite often visual ones (e. g. »purple smell«)  – on well-known human sensations.95 And this is how fiction becomes a means to represent dog reality; or, at least, an idea of dog reality that is based on observation as well as on imagination.

Flush, 86 and 26. 86. 94  This question provokes an entirely new focus on the ability of writers of fiction to create ›reality‹ as understood by Philip Sidney in his An Apology for Poetry. In this treatise, Sidney argues that »[o]nly the poet« (from Gr. ›poein‹ = to make) who, as opposed to the philosopher and the historian, is not tied to probabilities, logic or (uncertain) facts can »grow in effect into another nature, in making things either better than Nature bringeth forth, or, quite anew«; Philip Sidney, An Apology for Poetry, 85. Adopting a non-human perspective certainly falls into the latter category; an impossible perspective which can, following Sidney, only be made in language. This aspect opens up further research perspectives concerning the topic Language Maketh Dog that cannot be addressed in the present context. 95  Woolf, Flush, 87; see also 86–87. Even descriptions of voice are sometimes interspersed with visual images: »And every time the man [i. e. Mr. Browning] came, some new sound came into their voices—now they made a grotesque chattering; now they skimmed over him like birds flying widely; now they cooed and clucked, as if they were two birds settled in a nest; and then Miss Barrett’s voice, rising again, went soaring and circling in the air« (41; our emphasis). 92  Woolf, 93  Ibid.,

Huckleberry Finn: Aktuelle Zensur eines Klassikers?1 Von Angelika Zirker Abstract Mark Twain’s novel Adventures of Huckleberry Finn, first published in England in 1884 and a year later in the US, is paradoxical in that it is one of most frequently censored books of world literature  – and, concurrently, one of the most frequently read and praised. The following article will try to explain this paradox and, in a first step, address the history of the novel’s censorship and the (various) reasons given for it. Adventures of Huckleberry Finn has undergone censorship since its first publication, and even today it is included in the list of »Banned and Challenged Books« of ALA (American Library Association)2. What are, in fact, reasons for banning the book? And how are these reasons questioned by defenders of the book? Which strategies are used? Since the novel’s publication, those who have completely dismissed the book and those who have appreciated it as a »masterpiece« have opposed each other. An overview of these controversies will result in a close reading of one of the most debated chapters in the novel, with a focus on the autodiegetic narrator Huck, who has been characterized as a naïve child that simply does not know any better, as a »fallible narrator«, or as a liar. But it remains doubtful whether the narrator’s weakness is the answer to the question of Huck’s alleged racism. The paper will offer alternative roads into the novel that consider both the text and the context of its origin.

Mark Twains 1884 in England und ein Jahr später in den USA erschienener Roman Adventures of Huckleberry Finn ist ein Paradox: es handelt sich dabei um eines der am häufigsten zensierten Bücher der Weltliteratur

1  Dieser Beitrag geht auf einen Vortrag im Rahmen der Jahrestagung der GörresGesellschaft 2016 in Hildesheim zurück. Thema der Sektion Philologien war »Kanon und Zensur«. Ich danke den Gutachtern meines Artikels sowie dem verantwortlichen Herausgeber, Matthias Bauer, für ihre wertvollen Hinweise. 2  ALA (American Library Association), 1996–2018a, »Banned and Challenged Books«, zuletzt aufgerufen am 19.03.2019 unter: http://www.ala.org.

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überhaupt3  – und gleichzeitig um eines der am häufigsten gelesenen.4 Seit der Veröffentlichung des Romans gab es immer wieder Kontroversen. Die Positionen reichten von der Forderung nach dem Verbot des Romans bis hin zu seiner Beurteilung als literarisches Meisterwerk5 und spielten sich in unterschiedlichen Begründungs- und Wirkungszusammenhängen ab. In den Diskussionen um den Roman ist vor allem die Rolle der autodiegetischen Erzählerfigur Huck Finn etwa aufgrund seiner Ausdrucksweise (er benutzt Schimpfwörter und spricht in seinem Dialekt) immer wieder zentral: ist er ein naives Kind, oder handelt es sich um einen »fallible narrator«, wie er neuerdings in der Forschung bezeichnet wurde6, oder ist er gar ein Lügner? Andere Kritiker beziehen sich nicht auf die Erzählerfigur, sondern auf die Handlung: so wird häufig das Romanende kritisiert7 bzw. die mangelnde Moralität der Figuren8. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Zensur offensichtlich vielfach einer ungenauen Lektüre des Romans geschuldet ist. I. (Kurze) Geschichte einer Zensur: Begründungen und Verteidigungsstrategien Die Geschichte der Zensur des Romans vollzog sich in mehreren Schritten: sie beginnt mit der Vorabveröffentlichung von Auszügen im 3  Ben Click, »Hushing Huck: The Banning of Huckleberry Finn«, 23. Nov 2010, o. S., zuletzt aufgerufen am 19.03.2019 unter: http://betterlivingthroughbeowulf. com/huck-finns-censorship-history/. 4  Click merkt an, dass der Roman in über 53 Sprachen übersetzt wurde, ohne Unterbrechung seit Ersterscheinung im Druck ist und über 20 Millionen Mal verkauft wurde. In den USA alleine gibt es über 100 verschiedene Ausgaben des Textes. 5  T. S. Eliot bezeichnete den Roman als »masterpiece« (T. S. Eliot, »Introduction to The Adventures of Huckleberry Finn«, in: Thomas Cooley [Hg.], Adventures of Huckleberry Finn [Norton Critical Edition], New York 1950/1999, 348–54, hier 348). 6  Greta Olson, »Reconsidering Unreliability: Fallible and Untrustworthy Narrators«, Narrative 11.1 (2003), 93–109. 7  Vgl. Peaches S. Henry, »The Struggle for Tolerance: Race and Censorship in Huckleberry Finn«, in: James S. Leonard/Thomas A. Tenney/Thadious M. Davis (Hgg.), Satire and Evasion: Black Perspectives on Huckleberry Finn, Durham 1992, 25–48; Kurt Müller, »Wider die Macht der (Vor-)Schriften: Spielformen intertextueller Enthierarchisierung in Mark Twains Huckleberry Finn«, Poetica 28 (1996), 181– 99. 8  Julius Lester, »Morality and Adventures of Huckleberry Finn«, in: James S. Leonard/Thomas A. Tenney/Thadious M. Davis (Hgg.), Satire and Evasion: Black Perspectives on Huckleberry Finn, Durham 1992, 199–207.



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Century Magazine zwischen Dezember 1884 und Februar 1885; 1957 erreicht die Diskussion um den Roman eine neue Qualität, als er wegen »Rassismus« von der Schulbehörde in New York verboten wird; um das 100-jährige Jubiläum der Erstveröffentlichung gibt es neue Diskussionen, u. a. angeführt von dem Lehrer John H. Wallace, und diese halten bis heute an: auf der Liste der »Challenged books« der American Library Association (ALA) von 2009 ist der Roman auf Rang 14 der 100 am meisten umstrittenen Bücher pro Dekade, nachdem er auf der vorigen Liste sogar auf Rang 5 platziert war.9 Den Diskussionen um den Roman begegneten mehrere Herausgeber mit Veränderungen des Textes: zuletzt erschien 2011 eine »bereinigte« Fassung des Romans in der New South Edition.10 Bereits vor der Buchveröffentlichung wurde der Roman durch Richard Watson Gilder, den Herausgeber von Century Magazine, in dem rund ein Viertel des Textes vorab erschien, »zivilisiert«.11 Gilder veränderte Ausdrücke wie »to be in a sweat«  – dieser Ausdruck wurde einmal gelöscht, einmal durch »in such a hurry ersetzt«12; Referenzen auf Nacktheit wurden ebenfalls komplett gestrichen (eine Liste weiterer Bereinigungen findet sich im Beitrag von Rule, »A Brief History«, 9–10; s. auch Müller, Wider 9  Siehe ALA 1996–2018b: 1. Harry Potter (series), J.  K. Rowling; 2.  Alice series, Phyllis Reynolds Naylor; 3.  The Chocolate War, Robert Cormier; 4.  And Tango Makes Three, Justin Richardson/Peter Parnell; 5. Of Mice and Men, John Steinbeck; 6. I Know Why the Caged Bird Sings, Maya Angelou; 7. Scary Stories (series), Alvin Schwartz; 8. His Dark Materials (series), Philip Pullman; 9. ttyl; ttfn; l8r g8r (series), Lauren Myracle; 10. The Perks of Being a Wallflower, Stephen Chbosky; 11. Fallen Angels, Walter Dean Myers; 12.  It’s Perfectly Normal, Robie Harris; 13.  Captain Underpants (series), Dav Pilkey; 14.  The Adventures of Huckleberry Finn, Mark Twain; 15. The Bluest Eye, Toni Morrison; 16. Forever, Judy Blume; 17. The Color Purple, Alice Walker; 18.  Go Ask Alice, Anonymous; 19.  Catcher in the Rye, J.  D. Salinger; 20. King and King, Linda de Haan. (ALA (American Library Association), 1996–2018b, »Top 100 Banned/Challenged Books: 2000–2009«, zuletzt aufgerufen am 19.03.2019 unter: http://www.ala.org/advocacy/bbooks/top-100-bannedchallen ged-books-2000–2009). 10  Robert T. Tally Jr., »Bleeping Mark Twain? Censorship, Huckleberry Finn, and the Functions of Literature«, Teaching American Literature: A Journal of Theory and Practice 6.1 (2013), 97–108, hier 98. 11  Henry B. Rule, »A Brief History of the Censorship of The Adventures of Huckleberry Finn«, Lamar Journal of the Humanities 12.1 (1986), 9–18, hier 9. 12  In einer der deutschen Übersetzungen heißt es beispielsweise: »war eben im vollen Begriff«, was den ursprünglichen Sinn ebenfalls nicht wiedergibt (vgl. Mark Twain, Huckleberry Finns Abenteuer und Fahrten, übers. Henny Koch, München 1962, zuletzt aufgerufen am 19.03.2019 unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/ huckleberry-finns-abenteuer-und-fahrten-1670/).

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die Macht). Die Erstveröffentlichung stand somit von Anfang an unter einem schlechten Stern. Click (»Hushing Huck«, o. S.) nennt drei mögliche Gründe dafür: 1. eine der Illustrationen, die in Verkaufskatalogen abgedruckt wurde, wurde für anzüglich befunden und später ersetzt, löste jedoch zunächst einen Sturm der Entrüstung aus (es handelt sich um eine Abbildung von Uncle Silas); 2. in einem Katalog der Buchhändler Estes and Lauriat aus Boston erschien ein Verkaufspreis, der unter dem mit Mark Twain verhandelten lag; der Autor verklagte daraufhin den Buchhändler, der Vorgang wurde publik, und Mark Twain als geldgierig verunglimpft; 3. unmittelbar nach der Vorabpublikation wurde das Buch im März 1885 von den Regalen der Public Library of Concord, MA, verbannt. Zusammenfassend hieß es über das Buch, es sei »rough, coarse, and inelegant, dealing with a series of experiences not elevating […] It is veriest trash«.13 Als Mark Twain 1885 von dem Verbot seines Romans in Concord erfuhr, nahm er die Angelegenheit recht sportlich, zumal er zeitgleich vom Free Trade Club in Concord als neues Mitglied eingeladen wurde. In einem Brief an seinen Verleger Charles L. Webster schrieb er: »Dear Charlie, The Committee of the Public Library of Concord, Mass., have given us a rattling tip-top puff which will go into every paper in the country. They have expelled Huck from their library […]. That will sell 25,000 copies for us sure« (zit. in Rule, »A Brief History«, 11). In ähnlicher Weise verfasste er seine Antwort an den Concord Free Trade Club (März 1885): »they [readers/purchasers of the book] will discover, to my great advantage & their own indignant disappointment, that there is nothing objectionable in the book, after all« (Rule, »A Brief History«, 11). Die von der Bibliothek in Concord unterstellte mangelnde Eleganz und Grobheit des Romans wurde in der ersten negativen Rezension (vom 25.  Februar 1885, veröffentlicht in Life) vor allem mit der fehlenden Mo13  A.  L. Vogelback, »The Publication and Reception of Huck Finn in America«, American Literature 11 (1939), 260–72, hier 269–70; vgl. Rule, »A Brief History«, 10. – Die vollständige Begründung liest sich wie folgt: »The Concord (Mass.) Public Library committee has decided to exclude Mark Twain’s latest book from the library. One member of the committee says that, while he does not wish to call it immoral, he thinks it contains but little humor, and that of a very coarse type. He regards it as the veriest trash. The librarian and the other members of the committee entertain similar views, characterizing it as rough, coarse, and inelegant, dealing with a series of experiences not elevating, the whole book being more suited to the slums than to intelligent, respectable people« (Boston Transcript, Adventures of Huckleberry Finn, in: Adventures of Huckleberry Finn, hg. Thomas Cooley (Norton Critical Edition), New York 1885/1999, 308).



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ral und dem ungezogenen Verhalten des Protagonisten in Verbindung gebracht: A very refined and delicate piece of narration by Huck Finn, describing his venerable and dilapidated ›pap‹ as afflicted with delirium tremens, rolling over and over, ›kicking things every which way,‹ and ›saying there was devils ahold of him.‹ This chapter is especially suited to amuse the children on long, rainy afternoons.14

In ähnlicher Weise kommentierte die berühmte Kinderbuchautorin Louisa May Alcott: »If Mr. Clemens cannot think of something better to tell our pure-minded lads and lasses, he had best stop writing for them« (zit. in Rule, »A Brief History«, 10). Trotz der ironischen Erklärung, die Mark Twain dem Roman voranstellte,15 waren es vor allem die moralische Verfehlung und der sprachliche Ausdruck, die zur Ablehnung des Textes führten. So auch die Begründung der Brooklyn Public Library von 1905: Huck »was a deceitful boy who said ›sweat‹ when he should had said ›perspiration‹ « (zit. in Rule, »A Brief History«, 12). Neben den Bibliotheken, die eine Bereitstellung des Romans an die breite Öffentlichkeit verhindern wollten, waren es vor allem religiöse Institutionen sowie einflussreiche Einzelpersonen, die sich gegen Huck Finn stellten.16 Doch es gab auch Gegenstimmen. Dazu gehören Rezensionen, etwa die im Mai 1885 in Century erschienene Bewertung des Romans von Thomas Sergeant Perry, der insbesondere die Erzählweise hervorhebt: »This [the autobiographical form] secures a unity in the narration that is most valuable; every scene is given, not described; and the result is a vivid picture of Western life forty or fifty years ago«.17 Einer der Bibliothekare der Brooklyn Public Library, der gegen die Zensur war, wandte sich in einem 14  Robert Bridges, »Mark Twain’s Blood-Curdling Humor«, in: Adventures of Huckleberry Finn: Norton Critical Edition, hg. Thomas Cooley, New York 1885/1990, hier 334. 15  »Notice: Persons attempting to find a motive in this narrative will be prosecut­ ed; persons attempting to find a moral in it will be banished; persons attempting to find a plot in it will be shot. By Order of the Author Per G. G., Chief of Ordnance« (Hinweis: Personen, die in dieser Erzählung eine Motivation finden möchten, werden strafrechtlich verfolgt; Personen, die darin eine Moral finden möchten, werden verbannt; Personen, die eine Handlung finden wollen, werden erschossen. Auf Geheiß des Autors. – Übers. der Verf.) 16  Stuart A. P. Murray, The Library: An Illustrated History, New York 2012, hier 189. 17  Thomas Sergeant Perry, [»The First Major American Review.«], in: Adventures of Huckleberry Finn, hg. Cooley, 334–36, hier 335.

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Brief an Mark Twain und forderte ihn zur Verteidigung des Buchs auf; Mark Twains Antwort jedoch ist verhalten bis zynisch-resigniert (Brief 21.  November 1905).18 Während der Roman in den ersten Jahrzehnten nach seiner Veröffentlichung vor allem wegen des Charakters und der Sprache Hucks verurteilt wurde, trat 1957 eine Wende in der Diskussion ein: es erschien ein Artikel in der New York Times, der ankündigte, dass der Roman nicht länger auf den Buchlisten des New York City Board of Education geführt würde, weil er »racially offensive« sei. Diese Begründung herrscht bis heute an vielen Stellen vor. So erfolgte die Zensur für den Gebrauch in Schulen im Jahr 1963 auch durch das Board of Education of Philadelphia; es folgten Verbote als Schullektüre sowie von Aufführungen in immer mehr Staaten: Florida, Texas, Pennsylvania, Iowa, Illinois. Die Begründung bezieht sich nun vor allem um die Darstellung des Sklaven Jim. Zwei Tage nach Veröffentlichung des Artikels in der New York Times (NYT) von 1957 meldete sich dort Elmer Carter, ein schwarzes Mitglied der State Commission against Discrimination, zu Wort und erklärte »no harm can be done to Negroes by Mark Twain« (NYT, 14.  September 1957; s. Rule, »A Brief History«, 14). Die Mark Twain Association reagierte ebenfalls mit einem Artikel in der NYT und beschrieb Huck Finn als »a moving argument for racial tolerance« (14.  Oktober 1957). Schließlich nahm sogar Harry Truman das Thema während eines Dinners im Lotus Club auf: »What a distortion of literature and history we would have if each succeeding generation sought to edit what was set down by others in the past in order to make it fit the momentary picture and the language of the present« (zit. in Rule, »A Brief History«, 15; NYT, 15. November 1957). Rule, in seiner Geschichte der Zensur, kommentiert den Vorgang wie folgt: »Perhaps an unacknowledged sin of Huck was that he unconsciously raised questions concerning hundreds of years of racism in America. Now, henceforth, ironically enough, Huck himself would be accused of being a pur18  »I am greatly troubled by what you say. I wrote Tom Sawyer and Huck Finn for adults exclusively, and it always distresses me when I find that boys and girls have been allowed access to them. The mind that becomes soiled in youth can never again be washed clean; I know this by my own experience, and to this day I cherish an unappeasable bitterness against the unfaithful guardians of my young life, who not only permitted but compelled me to write an unexpurgated Bible through before I was 15 years old. […] Most honestly do I wish I could say one softening word or two in defence of Huck’s character, since you wish it, but really in my opinion it is no better than those of Solomon, David, Satan, and the rest of the sacred brotherhood.« (Mark Twain, Mark Twain’s Autobiography, hg. und mit einer Einleitung v. Albert Bigelow Paine, 2 Bde., New York et  al. 1924, Bd. 2, 335–36; zit. in Rule, »A Brief History«, 12).



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veyor of racism« (13). Grund des Anstoßes war jedoch, wie sich dann herausstellte (was aber von der Kritik weitestgehend ignoriert wurde und immer noch wird), gar nicht der Roman Mark Twains im Original, sondern eine »bereinigte« Schulfassung, in der das Wort »Negro« klein geschrieben war.19 Das Wort taucht im Original des Romans jedoch gar nicht auf  – ebenso wenig wie die Phrase »Nigger Jim«, an der sich aber immer wieder Leser und insbesondere Lehrer stoßen.20 1982 ging der Roman erneut durch die Medien, als der Lehrer John H. Wallace von der Mark Twain Intermediate School, Fairfax County, Virginia, das Verbot des Buchs forderte, das er als »racist trash« bezeichnete.21 Er veröffentlichte 1983 anlässlich des 100.  Geburtstags des Buchs eine Neufassung des Romans in einem von ihm gegründeten Verlag in Chicago.22 Dass es sich bei John H. Wallace um einen Lehrer an einer Schule handelt, die nach dem Autor benannt ist, bezeichnen Kritiker teilweise als »an irony that Mark Twain would have thought too fantastic for fiction« (Rule, »A Brief History«, 15). Die von Wallace angestoßene Debatte war allerdings frei von Ironie, etwa als Wallace in einem Artikel von 1985 gar die Verbrennung des Buchs forderte: »If ever there was a candidate for being burned, that is definitely it. Any time a book says black people are not human, blacks are not as intelligent as white people  – that would be satirical if the majority of people in America didn’t already believe that. They believed it 100 years ago. They believe it today. So to a black kid, it’s not funny« (NYT, 4.  Februar 1985).

19  Click führt dazu aus: »Interestingly, they did not object to the use of the word ›nigger‹ in the text, but rather that the textbook version used (a 1951 Scott, Foresman edition) didn’t capitalize the word ›Negro‹. This 1951 ›rewritten‹ and censored version had to follow a teacher-approved list of over 2000 words or phrases. ›Idiot‹ became ›fool‹, ›Jews harp‹ became ›mouth organ‹ and Huck’s entire voice is taken away from him. Instead of the first line being, You don’t know about me without you have read ›The Adventures of Tom Sawyer,‹ but that ain’t no matter. That book was made by Mark Twain, and he told the truth, mainly, it became You don’t know about me unless you have read The Adventures of Tom Sawyer« (o. S.). 20  s. Jonathan Arac, Huckleberry Finn as Idol and Target: The Functions of Criticism in Our Time, Madison 1997, hier 64; and Walter Blair, Mark Twain and Huck Finn, Berkeley 1960, hier 390n5. 21  John H. Wallace, »The Case against Huck Finn«, in: Adventures of Huckleberry Finn, hg. Cooley, 309–10, hier 309. 22  Eine ähnliche Debatte vollzog sich in Deutschland anlässlich des 55. Geburtstags von Michael Endes Jim Knopf. S. etwa http://www.taz.de/!5218421/ sowie ­https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.thienemann-verlag-stuttgart-bei-jimknopf-bleibt-der-neger-im-text.da6652df-b77f-445e-bd0e-f84ed9f9d2e0.html, zuletzt aufgerufen am 19.03.2019.

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Henry Rule fasst die Geschichte der Zensur von Adventures of Huckleberry Finn wie folgt zusammen: »In Twain’s time, Huck was said to threaten the Purity of the English Language and the Innocence of Childhood. In our time, Huck has been charged with demeaning black people and with spreading the poison of racism throughout the land« (9). Aktuell (seit 1957) besteht der Kern der Debatte um den Roman also darin, dass er als Verunglimpfung der schwarzen Bevölkerung aufgefasst wird, insbesondere die Verwendung des Wortes »nigger«, das insgesamt 231 Mal erwähnt wird.23 In der Neufassung des Romans von Wallace aus dem Jahr 1983 erfolgten deshalb Streichungen und Ersetzungen von »nigger« durch »slave« sowie Umschreibungen, wo immer Schwarze nach seiner Auffassung in einem schlechten Licht dargestellt wurden; ebenso wurde das Wort »hell« (Hölle) durchweg gestrichen.24 Damit aber kommen wir zum eingangs angesprochenen Paradox zurück, denn ebenfalls ein Jahr zuvor sollte das Buch durch das School Board des Spring Independent School District in Texas verboten werden; dort stimmten jedoch gerade die vier schwarzen der insgesamt elf Mitglieder der Kommission gegen das Verbot, und zwar mit der Begründung: »No other literary selection illustrates the mid-19th century and its evils of slavery as well as this novel« (Houston Post 14.  April 1982; s. Rule, »A Brief History«, 16). Eine Schlüsselstelle des Romans, die als symptomatisch für das eingangs genannte Paradox betrachtet werden kann, ist Kapitel 31,25 in dem Huck beschließt, Jim nicht zu verraten, sondern ihm zu helfen. Dieses Kapitel wird ganz unterschiedlich gelesen: positiv und negativ. Doch stellt sich die Frage, ob der Text selbst überhaupt Raum für eine solche Ambiguität gibt oder nicht vielmehr eine eindeutige Interpretation nahelegt? Findet sich hier vielleicht ein Indiz dafür, dass Zensur vielfach auf einem Versagen der genauen Lektüre des Romans beruht?

23  Arac verweist darauf, dass auch Frederick Douglas das Wort mehrfach in seiner Autobiographie verwendet (22). 24  Die New South Edition von 2011 ersetzt »nigger« ebenfalls durch »slave« – »to make the book more suitable for classroom use« (Tally, »Bleeping Mark Twain?«, 98); d. h., die Ausgabe setzt auf sprachliche Veränderungen des Originals, die den Roman wieder für den Gebrauch in der Schule akzeptabel machen soll. 25  s. Henry, »Struggle«; Arac, Functions, Kap. 2.

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II. Huckleberry Finns Gewissen und Entscheidungsfindung: Close Reading von Kapitel 31 In Kapitel 31 wird die Schilderung der Reise flussabwärts von Huck und Jim mit Duke und King fortgesetzt. Die Unternehmungen der beiden Betrüger, sich mittels ihrer ›Geschäfte‹ Geld zu verschaffen, waren zuletzt nicht mehr von Erfolg gekrönt, und sie beginnen nun, sich immer häufiger heimlich zu besprechen, was Huck und Jim nichts Gutes ahnen lässt. Eines Tages gelingt es Huck, die beiden während eines Ausflugs in den nahegelegenen Ort abzuhängen; er kommt zum Floß zurück, um mit Jim zu fliehen  – doch Jim ist nicht dort. Schließlich erfährt Huck, dass er von Silas Phelps gefangen genommen wurde und seinem Eigentümer überstellt werden soll, weil eine Belohnung von 200$ auf ihn ausgesetzt wurde. Es stellt sich heraus, dass Duke und King ihn für 40$ verraten haben  – »for forty dirty dollars«,26 wie Huck findet. Je länger er aber über seine eigene Rolle in Bezug auf Jim nachdenkt, desto »more wicked, and low-down and ornery I got to feeling« (222). Huck durchläuft nun mehrere Stadien einer Gewissenskrise. Er denkt zunächst über Jim nach, und dass es besser für ihn wäre, zuhause versklavt zu sein als von seiner Familie entfernt (221). Dann denkt er über die Konsequenzen für sich selbst nach, wenn er Jim zurückbringt, selbst aber als jemand dasteht, der einem Sklaven bei der Flucht geholfen hat (222). In einem nächsten Schritt bekommt er deshalb ein schlechtes Gewissen, jedoch aus rein egoistischen Gründen27: Well, I tried the best I could to kinder soften it up somehow for myself, by saying I was brung up wicked, and so I warn’t much to blame; but something inside of me kept saying, »There was the Sunday School, you could a gone to it; and if you’d done it they’d a learnt you, there, that people that acts as I’d been acting about that nigger goes to everlasting fire.« (222)

Er möchte beten, kann aber nicht  – man fühlt sich an die berühmte Szene in Hamlet erinnert, in der Claudius aufgrund seiner Schuld nicht dazu imstande ist, mit dem Unterschied, dass Huck aufgrund seines guten Charakters keine Lüge beten kann28: Adventures of Huckleberry Finn, hg. Cooley, 221. Arac: »Conscience tells Huck what he would have learned if he had gone to school, but apparently he knows it anyway« (ders., Functions, 215). Arac bezieht dieses Wissen auf »cultural memory«; der Punkt ist jedoch, dass Huck – in ähnlicher Weise wie Oliver Twist – weiß, was richtig ist, obwohl er nicht zur Schule gegangen ist. 28  Henry Nash Smith spricht in diesem Zusammenhang vom Widerstreit zwischen »sound heart« und »deformed conscience« (vgl. ders., Mark Twain: The De26  Twain, 27  s.

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I was trying to make my mouth say I would do the right thing and the clean thing, and go and write to that nigger’s owner and tell where he was; but deep down in me I knowed it was a lie  – and He knowed it. You can’t pray a lie  – I found that out (222).

Die Referenz von »it« ist in dieser Passage ambig: »it« kann sich darauf beziehen, dass Huck »the right and the clean thing« sagt, es aber nicht meint, weshalb es eine Lüge ist – oder dass es eine Lüge ist, weil das, was als »right and clean thing« bezeichnet wird, nicht die Wahrheit ist. Daraus resultiert eine Differenz dessen, was Huck für richtig hält, weil er es so gelernt hat, und was richtig ist, weil das, was er gelernt hat, falsch ist; und dies erkennt der Leser, denn er hat die Geschehnisse nun schon über 220 Seiten verfolgt. Damit bleibt der Grund, weshalb Huck nicht beten kann, zunächst zwischen innerer und äußerer Kommunikationsebene unbestimmt: eine Lesart besteht darin, dass der liebe Gott eine solche Lüge im Gebet nicht zulässt. Huck ist noch nicht so weit: er schreibt den Brief und fühlt sich zunächst unbeschwert: Why, it was astonishing, the way I felt as light as a feather, right straight off, and my troubles all gone«; »I felt good and all washed clean of sin for the first time I had ever felt so in my life, and I knowed I could pray, now. But I didn’t do it straight off, but laid the paper down and set there thinking; thinking how good it was all this happened so, and how near I come to being lost and going to hell« (222; m. Herv.).

Es fällt auf, dass er hier nicht mehr in seiner eigenen Sprache spricht: der Vergleich »as light as a feather« ist ebenso schief im Kontext seines sprachlichen Ausdrucks insgesamt wie die Aussage »I felt good and all washed clean of sin«. Huck übernimmt hier eine Ausdrucksweise, die er von der Sunday School, die er höchstwahrscheinlich nie besucht hat, zu kennen glaubt und deshalb für richtig hält (222). Aber damit sind seine Überlegungen noch nicht abgeschlossen: vielmehr erinnert er sich an die mit Jim verbrachte Zeit auf dem Floß und an all die freundschaftlichen Gesten, die er von Jim erfahren hat  – und die er ihm umgekehrt hat zuteilwerden lassen. Er nimmt das Papier in die Hand: I was trembling, because I’d got to decide, forever, betwixt two things, and I knowed it. I studied a minute, sort of holding my breath, and then says to myself: ›All right, then, I’ll go to hell‹  – and tore it up. velopment of a Writer, Cambridge 1962, 113–37, s. Kapitel VI »A Sound Heart and a Deformed Conscience«). Das Gewissen ist jedoch insoweit nicht als »deformed« zu betrachten, weil es unter dem Einfluss des »sound heart« ja zur als richtig wahrgenommenen Entscheidung Hucks führt.



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Wie in einer Psychomachie, die in einem Soliloquium augustinischer Natur Ausdruck findet, ist Huck hin- und her gerissen zwischen dem, was er für richtig hält und dem, was er als richtig gelernt hat.29 Es handelt sich nicht um einen Konflikt zwischen »feeling and conscience«, wie es in der Annotation zu der Stelle heißt (223n3), denn es ist ja sein Gewissen, das ihn so handeln lässt – er erkennt es nur nicht als solches. Auch hier kommen wieder zwei Kommunikationsebenen ins Spiel. Dies gilt auch für die folgenden Überlegungen Hucks: »[he] never thought no more about reforming. I shoved the whole think out of my head; and said I would take up wickedness again, which was in my line, being brung up to it, and the other warn’t« (223). Es ist ja gerade die Aufgabe der wickedness, die hier zum Tragen kommt; viel mehr noch ist es die Entlarvung dessen, was conscience genannt wird, als wickedness  – und was Huck als wickedness bezeichnet, ist wiederum ein Akt des Gewissens. Auf der Kommunikationsebene zwischen Autor und Leser entsteht somit ein Chiasmus der semantischen Füllungen der Begriffe. Diese Vertauschung wird auch in der folgenden Handlung deutlich: »And for a starter, I would go to work and steal Jim out of slavery again; and if I could think up anything worse, I would do that, too; because as long as I was in, and in for good, I might as well go the whole hog«.30 Es ist also die gute Tat, wenn er Jim aus der Sklaverei befreit  – und dass die Befreiung eines Sklaven eine gute Tat ist, hat sogar Miss Watson erkannt, denn, wie sich später herausstellt, hat sie ihn in ihrem Testament mit der Freiheit bedacht. Huck überwindet in diesem inneren Konflikt seinen Egoismus31: während es ihm zunächst nur um seine eigene Heilsgewissheit geht, tritt im weiteren Verlauf die Erinnerung an seine enge persönliche Beziehung zu 29  s. Adventures of Huckleberry Finn, hg. Cooley, 223n3 für die Referenz zu Augustinus (fälschlicher Weise auf die Confessiones). Zur Geschichte des Soliloquiums s. Angelika Zirker, William Shakespeare and John Donne: Stages of the Soul in Early Modern English Poetry, Manchester 2019. 30  s. Aracs Hinweis, dass im gesamten Kapitel 31 nie von dem Gesetz die Rede ist, sondern immer nur von Religion und sozialem Druck (ders., Functions, 48). Er schreibt weiter: »Huck’s ›crisis‹ is like that of a Christina in the wilderness, not like that of a citizen in debate; his moment of judgment is not a courtroom scene, and even his anxieties about stealing someone else’s slave never involve legal penalties, only damnation and social ostracism. Twain excludes the category of law because even in the debased form of slave law, the law rests on a claim to justice, and the notion of justice is a culturally valued abstraction that could support Huck in this moment of need, just as earlier Judge Thatcher offered the legal form to protect Huck’s money from Pap« (61). 31  s. auch Cassander L. Smith, » ›Nigger‹ or ›Slave‹: Why Labels Matter for Jim (and Twain) in Adventures of Huckleberry Finn«, PLL 50.2 (2014), 182–206.

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Jim immer mehr in den Vordergrund. Und damit ist Huck auf dem richtigen Weg, wenn er dies auch selbst noch nicht erkannt hat und auch nicht erkennen wird. Huck durchläuft kein »reforming« im Sinne der gängigen gesellschaftlichen Überzeugung  – dies wird spätestens am Ende deutlich, wenn er beschließt: »I reckon I got to light out for the Territory ahead of the rest, because aunt Sally she’s going to adopt me and sivilize me and I can’t stand it. I been there before« (296). Es geht eben nicht darum, den Jungen zu zivilisieren, sondern ihn aus einer ihm ganz eigenen (intuitiven) Erkenntnis heraus richtig handeln und Andere richtig behandeln zu lassen – unabhängig von der Hautfarbe und dem sozialen Status einer Person. Huck denkt somit auch weiterhin in den ihm bekannten Strukturen (etwa wenn er gegen Ende über Jim sagt: »he was white inside« 279), aber eben nicht mehr in Klischees (vgl. »as light as a feather«), weil er durch die gemeinsamen Erlebnisse mit Jim eines Besseren belehrt wurde. Dafür akzeptiert er auch, in die Hölle zu gehen. Der Schritt, Jim zu retten, ist daher umso schwerwiegender, als Huck bereit ist in Kauf zu nehmen. Deshalb spielt es auch keine Rolle, dass Huck weiterhin das n-word benutzt: während seines Gewissenskonflikts wird es insgesamt sechs Mal erwähnt. Huck bezieht sich von Anfang an auf Jim als »Miss Watson’s big nigger, named Jim« (18). Er weiß es nicht besser und hat es nicht anders gelernt  – ebenso wie er gelernt hat, dass er in die Hölle kommt, wenn er einen Sklaven befreit. Das Wort und seine Verwendung spiegeln den Kontext der Zeit wider, weshalb Diskussionen, ob Mark Twain es nicht so meinte, oder Huck es ironisch verwendet, oder es rassistisch ist, nicht zielführend sind.32 Das Wort wurde  – man kann es im Oxford English Dictionary (OED) nachprüfen – von Anfang an als abschätzige Anrede und Bezeichnung von Sklaven verwendet (vgl. Arac, Functions, 72). Das lässt sich nicht schönreden. Doch wenn man es streicht, beraubt man den Text einer wesentlichen Aussage, wie etwa Ralph Ellison bemerkt, wenn er schreibt, Jim sei »a white man’s inadequate portrait of a slave«.33 Denn 32  »The one certain basis for a necessary irony in reading HF is that Huck does not know, and every reader the book has ever had does know, that American slavery was historically doomed, and it vanished between the time of the book’s action (about 1845) and its publication (about 1885)« (Arac, Functions, 33). 33  s. ibid., 72; Nash Smith, »A Sound Heart and a Deformed Conscience«, 24. Ellison schreibt weiter: »I know of no black – Negro – critics (I’m a Negro, by the way) who wrote criticisms of Huckleberry Finn when it appeared. It was all a dialogue between, a recreation, a collaboration, between a white American novelist of good heart, of democratic vision, one dedicated to values  – I know much of Mark Twain’s writing  – and white readers, primarily« (»Fiction and the Black Mask of Humanity«; zit. in Arac, Functions, 20). Der Punkt war also gerade, dass Mark Twain eine Veränderung in seiner weißen Leserschaft herbeiführen wollte.



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Jim wird aus der Perspektive eines weißen Jungen geschildert, der es nicht besser gelernt hat. Wenn die Zensur das Wort streicht, so, um Toni Morrison zu zitieren, beruhen diese Bemühungen, »on a narrow notion of how to handle the offense Mark Twain’s use of the term ›nigger’ would occasion for black students and the corrosive effect it would have on white ones. It struck me as a purist yet elementary kind of censorship designed to appease adults rather than educate children. Amputate the problem, band-aid the solution«.34 Sie führt dazu weiter aus: »The brilliance of Huckleberry Finn is that it is the argument it raises« (386), nämlich Hucks Bereitschaft, seine Seele zu opfern, »Huck’s ultimate act of love, in which he accepts the endangerment of his soul« (389). Hucks Fokus darauf, das Richtige zu tun (statt auf Worte zu hören) jedoch schließt eine negative Lesart des Kapitels aus.35 Wenn Kritiker Huck zu verteidigen versuchen, indem sie sagen, er sei ironisch,36 dann ist das genauso falsch und erfasst das Buch genauso wenig, wie wenn man behauptet, er sei rassistisch. Huck ist nicht ironisch: was er sagt, meint er. Nur deshalb ist das 31. Kapitel so bedeutsam, wie es nun einmal im Gesamtkontext des Romans ist. Wenn man Hucks Rolle als erzählendes und erlebendes Ich zu schwächen versucht, tut man ihm und dem Roman (und damit auch Mark Twain) unrecht. Deshalb sind auch Versuche der Neudefinition des (un)zuverlässigen Erzählers anhand dieses Romans müßig, etwa wenn es dann heißt: »fallible narrators do not reliably report on narrative events because they are mistaken about their judgments or perceptions or are biased. Fallible narrators’ perceptions can be impaired because they are children with limited education or experience, as in Huckleberry Finn« (Olson, »Reconsidering Unreliability«, 101). Huck Finn ist ja gerade so »zuverlässig«, um kurz bei diesem hoch problematischen Terminus zu bleiben, weil er die Dinge so erzählt, wie er sie erlebt und empfindet, und es ist genau diese pikareske »Naivität«, oder wie auch immer man diese Eigenschaft Hucks nennen mag, die funktional 34  Toni Morrison, »[This Amazing, Troubling Book.]«, in: Adventures of Huckleberry Finn, hg. Cooley, 385–92, hier 386. 35  »While Jim repeatedly iterates his love, the depth of Huck’s feelings is stressed, underscored and rendered unimpeachable by Twain’s calculated use of speechlessness. The accumulated silences build to Huck’s ultimate act of love, in which he accepts the endangerment of his soul. These silences do not appear to me of merely historical accuracy  – a realistic portrait of how a white child would respond to a black slave; they seem to be expert technical solutions to the narrative’s complexities and, by the way, highly prophetic descriptions of contemporary negotiations between races« (Morrison, »[This Amazing, Troubling Book]«, 389). 36  s. Nash Smith, »A Sound Heart and a Deformed Conscience«; Arac, Functions, 70 f.

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wird. George Bernard Shaw sagte einmal, dass er von Huck Finn gelernt habe, »the funniest joke in the world was just telling the truth« (Click, »Hushing Huck«, o. S.). Um dies zu erkennen, muss man den Roman genau lesen und Huck für sich sprechen lassen. Dass dies gelingen kann, zeigt ein Modellversuch: bereits 1995 kam es nach Protesten von Schülern von Cherry Hill, NJ, zu einer Neugestaltung des Curriculums, um Huck Finn weiterhin unterrichten zu können.37 Diese Neugestaltung nimmt historische Kontexte ins Visier ebenso wie close readings. Und seitdem funktioniert Huck Finn auch wieder in der Schule, ohne dass schwarze Schülerinnern und Schüler sich diskriminiert und ausgegrenzt fühlen. Adventures of Huckleberry Finn  – im Originalmanuskript übrigens tatsächlich ohne bestimmten Artikel – ist ein Dokument einer bestimmten Phase in der Geschichte der USA, aber es handelt sich vor allem und in erster Linie um einen literarischen Text.38 Wenn die ALA den Text als umstritten kategorisiert und ihn zensieren möchte (»remove or restrict materials, based upon the objections of a person or group«39), dann wurde der Text vermutlich weder richtig gelesen noch verstanden, und man kann sich insgeheim nur freuen, dass die meisten dieser »challenges« nicht erfolgreich sind, denn wie Toni Morrison sagt: der Text präsentiert »highly prophetic descriptions of contemporary negotiations between races.« 37  »Huck Finn had been put in a new context, one that explores the controversy – and with it issues of race, stereotyping, power, heroism, and self-definition  – by embedding the traditional ways of teaching the novel in a rich historical and cultural framework« (Katherine Schulten, »Huck Finn: Born to Trouble«, The English Journal 89.2 [1999], 55–60, hier 56). 38  »If we force Huckleberry Finn to carry national-political burdens it wasn’t made for, we cannot rightly appreciate its sublime moments of moral comedy and stylistic mastery« (Arac, Functions, 218). 39  Auf der Webseite der ALA heißt es: »The American Library Association promotes the freedom to choose or the freedom to express one’s opinions even if that opinion might be considered unorthodox or unpopular, and stresses the importance of ensuring the availability of those viewpoints to all who wish to read them. […] Often challenges are motivated by a desire to protect children from ›inappropriate‹ sexual content or ›offensive‹ language. The following were the top three reasons cited for challenging materials as reported to the Office of Intellectual Freedom: 1.  The material was considered to be ›sexually explicit‹; 2. The material contained ›offensive language‹; 3. The materials was ›unsuited to any age group.‹ « They go on: »Challenges do not simply involve a person expressing a point of view; rather, they are an attempt to remove material from the curriculum or library, thereby restricting the access of others. Due to the commitment of librarians, teachers, parents, students and other concerned citizens, most challenges are unsuccessful and most materials are retained in the school curriculum or library collection.« (ALA). Twains Roman fällt unter die beiden letztgenannten Kategorien – »offensive language« und »unsuited to any age group«.



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III. Schlussbemerkung zum (Roman)Schluss: Ironie, Rassismus, demokratische Vision? Um meine eigene Lektüre herauszufordern, soll nicht verschwiegen werden, dass nicht (nur) das 31. Kapitel, sondern vor allem das Romanende für viele Leser der Hauptanlass der Kritik ist.40 In Kapitel 33 treffen Huck Finn und Tom Sawyer einander wieder auf der Farm der Familie Phelps, wo Huck sich aufhält, um Jim befreien zu können, denn dort wird Jim als vermeintlich geflohener Sklave festgehalten. Tom Sawyer möchte Huck dabei helfen (»I’ll help you steal him.«, 235), was bei Huck zunächst auf Unverständnis stößt: »Well, I let go all holts, then, like I was shot. It was the most astonishing speech I ever heard  – and I’m bound to say Tom Sawyer fell, considerable, in my estimation. Only I couldn’t believe it. Tom Sawyer a nigger stealer!« (235; Herv. im Original).41

Während Huck für sich in Anspruch nimmt, den Sklaven Jim befreien zu können (schließlich ist er selbst »brung up wicked«), ist dies mit seinem Bild von Tom Sawyer offensichtlich unvereinbar42, und Tom entwickelt sich in den folgenden Kapiteln dann auch zum »stage manager einer grotesken Abenteuerkomödie« (Müller, Wider die Macht, 184). Für ihn ist die Befreiung Jims ein Spiel, das seine Lektüre von Abenteuerromanen (s. Huckleberry Finn, 247, 251) Realität werden lässt. Und tatsächlich ist es nichts als ein Spiel, das einzig seinem Amüsement gilt: wie wir viel später von Tom erfahren, ist Jim bereits frei, denn Miss Watson hat ihn in ihrem Testament mit der Freiheit bedacht. Damit erklärt sich nun aber für Huck auch das Verhalten Toms: And his aunt Polly she said Tom was right about old Miss Watson setting Jim free in her will; and so, sure enough, Tom Sawyer had gone and took all that trouble and bother to set a free nigger free! and I couldn’t ever understand, 40  Müller spricht vom Romanende (ab Kapitel 33) als »Ärgernis«, bemerkt dazu aber, dass »diese Ärgernisse [im Roman insgesamt] die ästhetische Qualität des Textes maßgeblich mitkonstituieren« (ders., »Wider die Macht«, 185). 41  s. dazu auch Charles H. Nilon, »The Ending of Huckleberry Finn: ›Freeing the Free Negro’«, in: James S. Leonard/Thomas A. Tenney/Thadious M. Davis (Hgg.), Satire and Evasion: Black Perspectives on Huckleberry Finn, Durham 1992, 62–76, hier 67. 42  »Here was a boy that was respectable, and well brung up; and had a character to lose; and folks at home that had characters […]; and not mean, but kind; and yet here he was, without any more pride, or rightness, or feeling, than to stoop to this business, and make himself a shame, and his family a shame, before everybody. I couldn’t understand it, no way at all.« (242).

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before, until that minute and that talk, how he could help a body set a nigger free, with his bringing-up. (292)

Tom war nur bereit, sich in diesem Kontext an der »Befreiung« des Sklaven Jim zu beteiligen. Die frühere Stelle, in der Huck darüber reflektiert, wie Tom durch diese Bereitschaft in seiner Wertschätzung sinkt (»Tom Sawyer fell, considerable, in my estimation«) gehört somit zur Verkomplizierung der Psyche Hucks bzw. zu dem fortbestehenden doppelten Wertmaßstab: dem allgemeinen, auch von Huck akzeptierten, wonach Tom in seiner Achtung sinkt, wenn er hilft, Jim zu befreien  – und dem seines Gewissens, wonach Huck Jim helfen muss. Deshalb findet nach dem 31. Kapitel auch keine »moralische Vertiefung der Huck-JimBeziehung« (Müller, Wider die Macht, 184) statt: der Roman zielt nicht auf Sentimentalität; noch geht es am Ende um die Herstellung einer formalen Symmetrie, wie von Lionel Trilling und T.  S. Eliot vorgeschlagen43 (s. Müller, Wider die Macht, 184 f.), d. h. einer Rückkehr zum Modus der Lausbubengeschichte; und es geht auch nicht um einen »Prozeß der Befreiung von der Macht der Vor-Schriften« (Müller, Wider die Macht, 191), denn Huck ist davon ja überhaupt nicht befreit, wie seine Reaktion auf Tom zeigt. Vielmehr wird der Leser auf eben jenen doppelten Wertmaßstab gestoßen44, und hier kommt nun das, was Ellison wie auch Müller als »Dialogizität« und »demokratisches Appellpotential« bezeichnet haben, ins Spiel (Ellison, zit. in: Arac, Functions, 20; Müller. Wider die Macht, 187 und 192). Dieser doppelte Maßstab wird hier vorgeführt (in einem doppelten Sinne) und, auf der externen Kommunikationsebene, also leserbezogen, in Frage gestellt bzw. problematisiert. Die Tatsache, dass Jim bereits frei ist, erklärt die Bereitschaft Toms, sich an der »Befreiungsaktion« zu beteiligen; diese war Teil  einer Fiktion, die Tom zum Befreier und Jim zum leidenden Gefangenen und beide zu Helden macht. Um selbst zum Helden zu werden, nimmt Tom somit auch die Degradierung Jims in 43  »Huck Finn must come from nowhere and be bound for nowhere« (Eliot, »Introduction«, 354). 44  Müller schlägt vor, den »Schlußteil als ein kalkuliertes Spiel mit den bis dahin aufgebauten Lesererwartungen [zu] begreifen« (ders., »Wider die Macht«, 194), und zwar im Sinne einer »moralische[n] Sensibilisierungsfunktion« (194). Der Schluss ist für ihn eine »Provokationstechnik, die den Leser dazu animiert, die thematischen Lücken in seiner Vorstellung selbst auszufüllen und die auf der manifesten Textebene angebotenen Lösungen kritisch zu hinterfragen. Daß er mit dieser Methode erfolgreich war, hat nicht zuletzt die kontroverse Diskussion um dieses Romanende bewiesen« (195 f.). Diese Beobachtungen sind sicher nicht unzutreffend, postulieren aber eine offene didaktische Strategie des Autors, die man gerade nicht unterstellen sollte: »That Huckleberry Finn brims with satire and irony is a truism of academic discourse« (Nash Smith, »A Sound Heart and a Deformed Conscience«, 39).



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Kauf. Und ohne diese Fiktion hätte seine Bereitschaft zur Kooperation mit Huck nicht bestanden; sie bietet ihm die Möglichkeit zum Heldentum ohne wirkliche Konsequenzen für die Wirklichkeit, während für Huck aufgrund seiner Erfahrungen mit Jim die Übertragung des Möglichen in die Wirklichkeit bereits stattgefunden hat: für ihn ist die Befreiung Jims ja gerade kein Spiel, sondern er lässt sich auf Toms fiktionales Spiel notgedrungen ein, um ein reales Ziel zu erreichen. Es ist aber auch die Fiktion, nämlich die des Romans über Adventures of Huckleberry Finn, die eine solche Wirklichkeit herzustellen erlaubt. Diese Möglichkeit aber muss man als Leser dem Roman einräumen, und dies kann nur auf Grundlage der genauen Lektüre geschehen.

Heroischer Fatalismus Denkfiguren des ›Durchhaltens‹ von Nietzsche bis Seghers Von Nicolas Detering Abstract The article re-evaluates the notion of heroic agency by arguing that many instances of heroism in early 20th century German literature rely not on great deeds, but on images of fatalist persistence. After a discussion of the conceptual elements and traditions of heroic persistence, the essay surveys variants of its semanticization between Nietzsche’s amor fati and German exile narrations of the 1940s. The perusal shows that ›heroic attentism‹ in modernist literature is less dependent on the respective political affiliations of the authors, but rather on the concept’s ability to adapt to discursive trends and remain applicable to different historical experiences.

I. »Große Zeit ist es immer nur, wenn’s beinah schief geht«, weiß Fontanes Dubslav von Stechlin, »wenn man jeden Augenblick fürchten muß: ›Jetzt ist alles vorbei.‹ Da zeigt sich’s. Courage ist gut, aber Ausdauer ist besser. Ausdauer, das ist die Hauptsache. Nichts im Leibe, nichts auf dem Leibe, Hundekälte, Regen und Schnee, so daß man so in der nassen Patsche liegt […], und so die Nacht durch«.1 Im Rückblick auf die ›Befreiungskriege‹ entwirft der alte Stechlin hier 1897 ein Ethos der Selbstkontrolle, dem zugleich gegenwartskritisches Potential unterstellt wird. Indivi1  Theodor Fontane, »Der Stechlin«, in: ders., Sämtliche Werke, hg. Edgar Groß, München 1959, Bd. 8: Der Stechlin, 40. Zu dem verwandten Konzept der ›Resignation‹ beim alten Fontane siehe Karl Richter, Resignation. Eine Studie zum Werk Theodor Fontanes, Stuttgart 1966. Als Dichter der Resignation, »deren Lebensleistung ins Heldenmäßige wächst, weil sie nie von der Stelle zu kommen meinen«, zeichnet noch Thomas Mann den alten Fontane, d. i. Thomas Mann, »Der alte Fontane«, in: ders., Gesammelte Werke. Frankfurter Ausgabe, Frankfurt a. M. 1982, Bd. 12: Leiden und Größe der Meister, 587–612, hier 590.

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dualität und Epochalität, Zeit- und Geschichtserfahrung verknüpfen sich eng: Das subjektive Erlebnis andauernder latenter Plötzlichkeit  – jeden Augenblick fürchten: ›Jetzt ist alles vorbei‹  – bedingt die Zuschreibung heroischer Exzeptionalität. Am liminalen Leben im Augenblick, im gespannten Bewusstsein des drohenden Todes misst sich das Heldentum. Weniger die entschiedene Tat kennzeichnet die »große Zeit«, nicht (mehr) die zügellose Agency des couragierten ›Schwert aus der Scheide!‹, sondern die innere Fähigkeit, mangelnden Handlungsspielraum zu ertragen, das eigene Ausgeliefertsein zu affirmieren und in Kälte, Regen und Schnee durchzuhalten. Die Literatur um 1900, der Weimarer Republik und der Exilzeit gehört zu den am dichtesten erforschten Epochen der deutschen Literaturgeschichte, doch hat die Forschung die strukturprägende Bedeutung der Konzeptfigur aus Fatalismus, Askese und Heroismus bislang kaum erschöpfend behandelt.2 Zwar sind Semantiken des Wartens jüngst vermehrt betrachtet worden.3 Aber während alltägliches Ab-Warten als Ausdruck 2  Eine wichtige Vorstudie bildet Lothar Bluhm, Auf verlorenem Posten. Ein Streifzug durch die Geschichte eines Sprachbildes, Trier 2012; Bluhm unternimmt seinen »Streifzug« durch die Geschichte des »Sprachbildes« vom Barock bis in das 21. Jahrhundert. Der Gegenstandsbereich ist damit sehr weit, Bluhms ›Suchbefehl‹ indes recht eng gefasst, denn er behandelt ausschließlich Beispiele, in denen die Metapher des ›Auf-verlorenem-Posten-Ausharren‹ wörtlich zitiert werden.  – Ähnlich verhält es sich mit Lothar Pikuliks Untersuchung Warten, Erwartung. Eine Lebensform in End- und Übergangszeiten. An Beispielen aus der Geistesgeschichte, Literatur und Kunst, Göttingen 1997, bes.  122–136, die auf Grundlage von Literatur-, Kunst- und Geistesgeschichte seit der Antike dem etymologisch-phänomenologisch begründeten Komplex von ›Warten‹ und ›Erwarten‹ nachspürt, sich dabei zwar am Rande auch auf die Gegenwartskritik der Weimarer Republik einlässt, sich sonst aber auf antiheroische Warteszenen in der modernen Literatur (Kafka, Musil) konzentriert. 3  Einzelstudien deuten die Warte-Szenen bei T.  S. Eliot und Samuel Beckett als Ausdruck einer nihilistischen Poetik des Absurden (Michael Edwards, Éloge de l’attente. T. S. Eliot et Samuel Beckett, Paris 1996), analysieren existentialistisch gewendete Motive des Stillstands bei Ingeborg Bachmann (Claude Heiser, Das Motiv des Wartens bei Ingeborg Bachmann. Eine Analyse des Prosawerks unter besonderer Berücksichtigung der Philosophie der Existenz, St. Ingbert 2007) oder umreißen das Verhältnis von Schicksalsreise, Zeitvertreib und Warten bei Imre Kertész (Annette Keck, »Merkwürdiges Warten. Imre Kertész’ Beitrag zu einer Poetik des Wartens zwischen Erinnern und Vergessen im Roman eines Schicksallosen«, in: Manuela Günter (Hg.), Überleben schreiben. Zur Autobiographik der Shoah, Würzburg 2002,  139–155). Die Beiträge eines neueren Sammelbandes zu »Warten als Kulturmuster« beleuchten »Formen des Wartens im Exil« (Ivo Theele, » ›Warteraum‹ Exil – Raum als Narrativ eines Krisenzustands«, in: Daniel Kazmaier/Julia Kerscher/Xenia Wotschal (Hgg.), Warten als Kulturmuster, Würzburg 2016, 113–133) sowie die »Poetik des Wartens« bei Rilke (Andrea Erwig, »Im Warteraum der Salpêtrière. Rainer



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einer institutionellen Disziplinierung des Individuums in der Moderne verstanden werden kann, gilt das Interesse im Folgenden dem als schicksalsnotwendig empfundenen ›Zu-Warten‹, das zwar extern veranlasst, aber intrinsisch vollzogen wird.4 Der Einzelne diszipliniert sich hier selbst, akzeptiert Schmerz oder Leid als Bewährungsanlass und gehorcht damit viel eher einer affektkontrollierenden ›Verhaltenslehre der Kälte‹, als dass er zum Objekt extrinsischer Unterwerfungstechniken würde.5 Wenngleich ich davon ausgehe, dass es sich bei dem ›heroischen Fatalismus‹, eines heroischen Durchhaltens im Vertrauen auf eine überindividuelle Steuerungsmacht oder ein historisches Ziel, um eine Denkfigur handelt, die ältere und neuere ideengeschichtliche Tendenzen auf intrikate Weise schichtet, beschränke ich mich im Folgenden auf das späte 19.  und frühe 20. Jahrhundert. Heinz Dieter Kittsteiner hat für die Ideengeschichte dieser Zeit den Epochenbegriff ›heroische Moderne‹ vorgeschlagen, die sich als Antwort auf die parallel fortlaufende ›Fortschrittsmoderne‹ der Aufklärung formiert und sich als Widerstand gegen die Geschichte verstanden habe.6 Die von Kittsteiner vorgeschlagene Epochenbegrenzung bietet sich insofern an, als Nietzsches Lebensphilosophie in jedem Fall einen ideengeschichtlichen Einschnitt markiert, der Kollaps des NS-Regimes und das Ende der Exilzeit indes ereignisgeschichtliche Brüche auch für die deutsche Literatur bedeuten. Die folgenden Ausführungen versteMaria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und das literarische Warten um 1900«, in: ebd., 63–81). Während Nadine Benz im Anschluss an Henri Bergson und Paul Ricœur eine Narratologie des Wartens als temporales Phänomen vorgelegt hat (Nadine Benz, (Erzählte) Zeit des Wartens. Semantiken und Narrative eines temporalen Phänomens, Göttingen 2013), versteht Katharina Baier das Warten bei Kafka und Thomas Mann als räumliche Anordnung, in der sich Machtgefälle manifestieren (Katharina Baier, »Über Warten und Strafen. Das Wartezimmer als Machtraum in Franz Kafkas Roman Der Proceß«, in: Anna Echterhölter u.a (Hgg.), Wirbel, Ströme, Turbulenzen, Hamburg 2010, 199–207). 4  Siehe dazu auch Jens Dreisbach, Disziplin und Moderne. Zu einer kulturellen Konstellation in der deutschsprachigen Literatur von Keller bis Kafka, Münster/Berlin 2009. 5  Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994. – Zur Semantik des Schmerzes in der Moderne siehe auch Elisa Primavera-Lévy, Die Bewahrer der Schmerzen. Figurationen körperlichen Leids in der deutschen Literatur und Kultur von 1870–1945, Berlin 2012, bes. 59–92. 6  Heinz Dieter Kittsteiner, »Der Begriff des Politischen in der Heroischen Moderne. Carl Schmitt, Leo Strauss, Karl Marx«, in: Moritz Baßler/Ewout van der Knaap (Hgg.), Die (k)alte Sachlichkeit. Herkunft und Wirkungen eines Konzepts, Würzburg 2004, 161–189, sowie ders., »Die heroische Moderne. Skizze einer Epochengliederung«, Neue Zürcher Zeitung (10.11.2001) http://www.nzz.ch/article7QJMB1.497212.

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hen sich als Aufriss; sie streifen nur kursorisch, was eine eingehendere Untersuchung lohnte. Ich schlage zunächst eine Explikation der Denkfigur nach ihren Elementen vor (II.) und werfe dann Schlaglichter auf ihre prominentesten Semantisierungen bei Nietzsche und Thomas Mann (III.), ihre Genderisierung im Ersten Weltkrieg (IV.), ihre messianische Akzentuierung in der Weimarer Republik (V.) sowie die Bifurkation ihrer Assoziationsmöglichkeiten in der Inneren Emigration und im Exil (VI.). II. Durchhalten: Elemente einer Denkfigur In der Literaturwissenschaft verwendet man den Terminus ›Denkfigur‹ zwar seit geraumer Zeit, hat ihn aber begrifflich kaum definiert.7 Unter ›Denkfigur‹ oder ›Denkmuster‹ verstehe ich einen schematisierten Konzeptkomplex, in dem durchaus heterogene Ideologeme  – etwa die neostoische Constantia-Forderung, die christliche Askese und der nietzscheanische Vitalismus  – miteinander verknüpft werden. Denkfiguren können sich semantisch konventionalisieren und bilden über stabile Begriffe, Kollokationen, Tropen oder Narrative eine typisierte Diskursformation, die es ermöglicht, die entsprechenden Teilkomponenten auch dann aufzurufen, wenn sie nicht mehr expliziert werden. Der Gedanke des ›Durchhaltens‹ kann heuristisch umschrieben werden als ›individuelle oder kollektive Leistung des Überdauerns eines als unangenehm empfundenen Zustands, der vom Akteur oder von den Akteuren nicht verändert werden kann‹, wobei dieses Basisverständnis in seinen literarischen Manifestationen variablen Prozessen der Resemantisierung unterworfen wird. Als Konfiguration vereint es mindestens drei Elemente, die theoretisch zu unterscheiden sind, sich empirisch aber meist eng miteinander verweben: Erstens ist die Denkfigur durch das zeitlich-historische Element der Finalität gekennzeichnet. Im Unterschied etwa zum reinen ›Ertragen‹, das es umfasst, aber in dem es nicht aufgeht, handelt es sich bei ›Durchhalten‹ um einen Erwartungszustand mit zeitlicher Begrenztheit. Gerade der temporale Nexus von Zustandsbeschreibung und Zielentwurf 7  Vgl. etwa Clemens Heydenreich, Revisionen des Mythos. Hiob als Denkfigur der Kontingenzbewältigung in der deutschen Literatur, Berlin/Boston 2015; Jutta Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, Freiburg i. Br. 2005, und Erich Kleinschmidt, Die Entdeckung der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert, Göttingen 2004.  – Theoretisch genauer bestimmt wird der Begriff lediglich bei Jutta Müller-Tamm, »Die Denkfigur als wissensgeschichtliche Kategorie«, in: Nicola Gess/Sandra Janßen (Hgg.), Wissensordnungen. Zu einer historischen Epistemologie der Literatur, Berlin/Boston 2014, 100–120.



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(›Warten und Erwarten‹) begünstigt den metaphorischen Sprung vom individuellen Zeiterlebnis zur Geschichtsphilosophie. Bei je verschiedener Akzentsetzung verstehen viele Autoren um 1900 die Moderne als Brückenzeit, als minderwertige Epoche, die man, wie Oswald Spengler 1931 formuliert, schlicht durchstehen muss  – »wir sind in diese Zeit geboren und müssen tapfer den Weg zu Ende gehen, der uns bestimmt ist. […] Auf dem verlorenen Posten ausharren ohne Hoffnung, ohne Rettung, ist Pflicht«.8 Das gilt für die Generation der wilhelminischen ›Übergangsmenschen‹ ebenso wie für den ästhetischen Avantgardismus mit seinen prophetischen Raptus oder den weltanschaulichen Anti-Modernismus, der die Neuzeit als Schwundstufe glorreicher Gestern versteht  – sie alle kommen in der Gegenwart nicht an (wie auch immer dies möglich wäre), sondern halten ihr lediglich stand.9 Zweitens hebt sich die Denkfigur des Durchhaltens von der Konkurrenzfigur des ›Wartens‹ durch die ethische Komponente der Agonalität ab: Obwohl es sich nicht um ein transitives Verb handelt, ist ›Durchhalten‹ auf ein antagonistisches Gegenüber bezogen, das es zu bezwingen gilt – sei es der Widerstand des Feindes, die äußeren Witterungsumstände, der Schmerz und das Leiden oder die reine Zeit, die totzuschlagen ist. In der Denkfigur kommt damit ein Pflichtgedanke zum Tragen, der ethische Modelle der Antike und der Frühen Neuzeit aufruft (Stoizismus und christlicher Neo-Stoizismus, christliche Askese- und Märtyrervorstellungen), die vor dem Hintergrund neuer politischer Couleurs (Nationalismus, revolutionärer Attentismus, konservativer Antidemokratismus) und mit zeitgeschichtlichem Bezug reaktualisiert werden. Die Denkfigur des ›Durchhaltens‹ wird je nach politischer Richtung anders gefasst beziehungsweise zeigt sich bestimmten Ideologien eher affin als anderen. Drittens schließlich eignet der Denkfigur eine psychologische Komponente von Agency und Willensstärke: Im ›Durchhalten‹ siegt der Wille 8  Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, München 1931, 88 f. 9  Dem wilhelminischen Topos des ›Übergangsmenschen‹ ist Martin Doerry nachgegangen: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, 2 Bde, Weinheim 1986. Zum Messianismus der Avantgarde siehe zuletzt Gabriela Wacker, Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne, Berlin 2013, sowie Frank Krause, Sakralisierung unerlöster Subjektivität. Zur Problemgeschichte des zivilisations- und kulturkritischen Expressionismus, Frankfurt a. M. 2000; zum (komplexen) Zusammenhang von Dekadenzdenken und Anti-Moderne vgl. Caroline Pross, Dekadenz. Studien zu einer großen Erzählung der frühen Moderne, Göttingen 2013, sowie Dieter Kafitz, Décadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2004.

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über das körperliche Bedürfnis des Aufgebens. Den externen Antagonisten des Feindes, der Witterung oder der Zeitläufte entspricht der innere Widerpart der Resignation. Der heroische Fatalismus wirft damit die Frage nach dem Verhältnis von Wille und Tat auf.10 Nach Max Weber schließt soziales Handeln nicht nur die Tat ein, sondern auch das Dulden und Unterlassen;11 damit setzt grundsächlich auch der Tatverzicht einen heroisierungsfähigen Handlungsspielraum voraus. »Das Heroische«, so Nietzsche, bestehe nicht nur »darin, dass man Grosses thut«, sondern auch, dass man »Etwas in grosser Weise nicht thut«: »Der Heros trägt die Einöde und den heiligen unbetretbaren Gränzbezirk immer mit sich, wohin er auch gehe«.12 Mit dem ergebenen ›Stellunghalten‹ wird gerade diese geringe Agency heroisiert. Die Leistung des Durchhaltens besteht in der Affirmation eines Schicksals, das dem Individuum auferlegt ist und das es aushalten muss, ohne sich dagegen zu wehren. Die alternative Handlungsoption des Durchhaltenden ist daher nicht die Optimierung seiner Situation durch die gewaltige Entscheidungstat, sondern das Aufgeben, die Negation jeder Handlung. Um nicht aufzugeben, bedarf es der Willensstärke, nicht aber des Aktivismus. Damit verbinden sich literarische Reflexionen von Handlungsmacht mit anthropologischen Diskursen um 1900, etwa dem psychologischen Voluntarismus, den Lebenswissenschaften, der Sportmedizin. III. »Zähne zusammengebissen!« Nietzsche und Thomas Mann Neben den neuen natur- und sozialwissenschaftlichen Determinismen (Evolution, Rasse, Milieu) erfreute sich um 1900 auch ein eigentümlicher Neo-Fatalismus großer Beliebtheit, dessen literarhistorische Konturen bislang zu grob nur bekannt sind.13 Bei einem Großteil der Autoren bildet 10  Grundlagen und Ausprägungen des Voluntarismus im ›nervösen‹ Kaiserreich sind inzwischen gut erforscht, siehe etwa Ingo Stöckmann, Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880–1900, Berlin 2009; Michael Cowan, Cult of the Will. Nervousness and German Modernity, University Park 2008, bes. 111–171, sowie Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998, 357–457. 11  Max Weber, Soziologische Grundbegriffe, Tübingen 1966, 18. 12  Friedrich Nietzsche, »Menschliches, Allzumenschliches II: Der Wanderer und sein Schatten«, in: ders., Kritische Studienausgabe [KSA], hg. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. 2., München 1999, 337. Hervorhebung in der Vorlage. 13  Dem tragisch-heroischen Schicksalsbegriff der ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts ist bislang, soweit ich sehe, keine Gesamtdarstellung gewidmet worden. Franziska Rehlinghaus, Die Semantik des Schicksals. Zur Relevanz des Unverfüg­



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Friedrich Nietzsche zweifellos den wichtigsten Bezugspunkt. In Auseinandersetzung mit Schopenhauers pessimistischer Philosophie des Leidens – »ein glückliches Leben ist unmöglich: das höchste, was der Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf«  –14 fordert Nietzsche den psychohygienischen Amor fati beziehungsweise einen »russischen Fatalismus«, das heißt, Fatalismus ohne Revolte, mit dem sich ein russischer Soldat, dem der Feldzug zu hart wird, zuletzt in den Schnee legt. Nichts überhaupt mehr annehmen, an sich nehmen, in sich hineinnehmen,  – überhaupt nicht mehr reagiren […] eine Art Wille zum Winterschlaf. […] Jener ›russische Fatalismus‹ […] trat darin bei mir hervor, dass ich beinahe unerträgliche Lagen, Orte, Wohnungen, Gesellschaften, nachdem sie einmal, durch Zufall, gegeben waren, Jahre lang zäh festhielt, – es war besser, als sie ändern, als sie veränderbar zu fühlen,  – als sich gegen sie aufzulehnen …15

Wie stets sind Nietzsches Postulate widersprüchlich, und an anderen Stellen seines aphoristischen Werks wendet er sich scharf gegen den Imperativ der Selbstbeherrschung, erteilt insbesondere dem Stoizismus eine Absage.16 Und doch begegnen in seinen Schriften immer wieder jene Exhortative zielgerichteter Entschlossenheit  – »[J]etzt tüchtig die Zähne zusammengebissen! Die Augen aufgemacht! Die Hand fest am Steuer!«  –,17 deren Funktion am ehesten aus Nietzsches Begriff des Vorbereitetseins erhellt: Es bedürfe, heißt es in der Fröhlichen Wissenschaft (1882), »vieler vorbereitender tapferer Menschen«, »Menschen, welche es verstehen, schweigend, einsam, entschlossen, in unsichtbarer Tätigkeit zufrieden und beständig zu sein: Menschen, die mit innerlichem Hange an allen Dingen nach dem suchen, was an ihnen zu überwinden ist«.18 Nietzsche fordert damit eine lebensbejahende Selbstaufgabe an das Schicksal, nämlich »das baren zwischen Aufklärung und Erstem Weltkrieg, Göttingen 2015,  bes. 339–413, untersucht den literarischen Fatalismus nur ganz am Rande. Zum Zusammenhang von Leid und Fatum bei Gerhart Hauptmann siehe allerdings Peter Delvaux, Leid soll lehren. Historische Zusammenhänge in Gerhart Hauptmanns Atriden-Tetralogie, Amsterdam 1994, 214–222. 14  Mit diesen Worten zitiert Nietzsche Schopenhauer, siehe Friedrich Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen III: Schopenhauer als Erzieher«, in: ders., KSA, hg. Colli/Montinari, Bd. 1, München 1999, 335–429, hier 373. 15  Friedrich Nietzsche, »Ecce Homo«, in: ders., KSA, hg. Colli/Montinari, Bd. 6, Berlin 1969, 270 f. 16  Friedrich Nietzsche, »Die fröhliche Wissenschaft«, in: ders., KSA, hg. Colli/ Montinari, Bd. 3, München 1980, 543 f. 17  Friedrich Nietzsche, »Jenseits von Gut und Böse«, in: ders., KSA, hg. Colli/ Montinari, Bd. 5, München 1999, 23. 18  Nietzsche, »Die fröhliche Wissenschaft«, 526 f.

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Nothwendige nicht bloss [zu] ertragen […], sondern es lieben«.19 Das fröhliche Durchhalten des Daseins wird überhöht, weil die Gegenwart vorrangig dazu dient, das Künftige zu ermöglichen. Die Nietzsche-Mythologisierung des frühen 20. Jahrhunderts vereindeutigte den Fatalismus, der in seinen Schriften doch sporadisch nur aufscheint, immer wieder zurückgenommen oder beiseitegeschoben wird. So verbreitete sich seit 1900 die nietzscheanische Haltung des ›Dennoch‹, wie sie Ernst Bertrams Nietzsche (1918) philosophisch entwickelte und wie sie zuvor unter anderem Thomas Mann literarisch gestaltet hatte:20 Für Gustav Aschenbach etwa, dessen »Lieblingswort« »Durchhalten« ist,21 sind im Tod in Venedig (1912) die »Helden des Zeitalters« solche, »die in stolzer Scham die Zähne aufeinanderbeiß[en] und ruhig dasteh[en], während [ihnen] die Schwerter und Speere durch den Leib gehen«  – »[w]elches Heldentum […] wäre zeitgemäßer als dieses?«22 Aschenbachs innerlichem und äußerlichem Abhärtungsritual  – er »begann […] seinen Tag beizeiten mit Stürzen kalten Wassers über Brust und Rücken«23  – entspricht den Prinzipien der diätetischen Ratgeberliteratur um 1900. Das Dispositiv der Ich-Mechanisierung, der Selbstzucht durch Wiederholung findet mit Emil du Bois-Reymonds Ueber die Uebung (1881) die (elektro-)physiologische Begründung,24 um kurz darauf in der lebensreformerischen Gymnastik eine modernekritische, dabei breitenwirksame Wendung zu erfahren: Beim zivilisationskranken Menschen wird der Widerstand demnach von innen 19  Nietzsche,

»Ecce homo«, 295. Schmidt, »Ehrfurcht und Erbarmen«. Thomas Manns NietzscheRezeption 1914 bis 1947, Trier 1997, 104–115. 21  Thomas Mann, »Der Tod in Venedig«, in: ders., Die Erzählungen, Frankfurt a. M. 2005, hier 443. 22  Ebd., 445. 23  Ebd., 444. – Thomas Mann hat mehrere seiner Protagonisten einem heroischen Typus zugerechnet, der sich durch einen ›Heroismus der Schwäche‹ auszeichne: »Heldenthum ist für mich ein ›Trotzdem‹, überwundene Schwäche, es gehört Zartheit dazu. […] Körperliches Leiden scheint mir historisch eine beinahe nothwendige Begleiterscheinung der Größe zu sein und das leuchtet mir psychologisch ein« (Thomas Mann an Kurt Martens, Brief vom 28. März 1906, in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 21: Briefe I: 1889–1913, hg. Thomas Sprecher/Hans R. Vaget/Cornelia Bernini, Frankfurt a. M. 2002, 357–362, hier 359). Zum »Heroismus der Schwäche« als Leistungsmoral vgl. die Abhandlung von Franz Maria Sonner, Ethik und Körperbeherrschung. Die Verflechtung von Thomas Manns Novelle »Der Tod in Venedig« mit dem zeitgenössischen intellektuellen Kräftefeld, Opladen 1984, bes. 61–72. 24  Emil du Bois-Reymond, »Ueber die Uebung. Zur Feier des Stiftungsfestes der militärärztlichen Bildungsanstalten am 2.  August 1881 gehaltene Rede«, in: ders., Reden. Zweite Folge, Leipzig 1887, 404–448. 20  Christoph



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geleistet, durch den Willen, den es durch Übungen zu dehnen und zu stärken gilt, ganz wie die Muskulatur. »Der Wille soll ja den gymnastischen Apparat ersetzen und denjenigen Widerstand ausüben, den der Apparat (Hantel usw.) dem ihn dirigierenden Organ entgegenstellen würde«, heißt es in Reinhold Gerlings Der vollendete Mensch (1906).25 Titel wie Das Gehen und der Gehsport als Mittel zur Selbsterziehung zu Kraft und Ausdauer (1908) und Ausdauer führt zum Ziel (1918) bewegen sich mit ihren Optimierungsmaximen ebenso im diskursiven Feld von Dauer und Disziplin wie später die Sportromane der Weimarer Republik, deren narrativer Bogen sich über den Verlust der sportlichen Ausdauerkraft bis zur Regeneration durch »Trainings-Askese« spannt.26 Immer wieder kehrt Thomas Mann auf dieses Lebensthema aus der Zeit des Tod in Venedig zurück, und oft wendet er es poetologisch. »All Heroismus liegt in der Ausdauer, im Willen zu leben und nicht zu sterben«, legt er die Maxime ›seinem‹ Goethe in Lotte in Weimar (1939) in den Mund:27 Dichterische Existenz bedeutet Leiden, künstlerisches Schaffen besteht im Stückwerk von Tag zu Tag, stets das Ziel vor Augen  – das Moment der Finalität wird daher nicht aufgegeben  –, doch nie es zu erreichen. Der pflichtbewusste Bürger, der schopenhauerianische Voluntarist und der symbolistische Poète maudit als Märtyrer der Kunst, sie alle eint die Abkehr von der unbeschwerten Lebenskunst. Selbst im Überlebenskampf des skifahrenden Hans Castorp, der vor dem einbrechenden Schneesturm zu kapitulieren droht, klingt die gymnastische Selbstsorge der Jahrhundertwende nach. Anschaulich und präzise entfaltet das Schneekapitel des Zauberbergs die Psycho-Physiologie menschlicher Resistenzfähigkeit gegenüber den Elementarkräften, denen gefährlich ausgeliefert zu sein Castorp ein Gefühl von ›Würde‹ gibt, zumal im Vergleich mit Davoser Touristen, denen die modische Skifahrt nur harmloses Vergnügen bereitet.28 Nachdem er bei seiner missglückten Bergfahrt der »Versuchung, sich niederzulegen und zu ruhen« erfolgreich widerstanden hat, immer 25  Zitiert nach Christiane Barz, »  ›Der vollendete Mensch‹. Reinhold Gerlings Ratgeber zur Körperkultur«, in: Thorsten Carstensen/Marcel Schmid (Hgg.), Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900, Bielefeld 2016, 105–118. Zur ›Gymnastik des Willens‹ im Naturalismus siehe Stöckmann, Wille zum Willen, 7–21. 26  Wilhelm Kaiser, Das Gehen und der Gehsport als Mittel zur Selbsterziehung zu Kraft und Ausdauer, Leipzig 1908; Karl Stenzel, »Ausdauer führt zum Ziel«, Pädagogische Woche 14/3 (1918), 204 f. – Zum Sportroman vgl. Kai Marcel Sicks, Stadion­ romanzen. Der Sportroman der Weimarer Republik, Würzburg 2008, bes. 78. 27  Thomas Mann, Lotte in Weimar, hg. Werner Frizen, Frankfurt a. M. 2003, 292. 28  Thomas Mann, Der Zauberberg, hg. Michael Neumann (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 5.1), Frankfurt a. M. 2002, 713 f.

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weitergefahren ist, um sich aus dem Schnee eigenmächtig zu befreien, muss Castorp einsehen, dass er sich im Kreis bewegt.29 Wieder befindet er sich just an der Hütte, die er vor über einer Stunde passiert hat: »Man lief im Kreise herum, plagte sich ab, die Vorstellung der Förderlichkeit im Herzen, und beschrieb dabei irgendeinen weiten, albernen Bogen, der in sich selbst zurückführte«.30 Castorp zieht die Konsequenz, verbunkert sich in der Hütte und beschließt, die Nacht durchzuwachen, der steten »Lockung, sich hinzulehnen«,31 immer von neuem zu widerstehen. Über mehrere Seiten beschreibt Mann die Versuche seines ›Sorgenkinds‹, sich einzurichten in der verschneiten Hütte, mit Trinken und leichter Bewegung sich Wärme zu verschaffen, bevor die bekannte Traumallegorie in Castorps Entschluss zum Leben mündet: Der Held hat dem Impuls, aufzugeben, sich dem Schlaf und damit dem Erfrieren ganz hinzugeben, erfolgreich widerstanden, sein Überlebenswille erweist sich als stärker als das Bedürfnis der Kapitulation.

IV. Eiserne Männer, deutsche Frauen: Genderstereotype des Durchhaltens nach 1914 Mit den bewegungsarmen ›Materialschlachten‹ des Ersten Weltkriegs wurde das Durchstehen von Gefahr zur existentiellen Generationserfahrung; als solche unterlag es bald neuen Rationalisierungsmustern. Während besonders an der Ostfront eine Ideologie der ›großen Tat‹ entstand, wurden im Westen ältere Märtyrermodelle des selbstlosen Sacrificium revitalisiert und in einen Heroismus des Ausharrens und Ertragens überführt. Die Durchhalte- und Selbstüberwindungsfantasien der mittleren Kriegsjahre führten die vitalistische Augenblicksemphase der Augustpublizistik fort und radikalisierten sie. Das stoische Idealbild des stählernen Kämpfers,32 das in der zweiten Kriegshälfte auch in bildlichen DarstellunDer Zauberberg, 731. 734. 31  Ebd., 732 f. 32  Bernd Hüppauf sieht die Schlachten von Verdun und an der Somme 1916 als Wegmarken dieser Transformation im Soldatenbild, vgl. Bernd Hüppauf, »Schlachtenmythen und die Konstruktion des ›Neuen Menschen‹ «, in: Gerhard Hirschfeld/ Gerd Krumeich (Hgg.) in Verbindung mit Irina Renz, Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch … Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Frankfurt a. M. 1996, 43. Vgl. auch Jürgen Reulicke, »Vom Kämpfer zum Krieger – Zum Wandel der Ästhetik des Männerbildes während des Ersten Weltkriegs«, in: Sabiene Autsch (Hg.), Der Krieg als Reise. Der Erste Weltkrieg — Inneneinsichten, Siegen 1999, 52–62. 29  Mann, 30  Ebd.,



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gen inszeniert wird,33 baute auf der Vorstellung der Wahrnehmungsintensivierung auf: Wer auch den »inneren Kampf«34 gewinne, wer den Krieg als reinigende und sinnenstärkende Grenzüberschreitung schätzen lerne, könne davon profitieren, ja gekräftigt daraus hervorgehen. Vitalistische Selbstüberwindungsvorstellungen kursierten daher in der Weltkriegsliteratur und finden sich auch in den Durchhaltegedichten der zweiten Kriegshälfte. »Starrend von schwarzem, zähanhaftendem Schlamm«, heißt es da, »[w]indet der Weg spurenzerquetscht sich endlos bergan. | Mühsam quälen die Truppen sich keuchend empor. | An den Stiefeln bleischwer, gummifest badet der Kot. | Aber ingrimmig blitzt aus den Augen der Wille: Durch!«35 Oft rekurriert man auf das Bild des stählernen ›neuen‹ Menschen, imaginiert wird ein »Volk zähen Willens | In Arbeit und Kampf, | Trotzend dem schier Unmöglichen«. »Warten lernen!«, fordert Fritz von Ostini in einem gleichnamigen Gedicht, »[n]icht immer jubelnder Hurraschrei! […] Warten in langen Tagen und Nächten,  | Merkt Euch’s, ist härter als Stürmen und Fechten!  |  Just das gewaltigste Heldentum | Erntet da wenig vom schallenden Ruhm!«36 Anders als in der tatfreudigen Ballade des 19. Jahrhunderts heroisiert man nun nicht mehr (nur) das »Stürmen und Fechten«, sondern die innere Bereitschaft zur Tat, den bloßen Willen. Besonders die detaillierten Beschreibungen von Schmutz, Feuchtigkeit und Blut in den Schützengräben und im Gefecht dienen dabei als Folie für die innere Reinigung und Maschinisierung des heroischen Frontkämpfers, dessen Wille dadurch eisern wird, dass er den Umständen zu trotzen versucht. Daher sehen viele Texte die Aufgabe des Soldaten in der standhal33  Vgl. Steffen Bruendel, »Vor-Bilder des Durchhaltens. Die deutsche Kriegs­ anleihe-Werbung 1917/18«, in: Arnd Bauerkämper/Elise Julien (Hgg.), Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918, Göttingen 2010, 81–109. 34  Bernd Ulrich, »Kampfmotivationen und Mobilisierungsstrategien. Das Beispiel Erster Weltkrieg«, in: Heinrich von Stietencron/Jörg Rüpke (Hgg.), Töten im Krieg, München 1995, 399–401. 35  Friedrich W. Fuchs, »Durch!«, in: Feldgraue Dichter. Kriegsdichtungen unserer Soldaten, hg. Bogdan Krieger, Berlin 1916, 48 f. Die Darstellung erinnert an Filippo Tommaso Marinetti, »Manifest des Futurismus«, Der Sturm 2/124 (1912), 828f: »Mit vollem Munde kostete ich deinen stärkenden Schlamm […]. Als ich meinen kotigen, übelduftenden Körper erhob, fühlte ich wie das rote Schwert der Freude süss mein Herz durchbohrte.« 36  Fritz von Ostini, »Warten lernen!«, in: Deutsche Kriegsklänge 1914/15. Feldpostausgabe, H. 4, hg. Johann Albrecht, Herzog zu Mecklenburg, Leipzig 1915, 21– 25. Ähnlich Bruno Frank, »Der neue Ruhm«, in: »Die lange Schlacht«. Der deutsche Krieg im deutschen Gedicht 1914, hg.  Julius Bab, Berlin 1915, Bd. 5,  3.»Heute gilt kein buntes Heldentum […] | Nicht mehr Brust an Brust, | Mißt sich Ritterlust | […] Stiller, aber höher ward der Ruhm, | […] Größer, wer in nasser Höhle liegt, | Eisengrau dem Schicksal eingeschmiegt, | Und die Augen überfüllt mit Tod«.

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tenden »Wacht«, in der es neben dem Schutz des Vaterlandes um die selbstüberwindende Transformation des Soldaten geht. Dass der technologisierte Stellungskrieg keine Gelegenheiten zur Bewährung im Kampf Mann gegen Mann und zum Beweis der Überlegenheit einzelner Krieger mehr bot, bedeutete durchaus nicht, dass das Soldatenleben nicht mehr zu heroisieren war. Gerade die Unmöglichkeit individueller Beeinflussung des eigenen Überlebens oder Sterbens konnte auf diese Weise umgedeutet werden als Aufgehen des Einzelnen in ein verhängnishaftes Ganzes, in dem jedem Soldaten elementare Gliedfunktion zukommt. Hier fand der Verlust der Todesangst durch Abhärtung zum stählernen Kämpfer mit der vitalistischen Augenblicksemphase zusammen und bildete ein Ideologem, das Ernst Jünger später als den »innigere[n] Genuß am Sein im Eintagsfliegentanze über dem Schlunde der Ewigkeit«37 charakterisieren sollte. Als symptomatisch für den literarischen Diskurs um die ›heilige Not‹ des Krieges dürfen die zwischen pathetischer Ergriffenheit und martialischen Schlachtrufen changierenden Lieder von Richard Dehmel gelten.38 Der heute weniger bekannte Dehmel meldete sich mit einundfünfzig Jahren im August 1914 freiwillig zum Dienst und verbrachte auch wirklich einige Monate in den Schützengräben nahe der Aisne, bevor er sich ab 1915 damit begnügen musste, zu Kriegsvorträgen an die Front zu reisen. Er sei »schicksalsbegeistert, nicht kriegsbegeistert« gewesen, schrieb Dehmel später, ein Wort, das Thomas Mann dankbar aufnahm, um sein eigenes Engagement zu rechtfertigen.39 Seine Begeisterung für das Fatum der Völkerschlacht verbindet Dehmel mit der Notwendigkeit, sich zu disziplinieren, Gehorsam und Demut zu lernen: Der Einzelne müsse sich der höheren Gewalt des Geschichtslaufs fügen. »Haltet aus, haltet aus!«,40 singt Dehmel nach seinen Vorträgen mit den Soldaten, und noch im FrühJünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1922, 35. Ursprung, Konjunktur und Verschwinden des Schlagworts von der ›Heiligen Not‹, deren schicksalhafter Einbruch dem dekadenten Menschen neue Bewältigungskräfte verleiht, siehe Nicolas Detering/Johannes Franzen, »Heilige Not. Zur Literaturgeschichte des Schlagworts im Ersten Weltkrieg«, Euphorion 107 (2013), 463–500. 39  Richard Dehmel, »Offener Brief an die Weltfriedensprediger (Januar 1920)«, in: ders., Bekenntnisse, Berlin 1926, 149–156, hier 152. Thomas Mann zitiert diese Wendung 1922 und rechtfertigt damit seine Betrachtungen eines Unpolitischen (Thomas Mann, »Das Problem der deutsch-französischen Beziehungen«, in: ders., Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe, hg. Hermann Kurzke, Frankfurt a. M. 2002, Bd. 15.1: Essays II, 445–469, hier 450). 40  Richard Dehmel, Zwischen Volk und Menschheit. Kriegstagebuch, Berlin 1919, 273 f. Bei Haltet aus, haltet aus handelt es sich um die Schlussverse des bekannten Soldatenlieds O Deutschland hoch in Ehren (1859). 37  Ernst 38  Zu



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jahr 1918 verdammt er mit scharfen Worten jegliche Friedensbestrebungen.41 In seinem Drama Die Menschenfreunde (1917) äußert er sich indes kriegskritisch, wenngleich auch dort das »A und O« die »Selbstbeherrschung« durch eisernen Willen sei, wie er brieflich bekennt: »[D]urchhalten, wenn’s Herz auch bricht!«42 Diesen ›Spätfolgen‹ des Voluntarismus43 entspricht der ge-genderte Diskurs um das »stille Heldentum« der Frauen und Mütter,44 die daheim auf die Rückkehr ihres Mannes warten sollten. Auch die ›deutsche Frau‹ werde, so ein geläufiges Argument, durch den Krieg stärker, selbständiger, duldsamer; sie lerne, am Vaterlandsdienst teilzuhaben, erschließe sich damit ideologische und praktische Partizipationsmöglichkeiten an der Arbeit für das Nationalwohl. Eine Vielzahl von Autorinnen verschreibt sich dem bellizistischen Initiationsnarrativ von weiblicher Pflichterkenntnis und moralischer ›Katharsis‹, das die männlich codierten Normen der Selbstkontrolle, Härte, Disziplin auf das Konstrukt ›Frau‹ überträgt.45 Die Passivität der Treu-Wartenden, als deren Prototyp Penelope galt, wird in diesem Zuge als asketische Leistung aufgewertet, bleibt indes auf die männliche Primäraufgabe der Vaterlandsverteidigung bezogen: Dem Mann hat die Frau an der ›Heimatfront‹ beizustehen, indem sie sich, analog zu seinem eisernen Durchhalten in den Schützengräben, nach innen beherrscht und nach außen ›ermannt‹. Seinen Überlebenskampf kann sie nur mit-erleben, während ihr eigentlicher Heroismus darin besteht, jede Entscheidung ergeben hinzunehmen – fällt ihr Mann, versagt sie sich lautstar41  Ähnlich übrigens wie Alfred Döblin: »Jede Stimme muß verstummen, die auch nur ein Wort äußert, das nicht Krieg ist. Verflucht soll der sein, der das Wort Frieden […] in den Mund nimmt«, schreibt Döblin im Februar 1918 in der Neuen Rundschau. Zitiert nach Helmut Fries, Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter, Bd. 2: Euphorie  – Entsetzen  – Widerspruch: Die Schriftsteller 1914–1918, Konstanz 1995, 61. 42  Richard Dehmel, »Brief an Hans Godeck vom 7.  September 1918«, in: ders., Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1902 bis 1920, Berlin 1923, 436. 43  Stöckmann, Wille zum Willen, 490–503. 44  Reinhold Braun (Hg.), Deutsche Frauen  – Deutsche Treue! Gedichte aus dem Weltkrieg, Berlin 1916. Vgl. dazu Nicolas Detering, »Die ›deutsche Frau‹ im Weltkrieg. Literarischer Bellizismus bei Thea von Harbou, Ina Seidel und Agnes Sapper«, in: Michael Fischer/Aibe-Marlene Gerdes (Hgg.), Der Krieg und die Frauen. Geschlecht und populäre Literatur im Ersten Weltkrieg, Münster 2016, 27–51. 45  Vgl. zu dieser Strategie Karin Bruns, »Figuren des Weiblichen – Szenarien des Nationalen. Die (Drehbuch-)Autorin Thea von Harbou (1888–1954)«, in: Hannelore Scholz/Brita Baume (Hgg.), »Der weibliche multikulturelle Blick«. Ergebnisse eines Symposiums. […], Berlin 1995, 95–104, sowie zum Topos der ›Kulturreinigung‹ durch Krieg Helmut Fries, Die große Katharsis, Bd. 1: Die Kriegsbegeisterung von 1914: Ursprünge, Denkweisen, Auflösung, Konstanz 1994.

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ke Klage, glaubt an die höhere Rechtfertigung seines Todes und übt Affektbeherrschung. V. ›Geöffnetsein‹: Die Wartenden der Weimarer Republik Nach 1918 wirkte die heroische Zeitüberbrückung als kulturelles Muster für Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsentwürfe fort. In diesem Sinne beschreibt Siegfried Kracauer in dem Essay Die Wartenden (1922) seine Zeitgenossen als Brückengeneration, die an »ihrem Vertriebensein aus der religiösen Sphäre« leide und sich daher in anthroposophischen Heilserwartungen verliere.46 Kracauer möchte demgegenüber einen anderen Weg aufzeigen, nämlich eine Haltung des »Geöffnetseins«, ein »Sichbereiten« als »Vorbereitung des Nichterzwingbaren«.47 Die »Vorbereitung des Nichterzwingbaren« ähnelt dem »revolutionären Attentismus« vieler Marxisten und Sozialdemokraten vor 1914, die sich mit einem passiven ›Zuwarten‹ auf die Weltgeschichte begnügten und davon ausgingen, dass sich der Sozialismus aufgrund des Wachstums der Arbeiterschaft von selbst einstellen würde.48 Doch auch auf konservativer Seite empfahl man bisweilen eine abwartende, schicksalsfromme Haltung. So rät Rudolf Borchardt in seinem Essay Konservatismus und Monarchismus (1930) den Kaisertreuen dazu, der verhassten Republik gelassen entgegenzutreten, keine Revolution anzuzetteln, sondern der Demokratie kühl zu erwidern: »Laß dir Zeit; wir warten«.49 Sobald die Weimarer Republik aus weltgeschichtlicher Notwendigkeit untergegangen sei, so Borchardts Hoffnung, werde die monarchische Herrschaft des ersehnten Fürsten als einzige Option erscheinen. Der ›Erfahrungsüberschuss‹ des Krieges konnte in der Weimarer Republik einerseits in einen linken und rechten Terrorismus umschlagen,50 der versuchte, mithilfe der entschlossenen Aktion dem kollektiven Zaudern ein Ende zu setzen. So rechtfertigte Ernst von Salomon sein Mitwirken an mehreren politischen Attentaten mit der Notwendigkeit einer Entschei46  Siegfried Kracauer, »Die Wartenden«, in: ders., Essays, Feuilletons, Rezensionen, Bd. 5.1: 1906–1923, hg. Inka Mülder-Bach, Frankfurt a. M. 2011, 383–394, hier 384. 47  Ebd., 389. 48  Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Frankfurt a. M./Berlin 1973. 49  Rudolf Borchardt, »Konservatismus und Monarchismus«, in: ders., Prosa V., hg. Marie Luise Borchardt/Ulrich Ott, Stuttgart 1979, 409–420, hier 416. 50  Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, 979–997.



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dungstat: Die Freikorpskämpfer hätten aus dem Krieg »gelernt, zu tun, was vordringlich zu tun war, und sie taten es«.51 Andererseits verlagerten der messianische Expressionismus und die prophetische Dichtung der Zwanzigerjahre die attentistische Gegenwartskritik gleichsam nach vorn, indem sie Heroenfiguren in die Zukunft projizierten oder Leerstellen entwarfen, mit denen die Gegenwart als Inkubationsphase des Kommenden entwertet wurde, wie dies in Stefan Georges spätem Gedicht Der Lezte der Getreuen aus dem Band  Das neue Reich (1928) geschieht: Noch weilt der Eine ausser lands Drum ist auch mir die heimat leer Ich haus’ als fremdling nur in ihr Bei meines königs banne. Ich zähle nicht nach freud’ und fest Der Andern und ich warte gleich Den sommer durch · den winter lang Bis mich mein könig rufe .. Und kehrt er nie mehr hier zurück Holt er mich nicht zu seinem dienst  – Gibt mir nur EINES ziel und sinn: Mit meinem könig sterben!52

Auch wenn die messianische Königsfigur die Strophen dominiert, erfährt der Leser kaum etwas über sie; im Zentrum des Gedichts steht vielmehr das titelgebende Rollen-Ich, der ›Lezte der Getreuen‹, der im Präsens seine Situation umreißt, und zwar in drei Dimensionen: Die erste Strophe skizziert die Raumwahrnehmung des Getreuen, nämlich den Kontrast zwischen dem ›Außerland‹ des Königs und der leeren Heimat, in dem sich das lediglich ›hausende‹ Ich isoliert fühlt. Die zweite Strophe berührt die Zeitordnung, die sich nicht mehr nach der sozialen Taktung der Gesellschaft richtet  – für sie steht das Hendiadyoin »freud’ und fest«  –, sondern in der die eintönige Gezeitenfolge von Winter und Sommer nur noch hingenommen wird, bis der Ruf des Königs sie durchbricht. Das Kollektiv der ›Andern‹, das nach dem konventionellen Festtagskalen51  Ernst

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von Salomon, Das Buch vom deutschen Freikorpskämpfer, Berlin 1938,

52  Stefan George: »Der Lezte der Getreuen«, in: ders., Sämtliche Werke in 18 Bänden, hg. Georg Peter Landmann/Ute Oelmann, Stuttgart 2001, Bd. 9: Das Neue Reich, 106. Zu Georges ›Messianismus‹ ist neuerdings eine Vielzahl von Studien erschienen, darunter Wacker, Poetik des Prophetischen, 139–178, und Jürgen Brokoff, »Prophetie und Erlösung in Stefan Georges Lyrik nach 1900«, in: Wolfgang Braungart (Hg.), Stefan George und die Religion, Berlin/Boston 2015, 27–42. In Vorbereitung befindet sich eine Arbeit von Achim Aurnhammer mit dem Titel ›Heroischer Attentismus im Spätwerk Georges‹.

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der lebt, kontrastiert dabei mit der (auch temporalen) Singularität des ›Einen‹ im ersten Vers. Die dritte Strophe transzendiert die raumzeitliche Positionierung und stellt im Konditionalis die Möglichkeit in Aussicht, dass der König den Getreuen niemals erlösen werde: Dann, so sind die letzten Verse wohl zu verstehen, wolle er sterben, sobald die Nachricht vom Tod des Königs ihn erreicht (also ›mit ihm sterben‹). Heroisiert wird in Georges Gedicht weniger der König als ›Objekt‹ der Erwartung – auch wenn er die heroische Situation motiviert  –, sondern das erwartende Subjekt: Ihm wird mit der Titelspezifikation, der Lezte der Getreuen zu sein, Exzeptionalität attestiert; seine agonale Leistung erweist sich in der bewussten Gesellschaftsferne und -verachtung; sein Opfer besteht in dem Beschluss, in jedem Falle sein Leben für den König hinzugeben, auch wenn es sinnlos ist, auch wenn das Ziel seines Stellunghaltens niemals erreicht wird. Im Jahr 1930, also kurz nach dem Erscheinen des Neuen Reichs, hat Werner Best für diese Haltung den Begriff ›Heroischer Realismus‹ geprägt,53 in seinem Beitrag zu einem von Ernst Jünger besorgten Sammelband. Jünger griff das Schlagwort wenig später in einem gleichnamigen Essay auf und arbeitete es in seine wirkmächtige Theorie des Arbeiters (1932) ein.54 Dort bezeichnet er damit das Vermögen des Einzelnen, eine Kampfstellung »innezuhalten und dennoch nicht in ihr aufzugehen, nicht nur Material, sondern zugleich Träger des Schicksals zu sein, das Leben nicht als Feld des Notwendigen, sondern zugleich der Freiheit zu begreifen«.55 Der Gedanke einer »Zucht des Herzens«56 als Weg zu Freiheit, gepaart mit einer ›realistischen‹ Kritik der zu bekämpfenden Gegenwart, findet sich abgewandelt auch bei Oswald Spengler, Carl Schmitt und Arthur Moeller van den Bruck, und er lässt sich auch bei ihnen auf Nietzsches paradoxen Gedanken einer »Affirmation des Lebens durch Pessimis53  Vgl. Gilbert Merlio, »Der sogenannte ›heroische Realismus‹ als Grundhaltung des Weimarer Neokonservatismus«, in: Manfred Gangl/Gérard Raulet (Hgg.), Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1994,  271–285, sowie Martin Lindner, Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth, Stuttgart/Weimar 1994, 93–102, und Heiko Christians, »Angelesene Radikalitätsromantik oder ›Heroischer Realismus‹ der Tat? Grundsätzliche Überlegungen zum Frühwerk der Gebrüder Jünger anlässlich neuer Veröffentlichungen«, Athenäum 22 (2012), 181–220. 54  Ernst Jünger, »Der Heroische Realismus (1930)«, in: ders., Politische Publizistik 1919 bis 1933, hg. Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, 553–557. 55  Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Stuttgart 1982, 66. 56  Ebd., 112.



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mus« zurückführen.57 Wie Nietzsche verwandelt sich Jünger die Denkfigur auf widersprüchliche Weise an. Insbesondere der radikale Dezisionismus der Zwanzigerjahre unterläuft die attentistische Ethik, indem sie einen emphatischen Tat- und Freiheitsbegriff unterbreitet, mit dem Jünger jedem »stoischen Fatalismus« eine Absage erteilt.58 Auch Jüngers Verhältnis zum Faschismus ist fraglos komplex, doch eine Affinität zwischen dem ›Heroischem Realismus‹ und der NS-Ideologie herrenmenschlicher Durchhaltekraft besteht unverkennbar. Bereits die völkischen Frontromane um 1930, die nach 1933 hohe Auflagen erzielten, entwerfen einen kriegsgestählten ›neuen Menschen‹. Hans Zöberleins Der Glaube an Deutschland stilisiert ›Verdun‹ zum mythischen Ort der Selbsttransformation, an dem das Individuum eine neue »Daseinsebene« betritt und die ihm diktierte Rolle annimmt  –  »dieses bangende Warten lähmt fürchterlich und macht so teilnahmslos gegen das, was man ängstlich decken und halten möchte, das Leben«, heißt es, und dann: »das Schicksal hat immer recht. Irgendwann einmal werden wir verstehen, warum es so kommen mußte. Schicksal!«59 Wie sich an Edwin Erich Dwingers Kriegsgefangenenroman Die Armee hinter Stacheldraht (1929) zeigt, konstruiert der Faschismus in diesen ›masochistischen Narrationen‹ einen sozialpsychologischen Konnex aus Purifikations- und Entindividuations­ wün­schen:60 Der machtlose, weil kriegsgefangene Soldat affirmiert seine Leidenszeit, weil sie ihm erlaubt, sich seiner unkeuschen Triebe zu entledigen, um als Gereinigter in das männliche Kämpferkollektiv aufgenommen zu werden. Homosexuelle ›Versuchungen‹, Onanie und Prostitution in den Lagern stellen die Widerstände dar, gegen die sich der soldatische 57  Arne De Winde/Oliver Kohns, »Pessimismus, Kultur, Untergang: Nietzsche, Spengler und der Streit um den Pessimismus«, Arcadia 50/2 (2015),  286–306, hier 292. 58  Jünger, »Der heroische Realismus«, 555. Zudem wendet sich Jünger nach 1945 von seinem vitalistischen Denken um 1930 ab und findet stattdessen zur ›Gelassenheit an der Zeitmauer‹, wie Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger, 1920–1960, Göttingen 2007, 279–523 nachweist. Zur ›Gelassenheit‹ des späten Jünger siehe auch Gregor Streim, Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950, Berlin 2008, 117–160. 59  Hans Zöberlein, Der Glaube an Deutschland, 36. Aufl., München 1941,  575, 318 und 729. 60  Jörg Vollmer, Imaginäre Schlachtfelder. Kriegsliteratur in der Weimarer Republik. Eine literatursoziologische Untersuchung, Berlin 2003, 258–260. Zu Dwinger siehe auch Philipp Stiasny, »Jenseits des Stahlgewitters. Kriegsgefangenschaft in Literatur und Film der Weimarer Republik«, in: Elke Scherstjanoi (Hg.), Russlandheimkehrer. Die sowjetische Kriegsgefangenschaft im Gedächtnis der Deutschen, München 2012, 37–53.

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Wille formieren muss, um sexuelles Verlangen zu einem nationalistischen Pflichtgefühl zu sublimieren.61 ›Durchhalten‹ heißt bei Dwinger ›SichEnthalten‹, abgefordert wird das Opfer des Begehrens für den Zusammenhalt des Vaterlands. VI. »Dennoch die Schwerter halten«: Immunisierungsversuche nach 1933 Während die nationalsozialistische Propaganda wenig später den ›Führer‹ Hitler als Erfüllung ihrer messianischen Hoffnungen feierte, verlängerte sich für die NS-kritischen wie für die exilierten Schriftsteller die Erwartungszeit. In den heterogenen, mehrheitlich aber christlich-konservativen Werken der sogenannten ›Inneren Emigranten‹ schlägt sich diese Erfahrung ubiquitär nieder,62 etwa in der Metaphorik der Außenpanzerung und des eskapistischen Rückzugs. Orientierung bieten die wiederentdeckten Passionale des Spätmittelalters, wie die Imitatio Christi des Thomas von Kempen in Reinhold Schneiders Erzählung Las Casas vor Karl V. (1938).63 Wieder sieht man sich in die Rolle der prophetischen Mittlergestalt gebannt, dem eine vollwertige Existenz nicht vergönnt ist. »Was wir erdulden, haben Deine Seher |  Vorausgelitten, vorausgesagt«, richtet sich Hans Carossa an das bedrohte »Abendland«, und: »Drum trag ich ab die Schichten meines Lebens, | Bis die vergessene Frühe wieder freiliegt«.64 Eine ähnliche Verhängnisgläubigkeit, gepaart mit dem Pathos des Duldertums, findet sich auch in den Gedichten Albrecht Haushofers, Gottfried Benns, Oskar Loerkes, Elisabeth Langgässers und ande61  So im Wesentlichen bereits der Befund bei Klaus Theweleit, Männerphantasien, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1977. 62  Zu dem in mehrfacher Hinsicht problematischen Begriff der ›Inneren Emigration‹ siehe nur Hans Dieter Zimmermann, » ›Innere Emigration‹. Ein historischer Begriff und seine Problematik«, in: Frank-Lothar Kroll/Rüdiger von Voss (Hgg.), Schriftsteller und Widerstand. Facetten und Probleme der »Inneren Emigration«, Göttingen 2012, 45–63. 63  Las Casas überreicht Karl V. die Meditationes des Thomas von Kempen, worin dieser die mystischen Trostworte Christi liest: »Deine Arbeit hier wird nicht mehr lange währen, und die Schmerzen, die dich jetzt zu Boden drücken, werden bald ausgeschmerzt [!] haben. Harre noch eine kurze Weile, und du wirst das Ende aller Plagen schnell kommen sehen. Es wird doch noch eine Stunde kommen, in der es heißen wird: nun ist alle Arbeit und alle Unruhe zu Ende« (Reinhold Schneider, »Las Casas vor Karl V. (1938)«, in: ders., Der große Verzicht. Erzählungen, Drama ausgew. Edwin Maria Landau, Frankfurt a. M. 1978, 119–261, hier 255). 64  Hans Carossa, »Abendländische Elegie (1943)«, in: ders., Gedichte, hg. Eva Kampmann-Carossa, Frankfurt a. M. 1995, 92–97.



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ren konservativen Dichtern, die während des NS-Regimes in Deutschland blieben  – »Dennoch die Schwerter halten« wurde zur Maxime eines konservativen Rückzugsgefechts nach Innen.65 Daher blieb es vielen Autoren nach 1945 unerklärlich, wie nun ausgerechnet sie unter moralischen Verteidigungsdruck geraten konnten  – sie waren es doch gewesen, die sich der Pflicht des Zurückbleibens gestellt hatten, und zwar mit der »Gewißheit, daß [sie] als deutsche Schriftsteller nach Deutschland gehörten und, was auch käme, auf [ihren] Posten ausharren sollten«, wie Frank Thieß formuliert.66 Dass Thieß und andere nun glaubten, das moralische Oberwasser zu haben  – »ich glaube, es war schwerer, sich hier eine Persönlichkeit zu bewahren, als von drüben Botschaften an das deutsche Volk zu senden«  –,67 erklärt sich auch aus der attentistischen Verhaltensethik der Vorkriegszeit, in der es als edler galt, seine Handlungsunfähigkeit zu ertragen, als sich die Handlungsmacht mit Entschiedenheit zurückzuerobern. Erstaunlicherweise teilte ein Großteil der Emigranten diese Auffassung auch grundsätzlich, bewertete nur die Lebenssituation verschieden: Sie waren es doch, die ausgeharrt hatten, und zwar im Exil, nicht gänzlich untätig zwar  – wie die Autoren der ›Inneren Emigration‹  –, dennoch aber in transitorischer Lebensform. Immerhin verfolgt auch Lion Feuchtwangers Romantrilogie Der Wartesaal (1930– 1939) ausdrücklich den Zweck, »dieses unser armseliges, bitteres, verrücktes und heroisches Dasein in der langen Zeit des Wartens und des Übergangs den Spätergeborenen begreiflich zu machen«,68 freilich unter gänzlich anderen weltanschaulichen und biographischen Vorzeichen als Benn, Thieß und andere. Doch das Deutungsmuster bleibt ähnlich; im Exil und auf der Flucht vor den Nationalsozialisten sah man die Zeit als Feind, die Gegenwart als Hindernis, das im »heroische[n] Dasein« überwunden werden musste. Diese Vorstellung findet sich in vielen Exilgedichten, etwa in Fritz Brügels Sonett Warten aus dem Jahr 1937: Ich bin in Einsamkeit ertaubt, in meine Stille schlägt kein Laut. Der Haß in Funken mich umstaubt und gerbt mir ledern meine Haut. Da ist kein Traum, dem ich vertraut, 65  Gottfried Benn, »Dennoch die Schwerter halten«, in: ders., Sämtliche Werke, hg. Gerhard Schuster, Stuttgart 1986, Bd. 1: Gedichte, 174. 66  Frank Thieß, »Die innere Emigration«, Münchner Zeitung (18.8.1945) [wieder abgedruckt in: Klaus Schröter (Hg.), Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. Doku­ mente 1891–1955, Hamburg 1969, 337 f. 67  Ebd. 68  Lion Feuchtwanger, Exil. Roman, Berlin/Weimar 1993, 765.

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noch vor dem Schlaf ward er geraubt. Er liegt im Winkelwerk verstaut, bis einer seine Ankunft glaubt. Ich zähl die Zeit wie eine Uhr und stoße die Sekunden vor und jag die Zeiger ihre Tour, sie klettern schwer zur Zwölf empor, die dann das Uhrwerk lösend stößt, das mächtig schlagend mich erlöst.69

Brügel verwendet in beiden Quartetten die gleichen Ausklänge, wobei die jeweiligen Kreuzreimwörter zudem miteinander reimen (ertaubt  – Laut), leicht unrein zwar, aber vokalidentisch. Damit figuriert er die öde Gleichförmigkeit des Wartens, den Verlust markanter Zeitparameter, den die Exilliteratur allenthalben beklagt. Ebenfalls unrein klingen die Kreuzreime der Terzette (Uhr – Tour; vor – empor), bevor das Sonett mit einem reinen Reimpaar (stößt  –  erlöst) schließt, das durch die Ö-Assonanz ›Zwölf‹ (das Wort steht nicht umsonst in v. 12) und ›lösend‹ (v. 13) vorbereitet wird: Der zähe Rhythmus des schieftönenden Immergleichen scheint endlich durchbrochen. Das Gedicht vollzieht damit die Ermächtigungsphantasie des Sprechers formalästhetisch  – auf die im Winkel verstaute Utopie der »Ankunft« (v. 8), die den Messianismus der Weimarer Republik konnotiert, formuliert das Sextett schwebend betont die Antwort: ›Ich‹. Das Ich imaginiert sich als Uhr, die, in eskalativer Metaphorik, selbst die Zeiger jagt, bis sie das Ziel erreichen. Die Ankunft des jüdischen Messias, hat Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Thesen erläutert, sprengt das Fortschrittskonzept einer leeren und homogenen Zeit, bringt die entlegenen Augenblicke, in denen der Messias auftritt, in ein kontemporäres Verhältnis und hebt damit die Linearität des Geschichtslaufs auf.70 In diesem Sinne bereitet Brügels ›Ich‹ die Ankunft des Heilands vor: Mit einem heroischen Kraftakt befördert er selbst die Erlösung, indem er, zumindest im Traum, im Gedicht, den lahmen Gang der messbaren Zeit beschleunigt, bis die magische Zahl Zwölf ihren Abbruch markiert. Eine andere Lösung präsentiert Anna Seghers’ Roman Transit (1944), der bereits vom Einfluss des französischen Existentialismus zeugt. Der namenlose Erzähler hält monatelang in Marseille aus, während seine Zeitgenossen sämtlich versuchen, das Land gen Übersee zu verlassen. Die Sinnlosigkeit seines nur transitorischen Daseins bejaht er, indem er immer 69  Fritz Brügel, »Warten«, in: Lyrik des Exils, hg. Wolfgang Emmerich/Susanne Heil, Stuttgart 1986, 162. 70  Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, hg. Gérard Raulet, Berlin 2010, 23.



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wieder kurze Fristverlängerungen erwirkt, die es ihm ermöglichen, in der französischen Hafenstadt zu bleiben, obwohl er dort kein sinnerfülltes Leben führt. Nur zum Schein ändert sich dies, als er sich in Marie, die Frau eines verstorbenen Schriftstellers verliebt, dessen Identität der Erzähler angenommen hat. In einem Akt der Selbstlosigkeit besorgt er für sie ein Visum und duldet gar, dass sie mit seinem Widersacher das Land verlässt. Doch ihr Schiff geht unter, und der Erzähler findet zur stoischen »Ahnung« seiner eigenen »Unversehrtheit«, die ihm die Einsicht garantiert, dass Vergangenheit und Zukunft, denen die melancholische Marie angehangen hat, undurchschaubar sind, dass stattdessen allein »der Zustand der Gegenwart, den man auf Konsulaten Transit« nennt, wirklich ist.71 Ob seine indolente Haltung, der Gestus der Gleichgültigkeit, den er aufrechterhält, nur Fassade ist, oder ob Seghers darin eine existentialistische Überlebenstechnik sieht, um die Absurdität des halbwertigen Exil­lebens zu akzeptieren und das Aushalten des Unabänderlichen als Aufgabe zu begreifen, das bleibt offen. Für die zweite Lesart, für eine existentialistische Wendung von Nietzsches Amor fati also, spricht Seghers’ Siebtes Kreuz: Auch hier muss der Protagonist Georg sich auf seiner Flucht aus dem KZ stets zusammenreißen, muss immer »weiterkrabble[n]«: »Viele sind erst dadurch entdeckt worden, daß sie sich eingebildet haben, sie wären […] schon entdeckt«, »und dann irgendeinen Unsinn machten«.72 Beschrieben wird Georgs Ausbruch nicht nur als Flucht vor der Gestapo, sondern auch als psychologisch eindringlich erzählter Kampf mit sich selbst, gegen die eigene Müdigkeit und den »[u]nbezähmbare[n] Wunsch«, aufzugeben, liegenzubleiben.73 Doch in der Konkretion des mühsamen Durchkämpfens auf der Flucht sieht auch Seghers’ Roman das überindividuelle, geschichtliche Fatum: »Es gibt Sachen auf der Welt, die kann man ändern«, belauscht Georg das Gespräch zweier Frauen, »[u]nd es gibt Sachen, die kann man nicht ändern. Solche Sachen muß man dann ertragen«.74 VII. Die Schlaglichter lassen erahnen, wie weitverzweigt die Denkfigur sich in die Literatur um 1900 und im frühen 20. Jahrhundert eingeprägt hat. 71  Anna

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Seghers, Transit. Mit einem Nachwort von Sonja Hilzinger, Berlin 2017,

72  Anna Seghers, Das siebte Kreuz. Roman aus Hitlerdeutschland, hg. Bernhard Spies, Berlin 2000, 34. 73  Ebd., 48. 74  Ebd., 50.

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Nicolas Detering

Der literarische ›Attentismus‹ reflektiert Transformationen und Funktionen des Heroischen in der Moderne. Ältere Diskursbestände des Durchhaltens erweisen sich als attraktiv, weil sie mit je neuen Semantiken reformuliert werden können, vom Voluntarismus der Lebensphilosophie über den Messianismus der Zwischenkriegszeit, vom Disziplinierungsimperativ des Faschismus bis zur christlichen Weltabkehr und zum antifaschistischen Vor-Existentialismus. Bei aller Verschiedenheit der jeweiligen historisch-lebensweltlichen Erfahrungen, auf die die skizzierten Resemantisierungen reagieren, erweist sich die Denkfigur doch als paradoxes Signum fast der gesamten Moderne. Zum Autonomiegewinn des säkularisierten Subjekts gehört eben auch sein Wunsch nach Entlastung, insbesondere vom Verantwortungsdruck des Einzelnen. Die »inoffizielle Wiederkehr des Schicksals« in einer offiziell ›defatalisierten‹ Welt (Odo Marquard) mit dem ihr eigenen Ethos des Durchhaltens erklärt sich aus diesem kulturpsychologischen Impuls.75 Brückenfiguren wie der Prophet, der Wächter und der Märtyrer stehen daher in der Literatur seit dem 19. Jahrhundert hoch im Kurs, und das bei weitem nicht nur bei Konservativen. An ihrer Haltung offenbart sich die eigentümliche Sehnsucht der Moderne nach Souveränitätsverlust  – nicht Durchhaltenmüssen, sondern -dürfen lautet die heimliche Losung, sich (endlich wieder) einem Unabänderlichen unterwerfen, das souveränes Handeln und Entscheiden limitiert. Gegen die Pluralisierung von Lebensoptionen, gegen die Planbarkeit der Zukunft und die Selbstbehauptung des Menschen, um nur einige gängige Großerzählungen der Moderne anzureißen, entwirft ein Gutteil der deutschen Literatur ihre Ästhetik des fügungswilligen Subjekts. 75  Odo Marquard, »Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren«, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 2015 [zuerst 1976], 67–91, hier 75. Marquard argumentiert hier allerdings weniger mit der Entlastungssehnsucht des modernen Menschen, sondern mit seiner Endlichkeitserfahrung, d. h. der Einsicht, weder die Anfänge noch die Folgen des autonomen Handelns völlig steuern zu können, sich stets also im geschichtlichen Rahmen des Unverfügbaren bewegen zu müssen. Nach dem Tod Gottes habe der Mensch deshalb, so Marquard, »einen unabweislichen Fatalismusbedarf […]. Denn wer überhaupt in bestimmen Bereichen handeln will, muß sich darauf verlassen, daß er in anderen – die immer die meisten sind – nicht zu handeln braucht; in diesem Sinne lebt seine Tätigkeit von seiner Untätigkeit, sein Machen davon, daß er das meiste gerade nicht macht, sondern […] das Schicksal hinnimmt« (ebd., 78 f.). Und weiter: »Je mehr die Menschen die Wirklichkeit selber machen, um so mehr erklären sie sie schließlich – enttäuscht – zu der, für die sie nichts können und die ihnen nur noch angetan wird. Der moderne  – neoabsolut-emanzipatorische  – Antifatalismus neigt offenbar dazu, sein Gegenteil zu werden: Fatalismus; seine Defatalisierung der Welt betreibt indirekt ihre Refatalisierung« (ebd., 83).

Stimmungen, Spannungen, Visionen Beobachtungen zur Kriegslyrik Wilhelm Klemms Von Max Graff Abstract Wilhelm Klemm, Expressionist poet and military surgeon on the Western front during World War I, published approximately 60 war poems, both in his collection Gloria! (1915) and in several literary magazines such as Franz Pfemfert’s Aktion. Some of them were soon hailed as eminently critical of common, glorifying poetic visions of war. This is certainly adequate; a closer scrutiny of the entire corpus of Klemm’s war poems, however, reveals a peculiar diversity which requires an awareness for their ambivalences. The article therefore considers three fields of inquiry: the poems’ depiction of the human body, their relation to lyrical paradigms focussed on nature and Stimmung, and ways of transcending both these paradigms and naturalistic representations of war and its effects. It thus identifies Klemm’s different modes of perceiving, interpreting and processing the experience of the Great War.

I. Eines der bekannteren Gedichte Wilhelm Klemms (1881–1968) ist zweifellos Meine Zeit, das in der wirkmächtigsten Anthologie expressionistischer Lyrik, der Menschheitsdämmerung (1919/20), prominent platziert als dritter Text erscheint, gleich nach Weltende von Jakob van Hoddis und Umbra vitae von Georg Heym.1 Das Sonett artikuliert eine typisch expressionistische Zeitdiagnose, wirkt aber auch, gerade im Rahmen der von Kurt Pinthus herausgegebenen Sammlung, die selbstbewusst den Anspruch erhebt, ein gültiges, »nicht nur […] geschlossenes, sondern […] abgeschlossenes, abschließendes Dokument dieser Epoche«2 zu sein, wie eine

1  Wilhelm Klemm, »Meine Zeit«, in: Kurt Pinthus (Hg.), Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung (15.–20. Tausend), Berlin 1922, 4. 2  Pinthus, »Nachklang«, in: ibid., 293–295, hier 293.

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Bilanz ebendieser Epoche. Der Sprecher apostrophiert »[s]eine Zeit« als »[s]o namenlos zerrissen / […] so daseinsarm im Wissen« (v. 9–10) und schließt mit einem düsteren Bild: »Du aber siehst am Wege rechts und links / Furchtlos vor Qual der Zukunft Abgrund weinen« (v. 13–14). Nun war Meine Zeit bereits 1915 erschienen  – in Klemms Gedichtsammlung Gloria! Kriegsgedichte aus dem Feld, unter dem Titel Vor dem Krieg.3 Mit diesem Wissen erhält der Text eine leicht verschobene Perspektivierung: Er erscheint nun eher als rückblickende, scharfsichtige Beschreibung einer krisenhaften Gesellschaft am Vorabend der Katastrophe des Ersten Weltkrieges. Diese Beobachtung rückt ein Korpus von Texten in den Fokus, aus dem nur wenige in die Menschheitsdämmerung aufgenommen wurden: Wilhelm Klemms Kriegslyrik.4 Klemms Lyrik insgesamt und seine Kriegslyrik im Speziellen hat die Forschung nur sporadisch in den Blick genommen.5 Dabei ist Klemm durchaus als bedeutender Kriegslyriker gewürdigt worden: Franz Pfemfert etwa nennt Klemms Kriegsgedichte die »ersten wertvollen Verse, die der

3  Wilhelm Klemm, »Vor dem Krieg«, in: ders., Gloria! Kriegsgedichte aus dem Feld, München 1915, 57. – Wenn im Folgenden diese Ausgabe zitiert wird, erscheinen Belege im Text in der Form (G Seitenangabe). 4  Die Menschheitsdämmerung enthält nicht weniger als 19 Gedichte Wilhelm Klemms, davon mit Schlacht an der Marne (47) nur ein weiteres Kriegsgedicht, was aber mit Blick auf die von Pinthus im Vorwort (»Zuvor«) dargelegte Konzeption der Anthologie kaum verwundert. 5  Vgl. v. a. Jan Brockmann, Untersuchungen zur Lyrik Wilhelm Klemms. Ein Beitrag zur Expressionismus-Forschung, Diss. Kiel 1961 (zur Kriegslyrik ibid., 39–78; für Rezensionen und ältere Literatur zu Klemm vgl. ibid., 219–220); Hanns-Josef Ortheil, Wilhelm Klemm. Ein Lyriker der »Menschheitsdämmerung«, Stuttgart 1979 (mit weiteren Literaturhinweisen ibid., 96); ders., » ›Mein Herz ist so groß wie Deutschland und Frankreich zusammen‹ «, in: Wilhelm Klemm, Tot ist die Kunst. Briefe und Verse aus dem Ersten Weltkrieg, hg. Imma Klemm, mit einem Nachwort v. Hanns-Josef Ortheil, Mainz 2013, 143–174 (es handelt sich um eine gekürzte Fassung von: Ortheil, Klemm, 29–64); Hermann Korte, Der Krieg in der Lyrik des Expressionismus. Studien zur Evolution eines literarischen Themas, Bonn 1981, 170–189; Jan Volker Röhnert, »Magische Flucht am Rand des Expressionismus. Zum spurenlosen Oeuvre Wilhelm Klemms«, Akzente. Zeitschrift für Literatur 2 (2006), 157–172; ders., » ›… aber die Auguren erkannten sich ja am Lächeln.‹ Dimensionen einer verborgenen expressionistischen Bekanntschaft: Gottfried Benn und Wilhelm Klemm«, Benn-Forum 5 (2016/2017), 79–110; Georg Philipp Rehage, »Wo sind Worte für das Erleben«. Die lyrische Darstellung des Ersten Weltkriegs in der französischen und deutschen Avantgarde (G. Apollinaire, J. Cocteau, A. Stramm, W. Klemm), Heidelberg 2003, 211–245.  – Ziel des vorliegenden Beitrags ist ein Überblick über die Gesamtheit der Kriegsgedichte, die Klemm im Kontext des Ersten Weltkriegs verfasst hat, ausgehend von einer genauen Lektüre der einzelnen Texte.



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Weltkrieg 1914 herausgebracht hat, es sind die ersten Kriegsgedichte«.6 Ernst Jandl nimmt seine kurze Besprechung von Klemms An der Front (G 45) sogar zum Anlass, allgemeiner über das Kriegsgedicht nachzudenken. Er lobt zunächst den »nüchtern[en] und distanziert[en]« Ton und die »Unmittelbarkeit« des Gedichts, das »jede Nachdenklichkeit« vermeide.7 Sodann extrapoliert Jandl allgemeine Charakteristika mit Blick auf  – gelungene, kritische  – Kriegslyrik: »Für das Kriegsgedicht […] ließe sich daraus lernen: die Vermeidung des Reims  – Krieg reimt auf Sieg; die Vermeidung des Gleichschritts eines regelmäßigen Metrums; die Vermeidung einer, wie man sagt, gehobenen Sprache […]; die Vermeidung von jeglichem Glanz«.8 Jandl schließt mit einer scharfsinnigen Beobachtung: »Das Moment der Diskrepanz […] ist Klemms schärfster und wirksamster Beitrag zur Zerstörung des Krieges durch das Gedicht«.9 Klemms Kriegsgedichte enthalten, so Jandl, auch wenn sie den Schrecken des Krieges objektiv einfangen, Spuren von Idylle, Schönheit und Alltäglichem. Jandls Deutung ist ziemlich treffend, vernachlässigt aber die Vielgestaltigkeit der Kriegslyrik Klemms. So liest man etwa, um nur ein besonders krasses Beispiel zu nennen, in Biwak die keineswegs als Zitat oder Ironisierung markierten Verse: »Jede Faser in uns bebt und glüht für unser Ziel. / O du ewiges Deutschland! Wir sind bereit« (G 24, v. 11–12). Bereits 1915 hatte Theodor Heuss Gloria! rezensiert und als »schöne[s] ernste[s] Buch«, das aus der Masse der Kriegslyrik heraussteche, gelobt; seine weitere Charakterisierung ist überaus aufschlussreich: Der Krieg kommt ganz nahe, nicht nur mit seinem Lärm und seinen Gefahren, seinen Schmerzen und seinem Schweigen, mit Landschaft, Nacht, Brand, Zerstörung  – sondern diese Dinge werden nicht in ein politisches System gebracht, aber auch nicht nur beschrieben, sondern sie füllen in ihrer Gewalt die geöffnete Seele eines Dichters. […] Die sprachliche Bildung ist voll der unmittelbarsten, knappsten Anschauung, das Gewaltige und Visionäre mancher Gedichte lebt und bebt von der Wucht, der Farbe, der Größe der gesehenen Dinge. Das Unheimliche und Grandiose wächst in der natürlichsten Eindringlichkeit […]. […] [E]s

6  Die Aktion 4.42/43 (24. Oktober 1914), 834. Pfemfert bezieht sich auf die Gedichte Schlacht an der Marne, Abend im Feld und Tot. Den im kriegsfreundlichen Münchner Albert Langen Verlag erschienenen Band Gloria! als Ganzes sah Pfemfert dagegen überaus kritisch. Vgl. dazu Ortheil, » ›Mein Herz‹ «, 164–167. 7  Ernst Jandl, »Zur Zerstörung des Krieges«, in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.), 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen, Bd. 6, Frankfurt a. M./Leipzig 2002, 388–390, hier 389. 8  Ibid. Jandl vergleicht Klemm sogar mit Georg Trakl. 9  Ibid., 390.

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ist Mitleid und Erschrecken in ihm [i. e. dem Dichter; MG], auch Erfühlen der unendlichen Gewalt des Krieges, aber auch ein Erstarren in seinen Rätseln.10

Vergleichbar seien Klemms Gedichte nur mit den Kriegsgedichten Walt Whitmans. Tatsächlich benennt Heuss’ Einschätzung einige markante Eigenschaften der Kriegslyrik Wilhelm Klemms, gerade indem sie ihre Vielstimmigkeit betont. Klemms Kriegslyrik unterscheidet sich – trotz des geradezu klischeehaft anmutenden Titels Gloria! – deutlich von jener massenhaft in Gedichtbänden, Anthologien, Zeitschriften und Tageszeitungen erscheinenden, euphorischen, patriotischen und kriegsverherrlichenden Lyrik besonders der ersten Kriegsmonate, die immer wieder auf ein bestimmtes bildliches und lexikalisches Inventar sowie auf bestimmte Denk- und Argumentationsfiguren zurückgreift.11 Gleichzeitig schreibt Klemm weder politische noch naiv pazifistische oder den Krieg scharf und explizit verurteilende Gedichte.12 Die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster des Krieges zu bestimmen, die Klemms Verse stattdessen exponieren, ist das Ziel der folgenden Ausführungen. * Klemms im Folgenden untersuchte Kriegslyrik  – insgesamt um die 60 Texte  – teilt sich auf zwei Teilkorpora auf: zum einen die Gedichte der Sammlung Gloria!, die durch den Untertitel klar als Kriegslyrik im Kontext des aktuellen Krieges markiert sind,13 zum anderen weitere, etwa in 10  Theodor Heuss, »Die Kriegsgedichte von Wilhelm Klemm«, März 9.3 (1915), 62–63, zit. nach: Ortheil, » ›Mein Herz‹ «, 173–174. 11  Vgl. z. B. Michael Fischer, »Geschichtslyrik im Ersten Weltkrieg. Ein Überblick«, in: Heinrich Detering/Peer Trilcke (Hgg.), Geschichtslyrik. Ein Kompendium, Bd. 2, Göttingen 2013, 885–902; Nicolas Detering, »Sammeln und Verbreiten. Gedichtanthologien im Ersten Weltkrieg«, in: ders./Michael Fischer u. a. (Hgg.), ­Populäre Kriegslyrik im Ersten Weltkrieg, Münster u. a. 2013, 121–153. 12  Die Frage nach Klemms Grundeinstellung zum Krieg steht im Folgenden nicht im Mittelpunkt des Interesses. Zu dieser Frage vgl. Brockmann, Klemm, 39–78, und Korte, Krieg, 170–189. Die Forschung hat einleuchtend dargelegt, dass das Nebeneinander von Gedichten mit kriegskritischem Impetus und solchen mit eher fragwürdigen patriotischen Anklängen auch auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass Klemm zeitweise parallel in der konsequent kriegskritischen Aktion und im konservativen Simplicissimus publizierte. – Brockmann betont zu Recht, dass der »Krieg als soziologisches Phänomen« Klemm nicht interessierte (Klemm, 47). 13  Ein nicht geringer Teil  der Gloria!-Gedichte war bereits zuvor in der Aktion und im Simplicissimus erschienen. Zur Publikationsgeschichte vgl. Klemm, Tot ist die Kunst, 180–182, Brockmann, Klemm, 45–46, und Rehage, Darstellung, 216–220. In Gloria! liegen die bis Frühjahr 1915 entstandenen Kriegsgedichte Klemms in einer



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der Rubrik »Dichtungen vom Schlacht-Feld« in der Aktion14 oder in der in Pfemfert Aktions-Verlag erschienenen Anthologie 1914–191615 publizierte Gedichte, die keine strukturierte oder komponierte Einheit bilden. Ob letztere als Weiterentwicklung, als kritische Auseinandersetzung oder gar als Revision der Gloria!-Gedichte zu lesen sind, wird zu klären sein. Klemm publizierte in den Jahren zwischen 1914 und 1918 noch weitere Gedichte ohne expliziten Kriegsbezug, die im Folgenden nicht berücksichtigt werden können. II. Anrufung O du großes Ereignis, unausdenkbarer Krieg! Ich seh dich vorüberziehen, gespensterhaft schön, Auf unzähligen Straßen, auf unzähligen Stirnen  – Ich höre dich rollen und donnern, sterben und schreien. Dein Aroma atmend, scharf, schmutzig, verbrannt und nach Blut, Deine Nöte fühlend in meiner gerunzelten Haut, Deinen Hunger spürend, deinen Opfermut, deine Treue  – Ich bin ganz beladen mit deinem entsetzlichen Schmerz! An meinen Sinnen, an meinen Augen, von Nachtwachen Brennend, rauschst du vorüber, phantastische Wirklichkeit, Überwältigend Land, Meer und Volk. Aber mein Herz, Mein weitaufglühendes Herz soll reden von dir! (G 7)

als Einheit konzipierten und als Kriegslyrik ausgewiesenen Sammlung vor; somit sind im Folgenden die Frage, ob einzelne Texte schon vor dem Krieg entstanden, sowie jene nach den genauen Entstehungsdaten aus pragmatischer und hermeneutischer Sicht zweitrangig. 14  Die Rubrik »Dichtungen vom Schlacht-Feld« in Pfemferts Aktion beginnt mit drei Kriegsgedichten Wilhelm Klemms (Schlacht an der Marne, Abend im Feld und Tot). Vgl. Die Aktion 4.42/43 (24.  Oktober 1914), 834 f. Brockmann bezeichnet Klemm daher als »Begründer der Kriegslyrik der ›Aktion‹ « (Klemm, 44). Korte betont Klemms maßgebliche Bedeutung für die »Destruktion des Heroismus« bzw. »die Irritation des Heroismus-Modells affirmativer Kriegspoesien« (Krieg, 170 bzw. 183). Einzelne weitere Kriegsgedichte Klemms erschienen u. a. 1917 in der Aktion. 15  Vgl. Franz Pfemfert (Hg.), 1914–1916. Eine Anthologie, Berlin-Wilmersdorf 1916, 60–72. – Grundlage der vorliegenden Untersuchung sind Gloria! sowie die in Klemm, Tot ist die Kunst, 125–141, versammelten weiteren Gedichte (zu deren Überlieferung siehe die dortigen Angaben); dieses Korpus wurde punktuell um einzelne weitere Texte ergänzt.

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Das Gedicht Anrufung eröffnet den Band  Gloria! und hat erkennbar eine poetologische Dimension.16 Die exponierte Position innerhalb des Bandes und der Titel, der auf die Anrufung der Musen in der antiken Epik anspielt, lassen eine programmatische, die Rezeption der folgenden Gedichte perspektivierende poetische Standortbestimmung erwarten. Diesen Eindruck verstärkt ein Blick auf den Text: Er begrüßt den Krieg euphorisch als »Ereignis« (v. 1), nur um dann gleich dessen Wahrnehmung, Verarbeitung und Repräsentation durch das Subjekt zu reflektieren. Alle Sinne werden angesprochen: Optische und akustische Reize nimmt das lyrische Ich ebenso auf wie Gerüche, Geschmäcke und körperliche Sensationen. Das so umrissene ›große Erlebnis‹ wird jedoch nicht auf apologetische Weise verklärt; neben Attributen, die den Krieg aus vitalistischer Perspektive als aufregend und neuartig erscheinen lassen und ihn zu einem auch ästhetischen Erlebnis stilisieren (»schön«, v. 2), steht das Bewusstsein, dass der Krieg zum einen (ganz allgemein) Leid und Tod bringt und zum anderen Zumutungen für das Ich bereithält. Dass das Reden vom Krieg, mithin seine poetisch-lyrische Repräsentation als Herausforderung konzeptualisiert ist, suggeriert das zunächst irritierende, adversative »Aber« (v. 11). Nun entwirft Anrufung eine detaillierte Poetik der Kriegslyrik: Ursprung des poetischen Sprechens ist das »Herz«, doppelt akzentuiert durch die Versendstellung und die Wiederholung (v. 11–12) – ein literaturgeschichtlich und poetologisch hochaufgeladener Begriff. Gemeint ist hier nicht primär das streng subjektive stürmerisch-drängerische und kaum das durch Erneuerungs- oder Menschheitspathos zu erweckende Herz, sondern das Herz als gleichsam produktionsästhetisches Konzept, wie es etwa Kasimir Edschmid in seiner Bilanz der expressionistischen Dichtung konturiert. Der Künstler, dessen »Herz atmet«, »gibt sich hin der Schöpfung« und ist so »allem verbunden«. Diese Art, die Welt um ihn zu »begreif[en]«, ist an »große[] unmittelbare[] Gefühle« gekoppelt: »Er steht da, so deutlich in seinem Herzen zu erfassen, so absolut ursprünglich von den Wellen seines Bluts durchlaufen, daß es erscheint, er trüge sein Herz auf der Brust gemalt.«17 Eine solche Disposition schließt eine allzu streng mimetische 16  Rehages Einschätzung, dass Gloria! ein bewusst vom Autor komponierter (und nicht lediglich durch den Einfluss des Verlags in seinem Erscheinungsbild geprägter) Band  ist, ist gegen die ältere Forschung zuzustimmen. Vgl. Rehage, Darstellung, 217–218 und dagegen z. B. Brockmann, Klemm, 45. Dafür spricht auch das dem Band vorangestellte, dem Schluss von Goethes Faust II entnommene Motto: »Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis« (G 6). Zum Motto vgl. etwa Brockmann, Klemm, 46. 17  Kasimir Edschmid, »Expressionismus in der Dichtung«, in: Thomas Anz/Michael Stark (Hgg.), Expressionismus. Dokumente und Manifeste zur deutschen Literatur 1910–1920, Stuttgart 1982, 42–54, hier 47.  – Edschmids Rede aus dem Jahr



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Kunst aus  – zugunsten der dichterischen Vision.18 Tatsächlich zeigen die beiden Adjektive »gespensterhaft« (v. 2) und »phantastisch[]« (v. 10) an, dass, um das Wesen des Krieges zu erfassen, das bloße Festhalten der Wirklichkeit nicht ausreicht. Dezidiert multisensuelle Wahrnehmung des Krieges, subjektiv-emotionales Erleben, visionäres Erfassen, das die reine Abbildung transzendiert – dies sind die poetologischen Bausteine, die Anrufung einführt. Zudem tritt an der Textoberfläche ein deutlich als »Ich« gekennzeichneter Sprecher auf, der diese Perspektive als die für das Folgende maßgebliche anzukündigen scheint. III. In Pfemferts Aktions-Lyrik-Anthologie 1914–1916 erscheint im Herbst 1916 Klemms Gedicht Lazarett: Jeden Morgen ist wieder Krieg. Nackte Verwundete, wie auf alten Gemälden. Durcheiterte Verbände hängen wie Guirlanden von den Schultern. Die merkwürdig dunklen, geheimnisvollen Kopfschüsse. Die zitternden Nasenflügel der Brustschüsse. Die Blässe der Eiternden. Das Weiße in den vierteloffnen Augen der nahe dem Tode. Das rhythmische Stöhnen von Bauchgetroffenen. Der erschrockene Ausdruck in toten Gesichtern. Die Bauchrednerstimme der Tetanuskranken. Ihr starres, qualvolles Grinsen, ihr hölzernes Genick. Die Fetzen geronnenen Blutes, auf denen man ausgleitet. Die Skala der Gerüche: Die großen Eimer voll Eiter, Watte, Blut, amputierten Gliedern, Die Verbände voll Maden. Die Wunden voll Knochen und Stroh. Einer hockt auf dem stinkenden Lager, Ein großer, kranker, nackter Vogel. Ein andrer Weint wie ein Kind: Kamerad hilf mir doch! 1917 spart den Krieg mitsamt seinen denkbaren ästhetischen und poetologischen Implikationen geradezu ostentativ aus. 18  Edschmid spricht wiederholt von der »Vision« des expressionistischen Künstlers, die die »äußere Realität« transzendiere. Mit Blick auf die expressionistischen Künstler heißt es zudem apodiktisch: »Sie sahen nicht. / Sie schauten. / Sie photographierten nicht. / Sie hatten Gesichte« (ibid., 46).

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Der schonende Gang der Arm- und Schulterbrüche, Das Hupfen der Fuß- und Wadenschüsse, das steife Stelzen Der ins Gesäß geschossenen. Das Kriechen auf allen Vieren. Ein Darm hängt heraus. Aus einem zerrissenen Rücken Quoll die Milz und der Magen. Ein Kreuzbein klafft um ein Astloch. Am Amputationsstumpf brandet das Fleisch in die Höhe. Pilzartig wuchernd Ströme von hellgrünem Eiter Fließen; über das Fleisch hinausragend Pulsiert der unterbundene Arterienstamm. Das fürchterliche, klonische Wackeln des ganzen Stumpfes, Und das Geheul, das Wimmern und Schreien, das Jammern und Flehen, Das schweigende Heldentum und rührende: ›fürs Vaterland‹. Bis das Schnappen nach Luft kommt,  – und der perlende Schweiß, Und auf graue Gesichter die Nacht sich senkt  – Soldatengrab  – zwei Latten über Kreuz gebunden.19

Offene, desintegrierende Körper, synekdochisch auf Verletzungen, Wunden und Körperteile reduzierte, verdinglichte, sterbende Menschen, schockierende Kreatürlichkeit, ekelerregende, hypernaturalistische Beschreibungen unvorstellbaren Leids  – das ist also vom ›großen Ereignis‹ Krieg übriggeblieben. Aus dem Postulat visionär-subjektiven Begreifens wird eine radikale Objektivierung menschlichen Leids: Autonome menschliche Subjekte und finite Verben rücken merklich in den Hintergrund, der Tod erscheint erschütternd in seiner Dinglichkeit, beherrschend ist der nüchtern-ernüchterte, registrierende, medizinisch geschulte Blick auf die Opfer des Krieges. Empathie scheint nicht auf, ebenso wenig ein dezidiert poetisches Sprechen: Die freien Verse sind zu kargen dreizeiligen, reimlosen Strophen zusammengefasst; die beiden Vergleiche in den Versen 2 und 3 wirken eher zaghaft, und in der Folge verzichtet der Text auf nahezu jede Bildlichkeit.20 Ist Lazarett eine endgültige Absage an die Theoreme aus Anrufung? Ist der eklatante Kontrast zwischen beiden Gedichten zu beschreiben als 19  Wilhelm Klemm, »Lazarett«, in: ders., Tot ist die Kunst, 134 f. – Wenn im Folgenden diese Ausgabe zitiert wird, erscheinen Belege im Text in der Form (TK Seitenangabe). – Es handelt sich um das zweite Gedicht mit diesem Titel. Lazarett (I) erschien bereits 1915 in Gloria! (G 38). 20  Eine Ausnahme ist die metaphorische Bezeichnung eines Verwundeten als »großer, kranker, nackter Vogel« (v. 17), die den Menschen allerdings zum Tier herabwürdigt. – Zu diesem Gedicht vgl. ausführlicher Max Graff, Literarische Dimensionen der Menschenwürde. Exemplarische Analysen zur Bedeutung des Menschenwürdebegriffs in der deutschsprachigen Literatur seit der Frühaufklärung, Tübingen 2017, 265–266.



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grundlegende Revision und Negation der Poetik des ersten durch das zweite, unschwer zu plausibilisieren als Reaktion des Lyrikers Klemm auf seine Erfahrungen als Regimentsarzt an der Westfront?21 In diesem Fall prallt der ideologische und poetologische Enthusiasmus nach Kriegsbeginn auf den alltäglichen Horror der Kriegsrealität und provoziert die notwendige ästhetische Neuausrichtung. Diese These von der »Entwicklung zum Versachlichen hin«,22 eine historisch-biographisch und autorpsychologisch motivierte Deutung also ist nicht unbedingt von der Hand zu weisen. Tatsächlich sind in vielen Gedichten ein zunehmender Verzicht auf subjektive Durchdringung und emotionale Involviertheit, das Zurücktreten einer markanten Sprecherinstanz und ein sachlich protokollierender Ton zu beobachten.23 Problematisch ist allerdings, dass dies eine teleologische Entwicklung der Kriegslyrik Klemms suggeriert, aus hermeneutischer Sicht somit verkürzend wirken kann und den Blick für Ambiguitäten und Widersprüche in Klemms Kriegsgedichten eher verstellt. Denn auch Lazarett bewegt sich ja noch im Spektrum expressionistischer Lyrik  – typisch sind etwa der Zeilen- und Reihenstil, die elliptischen Verknappungen, die schockhafte Ästhetik der Würdelosigkeit24 und des Hässlichen.25 Gleichwohl ist keines der beiden Gedichte für Klemms Kriegslyrik repräsentativ; betrachtet man konkret seine ästhetische Auseinandersetzung mit dem Thema Krieg, erscheinen beide eher als zwei Pole, als zwei Extreme, innerhalb derer ein lyrischer Verständigungsprozess stattfindet, ein span21  Klemm verbrachte mehr als vier Jahre an der Westfront. Zu seiner Kriegsteilnahme vgl. Rehage, Darstellung, 214–220, und Ortheil, Klemm, 29–41. Feldpostbriefe Klemms an seine Frau Erna aus dem Jahr 1914 sind publiziert in TK, 11–102. 22  Brockmann, Klemm, 64. Zwar konzediert Brockmann, dass »die Entwicklung der Kriegslyrik Klemms […] sich nicht stetig vollzieht« (ibid., 47), gleichzeitig zielt er darauf ab, eine ebensolche, vermeintlich klare Entwicklung nachzuzeichnen, vor allem mit Blick auf Ton und Sprache der Gedichte, die Haltung des lyrischen Sprechers und Klemms Einstellung zum Krieg. 23  Für Brockmann liegt gerade im »Zurückdämmen der expressiven Ausdrucksgeste« die »Intensität der Kriegsgedichte Klemms« (ibid., 63). 24  Zu diesem Begriff vgl. Graff, Dimensionen, 241–258 und 466 f. 25  Die Parallele zum nüchtern-medizinischen Beobachterblick in manchen Gedichten Gottfried Benns liegt auf der Hand und wurde von der Forschung auch festgehalten. Vgl. Brockmann, Klemm, 69. Zur ›Konstelllation‹ Klemm–Benn vgl. Röhnert, »Dimensionen«.  – Der entscheidende Unterschied ist freilich, dass Benn vor dem Hintergrund einer grundlegenden Metaphysikkritik eine »anthropologische Prämisse« entwickelt, die auf die Würdelosigkeit des Menschen zielt, während Klemm die Entwürdigung des Menschen durch den Krieg reflektiert. Zu Benns »anthropologischer Prämisse« vgl. Horst-Jürgen Gerigk, »Der empirische Mensch. Gottfried Benns anthropologische Prämisse«, in: ders., Dichterprofile. Tolstoj, Gottfried Benn, Nabokov, Heidelberg 2012, 77–93.

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nungsvolles Erproben und Revidieren, das viel facettenreicher und vielschichtiger ist, als es Anrufung und Lazarett erahnen lassen. IV. Kriegsgedichte aus dem Feld – so lautet der Untertitel von Klemms 1915 erschienener Sammlung Gloria!. Bei genauerer Betrachtung erweist er sich als zumindest teilweise irreführend. Zwar ist die Front der Ort dieser Gedichte – an und hinter der Front, in Frontnähe. Tatsächliches unmittelbares Kriegsgeschehen, mit anderen Worten: als unmittelbar erlebt konzeptualisiertes Kampfgeschehen beschreiben sie bemerkenswerterweise jedoch kaum. Dasselbe gilt für die verstreut publizierten Kriegsgedichte; insgesamt sind Schlacht und Kampf in diesem Sinne nur in etwa fünf der ca. sechzig Gedichte Thema.26 Was die Texte häufig schildern, sind die  Folgen von Kampfeinsätzen, die Momente vor oder zwischen Angriffen, Truppenbewegungen, Wahrnehmungen und Reflexionen abseits des Kriegsgeschehens, das gleichsam als basso continuo, als Hintergrundrauschen aber omnipräsent ist. Dies ist eine für die Analyse des Gesamtkorpus entscheidende Feststellung, da sie den Fokus verschiebt – weg von der Darstellung unmittelbarer körperlicher und militärischer Gewalt auf deren Folgen, Kontexte, Wahrnehmung, Perspektivierung und Deutung. Im Folgenden dienen deshalb drei Aspekte als Ausgangspunkte für weitere Überlegungen: a) die Bedeutung des Körpers, b) die Bestimmung der Kriegsgedichte Klemms als Variationen der poetischen Paradigmen Natur- und Stimmungslyrik und c) Formen der Transzendierung sowohl stimmungslyrischer als auch naturalistisch-objektivierender Tendenzen. 1. Die Bedeutung des Körpers Fast die Hälfte der untersuchten Gedichte thematisiert den Tod, Tote oder das Sterben durch die Referenz auf Gräber, Gefallene, Verwundete usw. Viele der Texte haben einen konkreteren Fokus: Mehr als ein Drittel der Kriegsgedichte Klemms enthält einen (wie auch immer gearteten) expliziten Bezug auf den menschlichen Körper oder Teile davon. In einer ersten, recht kleinen Gruppe von Beispielen hat dieser Körperbezug eine metaphorisch-allegorische Funktion. In Vormarsch (G 11), dem 26  Zwei der bekannteren Gedichte Klemms nennen die Schlacht bereits im Titel: Schlacht am Nachmittag (G 15) und Schlacht an der Marne (G 27). Konkrete Gefechtssituationen evozieren zudem Feuerüberfall (TK 129), Beschiessung (TK 130) und Somme (TK 131).



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dritten Gedicht in Gloria!, beobachtet das lyrische Ich die marschierenden Truppen im »Sonnenuntergang« (v. 4); die »Wolken« beschreibt es dabei als »himmlische Eingeweide«, die »langsam und traurig über die Erde schleifen« (v. 5–6). Zwar erscheinen die Soldaten wie »Riesen«, umstrahlt von den »goldenen Flammen« der Abendsonne (v. 8–9), doch gleichzeitig sieht das Ich seherisch ihre »Rippenbögen und Röhrenknochen« (v. 11). Der Rückgriff auf Eingeweide und Skelett dient hier dazu, die Vorausahnung von Verletzung, Not, Hunger, Tod und Verwesung zu konturieren – als scharfen Kontrast zum idyllischen, ja erhebenden Naturdekor. Zwei weitere Gedichte entfalten Körperallegorien: Das Sonett Verlaßnes Haus (G 46) zeichnet den Körper in erlesenen Bildern als luxuriöses Haus – die »Rippen« erscheinen als »Flügeltüren« (v. 1), die »Lungen« als »blaue[s] Divanpaar« (v. 2), die »Leber« als »Purpurpolster« (v. 3), das »Herz« als »stiller Baldachin mit vier Kapellen« (v. 5–6) usw. –, aus dem, so die Pointe des zweiten Terzetts, die »Seele« ihr »unsichtbares Zeltlein« entfernt hat. Anders als in diesem formal und metrisch überaus konventionellen Gedicht, das durch den fast ästhetizistischen Anstrich die desillusionierende anthropologische Feststellung gewissermaßen ihrer letzten Dringlichkeit beraubt, greift Nächtliche Aussicht (G 50) auf Topoi der expressionistischen (Vor-)Kriegsgedichte (Heym, Ehrenstein) zurück: Das Gedicht evoziert den riesenhaften, »nachtschwarze[n]« (v. 6), mit unbändiger Zerstörungskraft versehenen Körper des anthropomorphisierten Krieges, der sich »ächzend« in die zerbrechlichen »Rippen der Heere [presst]« (v. 8). Der als mythisch überhöhte Macht imaginierte, personifizierte Krieg figuriert aber nicht in einem apokalyptischen Untergangsszenario; am Ende der dritten und letzten Strophe stehen vielmehr Dunkelheit, Stille und »Einsamkeit« (v. 12).27 Die meisten Gedichte lenken jedoch die Aufmerksamkeit auf die Auswirkungen des Krieges auf den Körper, indem sie entweder Details erwähnen, die das Kriegserlebnis veranschaulichen und objektivierbar machen, oder aber mit extrem schonungslosem Blick die Destruktion des Körpers und seiner Teile fokussieren. Zunächst schildern bestimmte Gedichte Facetten einer kriegsspezifischen Körpererfahrung  – vom »Luftdruck«, der »einem den Magen [presst]« (v. 14), in einem mit einer Mischung aus erhabener Erregung und Panik erlebten Feuerüberfall (TK 129) über ein ernüchterndes, »[b]eklemmend[es]« Gefühl der Entfremdung (Stimmung, 27  In zwei weiteren Gedichten dienen Körper(teile) der bildlichen Beschreibung einzelner Aspekte des Kriegsgeschehens durch Vergleiche: In Stellung (I) (G 53) ist ebendiese »[g]ewunden und eng wie ein Darm« (v. 9), in Tristissimus (G 62) erscheinen – in einem Bild kosmischen Ausmaßes – die »Trümmer« des »Dom[s] des Todes«, der »am Saum der Welt [droht]«, »[w]ie blutige Rümpfe« (v. 1–3).

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TK 125, v. 7 und 16) bis hin zur intensiven Scheinidylle, die ein Moment der Ruhe entstehen lässt, wenn die Soldaten »mit heißen Gesichtern«, »halbgeschlossen[en]« Augen und geneigten Köpfen in einer »kleine[n] Stube« sitzen (Weihnachten, G 77, v. 4 und 6). Andere Texte konzeptualisieren das Kriegserlebnis als (zumindest partielle) Transformation des Körpers, die anhand eindrücklicher, schlaglichtartig evozierter, ikonischer Details sichtbar wird. Sind es nach den Truppenmärschen noch die »Gesichter«, die vom »Sonnenbrand [schmerzen]«, und die »Wimpern«, die der Staub »mehlweiß[]« hat werden lassen (Westwärts«, G 12, v. 8–9), beschreibt der Sprecher in Somme (T 131) die rastenden Soldaten als verhärmte, deformierte und abgestumpfte Menschen: Sie liegen am Straßenrand, »gleichgültig und müde. / Mit Schmutz beschmiert. Blau und verfallen / In gelben, gemagerten Händen / Die verrosteten Waffen […]« (v. 12–15). Die Gestaltung des Versumbruchs in v. 13 sowie die elliptische Formulierung lassen nicht nur die Waffen als »[b]lau und verfallen« erscheinen, sondern metonymisch auch die Soldaten. Diese Vorstellung körperlichen Verfalls  – die für die expressionistische Lyrik einschlägig ist  – artikuliert auch Gedanken (G 61); das im Modus der Reflexion über das Wesen des Krieges gehaltene Gedicht beschreibt diesen als transformierende Entstellung, als zeichenhafte Einprägung in die Oberfläche des Körpers: »Der Krieg ist immer derselbe. […] Gräbt Furchen ins Gesicht, läßt Haare ergrauen« (v. 1 und 5).28 Eine zweite Gruppe von Gedichten thematisiert dann expliziter Verwundung, Verstümmelung und Zerstörung des Körpers.29 Vergegenwärtigt Tot (G 31) den Tod des apostrophierten Kameraden noch in elegisch zurückgenommener Weise, auch und gerade mit Blick auf die Beschreibung 28  Vgl. zudem Spuk (G 58), das eine unheimliche Atmosphäre beschwört, in der die Umgebung das implizite lyrische Ich anzusprechen scheint; hier heißt es elliptisch verknappt: »Wunde grinst! Qual bäumt sich!« (v. 8), sowie, eine fast mythischschicksalhafte Unentrinnbarkeit andeutend, im letzten Vers: »Eiserne Wimpern senkte längst das Geschick«. In zwei weiteren Gedichten steht wieder das Moment der Reflexion im Vordergrund: Betrachtung (TK 132) registriert nüchtern die Monotonie des bereits drei Jahre dauernden Krieges, vor allem aber die Gewöhnung an Tod und körperliche Beanspruchung: »Gewöhnung ist alles. Nicht schlafen und schlecht zu essen, / Mit blutenden Füßen zu laufen, niederzukauern« (v. 9–10). In Pause (TK 138) erinnert sich der Sprecher in einem kurzen Moment, der fast eine Idylle aufblitzen lässt, die freilich sogleich vom Kanonendonner durchbrochen wird, an die »nackten, weißen Schultern«, die doch »das schönste« sind (v. 2)  – offenbar also an den schönen Körper der Geliebten, der so in scharfem Kontrast zu den entstellten, zerstörten Körpern der Soldaten steht. 29  Brockmann behandelt Klemms »Lazarett-Gedichte« als »Teilgebiet« seiner Kriegslyrik. Vgl. Klemm, 64–69.



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der körperlichen Desintegration,30 beruht der spezifische Effekt nicht weniger der Kriegsgedichte Klemms auf der krassen Schonungslosigkeit und der schockartigen Präzision, mit der das Inventar körperlicher Destruktion auf bisweilen lakonische Weise registriert wird  – und zwar nicht erst im 1916 erschienenen Lazarett (II), sondern markant bereits in einigen der frühen, in Gloria! enthaltenen Texte. Zwar kann Lazarett (II) in dieser Hinsicht als Kulminationspunkt gelten, nur eben nicht als Zielpunkt einer geradlinigen, schrittweisen Entwicklung. Denn tatsächlich prägt Klemms Ästhetik des Schocks, des Ekels und des Hässlichen bereits einige der frühen Kriegsgedichte. Die kaleidoskopartige Schilderung der Antastung des menschlichen Körpers erhält nun unterschiedliche Akzentuierungen. Sterben (G 19), das siebte Gedicht der Sammlung Gloria!, lenkt bereits durch das substantivierte Verb im Titel die Aufmerksamkeit auf den im Text beschriebenen Prozess. Die ersten fünf Verse reihen im Zeilenstil Beobachtungen aneinander: Das Blut sickert schüchtern durch den Rock. Ruhig welken die schmutzigen, grauen Glieder. Lippen sind blasser und dünner, Nasen spitzer. Auf geglätteten Stirnen glänzt der Schweiß. Augen öffnen sich, alle mit gleichem Blick […] (v. 1–5)

Grammatische Subjekte dieser Verse sind nicht die individuellen Soldaten, sondern gleichsam anonyme Körperteile und -flüssigkeiten. An der sprachlichen Oberfläche kommen die Sterbenden tatsächlich überhaupt nicht vor, lediglich in der synekdochischen und noch dazu kollektivierten (man beachte die Plurale) Reduktion. Sterben im Krieg, wie es dieses Gedicht konturiert, ist somit ein Prozess der kollektiven, entindividualisierenden Dehumanisierung. Abend im Feld (G 28) verschärft diese Diagnose: Jeden Abend in das nasse Zelt Kommt ein Offizier und erzählt, wer gefallen ist. Jeden hungrigen Abend, wenn wir frierend uns lang legen, Sind Tote unter uns, die morgen sterben. Dem einen riß es den Kopf herunter, Dort baumelt eine Hand, hier heult einer ohne Fuß, Einem Hauptmann schmetterte es grade in die Brust, Und der Regen, der Regen rinnt unaufhörlich. […] (v. 1–8) 30  Vgl. v. 4–6: »Und das bißchen Blutschaum auf den Lippen? // Deine Glieder sind steif, kalt, merkwürdig schwer. / Das ist die sogenannte Totenstarre«.

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Sprecherkonstellation und temporale Organisation des Gedichts sind intrikat: Die Destruktion körperlicher Integrität sowie die Partialisierung des Körpers werden durch den Wechsel von Präsens und Präteritum in der zweiten Strophe als erzählt, also vergangen, und als antizipiert oder durch die Erzählung vergegenwärtigt gekennzeichnet. Die evozierten Angriffe auf den Körper sind sowohl durch die Erzählung des Offiziers vermittelt (und somit nicht unmittelbarer Anschauung des Sprechers entlehnt) als auch  – durch die fehlende Markierung der Vermittlung in der zweiten Strophe sowie die deiktischen Adverbien »hier«, »dort« und »grade« (das direktional und temporal gelesen werden kann)  – als Teil  der Erfahrungswelt des Sprechers bestimmt. Die Implikation ist klar: Diese Art der körperlichen Desintegration ist allgegenwärtig, ist nicht die empörende Ausnahme, sondern die abstumpfende Regel. Der ostentative Gestus der Aufzählung, betont durch die Wiederholung des unbestimmten Artikels, reduziert das individuelle Schicksal mit schmerzhafter Lakonik, die der Hinweis auf den »Regen« nur noch verschärft, zu einem beliebigen Element in einer quasi endlosen Reihe.31 Lazarett (I) (G 38) fügt nun eine weitere Dimension hinzu  – die dezidiert sinnliche Beschreibung des versehrten Körpers. Diese äußert sich nicht nur akustisch  – durch das in einer Kirche eingerichtete Lazarett »[i]rren Seufzer und gepreßte Worte« (v. 4)  –, sondern auch olfaktorisch: »Es stinkt nach Blut, Unrat, Kot und Schweiß« (v. 5). Die Nennung dieser Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen sowie die Verwendung bestimmter Lexeme (die Verbände »sickern« [v. 6], asyndetisch gereiht werden »Klebrige, zitternde Glieder, verfallene Gesichter« (v. 7)) zielen auf eine drastische, jegliches Kriegspathos  – gleichzeitig aber auch das bürgerliche Menschenbild  – aushöhlende Ästhetik des Abjekten, des Ekelhaften. Die Wahl der Subjekte betont die anthropologische Implikation, dass in der Kriegssituation und speziell im Lazarett weniger die Würde als vielmehr die Würdelosigkeit des Menschen zu Tage tritt: Subjekte sind wieder keine Individuen, sondern Körperteile oder Äußerungen (»Seufzer«, »Worte«)  – und das verdinglichende Pronomen »Es«. Der verwundete Kamerad (G 65) führt die Ästhetik des Abjekten fort (»deine eiternden Wunden, dein Fuß, / Schwarz und brandig« (v. 2–3)) und konkretisiert die Zerstörung der körperlichen Integrität sprachlich sinnfällig durch das intensivierende Präfix »zer-« (»Dein zerschmettertes Bein« (v. 2), »dein zerschossener Arm« (v. 3)), wählt aber den Modus der 31  In der dritten Strophe bezieht das lyrische Ich diese Einsicht auf sich und fragt, mit kaum überzeugenden Pathos: »O du großer Gott, wie soll das endigen? / O du suchende Kugel, wann kommst du zu mir?« (v. 11 f.).



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pathetischen, klagenden Apostrophe des Kameraden. 14 Pronomina der zweiten Person Singular (in zwölf Versen!) stehen neun der ersten Person Singular (und eines der ersten Person Plural: »weil wir uns trennen mußten« (v. 8)) gegenüber; Sterben und körperlicher Zerfall sind hier demnach nicht als kollektive, entindividualisierte, sondern als betont subjektiv gebundene und zu verarbeitende konturiert. In krassem Gegensatz dazu artikuliert das thematisch ganz ähnliche Verwundet (TK 133) Resignation und emotionale Verkümmerung. An der Realität prallt die frühere, durch Empathie und Mitleid geprägte Geisteshaltung32 zunehmend ab und weicht dem nüchternen Protokollieren der unappetitlichen physischen Deformation,33 ja fast zynischer Gleichgültigkeit.34 * Neben den für die Destruktion durch die Kriegsrealität anfälligen Körpern und Körperteilen rücken Klemms Kriegsgedichte nun jedoch einen bestimmten Teil  der menschlichen Physis geradezu leitmotivisch in den Blick, dessen Konnotationen die reine Körperlichkeit übersteigen und der in der Analyse von Anrufung, dem ersten der Gloria!-Texte, als programmatische, literaturgeschichtlich aufgeladene produktionsästhetische Kategorie gedeutet wurde: das Herz. Rund ein Dutzend Mal erscheint das Lexem in den Gedichten; dabei erhält das Herzmotiv drei unterschiedliche Akzentuierungen. Zunächst und vor allem steht das Herz, in Weiterführung der in Anrufung entwickelten Vorstellung, für jenes menschliche Vermögen, das den Ort des Erlebens und des Begreifens darstellt  – und, so formuliert es Anrufung, zum Ursprung (dichterischer) Kommunikation werden soll. Markant exponiert dies Der Abgrund (G 73): Der Text beschreibt einen Moment ohne Kampfgeschehen, der den Sprecher (in der ersten Person Plural) zu Reflexionen über die Unvorhersehbarkeit und die Plötzlichkeit, mit der der Tod den Einzelnen ereilen kann, veranlasst. In 32  Vgl. Der verwundete Kamerad (G 65), v. 4: »[Deine Verwundungen] [s]chmerzen in meinen Gedanken wie eigene Wunden.« Vgl. weiterhin v. 5: »Dein Jammern vergesse ich nicht« sowie die wiederholte Erwähnung des Weinens und Jammerns, schließlich den Wunsch, »[d]ich ans Herz zu pressen« (v. 11). 33  Vgl. TK 133. Auch dieses Gedicht fokussiert zunächst einzelne Teile des Körpers (v. 2: »Aschgrau das Gesicht, Augen klein und gelb. Pupillen eng«), lenkt dann den Blick schonungslos auf die blutenden Wunden des nur als »Er« bezeichneten Soldaten (v. 3–4, 6–10) und betont – durch den Hinweis auf das Stöhnen und Jammern des Verwundeten (v. 5) – die sinnliche Dimension der Beschreibung, die zudem eindeutig ins Ekelhafte kippt (vgl. den dumpf auseinanderplatzenden Bindfaden, der das Blut stillen sollte; v. 7 f.). 34  Vgl. ibid., v. 12: »Nur ruhig, es wird schon wieder werden. Leise: und wenn nicht, dann eben nicht.«

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die »schwarze[] Nacht« und die »sanft[e] und süß[e]« Luft (v. 8) hinein schlägt ein »verirrtes Geschoß« ein, »[h]art wie die Wirklichkeit / Und traumhaft wie sie« (v. 11 f.). Die Reflexion spitzt sich in der abschließenden Selbstansprache zu: »Lern es begreifen, mein Herz!« (v. 12). Explizit ist das Herz  – und nicht etwa der Intellekt  – das Medium, das das Verständnis und die psychologische Verarbeitung des Krieges gewährleisten soll  – emotional-sinnlich, und eben nicht rational. Das Gedicht selbst mit seinen Strategien der Poetisierung des sinnlich Wahrgenommenen und Erlebten ist seinerseits bereits ein in die lyrische Produktion umgesetzter Vollzug dieser Forderung: Die Reflexion ist durchwoben von natur- und stimmungslyrischen Anklängen, flankiert von parataktisch gereihten sinnlichen Eindrücken, behauptet schließlich die essentielle Ambiguität des Kriegserlebnisses zwischen harter Realität und visionär zu erfassender Traumsphäre.35 Das 1917 erschienene Gedicht Schnee36 offenbart ähnliche Strategien, problematisiert den Status des Herzens aber deutlich: Wieder konkurrieren die Wirklichkeit des Kriegsalltags (»Hörst Du nicht das Schießen? Es ist Krieg, Weltkrieg« (v. 5)) und die Ebene des Unwirklichen, der »Phantasie«: »Nimm Stelzen der Phantasie. // Jage auf Geisterschenkeln über all die Begebnisse / Entlang die Wege und Umwege Gottes, / Die du nie begreifst. Bis dein atemloses Herz / Plötzlich anhält. Und du dich wiederfindest, unter dem Helm« (v. 8–12). Die Ähnlichkeit zum soeben diskutierten Gedicht ist bemerkenswert: Wieder steht das Herz, effektvoll platziert, in Versendstellung, wieder steht in unmittelbarer Nähe das Verb »begreifen«, das sich zwar hier zunächst auf die sprichwörtlich unergründlichen Wege Gottes bezieht, das man aber doch auch auf das Herz zu verschieben geneigt ist. Das geforderte (oder erhoffte) ›Begreifen‹ wäre demnach unmöglich, der Versuch scheiterte gleichsam am dreifach markierten (»atemloses«, »plötzlich«, »anhält«) Schock der Realität. Daneben symbolisiert das Herz recht konventionell die Fähigkeit zur Empathie, zur Menschenliebe und zur Brüderlichkeit  – die gerade durch den Krieg in Frage gestellt werden. Genau dies suggerieren die bekannten Verse aus Schlacht an der Marne (G 27; v. 7 f.): »Mein Herz ist so groß wie Deutschland und Frankreich zusammen, / Durchbohrt von allen Geauch Die Glocken (G 70), Ruinen (G 78) und Der Kanal (TK 128). in Klemms Gedichtsammlung Aufforderung (1917); vgl. Wilhelm Klemm, »Schnee«, in: ders., Gesammelte Verse. Mit Vignetten und Tuschezeichnungen von der Hand des Autors, hg. Imma Klemm/Jan Volker Röhnert, Mainz 2012, 196. Wenn im Folgenden diese Ausgabe zitiert wird, erscheinen Belege im Text in der Form (GV Seitenangabe). 35  Vgl.

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schossen der Welt.« Das Bekenntnis zur transnationalen Verbrüderung mit dem Kriegsgegner erfährt seine Grenzen durch die gewaltsame Verletzung. Kritischer gelesen, zeichnen die Verse aber auch – und womöglich zuerst – hyperbolisch das Bild eines Subjekts, das (mit Hilfe des als Erlebnismedium charakterisierten Herzen) das Kriegsgeschehen in sich aufsaugt und sich jeder Bewertung enthält.37 Schließlich rekurrieren einige Gedichte gleichsam negativ auf das Motiv des Herzen. Nächtlicher Vormarsch (G 36) diagnostiziert mit bemerkenswerter und geradezu depressiver Ernüchterung: »Jeder Tag ist jetzt Sterbeund Feiertag. / Jede Nacht blutet tiefer  – / An erstorbenen Herzen vorüber« (v. 10–12). Gedanken (G 61) entwirft ein düsteres Zukunftsszenario: »Mit nach unbekannten Gesetzen zerfallenden Herzen, / Alt kehren wir heim in unsrer Winzigkeit  – / Fremd in fremden Frieden  – wenn überhaupt je« (v. 9–11). Die Traumatisierung durch den Krieg entwirft Klemm in diesen frühen Gedichten somit als Beeinträchtigung menschlichen Erlebens und Empfindens; eine besondere Virulenz erhält dieser Befund, bedenkt man die Bedeutung, die das Herz für das Menschenbild und die Kunstauffassung des Expressionismus haben. So erscheint nicht nur die dehumanisierende, entindividualisierende Partialisierung und Destruktion des menschlichen Körpers als signifikanter Angriff auf den Menschen, sondern auch die Korrosion des menschlichen Herzens und der mit ihm assoziierten anthropologischen Vermögen.38 2. Klemms Kriegsgedichte als Variationen der poetischen Paradigmen Natur- und Stimmungslyrik Zu den Charakteristika der Gedichte gehört auch, dass den Fokus auf den Körper ein Leitmotiv von starker visueller Potenz begleitet: Erwähnungen von Blut.39 Blut ist nicht nur als Symbol assoziations- und bedeutungsreich, sondern eine Schnittstelle im Korpus der Klemmschen Kriegsgedichte. Es indiziert (verletzte) Körperlichkeit, kann Teil der Ästhetik des Ekels sein, ruft aber unweigerlich auch die Vorstellung der Farbe Rot 37  Auch in Der verwundete Kamerad (G 65) symbolisiert das Herz die emotionale Bindung zwischen Soldaten: »O wär ich wie Gott, / Dich ans Herz zu pressen« (v.  10 f.). 38  Auch in metaphorischen Verbindungen kommt das Herz vor. In Westwärts (G 12) etwa ist vom »glühenden Herzen der Abendsonne« die Rede (v. 2). Verlaßnes Haus (G 46) konstruiert eine Allegorie, in der der Körper zu einem Haus wird; das Herz erscheint hier als »stiller Baldachin mit vier Kapellen« (v. 6). 39  Ungefähr ein Viertel der betrachteten Gedichte enthalten das Lexem »Blut«.

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hervor  – und trägt so zur markant sinnlich geprägten Wahrnehmung und Beschreibung des Krieges bei. Tatsächlich sind Farben in Klemms Kriegsgedichten omnipräsent. Ca. 75 % enthalten eine Referenz auf eine oder mehrere Farben, und zwar keineswegs nur auf das Feldgrau der deutschen Uniformen,40 sondern auch auf Farben wie Gold,41 Schwarz,42 Weiß,43 Rot,44 Blau45 usw.46 Man40  Wenig überraschend ist Grau trotzdem die Farbe, die häufig mit Soldaten und dem Militär assoziiert ist. Vgl. etwa »Graue Soldaten« (Vormarsch, G 11, v. 8), die »schmutzigen, grauen Glieder« sterbender Soldaten (Sterben, G 19, v. 2), »Graue Schemen / Mit schweren Mänteln und ernsten Waffen« (Nächtlicher Vormarsch, G 36, v. 5 f.), »ein grauer Wagen« (An der Front, G 45, v. 2), die »Graumäntel«, die »[a]n schlüpfriger Wand lehnen« (Stellung (I), G 53, v. 7), »Graue Heere« (Spuk, G 58, v. 5), aber auch z. B. das »[a]schgrau[e] […] Gesicht« eines Verwundeten (Verwundet, TK 133, v. 2; ähnlich Lazarett (II), TK 135, v. 32) oder die »graue[n] Wolkenballen« (Vorrücken, TK 139, v. 10). 41  Vgl. z. B. die »goldenen Flammen« (Vormarsch, G 11, v. 9), »goldenes Göttergewölk« (Westwärts, G 12, v. 1), den »zarten Goldkegel« einer Lampe (Stellung (II), G 69, v. 6), die »goldenen Stimmen der Glocken« (Die Glocken, G 70, v. 10) und »Goldgefieder« (Vorrücken, TK 139, v. 1). 42  Vgl. etwa die beiden allegorischen Gedichte Die Beere (G 20, v. 1) und Müdigkeit (G 23, v. 2), den »[s]chwarze[n] Lorbeer« (Gräber, G 35, v. 11), die »pechschwarze Gasse«, die nachts die »Kolonne [verschlingt]« (Rethel, G 41, v. 5), die »schwarzen Ruinen« (An der Front, G 45, v. 15), den »schwarzen Kanal«, in den der Mond »seine Fackel [taucht]« (Nächtliche Aussicht, G 50, v. 1), die »alt[e], vornehm[e] und schwarz[e]« Kathedrale (Lille, G 66, v. 6), die »schwarze Nacht« (Die Glocken, G 70, v. 9; ähnlich Der Abgrund, G 73, v. 8). 43  Vgl. z. B. die »mehlweißen Wimpern« (Westwärts, G 12, v. 9), den »Himmel«, der zum »kalkweiße[n] Geheimnis« wird (Schlacht an der Marne, G 27, v. 4), das »weiße[] Hängegesicht« des toten Kameraden (Tot, G 31, v. 2), die »totenweiß[e] […] Trümmerstadt« (Rethel, G 41, v. 9), den »weißen Stamm einer Birke« (Der Abgrund, G 73, v. 10), eine »helle Straße«, die »[r]osa und weiß vom Mauerschutt« ist (Dörfer, TK 126, v. 5 f.), das »Weiß«, mit dem das »nackte, blutende Fleisch […] umwickelt« wird (Verwundet, TK 133, v. 9 f.), das »Weiße in den vierteloffnen Augen der nahe dem Tode« (Lazarett (II), TK 134, v. 7) sowie das »Land«, das vom Schnee »weiß wie ein Roman« ist (Schnee, GV 196, v. 2). 44  Vgl. etwa – neben den Nennungen des Bluts – die brennenden Dörfer, die mit »kleine[n], rote[n] Zungen« verglichen werden (Abend im Feld, G 28, v. 10), die »Geschütze«, die »rot [zuckten]« (Ste. Marie a Py, G 37, v. 6), das »[b]erauschende[] Rot mit einem Hang ins Purpurne« des Mohns (Dörfer, TK 126, v. 15), die »[k]urze[n] rote[n] Flammen« der platzenden Schrapnells (Stellung (III), TK 127, v. 16), die »roten Sprengpunkte« (Somme, TK 131, v. 7) sowie das »mohnrot[e]« Blut, das die Verbände durchtränkt (Verwundet, TK 133, v. 10). 45  Die Farbe Blau ist häufig Attribut des Himmels, des Abends oder der Nacht; vgl. etwa die Gedichte Schlacht an der Marne (G 15, v. 1), Ste. Marie a Py (G 37, v. 2), In einem leeren Hause (G 49, v. 5), Dörfer (TK 126, v. 2) und Vorrücken (TK 139, v. 2). Vgl. weiterhin das Blau der »sanft[en] und groß[en]« Augen der Ster-



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che Gedichte evozieren  –46 ein in der expressionistischen Lyrik, etwa bei Trakl, verbreitetes Verfahren47  – veritable Farbexplosionen, eindrücklich etwa Vorrücken (TK 139): »Der Himmel glüht fabelhaft. Verwehtes Goldgefieder / Über einem wahrhaft seligen Blau. / Die Purpurstümpfe des zerschossenen Dorfes / Leuchten aus der Bäume Malachit. // Genau in den Westhimmel geht die Straße, kakaobraun, / Nach einer Pappelallee, gefranst und zerfleddert. […] Plötzlich erscheinen graue Wolkenballen […]« (v. 1–6 und 10).48 Immer wieder sind die Beschreibungen von Naturund Landschaftsszenerien, aber auch von Personen oder (zerstörten) Gebäuden, durchsetzt von solchen Farbtupfern. Sie verstärken den Eindruck, dass die einzelnen Gedichte  – zumindest ein großer Teil  davon  – die konzentrierte Evokation einer Wahrnehmung, einer Szene, eines ›Bildes‹ darstellen. Ihre sinnliche Virulenz erhalten sie jedoch nicht nur durch optische, sondern auch durch akustische Reize, vor allem durch die Präsenz des Kriegslärms. In mehr als der Hälfte der Gedichte ist er hörbar  – und auf ganz unterschiedliche Weise ästhetisch vermittelt. Einfach genannt oder erwähnt wird er nur selten; in der Regel ist der Kriegslärm metaphorisiert, sei es durch Genitivmetaphern, wenn etwa vom »Ruf« und den »dunklen Beschwörungen der Kanonen« oder vom »Presto des Maschinengewehrs« und der »Paukenschlagsymphonie der Granaten« die Rede ist,49 durch metaphorische Komposita wie »Kanonengewitter« und benden (Sterben, G 19, v. 5–6), die »nachtblaue[n] Fensterhöhlen« (Rethel, G 41, v. 7), den »blauen Rauch[]« der Zigarren (Winterquartier, G 54, v. 7) oder das »Blau« der »verrosteten Waffen« (Somme, TK 131, v. 13 und 15). 46  Wiederholte Erwähnung finden z. B. die Farben Grün (G 27, 46; TK 127, 128, 135, 140), Silbern (G 35, 42, 49; TK 125), Gelb (G 58; TK 131, 133; GV 196) und Rosa (G 41; TK 126, 128). 47  Zur Bedeutung von Farben für die expressionistische Lyrik vgl. etwa Nicole Leonhardt, Die Farbmetaphorik in der Lyrik des Expressionismus. Eine Untersuchung an Benn, Trakl und Heym, Augsburg 2004, sowie Ernst Leonardy, » ›Farbe der Introvertierten‹. Die Farbe Blau in der deutschen Lyrik zwischen Symbolismus und Expressionismus«, in: Irene Heidelberger-Leonhard/Mireille Tabah (Hgg.), Wahlverwandtschaften in Sprache, Malerei, Literatur, Geschichte. Festschrift für Monique Boussart, Stuttgart 2000, 129–145. 48  Vgl. weiterhin z. B. Rethel (G 41), Dörfer (TK 126), Stellung (III) (TK 127), Der Kanal (TK 128), Somme (TK 131). 49  Gräber, G 35, v. 7, Nächtliche Aussicht, G 50, v. 5 bzw. In Perenchies, GV 201, v. 8. – Weitere Beispiele für solche Genitivmetaphern sind die »Gespenster der Vernichtung« (Stellung (I), G 53) sowie das »düstre D-Moll der Kanonen« (In Perenchies, GV 201, v. 6). Das letztgenannte Gedicht intensiviert die metaphorische Verknüpfung von Musik und Gefechtslärm, wenn es gegen Ende heißt: »Ein Bukett von Schrapnells / Wird überreicht. Eigensinnig synkopiert das Gewehrfeuer. / Große Fermaten schweigen sich hinüber zur Ewigkeit« (v. 10–12).

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»Geschützdonner«50 oder durch die Wahl der Verben, die auf die Geräuschkulisse des Krieges referieren. Tatsächlich findet sich eine Vielzahl solcher Verben, die metaphorisch oder onomatopoetisch (oder beides gleichzeitig) sind; die Geschütze, Kanonen, Schrapnells, Maschinengewehre und Granaten »mecker[n]« und »platzen«, »[h]eulen auf, kreischen verzweifelt, platzen«, »läute[n]«, »groll[en]« und »kollern herüber«, »rausch[en]«, »zisch[en]« und »spritz[en]«, »gurgeln«, »[k]nattern«, »klop­ f[en]«, und »zirpen« usw.51 An zwei Stellen steigert Klemm die Lautmalerei sogar, indem er Geräusche imitiert.52 In den Gefechtslärm mischen sich aber auch andere Geräusche: die sich fortbewegenden Truppen,53 Pferde,54 das Jammern und Stöhnen der Verwundeten und Sterbenden,55 auch das gelegentliche Läuten von Glocken56 und immer wieder Naturlaute.57 Schließlich finden vereinzelt olfaktorische, gustatorische und haptische 50  Westwärts, G 12, v. 12, sowie Schlacht am Nachmittag, G 15, v. 5, und Spuk, G 58, v. 4.  –Vgl. zudem die Komposita »Löwenstimme« (Schlacht an der Marne, G 27, v. 9) und »Kanonendonner« (Winterquartier, G 54, v. 3; Stimmung, TK 125, v. 4; Frühlingsnacht, TK 138, v. 6). 51  Schlacht am Nachmittag, G 15, v. 6 f., Schlachtenhimmel, G 16, v. 8, Ste. Marie a Py, G 37, v. 4, Spuk, G 58, v. 4, Stellung (II), G 69, v. 5, Beschiessung, TK 130, v. 5, 6 und 10 bzw. Stellung (IV), TK 137, v. 2 und 4–6.  – Vgl. weiterhin: »Schüsse jagen / Vorüber. Klatschen ein, oder seufzen davon, / Poltern fern wie Steingeröll. Vergähren. Ein Geschütz brüllt auf – / Die Gespenster der Vernichtung schnattern« (Stellung (I), G 53, v. 1–4); »Aus kahlgeschossenen Wäldern / Bellen der Batterien. Geschosse sägen die Luft, / Miauen, rauschen heran« (Somme, TK 131, v. 9–11). 52  Vgl. die Gedichte An der Front (G 45, v. 7): »Schüsse platzen, verhallen – pop, pop, pauuu« und Schanzen (TK 140, v. 8): »Plötzlich, wuor, ein Geschütz.« 53  Vgl. z. B. Biwak (G 24): Hier sind das »Rollen der Wagen« und das »Schleifen der Räder«, aber auch der »rausch[ende] […] Nachtwind« zu hören (v. 6, 7 und 9). 54  Vgl. etwa Nächtlicher Vormarsch (G 36): »Die Pferde nicken, der Hufschlag klappert unendlich« (v. 7) und Der Abgrund (G 73): »Pferde schnauben« (v. 10). 55  So »heult« etwa »einer ohne Fuß« (Abend im Feld, G 28, v. 6), »[d]urch die nächtliche Wölbung der Kirche / Irren Seufzer und gepreßte Worte« (Lazarett (I), G 38, v. 3 f.), ein Kamerad »[j]ammer[t]« und »[w]eint[] […] bitterlich« (Der verwundete Kamerad, G 65, v. 5 und 8), ein verwundeter Soldat »[s]töhnte« und »[j]ammerte nach Trinken« (Verwundet, TK 133, v. 5). In Lazarett (II) (TK 134–135) schließlich ist eine Vielzahl solcher Geräusche zu vernehmen: »[d]as rhythmische Stöhnen von Bauchgetroffenen« (v. 7), »[d]ie Bauchrednerstimme der Tetanuskranken« (v. 10), das kindliche Weinen eines Verwundeten (v. 18), »das Geheul, das Wimmern und Schreien, das Jammern und Flehen« (v. 29) sowie »das Schnappen nach Luft« (v. 31) der Sterbenden. 56  Vgl. Die Glocken (G 70). 57  Vgl. z. B. den wehenden Wind und den »[s]chwarze[n] Lorbeer«, der »rauscht« (Gräber, G 35, v. 9 und 11) sowie die »niedrige[n] Wälder«, die »hauchen« (Ste. Marie a Py, G 37, v. 3). Vgl. zudem Spuk (G 58): »Die harten Alleen raschelten auf. Regen klatschte / Kalt in die schwarze Straße« (v. 2 f.), Stimmung (TK 125): »Mü-



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Details Erwähnung, etwa der Geruch von Rauch, die Wärme eines Feuers oder die nach »altem Brand« schmeckende Luft (Betrachtung, TK 132, v. 12).58 Diese nachdrücklich sinnliche Lyrisierung des Kriegserlebnisses lässt sich sowohl in Gedichten nachweisen, die auf konventionellere Weise den Krieg thematisieren, als auch in drastischen, naturalistischen Beschreibungen zerstörter Körper. Sie ist typisch für Klemms Kriegslyrik insgesamt und integraler Bestandteil einer übergeordneten Strategie: Seine Gedichte sind der Versuch, das Kriegserlebnis in die traditionellen lyrischen Muster der Stimmungslyrik und der stimmungshaften Naturlyrik zu integrieren, die ihre Blüte in der deutschsprachigen Lyrik um 1800 und in den Jahrzehnten danach erlebten, es auf diese Weise lyrisch zu bändigen und möglicherweise zu verarbeiten.59 Diesen Versuch unternimmt Klemm mit einigem poetischen Aufwand; einige der späteren Gedichte deuten jedoch darauf hin, dass diese Paradigmen zunehmend problematisch werden. In der Tat sind die Gedichte durchsetzt von hochevokativen und assoziationsreichen stimmungslyrischen Signalwörtern. Das beginnt bereits mit cken singen zart« (v. 6) und Aussicht (TK 136): »Der Wind klappert in der losen Wildnis« (v. 4) und »Zaunkönig singt einsam und hold« (v. 12). 58  Auch hier lassen sich etliche Belege anführen, etwa der »Rauch«, der »träge / Und dünn über den Horizont [ging]« (Schlacht am Nachmittag, G 15, v. 3 f.), das »Wachtfeuer«, das die Soldaten wärmt und trocknet und zu einer »Insel von Licht und Wärme« werden lässt (Biwak, G 24, v. 1–4), das »nasse Zelt«, das die Soldaten frieren lässt (Abend im Feld, G 28, v. 1), die nächtliche »Luft«, die »sanft und süß« ist (Der Abgrund, G 73, v. 8), der »Zigarrenrauch« in der weihnachtlichen Stube und die »heißen Gesichter[]« der Soldaten (Weihnachten, G 77, v. 1 und 4), der »Kognac«, der »[b]eklemmend durch die Kehle [rinnt]« (Stimmung, TK 125, v. 6 f.) oder die süß duftenden Disteln (Dörfer, TK 126, v. 13). 59  Klemms frühe Lyrik war geprägt von Jugendstil, Symbolismus und Neuromantik. Vgl. z. B. Rehage, Darstellung, 211–213. Rehage stellt außerdem richtig fest, dass Klemm in Gloria! »häufig auf neuromantische Stimmungsbilder zur Beschreibung der Kriegsnächte [rekurriert]« (Darstellung, 225), versäumt es aber, dieses Paradigma auch in den späteren Gedichten zu beobachten und seine Variationen zu beschreiben. Ortheil bezeichnet Klemms Gedichte als »komprimierte[] Stimmungsbilder« (Klemm, 41).  – Zum Begriff der Stimmung vgl. grundlegend Friederike Reents, Stimmungsästhetik. Realisierungen in Literatur und Theorie vom 17. bis ins 21. Jahrhundert, Göttingen 2015; David E. Wellbery, »Stimmung«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hgg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2003, 703–733; Friede­ rike Reents, »Stimmung«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 9, Tübingen 2009, 109–118; dies., »Lyrik und Emotion«, in: Dieter Lamping (Hg.), Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart 22016, 169–178. Zum Begriff der Naturlyrik vgl. überblicksartig Georg Braungart, »Naturlyrik«, in: ibid., 138–145. – Zur These von der »Stimmungslyrik als Paradigma der Romantik« vgl. Reents, Stimmungsästhetik, 179–182.

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den Gedichttiteln; manche von ihnen, wie etwa Schlachtenhimmel (G 16), Abend im Feld (G 28), Nächtlicher Vormarsch (G 36), Halt bei Nacht (G 42), Nächtliche Aussicht (G 50) oder Frühlingsnacht (TK 138), verweisen auf stimmungslyrische Klischees oder lassen stimmungshafte Beschreibungen erwarten. Auch in anderen Publikationen Klemms (etwa in Aufforderung (1917)) finden sich solche Gedichttitel en masse.60 Doch auch in den Gedichten selbst kommen bestimmte lexikalische Felder auffallend häufig vor. Charakteristisch sind etwa Nacht, Sterne und Mond, auch andere Tageszeiten wie der Abend, der Morgen oder die Dämmerung. Oft genannt werden zudem der Himmel, weiterhin die Wolken und die Sonne, ebenso der Wind.61 Fast jedes Gedicht enthält eine wie auch immer geartete Erwähnung eines dieser Begriffe. Ca. die Hälfte der Texte evoziert darüber hinaus die Natur, manchmal in, zumindest auf den ersten Blick, fast formelhaft anmutender Weise.62 Prominenter und prägnanter Ort intensiver natur- und stimmungslyrischer Anklänge sind die Gedichtanfänge, in vielen Fällen die ersten Strophen der Gedichte. Sie rufen regelmäßig einigermaßen typisierte, gar klischierte Kulissen und Szenerien auf, die allerdings Zeichen der (Ver-)Störung aufweisen. Die Evokation dieser Kulissen und Szenerien nutzt die soeben beschriebenen Strategien: sinnliche Beschreibungen, Bedienung bestimmter lexikalischer Felder, Naturreferenzen. Bereits das zweite Gloria!Gedicht Abschied (G 8) ist in dieser Hinsicht einschlägig: »Die Schatten erhoben ihr schwarzes Dickicht, / Ein schläfriger Lärm kommt unten vom Fluß, / Und die Mondschüssel gießt ihr Licht  – / Baum und Stein sind 60  Vgl. z. B. Stille (GV 113), Nachts (GV 113), Nächtliches Erwachen (GV 114), Blütenblätter (GV 121), Frühe (GV 140), Das Licht (GV 140), Landschaft (GV 143), Gewitter (GV 144), Der Regen (GV 145), Abendaussicht (GV147), Abendsonne (GV 148), Frühlingsabend (GV 149), Tiefer Abend (GV 150), Späte Dämmerung (GV 151), Abend (GV 152), Dämmerung (GV 154), Frühlingsabend (GV 154), Frühlingsnacht (GV 155), Mondnacht (GV 156), Nächtliche Fahrt (GV 157), In die Nacht (GV 157), Die Sterne (GV 158), Herbst (GV 159), Morgendämmerung (GV 175), Melancholischer Abend (GV 179). 61  Berücksichtigt man, ohne weitere Interpretation, lediglich das Vorkommen bestimmter Lexeme und lexikalischer Felder in den untersuchten Texten, ergibt sich folgendes Bild: Die Nacht kommt in etwas weniger als 50 % der Texte vor, andere Tageszeiten und die Dämmerung zusammen in weiteren ca. 25 %. Der Himmel findet sich in etwa einem Drittel der Gedichte, Wolken, Sonne und Wind zusammen in etwa der Hälfte, Sterne und Mond zusammen in weiteren ca. 25 %. 62  Die Gloria! beigegebenen, überwiegend in dunklem Schwarz gehaltenen Holzschnitte von Walther Klemm (1883–1957) evozieren düstre, häufig mit Lichteffekten spielende, stimmungsvolle Schlacht-, Stadt- und Landschaftsszenen. Zum (mit Wilhelm nicht verwandten) Grafiker, Maler und Illustrator Walther Klemm vgl. NDB 12, 32 f.



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geformt aus Gesang« (v. 1–4). Die erste Strophe entwirft das Bild einer nächtlichen Landschaft, getaucht in romantisches Mondlicht, lautlich untermalt durch das Rauschen  – den »Gesang«  – des Flusses. Die Schatten des ersten Verses verlieren so ihre Bedrohlichkeit; allerdings machen die beiden folgenden Strophen klar, dass bei aller vermeintlichen Friedlichkeit ein lebensverändernder Einschnitt bevorsteht. »Tief und fern / Tönt der bescheidene Pfiff eines Zuges  –« (v. 11 f.), der Sprecher verabschiedet sich von seiner mutmaßlichen Geliebten, um, so ist anzunehmen, in den Krieg zu ziehen. Der in der zweiten Strophe erwähnte Friedhof, von dem »ein kleiner Totentanz [schwärmt]« (v. 8), ist somit nicht nur Teil einer romantischen Nachtszene, sondern gleichzeitig unheilvolle Vorausdeutung des Soldatenschicksals  – verstärkt durch die harte Schlusspointe: »Wir sehen uns niemals wieder!« (v. 12).63 Ste. Marie a Py (G 37) funktioniert ähnlich; die erste Strophe lautet: »Auf tiefem Hügel stand eine Madonna aus Stein. / Der Abend kam sanft und blau. Sonne staubte hinab. / Weit hauchten das graue Land und niedrige Wälder. / Rings in der Ferne läuteten die Kanonen« (v. 1–4). In die zunächst idyllisch anmutende Szene bricht der Kriegslärm nicht plötzlich ein, sondern ist gleichsam integraler Teil der Wahrnehmung und somit erst auf den zweiten Blick eine Irritation des habitualisierten, auf die Beschreibung einer Stimmung ausgerichteten lyrischen Blicks.64 Orientierungsfolien solcher Gedichte bleiben Naturund Stimmungslyrik; allerdings experimentieren sie mit dem Nebeneinander von stimmungshafter Naturbeobachtung und (meist distanzierter) Kriegsbeschreibung. Das gilt übrigens auch für einige der späteren Gedichte. Aussicht (TK 136) etwa beginnt mit den Versen: »Ein blauer Rauch ringelt sich zart aus der Erde. / Gleich daneben hängen Brombeerranken. / Ein Baum hat nur noch zwei Arme. / Der Wind klappert in der losen Wildnis« (v. 1–4). Die anfängliche Preziosität (»zart«, »Brombeerranken«) kontrastiert mit der durch den Krieg versehrten Natur – und mit den schmutzigen, von Menschen errichteten Unterständen. In den folgenden 63  Vgl. auch Nächtliche Aussicht (G 50). Hier lautet die erste Strophe: »In den schwarzen Kanal taucht seine Fackel der Mond. / Das Land verbeißt sich in Finsternis, / Schwarzes Moos erfilzt sich, und die Ruten der Pappeln, / Die stummen Gesten der Bäume darüber hinaus« (v. 1–4). Hier suggeriert die Beschreibung der nächtlichen Kulisse allerdings bereits Bedrohung (durch die wiederholte Erwähnung der Dunkelheit) und feindselige Gewalt (durch die Anthropomorphisierung des Mondes, des Landes, des Mooses und der Bäume). Tatsächlich expliziert die zweite Strophe Bedrohung und Gewalt durch eine Personifikation des Krieges, der unter den »Beschwörungen der Kanonen« (v. 5) »sein nachtschwarzes Haupt [erhebt]« (v. 6). 64  Vgl. ähnlich Spuk (G 58): »Gelbumfiedert stand am Himmel der Mond. / Die harten Alleen raschelten auf. Regen klatschte / Kalt in die schwarze Straße, wo verrücktes Licht / Blitzend über die Pfützen lief. Geschützdonner grollte« (v. 1–4).

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Versen fällt der Blick auf eine Ratte im Schützengraben (v. 5) und auf »verfaulte Sandsäcke« (v. 6). Das Ende des Gedichts bündelt diese Ambivalenz: Fast schon klischeehaft »[erhebt sich] [d]er Himmel […] in blauer Erhabenheit«, während »Granaten […] vorüber[hauchen]« und ein »Zaunkönig […] einsam und hold [singt]« (v. 11 f.). Frühlingsnacht (TK 138) evoziert eine ganz ähnliche Situation: »Der Bäume dunkelndes Grün / Haucht feucht in die Dämmerung. / Die Nachtigallen singen die ganze Nacht / Ihre schwärmerischen Kadenzen, und die süßen // Flötensuiten der Wiederkehr. Ernst antwortet / zögernd und traurig der ewige Kanonendonner« (v. 1–6). Symptomatisch ist hier die Verschachtelung von Kriegslärm und Naturgeräusch, genauer: Vogelgesang. Der Zaunkönig und besonders die Nachtigall65 rufen literarische Topoi, allen voran der romantischen Naturlyrik, auf – natura loquitur –,66 die bald zu Klischees geronnen, gleichwohl aber zum Grundinventar deutschsprachiger Lyrik gehören. Insofern Natur- und Stimmungslyrik als Raster für die poetische Wahrnehmung und Beschreibung des Krieges dienen, können Krieg und Kriegslärm die Nachtigall nicht vollends ersetzen; solange das Raster seine Validität behält, singt die Nachtigall, während die Kanonen donnern. Das bedeutet jedoch nicht, dass die erwähnten Gedichte naive, eskapistische oder gar verharmlosende Versuche der Adaption lyrischer Genres darstellen. Schon die äußere Form der Gedichte verweigert jede wohlfeile Harmonisierung: Die meist dreistrophigen Texte sind in der Regel in reimlosen freien Versen gehalten, deren Sprache häufig prosaisch anmutet. Ihr Ton ist überwiegend melancholisch bis nüchtern-distanziert.67 Sie leugnen 65  Vgl. Clemens Zerling, Lexikon der Tiersymbolik. Mythologie, Religion, Psychologie, völlig überarb. u. erw. Neuausg., Klein Jasedow 2012, 217–218 (zur Nachtigall), und 316–319 (allgemein zu Vögeln), sowie Adam Lengiewicz, »Nachtigall«, in: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hgg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart/Weimar 22012, 290 f. 66  Vgl. hierzu grundlegend Alexander von Bormann, Natura loquitur. Naturpoesie und emblematische Formel bei Joseph von Eichendorff, Tübingen 1968. Zum Motiv der sprechenden bzw. singenden Natur in der Lyrik Ludwig Tiecks vgl. Friede­ rike Mayer-Lindenberg, Tiergestaltung im Werk Ludwig Tiecks (in Vorbereitung). 67  Kurt Pinthus hat in einer Rezension als passenderen Titel für Klemms erste Gedichtsammlung »Melancholie des Krieges« vorgeschlagen. Vgl. Pinthus’ Rezension in: Zeitschrift für Bücherfreunde 8.2 (1917), 556–558, hier 557 (vgl. Brockmann, Klemm, 163 (Anm. 74)). – Lohnenswert wäre eine systematische Untersuchung der Sprechinstanzen, die an der Textoberfläche auftreten, und der in den Gedichten inszenierten Redekonstellationen. Auch wenn in ca. einem Drittel der untersuchten Gedichte Pronomina der ersten Person Singular und in fast der Hälfte solche der ersten Person Plural vorkommen, gibt sich, auch wenn dies widersprüchlich wirken



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Tod und Zerstörung nicht, präsentieren das Kriegsgeschehen aber gleichsam in gedämpfter Form; der Horror des Krieges erscheint somit in diesen Gedichten nicht als Schockerlebnis, sondern als bisweilen abgründige Beobachtung, die offen ist für die subtile Unterminierung der zitierten lyrischen Paradigmen. So entwickelt Klemm immerhin einen dezidiert poetischen Zugang zum Thema Krieg, der sich merklich absetzt von der Masse der legitimatorischen, apologetischen Lyrik, die 1914 noch deutlich dominiert und sich an den Denkfiguren und Argumentationsmustern der Kriegslyrik des 19. Jahrhunderts orientiert (Körner, Arndt, Geibel). Auch die beiden bekannten Schlacht-Gedichte Klemms sind in diesem Kontext zu sehen. Zunächst ein Blick auf Schlacht am Nachmittag (G 15): Fern in dunkles Blau staffelte sich Das Land. Dörfer brannten. Flammenfahnen Standen schräg empor. Der Rauch ging träge Und dünn über den Horizont, der geheimnisvoll gärte. Geschützdonner rollte ernst. Über den Fluß Drang verworrener Lärm. Gewehrfeuer meckerte. Überall platzten Schrapnells. Die Wolken des Himmels Wurden gefasert. Standen in blassen Flocken Trübe über der Erde. Bis der Regen kam, Gegen Abend. Lückenlos fallend auf Freund und Feind, Auf das Feld der Ehre und Unehre. Auf Mann und Roß, Auf Rückzug und Vormarsch. Auf Tote und Lebende.

Der erste Satz (v. 1 f.) schürt mit Inversion und Enjambement und dem Blick ins ferne Blau, der das romantische Sehnsuchtsmotiv anklingen lässt, durchaus noch die Erwartung nach einer hochpoetischen, stimmungsvollen Naturbeschreibung. Das Folgende relativiert dies deutlich: lakonische, mal parataktisch formulierte, mal elliptisch verknappte Eindrücke des Schlachtgeschehens stehen im Reihenstil nebeneinander. Und doch scheint die Sprecherinstanz auf die Wiedergabe einer Stimmung und die Betonung bestimmter stimmungsvoller Elemente bedacht: Der Gefechtslärm ist zwar dominant und wird vierfach erwähnt, ist aber Teil  einer Szenerie aus »Flammen[]«, »Rauch«, »Wolken«, »Himmel[]« und »Regen«. Auch die Häufung von Adjektiven und Adverbien, die sich nicht unmittelbar auf die Schlacht, sondern die Kulisse beziehen, ist auffällig: Der Rauch ist »träge« und »dünn«, die Flocken »blass[]« und »trübe«, der Horizont »geheimnisvoll«. Am Ende des Gedichts stehen zwar die Soldaten – »Tote und Lebende« –, aber eben nicht als Kämpfende, sondern als der Natur Ausgelieferte. mag, in den meisten Texten doch kein emphatisches lyrisches Ich als Wahrnehmungs- und Empfindungszentrum offensiv zu erkennen.

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Texte wie Schlacht am Nachmittag, ähnlich auch Schlacht an der Marne (G 27),68 schildern den Krieg – ganz anders als etwa die Lazarett-Gedichte – unter Rückgriff auf tradierte lyrische Wahrnehmungsmuster, die sie in der Adaption fruchtbar machen und, wenn nicht unbedingt unterlaufen, doch für Ambivalenzen, Abgründe und Verstörungen öffnen. Tatsächlich exponieren einige Gedichte diese manifeste zunehmende Verstörung ostentativ, indem sie zwar weiterhin auf bestimmte Versatzstücke zurückgreifen  – den Blick in die Landschaft, gen Horizont, in den Himmel, die Konturierung einer optisch und akustisch wahrgenommenen Kulisse, die Erwähnung der Natur  –, gleichzeitig aber immer deutlicher die negativen Aspekte der Kriegserfahrung in den Fokus rücken: die enormen Zerstörungen von Natur, Infrastruktur und Menschen, die Langeweile des Frontalltags, den Horror des massenhaften Sterbens. An der Front (G 45) ist hierfür ein treffendes Beispiel: »Das Land ist öde. Die Felder sind wie verweint. / Auf böser Straße fährt ein grauer Wagen. / Von einem Haus ist das Dach herabgerutscht. / Tote Pferde verfaulen in Lachen« (v. 1–4). Zwar bedient sich Klemm immer noch der bereits ausführlich diskutierten Strategie, in der ersten Strophe des Gedichts eine Szenerie zu evozieren, die  – hier freilich nur noch in Ansätzen  – an stimmungshafte Naturlyrik erinnert, doch hat sie nun nichts Poetisches, nichts ›Schönes‹ mehr. Der Blick, der sich hier artikuliert, ist ein merklich nüchterner, desillusionierter. Entsprechend geht das Gedicht weiter: Am »Horizont« steht nicht etwa die Sonne, sondern es »brennt ein Hof« (v. 6); onomatopoetisch wird das Geräusch von Geschossen imitiert (»pop, pop, pauuu«; v. 7). Der Krieg, so scheint es, ist allgegenwärtig und zeitlos, ebenso Tod und Zerstörung (v. 11–15); der letzte Vers bringt die dehumanisierende Wirkung des Krieges durch einen Vergleich auf den Punkt: »Wie Puppen liegen die Toten zwischen den Fronten« (v. 16).69 68  Vgl. die erste Strophe dieses Gedichts: »Langsam beginnen die Steine sich zu bewegen und zu reden. / Die Gräser erstarren zu grünem Metall. Die Wälder, / Niedrige, dichte Verstecke, fressen ferne Kolonnen. / Der Himmel, das kalkweiße Geheimnis, droht zu bersten« (G 27; v. 1–4). Als weiteres Beispiel kann das zuerst 1917 erschienene Gedicht Vorrücken (TK 139) dienen: »Der Himmel glüht fabelhaft. Verwehtes Goldgefieder / Über einem wahrhaft seligen Blau. / Die Purpurstümpfe des zerschossenen Dorfes / Leuchten aus der Bäume Malachit« (v. 1–4). Die stimmungsgeladene erste Strophe wirkt fast wie eine Farbexplosion, enthält aber bereits den Hinweis auf Zerstörungen. In der Folge werden der Wechsel von Stille und Kanonen sowie die ständige Gefahr des Beschusses durch den Feind geschildert. Gleichzeitig aber ist von »Wolkenballen« (v. 10), dem »sanfte[n] Summen« der Flugzeuge (v. 14), von »Abendinseln« (v. 15) und der »Dämmerung« (v. 16) die Rede. 69  Das Gedicht Dörfer (TK 126) dreht dieses Vorgehen um. Die ersten drei Strophen entwerfen eine Landschaft der Verwüstung (»Alles, aber auch alles ist zer-



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Dass Klemm bewusst mit lyrischen Konventionen und Sprechweisen operiert und mit ihrer Aussagekraft und ihrer Angemessenheit experimentiert, suggerieren drei Gedichte, die sich als metapoetische Reflexion in Gedichtform deuten lassen. Den Abschluss von Gloria! bildet Der ferne Reiter (G 81), ein Text, der irritiert: Mondlicht rinnt von allen Zweigen, Und ich liege traumversonnen. Mondlicht hat mich still umsponnen – Welch ein zauberhaftes Schweigen!

Vor des Fensterbrettes Rande Dehnt die Welt sich seltsam groß, Wartend, stumm und regungslos: Horch! Ein Hufschlag geht im Lande!

Zunächst ist dieses Gedicht formal auffällig: Während der Band  von dreistrophigen, ungereimten Gedichten in freien Versen dominiert wird,70 steht am Ende ein Gedicht mit nur zwei Strophen aus je vier regelmäßigen vierhebigen Trochäen mit umarmenden Reimen. Es wirkt wie ein kitschiges Stimmungsgedicht, das sich des romantischen Bildinventars bedient (das Mondlicht, das zauberhafte Schweigen, die sich dehnende Welt, der ferne Hufschlag, die Aufforderung, zu horchen, der Eindruck des Unheimlichen). Noch verstörender ist, dass nun von Krieg, Tod oder Zerstörung keine Rede mehr ist. Blickt man auf die beiden den Band rahmenden Gedichte, drängt sich die Frage auf: Was ist vom enthusiasmierten Sprecher aus dem ersten Gedicht Anrufung, übriggeblieben, der das Kriegserlebnis euphorisch herbeisehnte? Dem Wunsch, dass das Herz vom Krieg »reden« möge (G 7, v. 12), steht nun ein »zauberhaftes Schweigen« und das »stumm[e] und regungslos[e]« Warten des Sprechers gegenüber. Für diesen scharfen Kontrast sind zwei Deutungen erwägenswert. So könnte man das Gedicht als eskapistische Beschreibung der Ruhe zwischen Schlachten verstehen, in der nur der Hufschlag metaphorisch auf das Kampfgeschehen in der Ferne verweist. Das käme dann einer ultimativen Harmonisierung der Kriegs- mit der Natur- und Stimmungslyrik gleich, in der quasi-erstarrte Bilder die konkrete Erfahrung ersetzen. Verlockender scheint es aber, Der ferne Reiter als zutiefst ironisches Gedicht zu lesen, das das in Gloria! immer wieder herangezogene Paradigma auf die stört«, v. 4), die jedoch in einem merkwürdig milden Ton geschildert wird. Dieser Ton gipfelt in der Naturidylle der letzten Strophe, die inhaltlich einen harten Kontrast zum Rest des Gedichts darstellt: »Disteln duften süß aus ihren meilenweiten Feldern. / Die Wege sind verwachsen. Mohn blüht wunderbar groß / Berauschendes Rot mit einem Hang ins Purpurne. Kamillen nicken in riesigen Büschen« (v. 13–16). 70  Einige der Gloria!-Gedichte bestehen aus zwei Strophen, die allerdings ebenfalls ungereimt und in freien Versen gehalten sind (Sterben (G 19), Müdigkeit (G 23), Tot (G 31) In einem leeren Hause (G 49), Lille (G 66), Stellung (II) (G 69)). Die Glocken (G 70), Gedanken (G 61) und An der Front (G 45) sind vierstrophige Gedichte (je vier Verse), Verlaßnes Haus (G 46) und Vor dem Krieg (G 57) sind Sonette. Ruinen (G 78) besteht aus Terzinenstrophen (13 Verse).

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Spitze treibt und in seiner epigonalen, klischeehaften Erstarrung präsentiert. Somit wäre der Text eine Absage an ebendieses Paradigma, das nicht wirklich tauglich ist, das Kriegsgeschehen zu fassen und literarisch zu schildern. Seine subversive, metapoetische Virulenz entstünde durch die prominente Platzierung am Ende des Bandes, die ›harte Fügung‹ und den so kreierten Kontrasteffekt. Mit Blick auf die nach Gloria! erschienenen Gedichte ist dieser Befund in zweierlei Hinsicht zu präzisieren. Zum einen bleibt das Urteil über die Möglichkeiten der Stimmungslyrik gleichsam in der Schwebe, erscheinen doch auch nach Gloria! noch Gedichte, die damit spielen, jedoch in einem prosaischeren, zurückgenommeneren Ton. Grundsätzlich scheint es, dass die brutale Realität des Krieges nun verstärkt in den Fokus rückt  – kulminierend in Lazarett (II). Zum anderen verfasst Klemm zwei weitere Gedichte, die vor diesem Hintergrund geradezu als metalyrische Kommentare erscheinen – als Kriegsgedichte über (die eigenen) Kriegsgedichte. Am 14.  Oktober 1916 erscheint in der Aktion Klemms Gedicht Stimmung (!) (TK 125): Da lassen die Engel ihre seligen Masken fallen. Die Operationsmesser glänzen silbern. Zwischen die reellen und die imaginären Zahlen Kracht der öde Kanonendonner. Der Duft einer Buchsbaumhecke erregt Vergeßnes. Mücken singen zart. Kognac rinnt Beklemmend durch die Kehle. Die Zukunft ist so dicht Verhüllt, daß man kaum atmen kann. Eine Sonate klingt unbeschreiblich rein. Der Sattel wiegt die Gedanken in Betäubung. Man grüßt den und jenen. Ein Verwundeter lahmt. Oh du hoher Himmel, wer hat das alles gewollt? Über weiße Flächen tollen schwarze Träume. Die Dichter bleiben sonderbar lebend Die Liebe ist über dem Rhein. Ich bin ein einsamer Fremdkörper, irgendwoher abgesplittert.

Stimmung wirkt wie eine bewusste Auseinandersetzung mit dem und eine deutliche Absage an das Muster der Stimmungslyrik. Zwar finden sich auch hier noch Spuren natur- und stimmungslyrischen Sprechens, etwa die Evokation des »Duft[s] einer Buchsbaumhecke« (v. 5), der singenden Mücken (v. 6) oder des »hohe[n] Himmel[s]« (v. 12) sowie die Hinweise auf Farben und Geräusche. Dem gegenüber steht eine eigentümliche Mischung aus Hermetik und Realismus. Bereits die Eingangsverse belegen dies: Der unvermittelte Einsatz (»Da«, v. 1) suggeriert, dass der bislang häufig dominierende distanzierte Beobachterblick aufgegeben wird;



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gleichzeitig aber ist das Bild der »Engel«, die ihre »seligen Masken fallen [lassen]«, zunächst unzugänglich. Erst in der Kombination mit dem zweiten Vers, der konkreten Operationssituation, gewinnt es an Kontur, bleibt aber einigermaßen unscharf. Bezieht es sich auf die Gesichter der Verwundeten, der Narkotisierten? Oder verrät es eine allgemeine Desillusion? Das Nachdenken über »Zahlen« – womöglich Verlust- und Opferzahlen – wird jäh vom Kanonenlärm gestört. So changiert das Gedicht zwischen Gefühlen der Beklemmung (v. 7 f.), der traumartigen »Betäubung« (v. 10, 13) und des existenziellen Zweifels (v. 12), durchsetzt mit einzelnen, fast fragmentarisch wirkenden Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Gedankenfetzen (v. 5, 9, 11, 14, 15). Im ebenfalls recht unvermittelten Schlussvers artikuliert nun, durchaus überraschend, ein Ich eine komplexe Selbstdiagnose, die zugleich Körper- und mentale Erfahrung ist: Einsamkeit und Isolation auf der einen, Entfremdung  – von der Kriegssituation, den Kriegszielen, aber auch der eigenen körperlichen Verfasstheit  – auf der anderen Seite. Das Partizip »abgesplittert«, das metaphorisch auf explodierende Granaten verweist, nimmt nicht nur den Gedanken der Isolation, des gewaltsamen Verlusts von Zugehörigkeit wieder auf, sondern charakterisiert auch die Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeit des Ichs (auf typisch expressionistische Weise) als splitterhaft und fragmentarisch.71 Stellung (IV) schließlich (TK 137), veröffentlicht am 16. Juni 1917, ebenfalls in der Aktion, flüchtet sich nicht in Pessimismus, sondern in metalyrisch pointierten Sarkasmus. Die ersten beiden Strophen enthalten bereits eindeutige Signale: Onomatopoetisch wird zunächst geschildert, wie »Maschinengewehre […] ihre nächtlichen Rollen repetieren« (v. 1), »ihren Vers [hastig] herunter[gurgeln]« (v. 2) und »ein rasches Terzett [knattern]« (v. 3). Ironisch wird das Suchen nach Deckung zu einer »Verbeugung« (v. 7). Diese an schwarzen Humor grenzende Beschreibung des Krieges als Versdrama findet eine Zuspitzung in der dritten und letzten Strophe: »Selig steigen die Leuchtkugeln auf, / Vor zerschossenen Bäumen, schweigsamen Ruinen. / Wie der Novemberwald duftet! Nach Nacht und Nuß. / Wie lange sollen wir noch verzaubert sein!« (v. 9–12). Schon das Adverb »[s]elig« wirkt unpassend, deutet aber die Stoßrichtung des Gedichtschlusses an. Die »Ruinen«, der duftende, durch vierfache Alliteration in seiner lächerlichen Klischeehaftigkeit entlarvte »Novemberwald« und schließlich die fast schon sprichwörtlich romantische Verzauberung: Klemms Gedicht ist eine zutiefst desillusionierte Abrechnung mit der romantischen Naturund Stimmungslyrik, deren Adäquatheit zumindest dieser Text als lyrische Sprechweise für die Literarisierung des Krieges scharf zurückweist. 71  Zu

diesem Gedicht vgl. auch Rehage, Darstellung, 240 f.

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3. Formen der Transzendierung Neben die nun ausführlich diskutierten epistemologischen und poetologischen Perspektivierungen des Krieges  – den tendenziell realistischen Blick auf den Körper, seine Gefährdung und den brutalen, nackten Horror des Krieges sowie die natur- und stimmungslyrisch inspirierte Kriegsbetrachtung  – treten nun zwei weitere Facetten. Zum einen prägt in einer Reihe von Gedichten eine spezifische Zeiterfahrung das Kriegserlebnis.72 Zunächst betonen einige der Texte die Ubiquität und die Zeitlosigkeit des Krieges, dem nicht zu entkommen ist: »Wo du auch hinkommst, überall ist Krieg, / Morgen und alle Tage« (Spuk, G 58, v. 10 f.); »Tagelang, wochenlang« brodelt »das Feuer der Infanterie« (Schlacht an der Marne, G 27, v. 11 f.); »Tag und Nacht« ist Kriegslärm zu vernehmen (Lazarett (I), G 38, v. 10).73 Dies wiederum hat einen Verlust von Zeitlichkeit und Zeitgefühl auf Seiten der Sprechinstanz zur Folge, eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Phänomen Zeit, der gleichsam eine epistemologische Irrelevanz attestiert wird: »Was kümmert uns das Gestern, das Heute oder das Morgen?« (An der Front, G 45, v. 12).74 Ein unüberwindbarer »Abgrund« trennt die Auseinandersetzung mit Erlebtem und die Reflexion über Gegenwart und Zukunft auf der einen und die scheinbar erbarmungslose Unausweichlichkeit des Krieges, dessen »Zeit« »unbegrenzt[]« ist (Granaten, TK 141, v. 3), auf der anderen Seite: »Heute sitzen wir noch beisammen, denken an die / Welche gestern noch waren. Und morgen vielleicht / Denken andre so an uns. Trotzdem geht alles weiter. / Das ist der Abgrund, der neben uns grübelt, // Bis zu unendlicher Müdigkeit. […]« (Der Abgrund, G 73, v. 1–5). Diese Zeiterfahrung radikalisiert sich schließlich in einer an die expressionistische IchDissoziation erinnernden Verzerrung. Formulierungen wie »Zwei kolossale Stunden rollen sich auf zu Minuten« (Schlacht an der Marne, G 27, 72  Zum Problem der Darstellung eines bestimmten Erlebens von Zeit als Mittel zur Authentifizierung der Kriegserfahrung in avantgardistischer Lyrik vgl. auch Nicolas Detering, »Zur textuellen Authentifizierung in der deutschen Frontlyrik 1914– 1918«, DVjs 90 (2016), 435–450. 73  Vgl. auch den lakonischen ersten Vers des Gedichts Lazarett (II): »Jeden Morgen ist wieder Krieg.« Das Verb »ist« setzt das Subjekt des Verses – den Krieg – absolut und lässt ihn als unentrinnbare, repetitive, ja zeitlose Realität erscheinen.  – Drei der späteren Gedichte prononcieren den Kontrast zwischen der Monotonie des unbestimmten Wartens auf ein Kampfgeschehen und der Plötzlichkeit von Angriffen (Feuerüberfall, Beschiessung und Vorrücken; TK 129, 130 bzw. 139). In allen drei Gedichten markiert das Adverb »Plötzlich« diesen Kontrast (v. 5, v. 1 bzw. v. 10). 74  Unmittelbar davor werden »Tod« und »Regen« explizit als »gleichgültig« bezeichnet (G 45, v. 11).



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v. 5), »Stunden versickern« (Stellung (I), G 53, v. 4), »Die Stunden kreisen schneller« (Vor dem Krieg, G 57, v. 8) oder »Die Zukunft ist so dicht  /  Verhüllt, daß man kaum atmen kann« (Stimmung, TK 125, v. 7 f.) problematisieren die Darstellbarkeit der Kriegserfahrung als ›prägnanter Moment‹75 oder konsistentes Augenblickserlebnis und unterlaufen somit alle Versuche naiver, an traditionellen lyrischen Denkmustern orientierte Romantisierungsversuche. Vielmehr offenbart sich eine epistemologische Hilflosigkeit, die sich in Bezug setzen lässt zu modernen Krisenphänomenen am Beginn des 20. Jahrhunderts. Ganz anders akzentuiert ist ein parallel laufendes Deutungsmuster: die Tendenz zu Formen traumartig-visionärer Allegorisierung und kosmischer Einordnung des Krieges.76 Ein erstes Beispiel  – das Gedicht Tristissimus (G 62): Der Dom des Todes droht am Saum der Welt  – Die Trümmer brechen in den Wolken ab  – Wie blutige Rümpfe, über die herab Ein sterbend Zwielicht grau wie Asche fällt. Das ewig gähnt. Ein Riesenschlund, gehackt Ins blasse Dunkel eines Nachtgesichts  – Ich seh mich selber in das blinde Nichts Hineingehn. Einsam, winzig klein und nackt. Der Pesthauch toter Götter gärt empor An seinen Fronten, schwarz und schmuckberaubt, Von Zeit verätzt, von Untergang bestaubt  – Geborstene Engel stehn am düstren Tor,

Das Gedicht enthält keinen direkten Hinweis auf den Krieg oder das Kriegsgeschehen, entfaltet aber gleichwohl eine von Tod und Verwüstung gezeichnete Szenerie in düsterer, bedrückender Stimmung. Der »Dom« erscheint als bedrohliche, riesenhafte, alle Grenzen des Irdischen sprengende Materialisierung des Todes. In der allegorischen Transposition wird der ubiquitäre, massenhafte Tod auf dem Schlachtfeld so zu einem erha75  Zum Begriff des prägnanten Moments vgl. Hans-Jürgen Schings, »Wilhelm Meisters schöne Amazone«, Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), 141–206. 76  Ungefähr ein Drittel der im vorliegenden Rahmen betrachteten Texte enthält eine solche Dimension, sei es, dass visionäre, gespenstische oder allegorische Traumbilder entworfen werden, sei es, dass sich die Perspektive gleichsam in den Himmel, den Kosmos, das All weitet.  – Brockmann bezeichnet Klemm auch als » ›kosmischen‹ Lyriker[]« (Klemm, 69; vgl. ibid., 56 und 157). Den Begriff der Vision lehnt er jedoch zugunsten biographischer Deutungen ab: »Klemms Kriegsgedichte sind keine Visionen, sie entstehen im Feld, wo er als Arzt tätig war« (ibid., 73).

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benen, gleichzeitig aber archaischen (v. 7), entweihten (v. 5, 8), ja schicksalhaften Ort; der Dom ist kein trostspendender Ort religiöser Erbauung mehr, verspricht dem Ausgelieferten kein sicheres Obdach, sondern strahlt Feindseligkeit und Gefahr aus und bedeutet für das Ich, das sich seines prekären, hilflosen Status schmerzlich bewusst ist, die unausweichliche Vernichtung. Den Gedichten, die sich  – sei es in ihrer naturalistischen Objektivität, sei es in ihrem sinnlich-stimmungslyrischen Impetus – an der Realität des Krieges orientieren, stellt Tristissimus eine gleichsam entwirklichte, entzeitlichte, bildhaft-künstlich transformierte Kriegsvision entgegen, die weniger nach Ausdrucksmöglichkeiten für konkrete Erlebnisse als nach Chiffren für eine existenzielle Bedrohungssituation sucht. Zwar findet das Gedicht eindrückliche Schreckensbilder; im Vergleich zu den meisten anderen Kriegsgedichten aus dem Feld bleiben sie aber merkwürdig abstrakt. Die überwiegend streng alternierenden fünfhebigen Jamben der drei Strophen, die jeweils von umarmenden Reimen zusammengehalten werden, suggerieren zudem eine Art innere Geschlossenheit, die  – wiederum im Vergleich mit den restlichen Texten  – nicht wirklich überzeugend wirkt. Ähnliches gilt für das Gedicht Ruinen (G 78): Dem von einem olympischen Standort aus auf »die unermeßlichen Ruinen« (v. 1) und »Schuttströme« (v. 2) geworfenen Blick folgt eine Selbstansprache des Sprechers in der Du-Form: »Dein Herz, du hörst es überwältigt klopfen! / Tief unter uns der Sterne Glanzgebärde  – / Planeten kreisen langsam  – Welten tropfen  – / Wir wissen, daß wir nicht mehr auf der Erde« (v. 10–13). Dieses vorletzte Gedicht der Sammlung Gloria! nimmt somit ein Signalwort des den Band  eröffnenden Anrufung wieder auf  – das Herz, mit einer doch bemerkenswerten Verschiebung: Das Herz ist nicht mehr jene Instanz, die den Krieg und das Kriegserlebnis begreifen und in Worte fassen soll. Vielmehr verschiebt sich, mit dem Verlust göttlicher Transzendenz (vgl. »Auf Trümmern toter Götter«, v. 6), die Position des Sprechers in eine visionärsurreale Transzendenz. Dessen Ort scheint nun tatsächlich der Kosmos zu sein (»Sterne«, »Planeten«, »Welten«; v. 11 f.); hier »klopf[t]« das Herz »überwältigt«, sozusagen in gedämpfter, ehrfurchtsvoller Kontemplation. Trotzdem steht am Ende des Gedichts keineswegs eine Utopie. Das verstörende Bild der tropfenden Welten mutet an wie die surrealistische Version einer apokalyptischen Vision. Im letzten, elliptischen Vers (v. 13) fehlt zudem sinnigerweise das Verb »sind« – das Nicht-mehr-auf-der-Erdesein ist somit ein Nicht-(mehr)-sein. Auch am Ende dieses Gedichts steht also der Tod. Diese beiden Beispiele sind repräsentativ für eine bemerkenswerte Facette der Kriegslyrik Klemms: das Unterlaufen, ja Konterkarieren des



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ausführlich dargelegten Fokus auf die harte Realität des Krieges durch die Integration unwirklicher, traumartiger, visionärer und gespenstischer Elemente in die Gedichtsammlung als Ganze und in die einzelnen Texte. Wenn die Wirklichkeit als »phantastisch[]« (Anrufung, G 7, v. 10) und »traumhaft« (Der Abgrund, G 73, v. 12) charakterisiert wird, der »Horizont […] geheimnisvoll gärt[]« (Schlacht am Nachmittag, G 15, v. 4) und sogar Kopfschüsse »geheimnisvoll[]« sind (Lazarett (II), TK 134, v. 4); wenn vom »gespensterhaft schön[en]« Krieg, vom »Geisterfürst[en]«, von »Gespenster[n] der Vernichtung«, »[t]ausend wilde[n] Gespenster[n]« oder »Nachtgespenster[n]« die Rede ist;77 wenn wiederholt Träume thematisiert werden;78 wenn schließlich visionär-allegorische Figuren oder Instanzen in den Gedichten auftreten,79 dann suggeriert all dies eine grundlegende Weigerung, den nackten, nüchternen, schonungslosen Realismus auf der einen und das naturlyrisch inspirierte, stimmungslyrisch geprägte Gedicht auf der anderen Seite als einzige, letztgültige lyrische Antworten auf das Kriegserlebnis zu akzeptieren. Klemms Kriegslyrik experimentiert vielmehr mit unterschiedlichen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Verarbeitungsmodi, die nebeneinander ihren Platz finden. Zwar häufen sich in früheren Texten tendenziell die geheimnisvoll-kosmischen Imaginationen und in den späteren der distanzierte, illusionslose Blick, während der stimmungslyrische Modus gleichsam eine Konstante darstellt. Solche Abstraktionen dürfen jedoch nicht den Blick für die genaue Lektüre der einzelnen Gedichte verstellen, die gerade ihre Vielgestaltigkeit und ihre Variationen des Themas Krieg offenbar werden lässt. Außergewöhnlich ist Klemms Kriegslyrik aus dieser Perspektive gerade in ihren changierenden, sich selbst immer wieder revidierenden und bisweilen sogar reflektierenden Versuchen, das ›Erlebnis‹ Krieg lyrisch zu fassen.

77  Vgl. Anrufung, G 7, v. 2; Die Beere, G 20, v. 3; Stellung (I), G 53, v. 4; Spuk, G 58, v. 6; Lille, G 66, v. 5. 78  Vgl. z. B. Die Beere (G 20) und Müdigkeit (G 23). 79  Vgl. etwa Hermes Psychopompos (G 32) oder In einem leeren Hause (G 49): Hier heißt es: »Und still wie die Allmacht / Öffnet das ewige Weib die Zauberarme« (v.  7 f.).

Bajla Gelblung und Johannes Bobrowskis Gedicht BERICHT Von Eduard R. Müller Abstract Johannes Bobrowski’s iconic poem BERICHT (REPORT) refers to an historical photograph showing the interrogation of a young Polish Jewish woman by officers of the German Wehrmacht in Brest-Litovsk. It has long been assumed that the woman referred to as Bajla Belblung was a resistance fighter who escaped from the Warsaw ghetto in 1943. But further research has shown that the interrogation took place in September 1939 after the end of the third week of the war. This work examines the historical background of the photos of Bajla Gelblung taken at that time as well how the photograph captions have changed over time. It also raises questions about the development of a legend, to which Bobrowski’s poem has made a decisive contribution.

1960 publizierte Gerhard Schoenberner unter dem Titel Der Gelbe Stern. Die Judenverfolgung in Europa 1933 bis 1945 ein vielbeachtetes Buch mit zahlreichen Foto- und Textdokumenten.1 Der aus Ostpreußen stammende Ostberliner Dichter Johannes Bobrowski hat dem Gedicht BERICHT2, das er am 17.  Januar 1961 kurz nach dem Erscheinen des Buchs geschrieben hat, die dort abgebildete fotografische Aufnahme des Verhörs einer jungen jüdischen Polin durch deutsche Offiziere in BrestLitowsk zugrunde gelegt. Das Gedicht, das noch im Entstehungsjahr in der kurzlebigen belgischen Zeitschrift NUL3 erstmals publiziert und anschließend in den Gedichtband Schattenland Ströme aufgenommen worden ist, zählt zu den eher leicht verständlichen in Bobrowskis lyrischem Werk. 1  Gerhard Schoenberner, Der gelbe Stern. Die Judenverfolgung in Europa 1933– 1945, Hamburg 1960. Auch wenn die Publikation in Johannes Bobrowskis nachgelassener Bibliothek fehlt, muss er sie gekannt haben. Das Verhör von Bajla Gelblung ist dort auf Seite 98 abgebildet. 2  Johannes Bobrowski, Gesammelte Werke in sechs Bänden, hg. Holger Gehle, Berlin 1987, Bd. 1: Gedichte, 133. 3  NUL, Sint-Niklaas (Belgium), Heft 2/1961, nicht paginiert.

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Die für seine späten Gedichte charakteristische Dunkelheit ist dem Gedicht BERICHT nicht eigen, was ihm eine Sonderstellung innerhalb des dichterischen Œuvres einräumt. Interessant erscheint die Rezeptionsgeschichte des Gedichts, das schon mehrmals Gegenstand von Interpretationen und linguistischen Analysen geworden ist.4 Auch heute noch haben sich mitunter Gymnasiasten mit diesem lyrischen Text auseinanderzusetzen. 1965 vertonte der deutsche Komponist Reiner Bredemeyer das Gedicht BERICHT zusammen mit den Gedichten BEGEGNUNG und SPRACHE für Alt, Klarinette, Bassklarinette und Gitarre.5 Der Literaturkritiker, Autor und Publizist Marcel Reich-Ranicki nahm das Gedicht zusammen mit der Interpretation von Andreas F. Kelletat in die im Jahr 2000 erschienene Anthologie mit hundert bedeutenden Gedichten des 20. Jahrhunderts auf.6 Da Reich-Ranicki selbst Überlebender des Warschauer Ghettos war, dürfte er von der Thematik der einem Todestransport entflohenen Partisanin ganz persönlich betroffen gewesen sein. Auch ihm war es kurz vor der Deportation gelungen, mit seiner Ehefrau aus dem Warschauer Ghetto zu flüchten.

4  In folgenden Publikationen finden sich Interpretationen zu Bobrowskis Gedicht BERICHT: a) Sigfrid Hoefert, »Zu den ›Kriegsgedichten‹ von Johannes Bobrowski, Peter Huchel und Hans Cibulka«, in: Ursula Heukenkamp (Hg.), Schuld und Sühne? Kriegserlebnisse und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit 1945– 1960, Amsterdam/Atlanta 2001, 341–351, insbesondere 346; b) Andreas F. Kelletat, » ›Was will uns der Dichter damit sagen?‹. Textlinguistik und Interpretation literarischer Texte. Nochmals zu Johannes Bobrowskis Bericht«, Neophilologische Mit­ teilungen 89 (1988), 625–644; c) Andreas F. Kelletat, »Die Wehrmacht und das ­Mädchen«, in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.), Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen, 40 Bde., Frankfurt a. M. 1998, Bd. 21, 161–164; d) Gerhard SchmidtHenkel, »Momentaufnahme im Geschichtsprozeß«, in: Walter Hinck (Hg.), Geschichte im Gedicht, Frankfurt a. M. 1979, 222–228; e) Jens Tismar, »Zeit im Gedicht. Über Keller, Celan und Bobrowski«, in: Norbert Miller et al. (Hgg.), Bausteine zu einer Poetik der Moderne, München/Wien 1987, 409–417; f) Inger Rosengren, »Textbezogene Sprachwissenschaft und poetischer Text«, Zeitschrift für Germanistik 4/1 (1983), 53–64. 5  Der Liederzyklus wurde im »Konzert für Johannes Bobrowski« zusammen mit der Vertonung »Die ersten beiden Sätze für ein Deutschlandbuch« am 30. September 2017 in der Christophorus-Kirche in Berlin-Friedrichshagen aufgeführt (Zweitaufführung des Liederzyklus, Uraufführung der Vertonung der Erzählung). 6  Marcel Reich-Ranicki (Hg.), Hundert Gedichte des Jahrhunderts. Mit Interpretationen. Ausgewählt von Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt a. M./Leipzig 2000, 299 (Gedicht BERICHT) und 300–302 (Interpretation).

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Bajla Gelblung, entflohen in Warschau einem Transport aus dem Ghetto, das Mädchen ist gegangen durch Wälder, bewaffnet, die Partisanin wurde ergriffen in Brest-Litowsk, trug einen Militärmantel (polnisch), wurde verhört von deutschen Offizieren, es gibt ein Foto, die Offiziere sind junge Leute, tadellos uniformiert, mit tadellosen Gesichtern, ihre Haltung ist einwandfrei.

Der nüchterne Titel des kurzen Gedichts, das eine einzige Versgruppe und einen einzigen Satz umfasst, gibt vor, neutrales Protokoll eines Geschehnisses zu sein. Die Verse bilden eine »sachliche, bewusst distanzierte Wortfolge«7. Anders als in so vielen von Bobrowskis Gedichten wird niemand angerufen, findet sich kein lyrisches Ich und kein lyrisches Du, verweisen keine der Natur entliehenen Metaphern auf eine paradigmatische Bedeutungsebene. Vielmehr setzen sich die sechzehn kurzen Verse scheinbar aus Fakten und aus der Beschreibung einer Fotografie zusammen, wobei die erste Gedichthälfte auf die Bildlegende bei Schoenberner Bezug nimmt, während die zweite Beobachtungen eines Bildbetrachters wiedergibt. Das Gedicht ist also, auch wenn es graphisch als Einheit wahrgenommen wird, inhaltlich zweigeteilt.8 Es hebt an mit dem Namen der verhörten Person, nennt deren Herkunft und verweist auf ihre jüdische Religionszugehörigkeit, erwähnt ihre Flucht, bezeichnet sie als Partisanin und umreißt die Umstände ihrer Verhaftung in Brest-Litowsk. All dies ist auf der erwähnten Fotografie nicht sichtbar. Hingegen gehören die Hinweise auf den polnischen Militärmantel und das Verhör durch deutsche Offiziere in gewissem Sinne bereits dem zweiten Teil  des Gedichts an, denn diese Fakten sind, bei ausreichender Kenntnis, der fotografischen Aufnahme zu entnehmen. Die Klammer um das Adjektiv ›polnisch‹ betont den Protokollcharakter des Gedichts, das nach dem Verweis auf die 7  Hoefert,

»Zu den ›Kriegsgedichten‹ «, 346. Interpreten gehen von einer Dreiteiligkeit aus, indem sie den Verweis auf die Fotografie in den Versen 11 und 12 als eigenständigen Gedichtteil betrachten. 8  Einige

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Existenz der Fotografie mit einer Betrachtung über die dem äußern Schein nach tadellose Haltung der Offiziere endet. Eine Zweiteiligkeit ist auch in Bezug auf Opfer und Täter feststellbar: Die ersten neun Verse beziehen sich ausschließlich auf Bajla Gelblung und die Umstände ihrer Festnahme, während der zehnte Vers überleitet zu den deutschen Offizieren und in der Folge die jüdische Partisanin keine Erwähnung mehr findet. Die Verse über das Foto, das explizit erwähnt wird, beschäftigen sich vor allem mit den Tätern und nicht mit dem Opfer. Alliterationen prägen den Klang der ersten Gedichthälfte und rhythmisieren den Sprachfluss, während in der zweiten durch Verssprünge bei den »deutschen / Offizieren« und auch beim Hinweis, dass es sich um »junge / Leute« handle, das Stilmittel des Enjambements zum Tragen kommt. Das Gedicht gerät ins Stocken, die zerhackten Satzteile stehen im Widerspruch zu den propagandistischen Anklängen der geschmeidigen Wörter »tadellos« und »einwandfrei«.9 Mit jenen nichtssagenden Floskeln, durch deren Wiederholung der Dichter eine beinahe zynische Wirkung erzielt, bezeichnet er die Uniformen, die Gesichter und die Haltung der jungen Offiziere. In dieser Reihenfolge liegt eine Steigerung, die von den Äußerlichkeiten der Kleidung über die Gesichtszüge zu einem zweideutigen Nomen führt, das nebst dem militärischen Auftreten auch die ethische Grundhaltung der Wehrmachtsoffiziere mit einschließt. Die Schlussfolgerung wird dem Leser überlassen, der am Ende des Gedichts die Offiziere als willfährige Schergen des Naziregimes zu entlarven vermag. Über weite Strecken folgt das Gedicht fast wortwörtlich Schoenberners Bildlegende: Dieses Mädchen ist eine der wenigen, deren Bild und Namen die Henker hinterlassen haben. Bajla Gelblung entfloh einem Todestransport aus dem Warschauer Ghetto und ging zu den Partisanen. Als sie in Brest-Litowsk verhaftet wurde, trug sie einen polnischen Militärmantel. Dieses Foto von ihrem Verhör erschien während des Krieges in einer deutschen Illustrierten.10 9  Mit diesen Begriffen mag Bobrowski als Wehrmachtsangehöriger im Krieg konfrontiert worden sein. Das im Gedicht zweimal vorkommende Wort »tadellos«, findet sich im gesamten lyrischen Werk Bobrowskis sonst nirgends. Aber die umgekehrte Formulierung »nicht ohne Tadel« war ihm von den Zeugnissen seiner Gymnasialzeit im Hinblick auf sein Benehmen durchaus bekannt. 10  Schoenberner, Der Gelbe Stern, 98, zitiert nach Bobrowski, Gesammelte Werke, Bd. 5, 135. In der Neuauflage des Buches von 2013 ist die Fotografie auf S. 124 abgebildet. Die Legende wurde leicht abgeändert: »Dieses Mädchen ist eine der wenigen, deren Bild und Namen wir kennen. Bajla Gelblung entfloh einem Todestransport aus dem Warschauer Ghetto und ging zu den Partisanen. Als sie in BrestLitowsk verhaftet wurde, trug sie einen polnischen Militärmantel. Dieses Foto von



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Bobrowski verzichtet auf den Hinweis, dass Bajla Gelblung eines der wenigen Opfer gewesen sei, dessen Name und Herkunft die Henker hinterlassen hätten. Hingegen erwähnt Bobrowski, dass sie durch Wälder gegangen sei, möglicherweise als Reminiszenz an das 1954 verfasste Gedicht PARTISANENWALD.11 Den Hinweis auf die Publikation der Aufnahme während des Kriegs in einer deutschen Illustrierten übernimmt Bobrowski ebenfalls nicht, doch betont er die Existenz einer Fotografie. Millionen von Angehörigen in beiden deutschen Staaten bewahrten nach dem Krieg den gefallenen Soldaten ein ehrendes Andenken. Anders als die SS wurde die deutsche Wehrmacht, als das Gedicht in den frühen 1960er Jahren entstand und veröffentlicht wurde, noch nicht mit der systematischen Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Zusammenhang gebracht. Vielmehr herrschte die Meinung vor, dass die Wehrmachtsangehörigen nichts vom Genozid gewusst hätten und auch nicht hätten wissen können. Vor diesem Hintergrund erhält der lakonische Satz: »es gibt / ein Foto« eine besondere Bedeutungsschwere. Die Fotografie wird zum Beweismittel, auf das im Gedicht beinahe drohend gepocht wird. »In dieser Feststellung steckt die Provokation des Textes.«12 Zufälligerweise stieß ich 2015 auf das Titelblatt der Schweizer Illustrierten Zeitung Nr. 39 vom 27.  September 1939 mit einer anderen Fotografie des Verhörs von Bajla Gelblung. Dieses fand, wie sich nun herausstellte, früher als bisher angenommen statt, womit die Festgenommene nicht aus dem Warschauer Ghetto geflohen sein konnte, was weder Bobrowski noch Reich-Ranicki und den bisherigen Interpreten des Gedichts bekannt war. Wie weitere Recherchen im deutschen Bundesarchiv in Koblenz ergaben, ist die im Gedicht beschriebene Fotografie zusammen mit andern des gleichen Verhörs von Heinz Boesig und Max Ehlert, welche den ›Propagandakompanien der Wehrmacht  – Heer und Luftwaffe‹ angehörten, aufgenommen und am 21.  September 1939, also nach Ablauf der dritten Kriegswoche, von der Zensur freigegeben worden. Die Aufnahme trägt den Titel »Jüdisches Flintenweib als Anführerin gemeiner Mordbanditen« und ist mit der nachfolgenden Legende versehen: Von den deutschen Truppen wurde in der Nähe von Brest-Litowsk diese Warschauer Ghettojüdin Bajla Gelblung aufgegriffen. Sie versuchte in der Uniform ihrem Verhör erschien während des Kriegs in einer deutschen Illustrierten. Es erwartete sie das gleiche Schicksal wie alle andern, die den Henkern in die Hände fielen.« 11  Bobrowski, Gesammelte Werke, Bd. 2, 253. 12  Kelletat, »Die Wehrmacht und das Mädchen«, 300–302. Zur Erstveröffentlichung des Aufsatzes siehe Fußnote 4.

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Abb. 1 Bundesarchiv, Bild 146-1974-057-51/Boesig, Heinz/CC-BY-SA eines polnischen Soldaten zu flüchten und wurde als Anführerin einer der grausamsten Mordbanden wiedererkannt. Trotz ihrer echt jüdischen Frechheit gelang es ihr nicht, die Verbrechen abzuleugnen.13

Während spätere Wiedergaben an den Rändern beschnitten worden sind, zeigt die Originalaufnahme die Oberkörper der vier Personen vollständig, einzig ihre Beine werden von einem Tisch verdeckt.14 Die bogenförmige Bildkomposition wird größtenteils von den drei deutschen Offizieren, zwei von ihnen stehend, einer sitzend, ausgefüllt, Bajla Gelblung 13  Bildlegende zu Bild 146-1974-057/Boesig, Heinz/CC-BY-SA im deutschen Bundesarchiv, Koblenz. 14  In Schoenberner, Der gelbe Stern ist die Fotografie von Bajla Gelblung und den Offizieren der deutschen Wehrmacht auf Seite 98 am oberen und am linken Bildrand beschnitten worden. In Johannes Bobrowski, Selbstzeugnisse und Beiträge über sein Werk, hg. Gerhard Rostin/Gerhard Wolf, Berlin 1967, 81–82, wurden gar alle vier Seiten beschnitten, unten allerdings nur geringfügig. Der sorglose Umgang mit dem originalen Format der Fotografie zeugt davon, dass nach dem Krieg ausschließlich der Bildinhalt, nicht die Darstellungsform wichtig erschienen. Diese Einschätzung ist als Teil  der Umdeutung zu betrachten. Als 1939 die Fotografie als Propagandamaterial freigegeben wurde, war die Ästhetik des Bildaufbaus durchaus von Bedeutung.



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ist ganz an den rechten Bildrand gerückt. Die Haltung der drei Offiziere drückt Konzentration aus, ihre Blicke sind auf die Gefangene ausgerichtet, zwei von ihnen machen sich Notizen.15 Kopf- und Schulterpartie von Bajla Gelblung sind leicht nach vorn geneigt, ihr Mund scheint geöffnet zu sein. Sie vermittelt damit den Eindruck, als ob sie mit den Offizieren spräche. Fotografie und Legende unterscheiden sich grundlegend. Die von Bobrowski zutreffend im Gedicht vermerkte Korrektheit der Offiziere auf dem Foto steht im Widerspruch zum propagandistischen, antisemitischen Bildtext. In diesem werden die polnischen Widerstandsgruppen als »Mordbanden« bezeichnet. Der Hinweis, dass es der Gefangenen nicht gelungen sei, die Verbrechen abzuleugnen, spielt indirekt auf ihre spätere Hinrichtung an. Als die Fotografie entstand, existierten weder das ummauerte Warschauer Ghetto noch das 1942 gebaute Vernichtungslager Treblinka.16 Warschau wurde zudem erst eine Woche später, am 28.  September 1939 durch die deutsche Wehrmacht besetzt. Das in der Bildlegende abwertend wirkende Nomen »Ghettojüdin« ist wohl so zu verstehen, dass Bajla Gelblung aus einem jüdischen Quartier Warschaus stammte. Eine Propagandakompanie der deutschen Wehrmacht umfasste rund 150 Mann, wobei jeder Einheit mehrere Pressefotografen angehörten. Miriam Y. Arani hat Aufgaben, Tätigkeit und Organisation dieser Truppen untersucht. Als am 1.  September 1939 über eine Million deutscher Soldaten nach Polen einmarschierten, war jeder Armee eine PK (Propagandakompanie) zugeteilt worden. Mit den deutschen Streitkräften drangen fünf von sieben PK des Heeres, zwei Kriegsberichterkompanien der Luftwaffe und eine PK der Marine in das polnische Staatsgebiet ein.17

Es wurden in der Folge weitere Kompanien gebildet, so dass der Gesamtbestand bis 1942 auf 15.000 Mann anwuchs. Die Propagandakompanien machten insgesamt rund drei Millionen fotografische Aufnahmen, von denen sich 1,7 Millionen in verschiedenen Archiven erhalten haben. Rund 25.000 von ihnen stammen aus dem besetzten Polen. Nur ein Bruchteil dieser Aufnahmen war zur Veröffentlichung bestimmt und wur15  Es ist nicht auszuschließen, dass jener Wehrmachtsangehörige, der neben Bajla Gelblung steht, als Dolmetscher fungiert. 16  Vgl. Wolfgang Benz/Barbara Distel, Der Ort des Terrors, Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2008, 407. 17  Miriam Y. Arani, »Die Fotografien der Propagandakompanien der deutschen Wehrmacht als Quellen zu den Ereignissen im besetzten Polen 1939–1945«, Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 60/1 (2011), 2 f.

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de, nach Genehmigung durch die Zensur, über Presseagenturen an deutsche und ausländische Zeitungen und Illustrierte verkauft. Von Heinz Boesig und Max Ehlert hat sich eine Reihe von Fotografien erhalten, die sie während des zweiten Weltkriegs als Angehörige der Propagandakompanie PK 689 aufgenommen haben. Eine Zusammenarbeit der beiden ist indessen nur für den September 1939 belegt. Nebst den Fotos des Verhörs von Bajla Gelblung ist die gemeinsame Autorenschaft für eine Aufnahme von polnischen Flüchtlingen nachgewiesen, auch zeichneten sie gemeinsam als Fotografen für Aufnahmen der Verhandlungen zwischen Offizieren der deutschen Wehrmacht und der Roten Armee in Brest-Litowsk und des Zusammentreffens deutscher und sowjetischer Soldaten.18 Während die letzte bekannte Fotografie von Heinz Boesig, die Goebbels bei der Übergabe eines Ordens in Berlin zeigt,19 vom 1.  September 1943 datiert ist, hat Max Ehlert nach dem Krieg Karriere als Fotograf beim Spiegel gemacht, wo er für die Fotos auf der Titelseite der Illustrierten zuständig war. Herausgeber Rudolf Augstein lobte in der Ausgabe 31/1953 vom 27.  Juli seine professionelle Arbeit und hob hervor, dass es für Prominente in Europa zum guten Ton gehöre, sich von Ehlert fotografieren zu lassen. Die ethischen Aspekte im Zusammenhang mit der Tätigkeit als Fotograf der Propagandakompanien wurden von keiner Seite beleuchtet, die Integrität von Max Ehlert von niemandem je in Frage gestellt. Zu jenen, die sich von Ehlert damals porträtieren ließen, gehörten auch Thomas Mann und Winston Churchill. Die fragliche Fotografie des Verhörs bezweckte offensichtlich mehrere propagandistische Ziele: Sie sollte die rassische Überlegenheit der deutschen Offiziere gegenüber der jüdischen Anführerin deutlich machen und dem Verhör zudem einen Anstrich von Rechtmäßigkeit geben. Darüber hinaus diente vorab die Bildlegende der Diffamierung und Kriminalisierung der jüdischen Bevölkerung und rückte durch die Erwähnung der polnischen Militäruniform und den Hinweis auf Mordbanden Polen und Juden zusammen.20

18  Es handelt sich um Aufnahmen im Bundesarchiv Koblenz, Bild 1011-121-008027, Bild 1011-121-0010-11, Bild 1011-121-0008-17 und Bild 1011-121-008-24. Alle diese Fotografien mit Ausnahme jener der Flüchtlinge sind am 21. September 1939 freigegeben worden. 19  Bundesarchiv Koblenz, Bild 146-1986-100-35. 20  Polen sollten als rassisch minderwertige Untermenschen diffamiert werden. Ein mündlicher Befehl an der Reichspressekonferenz im Oktober 1939 umfasste unter anderem den journalistischen Grundsatz: »Polen, Juden und Zigeuner sind in einem Atemzug zu nennen.« Zit. nach Arani, »Die Fotografien«, 30.



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Ob Bajla Gelblung tatsächlich eine Widerstandsgruppe anführte,21 warum und unter welchen Umständen sie von Warschau nach Brest-Litowsk gekommen war, weshalb sie einen polnischen Militärmantel trug, dessen Stoff auf der linken Seite auf Brusthöhe einen Riss aufwies, ja ob sie überhaupt Bajla Gelblung hieß, all das lässt sich angesichts der fehlenden Zeugen nicht eruieren.22 Das übergeordnete Ziel der Arbeit der Propagandakompanien bestand nicht in einer neutralen Dokumentation der Kriegsereignisse. Die Bildberichte stellten vielmehr eine Waffe dar, »mit der dieser Krieg psychologisch geführt wurde«.23 Dabei war das Arrangieren der Bilder fester Bestandteil der fotografischen Arbeit, wenngleich die Aufnahmen nicht gestellt wirken durften. Ein Befehl der Propagandakompanie 612 vom 18.  Januar 1940 illustriert dies anschaulich. Der Bildbericht ist nicht das zufällige Ergebnis einer Bildberichterstattung, sondern verlangt vorherige Überlegungen und gedankenmäßige Festlegung der zu fotografierenden Aufnahmen. Ein regelmäßiges Nachhelfen durch Herbeiführen bestimmter Vorgänge wird zur Herstellung eines Bildberichts oft nötig sein. Es muss dabei aber unbedingt beachtet werden, daß die Hauptbedingung eines Bildberichts die Lebendigkeit ist. Gestellt wirkende und ›tote‹ Aufnahmen zerstören die publizistische Wirkung des Bildberichts.24

Es kann ausgeschlossen werden, dass Bobrowski die Bildlegende der Propagandakompanie der deutschen Wehrmacht gekannt hat. Seine Kenntnisse über das auf der Fotografie wiedergegebene Verhör basieren ausschließlich auf Schoenberners Bildlegende, die völlig anders lautet, aber die historischen Umstände der Aufnahme ebenfalls verfälscht. Schoenberners Legende beschäftigt sich ausschließlich mit der jüdischen Partisanin, wobei im Vergleich zum Propagandatext der deutschen Wehrmacht die Vorzeichen bezüglich Opfer und Täter gewechselt haben. Dass Bajla Gelblung einem Todestransport aus dem Warschauer Ghetto entflohen sein soll, ist als Schoenberners  – allerdings nicht zutreffende  – Interpretation der originalen Bildlegende zu betrachten. In seinem Text wird

21  Geständnisse von verhafteten Juden zu erpressen, gehörte zur Tagesordnung. Die anschließenden Prozesse waren eine Farce und dienten der Wahrung des Anscheins von Rechtmäßigkeit, dazu Arani, »Die Fotografien«, 32 f. Es ist also denkbar, dass Bajla Gelblung zum Geständnis, einer »Mordbande« angehört zu haben, gezwungen worden ist. 22  Auf den Websites jüdischer Widerstandskämpfer erscheinen einzig ihr Name und ihr Bild; ihre Lebensdaten sind unbekannt. 23  Arani, »Die Fotografien«, 6. 24  Ebd. 14.

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Bajla Gelblung nicht nur als Opfer, sondern auch als jüdische Heldin dargestellt: Sie hat angesichts der tödlichen Bedrohung, die von der Deportation aus dem Warschauer Ghetto in ein Vernichtungslager ausgegangen ist, die Flucht ergriffen und sich dem Widerstand angeschlossen. Auch wenn ihr Unterfangen letztlich scheiterte, hat sie gehandelt und ist nicht passiv in den Tod gegangen. Die Bildlegende in Gerhard Schoenberners Der gelbe Stern geht vom Propagandatext aus, interpretiert ihn neu und verstrickt sich so in Spekulationen. Wahrscheinlich war es dem Autor nicht bekannt, dass das Verhör bereits im September 1939 stattgefunden hat. Er nennt als Bildquelle des Fotos das ›Centre de Documentation Juive Contemporaine‹ in Paris.25 Noch heute ist im Fotoarchiv des ›Mémorial de la SHOAH‹, der heutigen Nachfolgeorganisation des ›Centre de Documentation Juive Contemporaine‹, eine entsprechende Aufnahme mit dem Verhör und der originalen Bildlegende archiviert,26 wobei es sich nicht um die Wiedergabe aus einer Illustrierten, sondern um ein Presseagenturbild zu handeln scheint. Ohne dies zu begründen, wird die Fotografie im Pariser Archiv 1943 datiert: Der Fehler liegt also beim ›Centre de Documentation Juive Contemporaine‹, das sich möglicherweise durch den Begriff »Ghettojüdin« hat fehlleiten lassen. Schoenberner wiederum ist dem gleichen Irrtum aufgesessen und hat zudem die Umstände der Festnahme ohne gesicherte Hinweise ausgeschmückt.27 Eine weitere Fotografie von Bajla Gelblung findet sich in Adalbert Forstreuters Publikation Deutsches Ringen um den Osten, Kampf und Anteil der Stämme und Gaue des Reichs von 1940.28 Einzig auf dieser Aufnahme blickt Bajla Gelblung aus den Augenwinkeln in die Kamera und erinnert so daran, dass in dem Raum, wo das Verhör stattfand, auch Fotografen zugegen waren. Um den Mund der Verhörten spielt überraschenderweise ein feines Lächeln. Der neben ihr stehende Offizier liest aus seinen Notizen vor.29 Mit einiger Wahrscheinlichkeit dürfte es sich um einen Dolmetscher handeln. Der gelbe Stern, 222. Fotografie ist archiviert unter CDJC CCXXVI_450. 27  Trotz intensiven Recherchen konnte die deutsche Illustrierte, die Schoenberner erwähnt, bislang nicht eruiert werden. Es ist nicht auszuschließen, dass die Fotografie in keiner deutschen Zeitschrift erschienen ist, denn die Existenz eines Presseagenturbildes belegt nicht dessen Publikation. 28  Adalbert Forstreuter, Deutsches Ringen um den Osten, Kampf und Anteil der Stämme und Gaue des Reichs, hg. Rudolf Jung, Berlin 1940, 309. Den Hinweis auf diese Abbildung erhielt ich von Andreas Degen. 29  Auf dieser Aufnahme wird besonders deutlich, dass es sich um einen Dolmetscher handeln könnte. 25  Schoenberner, 26  Die



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Abb. 2 Bundesarchiv, Bild 101I-121-0010-24/Boesig, Heinz/CC-BY-SA

Forstreuter verändert in der Bildlegende – wie schon zuvor die Schweizer Illustrierte Zeitung – minimal den Vornamen der Gefangenen, hält sich aber weitgehend an den Text der Propagandakompagnien, den er verkürzt wiedergibt: Die Warschauer Ghettojüdin Bayla Gelblung, Anführerin einer der grausamsten Mordbanden im Verhör

Der von Forstreuter zitierte Bericht des »Oberkommandos über Vorgeschichte, Anlage, Verlauf und Abschluß des Feldzuges in Polen« stellt die Kriegssituation am 23.  September 1939 folgendermaßen dar: Nur Bruchteile einzelner Verbände konnten sich durch die Flucht in die Sumpfgebiete Ostpolens der sofortigen Vernichtung entziehen. Sie erliegen dort den sowjetrussischen Truppen. Von der gesamten polnischen Wehrmacht kämpft zur Zeit nur mehr ein geringfügiger Rest auf hoffnungslosem Posten in Warschau, in Modlin und auf der Halbinsel Hela.30

Dieser Lagebericht verdeutlicht, was in der Bildlegende der Propagan­ dakompanien mit »Mordbanden« gemeint sein könnte: Sich in unwegsa30  Forstreuter,

Deutsches Ringen, 309.

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Abb. 3: Abbildung des Verhörs von Bajla Gelblung in Adalbert Forstreuters Publikation Deutsches Ringen um den Osten, Kampf und Anteil der Stämme und Gaue des Reichs von 1940 auf Seite 309

mes Gelände zurückziehende, zerstreut kämpfende Verbände der polnischen Armee, zu denen vereinzelt auch Zivilpersonen gestoßen sein mochten. Bobrowski hat, als er das Gedicht BERICHT schrieb, all diese Hintergründe nicht gekannt. Ihm standen ausschließlich Abbildung und Text in Schoenberners Buch zur Verfügung, und er konnte davon ausgehen, dass die Legende zutraf. Dass er aus der großen Anzahl von vielfach belastenden und beinahe unerträglichen Fotografien in jener Publikation das Verhör von Bajla Gelblung und damit eine Propagandaaufnahme der deutschen Wehrmacht ausgewählt hat, mag mehrere Gründe haben. Dass Name und Herkunft des Opfers bekannt waren, kam Bobrowskis Sichtweise des Gedenkens entgegen und ermöglichte ihm, eine konkrete Person mit Vorname und Name in seinem Gedicht zu benennen. Und diese Person war nicht nur ein jüdisches Opfer der Nazis, sondern eine Frau, die sich, zumindest gemäß Schoenberners Bildlegende, der Deportation entzogen und gegen die deutsche Wehrmacht gekämpft hatte.31 Auch mag ihn 31  Andreas Degen, Bildgedächtnis. Zur poetischen Funktion der Sinneswahrnehmung im Prosawerk Johannes Bobrowskis, Berlin 2004, 370. Degen verweist darauf,



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seine eigene Vergangenheit als Wehrmachtssoldat bewogen haben, über die fragliche Fotografie ein Gedicht zu verfassen. Und schließlich hat ihn offensichtlich die Ambivalenz der korrekt auftretenden, aber eine mörderische Absicht hegenden Offiziere als eine zentrale Aussage der Abbildung thematisch interessiert. Bobrowski sah in dem im Grundsatz leicht verständlichen und wenig verschlüsselten Gedicht keine Abkehr von andern, damals entstandenen Gedichten. Vielmehr begründete er die für sein Werk atypische Form des Gedichts BERICHT mit der Befürchtung, dass Inhalte solcher Art keine »Poetisierung« vertrügen.32 Die Fotografien von Bajla Gelblungs Verhör fanden 1939 über die Grenzen Deutschlands hinaus Beachtung. Die Schweizer Illustrierte Zeitung als Presseerzeugnis eines kleinen, neutralen Staates heroisierte zu Kriegsbeginn den Kampf der polnischen Armee und der Bevölkerung gegen die übermächtige deutsche Wehrmacht. Eine der Aufnahmen von Bajla Gelblung wurde deshalb auf die Titelseite der Ausgabe vom 27.  September 1939 gesetzt. Die Redaktion wählte eine Fotografie aus, welche die Festgenommene von vorn zeigt. Sie ist auf der originalen Aufnahme umringt von drei deutschen Offizieren, und man hat den rechten Bildrand für das Titelblatt beschnitten und den Bildausschnitt zusätzlich verändert, indem die Fotografie nach unten erweitert wurde. Das so entstandene Hochformat verleiht der polnischen Heldin mehr Präsenz. Ihr Nachname wird in der Legende ebenso unterschlagen wie ihre Warschauer Herkunft. Zudem wird auf den abschätzigen Begriff »Ghettojüdin« verzichtet: Offensichtlich war die Illustrierte bestrebt, nicht die jüdische Herkunft der Verhörten, sondern ihre polnische Staatsbürgerschaft hervorzuheben. Die Fotografie, welche in einem andern Raum als die bei Schoenberner abgebildete aufgenommen worden ist, wirkt durch die grelle Beleuchtung mit harten Schatten sowie die weiß gekachelte Wand im Hintergrund bedrohlich, da die Szenerie Assoziationen an einen Exekutionsraum weckt. Alle Personen auf der Fotografie tragen Mützen, auch Bajla Gelblung. Der Offizier am linken Bildrand ist Brillenträger, seine Kopfbedeckung wirkt zerknittert. Hingegen tragen auf der bei Schoenberner publizierten Fotografie alle drei Wehrmachtsangehörigen nebst einem Leibgurt auch einen dass in den späteren Gedichten mit jüdischer Thematik fast ausschließlich Frauen porträtiert werden. 32  Schreiben Bobrowskis an Ad den Besten vom 31.10.1961, zitiert aus Johannes Bobrowski, Briefe 1937–1965, 4 Bde., Göttingen 2017, Bd. 3, 153. Das Gedicht BERICHT gefiel Ad den Besten offenbar nicht. Bobrowski rechtfertigte sich und stellte fest: »Es ergab sich vom Anlaß so, einem Foto – und von meiner Befürchtung her, Inhalte solcher Art vertrügen keine ›Poetisierung‹.«

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zusätzlichen, wohl zu einer Patronentasche gehörenden Gurt über den Waffenröcken, und zwei von ihnen haben Schirmmützen aufgesetzt. Dafür hat man Bajla Gelblung die Mütze abgenommen, wodurch sie sich als Angeklagte stärker von den Offizieren abhebt. Es scheint sich also um zwei verschiedene Verhöre in unterschiedlichen Räumen zu handeln, die offenbar auch von verschiedenen Wehrmachtsangehörigen durchgeführt worden sind. Nicht abschließend zu beantworten ist die Frage, inwieweit die Szenen gestellt sein könnten. Auf der bei Schoenberner publizierten Aufnahme sind die Offiziere betont korrekt gekleidet, worauf ja auch Bobrowski im Gedicht BERICHT Bezug nimmt. Die Legende am unteren Bildrand der Titelseite der Schweizer Illus­ trierten vom 27.  September 1939 lautet: Kampf bis zum letzten Blutstropfen Unaufhaltsam sind die Deutschen in Polen vorgerückt. Mit wahrer Todesverachtung und ungebrochenem Kampfgeist wird mancherorts noch gekämpft. Angesichts der Übermacht des deutschen Heeres greifen die Verteidiger, um sich erfolgreich behaupten zu können, zu den letzten Mitteln. In der Nähe von BrestLitowsk organisierte eine Polin zersprengte militärische Truppen, die den Deutschen in erbittertem Kampfe viel zu schaffen machten. Als der Widerstand gebrochen war, versuchte die Anführerin in einer Soldatenuniform zu fliehen, wurde von deutschen Patroullien aber aufgegriffen und  – nach Kriegsrecht  – wahrscheinlich erschossen. Die wehrhafte Polin Baila wird von deutschen Offizieren verhört.

Die Botschaft der Legende in der Schweizer Illustrierten Zeitung ist in Bezug auf den Kampf der Polen gegen die übermächtigen Angreifer ambivalent. Einerseits ist von ›wahrer Todesverachtung‹ und ›ungebrochenem Kampfgeist‹ die Rede, zum andern wird mit dem Hinweis, dass ›noch‹ gekämpft und dabei zu den ›letzten Mitteln‹ gegriffen werde, die Leserschaft auf die Niederlage der polnischen Armee vorbereitet. Im Wesentlichen folgt die Bildlegende den durch die Deutsche Wehrmacht zur Verfügung gestellten Informationen, interpretiert sie aber neu. Schon in Schoenberners Bildlegende und selbst im originalen Propagandatext der Nazis zur Fotografie des Verhörs von Bajla Gelblung wird die Stadt Brest-Litowsk erwähnt, deren Name im Gedicht BERICHT an zentraler Stelle am Ende des achten Verses erscheint. Er erinnert zum einen an den Frieden von Brest-Litowsk zwischen Russland und Deutschland im März 1918, aber auch an die Besetzung der Stadt im September 1939, die nicht bloß für die Geschichte Polens, sondern für jene Europas im zweiten Weltkrieg von eminenter Bedeutung war. Brest-Litowsk steht für die Umsetzung des geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Paktes, welcher die Interessensphären der beiden Mächte bei einer ›territorial­



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Abb. 4: Titelseite der Schweizer Illustrierten Zeitung Nr. 39 vom 27.  September 1939 mit dem Verhör von Bajla Gelblung.

politischen Umgestaltung‹ Osteuropas, namentlich der baltischen Staaten und Polens, regelte. Nur wenige Tage nach der Unterzeichnung des Paktes überfielen Truppen der deutschen Wehrmacht Polen, und zweieinhalb Wochen später überschritt auch die Rote Armee die Grenze dieses osteuropäischen Staates. Die vollständige Besetzung und Aufteilung des Landes erfolgte nach dem geheimen Zusatzprotokoll. In jenen Tagen, in denen Bajla Gelblung festgenommen wurde, trafen die Truppen der deutschen Wehrmacht und jene der Roten Armee bei Brest-Litowsk aufeinander. Dieselben Fotografen, die das Verhör der Widerstandskämpferin dokumentierten, machten auch Fotos von den einträchtig miteinander plaudernden und rauchenden Soldaten der beiden Armeen und den Verhandlungen der Offiziere. Es ist nicht zu entscheiden, inwieweit Bobrowski die Tragweite der Nennung der Stadt Brest-Litowsk im Gedicht BERICHT bekannt gewesen sein mochte; was er sicherlich nicht wissen konnte, war die zeitliche Koinzidenz des Verhörs mit dem Zusammentreffen der beiden Armeen, da er davon ausgegangen sein musste, dass Bajla Gelblung erst Jahre später bei einem Transport aus dem Warschauer Ghetto geflohen war. In Wirklichkeit aber könnte die Partisanin im September 1939 bei der

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verzweifelten Verteidigung polnischen Bodens zwischen die Fronten der beiden vorrückenden Eroberungsarmeen geraten sein. Doch vielleicht ist der Kontext auch banaler und perfider. Denn es ist nicht auszuschließen, dass Bajla Gelblung zu jener Gruppe von Flüchtlingen gehört hat, die von den Fotografen Heinz Boesig und Max Ehlert in Brest-Litowsk kurz vor dem Verhör aufgenommen worden sind, und dass ihr einzig der Mantel und die Mütze einer polnischen Militäruniform, die sie zufälligerweise getragen hat, als die Gruppe aufgegriffen wurde, zum Verhängnis geworden sind. Die Klärung der Herkunft, Autorenschaft und Datierung der Bildvorlage, die dem Gedicht BERICHT zugrunde liegt, hat letztlich mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Zwar steht fest, dass die Fotografie des Verhörs in der dritten Kriegswoche von namentlich bekannten Fotografen der Propagandakompanien der deutschen Wehrmacht in Brest-Litowsk aufgenommen worden ist. Es existieren von dem Verhör, das in zwei unterschiedlichen Räumen stattgefunden haben muss, mehrere Fotos. Inwieweit die Aufnahmen gestellt sind, lässt sich hingegen nicht abschließend entscheiden. Auch bleibt es im Dunkeln, weshalb das Verhör in den beiden Räumen von verschiedenen und anders uniformierten Wehrmachtsangehörigen durchgeführt worden ist. Über Bajla Gelblung ist letztlich nichts bekannt; sie könnte eine Widerstandskämpferin gewesen sein, aber vielleicht auch nur einer Flüchtlingsgruppe angehört haben. Was die deutsche Wehrmacht unter »Mordbanden« versteht, von denen die Festgenommene eine angeführt haben soll, kann nur vermutet werden. Einer vertieften Analyse schließlich harrt die Frage nach der Legendenbildung, zu der sowohl Schoenberner als auch Bobrowski entscheidend beigetragen haben. Schließlich konnte im Zuge dieser Arbeit die historische Herkunft des Nomens »Ghettojüdin« nicht hinreichend geklärt werden. Das Gedicht BERICHT wird nach der Aufdeckung der geschichtlichen Hintergründe der Fotografie, auf die es Bezug nimmt, auch in Zukunft als eines der bekanntesten und bedeutendsten in Bobrowskis lyrischem Werk in Anthologien und Schullesebüchern verbleiben. Seine Fiktionalität wird indessen klar von der wenigstens ansatzweise rekonstruierbaren Realität zu trennen sein.

Phantasmatisches Erinnern als Dimension lyrischer Memoria Zur Meditationsfunktion eines Gedichts von Günter Eich Von Carsten Dutt

Mathias Mayer gewidmet Abstract What follows is a close reading of Günter Eich’s late poem Augsburg (1971). Emphasizing a specifically aesthetic interpretation, it focuses on the poem’s lyrical staging of phantasmatic memory and its self-unfolding as an extraordinarily dense, allusion-laden, and profoundly skeptical meditation on unredeemable, albeit longpast, suffering. By doing so, the article makes a case for understanding literary understanding as both essentially knowledge-dependent and experiential. Augsburg

Das träge Licht.



Ich badete gern mit Agnes Bernauer aber sie ließ sich in Straubing in einen Sack nähen.

  5 Das Licht soll schnell sein, aber es erreicht mich nicht. 10

So fand sie eine Möglichkeit mir zu entfliehen, träge wie Licht schnell wie Licht.1

1  Zitiert nach: Günter Eich, Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Aus­ gabe, Bd. I: Die Gedichte. Die Mau­l­würfe, hg. Axel Vieregg, Frankfurt a. M. 1991 (fortan: GW I), 184. Ausweislich der Datierung eines im Nachlass Eichs erhaltenen Manuskripts entstand das Gedicht am 09.12.1971 (vgl. GW I, 507). Entwürfe und Varianten scheinen nicht überliefert zu sein. Erstmals veröffentlicht wurde Augsburg in Eichs letzter, nur zehn Texte umfassender Gedichtsammlung Nach Seumes Papieren, Darmstadt 1972 (= Das Neueste Gedicht, Bd. 51), o. S. Die dritte Versgruppe (v. 5 f.) wurde dabei fälschlicher­weise doppelt abgedruckt.

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Augsburg ist eines der letzten Gedichte Günter Eichs und unter diesen in gleitenden Paradoxien das schönste: zehn Zeilen eines lyrischen Weltentwurfs, der seine to­po­graphischen und histori­schen Bezüge phantasmatisch transzendiert – so allerdings, dass die dabei ins Werk gesetz­ten Bilder des Begehrens und Entrinnens in bizarrer Brechung an Katastrophales, die Ermor­ dung der Agnes Bernauer im Jahre 1435, erinnern und in dieser Funktion zu Motiven eines nicht sowohl evasiv umgangenen, als vielmehr poetisch intensi­vierten Leidens­ge­dächt­­nisses werden. Im Horizont der Ortsangabe seines Titels, die alles, was auf sie folgt, referentiell erdet, von allem, was folgt, freilich auch subtil metaphorisiert, mit dem Nebensinn eines durch die Kombination seiner Bestandteile bildhaft sprechenden Kompositums ausgestattet wird  – Augs-Burg  –, beginnt das Gedicht maximal langsam, nach Inhalt und Ausdruck statarisch. Zu lesen ist ein im Druckbild isolierter Vers, der von einem Punkt abgeschlossen wird. Seine jambisch rhythmisierte und markant stumpf kadenzierte Nominalphrase evoziert eine Weise des Erscheinens, der phäno­ menalen Gegebenheit von Licht  – eben jetzt vor Ort im Anblick erfasst oder aus der Erinne­ rung an Augsburg aufsteigend. (Die lokalen und temporalen Konturen der gedichtinternen Sprech­­ situa­ tion bleiben trotz des deiktischen Artikels unbestimmt.) Anders als buchstäblich von trübem Licht spricht man metaphorisch von trägem Licht selten, aber eingängig erfahrungsnah. In der Tat dürfte es nicht schwerfallen, die anschau­ liche Evidenz der Metapher, einer Dispositions­metapher auf dem Wege zur Konventio­nali­tät,2 an Wahr­neh­ mun­gen im Freien oder auch in Innenräumen, Kirchen etwa, zu illustrieren. Bestimmte Streuun­ gen natürlichen oder künstlichen Lichts wirken träge und werden metaphorisch passend so be­zeichnet. Im Unter­schied zu kühnen, forciert widerstimmigen Metaphern3  – man denke vergleichshal2  Vgl. die rund 120 Google-Treffer, die man bei Eingabe der Syntagmen »das träge Licht« und »träges Licht« erzielt. 3  Zum metapherntheoretischen Gebrauch des aus Husserls Bewusstseinstheorie entlehnten Begriffs der ›Wider­stim­mig­keit‹ siehe Hans Blumenberg, »Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit«, in: ders.: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a. M. 1979, 75–93, hier 78: »Betrachtet man das Bewußtsein, sofern es von Texten ›affiziert‹ wird, mit der Phänomenologie als eine intentionale Leistungs­struktur, so gefährdet jede Metapher deren ›Normalstimmigkeit‹. / In den funktionalen Übergang von bloßer Vermei­nung zu anschaulicher Er­ fül­lung setzt sie ein heterogenes Element, das in einen anderen als den aktuellen Zusam­men­hang verweist.« Ersichtlich lassen diese Bestimmungen gradweise Differenzierungen zu. Erfahrungs­abhängig kennen wir nun einmal krassere und weniger krasse Formen von Heterogenität.



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ber an Brentanos Prägung »das lachende Licht«4 oder an die in einer Erzählung Ernst von Wildenbruchs begegnende Wendung »das stumme Licht«5  – fordert die Metaphorik des hier notierten Bildes größere Rückübertragungsanstrengungen zur Herstellung hermeneutischer Konsistenz und Fasslichkeit nicht heraus. Und dennoch, kraft seiner Form lässt der Eingangsvers »Das träge Licht« nicht nur alles Vedutenhafte, das sich vom Titel her erwarten ließe, hinter sich; er übertrifft und distan­ziert auch den in ihn investierten Rekurs auf phänomenal Typisches und metaphorisch Nahe­­­liegendes. ›Kraft seiner Form‹, das heißt hier: kraft des largo-Effekts seiner typo­gra­phi­schen Isolierung, der diesen Effekt steigernden Stumpfheit und Schwere seiner Kadenz sowie der syntaktischen Trägheit seiner verblosen Konstruktion gewinnt der Gedichteinsatz die ästhe­ti­sche Qualität eines Gebildes, das verkörpert, nämlich  – entsprechend einem Begriff der Sym­bol­­­theorie Nelson Goodmans  – exemplifiziert, worauf es eigen­ schafts­deskriptiv Bezug nimmt.6 Den resultierenden Redegestus hatte ich als statarisch gekenn­zeichnet; noch einen Deut genauer dürfte es sein, ihn meditativ zu nennen und damit eine Kategorie aufzunehmen, die für die poetologischen Reflexionen des späten Eich bestimmend wurde. »Meine neuen Texte geben keine Gedanken mehr wieder, sie sind bereits Meditationen«, ließ Eich 1971 in einem Interview wissen;7 und schon einige Jahre zuvor, 1968, hatte er in eine ›private Wunschliste‹ zum Thema »Das und so möchte ich schreiben« den Eintrag aufgenommen: »Gedichte, die meditiert, nicht interpretiert werden müssen.«8 Ob der damit statuierte Gegensatz von Meditation und 4  Clemens Brentano, »[O wie so oft]«, v. 22f: »Ach da stürzte zum Herzen die Welle / Und das lachende Licht in die fin­­ste­ren Sterne« (Clemens Brentano, Gesammelte Gedichte, hg. Karl-Maria Guth, Berlin 2017, 335 f.). 5  Ernst von Wildenbruch, Das wandernde Licht. Novelle, Stuttgart 1893, 10. 6  Zur einschlägigen Definition von Exemplifikation siehe Nelson Goodman, Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, Indianapolis/Cambridge 1968, 53: »Exemplification is possession plus reference«, sowie ebd., Anm. 5: »[…] exemplification is the relation between a sample and what it refers to«. 7  »Die etablierte Schöpfung. Ein Gespräch mit dem ›neuen‹ Günter Eich«, in: Eich, GW IV, 533 f., hier 534. 8  »Das und so möchte ich schreiben«, »Thesen zur Lyrik«, in: ebd., 513 f., hier 513. Vgl. auch »Günter Eich im Gespräch mit Schülern der Droste-Hülshoff-Schule in Berlin Zehlendorf« (1970), in: ebd., 519–529, hier 521: »Ich würde sagen, man muss diese Dinge meditieren – was schwer aufschreibbar und ein etwas verschwom­ mener Begriff ist, weil in der Tat dort viele Freiheiten bestehen. Sie können ein Gedicht in der Tat so meditieren, wie es der Autor nicht meditiert hat; aber das muß auch möglich sein. Wenn der Leser aber anfängt zu interpretieren, dann würde ich sagen: Halt! Du darfst hier meditieren, soviel du willst, und dabei in diese oder jene

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Inter­pretation ein sinnvoller Gegensatz ist, bleibe hier unerörtert.9 Unter gestalt- wie gehaltsästhe­tischen Gesichts­punkten scheint mir das Interpretament ›Meditation‹ für Eichs Spätlyrik jedoch allemal erhellend zu sein  – sofern man dabei nur jede Vorstellung von religiös hinterfangenen, dogma­ tisch einge­hegten oder psychohygienisch-selbsttherapeutisch funktionali­ sierten Geistes­übun­gen und Bewusst­seins­stellungen fernhält. Von diesen, den variantenreichen (und zweifellos unter­einander sehr niveau­verschie­de­ nen) Formen einer Welt und Ich harmoni­ sie­ renden Medita­ tions­­ literatur kehren sich die Texte Günter Eichs mit spröder Lakonie und einer in ihren Gründen unauslotbaren Skepsis ab.10 Dies wird gesteigert deutlich, wenn man die Eröffnung des hier interessierenden Gedichts nicht unliterarisch impressionistisch als Versprach­ lichung eines Sinnesein­ drucks oder stimmungs­ lyrisch als Ausspiegelung einer Atmosphäre liest, in inter­ textueller Tiefenerstreckung vielmehr als bestimmte Negation anspielungsweise aufge­ru­fe­ner Bestände und Muster okzidentaler Lichtsymbolik, Lichttheologie und Licht­ metaphysik: von 1. Mose 3 f. (»Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht! Und Gott sah, dass das Licht gut war.«), Jes 60, 1 (»Mache dich auf, werde licht! Denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir!«), Joh 1, 5 (»Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht begriffen.«) und 8, 12 (»Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.«) über die einschlägigen Lehren und Bilder des Neuplatonismus bis hin zu neuzeitlichen Ausprägungen der Rede vom Licht als der Weltpräsenz Gottes bzw. des lebens- und heilsspendenden Guten.11 Richtung abschweifen. Ich möchte aber immer sagen: Bleib bei dem Text, bleib bei dem, was dasteht, und schweif nicht uferlos in ferne Regionen!« 9  Richtig ist sicher, dass alle Formen reduktiver Interpretation – ich denke dabei nicht nur an tiefen­hermeneu­tische, psychohistorische oder ideo­logiekritische Reduktionen, vielmehr an jedwede Art von Auslegung, die Kunstwerke, darun­ter Gedichte, als Gefäße verlustfrei (und typischerweise satzförmig) extrahierbarer ›Bedeutungen‹ missversteht – die essentielle Experientialität medita­tions­ästhetisch angelegter Werke verfehlen müssen. Siehe hierzu im Folgenden Anm. 25. 10  Speziell zur Figuration von Skepsis in Eichs Spätlyrik und der dabei realisierten Poetik des Verschweigens von Gründen siehe meinen Aufsatz »Breviloquenz des Verschweigens. Metapoetische Lakonismen im Spätwerk Günter Eichs«, in: Franz Fromholzer/Mathias Mayer/Julian Werlitz (Hgg.), Nanotextualität. Ästhetik und Ethik minimali­stischer For­men, München 2017, 225–236. 11  Vgl. statt anderer Herders enthusiastische Versicherung: »Was dort in der ganzen Natur lacht und lebt, Ideen gibt, frohlockt, erzeugt, wärmt – ist Licht, ist Gott« (Johann Gottfried Herder, Älteste Urkunde des Menschengeschlechts [1774], in: Herders Sämmtliche Werke, hg. Bernhard Suphan, 33 Bde., hier Bd. 6, Berlin 1883, 221).



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Gegen diesen Hintergrund wie obendrein gegen den Hintergrund eines ganzen Spektrums kontrastiv mitaufgerufener, durch Figuren des Anklangs in der Abweichung appräsentierter Wendungen  – »das strahlende Licht« am einen Ende des Spektrums, »die träge Masse« und »das träge Herz« am anderen  – beginnt Augsburg als Meditation eines sinnlich-übersinnlichen modus deficiens. Alles Weitere bleibt auf diesen Einsatz und sein verssprachliches Verharren, das in der Tat, nach Eichs poetologischer Pro­ grammatik, »keine Gedanken mehr wieder[gibt]«, sich demgemäß auch nicht auf Gedanken redu­zieren und schon gar nicht durch Ja/Nein-Stellungnahmen seitens des Lesers in den Griff nehmen lässt, bezogen. Man beachte, wie kunstvoll das Gedicht den Übergang vom ersten zum quasi-strophisch abgesetzten zweiten Vers organisiert: Ein übergreifender Reim deutet sich an, kippt aber in die Inkongruenz, den markierten Bruch eines Halbreims: »[…] Licht. // Ich […]«. Und noch zwei weitere Male wird das Mittel des Halbreims zum Einsatz kommen: am Ende des dritten Verses mit erneutem  – will sagen: erneut irritiertem  – Rückbezug auf die Kadenz des Eröffnungsverses (»sich«3 → »Licht«1) und nochmals gesteigert am Ende des sechsten Verses, das einen Schlagreim starten und kollabieren lässt: »[…] mich nicht«. Der verssprachliche Spannungsreichtum der besagten Stelle ist damit freilich nicht erschöpft. Denn in eins mit dem Entzug des Schlagreims stellt die Einsetzung des Negationsadverbs »nicht« ja eine klanglich reine, semantisch hingegen oppositive Relation zu den vorgängigen Instanziierungen des Wortes »Licht«1,5 her: Echo und Verneinung zugleich. Natürlich sind dies keine Ornamente beiher, sondern formsprachliche Korrelate, Versinnlichungen, wenn man so will, des Gedichteten und damit Medien der Selbstpräsentation des Gedichts. Dies gilt selbstverständlich auch für ihren textinternen Ausgleich in Gestalt jenes doppelgliedrig identischen Reims, der die parallel gebauten Schlussverse verbindet: »[…] wie Licht / […] wie Licht.« Just im Gegenzug gegen das zuvor dominierende Prinzip des gestörten Reims gewinnt dieser – falls der Ausdruck brauchbar ist  – super-identische, versagten Gleichklang überreich erstattende Reim seine wachtraumartige Intensität. Angemessen, explikativ dicht, lässt sich von solchen Form­eigen­schaften indessen nur mit Bezug auf die Inhaltsseite des Gedichts handeln. »Ich badete gern mit Agnes Bernauer« ist eine Aussage, deren Modus schillert – wenn nicht auf den ersten, so doch gewiss auf den zweiten und dritten Blick. Handelt es sich um die Formulierung eines Wunsches, um Konjunktiv II also, oder liegt hier ein Berichtsatz im Präteritum vor? Und wie wäre ein solcher Berichtsatz seinerseits aufzufassen? Als phantasmatische Projektion des konjunktivisch Begehr­ ten  – oder im Gegenteil als authentische Erinnerung an Gewesenes? Im Kontext ist beides möglich.

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Und da beides möglich ist, verschwimmt mit dem Modus der Aussage  – Wunsch, Phantasma oder Erinnerung?  – in leiser Paradoxie auch die Identität ihres Subjekts. Wer spricht? Wer sagt hier ›ich‹? Doch wohl die Stimme, deren meditativen Ton wir eingangs vernahmen. Aber wessen Stimme ist das? Aus der (sei’s perzeptiven, sei’s mnestischen, jedenfalls largo redenden) Versunkenheit in Augsburgs träges Licht geht sie unversehens in ein Bekenntnis erotischer Attraktion über  – freilich, die desultorische Schwenkung zur nachvollziehbaren, durch lokale Kontiguität motivierten Assoziation mildernd, auf ortshistorischer Grundlage12; wobei in der wellenartig spielenden Bewegung des Verses neben rhythmischen Mitteln wiederum ein Reimansatz zur sprachsinnlichen Intensivierung des Gesagten beiträgt. Ich meine die Flüchtigkeit, das geradezu Huschende des in seinem Namensversteck nur eben punktuell aufblitzenden Binnen­ reims »gern […] Bernauer«. Natürlich muss man, um das eigentümliche Oszillieren zwischen optativem, phantasma­tischem und elegisch nachgenießendem Sprechen überhaupt wahrnehmen zu können, über allerhand einschlägige Kenntnisse verfügen. Man muss wissen, dass die Augsburger Bader- oder Bader­knechtstoch­ter Agnes Bernauer, der Legende nach ebenso hinreißend schön wie sozial ambitioniert, ein Mensch des frühen 15. Jahrhunderts war; dass sie dem Bayerischen Herzogssohn Albrecht, dem späteren Albrecht III., während eines Turniers in Augsburg im Jahre 1428 auffiel und angenehm ward; dass Albrecht sie an seinen Hof nach München holte, zu seiner Konkubine, einigen Quellen zufolge sogar zu seiner rechtlichen Ehefrau machte  – und dass Agnes schließlich im Oktober 1435 auf Geheiß von Albrechts Vater, des um die dynastischen Interessen des Hauses Bayern-München besorgten Herzogs Ernst, in der Donau bei Straubing ertränkt wurde, qualvollerweise eingenäht in einen Sack, wie es die Chronik des Johannes Aventinus aus dem Jahre 1521 berichtet.13 Soweit in Mini­mal­­form der von Eichs Gedicht vorausgesetzte und in festgehaltenen Imaginationen über­schrit­te­ne Fakten­ hinter­grund – über­schritten und freilich nicht vernichtet.14 12  Eine weitere, nicht in Weltwissen, sondern in Sprachwissen verankerte Assoziationsbrücke darf man sicher in der Hinter­­grund­metapher ›im Licht baden‹ sehen. 13  Vgl. zum Ganzen Alfons Huber,  Agnes Bernauer im Spiegel der Quellen, Chronisten, Historiker und Literaten vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Ein Quellenund Lesebuch, Straubing 1999. 14  Zur kunst- und literaturtheoretischen Relevanz des auf Théodule Ribot zurückgehenden Begriffs der ›festgehaltenen Imagination‹ (vgl. dazu ders., Essai sur l’imagination creátrice, Paris 1900) siehe Jean Starobinski, »Grundlinien für eine Geschichte des Begriffs der Einbildungskraft«, in: ders.: Psychoanalyse und Literatur, Frankfurt a. M. 1973, 3–23.



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Im zweiten Vers, so sagte ich, geraten Ich- und Zeit-Grenzen in Bewegung. Zunächst die zwischen der lyrischen persona des Autors und der historischen Figur jenes Herzogssohns, von dem man Kenntnis haben muss und annehmen darf, dass er dereinst tatsächlich mit Agnes Bernauer »badete«. Wer sagt hier ›ich‹? Das lässt sich nicht sagen. Und weil es sich nicht sagen lässt, intrigiert uns diese Überblendungstechnik. Mit dem adversativen Anschluss des auf die Verse 4 und 5 verteilten Präteri­talsatzes bricht sich dann in unverkennbarem Bruch mit dem Wahrheits- und Wahrschein­lichkeits­spielraum des geschichtlichen Sujets die erste der drei massiven, je nach Naturell und Fassungskraft, ethisch-ästhetischer Ansprechbarkeit und meditativem Vermögen des Lesers befremdenden oder ergreifenden Para­doxien des Gedichts Bahn: »aber sie ließ sich in Straubing in einen Sack nähen«. Wir wissen, dass es so nicht war. Was Agnes Bernauer geschah, geschah ihr nicht freiwillig, nicht in aktiver Passivität; und ebenso wenig ging es »in Straubing« um Schutz und Versteck vor erotischen Nachstellungen und erotischer Nähe. Und weil wir dies wissen (oder dem Kalkül des Gedichts entsprechend doch wissen sollten), muss uns das, was Eichs Verse unter der Redemaske enttäuschten Begehrens kontrafaktisch sagen und suggerieren, auf die entsetzlichen Fakten selbst zurückwerfen. Das bizarre, ja im Grunde schreckliche, obendrein durch das Zögern modellierende Enjambement in seinem verssprachlichen Auftritt und expressiven Gewicht dramatisierte Bild des Entkommens ›in einen Sack‹ ist jedenfalls kein vom Leser tel quel nachzuvollziehendes, Beistimmung und Einfühlung erheischendes Vorstellungs­ angebot. Schillernd zwischen beißender Ironie und frivoler Resignation, blankem Irrtum und psychischer Abwehr handelt es sich vielmehr um eine provozierende Geste, die Gegenmotive mobilisiert, allen voran das Gegenmotiv einer wahrheitsgemäßen Intention auf das Geschehene und als geschehen Bezeugte. In Anknüpfung an die nachhaltig beliebte Beschäftigung mit unzuverlässigen, in dieser oder jener Hinsicht – informationell, moralisch, weltanschaulich  – fragwürdigen Erzählern ließe sich inso­weit wohl von einem fragwürdigen, als Berichterstatter wie als stellungnehmende Instanz  – die Grenzen zwischen den Diskursrollen sind fließend – unzuverlässigen lyrischen Ich sprechen.15 Aber solche Etikettierungen sagen wenig, solange sie 15  Zur Vielgestaltigkeit des Phänomenbereichs, den das Etikett „Unzuverlässigkeit“ literaturtheoretisch und näherhin narratologisch visiert, vgl. Wayne Booth, The Rhetoric of Fiction, 2Chicago 1983, 156 und 158 f.: »The narrator may be more or less distant from the implied author. […] If he is discovered to be untrustworthy, the total effect of the work he relays to us is transformed. / Our terminology for this kind of distance is almost hopelessly inadequate. For lack of better terms, I have called a narrator reliable when he speaks in accordance with the norms of the work

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nicht über die spezifischen Zwecke der literarischen bzw., in diesem Fall, poetischen Inszenierung von Unzuverlässigkeit, Frag­würdigkeit, Devianz Auskunft geben. Dass es in Eichs Gedicht um mehr und anderes geht als um die selbstgenügsame Modellierung selbstgenügsam exzentrischer Perspektiven, der Hin-und-Her-Züge subjektiven Humors im Hegel’schen Sinne16, um mehr und anderes auch als ein aus anarchischen Impulsen oder Degout vor tourismus- und festspielindustriell verding­ lichtem Geschichts­­wissen17 gespieltes Spiel mit dem Gegenstand, dürfte immerhin evident sein oder doch an der dritten, der m. E. sublimsten und traurigsten Versgruppe des Gedichts Evidenz gewinnen. Mit ihr wird Augsburg vollends zum Diffusionsraum seiner Ich-Referenzen:

Das Licht soll schnell sein, aber es erreicht mich nicht.

(which is to say, the implied author’s norms) unreliable when he does not. […] It is most often a matter of what James calls inconscience; the narrator is mistaken, or he believes himself to have qualities which the author denies him. Or, as in Huckleberry Finn, the narrator claims to be naturally wicked while the author silently praises his virtues behind his back. / Unreliable narrators thus differ markedly depen­ding on how far and in what direction they depart from their author’s norms; the older term ›tone‹ like the currently fashionable ›irony‹ and ›distance‹ covers many effects that we should distinguish.« Zur Unterscheidung von Typen unzuverlässigen Erzählens siehe den Überblick bei Matías Martínez/Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 7München 2007, 100–107. In der Theorie und Historiographie des lyrischen Gedichts scheint der Begriff der Unzuverlässigkeit von Sprecherinstanzen hingegen noch nicht angekommen zu sein, trotz man­cher­lei Gelegenheit in der Sache, wie sie zumal in Gestalt von Rollengedichten, aber auch subtileren Formen der distanzierenden Figuration lyrischer Subjektivität besteht. Vgl. die entsprechende Lücke im Sachregister des Handbuchs Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte, hg. Die­ ter Lamping, 2Stuttgart 2016. 16  Vgl. G. W. F. Hegel, Ästhetik, hg. Friedrich Bassenge, Berlin 1985, 574 f.: »Da sich nun der Humor nicht die Aufgabe stellt, einen Inhalt seiner wesentlichen Natur gemäß sich objektiv entfalten und ausgestalten zu lassen und ihn in dieser Entwicklung aus sich selbst künstlerisch zu gliedern und abzurunden, sondern der Künstler selber es ist, der in den Stoff hereintritt, so besteht seine Haupttätigkeit darin, alles, was sich objektiv machen und eine feste Gestalt der Wirklichkeit gewinnen will oder in der Außenwelt zu haben scheint, durch die Macht subjektiver Einfälle, Gedankenblitze, frappanter Auffassungsweisen in sich zerfallen zu lassen und aufzulösen. Dadurch ist jede Selbständigkeit eines objektiven Inhalts und der in sich feste, durch die Sache gegebene Zusammenhang der Gestalt in sich vernichtet und die Darstellung nur ein Spiel mit den Gegenständen, ein Verrücken und Verkehren des Stoffs sowie ein Herüberundhinüberschweifen, ein Kreuzund­quer­fahren subjektiver Äußerungen, Ansichten und Benehmungen, durch welche der Autor sich selbst wie seine Gegenstände preisgibt.« 17  Zum kostümseligen Stand der Dinge vergleiche man die Homepage der seit 1935 in Straubing stattfindenden Agnes Bernauer-Festspiele: https://agnes-bernauerfestspiele.de (zuletzt abgerufen am 28.03.2019).



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Da Anführungszeichen fehlen, wird man es erst im Nachhinein, vom Ende her, womöglich auch erst in zweiter oder dritter Lektüre und jedenfalls nur unter Aufwendung gedichtintern unmarkiert bleibender, also dem Leser überlassener Unterscheidungen bemerken, dass nun, nach der ihrer­ seits ›sprechenden‹, ich meine: im Augenblick der Kollision von inszenierter Kontra­faktizität und leserseitig aktiviertem Faktenwissen beklemmend evokativen Strophen­pause im Zentrum des Gedichts  – sie führt wortlos vor die Situation im Sack  – unversehens ein anderes Ich spricht (oder denkt): das imaginäre, von der zuvor schon schillernd genug ›ich‹-sagenden Instanz imaginierte Ich Agnes Bernauers. Und ersichtlich spricht (oder denkt) dieses als vorgestellt dargestellte Ich, wie man in Dunkelheit und Todesangst nicht zu sprechen (oder zu denken) pflegt: im Modus bezweifelbaren Vermutens zunächst, dann sachlich feststellend, gleich­ sam in theoreti­ scher Distanz aus einer hypothetischen Erwägung über »[d]as Licht« und seine angebliche Schnelligkeit zur sinnlichen Gewissheit seiner Grenzen findend  – an sich selbst: »Das Licht […] / […] erreicht mich nicht.« Das ist ganz ruhig, in leicht staunendem, aber völlig klag­losem Ton gesagt. Und just im Ton und emotiven Brechungswinkel dieses Redephantasmas – die ihm verssprachlich einbeschriebenen Risse und Erschütterungen waren schon thematisch  –, wird Günter Eichs Gedicht zu einer die intentionalen Sicherungen und diskursiven Konventionen gedenkender Annäherung an eine längst abgeschiedene, längst historisierte, obendrein nach Bedarf und Bequemlichkeit legendarisierte und literarisierte Gestalt hinter sich lassenden Form der poetisch ergreifenden Klage und des genuin poetisch, gegenbildlich nämlich, gesteigerten Leidens­ge­dächtnisses. Entscheidend ist natürlich, dass die imaginäre Rede in der Rede durchsichtig bleibt auf die reale Not der in Straubing im Sack Ertränkten und dass sie dergestalt zur Veranlassung wird, jener Not inne zu sein  – nicht, selbstverständlich, in sozusagen gaffenden Vorstellungen, vielmehr in reflektierter Distanz gegen die hier, in diesem Gedicht, auf paradoxe Weise, gebrochen also, ins Werk gesetzte Projektion entrückter Gefasstheit. Ein souveränes, allein um sich selbst bekümmertes Spiel mit dem Gegenstand ist dies gerade nicht. Und selbstver­ständlich ist es gleichfalls entscheidend, dass der eigentümlich limitative, anstatt von lebenspendender Ausbreitung von undurchdringlicher Beschränkung wissende ›Lichtge­danke‹, den das in seinen Grenzen poröse, gleichsam osmotische Ich des Gedichts dem Ich der Agnes Bernauer zudenkt, als Wiederaufnahme und Vertiefung der lakonischen Licht­meditation des Gedichtanfangs zu lesen und vom Leser in denkender Betrachtung zu amplifizieren ist. Letzteres etwa so: Ein Sack aus grobem Leinen und der dienstfertig entschlos­se­ne Wille zu töten – sie reichen aus, eine Finsternis zu schaffen, die keinerlei Licht erreicht, nicht

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das unfassbar schnelle Licht der Physik und vollends nicht das träge Licht einer in visuellen Erfahrungen und ihrer Metaphorisierung sich manifestierenden metaphysischen Schwermut. ›Metaphysische Schwer­mut‹ dürfte auch die richtige Kennzeichnung des Gefühlstons, der durch keine Sequenz von Propositionen auszuschöpfenden, geschweige denn zu ersetzenden Färbung18 sein, mit der  – ich deutete das schon eingangs an  – der Text des Gedichts den Ortsnamen seines Titels versieht.19 In der Tat darf man Augsburg als lyrische Meditation dieser Zusammenhänge verstehen: Verteilt auf zwei Stimmen, die Stimme des Gedenkenden und die Stimme der Toten, ist Skepsis, eine freilich nicht in Sätzen, sondern durch Bilder und formsprachliche Gebärden wie die der wiederholten Reimstörung redende Skepsis gegen das seit alters für erbauliche und konsola­torische Zwecke in Anspruch genommene Sinnamalgam von Licht und Rettung, Licht und Heil ihre Signatur. Zur Kennzeichnung des Aufbauprinzips, der charakteristischen Verlaufsgestalt des Gedichts hatte ich eingangs von gleitenden Paradoxien gesprochen und damit die Anspielung auf einen Beschreibungsbegriff riskiert, den Gerhard Neumann vor einem halben Jahrhundert zur Charakteristik der Schreibart Franz Kafkas entwickelt hat.20 Ich will das mit den gebotenen Einschränkungen unterstreichen. Denn so wenig sich in der Tat Eichs sperrige Imaginationen à propos mit Kafkas epochalem Unterminie­ rungs­werk aus »Umkehrungen der üblichen Denkverhältnisse und Ablenkungen vom Trivial­verständnis« vergleichen können, und so wenig überhaupt zwischen Kafka und Eich von philologisch nachweisbaren Einflüssen 18  Zum bedeutungstheoretischen Stellenwert, den rhetorik- und poetikgeschichtlichen Hintergründen sowie der spezi­ fisch sprachästhetischen Relevanz des Frege’schen Begriffs der Färbung vgl. Wolfgang Künne, Die philosophi­sche Logik Gottlob Freges, Frankfurt a. M. 2010, 444–454 (»Gedanklich irrelevante Inhalts­diffe­ renzen«). 19  Freilich bleibt es ein Ortsname, den jedoch das konstitutive Ganze des Textes, die zwischen Anfang und Ende ausgespannte Dynamik der in ihm vereinigten formalen und semantischen Beziehungen, mit dem Nebensinn eines metaphorischen Kompositums ausstattet  – gegen die tatsächliche Etymologie. Und man darf insoweit wohl von einer Metapher der Abweisung, des Verschlusses und der Verschlossenheit sprechen, die an Phänomene optischer Uneinnehmbarkeit, ebenso freilich an ein festungsgleich versteinertes Auge denken lässt: in Kontrastspannung zu der im Assoziations­hof des sprachlichen Bildes, seiner, mit Kant zu reden, ästhetischen Idee, hinter­gründig aufscheinenden Vorstellung vom Auge Gottes und dessen Allsichtigkeit. 20  Gerhard Neumann, »Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas ›Gleitendes Paradox‹ «, DVjs 42 (1968), 702–744. Im Folgenden zitiert nach dem Wiederabdruck in: Heinz Politzer (Hg.), Franz Kafka (Wege der Forschung, Bd. CCCXXII), Darmstadt 1980, 459–515, hier 462 f. und 468.



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die Rede sein kann, so treffend scheint mir doch die von Neumann am Beispiel Kafkas herauspräparierte Bewegungsfigur des Gleitens die in Augsburg auf engstem Raum realisierten »Abweichungen […] von der normalen Denk- und Bilderwartung« zu beschreiben: Im basalen Referenzverhältnis topisch motivierter und von vornherein lichtmeditativ eingefasster Memoria sind das lyrische Subjekt, sein dem Topischen und unverrückbar Faktischen in ihrerseits lichtme­di­tativ bezo­ge­nen Phantasievorstellungen entsteigender Gegenstand und ein Drittes: das von alldem heraus­­geforderte Wissen und Empfinden des Lesers in gleitenden Paradoxien vermittelt. Dieser Befund bewährt sich auch im Übergang zur letzten Versgruppe, die das Ganze epigrammatisch beschließt und versiegelt; nicht freilich durch eine scharfsinnig überraschende Pointe nach Art eines satirischen oder intellektuell unterhaltenden, auf Belehrung und Einsicht abzielenden Epigramms, vielmehr durch jenen »Punct der Wirkung«, von dem gegen Lessing (und Lessings Paradigma Martial) Herders auf die lyrischen Muster der Anthologia Graeca zurück­ greifende Theorie des Epigramms in Formulierungen handelt, deren gattungs­poeto­logisch berühmt ­gewordene Lichtmetaphorik von Eichs Gedicht geradezu ›mitgemeint‹, in den paradoxal schwebenden Lichtvergleichen seines Schlusses nämlich alludiert und dergestalt meta­ poetisch  – zum Zweck seiner Selbstpräsentation als Epigramm  – verarbeitet zu sein scheint: Das ganze Geheimnis ist, daß sie [die Pointe des Epigramms, C.D.] den lichten Gesichtspunct macht, aus dem der Gegenstand des Epigramms gesehen werden sollte und der nothwendig um so schöner ist, je heller und reiner, je anmuthiger oder schneidender er sein Object zeigt. Auch hier bleibt also die Exposition das Hauptwerk und die Pointe ist nur der goldene Lichtstral, der das Object erhellet und ordnet, der seine Theile sondert und sie aufs Schönste wieder zu Einem Ganzen verbindet.21 21  Johann Gottfried Herder, Anmerkungen über das griechische Epigramm, zweiter Theil der Abhandlung (1786), in: Herders Sämmtliche Werke, hg. Suphan, Bd. 15, Berlin 1888, 337–392, hier 356. Vgl. ebd., 376: »[…] wäre überhaupt der Begriff eines Stichs der Sinn des Worts Pointe? (acumen) und aller Epigramme treflichste Wirkung? / Mit nichten; der Ausdruck selbst will etwas Anderes sagen. Jeder Gegenstand nämlich, der vorgezeigt werden soll, bedarf Licht, damit er gesehen werde. Der Künstler also, der fürs Auge arbeitet, muß auf einen Gesichtspunct arbeiten und für ihn das Moment seines Subjects wählen. Was dem Künstler dieser Gesichtspunt von außen oder das Moment dieses Gegenstandes von innen ist; das ist dem Epigramm die Pointe. Der lichte Gesichtspunct, aus dem der Gegenstand gesehen werden soll, auf welchen also das Epigramm vom Anfange bis zum Ende arbeitet oder wenn es Epigramm für die Empfindung ist, das Moment seiner Energie, der letzte scharfgenommene Punct seiner Wirkung.« – Zu Herders Stellung in der Geschichte der Poetik und der poetischen Praxis des Epigramms siehe Gerhard Neumann,

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Dass der Theologe Herder insoweit theologi­sche Semantik, die Semantik der Verklärung, säkularisiert, liegt auf der Hand.22 Und es dürfte einsichtig sein, dass auf seine (sehr andere) Weise auch Günter Eichs Gedicht Arbeit an dieser Semantik leistet  – in skeptischer Meditation: So fand sie eine Möglichkeit mir zu entfliehen, träge wie Licht schnell wie Licht.

Eingeleitet durch ein anaphorisches »[s]o«  – es ist zunächst auf den in der Rede des Ich im Sack ausgesagten Sachverhalt zu beziehen, im Weiteren freilich auch auf die kontrafaktische Aussage der Verse 3 und 4  –, vernehmen wir erneut eine narrative, drittpersönlich im Präteritum sprechende Stimme und in ihr den Nachklang des in der zweiten Versgruppe inszenierten Gestus enttäuschten Begehrens. Unterm Eindruck des nunmehr dazwischen­ liegenden Rede­ phantas­ mas, dessen Erhabenheit nicht stark genug betont werden kann, ist dieser Nachklang allerdings entschieden gedämpft, nur noch wie hinter einem Schleier aus Schwermut da  – was zweifellos Auswirkungen auf das Profil des Textsubjekts hat. Wer sagt hier »mir«? Die lyrische persona Günter Eichs? Und obendrein auch wieder jener seit Jahrhunderten tote Herzogssohn? Oder redet nun allegorisch, in Form einer Prosopopöie, das Gedicht selbst von der Absenz und dem Grund der Absenz seines Gegenstandes? Oder gar  – wiederum anders und mit ent­sprechen­den Rückwirkungen auf das Verständnis von Vers 2  – das Licht, das Agnes im Sack in Straubing nicht erreichte? So oder so: Nochmals hat sich der Diffusionsraum der Ich-Referenzen des »Nachwort«, in: Deutsche Epigramme. Ausw. u. Nachw. v. G. N., Stuttgart 1969, 285–355, hier 298 ff. – Wie generell über seine Lektüren, weiß man auch über Eichs eventuelle Beschäftigung mit Herder kaum etwas. Immerhin lässt sich aus einer sarkastischen Bezugnahme auf Herders Epigramm Die Harmonie der Welt in dem 1968 veröffentlichten Maulwurf Landausflug (GW I, 338 f.) auf entsprechendes Textwissen schließen. Vgl. hierzu meinen Beitrag »Der späte Eich«, in: C. D./Dirk von Peters, Günter Eichs Metamorphosen, Heidelberg 2009, 16–23. 22  Zwar wird die Gattungsmöglichkeit des satirischen Epigramms mit der Erwähnung ›schneidender‹ Licht-, nämlich Darstellungsverhältnisse beiher konzediert; das eigentliche Interesse Herders gilt aber ganz unver­kenn­bar einem verklärenden, Anmut und Schönheit sichtbar machenden (Darstellungs-)Licht, was man mit der für seine Theorie zentralen Betonung der ursprünglichen Inschriften- und Memorialfunktion des Epigramms zusammensehen muss: »Mit einer Inschrift nehmen wir gleichsam Besitz von dem geliebten Gegenstand« (Herder, Anmerkungen über das griechische Epigramm, 392). Und: »Die Seele des griechischen Epigramms ist Mitempfindung. Man muss einen Gegenstand genießen, ihn mit Liebe oder Ruhe anschauen, ihn gleichsam mit- und durchempfinden können, damit er in und aus uns rede […]« (ebd., 219).



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Gedichts angereichert, gleichsam mystisch entgrenzt; und es verriete ein einigermaßen amusisches Verständnis literarischer Interpretation, wollte man den Versuch machen, diesen Diffusionsraum aussortierend zu beschneiden. Wer spricht, bleibt offen, im bezeichneten Spielraum der Bezüge und Beiklänge unbestimmt, denn alles Genannte spricht mit  – die Beiklänge prosopopöietischer Fiktion und Rede inklusive. Vorrangig wichtig für die Konstruktion des Gedichtschlusses ist allerdings das durch seine Endstellung im ersten Vers der letzten Versgruppe herausgehobene und wie für einen Augenblick intensiven Bedenkens stillgestellte Allerwelts- und Philosophenwort ›Möglichkeit‹. Ein in der Tat in vielerlei Kontexten kurrentes und passendes Wort, im vorliegenden Kontext jedoch ein ungeheures Paradox, in dessen Gebrauch sich bitterste Ironie und der Ausdruckswert eines auf skurrile  – in der schon zitierten Terminologie der Narratologen würde es blasser und mit einem abwegigen Anhauch von Tadel heißen: ›unzuverlässige‹  – Weise vor sich hin phantasierenden Protests gegens Realitätsprinzip verschränken. Denn es ist ja der Verlust aller Möglichkeiten im Tode, den das Wort »Möglichkeit« hier der Sache nach bezeich­ net  – in einem Syntagma, dem der Phraseologismus »den Tod finden« als konnotativer Schatten beigesellt ist. Wiederum also hat man dem Paradox die Funktion einer gegenbildlichen und durch Gegenbildlichkeit erschütternden Textstrategie zuzuerkennen. Nicht auf Beschönigung oder Verbrämung, sondern im Gegenteil auf die ausdrucksästhetische Emphati­ sierung und wirkungsästhetische Intensivierung der Augsburg untergründig durch­­ herr­ schenden Referenz auf den Tod, das Zu-Tode-Kommen und Getötet-Werden, ist sie gerichtet. Und fraglos sind auch die abschließenden Vergleiche  – sie fungieren adverbial, als Kenn­ zeichnun­gen der Art und Weise des ›Entfliehens‹, von dem wir wissen, dass es ein mit grausamer Gewalt erzwungenes Verschwinden ins Dunkel war  – aus dieser Referenz zu verstehen. Dass sie die Lichtmeditation des Gedichts und die in sie eingeschalteten Bruchstücke phantasma­ tischen Erinnerns eng- und zu Ende führen, ist offensichtlich; wie und zu welchen Effekten sie dies tun, jedoch rein textimmanent nicht angemessen zu beschreiben. Denn in noch weit höherem Maße als der Eröffnungsvers sind die beiden Schlussverse intertextuell bezogene und entsprechend assoziations­trächtige Texteinhei­ten. Wie schon vermerkt, erlauben, ja erheischen sie eine Lesung, nach der sie Herders verklärungs­ theologisch inspirierte Lehre vom rechten, nämlich lichten Abschluss eines Epigramms auf kühne Weise beim Wort nehmen. Die Frage, ob der gattungs­poetologisch einsichtige Herder-Bezug denn vom Autorwillen gedeckt sei oder nicht, muss nach den Evidenzkriterien rigide positivistischer Fassungen des hermeneutischen Intentionalismus freilich

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als unentscheidbar gelten. Und selbst wenn man sich von entsprechenden Beengungen in der Beweisführung freimacht und unter Maximen ästhetischer Wertmaximierung für eine affirmative Antwort optiert, muss man wohl einen eso­terischen Zug, den Zug einer Anspielungs­kunst für Kenner, darin finden. Hinreichend plausibel und durchaus nicht auf Spezialkenntnisse über die Geschichte und Poetik des Epigramms angewiesen dürfte hin­gegen der Befund sein, dass Eichs Lichtvergleiche als motivische und performative Kontra­ fakturen des durch Lichtanalogien definierten Vergleichsformelschatzes alt- und neutestamentlicher Theologie23 angelegt und in dieser Funktion vor allem darauf berechnet sind, Mt 17, 2, das in unserer Tradition berühmteste aller komparativ organisierten Verklärungsworte, anklingen zu lassen: »Und er ward verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht.« Was dieser Anklang über die Inanspruchnahme kommunen Bibelwissens hinaus leistet, lässt sich am besten in phänomeno­logischer Begrifflichkeit sagen: Die allusions­ weise Appräsentation des Evangelienwortes etabliert ein reziprokes, in stationärer Schwingung gegen­wen­di­ges ThemaHorizont-Verhältnis24, das die Schlussvergleiche des Gedichts im (nun mitbewussten) Horizont der Ver­gleichs­­rede Matthaei wie umgekehrt jene Vergleichsrede und ihre christologische Botschaft im Horizont dieser Lichtverglei­che und ihres in Nacht verlorenen Gegenstandes thematisch werden lässt  – zur Erwägung und Besinnung des Lesers, dem es auch auf der Basis stabiler Glaubens­überzeugungen schwerfallen dürfte, die Relata 23  Vgl. etwa Ps 139,11 f. (»Spräche ich: Finsternis möge mich decken! so muss die Nacht auch Licht um mich sein. Denn auch Finsternis ist nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht.«); Lk 11,36 (»Wenn nun dein Leib ganz licht ist, dass er kein Stück von Finsternis hat, so wird er ganz licht sein, wie wenn ein Licht mit hellem Blitz dich erleuchtet.«); 1. Joh 1,7. (»So wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so ha­ben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.«). Über die alttestamentlichen Zusammenhänge unterrichtet Thomas Podella, Das Lichtkleid JHWHs. Unter­suchungen zur Gestalthaftigkeit Gottes im Alten Testament und seiner altorientalischen Umwelt, Tübingen 1996. Speziell zur Licht- und Verklärungstheologie des Neuen Testaments siehe Klaus Berger, Theologi­e­ge­schich­te des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, 2Tübingen/Basel 1995, 299–305. 24  Vgl. hierzu im Anschluss an Husserls maßgebliche Analysen der Horizontstruktur der Erfahrung, insbesondere des Wahr­ nehmungs­ bewusstseins Alfred Schütz, »Some Leading Concepts in Phenomenology« in: ders., Collected Papers I, Den Haag 1962, 99–117. Vgl. auch die hermeneutisch belangvollen Weiterungen in Schütz, Das Problem der Relevanz, hg. u. erl. Richard M. Zaner, übers. Alexander v. Baeyer, Fran­kfurt a. M. 1971, 29 ff. und 67–78 (Abschnitt II D: »Die Auslegungsrelevanz«). Zur Einholung der Thema/Horizont-Unterscheidung durch die Literaturwissen­schaft vgl. den inzwischen klassischen Aufsatz von Karl­heinz Stierle, »Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten«, Poetica 7 (1975), 345–387.



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dieser intertextuell gestifteten Relation in dogmatisch bewährten Auslegungs- und Sinnstiftungs­schemata, dem der Postfiguration des Opertodes Christi etwa, unterzubringen. Anstatt solche Schemata in später Erbaulichkeit zu bestätigen (oder sarkastisch zu destruieren), distan­ziert die Thema-Horizont-Oszillation des Gedichtschlusses sie vielmehr zu Bezugs­ gliedern skeptischer Meditation.25 Das Gewand des erhöhten Christus »weiß wie das Licht« und Agnes Bernauers Untergang im Sack »träge wie Licht / schnell wie Licht«  –: Wie beides über die ratlose Konjunktion »und« hinaus zusammenhängt, darf man als eine der Fragen auffassen, die Günter Eichs Gedicht im mitgehenden Rezipienten weckt  – und selbst unbeantwortet lässt.26 Die in Rede stehende Funktion meditativer Distanzierung erstreckt sich indessen nicht nur auf Paradigmen theologischer Licht- und Verklärungssemantik, in metapoetischer Wendung viel­ mehr auch auf das Gedicht selbst als ästhetisches Medium von Verklärung. Wie immer es sich nämlich mit den spezifisch gattungspoetologischen Implikationen seines Schlusses, eines Epigramm-Schlusses par excellence, verhalten mag: Der im Umschlag vom Vergleichshorizont phänomenalen zum Vergleichshorizont physikalischen Lichts durch ein ambiges, Divergenz und Steigerung verbindendes sowie erneut ästhetische Valenzen exemplifizierender Bezug­nahme27 ausspielendes Prinzip bestimmte Bau des letzten Verspaars  – das zweisilbige langvokalige »träge« und das einsilbige kurzvo­ka­lige »schnell« versinnlichen, was sie jeweils beschrei­ ben  – vollzieht und zeigt Verklärung als Werk poetischer Rede: durch die Ausstellung des parallelismus membro-

25  Insofern lässt sich Eichs schroff undialektischer Entgegensetzung von Interpretation und Meditation (vgl. Anm. 8 und 9) eine nachvollziehbare Pointe abgewinnen: Das in der dynamischen (nicht statischen!) Gesamtheit seiner Dimensionen und Bezüge – unter ihnen das soeben erläuterte Thema/Horizont-Verhältnis – zur Meditation aufgegebene Gedicht muss Interpretationen entgehen, die sein nicht anders als experientiell, im Prozess des Lesens und Wiederlesens, der Reflexion und Neureflexion des Gelesenen und zu Lesenden einholbares Verstehens­angebot durch vereinseitigende oder anderweitig unterkomplexe Bedeutungs­zuschrei­bun­gen substituieren. 26  Vgl. hierzu das ebenfalls 1971 entstandene Gedicht Und (GW I, 299 f.), eine auf der Resignationsstufe des Alters angesiedelte Meditation der schwindenden Intelligibilität von Welt, Ich und Sprache im Zeichen konjunktio­naler Bei­ord­nung: »Nebel Nebel Nebel / und in den Ohren / Haare, eine / unverbindliche / Freundlichkeit / und / und / Rajissas süßes Gelächter. // Was zusammengehört, / eine Erfahrung, / was mit und zusammengehört / nur mit und, / keine Begründungen. // Das wird anhalten, / wenn mir das und nicht / mit den anderen Wörtern entfällt. / Es reicht, es reicht, danke, es reicht.« 27  Vgl. Anm. 6.

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Carsten Dutt

rum, einer »Urform der Poesie«28, und des im Kontrast zur Kette der Reimstörungen markanten Über-Reims »wie Licht«  – »wie Licht«. Um ein selbst­genügsames Foregrounding von Poetizität, gar um ein Prunken mit ihren Merkmalen, handelt es sich insoweit allerdings nicht, vielmehr darum, die von Schwermut grundierten Phantasmen lyrischer Memoria in einem Phantasma poetischer Form gipfeln und eben dies meditationsgegenständlich werden zu lassen. Was hat es damit auf sich? Ich meine das Folgende: In der abschlusshaften Hervorhebung des Leitwortes »Licht« wird dieses kontextinvariant edle, in Kontexten der Heilzusage zentrale und zumal transfigurations­­semantisch fungible Lexem seinerseits transfiguriert: zu einem Hypogramm29, in dessen Gestalt das Substantiv »Licht« das Personalpronomen »ich« umfasst und, so darf man die im Zusammenhang des Gedichts erzielte Eindrucksqualität wohl beschreiben, schützend in sich birgt. Vor dem Hintergrund der fortwährenden Inkongruenz, des Nicht-Passens von »Licht«1 und »ich«2, »Licht«1 und »sich«3, »Licht«5 und »mich«6 ist dies zweifellos ein berückend und berührend schöner, ja, die Metapher dürfte am Platze sein, leuchtender Zug poetischer Sprache und poetischen Sprechens  – und doch im komplexen Beziehungs­gefüge des Gedichts unter die Bedenken und Vorbehalte skeptischer Meditation gestellt. Denn im Horizont des Sachbezugs, der denotativen Ebene des Gedichts steht das metapoetisch exponierte Hypogramm »Licht« ja ganz unübersehbar in Kontrastspannung zur Eingeschlossenheit Agnes Bernauers im Sack, des von menschen­ gemachter Finsternis umfangenen Menschen: »Das Licht soll schnell sein, / aber es erreicht mich nicht«. Der Leser ist eingeladen, diese Kontrastspannung in erneuter Versenkung in Günter Eichs bedeutenden Text zu meditieren: Macht und Ohnmacht dichterischer Einbildungs­kraft sind in ihr chiffriert.

28  So (völlig zu Recht und unter Beibringung zahlreicher Belege) an berühmter Stelle Eduard Norden, Die antike Kunstprosa. Vom VI. Jahr­hundert v. Chr. bis zur Zeit der Renaissance, Darmstadt 1958 [zuerst Leipzig 1898], 813. Ebd., 814 auch die wichtige Feststellung: »D a s S u b s t r a t d e s R e i m s i s t d e r P a r a l l e l i s m u s […].« 29  Zum Hypogramm als einer die Buchstabenfolge subtextuell thematischer Wörter jeweils vollständig und unversetzt in andere Wörter einkapselnden Sonderform des Anagramms siehe Jean Starobinski, Wörter unter Wörtern. Die Ana­gramme von Ferdinand de Saussure, übers. Henriette Beese, Frankfurt a. M. et al. 1980, 23.

BUCHBESPRECHUNGEN Martina Bross, Versions of Hamlet: Poetic Economy on Page and Stage [Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur, Band  35], Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2017. 354 S. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Titel eines Buches über literarische Formen der Ambiguität selbst ambig ist – allein auf Grund der Tatsache, dass der Begriff der Ambiguität im Titel nicht vorkommt, wohl aber der der poetischen Ökonomie: Poetic Economy on Page and Stage. Doch klärt Bross die mögliche Verwirrung gleich auf den ersten Seiten auf, wenn sie erläutert, dass die poetische Ökonomie primär zur Neuakzentuierung literarischer Ambiguität diene, welche das eigentlich zentrale Forschungsobjekt darstelle. Tatsächlich ist die im Buchtitel genannte Analyse der poetischen Ökonomie diesem primären Interesse nachgelagert: »The second aim of this study is to explain the principle of poetic economy in a historical and a systematic perspective.«1 Das spiegelt sich auch im methodischen Zugriff wieder: Während Bross bei der Analyse des Ambiguitätskonzepts systematisch und sehr umfassend vorgeht  – sie verortet Ambiguität auf den Ebenen von Lexik, Struktur, Charakteren, Dramenhandlung sowie Textproduktion und -rezeption  – engt sie das titelgebende Konzept poetischer Ökonomie auf die (aristotelische) Auffassung eines Funktionszusammenhangs von Teil  und Ganzem ein: »every single element of a literary text should fulfil a particular function. If this is the case, nothing can be added to a text or left out. […] [E]ach element of a literary text is an integral and organic part of the whole«.2 Damit begrenzt sie das semantische Feld ökonomischer Aktivitäten auf die Investitionsrentabilität von dichterischer Ausgabe und affektiver Rendite. Formen ökonomischer Verausgabung, des Geltungskonsums (Veblen), der Kapital­ akkumulation, der Kommodifizierung, der Warenförmigkeit, der doppelten Werthaftigkeit (Marx), des Klassenhabitus und der Stratifizierung von

1  Martina Bross, Versions of Hamlet: Poetic Economy on Page and Stage, Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur 35, Paderborn 2017, 10 (meine Hervorhebung, E.K.). 2  Bross, Versions of Hamlet, 31–32.

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Kapitalformen (Bourdieu) spielen in Bross’ Überlegungen keine oder lediglich eine untergeordnete Rolle. Bross differenziert poetische Ökonomie nach Kriterien der internen Struktur (internal organization), der ästhetischen Wirkung (effect) und der Mimesis (letztere bleibt jedoch als Konzept eher vage und ist in den Analysesektionen nicht trennscharf von den ersten Kategorien geschieden). Werden in den Hamlet-Versionen Teile entfernt, kann das die Struktur des literarischen Ganzen beeinflussen, wie Bross in ihren späteren Kapiteln mit Augenmerk etwa auf Metaphorik zeigen wird. Dies kann wiederum Auswirkungen auf die Rezeption des Textes bzw. seine ästhetische Wirkung haben. Ausnahme dieser semantischen Einengung von Ökonomie stellt bei Bross das Konzept der trade-offs dar, eine der Ökonomie entlehnte Metapher, um die Gewinne und Verluste bestimmter editorischer Entscheidungen zu beschreiben, sowohl im Hinblick auf die Figuren (Kapitel 2), als auch auf die Gedankenwiedergabe in den soliloquies (Kapitel 3), die dramatischen Dialoge (Kapitel 4) und die dramatische Wirkung (Kapitel 5). Während so das semantische Feld ökonomischer Praktiken bewusst (und durchaus zielführend für die Untersuchung) eingeengt wird, vollzieht Bross mit ihren konsequent verwendeten einfachen Anführungszeichen um den Werktitel ›Hamlet‹ den entgegensetzten Schritt einer Erweiterung dessen, was man unter Hamlet synchron wie diachron, produktions- wie rezeptionsseitig verstehen kann. Nachdem Bross konzise die für den Werk-Begriff relevanten kunstontologischen Theorien vorgestellt und ihre jeweiligen Stärken und Schwächen diskutiert hat, führt sie das Prinzip poetischer Ökonomie in diesen Diskurs ein: »The principle of poetic economy allows us a side-by-side consideration of Hamlet versions and their respective functions without having to abandon the notion that all of these versions belong to the same work.«3 In dieser Hypertrophierung des Werk-Begriffs besteht nicht zuletzt die Ambiguität von ›Hamlet‹. Denn zu den im Buchtitel genannten Versions of Hamlet zählen für Bross neben den beiden Quarto-Fassungen (Q1, Q2) und der Folio-Fassung (F) auch die über 400-jährige Aufführungsgeschichte des Werkes: »The reason for this wider scope of the analysis is that stage versions of Hamlet have greatly contributed to the perception of the play«.4 Vierundzwanzig Hamlet-Bühnenversionen bezieht Bross in ihre Untersuchung mit ein, von denen ein Großteil aus den prompt book-Katalogen von Shattuck, der Folger Shakespeare Library und dem Shakespeare Centre Library and 3  Bross, 4  Bross,

Versions of Hamlet, 31. Versions of Hamlet, 10.



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Archive stammt. Bross richtet ihr Augenmerk nicht auf die Aufführungen selbst, wie es etwa H. R. Coursen getan hat, sondern auf die den Aufführungen zu Grunde liegenden Textbücher. Nach den umfangreichen methodischen und literarhistorischen Vorbemerkungen des ersten Kapitels beginnt das zweite und mit Abstand längste Kapitel des Buches (das länger ist als die drei folgenden Analysekapitel zusammengenommen): »[It] explores the relationship of poetic economy to the representation of character in the Hamlet versions.«5 Die ungleiche Länge erklärt sich aus der Schwierigkeit, über die Tragödienfiguren zu sprechen, ohne über Dialoge, Gedankenwiedergabe und deren dramatische Wirkung zu sprechen. So nimmt dieses Kapitel, »Poetic Economy and Dramatic Character«, bereits viele Aspekte der folgenden Kapitel vorweg. Bross’ Augenmerk ruht auf Claudius, dessen Rolle als Antagonist oft sehr drastische Veränderungen erfahren hat, sowie auf Polonius, dessen Sprache, wie Bross schreibt, sich durch ihre »uneconomy« (im Sinne von »verbosity«) auszeichne. Von Henry Irvings 1878er Hamlet-Fassung am Londoner Lyceum Theatre ausgehend gelingt es Bross in einer Vielzahl detaillierter Lektüren, überzeugend die gains and losses der ClaudiusRolle hinsichtlich ihrer rhetorisch-persuasiven Fähigkeiten sowie ihrer Funktion als Herrscher und als Antagonist deutlich zu machen. So arbeitet sie beispielsweise heraus, wie Irving durch gezielte Streichungen (cuts) nicht nur einige Redundanzen beseitigte, sondern auch ganze mit den Figuren verbundene Handlungsstränge entfernte oder den Argumentationsgang ihrer Äußerungen veränderte. Das, so Bross, habe erheblichen Einfluss auf die Darstellungsökonomie der Tragödie insgesamt gehabt, »as they [the cuts] affect larger patterns of motifs and imagery«.6 Während im Falle der Figur des Claudius durch das Auslassen von Teilen die interne Struktur der gesamten Tragödie affiziert wird, verhält es sich bei der Weitschweifigkeit der Sprache von Polonius anders: Hier scheint das Auslassen von Teilen die Struktur nicht zu berühren. Der methodische Zugriff über die poetische Ökonomie ermöglicht es Bross, sehr genau die Veränderungen in der ästhetischen Wirkung zu beschreiben. Gewinnbringend unterscheidet sie präzise zwischen der internen und der externen Kommunikationsebene des Dramas: »A paradox is created: uneconomy, that is a use of language which does not follow the notion of functionality, on the internal level of communication, is part of the play’s economy and serves a function on the external level of communication.«7 Versions of Hamlet, 83. Versions of Hamlet, 149. 7  Bross, Versions of Hamlet, 223. 5  Bross, 6  Bross,

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Diese Ebenenunterscheidung macht Bross auch in ihrer abschließenden Analyse von Matthew Warchus’ 1997 RSC Hamlet fruchtbar. Bereits die sehr kurze Aufführungsdauer von 160 Minuten (im Vergleich etwa zur 1992 RSC-Version von Adrian Noble mit einer Laufzeit von 255 Minuten) zeigt, dass Warchus zahlreiche Teile von ›Hamlet‹ streicht. Diese Streichungen gehen laut Regisseur auf die hohe Bekanntheit des Stückes zurück, »an absurd nursery-rhyme familiarity«, wie Warchus es nennt.8 Es gelingt Bross zu zeigen, wie Warchus durch diese Kürzungen eine Wirkung erzielt, die strukturell der der Erstbegegnung mit dem Q1-, Q2oder F-Hamlet ähnlich ist: While the effect of surprise and of capturing the audience’s attention in Q1, Q2 and F is created by the manner the world of the play is represented, the effect of Warchus’s cut is achieved on a meta-level on which the audience connect what they see performed with what they know about the play. Besides, the audience is made aware that the effect is created by an act of economisation, i. e. by cutting the entire first scene.9

Versions of Hamlet: Poetic Economy on Page and Stage besticht durch seine gründliche Arbeit an und mit den prompt books und den drei Textfassungen von Hamlet. Es bietet geeignete Kriterien für ein neues Nachdenken über den prozessualen Charakter ästhetischer Artefakte an sowie für eine Evaluation der vielbeschworenen Lebendigkeit Shakespeares. Kritisch ließe sich anmerken, dass man vermutlich die ökonomische Metaphorik ohne allzu große Verluste (ggf. sogar mit Zugewinnen) übersetzen könnte, bspw. in, um nur ein Beispiel zu nennen, ein systemtheoretisches Modell nach Luhmann, um Funktionszusammenhänge, Subsysteme und System/Umwelt-Relationen zu beschreiben. Es ist gerade die semantische Reduktion des Ökonomie-Begriffes auf eine Teil/Ganzes-Beziehung, die diese Übersetzbarkeit nahelegt. Ferner wirken die Konzepte literarischer Ambiguität und poetischer Ökonomie nicht immer völlig organisch zusammen und die Untersuchung der Ambiguität tritt zuweilen in den Hintergrund. Welchen Mehrwert der Begriff der Ambiguität in der Auseindersetzung mit ›Hamlet‹ gegenüber den kunstontologischen Überlegungen zum Werkbegriff bietet, führt Bross nicht näher aus. Das Buch stellt eine sehr dichte, detaillierte und materialreiche Untersuchung verschiedener, wie der Titel sagt, Versions of Hamlet an Hand des Funktionszusammenhangs von Teil  und Ganzem, der poetischen Ökonomie, dar. Eike Kronshage, Chemnitz

8  Bross, 9  Bross,

Versions of Hamlet, 296. Versions of Hamlet, 299.



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Elsa Plath-Langheinrich (Hg.), Goethes Flirt mit Schleswig-Holstein. Briefe an Augusta Louise zu Stolberg-Stolberg im holsteinischen Kloster Uetersen. Einleitung von Frank Trende, Heide: Boyens, 2018. 112 S. In neuer Aufmachung versammelt der vorliegende Band  die 1839 erstmals1 und seitdem immer wieder gedruckten Briefe Goethes an Augusta Louise zu Stolberg-Stolberg (1735–1835), Stiftsfräulein im Adeligen Damenstift Uetersen und Schwester der beiden Hainbündler Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg. Einen »Flirt« illustrieren die zusammengestellten Briefe nicht, da die Gegenbriefe Augustas fehlen – Goethe hat sie, wie andere frühe Dokumente, 1797 verbrannt (vgl. 39). Den 19 Briefen aus Goethes Feder stehen nur zwei von »Gust­­chen« gegenüber, von denen einer Goethe nie erreichte. So entsteht bisweilen eher der Eindruck eines Selbstgesprächs des »unruhige[n]« Dichters, wie sich Goethe einmal selbst nennt (63), für den die ferne Unbekannte für eine kurze Zeit als willkommene Projektionsfläche fungiert. Tatsächlich haben sich Goethe und Augusta, Tochter eines einflussreichen Politikers in dänischen Diensten, die Klopstock verehrte und mit zahlreichen Größen ihrer Zeit (etwa Heinrich Christian Boie oder Matthias Claudius) verkehrte und korrespondierte,2 nie persönlich getroffen. Nach der Lektüre des Werther schrieb sie Ende 1774 voller Begeisterung an dessen Schöpfer, der im Januar 1775 antwortete, woraufhin sich über anderthalb Jahren ein einigermaßen intensiver Briefwechsel entwickelte, der dann abkühlte und im Jahr 1822 ein letztes Mal kurz wiederauflebte. Goethe kündigt an, dass er Gustchen »offt mit viel Kleinigkeit unterhalten werde«. Er, »dessen größte Glückseligkeit ist mit den besten Menschen seiner Zeit zu leben« (46; Brief vom 13.  Februar 1775), erzählt der Brieffreundin dann tatsächlich von einigen bedeutenden Ereignissen seines bewegten Lebens. In meist exaltierter, schwärmerischer, aufgewühltsprunghafter, atemloser (und manchmal fast zwangsläufig an Werther erinnernder) Sprache berichtet Goethe zumindest andeutungsweise von seiner leidenschaftlichen Liebe zur sechzehnjährigen Lili Schönemann und 1  Goethe’s Briefe an die Gräfin Auguste zu Stolberg, verwitwete Gräfin Bernstorff, hg. A. v. Binzer, Leipzig 1839. – Ein Verzeichnis der Publikationen der Briefe (ohne die Gesamtausgaben der Briefe Goethes) findet sich in der vorliegenden Ausgabe auf S. 112. 2  Vgl. z. B. die von Detlev W. Schumann edierten »Briefe aus Auguste Stolbergs Jugend«, in: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 19 (1957), 240–297, sowie Elsa Plath-Langheinrich, »Heute will ich fröhlich, fröhlich sein …«. Von der Freundschaft zwischen der Uetersener Konventualin Augusta Louise Gräfin zu Stolberg-Stolberg und dem Wandsbecker Bothen Matthias Claudius. Heiteres und Ernstes aus Briefen, alten Schriften und Archiven ans Licht geholt, Neumünster 2005.

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ihrer schon bald wieder gelösten Verlobung, von seinem Ärger über die kritische Werther-Rezeption, der »Geniereise« mit den Brüdern Stolberg in die Schweiz, seiner Übersiedlung nach Weimar Ende 1775. Bisweilen schickt er sogar Gedichte und Vertonungen.3 Besonders eindrücklich sind zwei tagebuchartig angelegte Briefe vom September 1775 und vom Mai 1776, in denen Goethe seinen Tagesablauf, seine Beschäftigungen und seinen gesellschaftlichen Verkehr zunächst in Frankfurt, dann in Weimar notiert. Am Ende steht ein letzter Brief der nun fast siebzigjährigen Witwe, in dem sie Goethe eindringlich auffordert, zum Glauben zurückzufinden; Goethe antwortet eindrucksvoll, aber unverbindlich. Eingeleitet wird die Ausgabe von einer von Frank Trende verfassten Skizze der Geschichte der Herzogtümer Schleswig und Holstein und des Fürstentums Lübeck seit dem 15. Jahrhundert, die besonders die dortige politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und intellektuelle Situation am Ende des 18. Jahrhundert auslotet. Zwischen den einzelnen Briefen kontextualisieren und kommentieren kurze Einschübe der Herausgeberin, die vor nunmehr 30 Jahren eine Biographie Augustas verfasste,4 das Gelesene, freilich ohne genaue Belege. Sowohl diese Zwischentexte als auch die Einführung der Herausgeberin entsprechen in ihrem Wortlaut weitgehend jenen früherer Ausgaben.5 Die Texteinrichtung folgt der Erstausgabe der Briefe aus dem Jahr 1839 und nicht den Autographen, von denen immerhin drei Viertel überliefert sind (vgl. 110).6 Als Leseausgabe ohne textkritische Ansprüche für ein breiteres Publikum, als die der Band  konzipiert Max Graff, Heidelberg ist, ist er aber durchaus gelungen.7

3  Vgl. Joachim Heimerl, » ›Alles gaben Götter …‹. Goethes Briefgedicht an Auguste zu Stolberg und die Anthropologie der Ganzheit«, in: Wirkendes Wort 53.2 (2003), 201–207. 4  Elsa Plath-Langheinrich, Als Goethe nach Uetersen schrieb. Das Leben der Conventualin Augusta Louise Gräfin zu Stolberg-Stolberg, 2. Aufl., Neumünster 1993. 5  Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Briefe an Augusta Louise zu Stolberg ins holsteinische Kloster Uetersen, hg. Elsa Plath-Langheinrich, 4., neu durchges. und verb. Aufl., Neumünster 2010. 6  Zu den im Freien Deutschen Hochstift/Frankfurter Goethe-Museum aufbewahrten Autographen vgl. Jürgen Behrens, Goethes Briefe an Auguste Gräfin zu Stolberg aus der ehemaligen Sammlung Brockhaus, Frankfurt/M. 1993 (Patrimonia 67). 7  Kritisch zur in etlichen Fällen von den Weimarer und Hamburger Ausgaben des Goethe-Briefwechsels abweichenden Texteinrichtung vgl. die Rezension von Willi Höfig in: Informationsmittel (IFB): digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft (http://ifb.bsz-bw.de/bsz341112380rez-1.pdf; letzter Zugriff 31.03.2019).  – Ärgerlich sind freilich mehrere Druckfehler, am eklatantesten auf S. 89: Hier liest man »indefl« statt »indess« (in der Ausgabe 1839) bzw. »indeß« (in der Ausgabe 2010). Vgl. weiterhin 8, 9, 53 und 95.



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August Klingemann. Briefwechsel, hg. von Alexander Košenina und Manuel Zink. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 470 S. August Klingemann (1777–1831) gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten der deutschen Theatergeschichte an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Er war Dramatiker, Dramaturg, Theoretiker der Schauspielkunst, Kritiker und Theaterdirektor. Seine Briefe über die Menschendarstellung1 sind zwar ohne August Wilhelm Ifflands Schriften nicht denkbar; sie sind dennoch ein wichtiger und beachteter Beitrag innerhalb der um 1800 stattfindenden Diskussion der Konzeptualisierung des Schauspielers als Künstler und über die Theorie der Schauspielkunst. Seine zahlreichen Wortmeldungen zum Theater erschienen meist in Almanachen oder Kulturzeitungen. In der vielgelesenen Zeitung für die elegante Welt erschien eine Reihe von Beiträgen wie der Ueber die Nothwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für Schauspieler (1816), in der er ebenfalls an Ifflands Reformbemühungen anknüpft und sich gleichzeitig von Iffland absetzt. Im vorliegenden Band  sind knapp 300 Briefe zwischen 1798 und 1830 von und an Klingemann ediert, kommentiert und mit Hilfe eines Personenregisters gut erschlossen. Dass das nur ein Teil  des einstigen, viel umfangreicheren Briefwechsels ist, geht aus einem Brief an Wilhelm Ribbentrop, der Klingemann um Autographen von prominenten Zeitgenossen bittet, hervor. Dort erwähnt Klingemann, dass er u. a. mit Schiller und Iffland weitläufige Korrespondenzen geführt habe (Nr. 193). Tatsächlich sind nur zwei Briefe von bzw. an Schiller und fünf von bzw. an Iffland im Band  abgedruckt, also bisher bekannt. Dass die Korrespondenz mit Iffland umfangreicher gewesen sein muss, beweist schon das Repertoire der Berliner Bühne. Iffland hatte offensichtlich zu Klingmanns frühen Förderern gehört. Insgesamt wurden unter seiner Leitung fünf Stücke Klingemanns aufgeführt (und weitere angekauft). Trotz dieser Verluste sind die überlieferten Briefe in ihrer Gesamtheit ein einzigartiges Zeugnis der Theatergeschichte, weil sich in ihnen der gesamte Kosmos des im raschen Wandel befindenden Berufstheaters nach 1800 entfaltet. Das Braunschweiger Hoftheater wurde bis ca. 1814 von verschiedenen Wandertruppen, die oft in kurzer Abfolge kamen und gingen, bespielt, bis es Klingemann, anfangs zusammen mit der Walther’schen Gesellschaft, dann ab 1818 unter alleiniger Direktion, leitete. Das dann als Braunschweiger Nationaltheater bezeichnete Haus strahlte weit über die Region aus und erlangte nicht nur 1  August Klingemann Theaterschriften, hg. von Alexnder Košenina, Wehrhahn Verlag, Hannover 2012.

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wegen der ersten öffentlichen Bühnenaufführung von Goethes Faust im Jahre 1829 überregionale Bedeutung. In allen Briefen der weitverzweigten Korrespondenz ist vom Theater, von Theaterstücken (Manuskripten und Drucken), von Partituren, Schauspielerinnen und Schauspielern, Schauspielkunst, Gastspielen, Repertoire, Stellenbesetzung, Bühnenpraxis, Theaterkritik und natürlich vom Honorar für die Stücke und den Gagen der Schauspieler und Schauspielerinnen die Rede. In den Briefen erleben wir einen streitbaren, autonom agierenden und keiner ästhetischen Partei eindeutig zuzuordnenden Klingemann, der sein ästhetisches Konzept nach der Bühnenwirklichkeit und Bühnenwirksamkeit ausrichtet. Besonders deutlich geht das aus den tiefe Einblicke in den Schaffensprozess gebenden Briefen Klingemanns an den Hamburger Schauspieler und Theaterleiter Friedrich Ludwig Schmidt hervor. In ihnen finden sich viele Reflexionen über die Entstehung und die Wirkungsabsicht der eigenen Stücke (vgl. z. B. Klingemanns Brief vom 23. Januar 1812 über seinen Faust, Nr. 75). Interessant sind die Briefe auch, und vor allem, weil in ihnen augenfällig wird, wie die Kraftströmungen der Aufklärer, Romantiker und Klassiker sich gleichzeitig voneinander abgrenzen und überschneiden. Sichtbar wird das unter anderem, wenn sich Klingemann immer wieder nachdrücklich an den von ihm bewunderten Goethe wendet und dessen Werke aufführt, aber auch mit dem »Genie« Adolf Müllner (Nr. 252) auf freundschaftlichem Fuß steht und auch dessen Werke auf die Braunschweiger Bühne bringt. Hierher gehören ebenfalls Klingemanns hochinteressante, differenzierte und widersprüchliche Ausführungen über Ifflands und Schröders Schauspielkunst, weil sie aufzeigen, wie wenig produktiv eine Festlegung in allzu starre ästhetische Kategorien ist. Der in die faszinierende und streitbare Welt des Berufstheaters um 1800 einführende Briefwechsel sei nachdrücklich empfohlen. Klaus Gerlach, Berlin Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft. Bd. 67/2018, hg. im Auftrag der Theodor-Storm-Gesellschaft von Philipp Theisohn, Christian Demandt, Heide: Boyens, 2018. 155 S. – Peter Wenners, Spaziergänge durch Alt-Kiel. Historischer Stadtführer auf den Spuren Theodor Storms, Heide: Boyens, 2018. 240 S. Den Schwerpunkt des 67. Bandes der Schriften der Theodor-StormGesellschaft bilden sechs Aufsätze zum Thema »Storms Wissen«, die aus einer Kurztagung anlässlich des 200.  Geburtstags des Dichters 2017 in



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Husum hervorgegangen sind. Sie zeigen schlaglichtartig, wie fruchtbar und vielfältig der »Versuch, den historischen Ort von Storms Werk über […] Wissensdiskurse zu bestimmen« (5), sein kann. In der Novelle Eine Halligfahrt (1871) weist Roland Borgards (Frankfurt a. M.) Analogien zur in den späten 1860er Jahren begründeten Inselbiogeographie nach, d. h. zur wissenschaftlichen Beschreibung von Inseln als isolierten Räumen, die vom Ineinandergreifen biologischer und geologischer Faktoren geprägt sind. Modellhaftigkeit, Klassifikation, Verzeitlichung und Fiktionalisierung als »Grundfiguren« (9) dieser neuen Disziplin lassen sich auch in der Erzählstruktur, Figurenzeichnung und räumlichen Ausgestaltung der Novelle nachweisen; dabei ist die Temporalisierung, mithin die Geschichtlichkeit des Inseldaseins, auch verstanden als Metapher menschlicher Existenz, von besonderer Relevanz. Maren Conrad (Erlangen) widmet sich dem Botanisieren als alltäglichem Pendant zu offensichtlicheren Formen der Trockenlegung wie Deich- und Kanalbau. Den konservatorischen Akt des Sammelns, Trocknens und Erfassens von Pflanzen sowie die Botanisiertrommel als »epochenspezifisches Schwellenobjekt« (38) versteht sie als poetologische Metaphern, mit denen Storm (der selbst in seiner Freizeit botanisierte) etwa in Immensee und Waldwinkel die semiotische Erfassung der Welt im Poetischen Realismus im Spannungsfeld zwischen Kunst und Künstlichkeit verbildlicht. In der Kurzerzählung Zwei Kuchenesser der alten Zeit (1870) macht Philipp Theisohn (Zürich) Spuren der Diätetik Ernst Mahners aus, der Mitte des 19. Jahrhunderts eine möglichst milde und süße Ernährung propagierte. Theisohn skizziert den triebhaften Kuchenverzehr zweier Figuren als entgrenzendes Verhalten, das die Trennung zwischen Mensch und Tier, Mann und Frau, Kultur und Natur auflöst. Gleichzeitig sieht er darin eine poetologische Metapher, die sich mit anderer Konnotation bereits in Immensee (1849) findet. Yahya Elsaghe (Bern) bettet den Umgang mit Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Kindbettfieber und Malaria in Storms Texten in den medizinischen Diskurs der Zeit wie auch in die persönliche Familiengeschichte Storms ein und deckt dabei etwa in Bezug auf die gesellschaftlich tabuisierte Syphilis eine angesichts der Ansteckung gleich mehrerer naher Verwandter des Dichters sehr beredte Leerstelle in seinem Werk auf. Anhand der Novelle Hans und Heinz Kirch stellt Valérie Leyh (Namur) Überlegungen zum Verhältnis von Wissen und Nichtwissen an. Die unvollkommene Vermittlung neu generierten Wissens zu Weltwirtschaft und Globalisierung mündet im Text in die psychologische Verunsicherung der Figuren: Diese manifestiert sich in »Form von Gerüchten, von Kommunikationsfehlern, Verdrängung oder Wahn« (104) als unsicheres Wissen. Wie realistische Literatur als »Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung« (109) Wissen als »Moment literarischer Unterhaltung« (110) integriert und transformiert, untersucht Micha-

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el Neumann (Konstanz) am Beispiel des Kunstmärchens Die Regentrude (1864). Storm gehe es um die Sozialität des Wissens, um die Wechselwirkungen von Wissen und Gesellschaft, an denen Literatur als bedeutender Faktor partizipiert. Unabhängig vom Schwerpunkt des Bandes unterzieht Regina Fasold (Heiligenstadt) Storms Gedicht Garten-Spuk, »eines seiner modernsten« (121), einer neuen Lektüre; Zhizi Yang (Göttingen) schließlich befasst sich mit Märchenstrukturen im Schimmelreiter. Nicht nur für Kenner oder Besucher der Stadt ist Peter Wenners’ Stadtführer durch das Kiel Theodor Storms eine unterhaltsame Lektüre. Reich bebildert, ergänzt durch ein Glossar zu den zeittypischen Umständen des täglichen Lebens (»Obrigkeit«, »Straßenbeleuchtung« usw.) und unter Einbindung kurzer literarischer Texte des Dichters sind hier seine Kieler Studienjahre 1837–1843 atmosphärisch dicht rekonstruiert. Für den wissenschaftlichen Gebrauch ist der Band  allerdings nur bedingt geeignet, da Wenners auf Belege gänzlich verzichtet und der Leser so auch nicht zu entscheiden vermag, an welchen Stellen »die zum überwiegenden Teil  auf biografisch gesicherten Fakten« beruhenden Kapitel »durch fiktiv gestaltete Alltagsgeschehnisse« (9) ergänzt sind. Friederike Mayer-Lindenberg, Heidelberg Klaus-Groth-Gesellschaft. Jahrbuch 60/2018, hg. im Auftrag der Klaus-Groth-Gesellschaft von Robert Langhanke in Verb. mit Dieter Lohmeier und Bernd Rachuth, Heide: Boyens, 2018. 264 S. Das 60. Jahrbuch der Klaus-Groth-Gesellschaft  – ein Jubiläumsband  – ist das seit 1949 umfangreichste. In ihm sind zwölf Beiträge versammelt: eine Laudatio auf den 27. Kappelner Literaturpreisträger Rainer Prüß, vor allem aber Aufsätze, die Klaus Groths Leben und Werk sowie dessen Rezeption adressieren. Schon im Vorwort verpflichten sich die Herausgeber, in diesem Band dezidiert den Namensgeber ihrer literarischen Gesellschaft in den Mittelpunkt zu stellen, und rufen darüber hinaus in Erinnerung, dass neben autor- und werkbiografischen Publikationen stets auch Beiträge zur niederdeutschen Sprache und Literatur Eingang in die Jahrbücher finden sollen. Dieter Lohmeier beschreibt zunächst den von ihm herausgegebenen Briefwechsel zwischen Klaus Groth und dem Sänger Julius Stockhausen (1826–1906). Dieser war, davon zeugt die Edition der Korrespondenz, neben Johannes Brahms (1833–1897) der zweite ›Musiker-Freund‹ Groths, dessen künstlerisches Schaffen der niederdeutsche Dichter nicht nur durch Briefe, sondern auch durch Gedichte und Zeitungsartikel begleitete (10).



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Den Briefwechsel von 1865 bis 1872 zwischen Groth und Stockhausen, an dem auch beider Ehefrauen, Doris Groth und Clara Stockhausen, beteiligt sind, gibt der Band anhand von einunddreißig Beispielen wieder. Das rege Interesse am Schaffensprozess des Anderen, das der neugierige und durchaus herzliche Tonfall der Briefe offenbart, ermöglicht einen erweiterten biografischen Zugang zum niederdeutschen Schriftsteller. Der zweite Beitrag zu »Klaus Groth und Fritz Reuter in zeitgenössischen Lesebüchern und Anthologien« von Barbara Scheuermann stellt die Dichtung dieser beiden bedeutenden niederdeutschen Autoren in einen gleichermaßen bildungsgeschichtlichen wie bildungspolitischen Zusammenhang, dem auch weitere Beiträge des Jahrbuchs verpflichtet sind. Scheuermann zeigt auf, inwiefern Niederdeutsches in Schulcurricula auch im 19. Jahrhundert Fürsprecher wie Theodor Colshorn (1821–1896), Jacob Grimm (1785–1863) oder Carl Oltrogge (1807–1876) brauchte. Sie leisteten regelrechte Lobbyarbeit, damit Plattdeutsch als Literatursprache sukzessive ernst genommen wurde und Eingang in Lesebücher und Anthologien fand. Einen besonderen Mehrwert hat das übersichtliche Verzeichnis Groth’scher und Reuter’scher Texte in ebensolchen Kompendien am Ende des Beitrags. Sowohl Hannah Gebiens Aufsatz »Klaus Groths Giebelrede zum Richtfest der neuen akademischen Heilanstalten (1860) als Teil seines Bemühens um ein akademisches Amt« als auch Robert Langhankes Beitrag »Vor 150 Jahren. Klaus Groth im Jahre 1868: ›Ich lese dergleichen in allen romanisch-germanischen Sprachen‹ « rekapitulieren Groths Biografie: Während Gebien den Dünkel der akademischen Welt, vor allem arrivierter Professoren der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, gegenüber dem in seiner schleswig-holsteinischen Heimat tief verwurzelten Privatdozenten Klaus Groth herausarbeitet, beschreibt Langhanke dessen Austausch mit Johannes Brahms (1833–1897), vor allem aber die Korrespondenz mit Theodor Storm (1817–1888). So wird deutlich, dass Groth auf Reisen proaktiv Kontakt zu Emanuel Geibel (1815–1884) und Hans Christian Andersen (1805–1875) sucht, an einem Publikationsprojekt zu Hebbels (1813–1863) Jugendjahren mitwirkt, als Rezensent arbeitet und sein Quickborn ins Dänische, Niederländische und Englische übersetzt wird. Bernd Rachuth, selbst niederdeutscher Schriftsteller, schreibt eine geradezu hymnische Rezension (145 ff.) über die von Dieter Möhn und Reinhard Goltz verfasste niederdeutsche Literaturgeschichte,1 die durch ihre Tiefe und gleichzeitige Offenheit besteche. Die gegenwärtige Situation des Niederdeutschen beleuchtet Heiko Wiggers’ Beitrag »Das Niederdeutsche als Kommunikationsmittel auf Twitter«. Tweets aus dem Gebiet zwischen 1  Dieter Möhn/Reinhard Goltz, Niederdeutsche Literatur seit 1945. Teilgeschichten einer Regionalliteratur, 2 Bde., Hildesheim/Zürich/New York 2016.

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Süddänemark und Hamburg dienen als Korpus und werden auf die Verwendung niederdeutscher Ausdrücke hin quantitativ geprüft. Das Ergebnis: In der digitalen Sphäre ist der Gebrauch des Niederdeutschen als wenig lebendig, aber längst (noch) nicht als historisierend zu klassifizieren. Die Tatsache, dass die plattdeutsche Sprache sich erhält, hat, angesichts abnehmender Sprecherzahlen, mit bundeslandpolitischer Förderung zu tun. Robert Langhankes zweiter Aufsatz über die Situation, Legitimation und Perspektive von »Niederdeutsch in der Lehrerbildung und Plattdüütsch in de School« wird von Alexander Radloff mit »Plattdüütsch in de School  – döggt dat wat?« (191 ff.) insofern substanziell ergänzt, als dieser die Evaluation des Niederdeutschunterrichts an 29 Modellschulen in Schleswig-Holstein kommentiert. Den Abschluss dieses 60. Jahrbuchs bildet die von Volkert Ipsen auf Plattdeutsch verfasste Laudatio auf Rainer Prüß, gefolgt von Gedichten Prüß’ (6), Helga Hürkamps (5) und Jutta Oltmanns (4), bevor abermals der Herausgeber Robert Langhanke das 60. Jahrbuch in die Tradition der Klaus-Groth-Gesellschaft einordnet. Moritz Barske, Heidelberg/Paris Heinrich Detering, Kai Sina (Hgg.), Kein Nobelpreis für Gustav Frenssen. Eine Fallstudie zu Moderne und Antimoderne. Heide: ­Boyens, 2018. 288 S. Gustav Frenssens engagiertes Selbstbekenntnis könnte im Grunde nicht klarer sein: »Und ich bin ein älterer Nationalsozialist als Ihr alle«1. Und doch gilt Frenssen als »schwierige[r] Fall«,  – so Heinrich Detering in seinem mit Kai Sina gemeinsam herausgegebenen Sammelband  – ein Fall, der weder mit der Verurteilung Frenssens als »Vordenker[] des Nationalsozialismus« noch mit seiner Verharmlosung als »unpolitische[r] Heimatdichter[]« treffend charakterisiert worden sei. Auf diesen habe man sich nunmehr (literatur)wissenschaftlich eingelassen, um ihn sachlich-nüchtern als »1 Fänomen« zu analysieren, in welchem die extremsten Widersprüche einer Epoche zusammenkommen: »[L]iberale Reich-Gottes-Idee, Sozia­lismus, Nationalismus, Heimatkunstbewegung, völkische Ideen, Bolschewismus, Frauenemanzipation, Anerkennung der Juden als gleichberechtigte deutsche Staatsbürger […]«. Zwar avanciert der frühere Pastor und dithmarsische Schriftsteller zeitweise gar zum internationalen »Mainstream-Autor[] der literarischen Moderne«, den Nobelpreis gewinnt er 1  Gustav Frenssen: »Widerstände«, in: Gustav Frenssen-Almanach. Zum 70.  Geburtstag des Dichters 19.  Oktober 1933. 50. Jahrgang des Grote’schen Weihnachts­ almanachs. Berlin 1933, S. 74–82, hier S. 78.



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jedoch nicht. Dennoch sei Frenssens exorbitantes literarisches Werk ein ausgesprochen ambivalentes. Antagonistische Stellungnahmen von Rainer Maria Rilke über Selma Lagerlöf und Thomas Mann bis Arno Schmidt spiegeln Detering zufolge daher auch »keineswegs ein[en] Gustav Frenssen« wider: Ob Heimatdichter, Idol, Konkurrent oder Feind  – gezeigt wird stets ein »ganz anderer Autor und Mensch«. An diesem Punkt setzt die Fallstudie an. Sieben literaturhistorische Einzelstudien nehmen eine jeweils externe Perspektivierung anhand einer »literarischen Konstellation« vor. Eine wesentliche Voraussetzung dafür bilden Helmuth Kiesels und Heinrich Deterings systematische Einführungen in die Problematik von Frenssens Werk  – das ambige Verhältnis von Modernismus und Antimodernismus. Kiesel zeigt die erstaunliche Nähe Frenssens zur Programmatik der modernen »Freien litterarischen Vereinigung Durch!« auf. Trotz wesent­ licher Übereinstimmungen präsentiert er Frenssen dennoch als »Genera­ tions­genosse[n]«, der »neben der Moderne« zu stehen scheint. Frenssens Bekenntnis zur Weimarer Verfassung wiederum widerspräche aber ebenso dem Bild eines Konservativen wie seine literarisierten Dorfpredigten und der Erfolgsroman Jörn Uhl. Auch als Erzähler sei Frenssen nicht leicht zu verorten. Ausgehend vom verklärenden bürgerlichen Realismus hebt Kiesel daher Frenssens moderne Tendenzen zur »colloquial-erzählerischen Entfabelung«, zum »Gestus des ›Zu-Spruchs‹ « und zur Exponierung der Erzählstimme hervor. Mit Kiesels Porträt des frühen bzw. mittleren Frenssen werden historische und religionswissenschaftliche Studien ergänzt und ausdifferenziert. Während er der Entfremdungserfahrung die für die Moderne notwenige Gewichtung verleiht, relativiert er den angeblichen Vorgriff auf die » ›NS-Ästhetik‹ « in Der Pastor von Poggsee. Detering widmet sich hingegen dem späten Frenssen als »Parteigänger der NS-Bewegung« und Vertreter einer »inhaltlich reaktionären«, aber »performativ […] modernen« Kunstreligion. Er nimmt dazu die Kampfschrift Der Glaube an Nordmark in den Fokus. Detering betont dabei die zen­trale Rolle, die der Literatur als Referenzrahmen und insbesondere als Darstellungsstrategie zukomme. Deren Funktion sei es nicht nur, die weltanschaulichen Positionen darzustellen, sondern auch den Autor selbst in seiner »Sprecherrolle« zu autorisieren und sein »Künstlertum« zu prononcieren. Anhand der künstlerischen Mittel und nicht zuletzt der Erzählstruktur weist Detering auf, dass der Der Glaube der Nordmark als »germanisch-antisemitische Gegenversion der Heilsgeschichte« zu lesen ist, mit der Frenssen sich selber als einen modernen neuromantisch-prophetischen Künstler inszeniert. Er vertieft nicht nur religionsgeschichtliche Ansätze, sondern arbeitet auch genuin literarische Verfahren heraus, die

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gerade für die Literaturwissenschaft von einigem Interesse sein dürften, da sie Frenssens Werk im Licht einer modernen neuromantischen Kunstreligion erscheinen lassen. Karin Hoff widmet sich der Verbindung zwischen Knut Hamsun und Frenssen als Nobelpreiskandidaten und Konkurrenten bzw. Gleichgesinnte. Aufgrund Hamsuns modernen, unzuverlässigen Erzählens sei dieser im Gegensatz zu Frenssen keiner politischen Richtung abschließend zuzuordnen, weshalb Hoff die »ideologischen und ästhetischen Verbindungen« vor allem der von Kulturinstitutionen hergestellten Verknüpfung zuschreibt. Florian Krobb konstatiert bei der »auffälligen Zusammenbindung« zweier »Nicht-Zeitgenossen« – Wilhelm Raabe und Frenssen – Ähnliches, wenn er die »Konvergenz des Ungleichzeitigen« der zeitgenössischen Rezeption zuschreibt. Ein direkter Vergleich der in ihrer Gesamtanlage sich zwar ähnelnden Romane Alte Nester (Raabe) und Jörn Uhl (Frenssen) verdeutlicht den wesentlichen Unterschied: »Raabes ›Modernität‹ « liegt in seinem »sich selbst zur Disposition stellenden Erzählverfahren«. Gerhard Kaiser charakterisiert die Konkurrenz zwischen Frenssen und Thomas Mann als einen »Kampf zwischen konkurrierenden Schreibprogrammen um öffentliche Anerkennung und Ruhm«. Während Mann aufgrund der ihm attestierten Kälte gegen den von Frenssen repräsentierten Autorentypus eines »Dichter[s] der Wärme mit Volksbezug« ankämpfte, versuchte letzterer, sich gegenüber Manns »Klugheit« mit seiner Selbstinszenierung als poeta vates und mit »rassenspekulative[n]« Argumenten zu profilieren. Torsten Hoffmann nimmt Rilkes ambivalente Haltung zum Heimatund Landschaftsdiskurs im Roman Jörn Uhl in den Blick. Hoffmann zeigt anhand des biografisch-weltanschaulichen und ästhetischen Kontextes auf, inwiefern Frenssen mit den Begriffen »Heimat« und »Landschaft« den »zentralen Nerv des damals 26-jährigen Rilke« trifft, relativiert Rilkes Zustimmung dann aber mit Blick auf die Ambivalenz in dessen eigener Naturästhetik. Ann-Sofi Ljung Svensson nimmt im literarischen Verhältnis von Selma Lagerlöf und dem frühen Gustav Frenssen »erhebliche Übereinstimmungen« wahr. Die private Korrespondenz der beiden zeuge jedoch eher von einer höflichen Beziehung, die spätestens mit den politischen Gegensätzen beendet war: Während der »gläubige Nationalsozialist« offen für das NSRegime eintrat, wandte sich Lagerlöf entschieden von Frenssen ab. Frank Trende sieht Gustav Meyrink und Frenssen als zwei Antipoden: »Hier der brillante, verknappende Satiriker, dort der grüblerische, ausho-



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lende Erzähler«. Während Meyrink mit seinen Frenssen-Parodien zum »hochgelobte[n] literarisch-parodistische[n] Meistererzähler« wurde, nahm Frenssen (angeblich) Meyrink nicht einmal dann wahr, als dieser sich öffentlichen, antisemitischen Angriffen seitens der »Frenssen-Gemeinde« ausgesetzt sah. Christoph Jürgensen stellt Arno Schmidts Auseinandersetzung mit dem »schwer diskreditierten Autor« Frenssen in seinem Funkessay von 1963 Ein unerledigter Fall. Zum 100.  Geburtstag von Gustav Frenssen in den Kontext von dessen Kanonpolitik. Im Hinblick auf die Diskussion über die »literaturkritische und -historische Wertungspraxis« plädiert er mit Schmidt dafür, den unerledigten Fall »zumindest für Otto Babendiek« wieder aufzurollen. Ulrich Schulte-Wülwers Ausblick auf die Frenssen-Rezeption in der bildenden Kunst bildet den interdisziplinären Abschluss des Sammelbandes und öffnet nicht nur den Blick auf die intermediale Beziehung von Literatur und Kunst, sondern beleuchtet auch Frenssens »gezielte Selbstinszenierung«. Der von Frenssen begeisterte Worpsweder Künstler Fritz Mackensen ging indes so weit, seiner Christusfigur die Züge Frenssens zu verliehen. Und doch brach der Kontakt ab, als das Bild  – wohl nicht im Sinne Frenssens  – vollendet war. Die Fallstudie trägt insgesamt zu einer eindeutig differenzierteren Bewertung und Verortung Frenssens im Kontext des modernen Antimodernismus bei. Indem sie Diskrepanzen zwischen zeitgenössischer Rezeption, tradierten Lesarten und den analysierten Erzähltexten Frenssens aufdeckt, erfüllt sie den eingangs formulierten Anspruch einer wissenschaftlichneutralen Herangehensweise explizit. Jessika Bogs, Heidelberg Thomas Pittrof (Hg.), Carl Muth und das Hochland (1903–1941) [Rombach Wissenschaft: Reihe Catholica: Quellen und Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte des modernen Katholizismus, Band  4.1]. Freiburg i. Br. / Berlin / Wien: Rombach, 2018. 609 S.  Im Jahr 1903 gründete der Publizist Carl Muth (1867–1944) unter dem Titel Hochland eine »Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst«. Muths Ziel war es, eine große katholisch geprägte, aber doch allgemein interessierende und den Problemen der Gegenwart verpflichtete Kulturzeitschrift auf den Weg zu bringen, um das Verhältnis von Katholizismus und Moderne neu zu bestimmen und um in katholi-

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schem Geist auf die deutsche Kultur einzuwirken. Hochland erschien unter Muths Herausgeberschaft bis zur behördlichen Einstellungsverfügung im Jahr 1941 in fast ununterbrochener Folge, danach wieder von 1946 bis 1971 unter neuer Herausgeberschaft. Die Gründung dieser dezidiert katholischen Kulturzeitschrift in einer Zeit, in welcher der deutsche Katholizismus nicht nur unter der politischen und kulturellen Prädominanz des Protestantismus, sondern auch unter dem von Rom verfügten Antimodernismus litt, war ein mutiges Unterfangen. Das Erscheinen von Hochland bis 1941 in rund 450 Heften, die zusammen rund 47.000 Seiten ausmachen, in über 70 stattlichen Halbjahresbänden vorliegen und eine Fülle vorzüglicher Beiträge von Experten und allgemein renommierten Autoren enthalten, war eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte: Hochland wurde zur wichtigsten und auch außerhalb katholischer Kreise wahrgenommenen katholischen Kulturzeitschrift im deutschen Sprachraum. Diese Leistung Muths und seiner Redakteure hat mit dem voluminösen und außerordentlich informativen Sammelband Carl Muth und das ›Hochland‹ endlich die verdiente Würdigung erfahren. Der Band beruht auf einer von Hans Maier initiierten Tagung, die im November 2014 in Muths Domizil in Mooshausen stattfand; herausgegeben wurde er von dem in Eichstätt lehrenden Germanisten Thomas Pittrof, dem vermutlich die schönen Einleitungen der Artikel zu verdanken sind, die über die Verfasser informieren und den thematischen Zusammenhang verdeutlichen. Insgesamt zählt der Band  19 Beiträge, die 6 Abteilungen zugeordnet sind. Die erste Abteilung (33–192) steht unter der Überschrift »Carl Muth und das Hochland von seiner Gründung bis zum Ende des Kaiserreichs«. Die Würzburger Kirchengeschichtlerin Maria Cristina Giacomin schafft mit ihrem langen und gehaltvollen Beitrag Ein »goldener Mittelweg« zwischen Kirche und moderner Welt? Carl Muth und das ›Hochland‹ 1903– 1914 (35–69) die Grundlagen, indem sie die Gründungsgeschichte rekapituliert und Muths Absichten und Grundsätze zu Kenntnis bringt und erörtert. Von fundamentaler Bedeutung war seine Vorstellung von einer »idealrealistischen Dichtung«, die sich den »Leiden der Moderne« stellt und ihren Denk- und Ausdrucksformen nähert, aber nicht ausliefert. »Kategorien wie Autonomie, Formbewusstsein, Geschichte, Realismus, Individualität und Subjektivität erfuhren eine klare Aufwertung«, wurden aber nicht überhöht, geschweige denn verabsolutiert; zudem trat neben das Realismuspostulat ein Verklärungspostulat, das sich aus der christlichen Religion ergab und im Katholizismus seine Stütze hatte (37). Außerhalb des literarischen Bereichs habe »der ›Geist‹ des Subjektivismus und Mo-



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dernismus im Hochland [aber] keinen Platz« gefunden (65). Der folgende, wiederum sehr informative Beitrag des Literatur- und Kunsthistorikers Gebhard Streicher, Carl Muths Kunstkommunikation (71–125), befasst sich mit den Bildbeigaben zum Hochland bis 1918 und mit Muths aufmerksamen und minutiösen Bildbeschreibungen. Neben die Vorliebe für romantische und nachromantische Künstler trat die Bereitschaft, dem Publikum auch moderne Maler wie Gustav Klimt zu präsentieren. Als Idealkünstler im Sinne Muths darf der französische Maler James Tissot (1836–1902) gelten, der sich nach seiner Karriere als Gesellschaftsmaler ab 1886 religiösen Themen zuwandte und bis 1896 ein 350 Grafiken umfassendes Leben Jesu schuf. Für Muths Haltung gegenüber der bildenden Kunst gilt dasselbe wie für seine Haltung gegenüber der Literatur: »Es ergeht ein Plädoyer für eine christliche Gegenwartskunst, die insofern ›modern‹ ist, als sie technisch auf der Höhe der künstlerischen Entwicklung steht und darin Ergebnis einer ›Erziehung zur Freiheit‹ ist; die aber diese Freiheit in der Wahl der künstlerischen und technischen Mittel nicht der Eigendynamik einer bindungs- und richtungslosen Moderne überlässt, sondern den Zweckbindungen einer religiösen (bzw. religiös verantwortbaren) Kunst überantwortet und diesen dienstbar macht.« (114) Ein literarisches Werk, das hierfür exemplarisch ist, sind die »Kleinwelt-Romane« von Antonio Fogazzaro (1842–1911), die 1906 und 1911 von Rom indiziert, von Muth aber trotzdem geschätzt wurden. Dem ist ein kleinerer Beitrag von Horst Renz gewidmet (167–176). Zwischen diesen programmund kunstorientierten Aufsätzen steht ein Beitrag von Otto Weiß über Muths Redakteure (Max Ettlinger, Konrad Weiß, Friedrich Fuchs, Franz Josef Schöningh und Karl Schaezler) (127–165): ein notwendiges Kapitel, weil Muth seine anspruchsvolle Zeitschrift selbstverständlich nicht allein besorgen konnte, sondern auf konzeptionelle und redaktionelle Hilfe angewiesen war. Muth hatte, wie der Verfasser abschließend feststellt, in der Wahl seiner Redakteure durchaus eine »glückliche Hand«; aber es kam auch immer wieder zu teilweise harten Auseinandersetzungen (164f.). Abgeschlossen wird die erste Abteilung durch einen wiederum sehr umsichtigen und zugleich prägnanten Artikel von Thomas Brose mit dem Titel Krieg und Frieden im ›Hochland‹ 1914–1918 (179–191). Es gab vereinzelte Manifestationen von Kriegsbegeisterung, so etwa die Briefe eines Feldgeistlichen, die im Herbst 1914 und 1915 abgedruckt wurden (185); insgesamt aber überwog eine kriegskritische und auf einen baldigen Friedensschluss drängende Haltung. Nach dem Krieg trugen Hochland-Autoren maßgeblich dazu bei, dass die Zeit der Weimarer Republik »zu einer Blütezeit katholischer Intellektualität« wurde (191).

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Die zweite große Abteilung des Bandes (195–424) gilt den Jahren von 1918 bis 1933. Hans Maier charakterisiert die Festschrift, die 1927 zu Muths 60.  Geburtstag unter dem programmatischen Titel Wiederbegegnung von Kirche und Kultur in Deutschland erschien (195–203). Sie zeige die Verdienste von Muth für die Überwindung der »Diastase zwischen Kirche und Kultur« (Philipp Funk), doch bleibe zu untersuchen, in welchem Maße die literarische Moderne tatsächlich Berücksichtigung und Befürwortung im Hochland gefunden habe. Dieselbe Frage stellt auch der Band-Herausgeber Thomas Pittrof in seinem Beitrag unter dem Titel Drei Thesen zur modernitätstheoretischen Einordnung des ›Hochland‹ der Zwischenkriegszeit (253–266), der vor allem deutlich macht, dass die in der Zeitschrift geführte Auseinandersetzung mit der immer heterogener werdenden Moderne deutliche Defizite hatte. Weitere Beiträge gelten einzelnen Persönlichkeiten, die für Muth und die Zeitschrift von größerer Bedeutung waren (Horst Renz, Carl Muth und Gertrud von le Fort, 205–219; Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Romano Guardini, Josef Weiger und Carl Muth, 221–233; Leonid Luks, Gegen totalitäre Versuchungen von links und rechts: Fedor Stepun und Simon Frank als ›Hochland‹-Autoren, 371– 404). Unter dem Titel Soziologische Beobachtung der Religion untersucht der Paderborner Soziologe Marc Breuer den »Soziologiediskurs im Weimarer Katholizismus am Beispiel der Zeitschrift Hochland« (269–293), interessant schon deswegen, weil die Zeitschrift Hochland und das Fach Soziologie ihren Aufstieg zur selben Zeit erlebten und sich nach dem Ersten Weltkrieg die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung religiöser Ideen und Energien mit neuer Dringlichkeit stellte. Das Fazit der Untersuchung lautet: »Der Soziologiediskurs in der Zeitschrift Hochland schlägt einen Bogen von einer im Katholizismus tradierten Ablehnung der Soziologie über skeptisch-distanzierte Beobachtung hin zur Rezeption ausgewählter Autoren und Theoreme.« (289) Und: »Im Soziologiediskurs reflektiert die Zeitschrift Hochland ihre eigene sozialstrukturelle Bedingtheit. Der Diskurs wird aus einer Säkularisierungssituation heraus geführt und lässt diese diskursiv bewusst werden. Soziologische Theoreme werden aufgegriffen, um in einer veränderten gesellschaftlichen Umwelt Poten­ziale der Religion in neuer Form zur Geltung zu bringen.« (291) Eine literaturgeschichtliche und imagologische Glanzleistung ist der von Informa­tionen strotzende Beitrag des Bochumer Romanisten Manfred Tietz, Die Sicht Spaniens in der Kulturzeitschrift ›Hochland‹ (1903–1941), der 74 Seiten zählt, von denen viele zum guten Teil  petit gesetzt sind (295–369). Das Thema rechtfertigt den Umfang (den eigentlich auch das Thema ›Moderne‹ verdient hätte): Von 1903 bis 1941 wird Spanien in über 70 Beiträgen auf rund 444 Seiten kontinuierlich und in programmatischer Absicht the-



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matisiert: Gegenüber England, Frankreich und Russland, die im Hochland meist kritisch betrachtet werden, bildet Spanien »den fast uneingeschränkt positiv besetzten Gegenpol« (304) eines »urkatholischen Land[es]« (308), das nicht an der europäischen Aufklärung teilgenommen habe (329), keine säkulare Zivilgesellschaft hervorgebracht und sich der Moderne weitgehend versperrt habe (335). Es ist das Modell eines katholisch-autoritären, paternalistischen, fest in einer politischen Theologie verankerten Staates, das sich deutlich von der Idee eines demokratisch-republikanischen, säkularisierten Staates mit seiner Trennung von Kirche und Staat abhebt, wie ihn in Europa nach dem Ersten Weltkrieg vor allem Frankreich und England darstellten (337).

Dieses idealisierte Spanien diente als »Medium der Kritik an deutschen Zuständen« (343) vor und nach 1933 (363). Dass die Spanien-Artikel im Hochland »teilweise weit davon entfernt sind, ein wirklich umfassendes Bild von Spanien zu vermitteln und das seinerzeit existierende Spektrum der ideologischen, literarischen und künstlerischen Optionen des Landes widerzuspiegeln« (325), wird immer wieder deutlich. Skeptischer als gegenüber Spanien waren Muth und Hochland gegenüber dem ebenfalls katholischen Polen, dessen »national-polnische« und »deutsch-feindliche«, zudem romantische und messianische »Illusionen« Muth schon 1915 kritisierte, wie der Lubliner Germanist Marek Jakubów in seinem prägnanten Aufsatz »National-Polnische Illusionen« (407–424) darlegt. Die dritte Abteilung über »Karl Muth und das Hochland im ›Dritten Reich‹« weist nur einen einzigen Artikel auf, in dem der Münchener Zeitgeschichtler Hans Günter Hockerts das schon mehrfach untersuchte Abteilungsthema unter der Überschrift Abstand oder Widerstand? erneut beleuchtet und zusammenfassend bewertet (427–443). In der Anfangsphase des ›Dritten Reichs‹ ging der Absatz der Zeitschrift drastisch zurück, stieg dann aber wieder an und verdoppelte sich bis 1939 auf mitunter 11.000 Exemplare (430). Die ungefähr 1.000 Artikel, die von Hitlers ›Machtergreifung‹ bis zur Einstellungsverfügung im Mai 1941 erschienen, lassen sich hinsichtlich der politischen Aussagen und Implikationen »kaum auf einen Nenner bringen« (437). Immerhin kommt Hockerts zu folgenden Feststellungen: »Eine Grundlinie im Gesamtprofil des Hochland zielte auf die Verteidigung religiöser, kirchlicher und personaler Rechte gegenüber der Allmacht des Staates.« (438) »Klare oppositionelle Botschaften findet man im Hochland sehr selten. Häufiger bemerkt man indirekte Kritik, insbesondere Andeutungen in Form von historischen Analogien oder ein Spiel mit Zitaten.« (440) Auch »erkennt man erheb­ liche Zugeständnisse an Sprach- und Denkmuster des NS-Regimes« (440).

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»Alles in allem gilt jedoch, dass nicht Affinität, sondern Abstand das besondere Profil des Hochland ausmachte.« (441) Leserreaktionen zeigen, dass das Hochland weniger ein »Aktivierungsraum« war als vielmehr ein »Zufluchtsort in der Abwendung von der unseligen Gegenwart«; eher als von »Widerstand« ist deswegen von »Abstand« zu sprechen (442). Die vierte Abteilung dokumentiert die Abschlussdiskussion (447–464), die manche Befunde pointiert (Otto Weiß, 453: »Hochland hat so viel Neues nicht gebracht, sondern war eher konservativ.«) und Forschungs­ defizite benennt (Verhältnis zur Moderne und zum Judentum). Die fünfte Abteilung registriert die »Bildpublizistik des Hochland 1903–1941« (467– 513) und informiert mit 26 Biogrammen von Otto Weiß über die wichtigsten Mitarbeiter des Hochland (515–574). Die sechste und letzte Abteilung bietet die schriftliche Version des von Hans Maier verfassten Porträts 50 Jahre ›Hochland‹: Bildnis einer Zeitschrift, das 1953 vom Südwestfunk ausgestrahlt wurde (577–591). Es ergänzt sehr schön das zuvor schon dokumentierte »Rundfunkgespräch« Das Gesicht der Zeitschrift ›Hochland‹, das Carl Muth 1930 mit den Redakteuren Friedrich Fuchs und Otfried Eberz geführt hatte und das vom Berliner Sender ausgestrahlt worden war (235–251). Es dürfte deutlich geworden sein, dass mit dem Tagungsband über Carl Muth und das Hochland eine Würdigung von großer Umsicht und Informationsdichte, fragloser wissenschaftlicher Solidität und klarem Urteil vorliegt. Gelegentliche Hinweise auf Forschungsbedarf in der einen oder anderen Frage schmälern diese große, ja großartige Gemeinschaftsleistung nicht im Geringsten. Der Band ist aber nicht nur für die Einschätzung der Zeitschrift Hochland von Bedeutung, sondern auch für das Bild der kulturellen Entwicklung und zumal von Intellektualität und Katholizismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Helmuth Kiesel, Heidelberg Nathalie Aghoro, Sounding the Novel: Voice in Twenty-First Century American Fiction [American Studies: A Monograph Series 294], Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2018. 258 S. Nathalie Aghoro’s Sounding the Novel (2018) approaches the topic of sound in literature from an unusual perspective. Rather than focussing on a genre that has an inherent connection to performance (such as drama and poetry), her chosen subject matter is silent twenty-first-century American fiction. She asks how voice enters the text, how it impacts listeners within and without the novel, and whether a »listening perspective«  (23)



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offers new ways of understanding literature in general as well as »examin[ing] how fiction negotiates the cultural and social significance of the audible and the silenced voice« (13). Consequently, she links concepts of voice taken from phenomenology (Ihde, LaBelle), language philosophy (Derrida, Cavarero, Dolar), literary (Bakhtin) and performance studies (Kolesch, Krämer) with a socio-cultural approach that is focused on listening as a social practice which demands attentiveness (Les Back). The first ask what it is that constitutes voice on the silent page and the latter suggests socio-cultural functions of voice(s) and listening as a device to connect people, within the novel as well as with the listening reader. This double focus seems to allow Aghoro to naturally relate the sound content of her corpus novels – which are concerned with screaming, singing, vocal protest, polyphony, recorded voices, and silence  – to a study of the form they give to the voices they feature. Whereas the discussion of the formal sound features and possibilities the texts offer  – usually expressed in poetic and experimental language as well as medial forms  – is addressed in some of the case studies, it is more often than not pushed to the margins. The focus is clearly on the philosophical question of what voice is and can do  – narratologically, socially, and politically  – in the fictional context of her chosen novels. Thus Aghoro, for example, analyses Richard Powers’s novel The Time of Our Singing (2003) with a focus on the question of what it is that constitutes a voice in time from perspectives influenced by philosophy and physics. Especially the second is part of the novel’s own thinking about the matter of time and/in music as one of its characters is a physicist and amateur musician; an approach which is typical of Aghoro’s method: she closely interlinks the metareferential concerns of her chosen texts with her wider sound agenda. This also means, however, that she does not necessarily investigate the text’s approaches and (in)ability to sound the singing voice in writing, nor the particular functions of its acoustic rhetorical strategies. The last chapter, concerned with Jennifer Egan’s A Visit from the Goon Squad (2010), includes one of the rather rare formal analyses of language: silence and pauses as represented by visual (though not textual) signs. Instead of discussing the textual form of voice and its impact on meaning making, then, Aghoro’s study generally understands voice as an identity maker within a society of voices and silences that resound the self. This becomes especially clear in her chapters on Jonathan Safran Foer’s Extremely Loud & Incredibly Close (2005), Richard Powers’s The Echo Maker (2006), and Tei Yamashita’s I Hotel (2010). While the first two text require their protagonists to (re)discover their voices after trauma, Hotel (re)creates a communal identity at a specific moment and place in time.

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In an approach that seems familiar from theatre studies, Sounding the Novel sets the voice on the silent page of the novel into the context of Ihde’s concept of »auditory imagination« (12), i. e. the idea that a reader imagines sounds and voices as effectively (or even more so) as actual sound, drawing on an archive of sound memories acquired over a lifetime. Quite similar to the ongoing discussion of reading rather than seeing Shakespeare (see e. g. Harry Berger’s Imaginary Audition, 1989; Robert Weimann’s Author’s Pen and Actor’s Voice, 2000; or Lukas Erne’s Sha­ kespeare as Literary Dramatist, 2003), Aghoro takes the move away from »perceptual« or actual listening to be a liberation rather than a restriction as she »understands the silence of the textual medium as a catalyst for the conceptual exploration of voice as sound in literary discourse« (12). It is a remembered and projected sound that is discussed in Sounding the Novel, and yet its properties are suggested to have the same effect as actual sound. As sound, however, has undeniable material properties, its description in literature must be as an ekphrasis to a painting, an imitation of a different medium. Its actual sounding out, which is not discussed in the book, is, of course, quite a different matter. In the first of two theoretical chapters, Aghoro offers a solution to this apparent problem: she is, on the one hand, investigating »voice as sound« (24) as opposed to a mere mediator of semantic meaning and is thus clearly interested in its materiality and its connection to the body. On the other hand, she works with a conceptualization of the materiality of voice, moving beyond the ideal (cf. Derrida etc.) but still concentrating on its materiality as imagined rather than actual. Her study, in a sense, is as silent as her novels are, thinking about voice as sound without actually sounding out. Rather than asking, then, how the text can serve as » ›a [musical] score‹ « (Ihde in Aghoro 12), Aghoro’s focus is on how »fictional voice« (23) enters texts, becomes visible on the page and is then (re)imagined by readers. Accordingly, she writes of the »textualization of soundscapes in fiction« (12). She does not understand her chosen novels as offering »reading directions«, but instead claims that they »seek out the effects, ripples, and voids that the sound of a voice leaves behind in the fictional fabric as well as the performative impetus of vocal expression on the storyworld« (54). Hers is a theoretical discussion of theoretical concepts of voice in a genre of theoretical voices. Accordingly, she does not follow more traditional approaches of tracing »the development of the spoken word from orality to writing« but »goes the other way round analyzing how novels use their textuality to approach voice as sound« (37). Especially Foer’s and Egan’s novels explore the question of how sound can enter  – and potentially exit – the text. Both experiment with form and intermediality, offer-



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ing a visual representation of sound, or, in Egan’s case, embedding musical recordings in the electronic version of the text. Modern technological possibilities of hearing (bodiless) voices inform Aghoro’s corpus and situate it in the present. Especially the radio features in most of the case studies; an aspect which, sadly, is not further interconnected within the chapters. It would have been worthwhile to discuss these reoccurrences, to ask what role the radio plays throughout twenty-first century American fiction, how it becomes textualized, and what its impact on the soundscape as well as the (auditory) meaning-making of the novels may possibly be. In its final chapter on silence, Sounding the Novel once more makes evident why the silent medium of the novel particularly lends itself to a study of voice and sound. It argues that the very silence of the medium provides a canvas for voices and soundscapes that echo in the reader’s auditory imagination. Absence demands presence, author and reader are asked to fill in the auditory gap  – e. g. via intermediality as in Egan’s work  – and create sound in silence. This fictional sound brings its own implications, especially for fictional identity  – voice as being  –, and the question of narrative voice beyond semantics. Thus Aghoro’s study, within its conceptual limits, can bring its readers one step closer to understanding how fictional voice constitutes character, (historical) society and place in the silent medium of the novel. Mirjam Haas, Mainz

Namen- und Werkregister Von Ulrich Barton (Die Zahlen verweisen auf die Seiten, kursive Zahlen auf die Hauptstellen. Das Register wählt aus.) Alberti, Rafael  265 Alemán, Mateo – Guzmán de Alfarache  244–246, 270 Anselm von Canterbury  216 f. Aretino, Pietro – Il Maresciallo  190 Ariosto, Ludovico  162, 170–172 – Orlando furioso  163–166, 172, 174–179 Aristoteles – Poetik  185 f. – Politik  234 Austen, Jane – Pride and Prejudice  296 Austin, John L. 66 Beda Venerabilis  119 Benjamin, Walter  336 Benn, Gottfried  334 Benoît de Sainte-Maure – Roman de Troie  38, 42 f., 47 Bentham, Jeremy  294 Beowulf  14 Bernhard von Clairvaux  211, 216 Bibbiena, Bernardo Dovizi da – Calandria  184, 186–188, 190 Bobrowski, Johannes – BERICHT  373–388 Boiardo, Matteo Maria – Orlando innamorato  160–163, 174–176

Bonaventura da Bagnoregio  91, 107–109, 115 f., 118, 120, 122 Borchardt, Rudolf  330 Brentano, Clemens  391 Brügel, Fritz – Warten  335 f. Bruno, Giordano – Candelaio  181–203 – De umbris idearum  181, 184, 195–197, 201 Butler, Judith  67 Calderón de la Barca, Pedro  258, 260, 262 f., 265, 267, 270 – El alcalde de Zalamea  233 Calvin, Johannes  239 f. Castiglione, Baldassare – Il cortegiano  189 Cervantes, Miguel de  260–263, 265, 268, 274 f. – Don Quijote  268, 274 Chanson d’Aspremont  175 Chrétien de Troyes  43–45, 49, 57, 59 f., 176 – Cligès  44, 58–59 – Érec et Énide  44, 57–59 – Lancelot  44, 57, 59 – Perceval  44, 57, 59 – Yvain  44, 57, 59 Chronique d’Ernoul  87 f., 96–102, 106 f., 121 f.

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Namen- und Werkregister

Concolorcorvo – El Lazarillo de Ciegos Caminantes  249 f. Corneille, Pierre  207 Coventry, Francis – The History of Pompey the Little … 277–298 Dante Alighieri  122, 160 – Commedia  87, 114–120, 164 Dehmel, Richard  328 f. Derrida, Jacques  67, 425 f. Descartes, René  267, 286, 294 Desprez, Josquin – Hercules dux ferrarie  167–172, 179 Dwinger, Edwin Erich  333 f. Egan, Jennifer  425–427 Eich, Günter – Augsburg  389–404 Entrée d’Espagne  175 Erasmus von Rotterdam  267, 274 Ezzolied  20 Feuchtwanger, Lion – Der Wartesaal  335 Foer, Jonathan Safran  425 f. Fogazzaro, Antonio  421 Fontane, Theodor – Der Stechlin  317 Franz von Assisi  87–122 Frenssen, Gustav  416–419 Galilei, Galileo  267 Genette, Gérard  71 Geoffroy de Vinsauf – Poetria nova  50 George, Stefan – Der Lezte der Getreuen  331 f. Georgslied  28 f. Goethe, Johann Wolfgang  409 f., 412 Góngora, Luis de  260, 262, 265

Goytisolo, Juan  269 f., 272 Graef, Juan Enrique  251 f. Groth, Klaus  414–416 Hamsun, Knut  418 Hartmann von Aue – Erec  18 – Iwein  18, 75, 80–82 Heinrich von Avranches  102–108, 113, 121 Heinrich von dem Türlin – Diu Crône  63–85 Heinrich von Veldeke – Eneasroman  38, 41 Heliand  17–20, 22 Herder, Johann Gottfried  399–401 Herzog Herpin  123–158 Heym, Georg  339 Hoddis, Jakob van  339 Homer  165, 178 Hugo von St. Viktor  91, 120 Isidor von Sevilla  119, 149, 261 f. Jacques de Dinant  119 Jacques de Vitry  92–96, 101, 108, 116, 122 Jandl, Ernst  341 Jeu d’Adam  211–214 Joachim von Fiore  91 Johannes vom Kreuz  267 Jünger, Ernst  328, 332 f. Kafka, Franz  398 f. Kaiserchronik  14–16 Klemm, Wilhelm  339–371 Klingemann, August  411 f. Konrad von Megenberg – Buch der Natur  148 Kracauer, Siegfried  330 Krüger, Bartholomäus – Newe Action von dem Anfang und Ende der Welt  219 f.



Namen- und Werkregister

Lagerlöf, Selma  417 f. Lazarillo de Tormes  243 f. Lessing, Gotthold Ephraim  399 Lope de Vega  260–265, 270 – Arte nuevo de hacer comedias  233 – Fuenteovejuna  227–241, 264 Lorca, Federico García  265 Ludwigslied  20–23, 25–28, 34 f. Lukan  261 Luther, Martin  214, 217

Raabe, Wilhelm  418 Renaut de Beaujeu  176 Richter, Christian – Der erschaffene, gefallene und auffgerichtete Mensch  206–226 Rilke, Rainer Maria  417 f. Roman d’Énéas  37–62 Roman de Thèbes  38, 42–44 Rudolf von Ems – Alexander  41 f.

Machiavelli, Niccolò  229 – La Mandragola  184, 186, 188–190 – Il Principe  189 Mann, Thomas  324–326, 328, 380, 417 f. – Lotte in Weimar  325 – Der Tod in Venedig  324 f. – Der Zauberberg  325 f. Marquard, Odo  338 Meyrink, Gustav  418 f. Muth, Carl  419–424

Schlegel, August Wilhelm  261 f. Schmidt, Arno  417, 419 Schmitt, Carl  332 Schneider, Reinhold  334 Seghers, Anna – Das siebte Kreuz  337 – Transit  336 f. Seneca  261 Shakespeare, William  261, 426 – Hamlet  307, 405–408 Smith, Adam  252 Spengler, Oswald  321, 332 Storm, Theodor  412–414

Nietzsche, Friedrich  322–324, 332 f., 337

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Petrarca, Francesco – Canzoniere  175 Petruslied  20 Physiologus (Millstätter) 145 f. Platon – Philebos  184 f., 187, 192 f. Powers, Richard  425 Prüß, Rainer  414

Theresa von Avila  267 Thomas d’Angleterre – Tristan  43 f. Thomas von Aquin  117 f. Thomas von Split  111 f. Todorow, Tzvetan  70 Tommaso da Celano – Vita beati Francisci  102, 104, 108 Torres Villarroel, Diego de – Vida  249 Twain, Mark – The Adventures of Huckleberry Finn  299–315

Quevedo, Francisco de  260, 262 – El Buscón  244 f. Quintilian  261

Vergil  165 – Aeneis  39 – Bucolica  258

Ortega y Gasset, José  266 Otfrid von Weißenburg – Evangelienbuch  17–20, 29 Ovid  38

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Namen- und Werkregister

Voith, Valentin – Lieblich Spiel von dem herlichen vrsprung …  217–219 Wace – Partie arthurienne du Brut  43 f. Weber, Max  322 Wilhelm von Tyrus – Historia Ierosolymitana  88 Wirnt von Gravenberg – Wigalois  75

Wolfram von Eschenbach – Parzival  43, 65 Woolf, Virginia – Flush: A Biography  277–298 – The New Biography  277, 292, 296 Yamashita, Tei  425 Zöberlein, Hans  333