Musikkulturen in der Revolte: Studien zu Rock, Avantgarde und Klassik im Umfeld von 1968 3515090851, 9783515090858

"Und die neue Musik sollte in diesem Sinn eigentlich eine Musik sein, die sich für eine neue Gesellschaft eignet.&q

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Musikkulturen in der Revolte: Studien zu Rock, Avantgarde und Klassik im Umfeld von 1968
 3515090851, 9783515090858

Table of contents :
Inhalt
Zur Relevanz der Thematik
Das Neue kommt besonders vertrackt
Ein Popkonzert und die ästhetische Entdogmatisierung der „Neuen Musik “ nach 1968
Pamphlets and Protests: The End of Stockhausen’s Darmstadt
Die Politisierung von Sprache und Kriterien der Musikkritik nach 1968
Gesellschafts- und Werkkritik in Fidelio -Inszenierungen um 1968
“Poor man’s musique concrete ”: Luc Ferrari ’s tape music after 1968
1968 and New Music in the Netherlands
Hans Werner Henzes Bassariden im Kontext der achtundsechziger Bewegung
Glossolalische Stimmen
Le donne in rivolta o la rivolta femminile?
„Hesse ist wirklich ein Proto-Hippie“
“The Germans Meet the Underground”
Friedliche Utopien und Kommerz
Kommunikationsguerilla 1968
Musik als rebellische Instanz
‚1968‘ und der Wandel der Protestkultur in der Musik im Ostblock
Anti-optimistic or allusive?
Zu den Autorinnen und Autoren
Register

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Beate Kutschke (Hg.) Musikkulturen in der Revolte

Beate Kutschke (Hg.)

Musikkulturen in der Revolte Studien zu Rock, Avantgarde und Klassik im Umfeld von ,1968‘

Franz Steiner Verlag 2008

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung

Umschlagbild: Besetzter Bauplatz der ­Chemischen Werke München in Marckolsheim, Elsass, 20.10.1974 Personen im Vordergrund: Paul Gässler, Winzer aus Mahlberg (links), Walter Mossmann (rechts) Fotografin: Sully Roecken, Freiburg Mit freundlicher Genehmigung von Walter Mossmann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09085-8 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2008 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungs­beständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany



Inhalt

Beate Kutschke Zur Relevanz der Thematik.................................................................................5 1.

Frieder Reininghaus Das Neue kommt besonders vertrackt – Kohärenzen und Divergenzen zwischen politischen und ästhetischen Avantgarden.............25

2.

Frank Hentschel Ein Popkonzert und die ästhetische Entdogmatisierung der „Neuen Musik“ nach 1968.....................................................................39

3.

Martin Iddon Pamphlets and Protests: The End of Stockhausen’s Darmstadt............................55

4.

Martin Elste Die Politisierung von Sprache und Kriterien der Musikkritik nach 1968...........65

5.

Glenn Stanley Gesellschafts- und Werkkritik in Fidelio-Inszenierungen um 1968: Inhalt, Rezeption und Einfluss..........................................................................75

6.

Eric Drott „Poor man’s musique concrète“: Luc Ferrari’s tape music after 1968................91

7.

Robert Adlington 1968 and New Music in the Netherlands...........................................................103

8. Antje Tumat Hans Werner Henzes Bassariden im Kontext der achtundsechziger Bewegung....................................................................115 9.

Simone Heilgendorff Glossolalische Stimmen: Politisches Ethos, Selbsterfahrung und Spiel in Dieter Schnebels experimentellen Kompositionen der 1960er/1970er Jahre.............................................................................127

10. ������ Beate Kutschke Le donne in rivolta o la rivolta femminile? Luigi ����������� Nonos Al gran sole carico d’amore und die italienische Frauenbewegung..........141 11.

Magali Laure Nieradka „Hesse ist wirklich ein Proto-Hippie“ – Zur musikalischen Rezeption Hermann Hesses.........................................................................................153



Inhalt

12. Timothy Brown „The Germans Meet the Underground“: The Politics of Pop in the Essener Songtage of 1968..........................................................................163 13.

Sebastian Werr Friedliche Utopien und Kommerz – Die Musikkultur der Hippies.....................175

14.

Joachim Scharloth Kommunikationsguerilla 1968 – Strategien der Subversion symbolischer Ordnung in der Studentenbewegung..........................................187

15.

Steffen A. Schmidt Musik als rebellische Instanz – Hans Kresniks Susi Cremecheese....................197

16.

Rüdiger Ritter ‚1968‘ und der Wandel der Protestkultur in der Musik im Ostblock.........207

17.

Bogumila Mika Anti-Optimistic or Allusive? Polish Art Music after 1968........................225 Zu den Autorinnen und Autoren.......................................................................235 Register.........................................................................................................241



Beate Kutschke

Zur Relevanz der Thematik I. „Der Begriff der engagierten Musik ist zwiespältig. Und wegen der trügerischen Prägnanz, durch die er besticht, einer Prägnanz, die nichts als Schein ist, hinter dem sich Verworrenheit verbirgt, taugt die Vokabel zum Schlagwort, mit dem sich Gedankenlosigkeit drapiert.“ – Mit der Carl Dahlhaus eigenen Direktheit brachte der Musikwissenschaftler 1972 zum Ausdruck, was er für das Resultat aus der jüngsten Debatte über die Idee der ‚politisch engagierten Musik‘ hielt. Auch wenn es der Auseinandersetzung über die politische Musik zweifelsfrei an Prägnanz und Klarheit mangelte und Dahlhaus insofern nicht zu unrecht seinen Unmut über den Verlauf der Diskussion zum Ausdruck brachte, so besaß sie jedoch zu Beginn der 1970er Jahre einen handfesten aktuellen Anknüpfungspunkt, der die Debatte herausforderte und nahezu unumgänglich machte: die Protest- und Studentenbewegungen und das linksintellektuelle Klima, das in den 1960er und 70er Jahren die westlichen Industrienationen – aber nicht nur diese – aufrüttelte, kurz ‚1968‘. Das für viele damalige Musiker attraktive Konzept der politischen und (politisch) engagierten Musik – die Idee also, dass Musik gesellschaftspolitisch von Bedeutung sein könne, indem sie politische Gehalte besäße, die auf die politische Haltung und/ oder das politische Handeln der Rezipienten dieser Musik Einfluss ausüben – reflektierte den damaligen Zeitgeist und diente Komponisten und Ausführenden als Handlungsimperativ. Im Kontext von ‚1968‘ gelangten soziale und politische Fragen in den Vordergrund und erzeugten bei den Neu-Linken – die Mehrheit der Bevölkerung blieb bekanntlich von den Ereignissen um ‚1968‘ weitgehend unbeeindruckt – eine Art moralische Verpflichtung zur Teilhabe am soziopolitischen Umbau der Gesellschaft. Es waren diese Forderungen, auf die die Theoriebildung zur politischen und (politisch) engagierten Musik reagierte.  



Carl Dahlhaus, Thesen über engagierte Musik, in: Neue Zeitschrift für Musik 1972, S. 3–8, hier S. 3. Die Idee, dass Musik politisch wirksam sei, ist in verschiedenen historischen Phasen immer wieder hervorgetreten. Die Musikpolitik des Ostblocks war bekanntlich von dieser Idee geradezu getrieben. Aber auch die Entstehung des Arbeiterliedes in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts dürfte darauf zurück gehen, so wie jede Herrschaft legitimierende Musik implizit von der politischen Wirksamkeit von Musik motiviert ist: die Musik an den Adelshöfen, insbesondere diejenige am Hofe Ludwig XIV. oder die so genannte Revolutionsmusik im Anschluss an 1789. Vgl. Rainer Dollase, Rezeptionseinstellungen zur Rock- und Jazzmusik in den 70er Jahren als Folge der 68er Bewegung – Ein Blick in alte Konzertumfrageergebnisse, Vortrag beim internationalen Symposium 1968: Musikkulturen zwischen Protest und Utopie, Katholische Akademie Schwerte, 13. bis 15. Januar 2006.



Beate Kutschke

Auch wenn – wie Dahlhaus andeutet – die Idee der politischen Musik eine Reihe von argumentativen Schwächen aufwies, so hat das linksintellektuelle Klima der 1960er und 70er Jahre dennoch deutliche, die Musikkultur der nachfolgenden Dekaden prägende Spuren hinterlassen und legt eine eingehendere Untersuchung der Zusammenhänge nahe. Die Auseinandersetzung mit den damaligen Musikkulturen im Kontext der Studenten- und Protestbewegungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird dabei durch die in jüngster Zeit zu beobachtende Neuorientierung der Perspektive auf ‚1968‘ begünstigt: Historische Erfahrungen werden gewöhnlich nach ca. 35 bis 40 Jahren vom individuellen in das kulturelle und kollektive Gedächtnis einer Nation überführt. Dieser Prozess, der damit im Zusammenhang stehen dürfte, dass die Erinnerungen einstiger Zeitzeugen zunehmend weniger verfügbar sind und das Wissen über eine Epoche daher in neuer, von der persönlichen Erfahrung und Erinnerung unabhängiger, quasi überpersonaler Form ‚gespeichert‘ werden muss, lässt sich auch bezüglich ‚1968‘ beobachten. Ging das Interesse an den Studenten- und Protestbewegungen in der Vergangenheit vor allem von den ehemaligen Aktivisten und Betroffenen aus, so sind es jetzt die jüngere und mittlere Generation – die Kinder und Kindeskinder von Achtundsechzigern –, die sich den Ereignissen und soziokulturellen Umständen der revoltierenden Jugend in den 1960er Jahren und der Ausbildung der Alternativkulturen in den 1970er Jahren zuwenden. Dieses Interesse der jüngeren Generationen spiegelt sich nicht nur in den Massenmedien wider, wo die Ereignisse im Umfeld der revolutionary years in Dokumentarfilmen, Interviews und Feuilletonartikeln ins Gedächtnis gerufen werden. Auch die Geschichts-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften setzen sich seit Mitte der 1990er Jahre verstärkt mit dieser für die Entwicklung der westlichen Gesellschaften wichtigen soziopolitischen Phase auseinander und tragen zu ihrer Historisierung bei. Für eine dem Untersuchungsgegenstand ‚1968‘ gerecht werdende Auseinandersetzung – das hat die Soziale-Bewegungen-Forschung in den vergangenen Jahren herausgearbeitet – genügt es dabei nicht, die politische Wirkung im engeren Sinn 







Vgl. Beate Kutschke, Im Vorfeld der neu-linken Revolution. Die Idee der politisch-engagierten Musik um 1970, in: Kontinuitäten - Diskontinuitäten. Untersuchungen zu Musik und Politik in Deutschland 1920– 1970, hrsg. von Heinz Geuen und Anno Mungen, Schliengen 2007, S. 163–181. Vgl. z.B. den Artikel von Sophie Dannenberg zum Grips Theater, dem Berliner Jugendtheater, das in den 1970er Jahren aus den ‚reformpädagogischen‘ Zielvorstellungen der Neuen Linken hervorging (Sophie Dannenberg, Manomann, diesmal sind die Alten dran!, in: Der Tagesspiegel, Berlin, 11. Dezember 2004). Dabei lässt sich eine Verschiebung der Perspektive auf die Ereignisse der 1960er und 70er Jahre beobachten, die für den vorliegenden Sammelband eine entscheidende Anregung darstellte: Spaltete sich in der Vergangenheit die Diskussion um ‚1968‘ in ein apodiktisches Für und Wider, in eine verabsolutierende Glorifizierung oder Verdammung den Leitgedanken gemäß „alles, was die Achtundsechziger vollbracht haben, war gut“ bzw. „alles, was die Achtundsechziger gemacht haben, war schlecht“, so ist mit der Historisierung und der Überführung in das kulturelle Gedächtnis das Bemühen um Differenzierung und ein ausgewogeneres Bild verbunden, das die Errungenschaften im Zuge der achtundsechziger Revolten angemessen würdigt, ohne die unglücklichen Entwicklungen und Konsequenzen von ‚1968‘ – die unreflektierte Mao-Begeisterung, die willfährige Mitgliedschaft in K-Gruppen und die Entstehung der RAF – zu beschönigen oder zu unterdrücken. Maßgeblich hierfür sind Ingrid Gilcher-Holtey, das Autorenduo Ron Eyerman und Andrew Jamison, Al-

Zur Relevanz der Thematik



von ‚1968‘ zu untersuchen, die sich bekanntlich – anders als sich die Achtundsechziger erhofften – nicht in dem von den Akteuren angestrebten radikalen Umbau der soziopolitischen Institutionen und des politischen Systems niederschlug. (Wenn von einer politischen Wirkung die Rede sein kann, so handelt es sich um eine längerfristige.) Ein im Unterschied zu diesem rein politischen Fokus abgerundeteres Bild lässt sich demgegenüber gewinnen, wenn ‚1968‘ als soziokultureller Wandel ins Blickfeld genommen wird. Aufmerksamkeit verdienen hier u.a. die konkreten alltagspraktischen Veränderungen, die sich im Zuge und im Umfeld der Studenten- und Protestbewegungen sowie der sie vorbereitenden Jugendbewegung seit den ausgehenden 1950er Jahren vollzogen: die veränderten Lebensstile, die bisher übliche Formen des Zusammenlebens ersetzten; die neuen Einstellungen zu den Geschlechterrollen und zur Sexualität; die Entwicklung alternativer lässiger Umgangs- und Kleidungsstile; der zunehmende Fokus auf Umweltschutz und biologische Ernährung sowie generell die gesteigerte Sorge um die eigene psychische und physische Gesundheit. ‚1968‘ bezeichnet hinsichtlich dieser soziokulturellen Veränderungen nicht ein Jahr, sondern ist Chiffre für eine Epoche, die von den ausgehenden 1950er Jahren bis zur Mitte der 1970er Jahre reicht. Im Vergleich mit dem – ohnehin in argumentatorische Aporien führenden – Konzept der ‚politischen Musik‘ erweitert sich mit der Perspektive auf ‚1968‘ als einem gesamtgesellschaftlichen soziokulturellen Veränderungsprozess das Spektrum an Gesichtspunkten, die es in Bezug auf die Zusammenhänge zwischen ‚1968‘ und Musik zu untersuchen gilt: In das Blickfeld geraten nicht nur wie bisher Werke und Stile, die eindeutig auf politische Sachverhalte Bezug nehmen, sondern jede Musik, die auf die eine oder andere Weise im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Wandel steht, sei es aufgrund ihrer – musikakzidentiellen – Texte und Inhalte, sei es aufgrund der gewählten musiksprachlichen Mittel. Das Vorhandensein eines politischen Impetus ist demgegenüber unerheblich. Vor dem Hintergrund dieser Fokusverlagerung vom Politischen zum Lebensweltlichen, Weltanschaulichen und Kulturellen zeigt sich – und das ist der musikhistorische Ertrag dieses Sammelbands –, dass ‚1968‘ die westliche Musikkulturlandschaft spartenübergreifend entscheidend geprägt hat. ‚1968‘ war u.a. Vorbereitung für die so genannte postmoderne Stilrichtung im Bereich der Neuen Musik; es trug zur Entwicklung der historischen Aufführungspraxis bei und es brachte eine noch heute gültige Inszenierungspraxis im Musiktheater mit auf den Weg; in der Rockmusik beförderte es nicht nur die Kommerzialisierung; es gab ebenfalls Impulse für deren Profilierung und Identitätsbildung und stimulierte eine innerhalb des Genres ausgetragene kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Werten. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes beschränken sich jedoch nicht allein darauf, die Bedeutung sichtbar zu machen, die der gesamtgesellschaftliche Wandel für den Musikbereich besaß. Sie zeigen darüber hinaus – und das ist der kulturwissenschaftliche und interdisziplinäre Ertrag in Ergänzung zum musikhisto-



berto Melucci, Wolfgang Kraushaar sowie das von Martin Klimke und Joachim Scharloth initiierte Interdisziplinäre Forschungskolloquium Protestbewegungen. S. Anmerkung 4.



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rischen Ertrag – das gegenseitige Einflussverhältnis, die gegenseitige Verstärkung und Resonanz zwischen dem linksintellektuellen Klima und Phänomenen im Musikbereich. Das soziokritische Engagement mancher Komponisten und der Einsatz subversiver Kompositionstechniken ist in diesem Sinn nicht nur Reflex auf die Studenten- und Protestbewegungen, sondern ist eigendynamischer Faktor, der zur Ausformung der achtundsechziger Kultur beisteuerte. II. Erfuhr bislang im großen und ganzen nur die Popularmusik im Umfeld der gesellschaftlichen Umbrüche der 1960er und 70er Jahre einige Aufmerksamkeit, so präsentiert der vorliegende Band ein sparten- und gattungsübergreifendes Spektrum. Die Bandbreite an Musikrichtungen, Denkfiguren, Theorien und Ereignissen, die für die politisierten Musikstudenten damals eine Rolle spielte, entfaltet Frieder Reininghaus (1.): Der heute als Kulturkorrespondent und Publizist bekannte Autor war in den ausgehenden 1960er und 70er Jahren an verschiedenen, zu ‚1968‘ zu rechnenden Ereignissen im Musikbereich maßgeblich beteiligt. Zusammen mit Kommilitonen, vor allem Habakuk Traber (heute Musikjournalist in Berlin) rief er zu Beginn der 1970er Jahre eine den soziopolitischen Gehalt von Musik untersuchende studentische Arbeitsgruppe, das ‚Theorieplenum‘ ins Leben. Die studentische Initiative vermochte auch etablierte Musikwissenschaftler zu begeistern, so dass unter der offiziellen Leitung von Peter Rummenhöller, damals Professor an der Musikhochschule Stuttgart, 1971 der 1. Internationale Kongress für Musiktheorie zum selben Thema organisiert werden konnte.10 Trabers und Reininghaus’ Engagement verdankt sich ebenfalls, dass die Debatte zwischen Nicolaus A. Huber und Clytus Gottwald, damals Redakteur für Neue Musik beim Süddeutschen Rundfunk, gut dokumentiert ist. Auf Anregung Reinhard Oehlschlägels veröffentlichten sie Ausschnitte aus dem Briefverkehr zwischen beiden Kontrahenten in der Musikzeitschrift Melos. Der Streit zwischen Gottwald und Huber entzündete sich an Hubers provozierender und radikal politisch konzipierter Komposition Harakiri (1971) – einer Komposition, die Gottwald zwar durch seinen Kompositionsauftrag veranlasst hatte, die er jedoch anschließend, nach der Fertigstellung des Werkes, nicht gewillt war, vertragsgemäß uraufzuführen. Die Debatte stellt heute eine unschätzbare Quelle dar, anhand derer sich die Ästhetik der Avantgardemusik im Umfeld des linksintellektuellen Klimas rekonstruieren lässt.11  Vgl. Ron Eyerman und Andrew Jamison, Music and Social Movements, Cambridge 1998. 10 Der Kongressbericht ist publiziert als Bericht über den 1. Internationalen Kongress für Musiktheorie Stuttgart 1971, hrsg. von Peter Rummenhöller, Friedrich Christoph Reininghaus und Jürgen Habakuk Traber, Stuttgart 1972. 11 S. weiteres hierzu Beate Kutschke, Die Huber-Gottwald-Kontroverse – Die Inszenierung der Neuen Musik als politische Manifestation, in: Die Macht der Töne. Musik als Mittel politischer Identitätsstiftung im 20. Jahrhundert, hrsg. von Tillmann Bendikowski, Sabine Gillmann, Christian Jansen, Markus Leniger, Dirk Pöppmann, Münster 2003, S. 147–169 und Beate Kutschke, Aesthetic Theories and Revolutionary Prac-

Zur Relevanz der Thematik



Im vorliegenden Beitrag vergegenwärtigt Reininghaus ein vielfältiges Spektrum an Namen und Genres, von der US-amerikanischen und deutschen Rockmusik über das kirchliche Protestlied und das Revival des Arbeiterkampfliedes zur internationalen Neue Musik Szene und der Theoriebildung um Theodor W. Adorno. Entscheidend für letztere, so Reininghaus, war dabei die – nicht immer unbedingt einlösbare – Erwartung, dass zwischen den politischen und künstlerischen Avantgarden eine gewisse Kongruenz und Korrespondenz bestünde. III. Die den gesamtgesellschaftlichen Wandel im Umfeld von ‚1968‘ maßgeblich motivierende revolutionär-reformistische Orientierung der Achtundsechziger veränderte sowohl das private Leben als auch gesellschaftliche und kulturelle Institutionen (obgleich einschneidende politisch-institutionelle Veränderungen auf der Ebene des Staates weitgehend ausblieben). Die von den Neulinken propagierten Ideale der Mitbestimmung und ‚Basisdemokratie‘ sowie, damit verbunden, die Abschaffung autoritärer und hierarchischer Strukturen, die soziale Unterschiede zementierten, schlugen sich nicht nur in den Umgangsformen innerhalb der Familie und der Erziehung nieder, sondern hatten bekanntlich auch Einfluss auf die Strukturen pädagogischer und wissenschaftlicher Einrichtungen.12 Dass die studentischen Proteste durch die Aufmerksamkeit der Medien eine größere Breitenwirkung erzielen konnten und dass die Medien wiederum die Protestaktionen der Studenten gerne als ‚Stoff‘ für publikumswirksame Berichte verwendeten, hatten die Akteure der Studenten- und Protestbewegungen schnell begriffen und sich zu Nutze gemacht, um ihren Anliegen durch die gesamtgesellschaftliche Bedeutung, die ihre Aktionen durch die Medienberichte gewannen, mehr Nachdruck zu verleihen.13 Die Revolten gegen die Institutionen, insbesondere die Institution ‚Universität‘, hatten dabei zweifellos auch Vorbildcharakter für die politisierten Musiker und Musikstudierenden. Die Kritik an den Institutionen des Musikbereichs ließ sich besonders wirksam gestalten, indem große, etablierte Institutionen – das Opernhaus in Zürich und der Hessische Rundfunk z.B. – als Orte und Zielscheiben für die Aktionen ausgewählt wurden.14 tice: Nicolaus A. Huber and Clytus Gottwald in dissent, in: Otherwise Engaged, hrsg. von Robert Adlington, Oxford 2008 (Druck in Vorbereitung). 12 Der – heute freilich zunehmend wieder abgebaute – Schlüssel für eine tendenziell paritätische Verteilung der verschiedenen Universitätsangehörigen in den Hochschulgremien (Studierende – Mittelbau – Professorenschaft) geht genauso auf den achtundsechziger Zeitgeist zurück wie die Einrichtung von Integrationsklassen und die Reduzierung lehrerzentrierten Unterrichts. 13 Die medienwirksame Inszenierung von Protesten war damals in dieser Form neu und entwickelte sich erst im Zusammenhang mit den Studenten- und Protestbewegungen. Vgl. Kathrin Fahlenbrach, Protestinszenierungen, Opladen 2002. 14 Bei der Premiere von Il Re Cervo am 31. Mai 1969 im Züricher Opernhaus verteilten Studierende, die Herausgeber der Musikzeitschrift Dissonanz (1969–1971), eine Ausgabe der Zeitschrift, in dem unter anderem auch ein Beitrag von Heinz-Klaus Metzger abgedruckt war. Metzgers Beitrag, der – ohne dass die Herausgeber hierüber informiert worden waren – bereits im Spiegel anlässlich der verhinderten Pre-

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Ähnliche Mechanismen dürften auch gegriffen haben, als die von zahlreichen Journalisten frequentierten Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt 1970 in die Kritik gerieten. Welche einschneidenden Konsequenzen dabei die von den überwiegend jungen Teilnehmern artikulierte Institutionenkritik nicht nur für die organisatorische Verfassung der Ferienkurse, sondern auch für die generelle Entwicklung der Neuen Musik in den folgenden ein bis zwei Dekaden hatte, arbeitet Frank Hentschel (2.) heraus. Das Mitbestimmungsrecht, die Demokratisierung, Pluralisierung, Entdogmatisierung und Internationalisierung, die die im September 1970 gewählte neulinke ‚Delegation zu Festivalstruktur und -programm‘ forderte, mündeten in eine musikstilistische Öffnung, die sich sowohl in einem genrefremden Popkonzert bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik 1975 niederschlug als auch der Genese der postmodernen Musik ab 1974 den Weg bereitete. Die Vorgänge bei den Darmstädter Ferienkursen sind gleichermaßen der Untersuchungsgegenstand von Martin Iddons Beitrag (3.). Er begreift, ähnlich wie Hentschel, die Ereignisse im Zuge von ‚1968‘ zu Beginn der 1970er Jahre in Darmstadt als Vorbereitung für den tief greifenden musikstilistischen Wandel zur Postmoderne, der viele der bisher gültigen, zentralen ästhetischen Prämissen, wie z.B. das Fortschrittsparadigma und die Idee einer linearen, teleologischen musikgeschichtlichen Entwicklung, verabschiedete. Im Unterschied zu Hentschel widmet sich Iddon weniger der argumentativen Auseinandersetzung zwischen den Veranstaltern und den politisierten, revoltierenden Teilnehmern, sondern untersucht die privatpolitischen ‚Kriege‘ von Komponistenkollegen gegen Karlheinz Stockhausen. Für ihre Attacken bedienten sich die Komponisten, so zeigt Iddon, der ‚diskursiven‘ Waffen, die die achtundsechziger Ideologie ihnen zur Verfügung stellte. Mit den von ihr verfochtenen Werten der Basisdemokratie und Pluralisierung erschien die Enthronisierung Stockhausens, der in den vergangenen Jahren bei den Ferienkursen eine nahezu autokratische Position erlangt hatte, als notwendiges Vorgehen, das den neulinken Wertvorstellungen Rechnung trug. Die Initiative von Gerhard Stäbler, Johannes Vetter und Jürgen Lösche führte, so zeigt Iddon anhand der Quellen, zu einem indirekten Ausschluss Stockhausens von den Darmstädter Ferienkursen, ein Ausschluss, der wiederum – im Sinne der Pluralisierung – einer neuen Komponistengeneration um Brian Ferneyhough, Gérard Grisey, Helmut Lachenmann und Wolfgang Rihm den Raum gab, um neue kompositorische Ästhetiken einzuführen. Nicht nur in der Neue-Musik-Szene, auch im Bereich der so genannten ‚klassischen Musik‘, also in einem Bereich, der herkömmlich als etabliert, stabil und insofern als gegen Reform und Protest ‚von Links‘ vergleichsweise immun gilt, setzte sich die soziopolitische, die Institution angreifende Kritik rasch durch. Martin Elste (4.) erörtert anhand von ausgewählten Schallplattenkritiken aus den Jahren miere von Henzes Oratorium Das Floß der Medusa im Dezember 1968 erschienen war, zielte mit scharfer Rhetorik darauf ab, Henze als inkonsequenten, reaktionären, „inauthentischen“ und „affirmativen“ Komponisten bloßzustellen. (Vgl. hierzu die Email von Max Nyffeler an die Herausgeberin, 16. Mai 2003; Hans Werner Henze, Reiselieder mit böhmischen Quinten, Frankfurt am Main 1996, S. 322; Heinz-Klaus Metzger, Mit roter Fahne, in: Spiegel, Nr. 51, 1968, abgedruckt in Dissonanz, Nr. 2, 26. Mai 1969.) Zu den Interventionen bei einem Konzert des Hessischen Rundfunks: s. Dieter Kühn, Musik und Revolution, in: Melos 1970, S. 394–401.

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1969 bis 1976 die „vulgär-soziologische“ Terminologie (Elste), die den besprochenen Werken – meist des klassisch-romantischen Kanons – mehr oder weniger willkürlich aufgepfropft wurde. Anhand von Rezensionen zu Einspielungen unter dem Dirigat von Herbert von Karajan arbeitet der Musikologe heraus, wie die neulinke, im Kern oftmals sachfremde Kritik mittelbar zu einer Wende hinsichtlich der Aufführungsästhetik beitrug. Indem in einem homologischen Schluss vom moralischen Image des Dirigenten, insbesondere seiner zweifelhaften Rolle im Dritten Reich, ästhetische Werturteile über dessen Klangprodukte abgeleitet wurden, leistete die achtundsechziger Kritik einer gegen die spätromantische Klangästhetik gerichteten Aufführungspraxis Vorschub, die sich heute in der Klassik weitgehend durchgesetzt hat und tendenziell mit der so genannten historischen Aufführungspraxis korreliert ist. Die soziopolitische Kritik an den etablierten Institutionen wurde des weiteren durch Kritik innerhalb der etablierten Institutionen selber ergänzt. Die Opernhäuser z.B., d.h. die Intendanten und jeweiligen Produktionsteams, machten sich den soziokritischen Impetus zueigen und brachten ihn in ihren Musiktheater-Produktionen in die Öffentlichkeit. Die Inszenierungspraxis von Ludwig van Beethovens Fidelio – so führt Glenn Stanley (5.) vor Augen – veränderte sich dementsprechend deutlich ab 1968. Im Kontrast zur bisherigen Inszenierungstradition, der gemäß Fidelio als staatsaffirmierendes Werk präsentiert wurde – das politische Spektrum reichte hier bemerkenswerterweise vom äußersten rechten (NSDAP) bis zum ganz linken Rand (Sowjetkommunismus) –, zeichneten sich die Produktionen von Beethovens einziger Oper ab 1968 in kulturpolitisch progressiv orientierten deutschen Städten dadurch aus, dass sie jegliches Vertrauen auf einen humanen Staat und humane Politiker als Täuschung entlarvten. Mit dieser Interpretation verbunden waren signifikante Eingriffe in die Struktur und Komposition der Oper. Für die Bedeutung der soziokritischen, politisierten Fidelio-Inszenierungen im Zeitgeist von ‚1968‘ ist dabei zentral – und das ist der Kern von Stanleys Beitrag –, dass sie eine Inszenierungstradition konstituierten oder zumindest zur Konstituierung einer solchen Tradition beitrugen, die bis heute fortwirkt. IV. Musikhistoriographie oszilliert bekanntlich zwischen der Rückführung musikstilistischer Wandlungen auf musikimmanente Entwicklungsbedingungen, wie z.B zu lösender kompositionstechnischer Probleme,15 und der Zurechnung soziokultureller, also außermusikalischer Faktoren. Die Auseinandersetzung mit avantgardemusikalischen Werken im Kontext der Studenten- und Protestbewegungen lenkt die Aufmerksamkeit insbesondere auf kontextuelle Faktoren und zeigt dabei, dass die neulinke Politisierung und die Auseinandersetzung mit soziokritischen Themenfeldern auf der einen und die kompositionstechnische Spezifizierung oder Radika-

15 Carl Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, Köln 1977.

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lisierung auf der anderen Seite nicht unbedingt immer zeitlich Hand in Hand gehen mussten. Luc Ferraris elektroakustische Komposition Presque rien aus dem Jahre 1970 steht nicht nur – das wäre die traditionelle musikimmanente Perspektive – in der Tradition der zu diesem Zeitpunkt gerade dreißig Jahre alten musique concrète. Sondern die radikale Anlage der Komposition – es handelt sich um eine Art sound scape, d.h. einen auf 21 Minuten gestauchten Mitschnitt der täglichen Geräusche am Strand des kroatischen Fischerdorfes Vela Luka – geht in erster Linie, so zeigt Eric Drott (6.), auf die in der Soziologie und Philosophie (u.a. Susanne Langer und Pierre Bourdieu) vorangetriebene Diskussion um die Amateurphotographie zurück, die in den 1960er Jahren von linksintellektuellen Theorien, insbesondere den darin in den Vordergrund gerückten Klassenerwägungen, entscheidende Impulse erhielt. Mit Presque rien kreierte Ferrari eine musique concrète für Amateure, das Modell einer betont anti-elitären Avantgardemusik, an deren Produktion der komponierende Amateur in Form von akustischen ‚Schnappschüssen‘ teilhaben sollte. Robert Adlington (7.) legt in seinem Beitrag über die Situation in den Niederlanden dar, dass Peter Schat zwar bereits seit Mitte der 1960er Jahre von den Aktionen der Provos tief beeindruckt war und diese zum Teil sogar indirekt unterstützte. Ein unmittelbarer Effekt der soziopolitischen und -kulturellen Veränderungen in den Niederlanden der 1960er Jahre manifestierte sich in der Kompositionsweise Schats und seines Komponistenkollegen Louis Andriessen jedoch erst 1968. Schat und Andriessen ersetzten im Anschluss an den Besuch des Kulturkongresses in Havanna ihre bisherige polystilistische, dabei aber zugleich radikal avantgardistische und hermetische Kompositionsweise, die traditionelle avantgardemusikalische Wertvorstellungen von ‚high (Avantgarde) and low (U-Musik)‘ prolongierte, durch Werkkonzeptionen, die die traditionelle Rollenverteilung zwischen Komponist, Ausführenden und Zuhörern revidierte sowie eine Annäherung an von der niederländischen Avantgarde eher mit Misstrauen begegneten Genres wie Straßenmusik und Arbeiterliedern, Minimal Music, Big Band Jazz und Popularmusik vollzog. Während in der politischen Szene Hollands ab Beginn der 1970er Jahre eine zunehmend auf Gewalt abzielende Radikalisierung zu beobachten ist, legte die Avantgardemusikszene durch ihre aufführungspraktisch orientierten Reformen den Grundstein für die heute viel gerühmte niederländische Ensemblekultur. Nicht nur in Frankreich und den Niederlanden, auch in Deutschland reagierte die Mehrheit der Avantgardekomponisten auf die Impulse aus der Studenten- und Protestbewegung erst nach dem Höhepunkt der Proteste im Jahre 1968.16 Eine der wenigen Ausnahme stellt diesbezüglich Hans Werner Henze dar. Der Komponist war bereits früh politisiert, obschon er erst seit der im Dezember 1968 verhinderten Uraufführung des Che Guevara gewidmeten Oratoriums Das Floß der Medusa von der breiteren Öffentlichkeit als politisch engagierter Komponist wahrgenommen wurde. Bisher keine angemessene Beachtung fand demgegenüber, dass Henzes 16 Das Jahr 1968 ist bezüglich der Studentenproteste in Westdeutschland durch zwei Schlüsselereignisse bestimmt: das Attentat auf Rudi Dutschke am 10. April und die Schlacht am Tegeler Weg am 4. November.

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soziopolitisches Engagement, das sich ab Mitte der 1960er Jahre in konkreten politischen Aktionen manifestierte, zu diesem Zeitpunkt auch bereits in seinen Werken nachweisbar ist – und zwar nicht durch die Wahl vordergründig politischer Themen, sondern durch die Auseinandersetzung mit soziokulturell brisanten Fragen: Die Bassariden, ein Werk, dessen Libretto W. H. Auden und Chester Kallman Anfang der 1960er Jahre anfertigten und das Henze in den Folgejahren vertonte, erörtern mit künstlerischen Mitteln, so legt Antje Tumat (8.) dar, u.a. die Idee gelungener sexueller Befreiung und thematisieren in diesem Zusammenhang auch nicht-heterosexuelle Orientierungen, Themen also, die in der breiten Öffentlichkeit erst ab den ausgehenden 1960er Jahren und im Zuge der neuen sozialen Bewegungen diskutiert wurden. In den Bassariden (Uraufführung 1966) zeichnet sich damit eine Radikalisierung hinsichtlich der Themenwahl ab, die jedoch erst ein paar Jahre später, zu Beginn der 1970er Jahre, zu einer eigenen musikalischen Sprache in Henzes Werken fand – und zwar im Zuge der von linksintellektuellen Komponisten beförderten Eisler-Renaissance und der damit verbundenen Veränderungen des avantgardemusikalischen Umfeldes. Die Musik der Bassariden ist demgegenüber mit musikalisch vergleichsweise moderaten, konservativen Mitteln gestaltet. (Eben diese von den Medien 1968 bemängelte Diskrepanz zwischen politischem Habitus und kompositionstechnischen Mitteln dürfte Henze motiviert haben, nach 1968 seinen Kompositionsstil partiell radikal zu ändern.) Ähnlich wie Henzes reicht auch Dieter Schnebels soziopolitisches Engagement weiter als bis 1968 zurück. Vor dem Hintergrund der damals von den Linksintellektuellen in der Tradition der Frankfurter Schule, insbesondere Adornos, beobachteten allgegenwärtigen Entfremdung sahen in den ausgehenden 1950er Jahren der Avantgardekomponist Schnebel und der Soziopsychologe Alfred Lorenzer die Notwendigkeit, mit den Mitteln ihres jeweiligen Metiers – Musik bzw. Psychologie – gegen die „kollektiven psychischen Deformationen“ (Simone Heilgendorff, 9.) vorzugehen. Schnebel und Lorenzer entwickelten bezeichnenderweise ähnliche Strategien: in einer den Alltagszwängen enthobenen spielerischen Atmosphäre – Therapiesitzung und Musizieren – sollen, so Heilgendorff, neue Perspektiven auf die soziokulturelle Umwelt und unbekannte, zu alternativem Handeln einladende Wahrnehmungsweisen stimuliert werden. Schnebel erreicht dies, indem er die traditionellen ästhetischen Mittel so radikal entgrenzt, dass die Ausführung des Kunstwerks – hier Glossolalie (1959–1961) und Maulwerke (1968–1974) – nicht mehr als rein ästhetisch, ‚aus der lebensweltlichen Sphäre herausgehoben‘ erfahren werden kann, sondern stattdessen mit elementaren lebensweltlichen Bedeutungen vom Ausführenden und vom Zuhörenden aufgeladen wird. Schnebels soziokritisches, in musikalischen Werken artikuliertes Engagement, und Lorenzers soziopsychologische Orientierung wurden im Verlauf der 1960er Jahre mit dem reformerisch-revolutionären Impuls der Studenten- und Protestbewegungen deckungsgleich. Die Beispiele Henzes und Schnebels machen deutlich, dass ‚1968‘ nicht nur auf die Musikkultur der westlichen Industrieländer einwirkte, sondern dass Komponisten und Musiker bereits in der konstitutiven Phase der Studenten- und Protestbewegung an deren politischen Aktivitäten teilnahmen, politische Zielvorstellungen

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artikulierten, und auf diese Weise selber zum historischen Erscheinungsbild von ‚1968‘ beitrugen. Schnebel und Henze sind insofern also zu den zahlreichen anonymen Akteuren zu zählen, die ‚1968‘ und die dafür spezifische intellektuelle Orientierung, die soziokritische Haltung und den kulturreformerischen Impetus mit auf den Weg brachten. Das linksintellektuelle Klima im Umfeld der Studentenrevolten stellte für die musikalische Avantgarde in diesem Sinne eine Form von Rückhalt bezüglich ihrer verfolgten Anliegen und der damit verbundenen kompositorischen Verfahren dar. Der Vergleich verschiedener engagierter Komponisten im Umfeld von ‚1968‘ macht des weiteren auf eine dem Konzept der ‚politischen Musik‘ inhärente Schwierigkeit aufmerksam, die Dahlaus’ eingangs aufgegriffene Kritik ergänzt. Versteht man ‚politische Musik‘ wie im Umfeld der neulinken Debatten vor allem als eine linkspolitisch orientierte Musik, so legt das Label Klassifizierungen von Komponisten und ihren Werken nahe, die hinsichtlich der politikhistorischen als auch der musikstilistischen Sachverhalte zu kurz greifen. Die Idee der politischen Musik bietet z.B. an, Hanns Eisler, Luigi Nono und Hans Werner Henze als Komponisten mit vergleichbarem musikpolitischem Impetus zu begreifen. Dass diese drei Künstler jedoch sowohl in Hinsicht auf ihre politischen Überzeugungen als auch deren Artikulation in musikalischen Werken durchaus in entgegengesetzten Lagern verortet werden müssen, zeigt ein Vergleich zwischen Henzes und Nonos Umgang mit den Ereignissen der Studenten- und Protestbewegung in ihren Kompositionen. Als Mitglied der kommunistischen Partei Italiens, also der Alten Linken, konnte Nono – anders als Henze – mit der Neuen Linken nicht ungebrochen sympathisieren. Genauso gespalten war Nonos Verhältnis zu der sich in der ersten Hälfte der 1970er Jahre formierenden neuen Frauenbewegung, einem dezisionistischen Strang der Neuen Linken. Beate Kutschke (10.) zeigt anhand Nonos azione scenica Al gran sole carico d’amore, dass der italienische Komponist in seinem Musiktheaterwerk sowohl mittels der Rollenkonstellation als auch mittels seiner kompositorischen Verfahrensweisen die sozialen Rollen, wie sie Frauen vonseiten der Alten Linken zugewiesen worden waren, revitalisiert und – bewusst oder unbewusst – die aktuellen soziokulturellen Veränderungen bezüglich der Geschlechterverhältnisse konsequent ausblendet. V. Wenn ein Zusammenhang zwischen Musik und ‚1968‘ hergestellt wird, so beschränkt sich dieser in der Regel auf die populäre Musik, auf die Genese der Rockmusik und des Protestliedes sowie auf das Folkmusic Revival. Die Soziologen Ron Eyerman und Andrew Jamison haben dementsprechend, vom Leitbegriff der „kognitiven Praxis“17 ausgehend, für den US-amerikanischen Raum argumentiert, dass Rock- und Folkmusic einen entscheidenden Anteil an dem Erfolg der Bewegungen hatten, indem sie deren

17 Ron Eyerman und Andrew Jamison, Music and Social Movements, Cambridge 1998.

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Gedankengut und Ideen – direkte Demokratie, personalisierte Politik, Rassengleichheit18 – in die breite Bevölkerung diffundierten und auf diese Weise zu einem langfristigen Wandel von Werten und Lebensweisen beitrugen. Die Musik dieser Genres – der betont schlichte Gestus und der an das einfache und ehrliche Gefühl19 gerichtete Appell der Folkmusic sowie der betont antibürgerliche, umstürzlerische Charakter der Rockmusik, der aus der gezielt produzierten Geräuschhaftigkeit und der Ästhetik des Häßlichen hervorgeht – stiftete eine Identität unter den Rezipienten, die sich deutlich im Mythos ‚Woodstock‘ artikuliert. Inwieweit die populäre Musik umgekehrt von dem politisierten Klima profitierte, arbeiten Magali Laure Nieradka und Timothy Brown heraus. Dass sich die Identitätsstiftung nicht nur in eine Richtung – von ‚1968‘ zur Musik – vollzog, sondern dass die Rockmusik selber aus der Neuen Linken Impulse zur Profilierung ihrer eigenen Identität erhielt, führt Nieradka (11.) aus literaturwissenschaftlicher Perspektive anhand der Bedeutung Hermann Hesses in den 1960er und 70er Jahren plastisch vor Augen: Der überragende Erfolg Hesses im Kontext der Studentenund Protestbewegungen, insbesondere der Hippiebewegung, beruhte im Grunde auf einem dramatischen Missverständnis. Statt die Charaktere seiner Romane und Erzählungen so wahrzunehmen, wie sie Hesse selber aus seiner eigenen Zeit heraus, d.h. den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts, konzipiert hatte, dienten sie der jungen, revoltierenden Generation als eine leere Projektionsfläche, auf die sich alle möglichen zeitgeistigen Befindlichkeiten und Typen – der Umweltschützer, der Pazifist, der Sucher des höchsten Bewusstseins sowie der Außenseiter und Nonkonformist – projizieren ließen, und anhand der sich eigene linksintellektuelle Identität festigen ließ. Dieses verquere Funktionsverhältnis, das u.a. auch durch den Buchmarkt noch zusätzlich befördert wurde, ist für die Rockmusik jener Epoche, insbesondere den Progressive Rock, von Bedeutung, weil Bands wie Santana, The Doors und Steppenwolf sich an das Image der Figuren Hesses, wie sie von den Linksromantikern interpretiert wurden, hinsichtlich ihrer musikalischen Stilistik als auch ihres äußeren Erscheinungsbildes anlehnten. Wie es den Produzenten damals gelang, das Image von populärer Musik als bloßer Unterhaltungsmusik gegen dasjenige von ‚Kunst als Politik und Revolution‘ auszutauschen, führt Timothy Brown (12.) anhand der Essener Songtage vor. Deren Organisatoren ‚designten‘ in ihren Pressemitteilungen das Festival, das im September 1968 stattfand, als eine politische, soziokritische Veranstaltung mit seriösem Kunstanspruch. Das gelang ihnen, indem sie musikalisches Experimentieren mit kulturpolitischem Fortschrittsgeist gleichsetzten. Die Widersprüche, die in der populären Musik durch ihre Kommerzialisierung damit angelegt waren – die Spannung zwischen Kunst als Unterhaltung und Kunst als Revolution, zwischen passivem Konsum und aktiver Selbst-Erfindung, d.h. zwischen Mainstream und Underground – thematisiert Sebastian Werr in seinem Beitrag.

18 Eyerman/Jamison, Music and Social Movements, S. 2. 19 Seit spätestens dem 18. Jahrhundert ist ein semantischer Zusammenhang zwischen den Begriffsfeldern ‚Aufrichtigkeit/Ehrlichkeit‘ und ‚Einfachheit/Schlichtheit/Simplizität‘ im westlich-abendländischen Denken nachweisbar.

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Werr (13.) knüpft an den Topos, Rock- und Folkmusic sei politische Musik, an und fragt nach der Bedeutung von Rockmusik als Stimulans direkter soziopolitischer Praxis ihrer Konsumenten. In dieser Hinsicht kommt Werr zu dem Schluss, dass die Rockmusik letztlich als eine Form des „mentalen ‚Urlaub[s]‘ vom kapitalistischen System“ sowie als Möglichkeit, „sich der Illusion hinzugeben, in die weltweite Aufbruchstimmung der 1968er eingebunden zu sein und an der Utopie der Hippies zu partizipieren“, zu begreifen sei. (Rock-)Musik in diesem Sinn ist Alibi, fiktionales Realm, das einen Handlungsersatz darstellt – ähnlich wie der Held im Western oder der Fußballstar, mit dessen Erfolg sich der Fernsehzuschauer identifiziert, ohne das heimische Sofa verlassen zu müssen. VI. Die soziokulturelle Epoche der 1960er und 70er Jahre, die heute das Label ‚1968‘ trägt, ist nicht nur aufgrund des gesamtgesellschaftlichen Wandels jener Dekaden von Interesse. Neben den eigentlichen lebensweltlichen und weltanschaulichen Veränderungen ist es die Art und Weise ihrer Durchsetzung, deren Bedeutung sich an ihrem Erfolg ermessen lässt, die für den Historiker besonders aufschlussreich ist. Schließlich gelang es den Achtundsechzigern, ihre gegen die damalige ‚Normalität‘20 gerichteten Wert- und Lebensvorstellungen, die zunächst nur von einem vergleichsweise kleinen Teil der westeuropäischen und nordamerikanischen Bevölkerung übernommen wurden, so zu popularisieren, dass sie heute – auch wenn sie nicht von allen Teilen der Gesamtpopulation gelebt werden – zu einem allgemein akzeptierten Standard, zur ‚neuen Normalität‘ gehören. Was damals in den 1960er und 70er Jahren durch die Initiative der protestierenden Studierenden ins Werk gesetzt wurde, lässt sich aus der heutigen, vom semiotic turn inspirierten Perspektive als einen radikalen und provozierenden Eingriff in die bestehenden Kommunikationsformen und gesellschaftlich anerkannten Codes beschreiben. Das heißt: Anders als historisch frühere soziopolitische Bewegungen, wie die Arbeiterbewegung etwa, d.h. die Alte Linke, nahm die Neue Linke im Umfeld von ‚1968‘ weniger durch konkrete Kämpfe, als vielmehr durch die Veränderung von Symbolsystemen Einfluss. Ihr Protest artikulierte sich dementsprechend vor allem im semiotischen Raum.21 Vor dem Hintergrund der Ablehnung traditioneller Rituale z.B. entwickelten die Achtundsechziger neue Formen performativer öffentlicher Handlungsweisen wie Sit-ins, Go-ins, Teach-ins und andere so genannte direkte Aktionen. Die betont lässige Kleidung und Körperhaltung sowie der ungezwungene Sprachgebrauch demonstrierten die rigorose Abkehr von traditionellen Werten, wie Autoritätshörigkeit, Respekt und Anstand. Formen des Zusammenlebens, die die als Modell vorherrschende Kleinfamilie verabschiedeten, artikulierten 20 Vgl. zu den Zusammenhängen zwischen ‚1968‘ und Normalität die Untersuchungen von Jürgen Link (Jürgen Link, Versuch über den Normalismus, Opladen 21999, S. 26–33). 21 Vgl. hierzu die Forschungen von Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung, München 2001; Ron Eyerman and Andrew Jamison, Social Movements. A �������������������� Cognitive Approach, University Park/Pennsylvania 1991 und Alberto Melucci, Challenging Codes, Cambridge 1996.

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und performierten die veränderte Einstellung zu den Geschlechterrollen und zur Sexualität. Wie dieser Veränderungsprozess im Bereich der alltagspraktischen Codes vorzustellen ist, legt Joachim Scharloth (14.) dar. Der Linguist zeigt anhand zahlreicher Beispiele – den zu Ikonen des Mythos ‚1968‘ verfestigten Anekdoten der Studentenbewegung, wie dem Puddingattentat und dem Verfahren gegen Rainer Langhans und Fritz Teufel vor dem Landgericht Berlin-Moabit (beide im Jahr 1967) –, wie die protestierenden Studierenden konventionelle Kommunikationspraktiken unterliefen und subvertierten – und damit eine Veränderung der vorherrschenden Kommunikationspraktiken und Zeichensysteme einleiteten. Die gegen traditionelle Codes gerichteten Subversionsverfahren lassen sich auch deutlich im Musikbereich beobachten – sowohl im Bezug auf die hier zur Anwendung gebrachten Demonstrationspraktiken als auch hinsichtlich der verwendeten musikalischen und kompositorischen Mittel. Die ‚Aktionisten‘22, die das vom Hessischen Rundfunk veranstaltete Musica-viva-Konzert am 27. Januar 1969 ‚störten‘, verteilten nicht nur Flugblätter; sie drangen außerdem mit performativen Mitteln auf Partizipation, d.h. auf eine Reform der traditionellen Rollenverteilung zwischen Komponist, Interpret und Zuhörer. Als konsequente Reaktion auf die Beobachtung, dass „die Weise der Vermittlung eine selbstständige Rezeption“23 verhindere, veränderten die Protestler in Eigeninitiative die Vermittlungsformen bezüglich der Avantgardemusik, indem sie selber in das Konzert (elektronische Kompositionen für Tonband und akustische Instrumente) eingriffen.24 Ähnlich verfuhren die Studierenden, die vor der Uraufführung von Henzes Floß der Medusa agitierten. Sie trachteten danach, das bürgerliche Konzert, gekennzeichnet durch ein bürgerliches Publikum und durch im bürgerlichen Konzertbetrieb beheimatete Interpreten,25 zu einer politischen Veranstaltung umzufunktionieren – und zwar mit rein symbolischen Mitteln: ein Che Guevara-Poster sowie eine rote und eine schwarze Fahne, die am Podium angebracht wurden. Dass diese friedliche Ausstellung von Symbolen in der Tat als eine ein- und angreifende Handlung empfunden wurde, manifestierte sich darin, dass der West-Berliner RIAS Kammerchor auf die rote Fahne wie auf ein rotes Tuch reagierte und sich weigerte zu singen.26 Neben der Subversion der Codes des Konzertbetriebes ist die Musik selber Gegenstand subversiver Veränderungen, indem traditionelle musikalische Symbol22 Die Teilnehmer der Störung – Schüler und Studierende gemäß Zeitungsberichten – ließen sich bisher nicht identifizieren (vgl. o.A., Rundfunk-Konzert abgebrochen, in: Frankfurter Neue Presse, 28. Januar 1969; R[einhard] O[ehlschlägel], Nicht ganz reibungslos, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 24, 29. Januar 1969; AP, Musica-viva-Konzert in Frankfurt abgebrochen, in: Süddeutsche Zeitung, 29. Januar 1969; kl., Musik außer Programm. Ein Konzert mit nicht voraussehbaren Einlagen, in: Frankfurter Neue Presse, 29. Januar 1969; Karlheinz Ludwig Funk, Gestörte Elektronik, in: Frankfurter Rundschau, 29. Januar 1969. 23 Dieter Kühn, Musik und Revolution, in: Melos 1970, S. 394–401, hier S. 394–395. 24 Was genau bei dieser Konzertstörung geschah, ließ sich bisher nicht rekonstruieren. Die Zeitungsberichte sind diesbezüglich widersprüchlich. 25 Die Solisten waren Edda Moser, Dietrich Fischer-Dieskau and Charles Regnier. 26 Wolfram Schwinger, Neue Beweggründe, andere Träume. Hans Werner Henzes Weg zum Floß der Medusa, in: Die Befreiung der Musik, hrsg. von Franz Xaver Ohnesorg, Bergisch Gladbach 1994, 132–139.

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systeme27 gezielt modifiziert werden. Dies erörtert Steffen A. Schmidt (15.) anhand der künstlerischen, politische Implikationen mit sich führenden Strategien Frank Zappas und der Tanztheaterproduktion Susi Cremecheese von Hans Kresnik, die Zappas Musik verarbeitet. Zappa bringt, so zeigt Schmidt, den subversiven Duktus, der für die achtundsechziger Bewegung so charakteristisch ist, auch in der Musik zur Geltung, indem er mit der Popmusik, d.h. im Rahmen der Popmusik gegen die Popmusik vorgeht und sie, ganz im Sinn der Frankfurter Schule und ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der ‚Kulturindustrie‘, „als schönen Schein, als Verblendung und Reduktion“ (Schmidt) entlarvt – ohne dabei jedoch eine deutliche Position für die Protestjugend zu beziehen. Ganz im Gegenteil wird auch diese Objekt seiner Kritik. Es ist diese Vieldeutigkeit der Haltung Zappas, die dazu beigetragen haben dürfte, dass Kresnicks Produktion von 1969, in der sich Zappas Unentschiedenheit reflektiert, von der Presse verhalten aufgenommen wurde. „Kresniks Susi Cremecheese war ein interessantes Projekt, das im Kreuzfeuer ideologischer Grabenkämpfe – zwischen Pop als Befreiung und Marktstrategie, zwischen Tanz und Tanztheater, zwischen Neuer Musik und musikalischer Subkultur – unterging“ (Schmidt). Das offensichtliche Scheitern von Kresniks Projekt macht auf ein Charakteristikum subversiver Verfahren aufmerksam, auf das auch Scharloth (bezüglich des Puddingattentats) sowie Adlington (bezüglich der Notenkrakersactie) in ihren Beiträgen hinweisen: Subversive, traditionelle Codes infrage stellende Aktionen sind ihrem Wesen nach gefährdet, weil deren mit der Subversion einhergehender spielerischer Charakter das ernsthafte politische Anliegen zu überdecken droht und die Aktionen selber daher von den Perzipienten als bloße Spielerei oder gar Unsinn missverstanden werden können.28

27 Jede Stilrichtung bildet ein eigenes Zeichensystem aus. Darüber hinaus ist zwischen dem akustischen und dem notationalen Zeichensystem von Musik zu unterscheiden. 28 Die Uneindeutigkeit der Intentionen einer Aktion spiegeln sich auch in den genannten Berichten über die Störungen des Musica-viva-Konzertes in Frankfurt wider (s. Anmerkung 23). Reportierte AP in der Süddeutschen Zeitung, dass die Störer das Podium besetzt hätten, so interpretierte kl. die Aktion der Studierenden als performativen und partizipatorischen Akt: „Ein junger Mann aus dem Publikum erklomm plötzlich mitten im Musica-viva-Konzert im vollbesetzten Sendesaal des Hessischen Rundfunks die Bühne, griff sich ein Schlaginstrument und steuerte, nicht ohne originelle Einfälle, seine eigenen Akzente zu John Cage’s Weltraummusik bei. Schließlich aber war es nicht mehr zu übersehen: Einige Frankfurter Schüler hatten sich vorgenommen, die elektronische Musik mit konkreter Aktion zu würzen. Und während eine Gruppe Jugendlicher dem mitten im Saal postierten Klangregisseur auf die Pelle rückten, belagerte ein ganzer Pulk den Orgelspieltisch. Von dort aus boten, nach dem Abzug des engagierten Künstlers, quäkende Glissandi den Tonbandprodukten Widerpart. In rasendem Tempo jagten zwei weitere Störer mit dem Flügel aus den Kulissen mitten aufs Podium, wirbelten ihn im Kreis, um sich schließlich zu vierhändigen Improvisationen niederzulassen. Der Initiator errang ein Mikrophon. Er sei wohl der einzige, meinte er, vom Publikum enttäuscht, der sich mit dieser ‚Sch…musik nicht vera……‘ lasse“ (kl., Musik außer Programm).

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VII. Welche Länder und Nationen ein ‚1968‘ besaßen, darüber besteht in den Geschichtsund Sozialwissenschaften zurzeit kein absoluter Konsens. Galt noch vor wenigen Jahren die These, dass ‚1968‘ ein Phänomen der westlichen Industriegesellschaften – insbesondere Frankreichs, den USA und Westdeutschlands – gewesen sei,29 eine Jugendrevolte, die in der nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen Wohlstandsgesellschaft ihren Nährboden gefunden hatte, so setzt sich zunehmend die Überzeugung durch, dass auch die Länder, in denen die bestehenden Einkommens- und Konsumverhältnisse nie eine Wohlstandsgesellschaft und damit die ausreichende Basis für einen ‚Protest aus Überfluss‘ schufen, ihr eigenes, spezifisches ‚1968‘ hatten.30 Im ehemaligen Ostblock ist es der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR, der einen – mit den Entwicklungen im Westen vergleichbaren – Wandel der Gesellschaft auslöste. Problematisch an einem solch weiten Verständnis von ‚1968‘, das zur Subsummierung der vielfältigen und heterogenen Ereignisse in den verschiedenen Ländern unter ein gemeinsames Chiffre ermutigt, ist allerdings die definitorische Unschärfe, die mit der Begriffserweiterung einhergeht. Timothy Brown hat implizit eine Lösung für das definitorische Dilemma nahe gelegt, indem er zwischen einem „small“ und einem „big 1968“ unterscheidet, wobei ersteres regionale Phänomene bezeichnet und letzteres überregionale, internationale Gemeinsamkeiten von ‚1968‘ umfasst.31 Dass diese Doppelstruktur aus „small“ und „big 1968“ auch bezüglich der Musik und deren Rolle, die sie im Kontext der Protest- und Studentenbewegungen in den damaligen Ostblockstaaten spielte, gilt, zeigen Rüdiger Ritter und Bogumila Mika. Auf beiden Seiten des eisernen Vorhanges lässt sich ein enger Zusammenhang zwischen der Genese der Rockmusik und den Protestbewegungen nachweisen. Hinsichtlich des Stellenwertes, den Rockmusik in den jeweiligen Gesellschaften um ‚1968‘ inne hatte, bestehen jedoch merkliche Unterschiede, wie Rüdiger Ritter (16.) anhand von vier ausgewählten Ländern des ehemaligen Ostblocks (Polen, DDR, ČSSR und Ungarn) vor Augen führt: Während in den westlichen Industrieländern Musik – Rockmusik und Protestsongs – eine „Schlüsselstellung“ (Ritter) in der Protestkultur einnahm, war der Einfluss von Musik im Kontext von ‚1968 im Ostblock‘ eher ein indirekter. Aufgrund der in Diktaturen bestehenden Tendenz, alles auf seine staatsfeindliche oder -freundliche Ideologie hin zu überprüfen, konnte Musik, wenn sie die Aufmerksamkeit des Kulturministeriums auf sich zog, ver29 Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, 1968 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, in: dies., 1968 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998, S. 7–10, hier S. 7. 30 Vgl. hierzu u.a. Publikationen wie Ehrhart Neubert und Thomas Auerbach, „Es kann anders werden.“ Opposition und Widerstand in Thüringen 1945–1989, Köln et al. 2005; Volkspolizei: Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat 1952 – 1968, hrsg. von Thomas Lindenberger, Köln et al. 2003; sowie die Themenstellung und Referate der Tagung Between the ‚Prague Spring‘ and the ‚French May‘: Transnational Exchange and National Recontextualization of Protest Cultures in 1960/70s Europe an der Universität Heidelberg, 25.-27. ������������ August 2006. 31 Vgl. Timothy S. Brown, „1968“ in Divided Germany.

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gleichsweise rasch und dominant vonseiten des Staates als Politikum stigmatisiert werden. Diese allseitige Politisierung von Musik stellte wiederum für (eher im Verborgenen) rebellierende Jugendliche sowie auch die komponierenden Kulturschaffenden die Basis dar, umso wirksamer Musik, nämlich jene Musik, die als staatsfeindlich deklariert worden war, für ihre subtilen Proteste einzusetzen.32 Von den individuellen nationalen Reaktionen auf den Einmarsch in die ČSSR fokussiert Bogumila Mika (17.) diejenigen der zeitgenössischen Kunstmusikszene Polens. Den polnischen Musikern, Musikveranstaltern und Musikschriftstellern diente der Warschauer Herbst, eines der wichtigsten Neue-Musik-Ereignisse im Ostblock, als Forum für ihren Protest gegen den Einmarsch, an dem auch polnische Soldaten beteiligt waren. Die Proteste, die sie gemeinsam mit Kollegen aus dem Westen artikulierten, reichten von einer offenen Verurteilung der polnischen Regierung bis zur Verweigerung, am Warschauer Herbst teilzunehmen. In der Musik selber manifestierte sich die Erfahrung des ostblock-spezifischen ‚1968‘ in einem radikalen stilistischen Wandel, von einer experimentalistischen, technizistischen, also radikal-avantgardistischen Orientierung zu einer neo-romantischen und religiösen Haltung (Henryk Mikołaj Górecki, Krzysztof Penderecki, Wojciech Kilar), die sich musikalisch u.a. durch die Zelebrierung massiver Klangblöcke artikulierte. ‚1968‘ stellte somit nicht nur im Westen (vgl. die Beiträge von Frank Hentschel und Martin Iddon), sondern auch im Osten einen wesentlichen Faktor für die Entwicklung von Stilmerkmalen dar, die der so genannten postmodernen Musik zugeschlagen werden können. VIII. Die Fallbeispiele dieses Bandes werfen Licht auf die Musik der 1960er und 70er Jahre und die Bedeutung, die ‚1968‘ für die Geschichte der Musik hat (ihrer Stile, Persönlichkeiten und Institutionen). Die Beiträge des Bandes machen aber auch sichtbar, dass es noch einiger weiter gehender, vertiefender Auseinandersetzung bedarf, bevor von einer erfolgreichen Aufarbeitung und der Verfügbarkeit der Musikgeschichte jener Protestjahre im kulturellen Gedächtnis die Rede sein kann. Das individuelle Gedächtnis der Zeitzeugen und Betroffenen ist vorerst unverzichtbar. Angesichts des Ertrags des vorliegenden Bandes – die Einsicht, dass ‚1968‘ aus der Musikgeschichte nicht wegzudenken ist – gilt es jetzt, die Zusammenhänge im Detail zu untersuchen: Der Effekt von ‚1968‘ im so genannten klassischen Musikbetrieb ist weitgehend ungeklärt. Wenn musikalische Produktionen, d.h. Klangqualitäten und -eindrücke, von Rezensentenseite mit soziokritischen und politischen Termini belegt wurden und ‚Stars‘ des klassisch-romantischen Repertoires hinsichtlich ihrer soziopolitischen Integrität beurteilt wurden (4.), so wäre nun konkret zu zeigen, inwieweit die soziokritische Haltung im Geiste von ‚1968‘ auch zu einer 32 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Im Westen musste der Protestcharakter von Musik demgegenüber durch provozierende Texte oder radikale Ästhetiken zunächst erst erzeugt werden, bevor die Musik für die Protestkultur ‚brauchbar‘ wurde. Vgl. diesbezüglich die radikale, zum Teil in schlichten Lärm umschlagende Ästhetik des Frankfurter Linksradikalen Blasorchesters.

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Veränderung der generellen Umgangsformen im Musikbereich beigetragen hat – Umgangsformen, die die sozialen Rollen des (über-)fordernden, dressierenden Musikpädagogen und des autoritär-aggressiven Dirigenten obsolet werden ließen. Neben den Fidelio-Produktionen (5.) wären weitere Inszenierungen zu untersuchen und eine Geschichte der Musiktheaterinszenierungen im Kontext von ‚1968‘ zu schreiben.33 Unaufgearbeitet ist weitgehend die – gerade im Umfeld von ‚1968‘ besonders lebendige –Wechselwirkung zwischen der zeitgenössischen E- und U-Musik, zwischen Avantgarde und Pop, die sich bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik (2.) und Frank Zappa (15.), aber auch den E- und U-überbrückenden Konzerten des Ensembles Musica Elettronica Viva (MEV) andeutet. Vor dem Hintergrund, dass die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt um 1970 in eine u.a. durch die Teilnehmerproteste herbeigeführte Krise gerieten und einen anschließenden Reformprozess durchliefen (2.), stellt sich die Frage, wie die ‚Konkurrenzinstitution‘, die Donaueschinger Musiktage, auf das linksintellektuelle Klima und die Studenten- und Protestbewegungen reagierte. Welche Rolle spielten bezüglich dieser institutionellen und musikästhetischen Kämpfe einzelne Personen, wie HeinzKlaus Metzger und Reinhard Oehlschlägel z.B.? Dass Metzger an den musikästhetischen Debatten der 1960er und 70er Jahre entscheidenden Anteil hatte und an den Protesten der Musikstudenten implizit beteiligt war, zeigt u.a. jener im Spiegel und in der Dissonanz veröffentlichte Essay.34 Wie lässt sich das über die Medien verbreitete musikphilosophische Gedankengut aber den musikinstitutionellen Wandlungen zurechnen? Es gilt, die internationale Verflechtung in Bezug auf die zeitgenössische Kompositionspraxis weiterzuverfolgen, weil es jene war, die die ungewöhnliche zeitliche Koordination der Studenten- und Protestbewegungen ermöglichte und dazu führte, dass der Höhepunkt der Proteste in vielen Ländern Europas und Nordamerikas mehr oder weniger zeitgleich (eben in den ausgehenden 1960er Jahren) stattfand. Welche Rolle spielte z.B. der Kulturkongress in Havanna, der offensichtlich für die Entwicklungen in der niederländischen Avantgardemusikszene eine wichtige Rolle spielte (7.), für am Kongress teilnehmende Komponisten anderer Nationen? Aber auch eine Reihe von Fakten sind noch nicht rekonstruiert: Wer – um nur ein Beispiel zu nennen – waren die Autoren jenes erwähnten Flugblattes,35 das im Januar 1969 bei dem Musica-viva-Konzert verteilt wurde und das so weitsichtig die Problematik artikulierte, die mit dem soziokulturellen Status der Neuen Musik in der alten Bundesrepublik verknüpft ist?36

33 Dorothea Kraus, Theater-Proteste, Frankfurt am Main 2007 bietet eine achtundsechziger Geschichte zum Theater. 34 Vgl. Anmerkung 14. 35 Vgl. Anmerkung 23. 36 Vgl. hierzu Beate Kutschke, „Wir sollen erzogen werden zu neuer Musik, zu politischem Denken, zu Erkenntnissen über Amerika...“ Der soziokulturelle Status Neuer Musik in der alten Bundesrepublik – 1945 und 1970, in: Stunde Null – Zur Situation der Musik nach 1945, hrsg. von Volker Scherliess, Kassel, Druck in Vorbereitung.

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‚1968‘ in der Musik ist ein interdisziplinäres Phänomen. Subversive Kompositionstechniken entstehen nicht aus einer musikimmanenten Entwicklung heraus, sondern werden u.a. von nicht-musikalischen Praktiken und Ideen inspiriert (6., 9. und 11.). Diesbezüglich wäre der Austausch zwischen den verschiedenen Kunstsparten weiter zu verfolgen. Wünschenswert wäre hier eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Musikwissenschaftlern und Kultur- und Geisteswissenschaftlern anderer Disziplinen, insbesondere der Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaft sowie auch der Geschichte und Semiotik. Weitgehend ungeklärt ist die zeitliche Ordnung bezüglich der soziopolitischen und musikalischen Wandlungen: Ist die Musik, wie Nietzsche formulierte, auch hinsichtlich ‚1968‘ ein „Spätling jeder Kultur“37 oder besaßen Avantgardekomponisten eine ausgezeichnete Sensibilität für das vorherrschende und aufkommende soziokulturelle Klima, wie sich dies bei Henze und Schnebel andeutet (8. und 9.)? Bis zu welchem Grad lässt sich die Kategorisierung Nonos als ‚politisch engagierter Komponist‘ anhand seiner politischen Orientierung präzisieren (10.): war Nono ein Alt- oder ein Neu-Linker und inwieweit manifestiert sich dies in seinen Werken? – Generell wäre zu überprüfen, inwieweit die in den Fallbeispielen erörterten Ereignisse und Sachlagen als typisch zu begreifen wären oder ob es sich lediglich um Einzelfälle handelt. Die Rockmusik jener Protest-Jahre ist längst wieder ‚in aller Ohren‘, auch der Nachgeborenen. Von einem differenzierten Bild der Verflechtung von Musik, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft ist die Geschichtsschreibung jedoch größtenteils noch weit entfernt, weil immer noch die Extrempositionen ‚Mythos Woodstock‘ und ‚Rock als Kommerz‘ als Leitlinien wirksam sind. Weitgehend ungeschrieben ist die Geschichte des Protestliedes und der linkspolitischen Ensembles sowie deren Bedeutung für die Bürgerbewegungen der 1960er und 70er Jahre. Selbst so zentrale Ereignisse wie die Proteste in Marckolsheim und Whyl 1974 und die wichtige Rolle, die hier Walter Mossmann als Songwriter spielte, haben vonseiten der Forschung so gut wie keine Beachtung gefunden. Die in diesem Band gegebenen Einblicke in die Avantgardeszene in Polen machen deutlich, dass vergleichbare Studien bezüglich der zeitgenössischen Komponisten in den anderen Warschauer-Pakt-Staaten, wie der DDR z.B., weitgehend fehlen. Anders als westdeutsche Komponisten, die – bittet man sie zum Gespräch – gerne und ausführlich von ihren Erfahrungen und Erlebnissen erzählen, sind ihre ostdeutschen Kollegen meist eher zurückhaltend. Gerade diese regionalen Differenzen, die auf verschiedene durch die politischen Systeme geprägte Mentalitäten schließen lassen, müssten für weitere Forschungen berücksichtigt werden. Das Fazit ist insofern denkbar simpel: ‚1968 und Musik‘ steht trotz inzwischen respektabler Arbeitsergebnisse als Forschungsthema noch am Anfang.

37 Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches (1879), Erste Abteilung, Nr. 171.

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Dank Ohne die Unterstützung von und die Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen und fördernden Institutionen hätte dieser Band nicht entstehen können. Entscheidender Anstoß war eine zweiteilige Tagung zum Thema, die die Herausgeberin zusammen mit Arnold Jacobshagen (damals Privatdozent am Forschungsinstitut für Musiktheater/Universität Bayreuth) in Kooperation mit der Katholischen Akademie Schwerte 2005 und 2006 ausgerichtet hat. Die Katholische Akademie Schwerte stellte großzügig für beide Tagungen einen idyllisch gelegenen und inspirierenden Tagungsort am Rand des Schwerter Waldes sowie die organisatorischen Ressourcen, die Unterkunft und die Verpflegung für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zur Verfügung. Ein ganz besonderer Dank ergeht hier an Markus Leniger, den Studienleiter der Katholischen Akademie Schwerte. Die Reisekosten für alle Vortragenden wurden durch Zuwendungen der Fritz Thyssen Stiftung finanziert. Der Fritz Thyssen Stiftung danken die Organisatoren der Tagungen darüber hinaus auch die Übernahme der Druckkosten für die beiden ‚Kongressberichte‘, den vorliegenden Band (Teil I) sowie den Band (Teil II der Tagung), der von Arnold Jacobshagen und Markus Leniger herausgegeben wurde und 2007 unter dem Titel Rebellische Musik. Gesellschaftlicher Protest und kultureller Wandel um 1968 erschienen ist.

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Das Neue kommt besonders vertrackt Kohärenzen und Divergenzen zwischen politischen und ästhetischen Avantgarden „Geschichte wird von den Siegern geschrieben, den Lügnern, den Stärksten, den Entschlossenen“, heißt es in dem unlängst erschienenen Roman Das verlorene Labyrinth von Kate Mosse. Doch so einfach, wie die britische Autorin den Sachverhalt zuspitzt, verhält es sich weder in der gesellschaftlichen Realität noch in der Historiographie. Im Gegenteil: Gerade die historischen Wissenschaften und eine ihnen parallel laufende Publizistik haben längst nicht mehr nur die ‚Königsebene‘, Kriegsund Wirtschaftsgeschichte zum Gegenstand, die Geistes- und Kulturwissenschaft nicht nur die Hervorbringungen der Hochkultur. All diese Disziplinen haben die in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen unterlegenen Strömungen, Parteien und Persönlichkeiten nebst den von ihnen – und oft subkutan – ausgehenden Anstößen, Nebenwirkungen und Nachwirkungen als ergiebiges Arbeitsfeld entdeckt und mit der Kultivierung begonnen. Das Prinzip der umfassenden ‚Aufarbeitung‘ gilt gerade auch für das politische Missbehagen und den von Unmut in einen gewissen Mut umschlagenden Impuls, der 1968 in der Bundesrepublik Deutschland und verschiedenen anderen europäischen Ländern zur ‚Bewegung‘ anschwoll. Die Jahreszahl steht als Chiffre für gesellschaftlich-politische Strömungen mit unterschiedlichen regionalen Ausprägungen und Anliegen. Westlich des Eisernen Vorhangs zerstritt, verhärtete und paralysierte sich zu Beginn der 1970er Jahre diese ‚Bewegung‘, nachdem sie – nicht nur, aber in erster Linie und überwiegend selbstreferentiell – gewaltige Berge bedruckten Papiers über mögliche Ziele, Absichten und Vereinsformen hervorgebracht hatte. Die an der Politik der Sowjetunion, den übrigen Staaten Osteuropas und der DDR sich orientierenden Parteien in der Bundesrepublik, Frankreichs und Italiens stritten grundsätzlich mit den K-Gruppen, die es in unterschiedlichen Intensitätsgraden mit der VR China (oder sogar mit Albanien) hielten bzw. ‚undogmatisch linke Wege‘ suchten – und diese Gruppierungen befehdeten sich auch untereinander heftig. Aus den seit 1967/1968 entwickelten Formen des Protestes und der Perspektiven kondensierten sich im Laufe der 1970er Jahre dann auch verschiedenartige neue Politikansätze heraus (Anti-Atomkraft-Bewegung und Grüne Parteien bzw. ‚Alternative Listen‘, Frauenbewegung, ‚Politik der Lebensstile‘).



Kate Mosse, Das verlorene Labyrinth, aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, München 2005.

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Östlich der epocheprägenden Demarkationslinie quer durch Deutschland und das ehemalige Österreich-Ungarn hatte der Impuls von 1968, der im Prager Frühling sein bemerkenswertestes Zeichen fand, die Jahre der ‚Normalisierung‘ zu ertragen. Den Protagonisten bescherten die in der poststalinistischen Ära nicht wirklich durchgelüfteten Machtapparate erhebliche Repressionen. Aus den osteuropäischen Politik- oder Verweigerungsansätzen resultierte in Polen eine – wesentlich auch religiös genährte – Gewerkschaftsbewegung (Solidarnosc), in den baltischen Satellitenstaaten der Sowjetunion national getönte Strömungen, in der ČSSR und am Ende sogar in der DDR Bürgerrechtsbewegungen. In mehreren Ländern nahmen Dissidenten und Oppositionsgruppen ihre jeweiligen Obrigkeiten beim international gegebenen Wort und forderten bis dato nicht bewilligte Rechte ein, was bekanntlich – in Wechselwirkung mit der wirtschaftlichen Krise, den ökonomischen und logistischen Problemen in den Ländern des Warschauer Pakts, dem von den Vereinigten Staaten ausgehenden Aufrüstungsdruck sowie den vertrackten Schachzügen der Konferenzen für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) – zum Niedergang des real existierenden Sozialismus als Denkform und Herrschaftspraxis führte. Die einzelnen Faktoren der Paralyse werden von verschiedenen Historikern unterschiedlich gewichtet; doch wie auch immer die Analyse ausfällt: 1989 implodierte das östliche Imperium. Die politischen und gesellschaftlichen Paradigmenwechsel in der Zeit von 1967 bis 1989 fanden auch – begleitend und fortdauernd – ein nicht unerhebliches Echo in den kapitalistischen bzw. staatlichen (oder ‚öffentlich-rechtlichen‘) Medien. Dann auch und in dem Maße, in dem sie historisch wurde, Formen der weitergehenden ‚Verarbeitung‘ – vermittels Romanen, Theaterstücken, theoretischen Abhandlungen und Ausstellungen. Dies gilt im besonderen Maße für einen besonders gereizten und aufreizenden Wurmfortsatz der Bewegung von 1968: der Roten Armee Fraktion. Deren notorische Überbewertung war keineswegs nur Mode. Die militante Gruppe um den Räuberhauptmann Andreas Baader und die aus dem Publizistenmilieu abgerutschte Ulrike Meinhof gab den auf neue Wehrhaftigkeit bedachten herrschenden Kreisen in der bundesdeutschen Republik eine Steilvorlage. Auch fügte sie sich ins Kalkül einer linksliberalen Öffentlichkeit, die in den 1970er Jahren daran laborierte, dass sie einige Chancen von 1968 doch allzu schläfrig hatte verstreichen lassen. Daher mochten sich, als die Herausforderung erledigt war, Züge eines schlechten Gewissens regen und sogar Bewunderung für die Stellvertreter-Krieger(innen) der RAF. Da war durch das Krachen der Bomben und das Rattern der Maschinenpistolen Musik drin – bruitistisch und ohne alles obsolet gewordene Pathos von „Brüder zur Sonne“ etc.; auch ohne neuen Schlagerkitsch à la Konstantin Wecker oder andere Trittbrettfahrtenliedermacherei. Anders als frühere politische und soziale Bewegungen in der deutschen Geschichte – z.B. die demokratischen Strömungen des Vormärz und der Revolution 

Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, wenn hier auch nur die Maßnahmen zur Gängelung der Initiativen für Neue Musik in der ČSSR, die sich an Modellen des „westlichen Auslandes“ orientieren wollten, geschildert würden oder die Spaltung der kulturellen Szene Ungarns in den 1970er Jahren in eine offizielle und eine des Untergrunds, wobei dieser „Underground“ als „Ventil“ und aus Gründen der Kontrolle offiziell geduldet und doch auch immer wieder Schikanen ausgesetzt war.

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1848/1849 oder die Arbeiterbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts – brachte ‚1968‘ keine spezifischen Formen des Lieds, der programmatischen Musik oder der Musikpflege hervor. Das liegt wohl primär an der heterogenen sozialen Zusammensetzung der Trägerschicht, hängt freilich auch mit dem historischen Stand der musikalischen Produktivkräfte zusammen, mit dem Fortgang der theoretischen Diskurse und der gegenüber dem 19. oder dem frühen 20. Jahrhunderts grundsätzlich veränderten medialen Situation. Nicht länger musste ja eine politische Bewegung selbst singen oder musizieren, um ihr Gemeinschaftsbewusstsein zu stärken, ihre Ziele eingängig zu machen, sich Mut zu machen und Gegner herauszufordern, sondern hatte Musik der unterschiedlichsten Couleur als Teppich und Tapete des Alltags omnipräsent um sich. Es kam also wohl in erster Linie darauf an, aus der Vielfalt des musikalisch Gegenwärtigen und aus Kontingenten der Vergangenheit, die allerdings teilweise erst wieder erschlossen werden mussten, eine Auswahl unter Aspekten der politischen Zielsetzungen und der politisch-ästhetischen Moden oder Lebensstile zu treffen. So erscheint die Frage des Verhältnisses der Achtundsechziger zur Musik aufgrund der unterschiedlichen Sozialisationen und Idiosynkrasien der Stimmführer wie aufgrund der ‚Materiallage‘ extrem unübersichtlich. Jeder Versuch, die da real existierende Polyphonie in Richtung der Dominanz der einen oder anderen Oberstimme begütigen zu wollen, greift vermutlich zu kurz (und insbesondere erscheint es unzulässig, unter wissenschaftlichen Prämissen das Verhältnis der Produzenten neuer Musik zur Achtundsechziger-‚Bewegung‘ in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu rücken, nur weil Musikforschung überwiegend darauf konditioniert ist, sich primär isoliert mit Komponisten-Biographien und Kompositionen zu befassen). 1967/1968 fanden ja nicht nur Kämpfe gegen die Dominanz der Springer-Presse statt, Manifestation gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam, Proteste gegen die Notstandsgesetze und – in diffuser Empörung – überhaupt gegen Überreaktionen des westdeutschen Staatsapparats (zu denen ja das zunächst fortdauernde Verbot der alten KPD gehörte), sondern wurde endlich veritable Entnazifizierung eingefordert und die Demokratisierung der verschiedensten Arbeits- und Lebensbereiche. Es regten sich die Emanzipationswünsche hinsichtlich von Fragen der Liebe, Ehe oder überhaupt neuer Lebensformen. Die Zugehörigkeit zur ‚Bewegung‘ war also in hohem Maß (auch) eine Sache der Lebensreform, bis hin zur Kleiderordnung, Haartracht und Wohnkultur. Spontaneität des Protests und Erprobung neuer Lebensweisen, die Auseinandersetzung mit dem Zustand der Universitäten oder Hochschulen und der Lehrinhalte ihrer Disziplinen, Lektüre zur politischen Ökonomie und Gesellschaftstheorie kennzeichneten weithin den Alltag der überwiegend aus klein- und mittelbürgerlichem Milieu stammenden und sich 1967/1968 links orientierenden Studenten. All das schlug sich erst mit Zeitverzögerung in produktiven künstlerischen Ansätzen nieder – zuvor eher in theoretischen Erörterungen. Vor der (wesentlich aus Gründen der Aneignung verschütteter Traditionen betriebenen) Realisierung aufwendiger Kunstund Medien-Projekte zu den Revolutionen 1848/1849 und 1918/1919, der Gründung von Agit-Prop-Trupps, linker Blasorchester oder Frauen-Musikgruppen, der Heraus-

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gabe linker Liederbücher oder Schallplatten etc. liegen in der Regel wenigstens fünf Jahre Inkubationszeit, in der das linke Reden mit der fortgesetzten ‚bürgerlichen‘ Berufspraxis oder Ausbildung sich kaum verband oder gar vermittelte – eine Phase mithin, in der die Divergenzen zwischen politischen und ästhetischen Avantgarden deutlich hervortraten, wiewohl sich zweitere in bemerkenswertem Umfang an ersteren zu orientieren begannen. Erste Bindeglieder zwischen neuen theoretischen Ansprüchen und vorgängigen Erfahrungen bildeten nicht zufällig Literatur- und Kulturzeitschriften wie das 1965 von Hans Magnus Enzensberger ins Leben gerufene Kursbuch, das zeitweise hart gegen den kapitalistischen Wind segelte. Der Wandel des Zeitgeists kondensierte sich auch rasch in Organen wie dem aus den Wirtschaftswunder- und Wiederaufrüstungsjahren überkommenen, sozial-, politik-, literaturwissenschaftlich orientierten Argument (das von dem der DDR-Regierung zuarbeitenden Wolfgang Fritz Haug herausgegeben wurde), der ebenfalls aus den 1950er Jahren stammende, von Hildegard Brenner edierten Alternative oder dem 1970 ins Leben gerufenen und sich ‚undogmatisch links‘ etablierenden Diskursforum Ästhetik und Kommunikation. Alle diese Zeitschriften ließen allerdings Musik und Musikleben überwiegend oder gänzlich rechts liegen. Um dieses spezielle kulturelle Segment bekümmerte sich schwerpunktmäßig die gleichfalls 1970 gegründete Sozialistische Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft. Sie wurde zunächst von einem durch Andreas Bodenhöfer (Paris) und Konrad Boehmer (Amsterdam) angeführten Redaktionskollektiv getragen und in Tübingen redigiert. 1972 zog Kunst und Gesellschaft mit einer sich personell stark verändernden Redaktion nach Berlin, wurde von 1978 bis 1980 – wiederum von einem teilweise neuen Team – in Köln fortgeführt unter dem Titel Spuren (und unter Abstrich des Adjektivs „sozialistisch“ im Titel), ehe die Zeitschrift dann noch als Spuren in Kunst und Gesellschaft mit Schwerpunktsetzung auf Fragen der Philosophie und der Bildenden Kunst in Hamburg aus erschien. Bis zum Ende der alten Bundesrepublik.



 

Im Redaktionskollektiv der Sozialistischen Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft gehörten zunächst einerseits Mitglieder an, die sich an der politischen Linie der Sowjetunion, der DDR und der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) orientierten, andererseits waren auf Mao Tse-tungs Kulturrevolution reflektierende und des weiteren gegenüber diesen beiden Richtungen skeptische Intellektuelle vertreten. Für Heft 1, 1970 unternahmen die Gründer des Blattes eine Umfrage unter Komponisten und Musiktheoretikern, die sich zunächst nach der „Aufhebung der Selbstentfremdung“ erkundigte, dann nach dem potentiellen Beitrag von Kunstproduzenten zur „Kulturrevolution“ durch Kunstprodukte, nach der „Einbeziehung des Publikums“ in Konzerte und die allgemeine „Verunsicherung des Überbaus“ durch Kunstproduzenten. Das Vorwort zum Heft 2, 1970 verwies auf die Verschiedenartigkeit der „intention und politischen position“ in den einzelnen Beiträgen; gemeinsam sei „ihnen vielleicht nur die anstrengung, durch kritische reflexion und theoriebildung den kulturbetrieb einer kapitalistischen gesellschaft zu verändern und zu überwinden“. Im Laufe der Jahre 1971/1972 schieden die der DKP nahestehenden Mitarbeiter aus dem Redaktionskollektiv aus. Der Autor war von Ende 1975 bis 1984 Mitglied der Redaktion. Bei den an eine spezielle Gruppierung oder Richtung der sich aufsplitternden Linken gebundenen ‚Organen‘ wie Berliner Hefte oder der in Köln erscheinenden Kämpfenden Kunst handelt es sich um Gründungen der mittleren 1970er Jahre und nur mittelbar um Hervorbringungen der Bewegung von 1967/1968.

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In musikalischer Hinsicht war 1968 bei und in der linken Bewegung in der Bundesrepublik und West-Berlin, ohne dass sich bereits politische oder ästhetische Linien herausgebildet hatten, Konkurrenz und Wechselspiel der unterschiedlichsten Anregungen, Auffassungen, Materialien und Aneignungsformen zu beobachten. Laut tönte und emphatisch rezipiert wurde, was damals als ‚revoltierend‘ wahrgenommen oder als ‚Herausforderung‘ begriffen wurde: die Rolling Stones und Ton Steine Scherben, Frank Zappa und die mit einem Meeting auf der Hunsrücker Burg Waldeck gekräftigte Liedermacherei. Im Feld der zur Klampfe sich erhebenden Tonkünste avancierten rasch unterschiedliche Formen der ‚Botschaftsmusik‘. Wieder aufgekeimt ist damals ein Interesse für verschüttete, verdrängte oder deformierte Formen (latent) politischer Musikkultur – für das, was von Frank Wedekind und Bertolt Brecht angestoßen wurde, für die Kampflieder Hanns Eislers oder selbst Erich Weinerts aus den 20er und 30er Jahren, für die Stimme des ‚Barrikaden-Tauber‘ Ernst Busch (einschließlich dessen Gesänge zum Spanischen Bürgerkrieg); dann auch, vermittelter, für die ganzen Kontingente der aus Deutschland vertriebenen Komponisten, Dirigenten und Interpreten. Selbst Seitenblicke auf DDR-Diseusen ergaben die eine oder andere Anregung. Freilich weit mehr das, was über den Großen Teich tönte: die Kunde von Woodstock, wo sich im August 1967 eine knappe halbe Million junger Menschen versammelten und sich von Joan Baez und Jimi Hendrix, Janis Joplin und Joe Cocker, David Crosby und The Who anturnen ließen. Überhaupt wurde – über die Barden Pete Seeger und Bob Dylan hinaus – ein verstärkter kulturindustrieller Druck von Seiten der nordamerikanischen Rock und Pop-Musik wirksam (und diesem korrespondierend eine sprunghaft zunehmende Aufnahmebereitschaft); auch ein wachsender Export lateinamerikanischer Folklore und ein anschwellender Einfluss von dessen Modellen. Insgesamt ergab sich aus all dem ein buntscheckiges Pop-Konglomerat, in dem Betreiber wie Nutzer sich im wesentlichen indifferent verhielten zur Tatsache, dass dieses überwiegend eingebunden war in die Mechanismen einer kapitalistisch strukturierten Musikindustrie. Auf der anderen Seite – der Wille, das Disparate kohärent zu denken, war unübersehbar – bestimmte sich der Diskurs in Sachen Musik ganz überwiegend von Theodor W. Adornos Schriften her. Das verdeutlichen zwei Sammelbände, die Ulrich Dibelius als Bestandsaufnahmen zu einem sich verändernden musiktheore

Zum Rüstzeug der theoretischen Auseinandersetzung mit dem „Kulturbetrieb einer kapitalistischen Gesellschaft“ gehörte neben einer Reihe von Texten Theodor W. Adornos insbesondere auch ein preiswertes Bändchen, das 1963 in der „Regenbogenreihe“ der edition suhrkamp erschienen war: Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 31969. Benjamin hatte in diesem großen Essay für die ins Exil gegangene Zeitschrift für Sozialforschung (Heft 1/1936) die „Analyse der kapitalistischen Produktionsweise“, die Karl Marx für „die Grundverhältnisse der kapitalistischen Produktion“ (Benjamin, Das Kunstwerk, S. 9f) entwickelt hatte, in einem Bereich des „Überbaus“ fortgeführt und über die ökonomischen Sachverhalte hinaus auf die politischen Dimensionen verwiesen. Seine Theorie des Funktionswandels der photographischen Reproduktion unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktions- und Distributionsweise wurde übertragen auf die musikalische – die Funktionsweise der Schallplatten-Industrie und der anderen Tonträger, die insbesondere auch in Rundfunk und Fernsehen zum Einsatz gelangten. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit habe sich die Frage nach der Echtheit ihres Sinns entledigt: „In dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle ihrer

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tischen Denken in den Jahren 1969 und 1971 im Münchener Hanser-Verlag herausgab: Musik auf der Flucht vor sich selbst und Verwaltete Musik – Analyse und Kritik eines Zustandes. Die erste dieser beiden Momentaufnahmen zum Zustand der Reflexion über das Verhältnis von Musik und Gesellschaft zeigte sich, anders als die zweite, noch wenig berührt von dem, was 1967/1968 aufgebrochen war. Musik auf der Flucht vor sich selbst ging, eine damals noch virulente Debatte über den allgemeinen ‚Bildungsnotstand‘ aufgreifend, von der These aus, dass ‚die Musik‘ – in ihren neuen Kunstformen, die ältere Erklärungsmuster hinter sich gelassen hatten, wie in ihren gesellschaftlichen Realitäten – auf besondere Weise ‚im Bildungsnotstand‘ lebe; umgehend wurde der „Abbau des herkömmlichen und zur Prämisse erhobenen Bildungsideals“ verlangt. Die Erörterung der Fragen des „gegenwärtigen Komponierens“ standen noch „ganz selbstverständlich [...] im Vordergrund“.10 Freilich wurde im Zuge des Zeitgeists generalisierend behauptet: „Das gegenwärtige Komponieren schirmt sich nicht ab, sondern bezieht ein; es will nicht als elitäre Kunstübung, sondern als ein dazugehöriger Teil des gelebten Alltags verstanden sein.“11 Der mitunter oft schmerzhaft hörbar gewordenen Erweiterung des Materials und der sichtbar gewordenen „Verfransung der Künste“12 werde nun, so die Erwartung, auch theoretisch verstärkt Rechnung getragen; denn das Komponieren „kontaktiert mit anderen Medien und Materialien; nimmt Optisches, Sprachliches, Geräuschhaftes ebenso als komponierbare Elemente wie Aktion, Bild, Zufall, Schweigen oder den Klang bereits vorhandener Musik; befasst sich mit der Synthese aus Generatorklängen, mit elektronischer Verfremdung oder Transformation, mit Film und Fernsehen, mit Computern zur Herstellung geeigneter Programme.“13 Im Sinne von Adornos richtungsweisendem Kranichsteiner Vortrag von 1961 – Vers une musique informelle14 – feierte Heinz-Klaus Metzger die Arbeit von John Cage als Die freigelassene Musik und deren „neue Prioritätsverhältnisse in der Zeit“.15 Er forderte gleichfalls die Aktualisierung des musiktheoretischen Denkens,

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Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik“ (Benjamin, Das Kunstwerk, S. 21). Musik auf der Flucht vor sich selbst. Acht Aufsätze von Dieter Schnebel, Hansjörg Pauli u.a., hrsg. von Ulrich Dibelius, München 1969. Verwaltete Musik – Analyse und Kritik eines Zustands, hrsg. von Ulrich Dibelius, München 1971. Ulrich Dibelius, Einladung zum Thema, in: Musik auf der Flucht, S. 7–10, hier S. 7. Ebenda, S. 9. Ebenda, S. 10. Das „angerichtete Chaos einer akustisch-optischen Musik“, so argumentierte z.B. Dieter Schnebel 1969 ganz von den Erfahrungen der avanciertesten Neuen Musik her, bewirke „eine Art Selbstauflösung der Musik“; nicht länger bleibe „Musik bei sich“, sondern „strebt hinaus zu anderen Künsten, ja landet bei ihnen. Allerdings bildet sie da oft eine spezifische Region; sucht überhaupt Identifikation zu vermeiden. Wird schon die besondere, deutlich abgegrenzte Kunstform aufgeweicht, so nicht zum Zweck der Verschmelzung; eher, auf dass die herausfließenden Rinnsale der Kunst insgesamt eine weitverzweigte und höchst differenzierte Gestalt schenken“ (Dieter Schnebel, Sichtbare Musik, in: Musik auf der Flucht, S. 11–28, hier S. 25). Dibelius, Einladung zum Thema, S. 10. Theodor W. Adorno, Vers une musique informelle, in: Quasi una fantasia (= Musikalische Schriften II), Frankfurt am Main 1963, S. 365–437. Heinz-Klaus Metzger, John Cage oder Die freigelassene Musik, in: Musik auf der Flucht, S. 133–149,

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das sich von Tradition freilich nicht abkoppeln dürfe: „Nicht befreit die freigelassene Musik, als Desorganisation, von musiktheoretischer Begriffsbildung, und rasch stieße eine Theorie der experimentellen Musik auf die Tendenzen der Tradition selber, die sie vollstreckt.“16 Konrad Boehmer schrieb für den ersten der beiden von Dibelius editierten Sammelbände seine Dissertation Zur Theorie der offenen Form in der neuen Musik fort, in der er sich 1967 „im Wesentlichen auf die technischen Momente“ konzentriert hatte, „die das gegenwärtige Komponieren mobiler, variabler und aleatorischer Werke“17 bestimmten. Und wiederum stand Adornos perspektivischer Essay Pate: „Die Tendenz der avanciertesten Musik, nicht mehr als geschlossenes Gebilde, als fait accompli sich zu präsentieren, sondern die spezifisch neuen Prinzipien ihrer Produktion in neue Möglichkeiten der Artikulation der musikalischen Zeit münden zu lassen, gibt ihr die Chance, sich selber für gesellschaftliche Prozesse offen zu halten und durch sie hindurch sich zu artikulieren.“18 Insbesondere ging es darum, die Verhältnisse der „Arbeitsteilung und Spezialisierung“19 zwischen Komponisten und Interpreten in Bewegung zu bringen (wobei erstere zunächst noch fraglos als treibende Kraft des ‚Fortschritts‘ angesehen wurden). Noch war in keiner Weise von einer umfassenden ‚Bewusstseinsbildung‘ im Sinn der Marxschen Analyse der Klassengesellschaft oder gar der Parteilichkeit von Komponisten und Kompositionen für den Kampf der Arbeiterklasse die Rede, die Boehmer in den 1970er Jahren dann propagierte. Im Gegenteil – es wurde ein Mittellot zwischen den Erfahrungen in der Stockhausen-Schule und Adornos Theorie gesucht: „Die freie Assoziation, welche die Strukturen in neuer Musik miteinander eingehen, läßt sich freilich nicht mehr irgend einem Zweck untergeordnet begreifen, auch nicht dem Zweck der Bildung einer umfassenden Form. Indem die neue Musik, die in dieser Hinsicht tatsächlich dem Begriff einer musique informelle sich nähert, die Begriffe von Form und Entwicklung, die der Emanzipation ihres eigenen Materials heterogen entgegenstehen, entschieden von sich weist, ergreift sie aufs neue die Chance, zu verwirklichen, wofür einst diese Begriffe standen, nämlich eine durch die spezifischen Konstellationen ihres Materials vermittelte Artikulationen von Zeit.“20 Der Paradigmenwechsel erfolgte an der Schwelle zu den 1970er Jahren. „Die gesamte unmittelbare gesellschaftliche Seite der musikalischen Produktion löst sich im Zeitalter der Monopole vollständig von der Figur oder gar von den subjektiven Vorstellungen des Komponisten. Seine Arbeit gilt dem Distributionsmechanismus für nichts mehr als etwa die Makulatur eines Designers, die zur industriellen Norm gemacht wird.“21 Zwar spuke „in manchen Köpfen noch die Emanzipation des bürgerlichen Komponisten. Beethoven ist der Paradefall. Der These sollte man ein Ende

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hier S. 138. Ebenda, S. 146. Konrad Boehmer, Zur Theorie der offenen Form in der neuen Musik, Darmstadt 1967, S. 201. Boehmer, Werk – Form – Prozeß, in: Musik auf der Flucht, S. 55–77, hier S. 74f. Ebenda, S. 76. Ebenda, S. 76f. Boehmer, Auf der Suche nach der verlorenen Identität oder: Bouvard und Pécuchet komponieren, in: Verwaltete Musik, S. 102.

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bereiten, weil sie nie gestimmt hat.“22 Indem Boehmer einerseits die Abhängigkeit der isoliert arbeitenden Komponisten von „kommerziellen Verwertern“ beklagte, die sich auf Vertragsbedingungen einlassen müssten, „die mit der Fiktion von künstlerischer Freihit nicht zu vereinigen sind“, warnte er zugleich vor „terribles simplifications“: dass zwar die „Manipulierbarkeit [...] bei ideologischen Produkten stärker als bei Industriegütern“ sei, aber auch ungleich schwerer zu durchschauen: „Ob ein Fernsehapparat sich nach einigen Monaten verschleißt, ist einfach festzustellen. Ob Penderecki sich im Gegensatz zu Boulez oder Henze schneller verschleißt, verdankt sich ganz anderen – dem Abnehmer der Produkte viel uneinsichtigeren – Kriterien.“23 Boehmers noch recht allgemein gehaltene Conclusio, die sich freilich noch nicht über Adornos Erörterungen zu ‚Musik als Ware‘ hinausbewegte, lautete: „Die Organisations-, Propaganda- und Verkaufsmethoden der Musikindustrie im Zeitalter des Spätkapitalismus lassen die Produktionsweise des Komponisten keineswegs unberührt. Die Musikkonzerne haben den Komponisten umfassender in Besitz genommen, als der feudale Adel es je vermocht hätte.“24 Konkreter (und in seinem Ökonomismus ‚politischer‘) wurde Hans G. Helms in seiner – ebenfalls in Dibelius’ Sammelband zur Verwalteten Musik abgedruckten – Abhandlung Zu den ökonomischen Bedingungen der neuen Musik. Die „direkte oder indirekte Wirkung“ der Tantiemenzahlungen auf das Schaffen der Komponisten (neuer Musik) wurde ebenso problematisiert wie das wohl im Regelfall bestehende „reguläre oder irreguläre Angestelltenverhältnis als Kompositionslehrer an Musikhochschulen, als Direktoren elektronischer Studios, als Verlagslektoren, als Beisitzer aller möglicher Räte und Jurys oder als Vorträge haltender Reisevertreter für neue Musikartikel“.25 Helms setzte sich sehr genau – und über Adorno hinausgehend – mit den Besonderheiten des Warencharakters von musikalischen Werken, Produktionsverhältnissen, Dienstleistungen, Reproduktionsmechanismen und Abrechnungssystemen (insbesondere denen der GEMA) auseinander – und diesem Zusammenhang die Andeutung einer auf Jean Paul und Charles Ives gründende Utopie für alle Hörer entgegen. Den Komponisten wurde ein großer Konjunktiv angeboten: zögen sie „Konsequenzen aus ihrem Verhältnis zum Mehrwert und aus ihrer Klassenlage, verwandelten sie die seit Schönberg bestehende Kluft zwischen ihnen selbst und der Bourgeoisie in einen bewussten Bruch, rationalisierten sie die ökonomischen Widersprüche, denen sie ausgesetzt sind, als Klassenantagonismen, bekämen sie einen Hebel in die Hand, um mit den ökonomischen Bedingungen ihrer Produktion auch die Perspektive ihrer Produkte zu verändern, will sagen, der Musik eine gesell-

22 Ebenda. 23 Ebenda, S. 103. 24 Ebenda, S. 103f. Nicht nur die „Produktionsweise des Komponisten“, die von der „Musikindustrie im Zeitalter des Spätkapitalismus [...] keineswegs unberührt“ gelassen wurde, geriet um 1970 ins Visier kritischer Analyse; auch andere Zweige der schreibenden Zunft: „Die Musikkritik am unmittelbarsten, aber auch die Musikerbiographik und später die Musikwissenschaft wurden in den Prozess des Marktes einbezogen“ (Harald Kaufmann, Thesen über Wertungsforschung, in: ders., Fingerübungen – Musikgesellschaft und Wertungsforschung, Wien 1970, S. 12. 25 Hans G Helms, Zu den ökonomischen Bedingungen der neuen Musik, in: Verwaltete Musik, S. 15f.

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schaftliche Perspektive wiederzugeben, die in ihr gegenwärtig zu tief verschüttet schlummert.“26 Heinz-Klaus Metzger spielte gar in der Manier Wagnerscher Pamphlete von 1849 mit der Idee der politischen Revolution um der Kunst willen, schwang sich zum Vorkämpfer einer auf der Höhe von avancierter Musiktheorie adäquat rezipierten Neuen Musik auf. „Die einzige logische Alternative zum gegenwärtigen unausweichlichen sozialen Dilemma einer jeden Kunst, die konzessionslos ihre immanenten Ansprüche ernst nimmt und dadurch zur ästhetischen Negation der bestehenden Gesellschaft gerät,“ so schrieb er 1970 in der Sozialistischen Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft, „wäre nichts Geringeres als die politische Revolution: Abschaffung des Bildungsprivilegs und seiner Voraussetzung, der repressiven Arbeitsteilung der Klassengesellschaft, vermöchte allein eine authentische, nämlich auf technischer Einsicht und nicht auf Manipulation beruhende Popularität auch komplexer Musik, deren Verständnis beträchtliche analytische Fähigkeiten erfordert, zu begründen.“27 Zusammen mit Jürgen Habakuk Traber versuchte ich 1972, den Stand linker Adorno-Rezeption und -Kritik zusammenzufassen, soweit sich diese auf die musikalischen und musiksoziologischen Texte bezog28 (wobei eine generelle Beschäftigung mit dem theoretische Denken Adornos unvermeidlich erschien).29 Das Traktat wurde in dem von Peter Rummenhöller herausgegebenen Heft 1, 1973 der Zeitschrift für Musiktheorie gedruckt. Es würdigte und problematisierte in der Hauptsache Genese, Entwicklung und Veränderung jenes kritischen Potentials, das etliche Musikstudenten und einige Musiktheoretiker sowie Komponisten und Musiker seit den 1960er Jahren auf die unterschiedlichste Weise herausforderte – das, was Thomas Mann mit milder Ironie Adornos „schneidende Art zu verehren“ im Kontext der „tragisch gescheiten Unerbittlichkeit seiner Situationskritik“30 genannt hatte. Ausgangspunkt war der frühe Aufsatz Zur gesellschaftlichen Lage der Musik (1932),31 dessen Engagement und Emphase die auf Veränderung der Bundesrepublik und ihres Musiklebens Gesonnenen erkennbar mehr affizierte als manche der ums musikalische Material und die mit ihm unternommenen Verfahrensweisen zentrierten späteren Adorno-Texte: „Wann immer heute Musik erklingt, zeichnet sie in 26 Ebenda, S. 40. 27 Heinz-Klaus Metzger, Antwort auf die Umfrage der Redaktion, in: Sozialistische Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft 1/1970, nachgedruckt in: Heinz-Klaus Metzger, Musik wozu – Literatur zu Noten, Frankfurt am Main 1980, S. 274. 28 Friedrich Christoph Reininghaus und Jürgen Habakuk Traber, Musik als Ware – Musik als wahre. Zum politischen Hintergrund des musiksoziologischen Ansatzes von Theodor W. Adorno, in: Zeitschrift für Musiktheorie, Heft 1, 4/1973, S. 7–15. 29 „Der umfassende reflektorische Anspruch greift auch in die Teiltheorie konstitutiv, korrigierend und perspektivisch für ihren prognostischen Gehalt ein. Adornos umfassendes Werk mit seinem Anspruch auf Totalität ist selber zum Erbe geworden; und die Erbschaftssteuer kommt bitter an“ (Reininghaus und Traber, Musik als Ware, S. 7). 30 Thomas Mann, Die Entstehung des „Doktor Faustus“ – Roman eines Romans, Frankfurt am Main1967, S. 722f. 31 Theodor W. Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, in: Zeitschrift für Sozialforschung, 1/1932, S. 103 ff.

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den bestimmtesten Linien die Widersprüche und Brüche ab, welche die gegenwärtige Gesellschaft durchfurchen und ist zugleich durch den tiefsten Bruch von eben der Gesellschaft abgetrennt, die sie selber samt ihren Brüchen produziert, ohne doch mehr als Abhub und Trümmer der Musik aufnehmen zu können. Die Rolle der Musik im gesellschaftlichen Prozess ist ausschließend die der Ware; ihr Wert der des Marktes. [...] Die Inseln eines vorkapitalistischen ‚Musizierens’, wie sie das 19. Jahrhundert noch dulden konnte, sind überspült. [...] Indem der kapitalistische Prozess die musikalische Produktion und Konsumption restlos in sich hinein bezieht, wird die Entfremdung zwischen der Musik und den Menschen vollkommen.“ Da waren die Grundlagen avisiert zur Kritik dessen, was Kurt Weill Mitte der 1920er Jahre mit dem Begriff „Kunstindustrie“32 umrissen hatte und was Adorno (zusammen mit Max Horkheimer) in der Dialektik der Aufklärung33 dann zur „Kulturindustrie“ ausführte, später in seiner Einleitung in die Musiksoziologie34 präzisierte und im Résumé über Kulturindustrie35 aktualisierte. Diese Gedankenlinie wurde kontrapunktiert durch Texte der „immanenten Absicherung“ des 1932 skizzierten großen Entwurfs und der Zurücknahme: „Waren die am Ende der Weimarer Republik erschienenen Ausführungen Zur gesellschaftlichen Lage der Musik gemäß der Konzeption der Zeitschrift für Sozialforschung darauf gerichtet, Bedeutung und Funktion der Musik in der gegenseitigen Abhängigkeit aller ihrer Bereiche innerhalb des bestehenden gesellschaftlichen Zustandes umfassend und zusammenhängend zu entfalten, so ist der Anspruch der Arbeiten in der Emigrationszeit insgesamt zurückgenommener. Die in den USA entstandenen Aufsätze kreisen um den Menschen in seiner individuellen und kollektiven psychischen Verfassung. Zentral am Gedanken des Individuums, an subjektiv-bürgerlicher Entfaltung der künstlerischen Persönlichkeit orientieren sich Der dialektische Komponist (1934), Spätstil Beethovens (1937), der Arnold Schoenberg gewidmete erste Teil der Philosophie der neuen Musik und die ebenfalls in den 1940er Jahren entstandenen Stücke des Wagner‑Buches. Die kollektiv psychische Verfassung ist thematisch in Über Jazz (1936), Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens (1937), The Authoritarian Personality und im Kulturindustrie‑Kapitel der Dialektik der Aufklärung (1944). Sie ist gleichfalls konstitutiv für Passagen des mit Hanns Eisler gemeinsam verfassten Buches Komposition für den Film und den zweiten Teil der Philosophie der neuen Musik, eine weithin psychologistische Strawinsky-Kritik. Hinter dem essayistischen Charakter, der alle Emigrationsschriften von dem kompakten Konspekt unterscheidet, den die Arbeit Zur gesellschaftlichen Lage der Musik entwirft, steht die Tatsache, dass alle diese Essays Einzelmomente aus der entworfenen Gesamtkonzeption herausgreifen und ausfüh32 Kurt Weill, Der Rundfunk und die Umschichtung des Musiklebens, in: Der deutsche Rundfunk, 13.6.1926 (Nr. 24, 4/1926), S. 1649f; nachgedruckt in: Kurt Weill, Ausgewählte Schriften, hrsg. von David Drew, Frankfurt am Main 1975, S. 111ff. 33 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, Kapitel Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug, S. 144–198. 34 Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie – Zwölf theoretische Vorlesungen (1962), Reinbek bei Hamburg 1968. 35 Adorno, Ohne Leitbild – Parva aesthetica, Frankfurt am Main 1967, S. 60–70.

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ren. [...] Der Rückzug in die Immanenz und in die Betrachtung der individuellen wie kollektiven psychischen Verfassung der Menschen ist symptomatisch.“36 In der Emigration, so der Einwand der frühen 1970er Jahre, habe „Kritische Theorie Adornoscher Prägung das ‚politische Recht‘, das dem ‚agitatorischen Wert‘ 1932 noch zugebilligt wurde, der ‚Verpflichtung auf wissenschaftliche Kriterien‘ geopfert. War 1932 der politische Kampf des Proletariats um seine endgültige Befreiung noch außer Frage, so ist davon bereits 1937 nicht mehr die Rede. Was sich im Wechsel der Thematik ankündigt, wird mit einer entscheidenden theoretischen wie politischen Kehre endgültig vollzogen.“37 Vor dem Hintergrund des programmatischen Adorno-Textes von 1932 wurde vierzig Jahre später insbesondere der „Rückzug der Ästhetischen Theorie“ im Kontext der theoretischen Haltung der Frankfurter Schule zum politischen Aufruhr 1968 kritisiert: „Dem Rückzug in die Sphäre des Subjekts und seiner Psyche in den zwölf Jahren der Emigration“ folgte Adornos Abwehrstellung gegen eine praktisch-rebellierende Deutung der Kritischen Theorie durch die Studentenbewegung. Seit 1967 dementierte Adorno nicht nur in Zeitungsinterviews, sondern schwor nun detailliert bis hinein in feine Verästelungen musiktheoretischen Denkens endgültig ab. Gepanzert gegen die Angriffe der eigenen Klasse, verstrickt in ein Gestrüpp der Selbstrechtfertigung, geriet der kritisch‑gesellschaftliche Impuls für musikalische Erkenntnis unverhohlen ins Hintertreffen. Nur wenige Seiten der Ästhetischen Theorie, dem unfertig gebliebenen letzten Buch, schneiden das Umfeld der Kulturindustrie an; die Kultur der Massen wurde ignoriert. Die immanenten Probleme der Kunstwerke, vordringlich die ihrer Form,38 bestimmten ebenso wie das zusammen gefasste Kategorienarsenal der Kritischen Theorie das Spannungsfeld der Diskussion. Die Geschichte der Klassenherrschaft wurde apologetisch angerufen: „In den authentischsten Gebilden [der Kunst] ist die Autorität, welche einst kultische Werke über die gentes ausüben sollten, immanentes Formgesetz geworden“.39 Der Sinn, noch in den 1950er Jahren Kriterium des Wahrheitsgehalts der Musik, wich dem abstrakten Geist. „Alle ästhetischen Fragen terminieren in solchen des Wahrheitsgehalts der Kunstwerke: ist das, was ein Werk in seiner spezifischen Gestalt objektiv an Geist in sich trägt, wahr?“40 Kein Gedanke daran, dass Musik fait social geblieben ist, braucht die Rechtfertigung des Wahrheitsgehaltes am immanenten Formgesetz mehr ernsthaft zu trüben: „Vieles spricht dafür, dass in den Kunstwerken das metaphysisch Unwahre sich indiziert als technisch Mißratenes. Keine Wahrheit der Kunstwerke ohne bestimmte Negation; Ästhetik heute hat diese zu exponieren. Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist kein unmittelbar zu Identifizierendes. Wie er einzig, vermittelt erkannt wird, ist er vermittelt in sich selbst.“41 Der Erkenntnischarakter

36 37 38 39 40 41

Reininghaus und Traber, Musik als Ware, S. 9. Ebenda. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1971, S. 16. Ebenda, S. 34. Ebenda, S. 498. Ebenda, S. 195f.

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der Theorie verwandelt sich in den Bekenntnischarakter: „Große Kunstwerke können nicht lügen“.42 Fazit: Es könne mit dem Klappern von Adornos negativer Dialektik und dem von einigen Adepten gepflegten Adornismus so wenig weitergehen wie ohne die kritische Anverwandlung von Adornos Kritik der Kulturindustrie, des kontaminierten Musikantentums, der bürgerlichen Musikideologie, der Praxis der Musiktheater und der gleichfalls von heftigen Alterungserscheinungen heimgesuchten Neuen Musik. Gerade deren Rückzug auf Fragen der Immanenz von Material und Verfahrensweise war und blieb ein zunächst unauflösbares (und bis heute unaufgelöstes) Problem – bei aller Faszination des musikalisch Neuen und einzelner Protagonisten. Zu denen, die nachhaltige Anregungen vermittelten, gehörten Dieter Schnebel und Luigi Nono (sowie, von diesem inspiriert, der aufmüpfige Claudio Abbado und der doppelt redliche Mauricio Pollini), aber auch z.B. Iannis Xenakis oder heute in Vergessenheit geratene Komponisten wie Cornelius Cardew oder Frederic Rzewski; und nicht zuletzt Konrad Boehmer mit seinen brillanten Polemiken. „Die Oper“ als heillos gealtert erscheinende Kunstform – sie war, auch nach Bekunden mancher ihrer Betreiber, in den 1960er Jahren in einer Sinn- und Formkrise verstrickt – erschien, bevor das Regietheater auf sie zugriff, Gegenstand von Ignoranz und Verachtung. Der legendäre Ausspruch des jugendlichen Sprengmeisters Pierre Boulez verlieh einer allgemeinen linken Grundauffassung Ausdruck. Die Tatsache, dass die deutsche Sektion der IGNM (Internationalen Gesellschaft für Neue Musik) um 1970 einen ‚Arbeitskreis materialistische Analyse‘ ins Leben rief, dem u.a. der Komponist Nicolaus A. Huber43 angehörte, deutet an, dass da eine Problemlage durchaus erkannt wurde; die Mittel, sich ihr angemessen anzunähern, erschienen jedoch heillos hilflos. Und so ist die Arbeit dieser theoretischen Kommission denn auch nach gebührendem Papierverbrauch sang- und klanglos entschlafen. Sowohl von Seiten derer, die mit der einen oder anderen Form der Abmischung von musikalisch-politischem Rock, Pop und Folk lebten, wie von der Seite der Kopflastigen und Geschichtsbeschwerten gab es wohl um 1970 – hier auf die allgemeinste Formel gebracht – so etwas wie die vage Hoffung, dass politische und ästhetische Avantgarden im Gleichschritt in die Zukunft marschieren. Wenigstens die bescheidenere Erwartung, dass sie in Parallelschwüngen operieren (Kohärenzen mithin Divergenzen überwinden helfen) – und dass an den Schnittpunkten unterschiedlichster Traditionen, unter diffusen Einflüssen verschiedener Denk- oder Kunstansätze, aus einem Gär- oder Schmelztiegel sich eine Lineatur des ästhetischen Denkens und der musikalischen Praxis entwickle, mit der eine weder elitär gepanzerte, noch der kapitalistischen Profitnotwendigkeit unterworfene Kunst sich aufschwingt zu neuen Ufern – in neuen Bahnen. Fast eschatologisch erschien der Gedanke, das künstlerische Sensorium könne irgendwie urwüchsig Auswege aus dem Dickicht finden.

42 Reininghaus und Traber, Musik als Ware, S. 12. 43 Auch der Autor gehörte dieser Kommission an.

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Das klingt, von heute aus betrachtet, naiv. Aber so ist das wohl mit dem Prinzip Hoffnung und seiner notorischen Unschärfe. Was aber nach 1968 definitiv zu erfahren war, das hatte der verehrte Ernst Bloch auf den Begriff gebracht: „Das Neue kommt besonders vertrackt“.44 Wir übersahen zunächst nicht nur, dass es weit wirkungsmächtiger von Bill Gates und dessen Kombattanten in die Welt gesetzt wurde als von politischen Vordenkern und Gesellschaftsanalytikern, und dass beim Ausprägen der neuen Bahnen jene die Nase vorn haben (und dann weit oben tragen) würden, die – mit Worten Milan Kunderas gesprochen – „um gehört zu werden und sich ins Bewusstsein der anderen zu drängen, einen überlauten Auspuff an ihre Seelen banden“.45 Das gilt für den tiefgründelnden Wolfgang Rihm ebenso wie für den ewig medienhungrigen Wolf Biermann, für erfolgreiche Politik-Rocker wie für den seinem Ende zu auf Sensibilismus-Ticket reisenden Parteifunktionär Nono oder den mal rechts, mal links überholenden Selbstinszenator Henze. Vielleicht ist es tatsächlich an der Zeit, die Bescherung von 1968 neu zu durchleuchten. Wobei das Geschwader von Krähen, das jetzt über dem damaligen ‚Schlachtfeld‘ kreist und sich Reste aufpickt, darauf zu achten haben wird, dass bei der ‚Aufarbeitung‘ die Werkzeuge kritischer Wissenschaft zum Einsatz gelangen. Vorm Hintergrund des bislang unausrottbar vorwaltenden Opportunismus der deutschen Musikforschung gegenüber den Vorgaben der Herrschenden und (allerdings allenthalben zeitverzögert) den Konjunkturen des wechselhaften Zeitgeists sind gerade im Kontext des Themenfeldes 1968 Erkenntnismethoden und Schreibweisen einzufordern, deren Interesse über die Verdauung und einvernehmliche Verwertung des einzelnen Happens hinausreicht. Damit am Ende nicht doch die Geschichte zur höheren Ehre der Sieger und Lügner geschrieben wird. Und sei es nur aus Naivität und fachlicher Borniertheit. So ������������������������������� oder so – la lotta continua.

44 Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt am Main 1962, S. 223. 45 Milan Kundera, Die Unsterblichkeit, Frankfurt am Main 1992, S. 32f.

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Ein Popkonzert und die ästhetische Entdogmatisierung der „Neuen Musik“ nach 1968 Das Popkonzert in Witten und seine Implikationen Nicht ohne einige Überraschung stößt man bei der Analyse des Programms der Wittener Tage für neue Kammermusik 1975 auf ein Popkonzert. Natürlich war die dort gespielte Popmusik damals aktuell, modern, also neu; und natürlich entspricht eine Besetzung aus fünf Musikern zumindest quantitativ den Konventionen der Kammermusik. Doch es ist klar, dass weder dieser Begriff von Neuheit noch dieser Begriff von Kammermusik der ästhetischen Ideologie neuer Musik entspricht. Indes soll im Folgenden nicht der musik-, ideologie- und sozialgeschichtlich höchst komplizierten Problemlage der Spaltung des Musiklebens in eine U- und eine E-Kultur nachgegangen werden; vielmehr wird diese Spaltung als zumindest ideologiegeschichtliche Tatsache vorausgesetzt. Sie rechtfertigt es, das Wittener Popkonzert als eine Irritation der Szene der neuen Musik zu bezeichnen. Ursprünglich sollten im Rahmen der Wittener Tage für neue Kammermusik am 25. April 1975 drei Bands auftreten: Kraftwerk, Passport und Karthago. Passport hatte „wegen dringlicher USA-Termine“ abgesagt, die vermutlich attraktiver waren als ein Auftritt bei Kammermusiktagen in Witten. Die Ursachen für das Ausscheiden von Kraftwerk sind unbekannt; die Gruppe scheint ab Januar 1975 nicht mehr auf die Schreiben des Kulturamtes reagiert zu haben. Ein nicht unterzeichneter Vertrag für Kraftwerk befindet sich im Archiv des heutigen Kulturforums. Statt Passport und Kraftwerk trat schließlich Steel Organ von Ingfried Hoffmann auf. Mit Ausnahme vielleicht dieser Band wurde also die Präsentation durchaus namhafter und erfolgreicher Popgruppen anvisiert. Der Bassist Glenn Cormick war gerade von Jethro Tull zu Karthago gewechselt, und Kraftwerk darf wohl als eine der einflussreichsten deutschen Popgruppen überhaupt angesprochen werden. Nachstehend verzeichnete Stücke erklangen beim Konzert (in der angegebenen Reihenfolge):



  

Siehe Schreiben von Dirk Schortemeier an Walter Fischer vom 16. Juli 1974 sowie die Notiz von Fischer vom 12. Dezember 1974 (Kulturforum Witten, 41.10.30/3.1 „Sonderkonzert (Pop-Musik)“). Für Unterstützung im Archiv des Kulturforums danke ich Frau Iris Müller. Brief des Konzertbüros Claus Schreiner an das Kulturamt vom 19. März 1975 (ebd.). Ebd. Laut Ansage beim Wittener Konzert (Konzertmitschnitt im Schallarchiv des WDR). Für die Unterstützung im Schallarchiv danke ich Frau Jutta Lambrecht.

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Steel Organ – Man catcher – Die Windmühle – Love motif



Karthago – �������������������������������� The world is like a burning fire – I don’t care – String rambler – Rock’n roll testament



Steel Organ – Hasenjagd, part 1 + 2 – Inas Tanz – GB’s mind



Karthago – We gonna keep it together – Highway seeker, part 1 + 2

Die vier Bands repräsentierten unterschiedliche musikalische Richtungen aus dem pauschal als Popmusik etikettierten Bezirk. Während Kraftwerk zu den Begründern des Elektropop gehört, kann man Karthago als typischen Hard Rock der Siebzigerjahre bezeichnen, vielleicht mit einem deutlich ausgeprägten Blues-Element. Bei Steel Organ handelt es sich um eine Jazzformation, die einen kräftigen Einfluss durch Popmusik erkennen lässt; und Passport mag dem Jazz Rock zugerechnet werden. Indem einerseits solche deutlich unterschiedenen musikalischen Richtungen in der einen Rubrik „Pop“ zusammengefasst wurden, wurde das binäre Denken in Uund E-Kategorien gefestigt; andererseits wurde es dadurch, dass überhaupt Popmusik im Rahmen eines Kammermusikfestivals erklang, in Frage gestellt. Zu den bemerkenswerten Aspekten dieses Popkonzerts gehört, dass es stattfand, ohne dass es eigentlich eine verantwortliche Person gegeben hätte, die sich dafür aus eigenem Antrieb eingesetzt hätte. Es kann daher geradezu als Lehrstück für ‚ideengeschichtliche‘ Vorgänge betrachtet werden. Der damalige künstlerische Leiter Wilfried Brennecke hatte sich der Popmusik aus zwei Gründen geöffnet: erstens um junges Publikum anzuziehen, und zweitens, weil es diesbezüglich Nachfragen gegeben hatte. Auch die Popmusik, so argumentierten damals offensichtlich einige, sei doch neue Musik. Brennecke selbst betrachtete die Popmusik allerdings nicht als seine Angelegenheit; die Auswahl der Bands und die Organisation des Popkonzerts übernahm daher Dirk Schortemeier von der Redaktion für Unterhaltungsmusik des WDR. Dass dieser sich heute an keine Einzelheiten mehr erinnert, spricht nicht dafür, dass er mit der Veranstaltung eine besondere Programmatik  

Gespräch mit Brennecke am 29. September 2004. E-Mail vom 8. November 2004.

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verband. So sehr das Wittener Popkonzert aus seinem Kontext hervorsticht und so sehr es sich ideengeschichtlich als programmatische Veranstaltung deuten lässt, geschah es doch gänzlich ohne bewusste programmatische Intention. Das Popkonzert fand 1975 statt, die Vorgänge, die zu seiner Realisierung führten, folglich ca. 1974. Das war sechs Jahre nach 1968. Dennoch lässt sich das Ereignis als eine Auswirkung der Geschehnisse deuten, die man mit der Zahl 68 etikettiert. Um dies plausibler zu machen, ist es nötig, den Blick von Witten zunächst abzuwenden, denn in der Gestalt, wie die Tage für neue Kammermusik heute bekannt sind, existieren sie überhaupt erst seit 1969. Sie sind also an sich bereits ein Produkt der Zeit von und nach 1968, während die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik 1968 nicht nur fest etabliert waren, sondern die Phase, durch die sie international berühmt geworden waren, bereits hinter sich hatten. Die Darmstädter Unruhen Mit zweijähriger Verspätung sorgten Darmstädter Kursteilnehmer 1970 für Unruhe und traten mit Forderungen, die auf eine Reformierung der Ferienkurse abzielten, an den Leiter des internationalen Musikinstituts Ernst Thomas heran. Die Auseinandersetzungen zogen sich bis 1972 hin. Als wichtigste Quellen sind folgende Dokumente anzusehen: – – – – 

Resümee der ersten Teilnehmerversammlung am 1. September 1970 Wahl-Protokoll vom 3. September 197010 Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik 1970. Resumé von Wünschen und Vorschlägen der Teilnehmer11 Protokoll der Besprechung des von den Teilnehmern gewählten Komitees mit dem Leiter der Ferienkurse, Herrn Ernst Thomas, am 4. September 1970 von 11.00 bis 12.30 Uhr12

Vgl. zu den folgenden Darstellungen auch Klaus Trapp, Darmstadt und die 68er-Bewegung, in: Von Kranichstein zur Gegenwart, Stuttgart 1996, S. 369–375. – Mehrere der von Trapp verwendeten Dokumente konnten mir vom Internationalen Musikinstitut Darmstadt (IMD) nicht zur Verfügung gestellt werden, weil sie nicht auffindbar waren; für Unterstützung bedanke ich mich bei Claudia Mayer-Vogt und Jürgen Krebber.  Siehe auch Anm. 24.  Dass es ein solches Resümee gegeben hat, geht aus dem späteren Resümee hervor, das auf jenes Bezug nimmt. Es konnte jedoch nicht gefunden werden. 10 Das Dokument ist bei Trapp, Darmstadt, nachgewiesen, konnte jedoch ebenfalls weder im IMD noch im Stadtarchiv gefunden werden. 11 Eine Kopie von Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik 1970. Resumé von Wünschen und Vorschlägen der Teilnehmer ist dem Manuskript eines Berichts über die Darmstädter Ferienkurse 1970 von Manfred Niehaus beigefügt (WDR, Historisches Archiv, Ordner U2.54, Regal 29, Abt. Neue Kammermusik, Lektorat, Manuskripte 1. April 1969 bis 31. März 1971). Für Unterstützung im Historischen Archiv des WDR danke ich Frau Andrea Schmidt und Frau Petra Witting-Nöthen. – In Darmstadt war auch dieses Manuskript nicht auffindbar. 12 Protokoll der Besprechung des von den Teilnehmern gewählten Komitees mit dem Leiter der Ferienkurse, Herrn Ernst Thomas, am 4. September 1970 von 11.00 bis 12.30 Uhr: ebd.

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Stellungnahme von Ernst Thomas, Darmstädter Tagblatt, 8. September 1970 Für Mitbestimmung bei Ferienkursen, Presseerklärung der Teilnehmerdelegation, Darmstädter Echo, 21. Oktober 1970 Für Darmstädter Ferienkurse 1971. Presseerklärung der Teilnehmerdelegation, Frankfurter Rundschau, 6. Februar 1971 Protokoll der vorbereitenden Sitzung zur Dozententagung August 1971 vom 21. Mai 1971;13 Resolution zur Institution der Ferienkurse vom 1. Juni 197114 Informationen 1–3 der Darmstädter Ferienkurse (Januar, Juni und September 1971)15 Stellungnahme der Darmstadt-Delegation 1970, 29. Juli 197216

Wie alles begann, beschrieben die Teilnehmer selbst so: „Während der Darmstädter Ferienkurse 1970 erhob sich spontane Kritik der Teilnehmer. Sie führte zu einer Vollversammlung am 1. September 1970. Dort wurden Kritik und konstruktive Änderungsvorschläge geäußert, die eine gewählte Gruppe schriftlich zusammenfasste: Gewünscht wurden ein vielfältigeres, stärker internationales Angebot an Kursen und Konzerten sowie eine stärkere Mitwirkung der betroffenen Teilnehmer an der Gestaltung der Kurse. Dazu wählten die Teilnehmer am 2. September 1970 einen Ausschuss (5 Mitglieder, 5 Stellvertreter), der den weiteren Ablauf der Kurse auf die Wünsche der Teilnehmer abstimmen soll. Dieser Ausschuss wird sich mit dem Leiter der Ferienkurse, Herrn Ernst Thomas, in Verbindung setzen“.17 Die Mitglieder des Ausschusses waren Tim Souster, Nicolaus A. Huber, Mary Bauermeister-Stockhausen, Christoph Caskel und Reinhard Oehlschlägel, als Vertreter Rudolf Frisius, Peter Michael Hamel, Ernstalbrecht Stiebler, Junsang Bahk und Max E. Keller.18 Ein weiteres Treffen des Gremiums wurde für den 17. und 18. Oktober 1970 in Donaueschingen vorgesehen. Unmittelbarer Auslöser der spontanen Kritik bei den Ferienkursen 1970, die zur Vollversammlung führte, war angeblich ein Vortrag von Hans G. Helms über die ökonomischen Bedingungen der Neuen Musik, der wohl aufgrund seines marxistischen Jargons schwer verständlich war und nicht übersetzt wurde.19 Reinhard Oehlschlägel schrieb dazu in der Frankfurter Rundschau vom 11. September 1970: „In einer kurzen Diskussion bemängelten vor allem einige Kursteilnehmer aus dem Ausland, dass zur Vermittlung dieses anspruchsvoll formulierten Textes weder ein Übersetzer noch schriftliche Übersetzungen noch die deutsche Version in Verviel13 IMD. 14 Ebd. 15 Information. Internationale Ferienkurse für Neue Musik (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Signatur Zs 9352c). 16 Auch dieses Dokument ist bei Trapp, Darmstadt, nachgewiesen, konnte jedoch ebenfalls weder im IMD, noch im Stadtarchiv gefunden werden. 17 Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik 1970. Resumé von Wünschen, S. 1. 18 Ebd., S. 3, bzw. Protokoll der Besprechung. 19 Der Vortragstext von Hans G. Helms befindet sich im IMD; ein kurzer Auszug ist auch in der Frankfurter Rundschau vom 4. September 1970 abgedruckt.

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fältigungen zur Verfügung standen. Teilnehmer aus verschiedenen Ländern und Altersschichten fanden sich zusammen und artikulierten ihren Unmut.“20 Zu den Änderungsvorschlägen des Komitees gehörte die Internationalisierung. So wurden als wünschenswerte Dozenten aus den USA neben anderen Terry Riley, La Monte Young, Pauline Oliveros und Harry Partch aufgeführt. Implizit bedeutete dies auch den Wunsch, sich mit Minimal Music und mit neuartigen Skalen auseinanderzusetzen. Außerdem wollte man sich auf den Ferienkursen mit außereuropäischen Musikkulturen vertraut machen; und „Grenzgebiete, die für Musik von allgemeinem internationalen Interesse sind“, sollten stärkere Berücksichtigung finden.21 Genannt wurden „Musik und Film“, musikalisches Theater, Happenings, Hörspiel, Parapsychologie und eben auch „Popmusik und Neue Musik“.22 Außerdem wurde ausdrücklich gefordert, die „vorhandenen Möglichkeiten der Demokratisierung“ sollten „stärker genutzt werden“.23 All dies bedeutete den Wunsch nach Pluralisierung. Dem Protokoll der Besprechung des Komitees mit Ernst Thomas zufolge deckten sich viele Vorschläge mit Vorstellungen, die allein aus finanziellen Gründen bislang nicht hätten verwirklicht werden können. Thomas habe viele Vorschläge akzeptiert; zu ihnen gehörten die Einrichtung eines Komponistenforums, die Einrichtung mehrerer Abhörräume, Termine für Plenumsdiskussionen, die Möglichkeit laufender Kurskritik und auch die „Berücksichtigung von Randgebieten (z. B. Pop)“. Allerdings warnte Thomas vor einer „zu breiten Streuung der Gebiete“, da diese zu „fatalem Pluralismus“ und damit zur „Senkung des Niveaus“ führe. Auch „gegen die Forderung nach Demokratisierung“ wandte er sich, da „die Möglichkeit zu Kritik und Diskussion stets bestanden“ habe. Thomas legte seine Auffassung öffentlich in der Stellungnahme dar, die er vom Darmstädter Tagblatt am 8. September 1970 abdrucken ließ. Darin wurde nun die Legitimität des Komitees in Frage gestellt, und viele Elemente, etwa die Berücksichtigung von Randgebieten, wurden nun nicht mehr aufgegriffen. Deutlicher wurde auch der Anspruch von Thomas, im Besitz der richtigen Maßstäbe für Qualität zu sein. Es entscheide „allein das Niveau“, erklärte er und fügte später hinzu, wie bisher, so werde „auch in Zukunft“ Aufbau und Inhalt der Kurse „nur von den führenden Experten der Neuen Musik bestimmt werden“. Die nachfolgende Presseerklärung der Teilnehmerdelegation, jetzt ohne Christoph Caskel, dessen Rückzug natürlich den Prozess der Polarisierung begünstigte, fiel entsprechend scharf aus: „Die während der Darmstädter Ferienkurse 1970 in einer Vollversammlung gewählte Teilnehmerdelegation traf sich zu ihrer ersten Sitzung am vergangenen Wochenende in Donaueschingen. Dabei wurde beschlossen, mit der Stadt Darmstadt zu verhandeln, um die Mitbestimmung der Teilnehmer an der Gestaltung der künftigen Darmstädter Ferienkurse institutionell zu sichern. Die Delegation kann davon ausgehen, dass die Teilnehmer eine Fortsetzung der bisherigen Programmgestaltung, 20 Reinhard Oehlschlägel, Ein Aufbruch in Darmstadt? Teilnehmer der Musik-Ferienkurse versuchen die Demokratisierung, in: Frankfurter Rundschau, 11. September 1970. 21 Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik 1970, S. 1 und 2. 22 Ebd., S. 2. 23 Ebd.

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die sich lediglich auf die Verantwortung eines Leiters und einzelner Ratschläge der seit Jahren in Darmstadt etablierten Experten stützt, nicht länger hinnehmen werden. Gerade die bisherige Programmpolitik hat die Darmstädter Ferienkurse in eine Krise geführt, die in diesem Jahr in mehreren Protestversammlungen ihren Höhepunkt gefunden hat. In diesen Versammlungen hat sich keine einzige Stimme erhoben, welche die bisherige Konzeption der Ferienkurse, die überwiegend auf ‚Wahrung der Kontinuität‘ und den Rat ‚bewährter Experten‘ ausgerichtet war, unterstützt hat. Nach Vorbesprechungen mit Komponisten und Dozenten, deren Einladung die Teilnehmer wünschen, wurden in Donaueschingen realisierbare Programmvorschläge zur Demokratisierung, zur Internationalisierung und zur Erweiterung des bisherigen Angebots für die Ferienkurse 1971 ausgearbeitet.“. Als das Musikinstitut im Januar 1971 das erste Informationsblatt herausgab und darin verkündete, dass die Ferienkurse ausfallen und künftig nur noch alle zwei Jahre stattfinden würden, deutete die Teilnehmerdelegation diese Entscheidung als Reaktion auf die Vorgänge von 1970: Es könne, so formulierte sie in ihrer Presseerklärung vom 6. Februar 1971, „nicht gut übersehen werden, dass die Entscheidung, die Kurse ausfallen zu lassen, nach fünfundzwanzig Jahren ausgerechnet in einem Jahr getroffen wird, für das die Teilnehmer erstmals umfangreiche konstruktive Programmvorschläge vorgelegt haben“. Die Spannungen erinnern an Generationskonflikte. Die Erklärung von Thomas im ersten Informationsblatt: „nach 25 Jahren, in denen die Darmstädter Ferienkurse einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der Neuen Musik geleistet haben, glauben wir eine Pause verantworten zu können“, suggerierte den Abschluss einer Entwicklung oder die Überzeugung, ein Ziel, zumindest aber Stillstand, erreicht zu haben. Demgegenüber kam in den Erklärungen der Teilnehmer überall Neugier und Wissensdrang zum Vorschein, gerade so, als befinde man sich umgekehrt an einem Neubeginn. Die Taktik des Musikinstituts bestand darin, einerseits geringfügige Zugeständnisse zu machen, andererseits aber auch eine Vielzahl von Forderungen zurückzuweisen. In der Resolution zur Institution der Ferienkurse vom 1. Juni 1971 heißt es: „Das Kursprogramm wird von einem von dem Internationalen Musikinstitut der Stadt Darmstadt einberufenen Programmbeirat ausgearbeitet, von dem auch Anregungen und Wünsche aus Teilnehmer- und Interessentenkreisen in Betracht gezogen werden“; zugleich wurde jedoch ausdrücklich hinzugefügt: „Mitbestimmungsforderungen, wie sie 1970 von einigen Teilnehmern und Außenstehenden erhoben worden sind, kann schon wegen des ständigen Teilnehmerwechsels und der Kürze der gegenseitigen Begegnung nicht entsprochen werden. Ein der speziellen Art der Veranstaltung entsprechendes Forum zur Mitsprache und kritischen Auseinandersetzung wird mit den Kursen selbst sowie mit einem Ausspracheabend allen Teilnehmern geboten.“ Um die „Gefahr einer Aufwertung des Komitees“ zu bannen, wurde beschlossen, nicht auf „falsche Behauptungen und Entlarvung von Manipulationen“ einzugehen, die man in Publikationen und Sendungen zu erkennen glaubte („HR Fernsehen, NMZ, Dissonanz“), wie es das Protokoll der vorbereitenden Sitzung zur Dozententagung August 1971 vom 21. Mai 1971 festhielt.24 24 Als Grundlage der Beschlüsse führt das Protokoll folgende Quellen an: Dissonanz, Heft 7, April 1971; HR

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1972 führten die Auseinandersetzungen zum Ausschluss von vier Personen aus den Ferienkursen.25 Sie alle gehörten zur Teilnehmerdelegation von 1970: Es handelte sich um Reinhard Oehlschlägel, Rudolf Frisius, Ernstalbrecht Stiebler und Max E. Keller. Die beiden Letztgenannten wurden rasch wieder zugelassen: Keller, weil er Teilnehmer der Kurse war, und Stiebler, weil er sich als loyal erwiesen hatte und von Thomas als „Mitläufer“ eingestuft wurde. Die Anwesenheit von Oehlschlägel und Frisius wurde jedoch ebenfalls toleriert.26 Während Thomas den Ausgeschlossenen „verleumderische Aktivitäten“ vorwarf und erklärte, sie hätten Auflagen nicht erfüllt, die ihnen für die Zulassung gemacht worden seien, behauptete Oehlschlägel, „es solle nur verhindert werden, dass den Kursteilnehmern mit einem Flugblatt die kritische Stellungnahme einer 1970 gewählten Delegation zu Festivalstruktur und -programm zur Kenntnis gebracht werde“.27 Zu den nicht eingehaltenen Auflagen gehörte es offenbar, dass sich Frisius und Oehlschlägel „jeder Aktivität enthalten, die über den Rahmen einer publizistischen Tätigkeit hinausgeht.“28 Wie es zu der Schärfe kam, mit der die Auseinandersetzungen zum Teil und durchaus unsachlich geführt wurden, lässt sich von heute aus schwer nachvollziehen. Friedrich Hommel ließ die NMZ wissen: „Wenn Sie die Stirn gehabt hätten, mich und die FAZ auf dieselbe Weise wie das ganze Darmstädter Kurs-‚Establishment‘ durch Ihre selbstgekackte Scheiße zu ziehen, dann hätte ich die ganze Auflage per Müllabfuhr Ihrem Kasseler Verleger in die Wohnung karren lassen mit aufrichtigem ‚Gott zum Gruß‘ und einem herzlichen ‚Pfui Deibel‘“.29 Mehr noch, als es die vorliegenden Dokumente sachlich nachvollziehbar erscheinen lassen, hatten sich die Fronten verhärtet. Einzelpersonen beider Parteien griffen sogar zur schärfsten Waffe, die ihnen zur Verfügung stand: dem Faschismusvorwurf, mit dem man sich gegenseitig eine antidemokratische Einstellung vorhalten konnte. Hommel berichtete in der FAZ, Rudolf Frisius habe „vor dem Darmstädter Teilnehmerplenum den Faschismusverdacht an das Kursdozenten-‚Establishment‘“ geschleudert.30 Offensichtlich stand Frisius damals unter dem Eindruck des Ausschlusses. Der damalige Darmstädter Oberbürgermeister Heinz Winfried Sabais schoss zurück: „Die Kritik zur Sache und die Sache selbst sind nach jener journalistischen Grundregel, [die] auf der Meinungsfreiheit beruht, zweierlei. Man kann nicht beides zusammen produzieren wollen; das entspräche totalitärer Ideologie“.31 So konnte die Demokratieforderung in ihr Ge-

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Fernsehen TTT, 19. April 1971; Rudolf Frisius, in: Neue Musikzeitung, Januar 1971 und April/Mai 1971; Presseerklärung des Teilnehmerkomitees vom 4. (richtig vermutlich 6.) Februar 1971, Vorschläge des Komitees (Brief Caskel) vom 9. November 1970; Stellungnahme Thomas 8. September 1970; Pressestimmen; Pierre Boulez, Brief vom 5. März 1971. – Die Briefe von Caskel und Boulez lagen mir nicht vor. An anderer Stelle ist von fünf die Rede (v. L., Aussperrung und Aussprache, in: Darmstädter Tagblatt, 2. August 1972). Drohen weitere Aussperrungen? [Interview mit Ernst Thomas], in: Darmstädter Tagblatt, 7. August 1972. Kölner Stadtanzeiger, 2. August 1972. Drohen weitere Aussperrungen?, in: Darmstädter Tagblatt, 7. August 1972. Neue Musikzeitung, Dezember 1972/Januar 1973. Musik nach revolutionärem Gesamtkonzept?, in: FAZ, 12. August 1972. Unglaubwürdig, in: Neue Musikzeitung, Dezember 1972/Januar 1973.

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genteil verkehrt werden: „Wir als Veranstalter werden weiterhin dafür sorgen, dass die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik ein offenes Musikforum bleiben und nicht von einer ideologisch fixierten Minderheit ‚umfunktioniert‘ und ‚gleichgeschaltet‘ werden“.32 Ästhetische Implikationen Analysiert man die in der Presse teilweise mit äußerster Schärfe geführte Verbalschlacht, so lässt sich ein zentrales Thema herausschälen, um das sie kreiste: Demokratisierung (oder, implizit und ins Ästhetische übersetzt, Pluralisierung). Eher am Rande der Diskussion ging es um eine Politisierung der Ästhetik. Sie wurde, wie es scheint, von den Hütern der Ferienkurse mehr befürchtet, als von den Kritikern befürwortet. Karlheinz Stockhausen ahnte eine Politisierung der Kurse und gab zu verstehen, „dass er nicht mehr nach Darmstadt kommen werde, wenn in seinen Seminaren Apo-Politik betrieben werde“.33 Im Zuge der Angst vor einer möglichen Politisierung der Musik nutzte Hommel den Begriff der Politisierung als Schimpfwort, das er gegen eine vermeintliche „journalistische ‚Pressure-group‘“ einsetzte: „Ihr Ziel sei, so sagt Thomas: der Aufbau eigener Machtpositionen innerhalb der Darmstädter Ferienkurse und ihre Institutionalisierung zum Zwecke der Politisierung“.34 Während der Ferienkurse 1972 hielten Reinhold Brinkmann, Carl Dahlhaus und György Ligeti Vorträge über das Verhältnis von Musik und Politik.35 Eine Kurzfassung des Beitrags von Dahlhaus, der die musikalische Qualität durch die Politisierung gefährdet sah, findet sich unter dem Titel Musik zwischen Politik und Ästhetik auch im Darmstädter Tagblatt vom 31. Juli 1972. „Entweder verfällt“ Musik, hieß es darin, „um des politischen Effekts willen, der Trivialität. Oder sie opfert der musikalischen Integrität die politische Wirkung.“ Im Jahr 1974 veröffentlichte das Internationale Musikinstitut dann die Antworten Christian Wolffs, Mauricio Kagels, Iannis Xenakis’ und Karlheinz Stockhausens auf fünf Fragen, darunter die folgende: „Kann die Neue Musik als Mittel politischer oder gesellschaftlicher Veränderungen dienen?“36 Im Mittelpunkt stand demgegenüber, wie gesagt, die pauschal vorgebrachte Forderung nach Demokratisierung.37 Sie implizierte, dass die Kritiker an der Orga32 Ebd. 33 Hans-Elmar Bach, Laute Misstöne bei den Darmstädter Kursen, in: Kölnische Rundschau, 7. September 1970. 34 Musik nach revolutionärem Gesamtkonzept? 35 Die Vorträge sind abgedruckt in Ferienkurse ’72, hrsg. von Ernst Thomas, Mainz 1973. 36 Ernst Thomas, Zur Situation, in: Ferienkurse ’74, hrsg. von Ernst Thomas, Mainz 1975, S. 8. 37 Siehe z. B. Hans-Elmar Bach, Laute Misstöne; Reinhard Oehlschlägel, Ein Aufbruch in Darmstadt?, in: Frankfurter Rundschau, 11. September 1970; Peter [Michael] Hamel, Vierundzwanzig Stunden Stockhausen, in: Neue Musikzeitung, Oktober/November 1970; Rudolf Frisius, Weder international noch repräsentativ?, in: Neue Musikzeitung, Dezember 1970/Januar 1971; Oehlschlägel in einem Interview mit Max Nyffeler (Max Nyffeler, DISSONANZ-Interview mit Reinhard Oehlschlägel, in: Dissonanz, Heft 7, April 1971, S. 20–22, hier S. 20; Reinhard Oehlschlägel, Dabeisein und dafürsein, in: Frankfurter Rundschau, 2. August 1972.

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nisation und Durchführung der Ferienkurse einen Mangel an Mitbestimmung durch die Teilnehmer wahrnahmen. Daher wurde verlangt, dass Ausschreibungen jedem Interessierten die Möglichkeit bieten sollten, sich für die Aufnahme ins Programm zu qualifizieren.38 Um solchen Forderungen möglichst effektiv entgegenzutreten, versuchten die Verteidiger der bisherigen Konzeption der Ferienkurse die Kritiker an genau diesem Aspekt anzugreifen. „Das Komitee, das sich nun gebildet hat und mit Vorschlägen an mich herangetreten ist, ist allerdings nur von weniger als der Hälfte der Kursteilnehmer gewählt worden, und es erhebt sich die Frage, inwieweit es tatsächlich repräsentativ für die Meinungsbildung sein kann“, erläuterte Thomas in seiner Stellungnahme.39 In den wenig diplomatischen Äußerungen Hommels kam die Abneigung gegen den Jargon der Studentenbewegung von 1968 deutlich zum Vorschein. Er sprach von der „Clique der Darmstädter Agitatoren“ und warf Frisius vor, er wuchte „gewaltig die Schreckgespenster und Heiligtümer der Nation durch die Gegend: Repressalien, Maulkorb, Zensur, Aussperrung, Einschüchterung, Grundgesetz und Grundrecht freier Meinungsäußerung.“40 Die Demokratisierungsforderung war eine Folge ästhetischen und vor allem institutionellen Unbehagens. Insbesondere Oehlschlägel hob diesen Aspekt hervor. Schon 1969 hatte er an den Ferienkursen die „persönliche Institution“ und die „feste Institutionalisierung Stockhausens“ kritisiert.41 Er nannte die Organisation der Kurse und die damit verbundenen ästhetischen Entscheidungen autokratisch42 und kritisierte Stockhausens ästhetische Monopolbestrebungen.43 Das „Unbehagen an der in den Programmen berücksichtigten Ästhetik“ deutete er als den eigentlichen Auslöser der Teilnehmerversammlungen von 1970.44 „Nicht Mündigkeit und legitime Interessenlage“, sondern die von Thomas „selbst (auch entgegen den Kulturpolitikern der Stadt Darmstadt) überhaupt erst betriebene Stammbildung“ sei „für den Stammvater einziges Kriterium“.45 Deshalb sollten die eingesandten Materialien öffentlich zugänglich gemacht werden, um die Entscheidungen bei der Programmgestaltung transparent zu machen.46 In diesen Kontext gehörte auch die Forderung

38 Oehlschlägel, Ein Aufbruch in Darmstadt?. 39 Darmstädter Tagblatt, 8. September 1970; ebenso äußert er sich in der Sendereihe Das Prisma vom Hessischen Rundfunk, 3. Februar 1971; Hommel, Musik nach revolutionärem Gesamtkonzept?. 40 Rudolf Frisius, „Gott zum Gruß“, in: Neue Musikzeitung, Dezember 1972/Januar 1973. 41 Darmstädter Ferienkurse 1969, Hessischer Rundfunk, 9. September 1969; vgl. Nyffeler, DISSONANZInterview, S. 12. Auch an einer kritischen Umfrage, die die Neue Musikzeitung zu den Darmstädter Ferienkursen 1969 vornahm, war Oehlschlägel beteiligt. In Heft 6, 1969, kamen Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel, Rolf Riehm, Konrad Boehmer, Rolf Gehlhaar, Ulrich Siegele, Rudolf Frisius, Hans-Klaus Jungheinrich und Fritz Muggler zu Wort. Am deutlichsten wandte sich Kagel gegen eine autoritäre Leitung der Kurse. – Damals beschwerte sich Thomas beim Hessischen Rundfunk (Briefe vom 23. September und 12. Dezember 1969, IMD). 42 Oehlschlägel in Nyffeler, DISSONANZ-Interview, S. 20. 43 Reinhard Oehlschlägel, Vorbericht über die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik 1972 in Darmstadt, gesendet im Deutschlandfunk, 24. Juli 1972. 44 Ebd. 45 Oehlschlägel, Dabeisein und dafürsein. 46 Oehlschlägel, Ein Aufbruch in Darmstadt?; Hans-Elmar Bach, Laute Misstöne.

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von Internationalisierung, die sich aus der Forderung nach ästhetischer Entdogmatisierung von selbst ergab.47 Dass hinter der Demokratisierungsforderung nicht nur in den Augen Oehlschlägels das Bestreben nach einer Entdogmatisierung der Ästhetik stand, geht zum einen aus dem Resümee der Teilnehmer von 1970 hervor. Denn darin wurden, wie gesagt, andere Dozenten die Einführung in außereuropäische Musik und die stärkere Berücksichtigung von Grenzgebieten gefordert. Zum anderen geht dies auch daraus hervor, dass die Irritationen von 1970 nicht so sehr als Störung, sondern als Aufbruch begriffen wurden. Leitmotivisch war in der Berichterstattung über die Ferienkurse 1968, 1969 und 1970 von Ermüdung, Stagnation, Selbstbespiegelung und Krise zu lesen.48 Thomas selbst wollte zwar „nicht unbedingt“ von einer „Krise der Neuen Musik“ reden, tat es aber, indem er es nicht tun zu wollen vorgab, eben doch.49 Die Tatsache, dass sich die Jury, die 1970 über einen zum 25jährigen Bestehen der Ferienkurse ausgeschriebenen Preis auszuloten hatte und der Günther Becker, Heinz Enke, Aloys Kontarsky, Bruno Maderna und Otto Tomek angehörten, nicht imstande sah, einen ersten Preis zu vergeben,50 deutete Thomas als Symptom „künstlerischer Stagnation“.51 Andere hingegen verspürten zur gleichen Zeit einen frischen Wind. „Nicht mehr mit banger Unsicherheit, sondern mit durchaus eigenen Vorstellungen von Musik und ihren Aufgaben geht die jetzt junge Generation kritisch an die Avantgarde von gestern heran“, schrieb beispielsweise Hans-Elmar Bach,52 und Oehlschlägel betitelte seinen Bericht in der Frankfurter Rundschau vom 11. September 1970 mit der Frage „Aufbruch in Darmstadt?“ Aus den Forderungen der Teilnehmer hörte er den Wunsch nach einer Aktualisierung und Verjüngung der Ferienkurse heraus. In gewisser Weise deckten sich die Beobachtungen der Hüter und der Kritiker der Ferienkurse, nämlich in der Ansicht, dass es in Darmstadt zu einer Erstarrung gekommen sei. Nur dass die Hüter dies als eine Erscheinung ‚der‘ Neuen Musik betrachteten, während es die Kritiker als Ergebnis der Verkrustung einer alten Ästhetik, verkörpert durch die Darmstädter Ferienkurse, werteten. Man warf den Ferienkursen vor, sie erschöpften sich in einer Verwaltertätigkeit. „Verwaltet“ werde das Altbewährte“, wie Max Nyffeler formulierte. Zu einer Komposition „von einem Herrn Darmstadt aus Darmstadt“ schrieb er bissig: „In diesem Stück wurde, wie der Komponist erläutert, ‚für die Rahmenteile eine Sechstonreihe verwandt, wobei sich zwei zu einer Zwölftonreihe ergänzen können‘. Es ähnelt in seiner selbstgenügsamen, vorsintflutlichen Art einem Terrarium: Da wimmelt es nur so von allerlei 47 48 49 50 51 52

Oehlschlägel, Ein Aufbruch in Darmstadt?; Rudolf Frisius, Weder international noch repräsentativ?; Oehlschlägel in Nyffeler, DISSONANZ-Interview, S. 20. Siehe die Pressestimmen, die in den Ordnern Fe 304, 305 und 306 des IMD versammelt sind. Im Gespräch mit Jens Wendland in der Sendereihe Das Prisma vom Hessischen Rundfunk, 3. Februar 1971. Beschluss der Jury über den Musikpreis 1970 vom 16. Februar 1970: „Unter den geprüften 95 Werken befindet sich keines, das dem besonderen Anspruch des Preises in jeder Hinsicht gerecht wird“ (IMD). Ernst Thomas, Von der Notwendigkeit, Ferienkurse für Neue Musik zu veranstalten, in: Ferienkurse ’72, S. 6–13, hier S. 8. Laute Misstöne.

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Grundformen und Krebsen. Diesen Wassertieren, die es als Überbleibsel alter Zeiten in unserer von Gewässerverschmutzung bedrohten, fortgeschrittenen Welt ohnehin schon schwer genug haben, wird jetzt obendrein noch Gewalt angetan: sie werden ‚umgekehrt‘, ‚miteinander verzahnt‘, ‚herausgegriffen und in ein neues Licht gestellt‘ (wo doch Wasser ihr Element ist!) und zu guter Letzt zu einem ‚Rahmen‘ gezimmert, der die ‚eigentlichen Variationen‘ enthält. Ein Fall für den Tierschutzverein.“53 Der Vorwurf selbstgenügsamer Verwaltertätigkeit war nicht ganz aus der Luft gegriffen, sondern stützte sich zusätzlich auf das 1970 angekündigte Projekt einer Enzyklopädie, mit der das Internationale Musikinstitut Darmstadt „seine Tätigkeit in den letzten 25 Jahren“ zu dokumentieren beabsichtigte.54 „Die schöpferische Zentralstellung Darmstadts im Hinblick auf Neue Musik nach 1945 ermöglicht nun“, so kommentierte Peter Michael Hamel das Unternehmen, „eine Dokumentation der ‚musica nova‘ schlechthin, und ihre Schöpfer – Stockhausen, Maderna und Boulez u. a. – schreiben sich ihre Geschichte selbst“.55 Für das Musikinstitut schien etwas abgeschlossen zu sein, während die Kritiker einem Aufbruch entgegensahen. Ganz konkret plante Oehlschlägel damals ein Konkurrenzunternehmen, das in Frankfurt stattfinden sollte,56 zu dessen Verwirklichung es jedoch nicht kam.57 Thomas konnte demgegenüber in den Vorgängen, die sich im Nachhinein als Auflösung der verkrusteten Werte der Neue-Musik-Ideologie begreifen lassen, keinen Neuanfang erkennen, sondern erblickte darin Stagnation. Aus diesem Gefühl des Abschlusses und der Krise heraus auch war die an ausgewählte Komponisten gerichtete Frage des Musikinstituts zu verstehen: „Wie beurteilen Sie […] den kompositorischen Nachwuchs, und welche Konsequenzen würden Sie daraus für die Veranstaltung von Kursen Neuer Musik ziehen?“58 Es ist kaum möglich, die inhaltlichen Koordinaten der alten und der neuen Ästhetik der neuen Musik genauer zu bestimmen. Doch zwei Aspekte lassen sich umreißen. Zum einen schieden sich die Geister offenbar an ihrem Verhältnis zur Tonalität. Die Frage „Ist das Modewort Nostalgie sinnvoll auf die jüngste Entwicklung anzuwenden, und sehen Sie Anzeichen für eine Rückwendung zur Tonalität?“59 könnte den Eindruck erwecken, das Musikinstitut habe mit Befremden und Skepsis zur Kenntnis genommen, dass die Tonalität nicht erfolgreich hat ausgemerzt werden können. Schon 1972 war über „Tonalität in der Neuen Musik“ diskutiert worden.60 Dieser Aspekt führt jedoch gleich zu einem anderen. Denn nur oberflächlich betrachtet ging es um die Frage, ob Tonalität angewandt wurde oder nicht. Im Kern ging es um die Frage nach dem musikalischen Fortschritt und um Pluralismus. Die 53 Max Nyffeler, Bericht über die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik, Darmstadt, in: Dissonanz, Heft 7, April 1971, S. 9. 54 Ebd., S. 2. 55 Vierundzwanzig Stunden Stockhausen. 56 Nyffeler, Bericht über die Internationalen Ferienkurse, S. 15. 57 Trapp, Darmstadt, S. 371. 58 Ernst Thomas, Zur Situation. 59 Ebd. 60 26. Internationale Ferienkurse für Neue Musik [Programmübersicht], in: Ferienkurse ’72, S. 97.

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Verwendung von Tonalität implizierte einen Rückfall, und außerdem konfligierte das Fortschrittsdenken mit Pluralismus. Denn je nachdem, wie festgefahren die Vorstellung von einer Entwicklung des – gewöhnlich auf wenige Parameter festgelegten – Materials war, war Pluralismus mehr oder weniger rigoros ausgeschlossen. Die Fragen nach Postserialismus, nach der Qualität der jungen Komponisten und nach Nostalgie implizierten indes eindeutig, dass es zu einem Problem mit dem Fortschrittsdenken gekommen war. Als Helmut Lachenmann die junge Generation verteidigte, antwortete Thomas darauf mit der bezeichnenden Frage: „Ist das akustische Material wirklich weitgehend ausgeschöpft, oder sind es vielmehr die Techniken, mit denen man immer noch versucht, dieses Material in den Griff zu bekommen?“61 Thomas hielt demnach weiterhin an einem dezidierten Progressionsmodell und am Materialdenken fest. Sein Fortschrittsglaube drückte sich auch sprachlich in dem „immer noch“ aus, als würde er eine Veränderung vermissen, die eigentlich schon längst hätte eintreten sollen. Die Diskussionen hatten Auswirkungen. Zu den Änderungen in der Organisations- und Präsentationsform der Darmstädter Ferienkurse, die dem Aufbegehren einiger Teilnehmer und Journalisten von 1970 zu danken waren, gehörte laut Oehlschlägel, dass es zum ersten Mal einen Programmbeirat gab, dass „seit längerer Zeit wieder Kompositionskurse“ stattfanden, „in denen junge Komponisten eigene Stücke und Konzeptionen entwickeln oder mitbringen und zur Diskussion stellen“ konnten, dass „lange Zeit verdrängte oder vergessene Namen“ wie Kagel, Xenakis, Wolff und Rzewski wieder auftauchten und dass „Ansätze einer politischen Musikästhetik“ erprobt wurden.62 Oehlschlägel nannte dies eine „begrenzte Reform“, und das war einerseits die notwendige Untertreibung eines Journalisten, der in den Diskussionen eine starke Position bezogen hatte,63 andererseits blieben viele der Forderungen (Filmmusik, Pop, außereuropäische Musik) tatsächlich unerfüllt. Trotzdem hatten die Veränderungen Konsequenzen. Denn während Aloys Kontarsky 1971 meinte, dass aus der Generation der damals 25-jährigen „noch kein Komponist so profiliert hervorgetreten sei wie in den 50er Jahren Boulez, Stockhausen, Kagel, Ligeti und viele andere“,64 präsentierte im Jahr darauf der noch nicht zwanzigjährige Wolfgang Rihm in dem neu geschaffenen Kompositionsstudio seinen Grat für Violoncello solo. Man greift vermutlich nicht einmal zu weit, wenn man sagt, die Neue Einfachheit sei erst durch die Darmstädter 68er-Unruhen, die freilich 1970 bis 1972 stattfanden, ermöglicht worden. Immerhin nutzte auch HansChristian von Dadelsen das Kompositionsstudio 1972, um seine Ansichten über neue Tonalität darzulegen. In den folgenden Ferienkursen (1974) kamen Hans-Jürgen von Bose, Detlev Müller-Siemens und Wolfgang von Schweinitz hinzu. Manfred Trojahn stellte sich 1976 vor. Noch enger erscheint der Zusammenhang, wenn man bedenkt, dass Peter Michael Hamel, der sich bereits 1970 an der Kritik in Darmstadt beteiligt hatte, von den Redakteuren des ersten Hefts der NZ aus dem Jahr 1979 in den Kreis der „Jungen Avantgarde“ aufgenommen werden sollte, mit dem die Neue 61 62 63 64

Thomas, Von der Notwendigkeit, S. 11. Oehlschlägel, Vorbericht über die Internationalen Ferienkurse. Zu den Neuerungen der Ferienkurse nach 1970 siehe auch Trapp, Darmstadt, S. 373. Nyffeler, DISSONANZ-Interview, S. 20.

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Einfachheit historisch festgeschrieben wurde.65 Die Verabschiedung von der Fortschrittsidee und vom Materialdenken, der Rückgriff auf die romantische Tradition, der ohne eine zugrunde liegende Forschrittsideologie nicht mehr als reaktionär zu begreifen war, und die – wenn auch nur zögerliche – Bekämpfung der Tabus der Neuen Musik, nämlich des Verbots von Harmonie, Konsonanz, Tonalität, Melodie und regelmäßigem Rhythmus gehörten zu den kompositorischen und ästhetischen Veränderungen, die offensichtlich erst im Zuge der „68er-Unruhen“ haben Akzeptanz gewinnen können.66 Eine politische Bewegung muss sich in der Musik nicht unbedingt in Politisierung niederschlagen. Man muss sich daher davor hüten, die Frage nach dem Zusammenhang von 1968 und Musik auf diese Perspektive zu verengen. Musik kann als Träger der 68er-Bewegung fungieren, und in dieser Funktion war vor allem die Popmusik relevant; Musik kann aber auch als Seismograf für Änderungen betrachtet werden, und in diesem Sinne kann die Neue Einfachheit offenbar als Reflex der 68er-Bewegung begriffen werden, die sich im Zuge einer, freilich sehr mäßigen, ästhetischen Pluralisierung der neuen Musik hat durchsetzen können. Die durchaus auffällige Übereinstimmung zwischen den AchtundsechzigerUnruhen in Darmstadt und dem Auftreten einer ästhetisch und musikalisch neu sich orientierenden Komponistengeneration lenkt das Augenmerk auf eine andere Facette der Vorgänge. Denn die Neue Einfachheit wird häufig mit einem anderen zeitgeschichtlichen Schlagwort in Zusammenhang gebracht: der Postmoderne. In der Tat ist es nicht ganz abwegig, die Darmstädter Vorgänge von 1970 bis 1972 gleichzeitig aus dieser Perspektive zu betrachten, auch wenn eine befriedigende Bestimmung dessen, was die Postmoderne sei, nach wie vor nicht existiert. Immerhin ist es auffällig, dass die geplante Enzyklopädie in der Tat so etwas wie ein Zugeständnis an das Ende der Moderne implizierte, einen abschließenden, festschreibenden Rückblick; und zu den Forderungen der aufmüpfigen Teilnehmer gehörte die Forderung nach Pluralisierung und ansatzweise nach der Aufhebung von U und E. Kann die Postmoderne, so ließe sich daher fragen, auch als Umsetzung der Kritik an den verkrusteten, dogmatischen Idealen begriffen werden, wie sie 1968 gefordert wurden? Witten und die neue Ästhetik All diese Vorgänge werfen Licht auch auf die Wittener Tage für neue Kammermusik. Dass dort 1975 ein Popkonzert stattfand, kann nun mit weitaus größerer Plausibilität den Veränderungen in der Folge von 1968 zugeschrieben werden. Denn auch bei den Darmstädter Vorgängen kam Popmusik verschiedentlich ins Gespräch, und das war unter anderem eben ein Indiz für die Aufgabe einseitiger ästhetischer Werte beziehungsweise die Infragestellung der Autoritäten, die sie vorgaben. Wäh65 S. dazu auch Hentschel, Wie neu war die neue Einfachheit?, in: Acta musicologica 1 (2006), S. 111– 131. 66 Vgl. zu der ganz parallelen Entwicklung in Polen den Beitrag von Bogumila Mika in dem vorliegenden Band.

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rend in Darmstadt die Einbeziehung von Popmusik freilich eine theoretische Forderung blieb, die keine praktischen Konsequenzen nach sich zog, wurde in Witten umgekehrt nicht theoretisiert, sondern kurzerhand ein Popkonzert durchgeführt. Dass die Ausnahmeveranstaltung zustande kam, hing von mehreren ineinander greifenden Voraussetzungen, Absichten und Faktoren ab, die zwar keiner gezielten Koordination unterlagen, deren Zusammentreffen in der Zeit nach 1968 jedoch wahrscheinlicher war, als es zuvor gewesen wäre: 1. Für einige Personen hatte die strikte Trennung zweier musikalischer Kulturen an Plausibilität verloren. Künstlerische Werte und Normen waren in Frage gestellt worden. Konkret bedeutete dies zum einen die Öffnung der neuen Musik hin zum Pluralismus und zum anderen die Verabschiedung der verhärteten Fortschrittsideologie der Neuen Musik. 2. Diese Infragestellung vollzog sich innerhalb einer sozialen Schicht, die sich bei den Trägern der hochkulturellen Ideologie Gehör verschaffen konnte. Brennecke berief sich, wie gesagt, auf Personen, die meinten, Popmusik sei ebenfalls neue Musik. Dieser Feststellung war nicht zu widersprechen, sofern man sich eben nicht auf die normative Ideologie der Neuen Musik zurückziehen konnte. 3. Auf Seiten der künstlerischen Leitung war eine Toleranz erforderlich, die in einem Popkonzert kein Sakrileg sah, sondern eine Sonderveranstaltung, die unter bestimmten Bedingungen zu rechtfertigen war. 4. Zu diesen Bedingungen zählte für Wilfried Brennecke die Gewährleistung eines erzieherischen Ziels, nämlich junge Menschen zum Festival zu locken.67 Doch hinter dieser pädagogischen Idee verbarg sich möglicherweise nichts anderes als eine Rechtfertigungsstrategie: Die Hoffnung, das Popkonzert habe einen pädagogischen Sinn, erleichterte es Brennecke, auf den von außen an ihn herangetragenen Wunsch und den weitergedachten Pluralismus positiv einzugehen. 5. Die weniger starke Bindung Brenneckes an eine Ideologie des Fortschritts und der Innovation stützte sich auf eine konservative Haltung, die der Innovation um ihrer selbst willen kritisch gegenüberstand,68 nun aber mit der Kritik Linker an der Verkrustung bürgerlicher Werte zusammentraf. Irritation blieb das Popkonzert dennoch, denn es kam zu keiner Wiederholung. Für eine Aufhebung der Spaltung, in denen sich die Musikkulturen befanden, reichte die ästhetische Entdogmatisierung nach 1968 keineswegs aus. Dass Brennecke, wenn er heute von diesem Konzert berichtet, das den Titel trug „Pop Power in Concert“, immer nur von „Jazz“ spricht,69 ist ein Indiz dafür, dass es nicht zu einer solchen Aufhebung kam. Denn traditionellerweise wird dem Jazz eine Sonderstellung zwischen U- und E-Musik zugebilligt. In Donaueschingen steht seit 1957 sporadisch, seit 1970 regelmäßig Jazz auf dem Programm. 67 Brennecke hielt diesen Versuch jedoch für gescheitert (Gespräch am 29. September 2004); auch der Moderator des Konzertes hob hervor, dass es sich um eine Veranstaltung für die Jugend handle. 68 Vgl. z.B. das Geleitwort des Programmheftes der Wittener Tage für neue Kammermusik von 1970. 69 Gespräch mit Brennecke am 29. September 2004.

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Über das Popkonzert hinaus lassen sich vor dem Hintergrund der Darmstädter Vorgänge allerdings weitere Merkmale bestimmen, die möglicherweise auf den Einfluss von ‚1968‘ zurückzuführen sind. Insbesondere sticht der Zeitpunkt ins Auge, zu dem die Wittener Tage für neue Kammermusik, die, 1936 gegründet, in den Fünfziger-, aber auch noch den Sechzigerjahren eher ein Schattendasein führten, 1969 mit einem Mal ihre Gestaltung und Medienpräsenz grundlegend änderten. Das hatten sie Wilfried Brennecke vom WDR zu verdanken, der sie an den Mainstream neuer Musik heranführte. Nicht, dass die Verjüngungskur im Jahr nach 1968 stattfand, ist das Bemerkenswerte an diesem Datum, sondern, dass sie stattfand, als aus Sicht der Darmstädter Neue-Musik-Ideologie Stagnation und Krise herrschten. Man kann die Wittener Entwicklung daher durchaus im Kontext der Aufbruchstimmung sehen, die in der Kritik an den Darmstädter Ferienkursen zwischen 1970 und -72 stets mitschwang. Brennecke war damals Mitte 40 und daher natürlich kein Achtundsechziger, aber darin, dass er die Dogmatik und Monopolisierung der Neuen Musik ablehnte, kam er mit den Forderungen der Kritiker an den Darmstädter Ferienkursen durchaus überein. Dies erlaubte es ihm, die Gunst der Stunde, die teilweise aufkommende Aufbruchstimmung, zu nutzen. Für Brennecke bedeutete der Neuanfang allerdings einige Anstrengung. Denn der WDR erlaubte ihm zwar offiziell die Mitarbeit an der künstlerischen Leitung der Wittener Tage für neue Kammermusik, engagierte sich ansonsten aber nicht für sie. Otto Tomek, Brenneckes Kollege, der regelmäßig über die Darmstädter Ferienkurse berichtete, vermisste die Innovation an den Wittener Musiktagen.70 Erst seit 1976 ist der WDR als Mitveranstalter der Wittener Tage für neue Kammermusik in den Programmheften verzeichnet. Tomek gehörte als Anhänger der alten Ästhetik zu jenen, die meinten, die Neue Musik befinde sich in der Stagnation.71 Brennecke, der die neue Musik Wittens von Anfang an konsequent klein schrieb, kannte derartige Probleme, wie es scheint, nicht. Dies begünstigte die Berücksichtigung von Musik, die man mit 1968 in Zusammenhang bringen mag: solche, die sich auf politische Ästhetik stützt wie die Musik des häufiger aufgeführten Nicolaus A. Huber, solche, die aus den sozialistischen Ländern stammte, allen voran der DDR und der Tschechoslowakei, oder solche, die die Einbeziehung eines breiteren Publikums anstrebte wie die Vormusik von Manfred Niehaus 1974. An dieser Komposition wirkten der Wittener Kinderchor, der Musikverein Witten, der Chorkreis Dortmund OespelKley, das Jugendsinfonieorchester der Stadt Witten, die Mandolinen-Konzert-Gesellschaft Herne sowie der Fanfarenzug Rot-Weiß Witten mit; und man zog durch die Stadt – der Ablauf ist in der Partitur festgehalten. Die Idee der Popularisierung spielte in den Unruhen im Kreis der neuen Musik nur eine geringe Rolle. Zwar gehörte zu den Fragen, die das Musikinstitut 1974 an 70 Der Gründer der Wittener Tage für neue Musik, Robert Ruthenfranz, hatte sich schon seit 1960 regelmäßig an Tomek gewandt in der Hoffnung, Interesse beim WDR zu wecken (Belege im Nachlass von Ruthenfranz, Stadtarchiv Witten); s. dazu Frank Hentschel, Die Wittener Tage ür neue Kammermusik. Über Geschichte und Historiografie aktueller Musik (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft), Stuttgart: Franz Steiner, Druck in Vorbereitung. 71 Breits 1964 beklagte er den Mangel innovatorischer Originalität (Die Internationalen Ferienkurse für neue Musik, Darmstadt 1964 (Witten, Kulturforum, 41.10.30, Kammermusiktage 1964–1965, Bd. 1)).

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einige Komponisten richtete, auch die, wo „Grenzen, Schwierigkeiten oder nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten einer Popularisierung Neuer Musik“ zu sehen seien,72 doch in den vorangegangenen Diskussionen hatte diese Frage, soweit es die Dokumente erkennen lassen, keine Rolle gespielt. Immerhin allerdings hatte sich die Ästhetik der Neuen Einfachheit nicht nur zum Ideal der Verständlichkeit und der Kommunikation mit dem Publikum geöffnet, sondern auch dem Einfluss durch Popmusik. Müller-Siemens nimmt in dem Zyklus Under Neonlight Bezug auf den Jazz, und Dadelsen setzte sich überhaupt für die Aufhebung der Spaltung in musikalische U- und E-Kulturen ein, indem er für eine Musik jenseits solcher Denkmuster plädierte.73 Doch auf diese Weise programmatisch war das Wittener Popkonzert nicht zu verstehen. Brennecke war weder ein 68er, noch war er postmodern, er war nur relativ undogmatisch. Aber er und mit ihm der Neuanfang der Wittener Tage für neue Kammermusik profitierten von den Folgen von ‚1968‘ und der Postmoderne, deren Verhältnis zueinander vorerst unklar bleibt, gleichermaßen. Aber vielleicht liegt gerade in dieser scheinbar verqueren Konstellation die substanziellere Übereinstimmung der beiden genannten Tendenzen. Denn diesen ging es um die Infragestellung autoritativer Ideologieträger und damit die Auflösung oder Pluralisierung intellektuell herrschender Gruppierungen.

72 Thomas, Zur Situation, in: Ferienkurse ’74, S. 8. 73 Hans-Christian von Dadelsen, U oder E? Rebellion gegen die zeitgenössische Musik-Guillotine, in: FonoForum, Heft 2, 1988, S. 28–30.

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Pamphlets and Protests: The End of Stockhausen’s Darmstadt Background The impact of the events of 1968 arguably arrived late at Darmstadt and in an unexpected form. By the 1970s, the Darmstädter Internationale Ferienkurse für Neue Musik were radically different from the melting pot of the 1950s. Of the lecturing staff who had exemplified Darmstadt’s initial international success – among them almost every single figure implicit in the vaunted post-war avant-garde: Boulez, Nono, Goeyvaerts, Pousseur, Maderna – only Stockhausen remained. Although there were certainly a number of subversive trends in the later 1960s, Stockhausen’s mammoth authority over the composition courses at Darmstadt was without question. In 1968 itself, there was little at Darmstadt that reflected recent events: the attempted assassination of the student leader Rudi Dutschke on 11 April, the occupation of the Théâtre de France at the Odéon by French students on 15 May, the passage of emergency legislation by the Bundestag on 24 June, along with widespread student activism across Europe and Northern America, all appeared to have passed Darmstadt by. In 1970, though, direct student protest arose. In two open meetings of the Darmstadt participants at the Justus-Liebig-Haus on 1 and 3 September various proposals for change were suggested, centering on ideas of Mitbestimmung, or co-determination. During the meetings the so-called Darmstadt Delegation was elected, compri







Both Kagel and Ligeti would continue to lecture at Darmstadt until the later 1970s, but it must be remembered that both came to Darmstadt rather later than the mentioned composers, and were not directly involved in the compositional work that led to the misleading notion of the ‘Darmstadt School’. Paul Attinello’s dissertation������������������������������������������������������������������������� gives details of a number of these subversive trends. Cf. Paul Attinello, The interpretation of chaos: a critical analysis of meaning in European avant-garde vocal music 1958–68, unpublished PhD dissertation, University of California at Los Angeles, 1997. This is most clear in Stockhausen’s 1967 and 1968 courses, called Ensemble and Musik für ein Haus respectively. See Martin Iddon, The Haus Karlheinz Built: Composition, Authority and Control at the 1968 Darmstadt Ferienkurse, in: Musical Quarterly 87/1 (2004), pp. 87–118. �������������������������������������������������������������������������������������������������������� The only form of protest that was present at Darmstadt in 1968 in any coherent sense was in the form of three highly critical letters from Boudewijn Buckinx, Thomas Wells and Jens-Peter Ostendorf, regarding their participation in Stockhausen’s Musik für ein Haus course. These letters were submitted to the author of the edition of the Darmstädter Beiträge which focussed on Musik für ein Haus, Fred Ritzel. Actually, only Buckinx’s letter was written in 1968 itself: it is dated 20 October 1968. In any case, these critical comments were suppressed by Stockhausen and never appeared in Darmstädter Beiträge XII. Eight testimonies from participants do appear, but these are largely effusive and uncritical. See: Iddon, The Haus Karlheinz Built, pp.���������  �������� 106–110.

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sing five main members and five deputies, to make their representations to the Darmstadt leadership. Only a single deputy, Max E. Keller, was a student. Ultimately, the results of these meetings and the efforts of the delegation were few. Although the director of the Darmstadt courses, Ernst Thomas, did institute a Programmbeirat, or Advisory Panel, the reasons for this had more to do with the concerns of Darmstadt’s mayor, Heinz Winfried Sabais, that the city’s financial investment in the Ferienkurse be protected than with a concerted response to the events of 1970. For similar reasons, the courses became biennial from 1970 onwards. 1972 brought further protest, this time from a small coterie of journalists: Reinhard Oehlschlägel, Rudolf Frisius and Ernstalbrecht Stiebler. It was clear in 1972, though, that this protest had at least as much to do with wrangling for power at Darmstadt, from an institutional perspective, as it did to do with leftist politics or the development of more egalitarian structures. If there was any motive aside from this, it centered on Thomas’ unofficial ban on the presence of Cage or his music at Darmstadt. In many senses, the first concrete results at Darmstadt of the wave of student activism in Europe after 1968 only occurred six years later, in 1974. The importance of the events of 1974 at Darmstadt, and their key link back to 1968, is that it is here that the final waning of the institutional power of Darmstadt can be seen. While the protests of 1970 and 1972 did expose the inability of the Darmstadt leadership to handle dissent from the participants effectively, from a broader perspective these first two demonstrations failed to achieve their objectives. Although Thomas was, to a limited extent, now constrained by his Advisory Panel, he was nonetheless still in power. Of the ten members of the Darmstadt Delegation, only Christoph Caskel had gained any authority at Darmstadt, following his appointment to the Panel. The possibility that even widespread complaints and remonstration could unseat Thomas had seemingly been overcome. In 1974, though, for the first time a protest arose that was both undertaken from an avowedly leftist viewpoint and, importantly, from the corner of participants only, without the assistance of individuals like Oehlschlägel, Frisius and Stiebler, who already held forms of institutional power in other musical fields in Germany. While Thomas had succeeded in shoring up his own position, Gerhard Stäbler, Johannes Vetter and Jürgen Lösche found that it was certainly possible to dethrone other prominent Darmstadt figures, even the prominent Darmstadt figure: Karlheinz Stockhausen. While the more immediate ramifications of 1968 had failed to generate change at Darmstadt, it was precisely this shift in the direction of protest that caused alterations in Darmstadt’s musical path, away from the single leading figure of Stockhausen toward a plurality of approaches, with the diverse positions advocated by, amongst others, Ferney





The ����������������������������������� other members were: Tim Souster, Nicolaus A. Huber, Mary Bauermeister-Stockhausen, Christoph Caskel and Reinhard Oehlschlägel (main members), Rudolf Frisius, Peter Michael Hamel, Ernstalbrecht Stiebler and Junsang Bahk (deputies). �������������������������������������������������������������������������������� All three were directly complicit in 1970’s protest. Properly speaking, Stiebler was not a journalist but rather a radio editor for the Hessiche Rundfunk. However, the three were commonly linked together at the time as falling under the general bracket of journalism. For a fuller consideration of the protests of 1970 and 1972 see: Martin Iddon, Trying to Speak: Between Politics and Aesthetics, Darmstadt 1970-1972, in: twentieth-century music 3/2 (2006), pp. 255-275.

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hough, Grisey, Lachenmann and Rihm being accorded roughly equal stature. This protest did achieve its ends: not only did it remove the seemingly dictatorial figure at the heart of the Darmstadt enterprise, but it also forced Thomas and his Advisory Panel to reinvent Darmstadt’s compositional outlook, and pointed the way forward to the success Darmstadt would again enjoy in the 1980s, under the fresh leadership of Friedrich Hommel. Protest In 1969 various participants had challenged Stockhausen. The musicologist John Deathridge and Stockhausen, indeed, entered into a confrontational public debate concerning the ambiguous nature of authorship in connection with performances of Aus den sieben Tagen. Worse, for Stockhausen, was that it was during these courses that his famous dispute with Vinko Globokar took place. A part of Stockhausen’s direction of his so-called intuitive music involved his feeding-back from the mixing desk the sounds that he felt were most interesting, thus directing individual players to continue in a similar vein. For his part, Globokar felt that some of the sounds he was creating were more interesting than those which Stockhausen fed back to him, and that his creative part in the process was thus being stifled. Moreover, because of Stockhausen’s refusal to accept that Globokar played some part in the authorial process of Aus den sieben Tagen, Globokar eventually demanded that his name be removed from the record sleeve. However, in the furore surrounding protests directly against the leadership, only implicitly attacking Stockhausen, this particular rising wave of dissatisfaction seemed to have been forgotten. Many of the criticisms that had previously been levelled against Stockhausen centred on the quasi-religious and reverential aspects of his work. The Belgian composer, Boudewijn Buckinx, who had been a participant in Stockhausen’s Musik für ein Haus course, suggested that Stockhausen would “have to set up his own religion”.10 At the 1974 courses, Gerhard Stäbler, with Johannes Vetter and Jürgen Lösche published yet another political pamphlet, which they distributed amongst the participants, under the auspices of The Initiative for the Foundation of a Union of Socialist Producers of Art. The Stäbler pamphlet is even more explicit in its satire of the spiritual aspects of Stockhausen’s recent work than any previous critique:  

Interview with the author, 3 December 2001. Stockhausen actually sent a letter to Globokar the day after the end of Darmstadt 1969, which reminds Globokar of the assistance that Stockhausen has given to him in his career, and implies that the proper place to debate Globokar’s anxieties about the intuition/improvisation balance would have been privately. In this letter Stockhausen also mentions that other people to whom he has in the past given his assistance have later, behind his back, not reciprocated his friendliness. This letter is reprinted in full by Imke Misch and Markus Bandur, Karlheinz Stockhausen bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt 1951–1996, Kürten 2001, pp. 458–459. 10 Unpublished letter, 20 October 1968. This letter was in response to Stockhausen’s desire to have the reactions of participants to the Musik für ein Haus courses. However, none of the more critical letters were eventually published in Darmstädter Beiträge XII, which was devoted to these courses. See for further details: Iddon, The Haus that Karlheinz Built, pp. 87–118��.

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“���������������������������������������������������������������������� Den Kursteilnehmern der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik zu Darmstadt wiederfährt die Gnade, in stiller Andacht heilige Weihen höherer Weisheit au dem Munde St. Stockhausens zu empfangen. Um den ungehemmten Fluß seines göttlichen Geistes zu gewährleisten, fordert St. Stockhausen uneingeschränkte Unterordnung unter die vom ihm diktierte Bedingung, in “RUHE und FRIEDEN” des Meisters geniale Weisheit unwidersprochen hinzunehmen. “RUHE und FRIEDEN” bedeuten also für Sankt Stockhausen nicht optimale Arbeitsbedingungen für alle Kursteilnehmer, sondern totale Ungestörtheit für Sankt. [sic] Stockhausen allein. Sämtliche, selbst mikrominimale Regungen werden mit Disziplinierungsmaßnahmen bestraft.”11 These disciplinary measures are outlined in more detail. The ����������������������� pamphlet cites the case of a Finnish participant, who left the Sporthalle am Böllenfalltor early, while Stockhausen’s course was still continuing, having already booked one of the practice rooms.12 It is the contention of the pamphlet’s authors that Stockhausen then suspended this participant from the remainder of Stockhausen’s seminars.13 Furthermore, the pamphlet claims that a further participant who criticised this decision was then threatened with the same treatment. ������������������������������������������ It quotes one participant as having said: “Wäre Stockhausen Politiker, hätten wir einen Diktator mehr in der Welt.”14 The pamphlet also directly attacks what it sees as a hidden political agenda in Stockhausen’s work. It ������������������������ refers to Stockhausen as a ‘Verpackungskünstler’, and compares his descriptions of his own pieces with cigarette advertising: “Die Stuyvesant schmeckt nochmal so gut, wenn man den ‘Duft der großen weiten Welt’ im HinterIt argues that the enhanced states of consciousness that Stockhausen kopf hat.”15 �������������������������������������������������������������������� 11 “The blessing has befallen the participants of the International Vacation Courses for New Music in Darmstadt to receive in quiet devotions the holy consecration of higher truths from the mouth of St. Stockhausen. In order to ensure the unchecked flow of his divine spirit, St. Stockhausen demands absolute subordination to the single condition dictated by him: to absorb without contradiction the master’s brilliant wisdom in “PEACE and QUIET”. “PEACE and QUIET”, for Saint Stockhausen, therefore means not optimal working conditions for all participants, but complete stillness for Saint Stockhausen himself. All who make the slightest movements will be penalized via disciplinary measures”. Johannes Vetter, Gerhard Stäbler, Jürgen Lösche, ‘Verpackungskünstler Stockhausen’, unpublished pamphlet distributed during 1974’s Ferienkurse (Source: Internationales Musikinstitut Darmstadt). 12 ���������������������������������������������������������������� This event occurred on 3 August 1974, during part of Stockhausen’s composition course on Mikrophonie I. The practice rooms would almost certainly have been at the Georg-Büchner-Schule, about a quarter of an hour’s walk from the Sporthalle. 13 Keith Potter’s recollection of the event suggested that the excessive heat in the Sporthalle am Böllenfalltor may have made the Finnish participant feel unwell, resulting in his departure (personal communication). Others who were present have suggested that there had already been a degree of coming and going amongst the participants, due to a mixture of the heat, the need for water, lessons with instrumental teachers and so on. None of the observers with whom I have spoken seem able to agree entirely on the precise order of events. However, all corroborate the suspension of the Finnish participant on some form of unreasonable grounds. 14 Vetter, Stäbler and Lösche (1974). ����������������� “Were Stockhausen a politician, we would have another dictator in the World.” The ���������������������������������������������������������������������� pamphlet juxtaposes this comment with a description of Stockhausen as Führer. The dictator to whom particular reference is being made could not be clearer. 15 Vetter, Stäbler and Lösche (1974). “����������������������������������������������������������������������� A Stuyvesant tastes even better when you have the ‘scent of the whole, wide world’ in the back of your mind.”

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claimed were necessary for performance of his intuitive music represented nothing more than a distraction from the “die Unfreiheit in der Wirklichkeit.”16 Indeed, its criticism of Stockhausen’s musical isolationism prefigures in certain ways many criticisms later made at greater length by the so-called New Musicology: “Eine grundlegende Kritik kann nicht nur das Werk ‘an sich’ betrachten, denn nicht der isolierte und abstrakte Inhalt und Charakter des Stücks ist Grundlage der Kritik, sondern sein Verhältnis zur WIRKLICHKEIT.”17 Damning ������������������� though the pamphlet was, its real significance was in being the spark of a protest that indicated to the Darmstadt leadership that something had to be done about the ‘Stockhausen issue’. Speaking in 1999, Caskel suggested that the Advisory Panel had the impression that Stockhausen had been lecturing in Darmstadt a little too long, and had put too many of his own works into the spotlight.18 A letter to Stockhausen from Wilhelm Schlüter explains the opinions of the Panel more clearly, as extrapolated from the minutes of their meetings in 1974 and 1975.19 Schlüter reports that on 9 August 1974, the day after the close of the courses, the Panel had already stated that for 1976 they required a “totalen Wechsel”.20 The principal reason for this appears to have been a ‘walk-out’ from one of Stockhausen’s seminars, which Schlüter states was orchestrated by three participants with Marxist leanings.21 Though it seems likely that the other two participants involved were Vetter and Lösche, Schlüter remembers only Stäbler by name. It is clear that, in Schlüter’s memory of events, Stäbler was the ringleader of this protest. As an effective demonstration of the unity of the participants against Stockhausen, it would be hard to imagine a more effective protest. Given a total number of participants in 1974 of 156,22 the “good dozen” that Schlüter states remained after the ‘walk-out’ must have left a very empty hall.23 The seeds sown by Stäbler’s pamphlet were already reaping significant rewards. However, the signal that had been given – that it was possible to offer an effective challenge to Stockhausen – would have further consequences during the performances of Stockhausen pieces later in the Ferienkurse. 16 Vetter, ������ Stäbler and Lösche (1974). “The lack of freedom in reality.” 17 “A fundamental critique cannot simply look at the work ‘itself’ but rather, so the isolated and abstract character of the piece is not the foundation of the critique, its relationship to REALITY”. Ibid. 18 Cf. also Misch and Bandur, Karlheinz Stockhausen, p. 517. ���������������������������������������������������� This, of course, also suggests that, in retrospect, Caskel felt that there was some truth in Oehlschlägel’s criticism that the ‘big names’ were given too much of the limelight. 19 This letter was written at Stockhausen’s own request, asking for further explication of the breaking off of Stockhausen’s collaboration with Darmstadt. This desire to know these details, 16 years after the event, suggests that Stockhausen still feels strongly about the events that led to his removal as a member of the Darmstadt faculty. Wilhelm Schlüter was responsible for many administrative aspects of the Ferienkurse, including the IMD archive, until Solf Schaefer’s accession in 1996, when he retired and Jürgen Krebber took over most aspects of his role. 20 Schlüter quoted in Misch and Bandur, Karlheinz Stockhausen, p. 518. “Total change.” 21 It was indeed quite common for each side to accuse the other of Marxist leanings, with communism being readily constructed as the fatal other. 22 Teilnehmerstatistik, in: Darmstädter Beitrage zur Neuen Musik XIV, ed. by Ernst Thomas, Mainz 1975, p. 108. 23 Schlüter quoted in Misch and Bandur, Karlheinz Stockhausen, p. 518.

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The performances of Stockhausen’s music during the 1974 courses did not meet with particularly favourable responses. The first of the two Stockhausen concerts was regarded as something of a retrogressive step: of the three pieces, two, Mikrophonie I (1964) and Pole (1969),24 were considered moderately old. Mikrophonie I had been performed at Darmstadt on several occasions, and Pole had been performed by exactly the same players, Peter Eötvös and Harald Bojé, in 1970. The final piece in the concert was Ceylon, a text piece from Für kommende Zeiten (1968–1970), which was simply another example of Stockhausen’s intuitive music. Again, the audience at Darmstadt had become rather indifferent to this particular aspect of Stockhausen’s compositional armoury. Where the first concert was merely disappointing,25 the second concert was considered, rather, gauche. The piece in question was entitled Herbstmusik (1974). Michael Kurtz describes the four-movement structure: “Three people nail down a wooden roof, a quartet breaks twigs and branches, a trio threshes and a couple rustles and tussles in moist autumn foliage.”26 Promising though this premise may have seemed during rehearsals in a barn in Oeldorf, the actual results looked rather ludicrous in the concert hall and, with a theoretically sympathetic audience at the premiere earlier that year during the Bremen Pro Musica Nova festival in May, the audience joined in during the breaking of wood, with cries of ‘heave-ho!’27 The reaction some months later at Darmstadt was little better. One of the better reviews, from Hans-Klaus Jungheinrich in the Frankfurter Rundschau, has the inauspicious headline, “Home and Garden”, and observes that “the real work was done by those anonymous labourers who cleared away Stockhausen’s rubbish in the interval.”28 Given the public embarrassments of protests in previous years, this was surely an unendurable level of discomfiture for the Ferienkurse. Aftermath Some months after the end of 1974’s Ferienkurse, so Schlüter reports, the Panel had moderated the view, expressed in the immediate wake of this protest, that a total change was required. The minutes of the meeting of 27 December 1974 state that 24 ������������������������������������������������������������������ The programme for 1974’s courses gives the title of this piece as Pole für 2 (1969). It seems that Stockhausen had not absolutely decided on the final form of this piece’s title. In the current Stockhausen Verlag catalogue it is bound together with Expo as Pole/Expo. Both pieces were composed for the Osaka World Fair in 1970. 25 ������������������������������������������������ Even the largely favourable Gustav Adolf Trumpff comments that the first concert only became really gripping with the performance of Ceylon. He suggests that the experimentation of Mikrophonie I, and indeed of Pole, is now rather easier to listen to, and gently criticises the foregrounding of the technical aspects of Pole. Rather than being significant pieces in their own right, Trumpff actually suggests that Mikrophonie I and Pole might better be conceived of as pieces that develop the preconditions for what is more fully developed in Ceylon. Trumpff, ‘Experiment und Intuition’, in: Darmstädter Echo, 6 August 1974 26 Kurtz, Stockhausen, p. 200. 27 Kurtz gives a fuller relation of these events: Kurtz, Stockhausen, p. 201. 28 Hans-Klaus Jungheinrich, ‘Heim und Garten’, in: Frankfurter Rundschau, 12 August 1974.

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Stockhausen could be reinvited, but only if a new composition of sufficient quality was available. Even then, Stockhausen would have been restricted to a single seminar and a single concert. The unlikelihood that Stockhausen would be capable of producing a new composition of the quality the Advisory Panel had in mind was foregrounded most strongly in Aloys Kontarsky’s acerbic statement: “Wenn Karlheinz morgen sein Wohltemperiertes Klavier schreibt, ist er selbstverständlich wieder dabei!”29 This criticism of the decreasing standard of Stockhausen’s work is particularly damning, given that Kontarsky had been for many years one of Stockhausen’s staunchest collaborators. Schlüter however suggests that there was disagreement between Ernst Thomas and the members of the Advisory Panel. He relates that Thomas was indeed sincere when he stated to Stockhausen, in his letter of 23 October 1975: “Sie werden ein unentbehrliches Rückgrat der Kurse bleiben.”30 However, the content of this letter suggests that Thomas may also have been endeavouring to mitigate the damage to Stockhausen’s feelings. The letter raises a large number of administrative and institutional difficulties with Stockhausen’s participation in 1976, and suggests that, following Ligeti’s example in 1974, Ernst Thomas “auch hatte … bei unserem Gespräch nach den letzen Ferienkursen, daß Sie [Stockhausen] gern einmal pausieren würden.”31 He also relates two other grounds on which Stockhausen’s participation would be impossible. First, that the 1976 courses were particularly early – 11 to 27 July – and that Stockhausen, so Thomas had been informed, would be in America at the beginning of July, and directly after his American visit would be travelling to Japan. This would mean that Stockhausen could not possibly be in Darmstadt during the courses. Second, Thomas is forced to admit to Stockhausen that he cannot possibly continue to afford the cost of presenting Stockhausen’s music, stating that in 1974 the two concerts had cost Darmstadt a total of more than DM 18,000. Thomas suggests that, instead, Stockhausen return in 1978, where the financial situation might be more favourable, and that in the meantime they could consider the form that Stockhausen’s 1978 participation would take. Neither Ernst Thomas, nor the advisory panel, can have been expecting Stockhausen’s extremely brief reply, dated 1 October 1975. He states that he will certainly be available, as the Japanese project has fallen through, and that he will have returned from America in time for the proposed dates. His last two sentences, however, clearly illustrate how important Stockhausen still felt his presence in Darmstadt to be: “Auf Konzerten bestehe ich nicht. Als Honorare können Sie vorschlagen, was Sie wollen.”32

29 Schlüter, quoting Kontarsky, quoted in Misch and Bandur, Karlheinz Stockhausen, p. 518. “If �������������� Karlheinz writes his Well-tempered Klavier tomorrow, obviously he comes back! ” 30 Misch and Bandur, Karlheinz Stockhausen, p. 518. ��������������������������������������������������� “You remain an indispensable backbone of the courses.” 31 Ibid., p. 556. “I also had the impression during our conversation after the last Ferienkurse that you [Stockhausen] might gladly take a break.” 32 Ibid., p. 557. “I don’t insist on having any concerts. As for remuneration, you can suggest whatever you want.”

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Schlüter indicates that the decision not to reinvite Stockhausen was irrevocably taken, however, by the next meeting of the advisory panel, demonstrated by the statement in the minutes: “Stockhausen doch erst 1978, besonders deshalb, weil im Augenblick kein in Darmstadt praktikables Stück vorhanden und Deutsche Erstaufführung Washington erst bei Berliner Festwochen 1976.”33 Since the 1976 Berliner Festwochen were to be held in October, this clearly would have made the presentation of Sirius, erroneously named here ‘Washington’, an impossibility.34 Ernst Thomas’ next letter to Stockhausen – in fact, his final letter to Stockhausen – dated 25 November 1975, explains this point,35 and states furthermore that, despite Stockhausen’s offer to lecture, in effect, for free, “Ein Kurs ohne Konzerte geht mir ja, wie Sie wissen, gegen den Strich.”36 Thomas closes this letter with an expression of hope that Stockhausen’s new cycle of piano pieces would be ready for performance at Darmstadt in 1978. Stockhausen’s reply – his final contact with the courses until 1996 – accepts, somewhat bitterly, Thomas’ verdict, though it seems clear that Stockhausen already does not intend to return for 1978. He ����������������������������������� also appears to feel that Thomas has been in some way misled by the advice of Kontarsky: “Ihre letzen beiden Briefe sind historische Dokumente, über die zukünftige Generationen sich ganz bestimmt mit sehr viel Interesse unterhalten werden. Die Nachricht, die Kontarsky Ihnen von Dr. [Wolfgang] Becker übermittelt hat, Sirius könne nicht in Darmstadt aufgeführt werden, ist falsch. Die Berliner Festwochen haben mir bisher noch keinen einzigen Brief geschrieben, und von einer deutschen Erstaufführung, die durch die Berliner Festwochen ‘gekauft’ wäre – wie Kontarsky sich äußerte -, kann gar kein Rede sein. Damit wären also alle Ihre Argumente entkräftet, und es bleibt nur das, was ich eiThis letter in unique in the corregentlich seit Ihrem ersten Brief gefühlt habe.”37 ����������������������������������� spondence between Stockhausen and the IMD, in that it is signed “Stockhausen, in absentia Krist”. The violist Joachim Krist had succeeded Gehlhaar as Stockhausen’s personal assistant by 1974. Even when disagreeing in some way with the executive of the IMD, Stockhausen had always signed his own name. 33 Ibid., p. 519.“Stockhausen certainly next 1978, particularly as at the moment no piece available suitable for Darmstadt, and first German performance of Washington at Berliner Festwochen 1976.” 34 The first performance of an incomplete version of Sirius was in Washington DC in 1976, and had been commissioned by the German government to celebrate the bicentenary of the United States. ������������� The complete work was not premiered until 1977. 35 A letter from Thomas to Stockhausen dated 25 November 1975, reprinted in Misch and Bandur, claims that Stockhausen himself proposed Sirius as a piece for Darmstadt 1976 (cf. Misch and Bandur, Karlheinz Stockhausen, p. 557). 36 Ibid., p. 557. “A course without concerts, as you know, goes against the grain for me.” 37 Ibid., p. 558. “Your last two letters are both historic documents, in which future generations will no doubt show great interest. The information, which Kontarsky has imparted to you from Dr. Becker, that Sirius cannot be performed in Darmstadt, is untrue. The Berliner Festwochen have, to date, still not written to me a single letter, and a German premiere, which might be ‘bought’ via the Berliner Festwochen – as Kontarsky suggested –, is out of the question. As a result, then, all your arguments are exhausted, and all that remains is simply that which I have felt since your first letter.” Wolfgang Becker was the Music Editor for the Westdeutscher Rundfunk in Cologne at the time, and was also responsible for providing technical equipment to Darmstadt for, amongst others, Stockhausen’s concerts in 1974.

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After Stockhausen’s departure his music was very sparsely performed at Darmstadt. The performances of Klavierstück XI (1956) in 1976 and Klavierstück X (1954–1955) in 1978 were a part of the instrumental studio work. Therefore, Thomas’ Advisory Committee had studiously not put a Stockhausen work into the main programme. It is also significant that both of these two Stockhausen pieces were composed during the Steinecke era at Darmstadt: they are clearly not intended to demonstrate anything new, but are present due to having been canonised into the repertoire of ‘advanced’ keyboard works.38 There were no Stockhausen performances in 1980, but the arrival of Stockhausen’s son, Markus, in 1982 as a trumpet lecturer brought occasional performances of more recent Stockhausen pieces, primarily ones composed for Markus Stockhausen’s own instrument.39 That the opinion of the Panel held sway over the more moderate – or from another point of view, weaker – attitude of Ernst Thomas was a clear demonstration that the ‘one-man-show’ of the 1960s was over. With the removal of Stockhausen, indeed, it was over in more than one sense. The question now remained whether the departure of Stockhausen’s overshadowing presence would signal the advent of a new generation of compositional talent, or whether his absence would lay bare the void at the centre of the courses, that only his ego had been managing to fill.

38 ������������������ Wolfgang Steinecke was the founder and first director of the Darmstadt courses from 1946 to 1961. He died after being struck by a car on 23 December 1961. His style of leadership was often compared favourably with Ernst Thomas’ and Steinecke himself became an important constituent part of the myth of Darmstadt’s ‘golden age’ in the 1950s. 39 Examples would include Aries in 1982 and Protest in 1984.

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Die Politisierung von Sprache und Kriterien der Musikkritik nach 1968 „Auch diese Aufnahme [von Mozarts Sinfonia concertante Es-Dur für Violine, Viola und Orchester KV 364] beachtet [... die] stilistische Position zwischen sinfonischer Entwicklung und konzertanter Parallelität und Unterordnung jener Zeit […] nicht, sondern transferiert diese Zwitterform radikal in das s o z i o l o g i s c h bedingte kompositorische und aufführungspraktische Niveau der Romantik: Ripieno und Concertino stehen sich völlig getrennt gegenüber; die Solisten sind keine Musiker aus dem Orchester, sondern externe Persönlichkeiten. Dieser spezielle Typus einer s o z i a l e n I n t e r a k t i o n steht aber im Gegensatz zu der komponierten Vorlage Mozarts. Bei ihr lösen sich die beiden Solisten aus dem Orchesterklang, anstatt, wie […] es […] die Aufnahme fatal demonstriert, in ihn hineinzugleiten (Takt 72 ff.). Mozart kennt noch nicht die völlige Trennung von Soli und Tutti, seinen Konzerten haftet noch das barocke Konzertprinzip an, daß die Solisten in den Tuttistellen mitspielen.“ Was an diesem kurzen Textausschnitt einer Schallplattenkritik aus dem Jahr 1972 sofort auffällt, sind die Schlüsselwörter „soziologisch bedingt“ und „soziale Interaktion“. Das ist kein Einzelfall. Es sind Begriffe eines vulgär-soziologischen Sprachfundus, wie er auch für die Musikkritik um 1970 fast selbstverständlich wurde, und natürlich hätte ich auch Passagen zitieren können, in denen Wörter wie gesellschaftlich, soziologisch, monopolisiert, Kommerzialisierung und Vermarktung vorkamen. Fragen wir uns: Wie wichtig sind denn die gewählten Begriffe? Und: Haben wir es mit einer anderen Beobachtung und Bewertung zu tun, wenn der Kritiker geschrieben hätte, die Aufnahme transferiere des Werkes Zwitterform radikal in ‚den Kompositionsstil und die Aufführungspraxis der Romantik‘ und wenn er die „soziale Interaktion“ durch das Wort ‚Miteinandermusizieren‘ ersetzt hätte? Also beispielsweise: „Auch diese Aufnahme beachtet [... die] stilistische Position des Werks zwischen sinfonischer Entwicklung und konzertanter Parallelität und Unterordnung jener Zeit […] nicht, sondern transferiert seine Zwitterform radikal in den Kompositionsstil und die Aufführungspraxis der Romantik: Ripieno und Concertino stehen sich völlig getrennt gegenüber; die Solisten sind keine Musiker aus dem Orchester, sondern externe Persönlichkeiten. Dieser spezielle Typus des Miteinandermusizierens steht aber im Gegensatz zu der komponierten Vorlage Mozarts.“



In diesem und den folgenden Zitaten sind die Begriffe, in denen sich die Politisierung und der soziologische Jargon der Sprache manifestiert, von mir gesperrt gekennzeichnet.

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Damit sind wir inmitten der Thematik meines Beitrags, der davon ausgeht, dass die viel zitierten Achtundsechziger auch im Bereich der klassischen Musik und des so oft geschmähten Elfenbeinturms der klassischen Musikkultur einen prägenden Eindruck hinterlassen haben. Zur Verdeutlichung dieser epochalen Umbruchphase möchte ich an dieser Stelle auch eigene Erfahrungen ins Spiel bringen: Es waren die frühen 1970er Jahre, in denen die Soziologie zu den deutlich bevorzugten Studienfächern gehörte, sei es im Haupt- oder im Nebenfach. So begann auch ich als Angehöriger des Abiturjahrgangs 1971 zum Wintersemester 1971/1972 das Studium der Musikwissenschaft und wählte eben diese ‚neue‘ Soziologie als Nebenfach, und zwar mit Schwerpunkt Massenkommunikation, den damals der als bürgerlich-reaktionär verschriene Soziologe Alphons Silbermann an der Kölner Universität lehrte. In seiner Einführungsvorlesung „Theoretische Grundzüge der Soziologie“ saßen an die fünfhundert Studenten; die obligatorische Zwischenprüfungspflichtübung „Grundzüge der Soziologie“, mit Albin Hänseroth, dem späteren Hamburger Opernintendanten und damaligen Assistenten Silbermanns, wurde von 80 Studenten besucht, die alle eine schriftliche Hausarbeit abzugeben hatten. In Silbermanns spezielleren Vorlesungen, so auch zur Musiksoziologie, waren die Hörerzahlen mit 30 bis maximal 50 Studenten, wenn ich mich recht erinnere, freilich geringer. In den vorangegangenen 1960er Jahren hatte sich im Bereich der so genannten klassischen Musik bereits eine neue Hörästhetik herausgebildet. Mehr als zuvor war es nun durch die Präsenz des Tonträgermarkts möglich geworden, Schallplatteneinspielungen mit konkurrierenden Produkten zu vergleichen. Diese Expansion brachte die Schallplattenkritik dazu, eine neue Methodik des vergleichenden Kritisierens zu entwickeln. Man sollte sich einen solchen ästhetischen Vorgang aber nicht als Dekret vorstellen; die Entwicklung hin zum vergleichenden Hören und Bewerten wurde gewissermaßen subkutan eingeführt und längst nicht konsequent und schon gar nicht wissenschaftlich realisiert. Aber führende Kritiker schlugen mehr und mehr diesen Weg ein. So erschienen in den Fachzeitschriften, vor allem im fono forum, relativ häufig vergleichende Diskographien, die sich einem Werk in allen verfügbaren Einspielungen widmeten. Noch immer vom Umgang mit der politischen und ästhetischen Willkür der Nazizeit geprägt, versuchten die ernst- und gewissenhaften Kritiker, ein System objektiver Kriterien einzusetzen und erhoben in diesem Sinne den Notentext zum Maßstab. Dies bedeutete, dass alles, was nicht im Notentext zu finden war, per se fragwürdig schien. Dazu gehörten, ganz dem Trend der allgemeinen musikalischen Aufführungsästhetik folgend, vor allem nicht notierte Modifizierungen des Tempos. Aber diese scheinbare Objektivität bewegte sich nicht nur auf dem Raster der damaligen ästhetischen Moden. Die Musikkritik veränderte sich im Zuge der achtundsechziger Jahre, indem sich nicht wenige Starkritiker für eine Politisierung der musikalischen Kriterien entschieden. Dabei wurde das bloße Klangbild zunehmend politisch gedeutet. Und es nimmt nicht wunder, dass der so kommerziell erfolgreiche Dirigent Herbert von Karajan als vielgescholtenes Aushängeschild und Symbolfigur für das musikalische Establishment herhalten musste. Seine Verstrickungen mit dem Nazi-Regime trugen obendrein dazu bei, den Maestro als moralisch bedenklich zu

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sehen. Am gegenüber liegenden Pol wurde Pierre Boulez lokalisiert. Als Avantgarde-Komponist war er wegen seiner seriellen Kompositionstechnik über alle fundamental argumentierende Kritik – damals – erhaben, als Dirigent schien er mit seinem Schlachtruf vom In-die-Luft-Sprengen der Opernhäuser alle Traditionen rückhaltlos zu hinterfragen. Von nun an waren ästhetische Bewertungen wie ‚schlank‘ und ‚rhythmisch betont‘ positiv belegt, während ein voller, satter Klang, der viele damalige Aufnahmen Herbert von Karajans auszeichnete, bekrittelt wurde und mit negativ belegten Begriffen wie ‚falsche Aura‘, ‚Monumentalität‘ und ‚Oberflächen-Polieren‘ in Verbindung gebracht wurde. Demokratisierung des Musiklebens war die Devise und bedeutete, sich von der traditionellen Stellung des Kapellmeisters zu distanzieren und ein Musizieren vorzuziehen, das der Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen höheres Gewicht beimessen sollte: Hier liegt einer der Gründe für den enormen Aufstieg der dirigentenlosen Ensembles, die sich der Alten Musik widmeten – eine Entwicklung aus dem Geist der Achtundsechziger, die eine eigene Studie verdiente. Die Kritik am Establishment drang auch in die Konzertsäle; und sogar für Musikfreunde, die nur am Rande die Ideologien der Achtundsechziger mitnahmen und lediglich Mitläufer waren – eine politische Haltung impliziert ja keineswegs, dass sie reflektiert und rational gewählt ist – gab es in jenen Jahren einen Verhaltenskodex, der – warum auch nicht? – bis in die Kleidungsordnung bei Konzertveranstaltungen reichte. So war es von nun an für Musikkritiker, die sich als politisch aufgeklärt verstanden, fast obligatorisch, nicht mit Krawatte und Sakko sondern lässigleger in Pulli oder Lederjacke ins Konzert zu gehen. Die Politisierung der Musik geschah in der Presse nicht nur bei neu gegründeten Zeitschriften, die eher am Rande der Publizistik standen, wie der Sozialistischen Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft, sondern durchzog auch die etablierten Printmedien der Musikkritik und Musikwissenschaft und machte allenfalls vor dem Organ der Gesellschaft für Musikforschung halt. Selbst ein thematisch so esoterisches und handwerklich solides Feld wie das der Musiktheorie wurde auf dem „1. Internationalen Kongress für Musiktheorie“, der 1971 in Stuttgart stattfand, politisiert. Friedrich Christoph Reininghaus – heute wohlbekannt als der Kritiker Frieder Reininghaus – und Jürgen Habakuk Traber reflektierten über die „Geschichte der 



Nur ein Beispiel von vielen: ME (Kürzel des Autors) über die EMI-Aufnahme des Tripelkonzerts von Beethoven mit Oistrach, Richter und Rostropowitsch und den Berliner Philharmonikern unter Herbert von Karajan: „Karajan konstruiert einen Beethoven, der in unserer hektischen Zeit zur Erholung, als Musikkulisse gedacht ist. Musik für die sonntägliche Kaffeestunde... Schon das Klangbild unterstützt diese Art der Interpretation: ein dunkler, voller Orchesterklang, dick und plüschig“ (ME [Kürzel des Autors] über Ludwig van Beethoven, Konzert für Klavier, Violine und Violoncello und Orchester, C-Dur, op. 56, EMI Electrola 1970, in: Collegium Musicum. Magazin für Musikfreunde, Heft 2, 1971, S. 24). A[lfred] B[eaujean] über die CBS-Gesamtaufnahme der Beethoven-Sinfonien mit dem New York Philharmonic unter Leonard Bernstein: „Was bleibt also summa summarum? […] das Bild eines sicherlich ungemein ehrlichen, von starkem emotionalem Engagement getragenen Ringens um Beethoven, das […] entschieden an- und aufregender ist als etwa die ereignislose Selbstsicherheit Karajanschen OberflächenPolierens« (AB über Ludwig van Beethoven, Sinfonien Nr. 1 bis 9, CBS 1969, in: HiFi-Stereophonie, Heft 12, 8/1969, S. 995).

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Musiktheorie als Widerspiegelung der Klassenpolitik des deutschen Bürgertums“ und Helmut Lachenmann sprach über das „Verhältnis Kompositionstechnik – Gesellschaftlicher Standort“. Wer sich für klassische Musik auf Schallplatten interessierte, konnte sich damals mit Hilfe zweier ebenso konkurrierender wie sich ergänzender Zeitschriften, dem 1956 gegründeten und auch heute noch existierenden fono forum und der 1962 gegründeten HiFi-Stereophonie umfassend über die Neuerscheinungen kritisch informieren. Im Unterschied zu den Theater-, Opern- und Konzertkritikern standen die Schallplattenrezensenten den Tonträgerfirmen kritisch, wenn nicht gar feindlich gegenüber. Waren bei den kulturellen Tagesaktivitäten immer lokale und regionale Veranstalter beteiligt, deren Engagement und Konzeption sich im zwischenmenschlichen Kontakt, bei Pressekonferenzen, auf der Premierenfeier beispielsweise, dem Kritiker in einer zweiten Erfahrungsebene, zusätzlich zum erlebten Kunstereignis, mitteilte, so gab es für den als Einzelkämpfer auftretenden Schallplattenkritiker nur die Phalanx des Schallplattenoligopols, dessen künstlerische Produktion ja in beispielhafter Weise die Entfremdung vom Ganzheitlich-Menschlichen in Form einer klassischen Ware, der Langspielplatte nämlich, vertrat. Das Kunstprodukt wurde primär zu einer Ware, die selbstredend den von Wolfgang Fritz Haug formulierten Gesetzmäßigkeiten einer Warenästhetik folgte. Und dieses Schallplattenoligopol bestand überdies aus international operierenden Konzernen: Im Klassikbereich bestritten den Großteil der Produktion die deutsche Siemens und die niederländische Philips als Eigentümer der Deutschen Grammophon Gesellschaft, die englische EMI, die US-amerikanische Columbia Broadcasting System, die ebenfalls US-amerikanische RCA Victor sowie die englische Decca. So entstand zwischen den Vertretern der Industrie und den Schallplattenkritikern ein Miteinander, das zwar von kritischer Hostilität geprägt war, letztlich aber auf einem Abhängigkeitsverhältnis beruhte. Prinzipiell verstand sich der Kritiker nicht als Propagandist für einen ökonomischen Erfolg, sondern allenfalls als Propagandist für eine künstlerische Sache. Alles, was ökonomisch erfolgreich war, wurde schon deshalb per se kritisch belauscht und beäugt. Besonders in der von der Geräte-Industrie unterstützten HiFi-Stereophonie labte man sich am achtundsechziger Jargon, wie er vor allem von so verdienten Musikkritikern wie Ulrich Schreiber, Ulrich Dibelius und Wolf Rosenberg gepflegt wurde. So formulierte Schreiber: „Von der einzigen Gesamteinspielung der Sinfonien Beethovens, die zum Jubeljahr des Komponisten neu auf den Markt kommt, ist […] zu sagen, daß sie für unsere Zeit repräsentativ ist. Die […] Platten […] sind wohl in ihrer klanglichen Sauberkeit und Ausgewogenheit nicht zu überbieten: das ist wirklich […] ein Beethoven-Klang, der dem Z e i t a l t e r d e r t e c h n i s c h e n R e p r o d u z i e r b a r k e i t ansteht. […] Weiterhin repräsentativ ist diese Aufnahme insofern, als Beethoven hier eine luxuriöse Alibi-Funktion übernimmt. Eugen Jochum schildert im Beiheft in schönstem J a r g o n d e r E i g e n t l i c h k e i t , was es mit   

Bericht über den 1. Internationalen Kongress für Musiktheorie. Stuttgart 1971, hrsg. v. Peter Rummenhöller, Friedrich Christoph Reininghaus und Jürgen Habakuk Traber, Stuttgart 1972, S. 122. Bericht über den 1. Internationalen Kongress für Musiktheorie, S. 28–34. Wolfgang Fritz Haug, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt am Main 1971.

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diesen Sinfonien auf sich hat, was es mit Beethoven auf sich hat: zum Beispiel war er ‚ein von Dämonen seines Innern Gejagter‘, dazu noch, später, ein Tauber, ‚ohne daß der holde Laut eines liebenden Anrufs diese Mauer (der Taubheit) auf die Dauer zu durchbrechen vermochte‘. Ein rechtes Opfer also einer tragischen Musikgeschichte.“ „Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“, „Jargon der Eigentlichkeit“ – Walter Benjamins und Theodor W. Adornos Schriften stehen in dieser Zeit als Chiffren für eine kritische Haltung, was nicht besagen muss, dass ihre Inanspruchnahme immer adäquat und gerechtfertigt war. Als besonders originelles Beispiel möchte ich eine weitere Passage von Ulrich Schreiber ins Gespräch bringen, der eine sehr durchschnittliche DDR-Produktion der Zauberflöte zum Anlass nahm, alle Register eines wortmächtigen Achtundsechzigers zu ziehen: „Diese aus der DDR zu uns kommende Gesamteinspielung […] s p i e g e l t d e n W i d e r s p r u c h w i d e r , der zwischen dieser Oper und einer f o r t g e s c h r i t t e n e n G e s e l l s c h a f t besteht. Zwar wird Taminos fürstliche Abkunft nicht verschwiegen (im Dialog), als Ersatz aber für diesen Hinweis auf die Existenz der K l a s s e n g e s e l l s c h a f t wird kosmetisch operiert: den drei Damen der Königin nämlich bleibt die ihnen von Papageno zugeschriebene Häßlichkeit erspart. So gerät das I n d i v i d u u m also nicht in die Bereiche von D i s k r i m i n i e r u n g , sofern es im K o l l e k t i v auftritt, und konsequent werden die beiden Priester, die drei Knaben, die beiden Geharnischten und die drei (im Dialog vertretenen) Sklaven nicht namentlich genannt. Daß die drei Damen der nächtlichen Königin als Namensträger auftreten, könnte einmal die Vermutung nähren, daß dadurch negative Elemente denunziert werden, zum anderen aber auch jene, daß in Anbetracht der immer noch nicht allgemein durchgesetzten E m a n z i p a t i o n Damen als Individuen über k o l l e k t i v e G l e i c h s c h a l t u n g erhoben werden müssen: zwar nicht prinzipiell, das sei unterstellt, aber doch im Rahmen jener d i a l e k t i s c h e n W i d e r s p r ü c h e , die jene A u f b a u p h a s e z u m S o z i a l i s m u s h i n kennzeichnen. […] So kann also die Besetzungsliste der vorliegenden Neuaufnahme Anlaß zu k o n t e r r e v o l u t i o n ä r e n Spekulationen geben, nach genauerer Überprüfung aber verschwinden solche Bedenken. Denn der a u t o r i t ä r e Vertreter der e l i t ä r e n C l i q u e n - G e s e l l s c h a f t , bei Schikaneder Sarastro geheißen, ist mit Theo Adam besetzt und damit für die nähere Zukunft (man darf ja die D i a l e k t i k d e r k l e i n e n S c h r i t t e nicht außer Betracht lassen) diffamiert: Adams Vibrato öffnet sich zu solch paradiesischen Weiten, daß in diesen sowohl der Glaube an Mozarts Kunstfertigkeit wie jener an die Überwindung der k a p i t a l i s t i s c h e n L e i s t u n g s g e s e l l s c h a f t Lebensraum findet.“ Mehr als je zuvor betrachtete man die Musik also in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft. Das Begriffspaar ‚Musik und Gesellschaft‘ wurde zum Topos schlechthin und wenn ein Kritiker dem Begriff der ‚Gesellschaft‘ eher fragend gegenüberstand, mag er ihn in Anführungszeichen gesetzt haben, wie beispielsweise Ingo Harden in  

U. Sch. über Ludwig van Beethoven, Sinfonien Nr. 1 bis 9, Philips 1969, in: HiFi-Stereophonie, Heft 1, 9/1970, S. 29. U. Sch. über Wolfgang Amadeus Mozart, Die Zauberflöte, VEB Deutsche Schallplatten/Eurodisc-Produktion 1971, in: HiFi-Stereophonie, Heft 8, 10/1971, S. 658.

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einem kurzen, doch grundsätzlichen Text über Mozart-Interpretation: „Den s o z i a l e n Bedingungen seines [d.h. Mozarts] Komponierens nachzuspüren, ist interessant und ergiebig: Von den Klavierkonzerten bis hin zu den Konstanze-Arien der Entführung gibt es viele Stellen in seinem Werk, an denen eine direkte Wechselwirkung zwischen K o m p o n i s t u n d ‚ G e s e l l s c h a f t ‘ sich nachweisen ließe.“ Selbst in der Schallplattenkritik eines so individualistischen, allen Wissenschaftsmoden abholden und allenfalls der Empirie verpflichteten Musikwissenschaftlers wie des 1919 geborenen Klaus Blum, fand der achtundsechziger Jargon Eingang, wenn bei ihm von „sozialen Ideologien“ die Rede war. In einer Rezension von Donizettis Messa di Gloria e Credo mit dem Chor der St. Hedwigs-Kathedrale und dem RSO Berlin unter Roland Bader schrieb Blum: „Für den eigentlich wunden Punkt ist einmal wieder das Einspielungsteam (?) verantwortlich, welches das Orchester derart ‚nimmt‘, daß Solisten, Solovioline und Soloflöte (mit gewichtigsten Aufgaben) abschnittweise vom Orchester völlig (und sinnlos) übertönt werden, während der Chor stets nur Hintergrundarbeit leisten darf. Es häufen sich jetzt nachgerade die Fälle (Karajans Mozart-Requiem; Gönnenweins Brahms-Requiem, Giulinis Beethoven-Missa solemnis), wo den Orchestern H e g e m o n i e n über den Vokalpart zugestanden werden, die werkdramaturgisch schlechthin f a l s c h sind. Da scheinen entweder handwerkliches Unvermögen oder aber ästhetische und/oder s o z i a l e I d e o l o g i e n die Regler zu bewegen, die schallplattenkritisch nur schärfstens zurückgewiesen werden können. Man mag zu Zadekereien stehen, wie man will. Es ist jedenfalls inkonsequent, ein Werk, das man erstmalig dokumentiert, gleichzeitig aufnahmetechnisch zu verfremden. Es setzt doch die Würdigung der E n t f r e m d u n g die Kenntnis des Eigentlichen voraus.“10 „Hegemonien“, „ästhetische und soziale Ideologien“ und „Entfremdung“ sind Begriffe, die nicht zum traditionellen Stammvokabular der Musiktheorie und -kritik gehören. Und wenn vom „Eigentlichen“ statt vom „Original“ die Rede ist, so kann man darin den ins Plakative reichenden Einfluss von Adornos Schrift von 1964 über den „Jargon der Eigentlichkeit“ sehen. Es liegt auf der Hand, dass die Kritik ihre eigene Position reflektierte. Insofern ist der 1968 von Peter Hamm herausgegebene Band Kritik – von wem, für wen, wie,11 der sich als „Selbstdarstellung deutscher Kritiker“ verstand, geradezu programmatisch. Zu den in diesem Sammelband vertretenen, viel vernommenen Stimmen zählte die von Hans G Helms, der zwar als Schriftsteller und Kulturkritiker auftrat, aber das Tagesgeschäft der Musik- und Theaterkritik meines Wissens nie gepflegt hat. Der 1932 geborene Helms war in den frühen 1970er Jahren durch seine langen Radioessays, die im Dritten Programm des WDR unter der redaktionellen Betreuung von Werner Schmidt-Faber gesendet wurden, fast so etwas wie eine intellektuelle Kultfigur geworden, der man als musikalisch-kulturell interessierter Mensch in Nordrhein-Westfalen nur entgehen  ihd [Ingo Harden], Mozart heute – aber wie?, in: fono forum, Heft 3, 1974, S. 202­–203, hier S. 202. 10 Klaus Blum über Gaetano Donizetti, Messa di Gloria e Credo, Schwann 1976, in: fono forum, Heft 12, 1976, S. 1282. Mit „Zadekereien“ sind Peter Zadeks Regie-Freiheiten gemeint. 11 Kritik – von wem, für wen, wie. Eine Selbstdarstellung deutscher Kritiker, hrsg. v. Peter Hamm, München 31970.

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konnte, wenn man dem Hörfunk gänzlich entsagte – was schwierig war. Denn es war die große Zeit des Hörfunks, der in seinen Dritten Programmen wie selbstverständlich 90-minütige Essays übertrug und seinen Hörern noch nicht zu Bachs Matthäus-Passion „Gute Unterhaltung!“ wünschte.12 Helms also hatte zu dem zitierten Sammelband ein kleines Traktat mit dem Titel „Über die gesellschaftliche Funktion der Kritik“ beigesteuert. Sein stilistisches Mittel bestand darin, einen Sachverhalt von vornherein zu kritisieren, statt ihn zunächst vorzustellen und zu beschreiben. Paradigmatisch dafür standen die ersten Sätze: „In besonderem Maße auffallend an dem, was in der Bundesrepublik Deutschland sich als Kritik mißversteht, ist die außerordentlich strikt eingehaltene Arbeitsteilung nach Prämissen, die schon obsolet waren, als sie vor Jahrzehnten sich im Bewußtsein derjenigen einnisteten, die das Kritisieren als Beruf und Geschäft betrieben und betreiben.“13 Konsequent übt Helms so Kritik am Bewusstsein der Kritiker, bevor er überhaupt deren Prämissen, die er kritisiert, erwähnt. Im weiteren Verlauf bleiben sie zwar der Interpretation des Lesers überlassen, doch Helms spricht aus, was seiner Meinung nach Kritik leisten müsste: „Noch immer gibt es die kategoriale Unterscheidung von Kultur- und Gesellschaftskritik, obschon seit Marx hat begriffen werden können [sic], daß Kultur ein Segment aus dem luxuriösen Überfluß der kapitalistisch organisierten gesellschaftlichen Produktion ist, dessen Umfang und Beschaffenheit durch die Eigentumsverhältnisse definiert werden. Wenn Kulturkritik irgendeinen Sinn haben soll, muß sie vor dem Prospekt der gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse statthaben [sic] und diese explizit ebenso wie implizit kritisieren, wie anders Gesellschaftskritik den Bereich der Kultur, in dem sich die bestehenden Verhältnisse als mit dem Zuckerguß von ewiger Haltbarkeit überzogener ideologischer Überbau [sic] darstellen, nicht aussparen darf, will sie nicht auf Analyse der Dialektik von Basis und Überbau von vornherein verzichten.“14 Etwas konkreter auf die Musikkritik bezogen, forderte Helms, der Musikkritiker habe „die Materialauswahl des Komponisten, die Beschaffenheit und Kommunikabilität seiner kompositorischen Veranstaltungen und die durchs Werk vermittelte Einsicht […] in den Bereich akustischer Phänomene und Prozesse zu analysieren. Er hat die gesellschaftlich organisierte Zeit, die aktuelle Geschichte, zu entdecken, die der musikalische Prozeß zum Ziel hat und die ihn bewegen.“15 Solche Postulate blieben nicht ohne Wirkung. Mit einem thesenhaften Text über „Neue Musik unter den Zwängen einer monopolisierten Musikindustrie“16 provozierte Helms die Leserschaft der Zeitschrift HiFi-Stereophonie so sehr, dass es sogar zu einer Abonnementskündigung kam17 und ein Manager aus der Musikindustrie nicht als Vertreter 12 Vgl. die Glosse von Martin Elste, Gute Unterhaltung!, in: fono forum, Heft 7, 1986, S. 68. 13 Hans G Helms, Über die gesellschaftliche Funktion der Kritik, in: Kritik – von wem, für wen, wie, S. 134– 141, hier S. 134. 14 Ebd., S. 135–136. 15 Ebd., S. 138. 16 Hans G Helms, Neue Musik unter den Zwängen einer monopolisierten Musikindustrie, in: HiFi-Stereophonie, Heft 6, 12/1973, S. 583–587. 17 Mündliche Mitteilung des damaligen Chefredakteurs Karl Breh.

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dieser, sondern explizit als mit der Praxis vertrauter Pragmatiker eine längere Replik verfasste.18 Nicht alle blieben ihrem marxistischen Theorie-Überbau so verbunden wie Hans G Helms. Der 1915 geborene Komponist und Musikkritiker Wolf Rosenberg z.B. hatte in seinem Essay „Die unkritische Musikkritik“19 desselben Sammelbandes konkretere Forderungen an die Interpreten und an die Kritiker gestellt und vermutet, dass wohl nur dann eine Chopin-Interpretation der „Ödigkeit des Musiklebens“ entfliehen könne, wenn des Interpreten „Erfahrungen über Chopin hinausreichen“, wenn sich ihm „in der Retrospektive aus späteren Kompositionstechniken neue Aspekte erschließen“ – eine Vermutung, die Rosenberg allerdings durch die Parenthese relativierte, dass es Ausnahmen gäbe: „bis heute ist Toscanini der ‚modernste‘ Dirigent geblieben, obwohl er sich in späteren Jahren nicht mehr mit dem zeitgenössischen Schaffen auseinandergesetzt hat“.20 Doch Rosenbergs eher zweifelhafte These wurde weithin aufgegriffen, paradigmatisch im 1972 erschienenen ersten Ergänzungsband des Riemann Musik-Lexikons: Konträr zur editorischen Praxis dieses Lexikons, dezidierte Wertungen außen vor zu lassen, behauptet dort Clytus Gottwald in seinem Beitrag über Pierre Boulez doch tatsächlich, dessen „dirigentische Tätigkeit ist nicht abzulösen von seiner kompositorischen. Die Erfahrungen mit der Neuen Musik erlauben erst eine Interpretation der älteren, die auf der Höhe der Zeit steht. Dabei beschränkt sich B[oulez] nicht darauf, Konzerte zu veranstalten, sondern entwickelt neue Formen, die den Konzertsaal vom Konsum- und Zelebrationstempel zu einem Forum von Aufklärung verändern werden.“21 Im Ganzen beschrieb die Kritik an der Kommerzialisierung und Vermarktung von Musik einen Sachverhalt durchaus korrekt: Alle außerkünstlerischen Mechanismen, die die Wirkung von Musik beeinflussen, ja „manipulieren“, seien moralisch verwerflich. (Freilich erfolgte diese Feststellung mit einer bewertenden moralischen Attitüde, deren Wurzeln in der Vorstellung zu finden waren, wahre Kunst würde allein aufgrund ihrer ästhetischen Qualität von sich aus wirken können.) Mit dieser Maxime der ‚autonomen Wirkmächtigkeit‘ verbanden die Jünger des Zeitgeistes die Vorstellung von der anzustrebenden und ihrer Meinung nach auch tatsächlich erzielbaren Objektivität der Interpretation und damit auch der Kritik an ihr, mit einer geradezu neo-romantischen kunstreligiösen Haltung. Ein Beispiel dafür bietet erneut Hans G Helms: „Es muß dem musikalischen Laien im Beethoven-Jahr so vorgekommen sein, als seien die Werke Beethovens prinzipiell variabler angelegt als die Kompositionen der musikalischen Avantgardisten. Zum Jubeljahr hatten die Monopolkonzerne soviele Beethoven-Falsifikate auf den Markt geworfen, wobei die kompositorische Intention hinter der patentierten Charaktermaske der Interpreten vollkommen versteckt war, daß den Konsumenten Beethoven wie ein anpassungsfähiger Materiallieferant für die Markenartikel Böhm, 18 Herfrid Kier, Führt Sozialisierung zur Entfaltung neuer Musik?, in: HiFi-Stereophonie, Heft 8, 12/1973, S. 792 und 794–795. 19 Wolf Rosenberg, Die unkritische Musikkritik, in: Kritik – von wem, für wen, wie, S. 72–78. 20 Ebd., S. 74. 21 Clytus Gottwald, Art.: Pierre Boulez, in: Riemann Musik-Lexikon, Ergänzungsband: Personenteil A–K, hrsg. v. Carl Dahlhaus, Mainz 1972, S. 139.

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Karajan, Klemperer, Ormandy oder Steinberg vorkommen mußte.“22 So gesehen, war es immer noch die Zeit, in der klassische Musik den Nimbus des besonders Seriösen für sich beanspruchte und mit den sensualistisch-sexuellen Stimulierungen der Warenästhetik allenfalls subkutan ihre potentiellen Käufer erreichen sollte bzw. durfte. Nach 1968 verstanden führende deutsche Musikkritiker ihr Metier als eine Instanz, die – getreu dem unausgesprochenen Wahlspruch des 19. Jahrhunderts „Dem Wahren, Guten, Schönen soll unser Lied ertönen“ – mit einem außermusikalischen Kriterienkanon ästhetische Differenzierungen, Details der Verklanglichung also, moralisch zu bewerten habe. Wobei es die Achtundsechziger mit aller Vehemenz von sich gewiesen hätten, gerade diesem Motto zu huldigen. Bei aller einseitigen und plakativen Darstellung, wie sie ganz besonders in den Essays von Hans G Helms auftaucht, wurden vielfach strukturelle Vorgänge im Musikbetrieb thematisiert, die den kritischen Leser gerade wegen der Fixiertheit auf die so genannte Gesellschaftskritik zum Mitdenken anregten. Ich persönlich will meine Lese-Erfahrungen jener Jahre nicht missen; wie sehr sie auch mich prägten, kann man daran erkennen, dass das Eingangszitat zu der Mozart-Interpretation durch Isaak Stern, Pinchas Zukerman und Daniel Barenboim mit dem English Chamber Orchestra von mir selbst stammt, der die Aufnahme als gerade mal 20-jähriger Student für die Schallplattenzeitschrift Collegium Musicum rezensierte.23 Ich erwähnte auch Wolf Rosenberg. Seine Witwe Pamela Rosenberg ist jetzt Intendantin der Berliner Philharmoniker, also jenes Orchesters, das unter Herbert von Karajan geradezu beispielhaft als Institution des musikalischen Establishments verstanden wurde und heute unter Sir Simon Rattle bei aller Verjüngung und Veränderung der betroffenen Musiker eine kaum gewandelte Position vertritt. Wie sich die Zeiten ändern... Oder am Ende doch nicht? Eine Sache der Perspektive.

22 Hans G Helms, Neue Musik unter den Zwängen, S. 585. 23 M[artin] E[lste] über W.A. Mozart, Sinfonia concertante KV 364, CBS 1972 in: Collegium Musicum. Magazin für Musikfreunde. Heft 12, 1972, S. 28–29.

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Gesellschafts- und Werkkritik in Fidelio-Inszenierungen um 1968: Inhalt, Rezeption und Einfluss Jede Fidelio-Inszenierung ist – und war – ein politisches Ereignis. Denn der Text zu dieser Oper enthält klare Bekenntnisse sowohl zu den Idealen der Menschenwürde als auch zur Freiheit und zur Bekämpfung des Unrechts. Gleichzeitig wird aber auch die Idee der Rettung durch den aufgeklärten Aristokraten am Schluss der Oper hervorgehoben – eine Idee, die die Institution des nicht-demokratischen Staates zweifellos affirmiert. Diese beiden in der Tendenz divigierenden politischen Dimensionen des Werkes – das Ideal unbedingter Freiheit und Gerechtigkeit auf der einen Seite und die Vorbildhaftigkeit nicht-demokratischer Regierungsformen – wird immer wieder von Rezipienten und Regisseuren als Widerspruch begriffen, wobei nicht selten das Paradox dadurch aufgehoben werden soll, indem nur die eine Dimension, nämlich die Idee von Freiheit und Gerechtigkeit, durch die Inszenierung hervorgehoben wird. Zum Beispiel huldigen in der Münchner Produktion unter der Regie von Rudolf Hartmann, dem Intendanten der Bayerischen Staatsoper (1952 bis 1967), in den 1950er Jahren Volk und befreite Häftlinge dem Minister, indem sie im Halbkreis vor ihm knien. Auch wenn diese Form der Darstellung von Macht einer bis zu den Uraufführungen der Oper zurückreichenden Tradition angehört, so wirkt eine solche Feier absoluter Macht jedoch zunächst in einer jungen Demokratie befremdend, die die Diktatur des Dritten Reichs gut in Erinnerung hatte bzw. gehabt haben könnte, wenn sie sie nicht verdrängt hätte. Es ist jedoch bekannt, dass die 1950er Jahre in Deutschland unter der Adenauer Regierung ultra-konservativ und obrigkeitsstaatlich orientiert waren. Insofern spiegelte die Münchner Produktion weit verbreitetes politisches Denken wider. Vor diesem Hintergrund stellt sich die hier nicht weiter zu behandelnde Frage nach dem Verhältnis zwischen Kontinuität und Umbruch in der Politik und im Geistesleben in den ersten Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs. Eine vollkommen gegensätzliche Einstellung artikulierte sich in der Gestaltung des Finales vierzig Jahre zuvor in Leningrad 1928: „Nach dem [die Ankunft des Gouverneurs ankündigenden] Trompetensignal leuchtet an der Leinwand eine projizierte Inschrift auf, die verkündet: ‚Der weiteren Handlung des Stückes nach befreit der König [sic] die Gefangenen. Das widerspricht unserem Klassenbewusstsein, und 

Vgl. hierzu Deutsche Leitkutur Musik?, hrsg. von Albrecht Riethmüller, Stuttgart 2006. Die Beiträge behandeln verschiedene Aspekte dieses Themas in Bezug auf die Musik und das Musikleben der frühen Bundesrepublik.

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wir reißen die Masken ab. Die Schauspieler streiften die Kostüme ab und führten eine plastische Oratorienkomposition vor.“ Staatsideologie tragend – im sowjetischen Sinne – war dieser Eingriff allemal, und insofern stand diese Leningrader Inszenierung keineswegs in Widerspruch zur – damals wie heute – bestehenden Praxis, Fidelio für staatsaktähnliche Produktionen zu verwenden, sei es im Zusammenhang mit dem ‚Wiener-Kongress‘ 1814, während NSDAP-Parteitagen, in Eröffnungsproduktionen verschiedener wieder aufgebauter Opernhäuser nach dem Zweiten Weltkrieg oder zur Feier der Herstellung der österreichischen Souveränität und des Staatsvertrags im November 1955. (Letztgenannte Fidelio-Aufführung fand 17 Jahre später, nachdem Fidelio in der Wiener Staatsoper im Zusammenhang mit dem ‚Anschluss‘ und zur Feier der ‚Befreiung‘ Österreichs als Sonderprogramm außerhalb der planmäßigen Saison aufgeführt worden war, statt.) Die ideologische Ambivalenz des Werkes wie auch mancherlei politisch motivierte groteske Inanspruchnahme von Begriffen wie Freiheit, Befreiung, Brüderlichkeit usw. ließen und lassen solche grundverschiedenen Verwendungen zu. Für unseren Zusammenhang von Bedeutung ist, dass der beschriebene politisch-ethische Doppelcharakter der Oper sowie, wie noch zu zeigen sein wird, ihre spezifische dramatische und musikalische Beschaffenheit in der damaligen Bundesrepublik der späteren 1960er Jahre entscheidende Impulse für eine kritische Auseinandersetzung mit der gesamten Oper – und nicht nur mit dem Finale des zweiten Akts – gaben. (In der Deutschen Demokratischen Republik stellten demgegenüber die ‚sozialistischen‘ Interpreten keine grundsätzlichen Fragen an das Werk und kritisierten stattdessen jene ‚imperialistischen‘ Produktionen, welche dies taten. Die die Monarchie legitimierenden Aspekte des Schlusses akzeptierte man weitgehend als nebensächlich, historisch bedingt oder nötig für seine Aufführbarkeit im frühen 19. Jahrhundert in Wien.) Die Auseinandersetzung übertraf alle vorangegangenen vereinzelten Diskussionen an Intensität und Dauer. Diese neue Phase der wissenschaftlich-literarischen Rezeption und der Aufführungspraxis Fidelios entstand (und konnte nur entstehen) im Zusammenhang mit den politischen und kulturellen Umwälzungen, die unter dem Schlagwort ‚1968‘ in die Geschichte eingegangen sind. 1968, im Jahre des Höhepunkts der Studentenproteste, wurde im Rahmen einer Neuinszenierung am Kasseler Staatstheater von Gerd Albrecht (musikalische Leitung), Ulrich Melchinger (Regie) und Thomas Richter-Forgách (Bühnenbild und Kostüme) verkündet: „Wir wollen das Stück auf die Grundthemen Gewalt, Unterdrückung, politischer Mord auf der einen Seite, Freiheit auf der anderen Seite, konzentrieren.“ Ihre Erläuterung, die in der für die ausgehenden 1960er Jahre sehr 

 

Manfred Osten, Psychologie und Revolution. Anmerkungen zu Beethovens „Fidelio“ in der zweiten Fassung, in: Ludwig van Beethoven: Leonore. Brucknerfest Linz 2003 (Programmheft), hrsg. von Rainer Cadenbach, Linz 2003, S. 15–27, hier S. 22. Vgl. Hans-Jurgen Schaefer, Fidelio im Beethoven-Jahr, in: Musik und Gesellschaft 21 (1971), S. 157–163, hier S. 157. Gerd Albrecht, Ulrich Melchinger und Thomas Richter-Forgách, Fidelio – Kassel 1968. Eine Dokumentation, in: Programmheft zu Fidelio, Staatstheater Kassel 1968/1969, S. 8–13, hier S. 8. Die erste Aufführung fand am 15. September 1968 statt. Alle im Haupttext folgenden Zitate zur Kasseler Inszenierung sind aus dem Programmheft entnommen.

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ungewöhnlichen ‚Dokumentation‘ festgehalten ist, die wiederum den Hauptteil des vergleichsweise langen Programmhefts bildete, hielten die Autoren für nötig, weil sie „sich der außerordentlichen Schwierigkeit bewusst“ waren, „eine heute gültige Lösung für die Wiedergabe des Fidelio zu finden.“ Ihnen „schien [es] zu billig“, [sich] „mit einer Wiederholung lieb gewonnener und traditioneller Interpretationsformen zufrieden zu geben.“ Worin eine solche Wiederholung bestanden hätte, blieb unausgeführt, aber die Schwerpunktsetzung Gewalt, Unterdrückung etc. sowie die Ausklammerung von überlieferten Themen wie Gattenliebe, weiblicher Heroismus und allgemein-menschlicher Idealismus geben dennoch ein klares Bild von ihren Vorstellungen. Wie setzte das Produktionsteam sein Konzept um? Die Realisierung beruhte in erster Linie auf radikalen Eingriffen in die Substanz des Werkes: Das Eröffnungsduett, Roccos Goldarie und – erstaunlicherweise – das Melodram im Kerker sowie vor allem der gesamte gesprochene Dialog fielen dem Rotstift zum Opfer. Mit einem Verweis auf negative Meinungen zum Sprechtext, die schon zu Beethovens Zeit bestanden hätten, heißt es im Programmheft: „Besonders die Dialogtexte sind naiv, sentimental und von mediokrer literarischer Qualität. Wir halten sie daher für unbrauchbar. Die verniedlichende, kleinbürgerliche Sprache wirkt harmlos und matt. Sie verzerrt den Konflikt. Sie verniedlicht ihn und wirkt unfreiwillig komisch.“ Die gestrichenen Nummern des ersten Aktes, die der „bürgerliche[n] Sphäre der Familie Roccos“ zugehören, sind, so lautete das Urteil des Produktionsteams weiter, „nur ungenügend“ in „dem immer schärfer hervortretenden eigentlichen Gehalt des Stückes“ integriert. Unerklärt blieb der Wegfall des Melodrams, das weder kleinbürgerlich noch heiter ist. Es ist anzunehmen, dass die Streichung des Dialogs die Streichung des Melodrams nach sich zog. Ein Ersatz für die entstandenen Lücken wurde dadurch geboten, dass Gedichte, deren Inhalt mit den hervorzuhebenden Themen übereinstimmten, von einer Schauspielerin auf Band gesprochen und während der Aufführung abgespielt wurden (vgl. Tabelle 1). Zunächst hatte man sich vorgenommen, eigens für diese Produktion geschaffene Dichtungen vorzustellen, doch nach erfolglosem Ersuchen an Hans Magnus Enzensberger, Erich Fried, Wolfgang Hildesheimer und anderen Schriftstellern entschied man sich für die Verwendung schon vorhandener relevanter Dichtungen, deren Auswahl angeblich viel Mühe machte. (Der Schilderung in der Dokumentation nach lehnten die angefragten Autoren die Aufgabe ab mit Hinweisen auf ihre angebliche „Hilflosigkeit angesichts dieser problematischen Aufgabe“ sowie „Aversionen gegen das Stück“.)

  

Ebd., S. 8. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10..

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Fidelio Staatstheater Kassel 1968 Musikalische Leitung: Gerd Albrecht, Regie: Ulrich Melchinger, Bühnenbild: Thomas Richter-Forgách Übersicht der musikalischen Sätze und gesprochenen Texte (Die gestrichenen Sätze erscheinen hier in Klammern.)

Erster Akt 1. Nelly Sachs: „Wir Geretteten“ 2. Overtüre Leonore Nr. 2 (Duett: Marzelline, Jacquino) 3. Arie der Marzelline, „O wär ich schon mit dir vereint“ 4. Guillaume Apollinaire: „Und du mein Herz, was pochst du noch?“ 5. Quartett: Marzelline, Fidelio, Jacquino, Rocco: „Mir ist so wunderbar“ (Arie, Rocco, Goldarie) 6. Walter Bauer: „Eines Tages werden wir aufwachen und wissen“ 7. Terzett: Marzelline, Fidelio, Rocco: „Gut Söhnchen, gut“ 8. Bertolt Brecht: „Oh ihr Unglücklichen“ 9. Marsch 10. Arie des Pizarro: „Ha! Welch ein Augenblick“ 11. Duett Pizarro, Rocco: „Jetzte Alter! Jetzt hat es Eile“ 12. Rezitat und Arie der Leonore: „Abscheulicher! – Komm Hoffnung“ 13. Bertolt Brecht: „Großer Dankchoral, Lobt die Nacht und die Finsternis, die euch umfangen“ 14. Finale: „O welche Lust“



Zweiter Akt 15. Jiri Orten: „Am Scheideweg, Staubwolken wirbeln hinterm Henkerskarren“ 16. Introduktion und Arie des Florestan: „Gott! Welch Dunkel hier!...In des Lebens Frühlingstagen“ (Melodram – „Wie kalt ist es in diesem unterirdischen Gewölbe“) 17. Duett Leonore, Rocco: „Nur hurtig fort“ 18. Terzett, Leonore, Rocco, Florestan: „Euch werde Lohn in bessern Welten“ 19. Henri Krea: „Befriedung (Unmenschen vergessen schnell) Sie sind gekommen, das Gift in der Hand“ 20. Quartett: Leonore, Florestan, Don Pizarro, Rocco: „Er sterbe“ 21. Duett: Leonore, Florestan: „O namenlose Freude!“ 22. Finale: „Heil sei dem Tag“

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Mit Ausnahme von Apollinaire, dessen künstlerische Radikalität möglicherweise der Grund für seine Wahl war, waren alle in der Kassler Produktion vertretenen Autoren Opfer von staatlichen Unrechts oder Gewalt und reagierten auf diese Erfahrung mit ihrer Kunst: die deutsch-jüdische Nelly Sachs, der tschechisch-jüdische Jiri Orten und der politisch linke, in den 1920er und 30er Jahren engagierte Hallenser Walter Bauer (Druckverbot im Dritten Reich) waren unter den Nationalsozialisten verfolgt worden; der aus Algerien stammende und in Paris lebende Krea unterzeichnete 1960 das Manifest 121 gegen die französische Kolonialpolitik zusammen mit Jean-Paul Sartre und vielen anderen prominenten französischen Intellektuellen und Künstlern und engagierte sich bis in die späten 1960er Jahre hinein auch weiterhin politisch, als sich die langwierige Krise in Algerien zuspitzte und zu den großen Unruhen und Regierungsumbildungen in Frankreich führte. Brecht, dessen Erscheinen sowohl in künstlerischer als auch in politischer Hinsicht fast als selbstverständlich gelten kann, musste nach Aufenthalten in Österreich und anderen europäischen Ländern in den 1930er Jahren in die USA emigrieren, wo er nach dem Krieg von dem House Un-American Activities Committee wegen seiner politischen Gesinnung vernommen wurde und auf der Hollywood Blacklist stand. Ein der Kassler Produktion gegenüber positiv eingestellter Kritiker verglich die Funktion der Gedichte mit den ‚Songs‘ in Brechts Schauspielen: „Sie wirken als Einlage, isolierte Momente der Reflexion und des moralischen Appells.“ Dass ein Gedicht der 1968 noch (in Schweden) lebenden Nelly Sachs an erster Stelle steht, überrascht kaum. 1965 gewann sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für ihre Dichtungen; 1966 teilte sie sich den Nobelpreis für Literatur mit dem israelischen Schriftsteller Samuel Josef Agnon; 1968 erschien ein Sammelband ihrer Werke unter dem Titel Das Buch der Nelly Sachs bei Suhrkamp, in dem auch „Wir Geretteten“ enthalten war. Ihr Text verdrängte in der Kasseler Inszenierung sogar die Ouvertüre; er funktionierte wie ein Prolog zu einem gesprochenen Drama. In der ersten Strophe evoziert der Text die Idee von Musik als Ausdrucksmittel des Leidenden: Chor der Geretteten: Wir Geretteten, Aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöten schnitt, An deren Sehnen der Tod schon seine Bogen strich – Unsere Leiber klagen noch nach Mit ihrer verstümmelten Musik. Ein weniger gravierender Bruch mit der Konvention als die zahlreichen Streichungen ist die Wahl der 1805 anlässlich der Uraufführung der ersten Fassung der Oper (genannt Leonore) entstandenen so genannten Leonoren-Ouvertüre Nr. 2, die 1814 anstelle der für die Uraufführung der zweiten Bearbeitung (genannt Fidelio) komponierten so genannten Fidelio-Ouvertüre in Kassel gespielt wurde.



Gerhard R. Koch, Ein neuer Fidelio, in: Musica 11 (November. 1968), S. 471–472, hier S. 471.

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Der – zweifellos zutreffenden – Meinung des Produktionsteams nach, besäße Leonore 2 eine Dramatik, die der Fidelio-Ouvertüre fehle. Überhaupt wurde die Fidelio-Ouvertüre mit der Zielsetzung geschrieben, besser als alle drei in den Jahren 1805 bis 1806 komponierten Leonoren-Ouvertüren Nr. 1 bis 3 den heiteren Anfang der Oper angemessen einzuleiten. Durch die vorgenommenen Streichungen im ersten Akt entfalle in der Kassler Produktion jedoch die Grundlage für die FidelioOuvertüre. Außerdem verzichtete man auf die Verwendung der Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 vor dem Finale des 2. Aktes und bediente sich damit einer bis dahin zwar manchmal beanstandeten, jedoch mittlerweile zur Konvention gewordenen Praxis, die auf Gustav Mahlers und Alfred Rollers legendäre Produktion in Wien 1904 zurückgeht und als Überbrückung zum Szenenwechsel und zur psychologisch-ästhetischen Einstimmung auf das Finale dienen sollte. Für diese Entscheidung werden im Programmheft musikalische Gründe – Tonartbeziehungen und dramaturgische Erwägungen (Geschlossenheit der Handlung ohne Unterbrechung) – angeführt. Ein kontinuierlich musikalisch-dramatischer Verlauf wurde zusätzlich durch die Verwendung eines einzigen Bühnenbildes erzielt: ein Podest, abstrakt, kahl und mit hartem weißen Licht angestrahlt (statt der sonst üblichen Dunkelheit, nicht nur in der Kerkerszene), umrahmt von einem Frauengesicht in Andy-Warholschen Wiederholungen.

Fidelio Staatstheater Kassel 1968, Bühnenbild: Thomas Richter-Forgách © Staatstheater Kassel

Diese Lösung folgte mehreren vorhergehenden, jedoch verworfenen ‚naturalistischeren‘ Ideen, u.a. derjenigen eines amerikanischen Gefängnisses. Das „Gesicht“ (so die Dokumentation) besitze eine „stärkere szenische Ausdruckskraft als aller dekorativer Aufwand es haben könnte.“ In seiner Abstraktheit schafft das Bild eine sehr wirkungsvolle Atmosphäre beklemmender Bedrohlichkeit und allgegenwärtiger Kontrolle durch Überwachung.



Albrecht et al., Fidelio – Kassel 1968, S. 9.

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Gleichermaßen minimal war die Konzeption der Kostüme; abgesehen von der historisch-realistischen Kleidung des Ministers waren sie einfach und modern gehalten, ohne klaren Bezug zur Handlung und Umgebung. Während der gesamten Aufführung befand sich der Chor auf einer Tribüne, die auf drei Seiten den eingegrenzten Schauplatz einrahmte. Die Einzeldarsteller saßen auf Stühlen auf der Bühnenebene noch weiter seitlich im Dunkeln; ihr Kommen und Gehen war für alle sichtbar. Für diese Positionierung von Chor und Solisten gibt es keine Erklärung im Programmheft, doch ist der Einfluss Brechts, dessen 1954 in der DDR veröffentlichter Aufsatz Einschüchterung durch Klassizität10 auszugsweise im Programmheft abgedruckt ist, klar erkennbar. Offenbar bestand das Bestreben, die strenge Trennung von Ausführenden und Publikum sowie von Kunstobjekt und künstlerischem Prozess zu durchbrechen Die hier beschriebenen radikalen Eingriffe in ein kanonisches Werk lösten eine heftige Kontroverse in der Presse aus, die eine eigene Untersuchung wert ist. War die Produktion ein unerhörter Eingriff in ein großes Kunstwerk? Wurde der Werkbegriff verletzt? Oder handelte es sich um eine Vergegenwärtigung und Rettung der Oper in und nach einer Zeit, in der ihr Ideengehalt immer mehr in Frage gestellt wurde bis hin zur Gefährdung ihrer ästhetischen Gültigkeit? – Darüber schieden sich die Geister. Die Debatten hierüber und über die politischen Inhalte von Beethovens Werken und seiner persönlichen Überzeugungen nahmen einen prominenten Platz in den Diskussionen während des ‚Beethoven-Jahres‘ 1970 ein. Festzuhalten ist, dass es für viele Einzelaspekte der Kasseler Inszenierung Vorbilder gab. Teilstreichungen des gesprochenen Textes gehörten immerhin schon lange zu „lieb gewonnenen und traditionellen Interpretationsformen“ (Programmheft11). Noch im frühen 20. Jahrhundert schrieb man neue Texte und auch Musik für Rezitative zwischen den Nummern. Meines Wissens nach ist aber der Totalverzicht auf die verbindenden Texte zwischen den Musiknummern ein Novum. Wieland Wagner beispielsweise behielt für seine berühmte Stuttgarter Inszenierung 1954 noch etwas von dem gesprochenen Text bei, während er zusätzlich einen neuen, die Handlung erläuternden Text durch einen Sprecher aus dem Publikum rezitieren ließ. (Auch nahm er einige Nummern von den früheren Fassungen der Oper auf.) Die Streichung musikalischer Nummern geschah wesentlich seltener, und in der bisherigen Forschung ist in keiner anderen Produktion die Tilgung gleich mehrerer Nummer dokumentiert worden. Welche Stellung auch immer man dazu einnimmt: das Konzept der Kasseler Inszenierung entstand nicht in einem Vakuum. Kritische Auseinandersetzungen mit dem Anfang des ersten Aktes befassten sich nicht nur mit der ästhetischen Qualität des Dialogs und des gesungenen Textes, sondern auch mit deren Ideengehalt. Kritik an letzterem setzte schon recht früh in der Rezeption der Oper ein und wurde im 20. 10 Brechts Aufsatz Einschüchterung durch Klassizität erschien zuerst in Sinn und Form 5/6 (1954); Nachdruck in ders., Schriften zum Theater, zusammengestellt von Siegfried Unseld, Frankfurt am Main 1957, S. 124–127. Brecht argumentiert: „Wir müssen das [klassische] Werk neu sehen, wir dürfen uns nicht an die verkommene, gewohnheitsdiktierte Art halten, in der wir es auf dem Theater einer verkommenden Bourgeoisie gesehen haben. Und wir dürfen nicht rein formale äußerliche, dem Werk fremde Neuerungen anstreben“ (Brecht, Einschüchterung durch Klassizität, S. 125). 11 Albrecht et al., Fidelio – Kassel 1968, S. 11.

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Jahrhundert zunehmend oft und stark geübt. Obwohl abstrakte oder nicht-historische Bühnenbilder kein Tabu waren – schon Rollers Produktion in Wien bot abstrahierte Bilder – und mehrere Inszenierungen, unter anderen der berühmte Krollopern-Fidelio von 1927, das Gefängnis in abstrakte, manchmal kubistisch anmutende Formen umwandelten, zeichnete sich das Bühnenbild der Kasseler Produktion im Vergleich zu seinen Vorgängern durch besondere Radikalität aus. Während die VorläuferBühnenbilder bei aller die Brutalität des Schauplatzes noch unterstreichenden Abstraktheit immer noch die Wirklichkeit von Mauern darstellten, war das Kasseler Bühnenbild in seiner gleißend-weißen Leere eine wohl beabsichtige Provokation, die den Menschen zugleich als Abstraktum des Beobachters und des Beobachteten wirkungsvoll hervortreten ließ. Fidelio in Kassel 1968 hat Schule gemacht; die Inszenierung hat ein sowohl negatives als auch positives Beispiel und einen Maßstab gerade deswegen gesetzt, weil sie annähernd alles verkörperte, was an einer Oper getan werden konnte. Man rüttelte an jedem Element; und an jedem Element dieser Produktion konnte man Anstoß nehmen oder einen Ansatz für die Entwicklung neuer Ideen finden. Der kritischen Auseinandersetzung folgte bald die künstlerische. Anlässlich einer Neuinszenierung in Wuppertal 1969/1970 stellten Regisseur Kurt Horres und Schriftsteller Horst Laube, der neue gesprochene Texte verfasste, fest: „Diese Oper hat Inszenatoren immer wieder Lust gemacht für entschiedene Deutungen. Dabei überwogen unseres Wissens diejenigen, die weniger auf den besonderen Fall der tapferen Leonore aus waren und mehr auf Allgemeines, auf die Parabel über Totalitarismus zum Beispiel oder den oratorienhaften Aufruf ans Gutsein überhaupt. Uns geht es um diese ungewöhnliche Liebestat einer mutigen Frau, über die berichtet wird.“12 Die Botschaft ist eindeutig: in der Wuppertaler Inszenierung soll die Politik im Hintergrund, die Rettungsoper auf der Bühne im Vordergrund stehen – im klaren Gegensatz zu Kassel. Dieser Behauptung aber widerspricht nicht nur der Charakter der Produktion, sondern auch der Inhalt des Programmhefts, in dem Ernst Blochs Gedanken über die im Fidelio verkündete „künftige Freiheit“ abgedruckt sind.13 Wichtiger und sehr politisch war auch die Entscheidung, den Abschluss der Oper konzertant bei beleuchtetem Zuschauerraum zu gestalten, „sozusagen als Oratorium“, wie es Horres, hierin Wieland Wagner folgend, formulierte.14 Dieser Bruch wurde – auf der Bühne, d.h. innerhalb der Handlung – durch einen Sprecher folgendermaßen begründet: „Nach diesem Duett [O Namenlose Freude] ist der darstellbare Teil der Oper beendet. Minister Fernando löst als leibhaftiger deus ex machina das Gefängnis auf. Die Inszenatoren bezweifeln, dass dieser Gnadenakt, der an einem Ort zufällig Terror beseitigt, als jubelnder, alles versöhnender Höhepunkt gezeigt 12

Kurt Horres und Horst Laube, Darlegung, in: Programmheft zu Fidelio, Wuppertaler Bühnen 1969, S. 1–2, hier S. 2. Die erste Aufführung erfolgte am 2. November 1969. 13 Ernst Bloch, Marseillaise und Augenblick in Fidelio, in: Das Prinzip Hoffnung, Band 2 (= Gesamtausgabe, Band 5), Frankfurt am Main 1959, S. 1294–1297, hier S. 1297. 14 Kurt Horres und Horst Laube, zitiert in Jochen Wolff, Zur Geschichte von Beethovens Oper auf der Bühne, in: Programmheft zu Fidelio, Hamburgische Staatsoper 1982, S. 50–62, hier S. 51. Dieser Text erschien auch im Programmheft zu einer Neuinszenierung in Bremen 1985.

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werden darf. Sie meinen: der letzte Teil sollte der absoluten Eigengesetzlichkeit der Musik gehören.“15 Die eindeutige Aussage lautet: Fernando solle nicht umgeben vom ergebenen Volk gezeigt werden; der Text sei in politischer Hinsicht nicht so kompromittiert wie die szenische Darstellung; die Musik besitze ihre eigene Legitimation. (Diese inszenatorische Lösung erinnert an den Eingriff in Leningrad, obwohl es sehr unwahrscheinlich ist, dass Horres und seinem Team der Leningrader Schluss bekannt war.) Außer dem Einsatz eines Sprechers gab es andere auffällige Gemeinsamkeiten mit der Kasseler Inszenierung: „Innere Monologe“, die „die Reaktionen der Figuren sinnfälliger machen sollen“ und in „schlichter Diktion den psychischen und physischen Hintergrund der Figuren“16 veranschaulichen, wurden von Schauspielern auf Band gesprochen und während der Vorführung abgespielt. Sie ersetzten den gesamten Dialog; allerdings blieb das Melodram erhalten. Der Sprecher sollte die Produzenten vertreten; er hatte die Aufgabe, die „Demonstration“ ihres „neuen formalen Konzeptes“17 als Bestandteil des aufgeführten Werkes (d.h. nicht nur im gedrückten Kommentar im Programmheft) zu vermitteln und auf dramaturgische Angelpunkte hinzuweisen.18 Auch in Bremen hielt man einen radikalen Ansatz für nötig. Im Januar 1974 schreib Peter Stoltzenberger, Intendant des Bremer Theaters, einen Brief an Enzensberger mit der Bitte um Ersatztexte für die Dialoge, die in der neuen Inszenierung allesamt gestrichen werden sollten. Diese Idee hatte der Regisseur Nikolaus Lehnhoff, der wiederum einem Vorschlag Pierre Boulez’ folgte, angeregt. Zuerst lehnte Enzensberger, der zusammen mit der Anfrage Klavierauszug und Textbuch erhielt, obwohl er keine Noten lesen konnte, ab, nahm nach einigem Zögern den Auftrag dann aber doch an. In einer im Programmheft veröffentlichen detaillierten „Arbeitschronik“ zur Entstehung der Produktion beschrieb Enzensberger seine damaligen Vorstellungen und Assoziationen zum Werk Fidelio. Seine Ausführungen erinnern an die Erklärungen in Kassel und Wuppertal: „vage Erinnerungen an irgendeine Stadttheaterinszenierung vor langer Zeit, modriges Melodrama, wackliges Schlußtableau mit dem großen Chor vor einer Schloßkulisse – Staatsaktion halb napoleonisch, halb josefinisch… Das Libretto freilich ist niederschmetternd. Es macht den Eindruck, dass zu dieser Oper nur eines spielbar ist: die Musik.“19 15 Programmheft Wuppertal 1969. Zitiert in Jochen Wolff, Zur Geschichte von Beethovens Oper auf der Bühne, in: Programmheft zu Fidelio, Hamburgische Staatsoper 1982, S. 50–62, hier S. 51. Dieser Text erschien auch im Programmheft zu einer Neuinszenierung in Bremen 1985. 16 Ebd., S. 51. 17 Ebd., S. 51. 18 Das Bühnenbild bestand aus Röhren ohne sichtbaren Bezug; die Sänger trugen Gegenwartskostüme, ebenfalls ohne spezifischen Bezug zur Handlung. Die neuen Texte von Laube sind unglücklicherweise nicht veröffentlicht worden und befinden sich weder im Archiv der Wuppertaler Bühnen noch im Stadtarchiv, das als Depot für das Theater fungiert. 19 Nikolaus Lenau, Günther Uecker, Hans Magnus Enzensberger, Arbeitschronik zu Leonore, in: Leonore: Oper in zwei Aufzügen von Ludwig van Beethoven, Programmheft des Fidelio, Theater Bremen 1974, S. 34–57, hier S. 55. Diese und alle weiteren Zitate im Haupttext stammen aus diesem Programmheft. Die musikalische Leitung hatte Hermann Michael. Die Chronik sowie die Texte Enzenbergers sind abgedruckt

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Ähnlicher Meinung war der Regisseur Nikolaus Lehnhoff, der sich über „holprige Dialoge, erschreckende Uneinheitlichkeit des dramaturgischen Aufbaus“ und „dilettantisch(e)“ Verzahnung des Singspiels, Musikdramas und Oratoriums ausließ.20 Für den Musiker oder Musikwissenschaftler, dem sich das Werk vornehmlich durch die Komposition Beethovens öffnet, ist dieser Standpunkt vielleicht nicht vollkommen nachvollziehbar; für den Regisseur oder Theaterwissenschaftler, der Fidelio als Musiktheater, als dramma per musica ernst nehmen will, ist er jedoch durchaus verständlich. Enzensberger schrieb vier Gedichte, von denen jeweils eins vor jeder der vier Szenen (bei gleich bleibendem minimalen Bühnenbild von Günther Uecker, Nagelkünstler der Düsseldorfer Zerogruppe) von einem Sprecher rezitiert wurde. (Der Sprecher, der im zweiten Akt die Rolle des Ministers spielte, saß unter den Zuschauern und stand auf, wenn er die Gedichte vortrug.) Bruchstücke des Dialogs wurden beibehalten, damit eine Überbrückung zwischen den musikalischen Sätzen innerhalb der Szenen gewährleistet war. Enzensbergers Texte verweisen nicht direkt auf die fortschreitende Handlung; auch sprechen sie keine vordergründig politischen Themen an. Sie „reflektieren vielmehr über diese Oper, die Kunstform der Oper allgemein und über sich selbst“, so Peter Dannenberg in Die Welt, der die Kernsätze von Enzensbergers Fidelio-Texten zitiert: „Die Oper ist das Reich des Scheins. Das Reich der Wahrscheinlichkeit ertrinkt darin.“21 Dass sich Enzensberger im Rahmen dieser Texte mit künstlerischen Fragen befasst, bleibt außer Zweifel, dennoch scheint es mir eine Missdeutung zu sein, ihm ein politisches Anliegen gänzlich abzusprechen. Allein die eben zitierten Thesen über die Oper sind hochpolitisch, da sie die Utopie des Fidelio und das allgemeine Unvermögen der Oper als Forum für eine Auseinandersetzung über die wirklichen Dinge des Lebens bloßzustellen versuchen. Enzensberger arbeitet hauptsächlich mit der Idee des ‚Scheins‘ als Illusion oder Trugbild. Er spannt einen großen Bogen vom ersten Text, der mit der Schleifung der Bastille und dem Weiterbestehen aller anderen Gefängnisse ansetzt, zum letzten Text, der mit eindringlichen Fragen und Erklärungen beginnt: Ist die Bastille geschleift? Sind die Ketten zerrissen Woher kommt das Licht in diesem Gefängnis? Wessen Trompeten sind es? Wer ist der Befreier? Nichts ist das, was es zu sein scheint. Der Minister ist kein Minister. Die Oper ist eine Verkleidung Im Reich der Freiheit gibt es keine Minister. in Nikolaus Lenau, Günther Uecker, Hans Magnus Enzensberger, Arbeitschronik zu Leonore, in: „...zum Raum wird hier die Zeit“. Günther Uecker. Bühnenskulpturen und optische Partituren. 8. April bis 8. Juli 2001 (Katalog zur Ausstellung im Neuen Museum Weimar), hrsg. von Ulrike Bestgen, Silke Feldhoff, Horst Roder, Berlin 2001, S. 82–109. 20 Ebd., S. 53. 21 Peter Dannenberg, Uecker und Enzensberger: Versuch am „Fidelio“, in: Die Welt, 20. Juni 1974, S. 31. Dannenberg zitiert ausführlich aus dem Programmheft.

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Die Oper ist das Reich des Scheins. Dieser Schein leuchtet. Herren und Knechte gehen darin unter. Ihre Wörter und meine gehen unter in der Musik. Enzensbergers Text fährt fort mit Fragen, die tiefgehende Zweifel an der auf der Bühne dargestellten Utopie kundtun. Die Utopie in der Bremer Fidelio-Inszenierung ist dementsprechend auch nicht vollkommen. Denn im absoluten Widerspruch zum Text und zur Musik des Finales wird nur Florestan befreit; anders als er und Leonore, die auf einer beleuchteten Treppe aus der dunklen Tiefe ins blendende Licht steigen, bleiben alle übrigen Gefangenen im Kerker. Indem nur der Gerettete, ein edler Mensch, dem Unrecht geschah, und seine Retterin befreit werden, geht der idealistische Humanitätsgedanke des Werkes völlig verloren; und gerade dieser Effekt scheint vom Regisseur gewollt zu sein. Der einzige weitere Eingriff im Bremer Fidelio ist die Streichung des ersten Duetts; hier sind sich die Kasseler und die Bremer Produktion also ähnlich. In beiden Fällen ist der Bezug zwischen der an die erste Stelle gerückten Arie der Marzelline und dem neuen vorausgehenden Text nicht überzeugend. Trotz dieser Schwäche passt Marzellines Arie jedoch insofern zur Grundstimmung der Oper, als ihre Sehnsucht nach einem Wiedersehen mit Fidelio dem Ernst und der Tiefe der späteren Vorgänge entspricht. Um die kritische Distanz zur Oper Fidelio zu verdeutlichen, wurde die Produktion als Leonore vorgestellt. Die Uraufführung war turbulent; während der Pause kam es zu Handgreiflichkeiten im Publikum. In den folgenden Jahren wurde die Bremer Produktion von mehreren deutschen Theatern (mit neuen Bühnenbildern, Kostümen und dramaturgischen Anweisungen für die Sänger) übernommen, z.B. in Bonn 1983, wo sie ebenfalls heftige Proteste schon während der Aufführung provozierte. Kaum anders erging es ihr in Leipzig 1985, wo eine ‚West‘-Produktion ausnahmsweise in der DDR stattfand; auch hier löste sie lautstarke Proteste aus. Schon bei der zweiten Leipziger Aufführung entfiel der Sprecher. Bei allen Unterschieden zwischen dem damaligen ostdeutschen und dem westdeutschen Publikum war man sich doch darin einig: man wollte seinen guten, alten Fidelio wieder haben. – Doch Lehnhoff und sein Team empfanden diesen guten, alten und schönen Fidelio als nicht mehr wahr. Wie in Wuppertal behaupteten die Verantwortlichen, sie würden keine Politik machen wollen. Aus ihrer Arbeit jedoch, vor allem aus ihrer Auseinandersetzung mit der Idee von ‚Oper als Schein‘ und der ‚Utopie auf der Opernbühne als Schein‘ – Aspekte, die durch die Texte Enzensberger fokussiert werden – sowie aus der neuen Dramaturgie des Schlusses, die Freiheit nur auserwählten, nicht allen Menschen verspricht, tritt eine politische Aussage dennoch deutlich zutage. Es ist kaum anzunehmen, dass sie sich des politischen Inhalts ihrer Konzeption nicht bewusst waren. Was ist also der Grund dafür, dass sie einen apolitischen Impetus für ihre Produktion behaupteten? Wollten sie die politischen Gehalte aus taktischen Gründen verleugnen?

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Die Inszenierungen in Kassel, Wuppertal und Bremen wurden alle – orientiert man sich an den Ergebnissen der Kommunalwahlen dieser Jahre – in politisch nach links tendierenden Städten vorgestellt, an relativ kleinen Provinztheatern (diese Bezeichnung würden die Bremer wahrscheinlich bestreiten) und wurden von politisch engagierten und künstlerisch sehr innovativen Künstlern konzipiert. Das Theater Bremen zum Beispiel war seit der Mitte der 1960er Jahre ein Zentrum revolutionärer Erneuerungen unter Kurt Hübner (Intendant von 1962 bis 1973) und den jungen Regisseuren Peter Zadek und Peter Stein. Diese Zusammenhänge dürften keineswegs zufällig sein und verdienen eine gezielte Untersuchung. Es stellt sich vor diesem Hintergrund also die Frage, wie es sich an den größeren Bühnen verhielt? Zunächst lässt sich beobachten, dass Opernhäuser in Städten wie Hamburg, Berlin, Köln und München, in denen ebenfalls die SPD führte, sich in den 1970er Jahren oft nicht scheuten, eher unkonventionelle Inszenierungen auf ihre Programme zu setzen. Darüber hinaus muss man berücksichtigen, dass die jeweilige Landes- bzw. Kommunalpolitik die Kulturpolitik eines Theaters natürlich nicht direkt bestimmte. Die von mir skizzierten Zusammenhänge sind demnach sehr verwickelt und sollten nicht auf eine einfache Formel reduziert werden. Doch nach meiner bisherigen Forschung sieht es so aus, dass die größeren, repräsentativen Häuser nur zögernd die außergewöhnlich kontroversen Ideen aus Kassel, Bremen und Wuppertal aufnahmen. Vor diesem Hintergrund wäre es interessant der Frage nachzugehen, ob in den 1970er Jahren und danach aufgrund des kanonischen Status’ von Fidelio und seiner repräsentativen Funktionen mit dem Werk – trotz aller Kritik an und Experimente mit ihm – im Unterschied zu anderen ideologisch und funktionell eher ‚unbelasteten‘ Opern vergleichsweise respektvoll umgegangen wurde. Fest steht, dass Fidelio viele solcher Eingriffe erlebte (vor allem in den 1980er Jahren). Freilich handelte es sich bei den Eingriffen nicht immer um die Streichung ganzer musikalischer Sätze (Roccos „Goldarie“ wird zwar weiterhin gelegentlich gestrichen; das Eröffnungsduett dagegen bleibt unangetastet). Im Vordergrund standen demgegenüber oftmals Veränderungen des Bühnenbilds, der Kostüme und Requisiten sowie der Dramaturgie. Ein hervorragendes Beispiel dafür findet sich in der Gestaltung des Bühnenbilds zum Finale des zweiten Aktes in einer Produktion der Salzburger Festspiele 1968. Eine Hochburg der politischen Protestbewegung war die Stadt Salzburg sicherlich nicht, und die Festspiele zeichneten sich damals eher durch Konservatismus und Tradition als durch Freude an Experimenten aus. Dennoch schlich sich ein kritisches Moment in die Produktion unter Karl Böhm, Günther Rennert und dem Bühnenbildner Rudolf Heinrich (DDR) ein. Die Rettung und die utopischen Aspekte der Schlussszene insgesamt wurden nämlich beide drastisch relativiert durch das Bühnenbild, das die Möglichkeiten der riesigen Bühne im Großen Festspielhaus mit größter Wirkung ausschöpfte. Statt vor einem den Blick auf einen fern liegenden Hügel gewährenden romantisch-utopischen Freiraum, den die Gefängnismauer in der Schlussszene der Uraufführung in Wien 1805 und in den allermeisten Inszenierungen danach freigibt, stehen jubelnde Gefangene, Volk und Hauptfiguren vor einer großen weißen Wand. Die Farbe scheint die symbolische Kraft des ‚aus dem Dunkeln ins Licht‘ zu besitzen, die in vielen Inszenierungen anzutreffen ist. Doch

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Fidelio, Salzburger Festspiele 1968, mit freundlicher Genehmigung der Salzburger Festspiele

in ihr sind zahllose Gesichter eingemauert. Befreit werden sie nicht, im Gegenteil zeugen sie in ihrer Erstarrung von ihrem ewigen Leid. Ansonsten war dieser Salzburger Fidelio ziemlich konventionell; es gab keine Streichungen von Beethovens Musik, kein Ersatzdialog, keine Sprecher aus dem Publikum. In den folgenden zwei Jahrzehnten hielt man sich mit derartigen Eingriffen zurück, beschränkte sich bei der Umsetzung unkonventioneller Ideen überwiegend auf Bühnenbild und Kostüme und maß darüber hinaus dem Programmheft zunehmendes Gewicht bei, um politische Aussagen zu platzieren. In zahlreichen Programmheften zu Fidelio-Inszenierungen an Theatern jeder Art bestanden explizite politische Statements aus 1. Bezügen auf die französische Revolution und auf Beethovens eigene politische Bekenntnisse sowie 2. aus Verurteilungen von historischer und vor allem gegenwärtiger politischer Unterdrückung, von Verhaftungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen in Ländern der dritten Welt, der Sowjetunion und ihren Verbündeten sowie China. Schreckliche Bilder, politische Essays, Berichte von Betroffenen und literarische Erzeugnisse füllten die Seiten der sich immer weiter ausdehnenden Hefte, die fast wie eine Art Prolog oder Ouvertüre zum Werk fungierten. Im Zusammenhang mit der Thematik des vorliegenden Beitrages messe ich diesen Programmheften große Bedeutung bei, obwohl sie im strengen Sinne nicht zum Werk gehören.22 22 Kritik an den Experimenten des letzten Jahrzehnts fand auch in die Programmhefte Eingang, wie der folgende Ausschnitt eines Beitrags von Götz Friedrich anlässlich einer Neuinszenierung an der Bayerischen Staatsoper 1978 belegt. Friedrich schlägt zuweilen einen kritisch-ironischen Ton an: „Wir haben keine Dichter gebeten, uns einen neuen Dialog zu schreiben, wir haben nicht Anthologien durchgesehen, um zwischen die Musiknummern schöne, beziehungsreiche oder wichtige Gedichte einzustreuen und von anderen rezitieren zu lassen, sondern wir haben das Stück, so wie es uns immerhin nach zwei Fassungen

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Bezüglich der Bühnenbilder und der Kostüme ist eine interessante Entwicklung festzustellen. In Kassel, Wuppertal, Bremen und Salzburg wollte man weder Lösungen, die vom Werk her historisch gegeben waren, noch solche, die sich explizit auf die Gegenwart oder die jüngste Vergangenheit bezogen. Man distanzierte sich von den in den 1950er Jahren entstandenen Produktionen, in denen „der Schwerpunkt auf dem Spannungsverhältnis einer von Tyrannen brutal beherrschten Welt und dem entschlossenen Einsatz einer einzelnen opferbereiten Persönlichkeit [lag]. Die realistische Atmosphäre der KZs und die Befreiung durch eine liberale Ordnungsmacht wurden zur zentralen Inszenierungsidee. Die Wirkung entstand aus der hautnahen Beziehung zur jüngsten, schmerzlich durchlebten deutschen Vergangenheit.“23 So schrieb Rennert mit Bezug auf seine erste Fidelio-Inszenierung in Salzburg gemeinsam mit Wilhelm Furtwängler in den 1950er Jahren. Die zeitlos-abstrakte Lösung, die einige Präzedenzfälle im früheren 20. Jahrhundert vor der Zeit des Nationalsozialismus hatte, etwa in der berühmten Produktion der Krolloper in Berlin 1927, hat sich bis in die Gegenwart hinein bewährt. Doch bald danach wurde der zeitlos-abstrakte durch einen weiteren Inszenierungstypus mit realistischen Gegenwartsbezügen ergänzt, der eine politische Botschaft klar artikuliert. Harry Kupfer z.B. zeigte 1981 in Berlin ein Konzentrationslager mit Flutlichtern. Hinzu kam ein phantastisches Element für das Finale des 2. Aktes, dem Teil der Oper, der gewöhnlich mit Abstand die meisten und tiefgehendsten Eingriffe erlebt. Leonore, Florestan und die Gefangenen verlassen die Bühne, während die Figuren Sokrates, Che Guevara, Jesus Christus, Mitglieder der PLO sowie weitere Revolutionäre auf der Bühne bleiben und das letzte Tableau bilden. In dem Moment, in dem die Musik ausklingt, sieht man Pizzaro und zwei Särge, die ohne Zweifel für Leonore und Florestan bestimmt sind. Wieder einmal kann ein Produktionsteam kein ‚Happy End‘ akzeptieren. Das gilt jedoch nicht für alle Fidelio-Produktionen in den 1980er Jahren. In der erzkonservativen Stadt San Diego in Südkalifornien – militärischer Großhafen und republikanische Hochburg – hat man vor einigen Jahren den Schauplatz in eine Bananenrepublik in Südamerika verlegt. Zum Schluss schwenkten die Einheimischen amerikanische Fähnchen nach ihrer Befreiung durch U.S.-Soldaten. In der Suche nach Aktualität gingen andere Opernhäuser in ihren Interpretationen noch weiter: In Südafrika im März 2004 führte die Cape Town Opera in einer Co-Produktion mit der Norwegischen Oper Fidelio auf. Diese Inszenierung spielte in dem Gefängnis auf Robben Island, in dem Nelson Mandela inhaftiert war. Eines der jüngsten Projekte dieser Art ist dasjenige des

schließlich dann von Beethoven zuletzt abgefasst und hinterlassen wurde, ganz beim Wort genommen. Wir haben die Dialoge ernst genommen, sie lediglich gekürzt. Wir haben den Text aber prinzipiell unverändert gelassen, und nur an zwei Stellen, in der Kerker-Szene, aus dem Text der Urfassung, der „UrLeonore“, etwas eingefügt, das besonders dem Duett ‚O namenloses Freude‘ eine verschärfte Ausgangssituation gibt“ (Götz Friedrich, Stichworte zur Inszenierung, in: Programmheft zur Neuinszenierung an der Bayerischen Staatsoper München 1978, S. 5–12, hier S. 6). 23 Günther Rennert, Zur Neuinszenierung Fidelio, in: Programmheft zu Fidelio, Salzburger Festspiele 1968, hrsg. Rudolf Beyr und Renate Buchmann (Salzburg 1968), S. 141–142, hier S. 141.

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Erfurter Theaters. Es plant, unterstützt von der New Israeli Opera in Tel Aviv, Fidelio in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald aufzuführen. Anhand der mir zugänglichen Informationen scheinen diese Produktionen von eher staatstragend-repräsentativem als hinterfragendem Charakter zu sein, weil man sich in ihnen weder mit dem Werk noch mit aktuellen politischen Verhältnissen auseinandersetzt. Heute Mandela in Südafrika zu feiern, entspricht der offiziellen Staatspolitik. Gerade wegen ihrer politischen Korrektheit demonstrieren diese Produktionen aber deutlich, wie sehr die kritischen Strategien und Techniken der 1970er Jahre sich als Normen nicht nur für Fidelio-Inszenierungen etabliert haben. Aus dieser Erkenntnis heraus stellt sich die Frage nach der Position des Fidelio in der Entwicklung der Opernregie in den letzten Jahrzehnten überhaupt. Kann es sein, dass diese ‚unmögliche‘ Oper, die aber gleichzeitig unmöglich aus dem Repertoire entfernt werden konnte, eine Schlüsselrolle in jener Inszenierungsästhetik spielte, der gemäß immer mehr Eingriffe vorgenommen werden und die die gegenwärtige Aufführungspraxis zumindest in Europa bestimmt? In dieser Untersuchung wurde bewusst darauf verzichtet, Aspekte der musikalischen Interpretation zu behandeln. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zunächst und allein ausschlaggebend war, dass mir keine entsprechenden Aufnahmen zu Verfügung standen. Aber selbst wenn ich über solche verfügt hätte, wäre ich sehr vorsichtig gewesen, gewisse Interpretationen unbedingt als kritisch oder traditionell, bürgerlich-humanistisch oder hinterfragend und aufklärerisch, geschweige denn eindeutig rechts oder links anzusehen. Vor allem bezüglich des Begriffs der ‚linken Inszenierung‘ bedarf es der Unterscheidung zwischen einem offiziellen, oft staatlich verordnetem Konzept (wie etwa in der UdSSR und den Staaten des Warschauer Paktes) und einem inszenatorischen Impetus, der sich als oppositionell oder zumindest gesellschaftskritisch versteht. Eine solche Unterscheidung ist jedoch ein recht heikles Unterfangen, auch wenn verschiedene Rezensenten u.a. Gerhard R. Koch bereits schnelle Tempi und den Verzicht auf Pathos mit einer eine kritische Deutung billigenden Haltung in Zusammenhang brachten.24 Auffallend ist, dass die Verantwortlichen in ihren offiziellen Statements in den Programmheften sehr wenig Konkretes zu diesem Thema, der musikalischen Gestaltung der jeweiligen Produktion in Bezug auf den darin verfolgten politischen Impetus, aussagten. Mit diesen letzten Erwägungen soll die Bedeutung der musikalischen Auslegung der Oper für deren politischen Gehalt nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden; doch gilt es, sich die methodologischen Schwierigkeiten der Entschlüsselung eines solchen Gehaltes in der Musik bewusst zu sein.

24 Vgl. Koch, Ein neuer Fidelio, S. 472. Zu dieser Tendenz siehe generell auch den Beitrag von Martin Elste im vorliegenden Band.

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“Poor man’s musique concrete”: Luc Ferrari’s tape music after 1968 On 23 August 2005, the day after Luc Ferrari passed away at the age of 76, his obituary appeared in the newspaper Le Monde. Among other things, the author of the notice remarked that the composer “n’etait pas un auteur connu du grand public”, acknowledging however that his work as a composer of musique concrète “était admiré par beaucoup pour sa singularité, sa poésie, sa variété”. There is a cruel irony in this statement, insofar as Ferrari, like many left-wing artists whose work was radicalized by the events of May 1968, had been very much concerned with transforming the relation between composer and audience. In the years following 1968, Ferrari voiced his desire to change contemporary music from a pursuit reserved for a privileged elite into a practice that acted in the service of the people. Against arguments that the working classes possessed a preternatural antipathy to artistic experimentalism, Ferrari would contend that the fissure between avant-garde and public was more a question of the anti-democratic nature of arts institutions: “[Ich bin]������������������������������������������������������������������������� gar nicht so sicher, daß das Publikum rebellieren würde, wenn man seine Ansprüche generell etwas höher einschätzte. ������������������������������������� Wer sagt denn, daß ein Arbeiter oder ein [sic] Bauer kulturellen Dingen gegenüber nicht aufgeschlossener sein kann als ein Intendant, ein Programmdirektor oder ein Kultusminister? Meine Kontakte mit dem Publikum haben mir jedenfalls gezeigt, daß bei den sogenannten einfachen Leuten ein immenser Respekt vorhanden ist vor jeglicher Art von Arbeit, auch vor künstlerischer Arbeit, auch vor solcher, die sich in scheinbar exzentrischer Form aüßert.” Yet ������������������������������������������������������������������������� the reconciliation between avant-garde and mass audience that Ferrari sought appears to have gone unrealized during his lifetime. While the author of the obituary does not come out and say as much, it would seem that the ‘many’ admirers of Ferrari’s music are drawn from a small coterie of new music aficionados. Meanwhile, beyond the confines of this specialized circle, his music lacks public recognition. Despite his avowed intention to do away with “le mythe bourgeois du 



�������������������������������������������������������������������������������������������������������� “������������������������������������������������������������������������������������������������������� Luc Ferrari was not a composer known to the general public, [but his work] ���������������������������� was admired by many for its singularity, its variety, its poetry” (�������������� Renaud Machart, Luc Ferrari, compositeur de musique électroacoustique, in: Le Monde, 24 August 2005; a������������������������������������������������������������� vailable online at http://www.lemonde.fr/web/article/0,1-0@23382,36-682026,0.html (accessed 1 September 2005)). “[I am] not so sure that the public would rebel if we valued its claims somewhat higher in general. Who can say, then, that a worker or a farmer can’t be as open to cultural matters as an arts manager, a program director, or a culture minister? My contact with the public has shown me on many occasions that an immense respect is present in so-called simple people for any kind of work, even for artistic work, even for that which is expressed in seemingly the most eccentric forms” (Luc Ferrari (interviewed by Hansjörg Pauli), in: Hansjörg Pauli, Für wen komponieren Sie eigentlich?, Frankfurt 1971, pp. 37–59, here p. 44).

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compositeur”, Ferrari is cast in this obituary in the familiar role of the poète maudit, of the genius unrecognized by the public. Although the passing decades may have obscured the social and political aspirations that Ferrari once harbored for his music, recovering this dimension of his artistic enterprise not only offers a more comprehensive understanding of his œuvre (especially of those works composed during his ‘���������������������������������� ����������������������������������� red period������������������������ ’����������������������� , which dated from the mid-1960s to the late 1970s), but also provides some insight into the dynamics that shaped the interaction between musical and political avant-gardes in the late 1960s. In the domain of tape music one can detect a few broad trajectories that Ferrari pursued in the years following 1968, all of which share an interest in the medium’s potential for realism. In works such as Allo ici la terre (1971–1974), Chantal, ou le portrait d’une villageoise (1977–1978) or Algérie 76 (1976–1978), Ferrari exploited tape’s capacity to educate listeners about a variety of social issues: the ecology movement, the everyday concerns and aspirations of women in rural France, and life in post-colonial Algeria. Tape in this instance becomes a vehicle for documentary work. By contrast, a second trajectory in Ferrari’s tape works of this period – of which Presque rien ou le lever du jour au bord de la mer (1967–1970) is the main representative – lacks the explicit topicality of such documentary pieces. The political or social import of a piece such as Presque rien no. 1 – a recording of the sounds of everyday life in the Croatian fishing village of Vela Luka, edited down into a twenty-one minute-long composition – is not immediately apparent. Although many critics regard the piece to be radical in its own right, this radicalism is usually cast in aesthetic terms: the composer’s apparent lack of intervention in the source recordings is seen as breaking with prevailing notions of the work-concept on the one hand, and the acousmatic aesthetic that long dominated the French musique concrète tradition on the other. Although it is hardly a mistake to interpret Presque rien in terms of its aesthetic transgressions, Ferrari’s comments from the period indicate that he had more farreaching ambitions for the work. In liner notes and interviews, Ferrari expressed his hope that the piece might inspire those traditionally excluded from the cultural sphere to make their own tape music. This populist conception of musique concrète may be seen as partaking of a broader tendency within French political activism during the late 1960s, one which saw in people’s untapped creative faculties a potential wellspring of revolutionary energies. By nurturing the dormant creativity of the masses, radicals hoped that the productive and imaginative energies hitherto repressed by the post-war capitalist order would be released, to be channeled into the task of reconstructing social relations. As a pamphlet published during May 1968  



“the bourgeois myth of the composer” (Ferrari in François-Bernard Mâche, Entretien avec Luc Ferrari, in: La Revue musicale, nos. 214–215, 1977, pp. 63–69, here p. 68). Later comments made by Ferrari himself helped discount the political dimension of his work. Already by the late 1970s Ferrari had begun to distance himself from the more overtly political works of the late 1960s and 1970s. ���������������������� For instance, see his Autobiographie, no. 11, 1979, reprinted in Jacqueline Caux, Presque rien avec Luc Ferrari, Paris, 2002, pp. 170–171, here p. 171. In Pierre Schaeffer’s notion of the acousmatic the physical origins of sounds are suppressed in order to focus listeners’ attention on their morphology.

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by the Comité de création permanante, one of the hundreds of small comités d’action that flourished during and after the events, proclaimed: “[t]he only weapon of the individual, and of the group, is creation, permanent contesting spontaneity. Only pure creation is subversive, and cannot be absorbed…” Such calls for “permanent” creation soon permeated the French cultural scene, inspiring engaged artists to take up the cause of stimulating participation in artistic work. Indeed, the influence of this line of thought is evinced in Ferrari’s theater works from the 1960s on: in works like Société V: Participation or non-participation (1967–1969) or Tautologos III (1969), the emphasis on audience participation seeks to render art into something that “belongs to everybody, and is the action of everybody.” Nonetheless, the portable tape recorder offered novel prospects for stimulating amateur music-making. In imagining the new horizons of cultural action that tape music in particular opened up, Ferrari took photography as a model for his endeavors, describing pieces like Presque rien as “Hörbilder” or as “elektroakustische Naturfotografien”. Such references were scarcely neutral. While much of their force lay in the fact that they highlighted objective similarities between technologies of visual and sonic reproduction, no less salient were the particular social and political connotations that photography possessed in France during the 1960s. In attempting to navigate a third way between a high culture seen to be compromised by the elitist nature of its institutions, and a popular culture no less compromised by its complicity with the culture industry, Ferrari hit upon what may be described as the artistic equivalent of self-management (autogestion) – to use a notion popular in France in the years around 1968 – whereby people might seize control of the means of cultural production. As I hope to show over the course of this essay, Ferrari’s work with tape during the post-68 period should be located within a broader network of practices and ideologies, all clustered around the central notion of cultural democracy. Within this network, technologies such as the portable camera and tape recorder occupied a privileged position,10 representing tools that not only might be put to use for the people (as in Ferrari’s documentary works), but that could serve as the means by which the voice of the people may be heard – the means, in other words, through which their latent creative impulses might be realized. In an interview conducted with Hansjörg Pauli around the time he was completing Presque rien, Ferrari describes the piece as initiating a new direction in his compo   

Reprinted in Alfred Willener, The Action-Image of Society, London 1970, p. 313. Ferrari, Tautologos III, Celle 1970, p. 4. Respectively, “sound ���������������������������������������������������������� picture” and “electroacoustic nature photography” (Luc Ferrari, p. 49 and p. 58). For general overviews of the cultural democracy movements in France during the post-war period, see Pierre Gaudibert, Action culturelle: intégration et/ou subversion, Paris 1972; and Brian Rigby, Popular Culture in Modern France: A Study of Cultural Discourse, London 1991. 10 The classic study of the social status of photography in France during the 1960s is Pierre Bourdieu’s Un art moyen, Paris 1965; trans. as Photography: A Middle-brow Art, trans. by Shaun Whiteside, Stanford 1990. There is no comparable study regarding the social uses of portable tape recorders, perhaps because of the relative novelty of the technology; see however Paul Beaud and Alfred Willener, Musique et vie quotidienne: essai de sociologie d’une nouvelle culture, Paris 1973, pp. 64–65, for a brief discussion of amateur tape music practices.

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sitional work. At this point, the phrase “presque rien” does not refer to a particular work, but describes an entire category of compositions. The pieces belonging to this category earn this designation, according to Ferrari, “������������������������������ weil sie entwicklungslos sind und ganz still����������������������������������������������������������������������� ”; a piece will be titled ‘presque rien’ (almost nothing) because over the course of its duration “������������������������������������������������� wirklich fast nichts mehr passiert, musikalisch�� ”.11 Ferrari’s description is apt. In Presque rien no. 1, there is little evidence that the composer has substantially altered the source recordings. The piece begins with the sound of water lapping on the shores of Vela Luka. As the day gets underway noises start to populate the soundscape: dogs barking, motorboats in the distance, the footsteps of passers-by, and the sound of voices gradually fill out the listener’s aural field. Cicadas enter around nine minutes into the piece, becoming progressively louder as the piece continues, eventually dominating the soundscape. The climax of the work—its most dramatic and expressly ‘musical’ event—comes around three-quarters of the way through, when a woman begins to sing a folksong. As her voice fades into the distance, all that remains is the sound of the cicadas, signaling the work’s close. To explain his conception of this new genre more vividly, Ferrari draws an analogy with landscape photography. More “reproductions than productions”, such pieces may be thought of as “elektroakustische Naturfotografien – eine Strandlandschaft im Morgengrauen, ein Wintertag im Hochgebirge”.12 He ������������������������ continues by stating that “[s]ie sind für die Schallplatte gedacht; man kann sie sich in seiner Wohnung abspielen, so wie man in seiner Wohnung möglicherweise Fotos oder Bilder an den ��������������������������������������������������������� reference to nature photography makes it clear that Wänden hängen hat”.13 This Presque rien is intended to be frankly realist; much of its pleasure resides in the listener’s capacity to recognize the elements that make up the sonic landscape. In this regard, the piece represents both a continuation and intensification of the use of ‘anecdotal’ sound material inaugurated by an earlier work, Hétérozygote (1964). Such a realist approach to tape music was attractive to Ferrari in part because it circumvented the learned cultural codes needed for the appreciation of much ‘high’ art. That is, the degree to which the adequate perception of art depends on familiarity with a corpus of works and the codes required to decipher them determines the degree to which such art is accessible to a broad public. Ferrari thus rejects Western art music’s privileging of formal abstraction on account of its dependence on the cultivation of its audience and its concomitant distance from the everyday experience of most listeners: “��������������������������������������������������������������� Warum in aller Welt sollten denn die Leute auf die Entwicklung von Thematik, Harmonik und Form achten? Die Bilder und Geschichten sind doch viel wichtiger�� ”�.14 11 “because they are lacking development and [are] completely static, because really almost nothing happens musically” (Ferrari (interviewed by Hansjörg Pauli), �������� p. 58). 12 “electroacoustic nature photographs–a beach landscape in the morning mists, a winter day in the mountaintops” (ibid.). 13 “They are conceived as records; one can play them back in one’s apartment just as one might hang photographs or pictures on the walls” (ibid.). 14 “Why in all the world should people pay attention to the development of themes, harmonies and form? Pictures and stories are far more important” (i������������� bid., p. 47).

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It is here that the implications of Ferrari’s description of Presque rien as “electroacoustic nature photography” begin to unfold. The description first of all positions Presque rien as musique concrète that lives up to the title, being a kind of tape music whose content is truly concrete, its meaning apparent to all. Yet a closer examination of Ferrari’s remarks reveals that he does not treat photography as an undifferentiated practice. Rather, his comments allow one to identify a number of distinct photographic traditions that served as prototypes for his tape music of the late 1960s and 1970s. Besides landscape photography, whose appeal rested in its comprehensibility, Ferrari refers obliquely to the documentary tradition in photography and film at various points in his interview with Pauli. He argues, for instance, that protest works should “nicht bloß Fabeln darstellen” but should rather endeavor to “exakt dokumentieren” the current state of the world.15 What better device than the tape recorder to provide such documentary evidence? It comes as little surprise, then, that during the course of the 1970s Ferrari composed a number of compositions that conformed to this documentary ideal. Of particular interest are works that took the form of an interview or enquête, in which subjects drawn from various marginalized social groups are recorded discussing their attitudes, desires, and wishes.16 One such work is Tuchan: un village no 11350 (1976–1977), which features interviews conducted in a small village in Corbières: “Cette série d’entretiens trace la vie du village. On y parle de l’histoire depuis les Romains et les Cathares, de l’origine du socialisme, de la guerre d’Espagne, du Front populaire, du présent, des loisirs, de l’exode des jeunes, de la viticulture, de la chasse, etc. On y parle aussi de l’avenir de la France”.17 Other documentary works from this period include Journal d’un journaliste amateur (1972), Algérie 1976 no 1–3, and Chantal, ou le portrait d’une villageoise. At first glance it would appear that these two tendencies – landscape and documentary – are antithetical, the latter functional and politically engaged, the former essentially aesthetic and thus politically disengaged, albeit accessible to a broad audience. One element that is particularly sensitive to the push and pull of the landscape/documentary dialectic – and which thus may serve as a gauge of the political posture assumed in a given work – is the human voice. Of the various anecdotal sounds that appear in Ferrari’s tape music of the 1970s, speech stands out as particularly salient. In works that take the form of an enquête, it is not just that the voice becomes the primary source material, but that it is accorded an expressly communicative function, as interlocutors are given the opportunity to voice their attitudes 15 Ibid., p. 54. 16 The enquête is a genre of social survey dating from the 19th century. However it gained a new function in the hands of French Maoists in the 1960s, who used it as a tool for learning directly from the experience of workers. Cf. Kristin Ross, May ’68 and its Afterlives, Chicago 2002, p. 109. 17 “This series of interviews trace the life of the village. We spoke about its history since the time of the Romans and the Cathars, about the beginnings of socialism, the Spanish Civil War, the popular front, about the present, about leisure activities, the exodus of the young, wine-growing, hunting, etc. The future of France is also discussed” (Ferrari, program notes to Tuchan: un village no 11350. A copy of the program from the work’s premiere (at the Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, 11 March 1977) is held in the Ferrari dossier at the Médiathèque Musicale Mahler in Paris).

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concerning social, cultural and political subjects. We may contrast such pieces with those in which the voice is secondary to the exigencies of setting the scene: here the emphasis tilts towards various natural or mechanical sound-sources (the sound of car engines, the wind in the trees, cicadas, airplanes, and so on). Speech is not necessarily absent in such works, but it assumes a different function: it is no longer communicative, but decorative, existing on the same plane of signification (or nonsignification) as other sounds within the total sonic space. It is in this latter tendency that we can see something like the auditory equivalent to ‘spectacularization’ taking shape: instead of directing the listener’s attention to the instrumental element of speech, its social function, Ferrari instead stresses its musicality, its purely sensuous quality. Clearly the title of a work plays a crucial role in orienting the listener’s understanding of the voice’s significance, acting in a manner analogous to a photograph’s caption: thus in Presque rien no. 1 the work’s subtitle, ‘lever du jour au bord de la mer’, orients us to the natural setting of the piece, to its status as a landscape. Contrast this to the title of the later documentary film, Presque rien ou le desir de vivre (1972–1973), whose subtitle orients the audience toward the notion of struggle and thus underlines the status of the documentary’s subjects as agents within a social conflict. While numerous voices may populate the soundscape of Presque rien no. 1, they remain fragmentary and obscure (in addition, the language heard in the piece – Croatian – would most likely be incomprehensible to the French audience for whom Ferrari composed the piece). This musicalization of the voice in Presque rien no. 1 reaches its apotheosis with the entry of the folksong about 16 minutes into the piece, marking the final vocal utterance. The non-significative, ‘musical’ dimension implicit to the voices heard prior to this moment become, in this culminating gesture, explicit.18 Despite the differences between landscape and documentary practices, the two often interpenetrate. First of all, the attempt to depict the reality of a particular social situation involves, at a very basic level, aesthetic decisions. To maximize the credibility of a documentary object – be it a photograph or sound recording – requires that one undertake an act of selection or choice: the choice of what to record in the first place and of what of the latter to keep in the second. As Susan Sontag has observed, “[e]ven when photographers are most concerned with mirroring reality, they are still haunted by tacit imperatives of taste and conscience.”19 In Presque rien no. 1, Ferrari’s apparently realistic depiction of the sounds of everyday life are, in fact, the result of a process of careful selection and montage. Far from simply hanging the microphone out the window and letting the tape roll, Ferrari spliced together numerous recordings so as to depict an ordinary morning in Vela Luka: “dans Presque rien j’ai choisi parmi tous les sons accompagnant chaque matin le lever du

18 This aestheticization of speech may be seen as a retreat on Ferrari’s part, a return to the acousmatic approach of Schaeffer; the crucial difference is that in Ferrari’s anecdotal works the listener will still recognize speech as speech, even if the meaning of the words cannot be comprehended. By contrast, Schaeffer’s concept of the acousmatic – in its orthodox application – demands that the physical origin of sounds be disguised. 19 Susan Sontag, On Photography, New York 1973, p. 6.

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soleil ceux qui revenait toujours, qui étaient vraiment typiques pour moi”.20 Even in expressly documentary works, aesthetic decisions remained crucial for Ferrari. In the program notes to Algérie 76: Reportage sonore no. 1: La revolution agraire, the first of a series of four works composed following a sojourn to Algeria, Ferrari describes how the piece should function first and foremost as “un reportage sur la vie sociale et culturelle du pays”, one that would address a range of topics: “l’agriculture, la construction des villages socialistes, les paysages, l’industrie et la gestion socialiste, l’artisanat, la musique, etc.”.21 But while such a piece appears decidedly functionalist, concerned with imparting to the audience information about another society, Ferrari contends that capturing the ambiance of the place, its particular sonic character, is no less critical: “���������������������������������������������������� Ce travail essaie de donner une information��������� ‘������� symphonique������������������������������������������������������������������������������������ ’����������������������������������������������������������������������������������� à travers une unité de lieu. ����������������������������������������������������� Tous les sons (animaux, insectes, bruits du travail, voix dans le paysage, vent, musiques, etc…) ont été enregistrés sur place et font partie de ce ‘reportage’, au même titre que les conversations avec les paysans.”22 Second, the source recordings themselves may prove mutable, their import is changing according to the context in which they are placed. For instance, fragments of dialogue originally recorded for use in a pair of film documentaries that address the struggle of farmers to eke out a livelihood and safeguard their way of life against the threat of government expropriation of their land (Presque rien ou le désir de –����������������������������������� 19��������������������������������� 73������������������������������� ), reappear in a musical work (Petite symphonie intuitive pour un vivre, 1972������������������������������������ –����������������������������������������������������� 1974������������������������������������������������� ), where the sonorous qualities of the peasants’ paysage de printemps, 1973������������������������������������������������������ accents and dialects seem equally, if not more important, than the content of their speech. So it is that Ferrari states in the notes to a recording of the latter work that “[t]he human language is integrated into the musical texture; the sound of the voice means more than what is really said”.23 But if the social or political value of “sound photography” is contingent on how it is used, then the responsibility for drawing forth such meanings is as much the listener’s as it is the composer’s. In other words, the meanings that inhabit such recordings are not only a function of how the composer edits and arranges them, but depend in addition on whether or not one listens to them in a critical manner. Consider Presque rien no. 1. No doubt one may use the work to imaginatively escape from the reality of one’s surroundings. It is this possibility that led Pauli to wonder whether the piece might simply supply people with “eine Droge” that would help

20 ����� “…in Presque rien I chose from all the sounds that accompany the sunrise each morning those which always came back, which were truly typical for me…” (������� Ferrari, in: Mâche, Entretien, p. 66). 21 “[A] report on the social and cultural life of the country” that addresses “agriculture, the construction of socialist villages, the landscape, industry and socialist management, craftwork, music, etc…” (������� Ferrari, notes to Algérie 76: Reportage sonore no. 1: La révolution agraire). A copy �������������������������������� of the program (from a performance at the Théâtre Recamier in Paris on 6 February 1977) is housed at the Médiathèque Musicale Mahler in Paris. 22 ��������������������������������������������������������������������������������������������������������� “This work tries to provide information in a ‘symphonic’ manner, through the unity of the place. All the sounds (animals, insects, the sounds of work, voices in the landscape, wind, music, etc…) have been recorded on location and participate in this ‘report’, at the same level as the conversations with the peasants” (������� Ferrari, program notes to Algérie 76). 23 Ferrari, liner notes to Acousmatrix 3: Luc Ferrari (BVHAAST CD 9009).

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them close their eyes to “������������������������������ die Finsternis ihres Alltags�� ”.24 ��������������������������� Instead of offering a vicarious respite from everyday life, would it not be better, Pauli asks, to use anecdotal sound as a catalyst for individuals, with the aim of “ihrer Umgebung bewußt zu machen, sie mit dem Kopf auf ihre Kondition zu stoßen, so daß sie beginnnen würde, auf Abhilfe zu sinnen?”25 For ��������� Pauli, the aesthetic pleasure offered by electroacoustic nature photography becomes a potential political liability. But there are other possible functions that Presque rien no. 1 may serve, beyond that of distraction. Another way of approaching the work would hear it as providing a concrete image of an alternative way of life, one that contrasts with the alienation experienced in industrialized nations. In a press release for the Deutsche Grammophon recording of Presque rien no. 1, Ferrari counters the accusation that the piece might induce an uncritical reverie in listeners by claiming that it might instead remind them that “��� il y a autre chose que la ville, cette mer de pierre où les circonstances nous contraignent de vivre�� .”26 As a counter-model to the social order of advanced capitalist nations, the work possesses a utopian dimension that Pauli overlooks. From this perspective, the folk song that we hear at the climax of the piece goes beyond the merely picturesque, since it offers a glimpse of a society in which spontaneous music-making still exists, in which the division of labor has not reached the point where a separate category of professional cultural producers has split off from the rest of the community. It is here that we can locate at least part of Presque rien’s political import: in its ability to convey to listeners that another world is possible. To this point I have considered how Ferrari’s references to different photographic practices influence his approach to the composition of tape music, as well as his conception of how potential audiences might listen to such music. But to fully unpack the meaning of Ferrari’s notion of sound photography one must consider in addition the ways in which different photographic practices were represented in the French social imagination during the 1960s and 70s. In this regard, Ferrari’s oscillation between documentary and landscape models is symptomatic of a broader ambivalence in French cultural criticism of the period, one that alternately valorized the media for their capacity to capture and transmit reality in a seemingly direct fashion, or derogated them for their tendency to reify the world and our experience of it. Within this split the documentary tradition represented the media’s positive aspect, possessing a high degree of political and aesthetic legitimacy. The genre had long been a privileged vehicle for social activism, a reputation burnished in France after May 1968 as various filmmakers and collectives (like the Dziga Vertov Group) began producing documentaries that addressed themes like working class militancy, U.S. imperialism and the war in Vietnam.27 The documentary’s reputation as a particularly effective political instrument was rooted in the perceived capacity of recor24 Luc Ferrari, p. 59. 25 ���������������������������������������������������������������������������������������������������������� “…to make [them] conscious of their surroundings, to bump their heads up against their condition, so that they might begin to think about taking action to improve matters?” (i������������� bid., p. 59). 26 “[T]here is something other than the city, this sea of stones in which circumstances force us to live.” A copy of this press release is held in the Ferrari dossier at the Médiathèque Musicale Mahler in Paris. 27 See Sylvia Harvey, May ‘68 and Film Culture, London 1978, pp. 27–33.

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ding media to reproduce reality in a direct fashion. The ‘indexical’, causal relationship established between reality and its filmic or photographic representation was what granted the documentary its persuasive power. As the film critic André Bazin would argue, “[t]he objective nature of photography confers on it a quality of credibility absent from all other picture-making. In spite of any objections our critical spirit may offer, we are forced to accept as real the existence of the object reproduced, actually re-presented, set before us, that is to say, in time and space.”28 Despite a growing awareness in the 1960s that recording media were not the neutral tools that Bazin imagined them to be – that the meaning of an image was not innate but depended on how it was edited, cropped, put into a sequence, and captioned29 – there was still a lingering belief that the documentary had an unrivalled capacity to disclose a reality either hidden from sight or silenced by existing powers. Indeed, it was tape’s ability to give voice to those long-denied the power of speech – workers, immigrants, peasants – that attracted Ferrari to the enquête. In addition to landscape and documentary photography there is yet another practice to which Ferrari refers in sketching his aspirations for anecdotal music: that of tourist photography. In the liner notes to the 1969 Philips recording of Hétérozygote, he remarks that the use of identifiable source recordings in the piece, subjected to little manipulation, was intended “to pave the way for amateur concrete music much as people take snapshots during vacations.”30 Ferrari echoes this comment in his interview with Pauli; when the latter expresses skepticism as to whether the average person might take him up on his calls to make their own tape music, Ferrari replies: “�������������������������������������������������������������������� Warum nicht? Schließlich ������������������������������������������������������� knipsen sie Urlaubsfotos und drehen Ferienfilme; ebenso gut können sie doch ihre Eindrücke in Hörbildern festhalten”.31 ���� Certain pieces that Ferrari composed at the time – pieces like Hétérozygote, Music Promenade (1964–1969), Presque rien no. 1, and Promenade symphonique (1976– 1978) – may even be seen as exemplars of such sonic tourist photography, each of them providing a record or memento of the composer’s travels in France and abroad. A reviewer in Le Monde apparently sensed this aspect of Ferrari’s anecdotal works, describing Music Promenade as a “[s]orte d’album souvenir”.32 One could say the same of Presque rien no. 1, to the extent that it records the composer’s holiday on the Black Sea in the form of a sonic snapshot. 28 André Bazin, The Ontology of the Photographic Image, in: Classic Essays on Photography, ed. by Alan Trachtenberg, New Haven 1980, pp. 237–244, here p. 241. 29 During the early 1970s received notions of filmic objectivity came under particularly strong fire within specialist journals like Cahiers du cinéma and Cinéthique; see for instance, Jean-Louis Baudry, Effets idéologiques de l’appareil de base, in: Cinéthique, nos. 7–8, 1970; Jean-Pierre Oudart, L’effet de réel, in: Cahiers du cinéma, no. 228, March-April 1971, pp. 19–26; and Jean-Louis Comolli, Technique et idéologie: Caméra, perspective, profondeur de champ, in Cahiers du cinéma, no. 228, March-April 1971, pp. 4–21. For an overview of such critiques, see Jill Forbes, Popular Culture and Cultural Politics in: French Cultural Studies, London 1995, pp. 235–241. 30 Luc Ferrari, liner notes to Hétérozygote/J’ai été coupé (Philips, Prospective 21e siècle 836 885 DSY). 31 �������������������������������������������������������������������������������������������������������� “Why not? After all, people take holiday photos and make vacation films; they could just as well record their impressions in sound-pictures” (Luc Ferrari, p. 49). 32 Louis Dandrel, cited in Premières auditions françaises: Music Promenade, in: Courrier musical de France, no. 29, 1970, pp. 17–18, here p. 18.

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It is not difficult to see why Ferrari would find inspiration for an amateur form of musique concrète in tourist photography. As an existing practice that offered few technical or financial barriers to participation, tourist photography provided him with a model not just in terms of how a recording technology might be exploited profitably by a composer, but also in terms of how the technology itself might be put to use by non-professionals. He thus argues that his “poor man’s musique concrète” should not be taken as an object of veneration, but should be seen more as an instigation for individuals to undertake their own creative work: “Ich wünschte mir, daß die Leute, die meine anekdotischen Stücke hören, nicht in Ehrfurcht und Anbetung erstarren, sondern sich sagen: das kann ich auch”.33 �������������������������������� He adds that “[d]ie elektroakustische Musik, die ich heute mache, läßt sich ohne weiteres mit Ausrüstungen herstellen, die jedem Amateur verfügbar sind”.34 ��������������������������������������� This hope – that the increasing affordability of portable tape machines might stimulate a resurgence of amateur artistic activity – places his endeavors within the broader cultural current described above, where the cultivation of mass creativity is seen to be key to the project of social transformation. �������������������������������������������������������������������� Crucial to this conception is a rejection of specialization. Again, Ferrari’s imagination of amateur musique concrète construes recording technology as a vital tool in the achievement of cultural democracy: “Je ne vois pas comment refuser la qualité de musicien à quiconque et surtout pas à quelqu’un qui travaille Like the handheld camera, the portable tape recorder avec un magnétophone”.35 ����������������������������������������������������� enables the boundary separating artist and non-artist to be overcome. Despite its attraction as an exemplar of cultural democratization, tourist photography was nonetheless saddled with negative associations. The practice was vilified in French cultural criticism of the 1960s, a potent symbol of the banalization of experience that consumer society induced. Among ���������������������������������������� other things, tourist photography was indicted for sucking the plenitude of lived experience dry: “Chausseur d’images, le touriste ne se livre donc … à nul travail d’assimilation ou d’analyse visuelle de la chose à voir; il ne la déchiffre pas, ni même ne la lit comme un livre; il la reconAccording to this line of naît comme un signal et pour ainsi dire sans la ‘voir’”.36 �������������������������� argument tourist photography contaminates visual perception itself, as every sight taken in by the viewer replicates that which is already familiar from books and advertisements. The �������������������������������������������������������������������� landmark sought by the tourist “sera photographiée; allant plus loin, elle ne sera même pas regardé; le cliché sera vu au retour. Le monde devient

33 ��������������������������������������������������������������������������������������������������������� “I myself wish that people who listen to my anecdotal works will not be paralyzed with respect and adoration, but rather should say to themselves: I too can do this” (Luc Ferrari, p. 49). 34 �������������������������������������������������������������������������������������������������� “The electroacoustic music that I make nowadays may be produced without any equipment beyond that available to every amateur” (i������������� bid., p. 49). 35 “I �������������������������������������������������������������������������������������������������������� don’t see how one could refuse the title of musician to anyone, above all to somebody who works with a tape recorder” (F������ errari, in Denys Lemery, Luc Ferrari: Entretien avec un jeune compositeur non-conformiste…, in: Actuel, no. 12, 1970, ����������������������� pp. 14–18, here p. 18). ������� 36 “A �������������������������������������������������������������������������������������������������������������� hunter of images, the tourist thus does not engage in any effort of assimilation or visual analysis of the thing seen; he doesn’t decipher it, nor does he read it like a book; he recognizes it as a signal and [does so] without, so to speak, seeing it” (Olivier ����������������� Burgelin, Le tourisme jugé, in: Communications, no. 10, 1967, p. 69)���������������������� . Olivier Burgelin was an editor and contributor to the journal Communications (a French review devoted to critical research in semiotics, culture and the mass media).

„Poor man‘s musique concrète“

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semblable à l’image qui en a été présentée.”37 The ������������������������������������� tourist photograph is understood in such accounts to be the documentary’s negative image: if documentary photography is privileged because it puts the purportedly direct relation between signifier and signified to positive use in raising social awareness, tourist photography is denounced because it makes us confront the fact that this indexical relation is incapable of fully reproducing lived experience. Rather, that which is reproduced by the photograph, film or recording furnishes a false pretence of presence. Roland Barthes thus describes the photograph as possessing the paradoxical quality of ‘real unreality’, by which he means that “the photograph is never experienced as an illusion, it is in no way a presence”.38 Far from inducing the credibility that Bazin granted it, for Barthes the photographic image offers in place of the ‘here-and-now’ the ‘thereand-then’. And to the extent that the tourist photograph in particular is seen to isolate the ‘view’, the image, from its underlying social context, it may in fact be complicit in the cancerous expansion of the capitalist ethos: the triumph of sign over substance, of exchange-value over use-value, of the past over the present, of the ‘spectacle’ over life. While such critiques cast tourist photography in an irredeemably negative light, it may have been in part this very stigma that drew Ferrari to the practice. For tourist photography was not just a practice that, with the advent of cheap, portable cameras, had become accessible to the mass public. Rather, it was a practice that was positively identified with this public. Indeed, it was as much due to this class coding, this affiliation with the working class and the petit bourgeoisie, that caused this practice to be condemned so stridently by cultural critics. The critique of tourist photography was a performative act, as much a vehicle for marking social boundaries as an analysis of a particular cultural practice. It represented, in other words, a means whereby the critic could mark his or her distance from what, by the mid1960s, had come to be seen as a vulgar activity. It is this identification of tourist photography as a “middlebrow art” – as the title of Pierre Bourdieu’s 1965 study of the social uses of photography would put it – that provided fodder for critiques. Thus, when one of Bourdieu’s interviewees, a lawyer, states that “I bring aesthetic concepts to photography”, concepts which “prevent me from taking simple tourist photographs”,39 the automatic dismissal of an activity seen as “simple” subtly conveys the subject’s spiritual, moral and/or intellectual distance from the crowds that flock to take pictures of the Eiffel Tower. In this regard we can see Ferrari’s embrace of the tourist photograph as no less of a performative gesture, one that symbolically placed his endeavors on the side of the masses. By modeling anecdotal music on a practice widely seen as being middlebrow, Ferrari invests his aesthetic project with a populist dimension. Tourist photography offered something that the documentary tradition, for all its political 37 “The ������������ sight [la vue] […] will be photographed; going further, it will not even be looked at; the snapshot will be seen instead. The world comes to resemble the image that has been presented of it” (Jean Keim, La Photographie et l’homme: sociologie et psychologie de la photographie, Paris 1971, p. 43). 38 Roland Barthes, The Rhetoric of the Image, in: Image–Music–Text, trans. by Stephen Heath, New York, 1977, pp. 32–51, here p. 44. 39 Bourdieu, Photography, p. 65.

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mystique, could not: for whereas the latter is the province of specialists – be they photojournalists, art photographers, celebrated auteurs or professional documentary film-makers – the former is coded as popular, vulgar even, in the etymological sense of the term. Ferrari’s movement back and forth between landscape, tourist and documentary models may thus represent an attempt to tease out the positive associations that these practices possess, as well as disavow their respective drawbacks. While allusions to the documentary tradition invoked the latter’s long-standing association with political and social engagement, they were unable to invoke a comparable tradition of popular, non-specialist participation; the same applies to more highbrow renderings of landscape photography, whose artistic pretensions made it inapt as a standard-bearer for cultural democratization. And while tourist photography embodied the kind of popular creative activity that Ferrari sought to stimulate, the practice nonetheless suffered from the political taint that its reifying and aestheticizing tendencies carried in tow. Ultimately, Ferrari’s oscillation between these various models should not be taken as a flaw, as a reflection of his inability to satisfactorily resolve the contradictory impulses that animated his work after 1968. Rather, the inconsistency that seems to haunt Ferrari’s populist vanguardism (or vanguard populism) is less egregious when one considers that similar contradictions were rife in the movements spawned in the years around May 68. While the most visible antinomy resided in the debate that raged after May concerning the respective merits of spontaneity versus organization, one might also note the tension that existed between the desire among radicals to end specialization on the one hand and the emergence of a quasi-professional cadre of career militants on the other, or the opposition that existed between the mass movement and the more spectacular activities of a few vanguard cells (most notably the situationists). Indeed, it may very well have been the presence of such antagonisms that generated the friction, the energy, that fueled the political and artistic radicalism of the period. Placed in this context, the quixotic or utopian quality of Ferrari’s attempt to found a genuinely popular art-form on the basis of an avant-garde practice is emblematic. For this reason, the utopian and reified moments of a work like Presque rien no. 1 cannot be dissociated, insofar as it is this dual aspect of the piece – being both a vacation snapshot and the image of an alternative way of life – that enables a socially and aesthetically meaningful object to be conjured from almost nothing.

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1968 and New Music in the Netherlands Scholars of Dutch history have noted that “1968, the year of violent student protests in America, Germany and France, was a comparatively quiet year in the Netherlands.” The Paris revolution of May 1968 received much public attention in the Netherlands, but without any comparable immediate consequences. Student activism became a significant force only in 1969. During this year, the occupation of university premises – including in May a five-day long, 600-strong occupation of the University of Amsterdam’s administrative building, the Maagdenhuis – eventually forced significant concessions from the authorities. The spirit of radicalism also spread to creative artists. In June 1969, the Association of Visual Artists occupied the Nachtwachtzaal (the room housing Rembrandt’s Night Watch) in the Amsterdam Rijksmuseum, demanding financial security for artists, and greater involvement in artistic institutions. October saw the disturbance of theatre performances by the socalled Tomato Action-group, who wished to overturn the staid hegemony of the traditional theatres. Finally, in November a group of musicians – including several young composers – joined the fray in a protest at the Amsterdam Concertgebouw, an event that was later to be viewed as “the constituting myth of Dutch musical life”. These confrontations, although energetic and in many instances eventually productive, were also generally restrained and good-humoured, certainly when compared to contemporaneous events in other countries. Why was this? Hans Righart has pointed to several factors: “In the Netherlands there was no powerful politicising and radicalising factor, such as the Vietnam War in the United States, the languageconflict in Belgium or an authoritarian regime such as in France. Our country, above all, knew no tradition of student radicalism comparable to that in Germany and France.”



    

I wish to acknowledge the invaluable research assistance of Jochem Valkenburg (Katholieke Universiteit Leuven).������������� Hans Righart, De eindeloze jaren zestig: geschiedenis van een generatieconflict, Amsterdam 1995, p. 257. See also James Kennedy, Nieuw Babylon in aanbouw: Nederland in de jaren zestig, Amsterdam 1995, p. 169. Kennedy, Nieuw Babylon, pp. 169–172; Righart, De eindeloze jaren zestig, pp. 258–261; Richter Roegholt, Amsterdam na 1900, Amsterdam 1993, pp. 302–303 For a summary, see Kennedy, Nieuw Babylon, p. 137. Peter Peters, Geëmancipeerde arbeiders en dissonanten, in: Mens en melodie 49 (1994), pp. 610–17, p. 610. Righart, De eindeloze jaren zestig, p. 261. Ibid., p. 261.

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But there was an additional explanation for the softened character of the Dutch protests, and their somewhat delayed appearance. For, in Righart’s words, “one could say that, in the Netherlands, ‘May ’68’ had already taken place in ‘June 1966’”. June 1966 had seen the culmination of a series of street demonstrations and violent confrontations with the police, triggered by the anarchist group Provo, whose short-lived existence between 1965 and 1967 transformed the political life of Amsterdam and, arguably, of the country as a whole. 1966 was widely seen as the nation’s rampjaar (crisis-year), and by 1968 some of the social reforms demanded by the post-war generation were already in train. Musicians had played their part in the upheavals of the rampjaar too. In this article, I trace the involvement of avantgarde musicians in the turbulent politics of the Netherlands during these years, from their connections with Provo in the middle of the decade, to the intersection of their activities with the protests of 1969. It will be seen that a defining characteristic of this involvement was a tension – not always noticed by the participants – between the desire to promote musical renewal, and the interest in wider social change. Provo was a loose alliance of young activists who, through a campaign of street protests, mischief-making and witty propagandising, drew together existing seams of anti-authoritarianism to attention-grabbing effect. Towards the middle of the 1960s, dissatisfaction was increasingly widely felt amongst Amsterdammers: a strong anti-bomb movement was gathering momentum; the traditional hold of religion over the organisation of public life seemed increasingly anachronistic; and suspicion was growing about the involvement of many establishment figures and institutions with the wartime occupying forces. From 1962, periodic ‘happenings’ featuring the idiosyncratic performance artist Robert Jasper Grootveld acted as a focus for this social discontent, and drew large audiences. During one of Grootveld’s performances in May 1965, philosophy student and ban-the-bomb activist Roel van Duyn circulated a leaflet announcing the birth of Provo. According to the movement’s first newsletter, Provo regarded “anarchism as the inspirational source of resistance”, and set itself squarely against “capitalism, communism, fascism, bureaucracy, militarism, professionalism, dogmatism, and authoritarianism”.10 Conceiving of themselves as an “urban guerrilla group”,11 Provo activists plotted against the police, mounted social campaigns for public transport and family planning clinics, and coordinated further street happenings. The most dramatic events of the rampjaar began in March 1966, when Provo attempted to disrupt the wedding parade of Princess Beatrix and the German Claus von Amsburg with smoke-bombs, and the police delivered a heavy-handed response. A photograph exhibition held a few days later to chronicle this police aggression sparked more conflict with the authorities. This prepared the ground for a full-scale riot in June, aimed at the offices of the right-wing newspaper De Telegraaf, which had taken a resolutely hostile attitude to the protestors throughout the year.    10 11

Ibid., p. 262. See the chapter heading in ibid., p. 211. Kennedy, Nieuw Babylon gives an overview of these developments. Inside front cover to the first issue of Provo newsletter, Amsterdam 1965. Niek Pas, Imaazje! de verbeelding van Provo (1965–1967), Amsterdam 2003, p. 208.

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The inventiveness and flair of Provo’s self-publicising strengthened their appeal to Amsterdam’s artistic communities, and prominent members of Amsterdam’s radical-intellectual class – including the leading novelist and political essayist Harry Mulisch, the Dutch chess champion Hein Donner, and the young avant-garde composer Peter Schat – soon publicly allied themselves with this gathering political movement. Schat, a former student of Boulez, was widely regarded as the leading composer of his generation, and he was to be a crucial figure in the growing politicisation of musicians as the decade progressed. He enjoyed close relations with Mulisch, whose literary homage to Provo Bericht aan de rattenkoning (Message to the rat-king, 1966) closes with a chapter revolving around Schat’s multi-media theatre piece Labyrint. But he was also acquainted with Roel van Duyn himself. Van Duyn, an “intellectueel pur sang” (to quote Hans Righart),12 had approached Schat in 1964, initially for a discussion about visual art and then for some piano lessons.13 The friendship was to last through to the end of Schat’s life in 2003. In the spring of 1966 Schat leased the basement of his city-centre house to Van Duyn rent-free,14 and it soon became the production centre and printing room for Provo leaflets and newsletters.15 Schat was undoubtedly the most politicised of the generation of Dutch composers that came to maturity during the 1960s. But a sense of dissatisfaction with the institutions and opportunities available for young composers was more broadly felt, and the wider unrest of the period encouraged it to be openly expressed. On 16 March 1966, six days after the royal wedding disturbances, the respected broadsheet Algemeen Handelsblad printed a lengthy “open letter” to the management of the Concertgebouw Orchestra. It was written by Schat and four composer colleagues – Louis Andriessen, Reinbert de Leeuw, Misha Mengelberg and Jan van Vlijmen – all of whom had studied together at the Hague Conservatory in the late fifties. The letter argued that the existing artistic management of the Orchestra was incompetent on the matter of contemporary music, which was consequently marginalised in the Orchestra’s programmes. The composers’ desire was that Amsterdam should be a “leading city in making musical history”, and their solution was simple: the Orchestra should appoint the avant-garde composer Bruno Maderna as associate principal conductor.16 The letter made no mention of Provo or street unrest, but its timing clearly implies that the composers saw the plight of contemporary music as fundamentally consistent with a wider struggle against vested establishment forces. It turned out to be the first shot in a sustained “Maderna campaign”, waged through public meetings and newspaper columns, and culminating in a televised public debate between the composers and senior management figures from the Orchestra.17 12 13 14 15

Righart, De eindeloze jaren zestig, p. 199. Roel van Duyn, interview with the author, 12 July 2005. Ibid. Pas, Imaazje!, pp. 208–209. A photo of Schat’s cellar during the Provo tenancy is reproduced in Virginie Mamadouh, De stad in eigen hand: Provo’s, Kabouters en krakers als stedelijke sociale beweging, Amsterdam 1992, p. 160. 16 Algemeen Handelsblad, 16 March 1966, p. 9. 17 The debate was broadcast live on 14 December 1966.

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In this way, a generation of young composers found themselves swept up in the general tumult of the period. Their music, however, seemed more impervious to the spirit of the times. In an article published in 1966, Schat argued polemically for the value of “anarchy” and “chaos” in negotiating with the heritage of serialism,18 but in compositional terms this translated into intricate aleatoric devices that only added further complexity to his formidable, post-Boulezian scores. Andriessen and Mengelberg, prompted in part by the new vogue for Charles Ives, experimented more confidently with polystylism: orchestral works such as Mengelberg’s Commentary (1965)and Andriessen’s Anachronie I (1967), by juxtaposing classical, avant-garde and ‘light music’ styles, certainly chimed in general terms with the ‘democratising’ mood. But the works of 1966 and 1967 eschewed any explicit connection with the era’s upheavals by means of titles, programmes, or musical material with political associations. The composers justified their compositional preoccupations largely in terms of aesthetic experiment, which, the “open letter” had implied, in itself carried anti-establishment connotations. Interestingly, the most overt musical response to the events of 1966 was written by a composer principally associated with another field altogether: the 22-year old Willem Breuker, who was to become a leading figure in Dutch jazz and improvisation. Breuker made an impact at the 1966 jazz concourse in Loosdrecht with his composition Litany for the 14th of June, 1966, written to commemorate the death of a dock worker during a strike on that day. The piece pitted an eighteen-piece band against a singer declaiming newspaper reports of the event.19 It was only in 1968 that Schat and colleagues began to forge closer connections between their musical production and their political engagement. The decisive event was a visit made early in the year by Schat to the historic Cultural Congress in Havana. He returned to the Netherlands convinced that Castro’s Cuba, in sharp contrast to Soviet Russia, managed both to realise the basic tenets of communism and to cherish artistic experimentation.20 The trip clinched an ideological shift for Schat, from the anarchism of Provo to a broadly communist outlook.21 Future creative projects were now to be indelibly marked by the Cuban experience. An experimental concert scheduled for the end of May and originally planned as a showcase for alternative ways of presenting new music, was transformed into a “politiek-demonstratief experimenteel concert” – to the consternation of the concert’s financiers.22 A substantial programme book for the concert was produced, containing texts by Adorno, Che Guevara, Marcuse and Mao Tse Tung; and Schat’s piece for the concert, On Escalation, was dedicated to the memory of Guevara. Harry Mulisch, who as 18 Peter Schat, Tooi die danseres na de idiooT, in: De Gids 129/1 (1966), pp. 44–48. 19 Jean and Françoise Buzelin, Willem Breuker: Maker van mensenmuziek, trans. by Marco Nakken, Zutphen 1994, p. 18. 20 Lidy van Marissing, “Kunstenaars spelen de rol van hofnar in deze maatschappij“ (interview with Peter Schat, April 1968), in: 28 interviews, Amsterdam 1971, pp. 31–39, p. 33. 21 Schat was the only one of the composers to (briefly) join the Dutch Communist Party – see Tom Rooduijn, Zeven jongens en een ouwe opera, in: Haagse Post, 20 December 1986, p. 107. 22 Not least Arts Minister Marga Klompé: see K.L. Poll, De overheid en de gesubsidieerde revolutie, in: Algemeen Handelsblad, 23 November 1968, p. 17.

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founder and chairman of the Dutch Committee for Solidarity with Cuba had accompanied Schat to Havana, agreed to provide one of the ardent political speeches delivered between the musical premieres. Yet neither Schat nor Mulisch could have predicted the eventual coincidence of the concert with the dramatic événements in Paris, which were to reach their climax in the ten days immediately preceding the politiek-demonstratief concert. Early in May, Mulisch travelled to the French capital, witnessing with pleasure the unfolding of the most celebrated of all 1960s protest movements.23 Schat and Andriessen briefly joined him and saw Sartre address the occupied Odéon Theatre24 – although Andriessen recalls that the trip originally had a strictly musical rationale, namely a concert by Musique Vivante and Diego Masson.25 The Paris connection was in any case good publicity for the Amsterdam concert: rumours now circulated that the Carré Theatre (the venue for the event) was to be occupied following the musical performances. On the evening itself the hall was packed with “revolutionaries, counter-revolutionaries, hippies, career-agitators, Vietnam demonstrators and a good many ordinary music-loving bourgeois”.26 Agitatory literature and posters of Marx, Lenin and Ho Chi Minh were sold at stalls in the interval, and red flags and banners were draped around the hall as the evening progressed.27 The musical part of the evening, however – which comprised three new works by Schat, Andriessen and Mengelberg – seemed somewhat at odds with the expectation of revolutionary uprising. It remained the case, as Schat spelt out in his introduction to the programme book, that as far as the composers were concerned, “music cannot express anything, let alone convey political messages”.28 None of the works made significant concessions to popular taste in their pursuit of new aesthetic territory. Schat’s On Escalation enacts a mini-revolution: the control of the conductor is gradually usurped by six percussionists, who come to lead the other instrumentalists in a ‘led improvisation’. The musical language, however, is uncompromisingly serial, and the ‘improvisation’ remains strictly controlled by detailed notated cues. Andriessen’s Contra Tempus marked a retreat upon the cheerful polystylism of previous works. The piece is a tough exercise in formal proportions and severe block scoring; short quotations from Machaut’s Mass do little to alleviate the work’s thorny harmonic language. Mengelberg’s improbably-title Hello Windyboys, finally, comprises an elaborate game played by two wind quintets, one of which is sealed in a soundproofed chamber and can communicate only through an electronic sound system. The work’s obscure procedures pose an intriguing challenge for the musicians, but are almost entirely impossible to aurally reconstruct. Not surprisingly, 23 24 25 26 27 28

Harry Mulisch and Onno Blom, Mijn getijdenboek 1927–1951; Zijn getijdenboek, Amsterdam 2002, pp. 176–177. Harry Mulisch, De toekomst van gisteren, Amsterdam 1972, p. 218; Louis Andriessen, private communication with the author, 9 November 2004. Louis Andriessen, interview with the author, 4 April 2005. Algemeen Handelsblad, 1 June 1968. Ibid.; Haagse Post, 1 June 1968. Peter Schat, Inleiding, in Muzikale en politieke commentaren en analyses bij een programma van een politiek-demonstratief experimenteel concert, Amsterdam 1968, p. 6.

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then, all three pieces met with restlessness from the audience and, in the case of Hello Windyboys, noisy disturbances. The tension between promoters and public was confirmed at the end of the concert, when Mulisch mounted the stage to advise a peaceful dispersal, and was met with accusations that he was a “salon-revolutionary”.29 Many of those present at the politiek-demonstratief experimenteel concert may have sensed that events in Paris had already taken a decisive turn: a few hours before the concert, Mulisch, for one, heard De Gaulle’s famous radio broadcast announcing new elections, followed by reports of huge pro-Gaullist rallies in the capital.30 If it was not yet clear that the day marked “the end of the sixties”, as Mulisch later described it,31 the events in the French capital are nevertheless likely to have contributed to a general dampening of revolutionary zeal amongst even the most politically committed. Several of the press reporters attending the concert commented on the conspicuous absence of the conviction and urgency that had accompanied the 1966 demonstrations. Yet if 1968 was indeed “a comparatively quiet year” in the Netherlands, unease about international developments – particularly in south-east Asia – was increasingly widely felt. The government of the day, elected in the immediate wake of the confrontations of 1966, was led by the conservative prime minister Piet de Jong, arguably “the most Atlanticist-minded government leader in post-war Dutch history”.32 De Jong’s administration continued a long-established policy of unwavering Dutch support for NATO, which was widely viewed as a means of ensuring continuing overseas influence for the Netherlands in the face of their dwindling colonial power. This policy was embodied in the figure of Joseph Luns, foreign minister to every successive government since 1952, and something of a hate figure amongst Dutch left-intellectual circles for his “boundless” support of the US, including its policy in Vietnam.33 (Luns later became NATO’s Secretary General.) However, from the end of 1967 the government had to contend with opposition to the Vietnam War from a growing swathe of the Dutch press. By the early months of 1968, newspapers formerly supportive of the United States no longer viewed the intervention in Vietnam “as an unfortunate mishap, but as the result of serious structural shortcomings in American society”.34 Criticism of American “imperialism” became increasingly widespread. In this respect, the most significant musical response to ‘1968’ was not the politiek-demonstratief experimenteel concert, but the large-scale music theatre piece 29 30 31 32

Mulisch, De toekomst van gisteren, p. 220. Ibid. Harry Mulisch, The Discovery of Heaven, trans. by Paul Vincent, London 1996, p. 343. Jan van der Harst, The Netherlands, the Gaullist challenge and the evolving cold war, notes for contribution to Ostpolitik-Westpolitik Conference, Pembroke College, Oxford, 24 September 2004, , p. 1. 33 Rimko van der Maar, Dutch Minister for Foreign Affairs Joseph Luns and the Vietnam War, in: La Guerre du Vietnam et L’Europe, 1963–1975, ed. by Christopher Goscha and Maurice Vaisse, Brussels 2003, pp. 103–16. 34 Rob Kroes, The Great Satan versus the Evil Empire: Anti-Americanism in the Netherlands, in: AntiAmericanism in Europe, ed. by Rob Kroes and Maarten van Rossem, Amsterdam 1986, pp. 37–50, here p. 44. Kroes describes the process of growing disaffection within the Dutch press in some detail.

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Reconstructie (Reconstruction), collaboratively composed by the five composers of the Maderna campaign, to a libretto by Harry Mulisch and the Belgian writer Hugo Claus. The work was commissioned by the Nederlandse Operastichting in January 1968, and the scenario and musical design was sketched in July, during a week-long stay at a rural monastery. It was perhaps inevitable that the team of seven would take as their central theme “the oppression of the many by the few” – and more specifically, that caused by US imperialism.35 Reconstructie presents two interleaved allegories, each “reconstructing” the death of Che Guevara. The first of these allegories involves a group of US businessmen, touring Latin America with their families to survey their investments, but obstructed in their efforts by a guerrilla soldier; one of the businessmen accordingly instructs his murder. The second re-enacts the legend of Don Juan – the “prototype of the imperialist” according to Peter Schat36 – who rapes a girl named Bolivia and then kills her father, the Commander (i.e. Guevara). The Don Juan story prompts a third layer of stage activity, the ‘reconstruction’ by seven workmen of a twelve-foot high statue of Che, which became the abiding icon of the premiere production. At the end of the work this imposing ‘stone guest’ oversees the demise of both the tourists and Don Juan. Musically, the piece comprises one of the most unbuttoned exercises in polystylism of the period: it incorporates cabaret songs, raucous pop numbers, waltzes, national anthems, hymns, Western film music, and countless clever pastiches of various ‘art music’ styles, juxtaposed alongside passages of a more characteristically abrasive and experimental nature. In later years the composers stressed how this de-hierarchising of ‘high’ and ‘low’ resonated with the democratising spirit of the time.37 Yet a closer look at the dramatic function played by the musical allusions demonstrates that hierarchies were in fact very much still in place: almost without exception, the pastiche of popular and historical music is used to accompany the US businessmen and their accomplices, while the more avant-garde styles are reserved for the oppressed Latin Americans.38 It was undoubtedly the entertaining pastiche of the imperialists rather than the music of their victims that led to the work’s considerable public success: Reconstructie was the cause célèbre of the 1969 Holland Festival. History conspired nicely to underline the timeliness of the piece. Two weeks before the premiere, the Nachtwachtzaal at the Rijksmuseum was occupied. A month previously, when rehearsals were well under way, the occupation of the Maagdenhuis had begun. The Maagdenhuis protest prompted an overt gesture of sympathy: on learning of the forcible removal of the protestors by the police, the Reconstructie team promptly decided to accept the court summons notices handed to the ejected students as tickets for the performances. This plan was quashed by the Holland Festival, whose insurers threatened to withdraw, fearing an uncontrollable student 35 Nieuwe Rotterdamse Courant, 12 June 1969. 36 Schat, cited in Pharetra, 23 May 1969. 37 See, for instance, Louis Andriessen, The Art of Stealing Time: Collected Writings, Todmorden, 2002, p. 39. 38 For a detailed appraisal of this aspect of Reconstructie, see Robert Adlington, “A sort of guerrilla”: Che at the Opera, in: Cambridge Opera Journal, forthcoming 2007.

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invasion.39 However, as a concession one-hundred free tickets were made available for each performance; in addition, conservatoires, arts colleges and universities throughout the country were invited to request tickets for the general rehearsal, and they did so in large numbers.40 Press reports of the premiere at the Carré Theatre noted the presence of an unusual number of “longhaired layabouts”41 mingling amongst the respectable “burgerlijk”. The authors of Reconstructie were keen to liken their collaborative efforts to ‘guerrilla’ strategy,42 underlying the extent to which they identified with the liberatory struggles both in Latin America and at home. In November, four of the five composers resorted to direct action themselves, in the form of the so-called Nutcracker protest at the Concertgebouw.43 The event, which involved the disturbance of a Concertgebouw Orchestra concert, was the first in a series of interventions in which peaceful discussion and debate were set aside in favour of actual disruption of the Orchestra’s activities.44 Yet by this time, the value of the composers’ activities as contributions to the social struggle was being publicly cast into doubt. Newspaper critics had commented on the high-spirited parody and slapstick dominating many scenes in Reconstructie: “more hilarity than morality”, remarked the Trouw.45 This humorous quality – evident also in the means of disruption deployed at the Nutcracker protest, namely small toy clickers shaped like frogs – could be linked to the playful tactics favoured by Provo. Yet, as the Dutch communist newspaper De Waarheid quickly pointed out, it also risked fatally undermining the seriousness of the work’s “anti-imperialist” message.46 Dutch communist circles had already identified this as a fatal flaw of Provo itself.47 The most biting condemnation of Provo from this point of view was, paradoxically, written by a colleague of the Reconstructie composers, the German composer and critical theorist Konrad Boehmer, who had been resident in Amsterdam since 1967 and had helped to assemble the programme booklet for the politiek-demonstratief experimenteel concert. His article, initially published in German in 1969, condemned Provo for its “utopian-imaginary mysticism” and its lack of theoretical rigour.48 In the same year Boehmer wrote two polite but reserved articles about Reconstructie.49 An invitation to Boehmer to participate 39 Peter Schat, draft for an unpublished autobiography, contained in the Peter Schat archive. 40 Letters of invitation and some of the replies are kept in the Nederlandse Operastichting archive, housed at the Theater Instituut Nederland in Amsterdam. 41 De Tijd, 1 July 1969. 42 See interviews with the composers in Algemeen Handelsblad, 21 September 1968; De Volkskrant, 12 April 1969; Pharetra, 23 May 1969. 43 Jan van Vlijmen did not participate. 44 A full account is given in Jacqueline Mineur, Actie notenkraker: componisten tegen het Concertgebouworkest (1989), unpublished dissertation, Rijksmuseum Utrecht. 45 Trouw, 30 June 1969. 46 De Waarheid, 30 June 1969. 47 Mamadouh, De stad in eigen hand, p. 63. 48 Konrad Boehmer and Ton Regtien, Provo – Modell oder Anekdote, in: Kursbuch 19, December 1969, pp. 129–150. ������� Boehmer now states that this article was written by him alone, following long discussions with Regtien, a radical student leader (interview with the author, 2 April 2005). 49 Het woord bleef te dicht bij de daad, in: Vrij Nederland, 5 July 1969, p. 7; Kanttekeningen bij een recon-

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in a sequel to Reconstructie ended in greater acrimony, when he dismissed as “nonsense” the increasingly outlandish proposals put forward by Mulisch and Schat. (One was for a piece entitled Operatie, to be set inside Beethoven’s cranium.50) From Boehmer’s broadly Maoist perspective, the Reconstructie team “seemed to be horrible amateurs”.51 Schat and Andriessen had come into conflict with other politically engaged composers earlier in 1969. Seven days before the first performance of Reconstructie, the Dutch premiere of Stockhausen’s Stimmung at the Concertgebouw was interrupted by noisy disturbances from the audience. The performers were brought to a premature halt, and Stockhausen stormed from the hall in a furious rage. He later commented on the event in his conversations with Jonathan Cott: “some people in the hall started a comic imitation, making similar sounds to those of the singers, then meowing or barking like cats and dogs […] concentration became quite impossible.”52 Prominent amongst the protestors, and one of the first to mount the Concertgebouw stage for the impromptu discussion that followed Stockhausen’s departure, was the 23-year old Dirk Dekker, at the time a student of the leading Dutch composer Ton de Leeuw. Dekker claimed his intention had been merely to ‘participate’ in Stockhausen’s work; he described the German composer’s objection to this uninvited participation as “authoritarian”.53 Schat and Andriessen joined the debate, but took a markedly different view. Peter Schat found Stockhausen’s music “offensive”, but defended its right to be performed in silence. Without this, Schat argued, it would be impossible to recognise if the piece represented “a development in music”. Louis Andriessen was more direct: he berated the audience with an impassioned cry of “shame, Amsterdam!”. The Reconstructie composers’ continuing commitment to a narrative of aesthetic progress (by which measure Stockhausen’s music ought to be judged) here brought them into conflict with activist musicians a few years younger than themselves, for whom ‘the new’ held no appeal if it meant persisting with an ingrained, highly regimented model of musical practice. From the latter perspective, striving (as the Nutcracker protests continued to do) for managerial reform of the Concertgebouw Orchestra, fell some way short of addressing the real problem – which was the way in which the very existence of powerful musical institutions like the orchestras promoted a highly professionalised and thus excluding ideal of musicmaking. To some, the Reconstructie composers, now regular recipients of institutional subsidies (amounting to half a million guilders in the case of Reconstructie),54 may already have seemed a part of this inflexible establishment. This was certainly the opinion of a group of musicians working in The Hague, who were later to have an impact on Andriessen in particular. In 1969 the composer Dick Raaijmakers – a pioneer of electronic music, and since 1966 the first lecturer in electronic music at

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structie, in: De Gids 132/8 (1969), pp. 184–188. The synopsis for Operatie can be found in the Peter Schat archive. Interview with the author, 4 April 2005. Jonathan Cott, Stockhausen: Conversations with the Composer, London, 1974, p. 102. De Tijd, 23 June 1969. All the following quotations come from this source. Elsevier, 14 June 1969, p. 92.

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the Royal Conservatory of the Hague – founded an electro-instrumental improvisation group called Het Leven (Life). According to Raaijmakers, “the most important aim of this group was to elevate the relationship between modern electro-acoustics, electro-technology and music to a point of social, political as well as compositorial discussion.”55 The point of departure for Het Leven’s music-making was two-fold: a collective approach to composition, and an abandonment of the concert-hall. Both implied a profound rethinking of the interrelation of composer, performer and listener, and sometimes the merging of all three. This is the case in Raaijmaker’s reductively conceptual De lange mars (The Long March) (1971), for instance, in which individual notes drawn from Chinese militant songs are passed laboriously, one by one, between eight home-made ‘Chinese violins’; the pace of this process is left to the discretion of the performers, whose arduous toil forms the focus of the piece. Some of the composers involved in Het Leven, including Gilius van Bergeijk and Victor Wennink, made clear to Andriessen their view that the “quasi-left épater le bourgeois” pose of Reconstructie was “completely unpolitical”.56 Andriessen declared himself to have been “enormously influenced” by his discussions with Het Leven. By 1972 he was expressing his own dissatisfaction with the unchanged working relations that underpinned the ostensibly radical Reconstructie.57 These differences of opinion amongst engaged composers reflected part of a wider awareness amongst Dutch radicals at the very end of the decade that the “ludiek approach had no future”.58 As James Kennedy puts it, the authorities had “learnt to smile”, and the 1970s would consequently “bear witness to grimmer and more intense forms of political protest”.59 In the musical world a comparable shift of focus was evident at the start of the new decade. Instead of railing against existing institutions, energies were increasingly directed towards establishing new organisations intended to promote alternative approaches to music-making. In March 1970, a group of over seventy composers, musicians, musicologists and music students called a meeting at the experimental theatre De Brakke Grond to “formulate an action programme” for “a radical and democratic renewal of musical life”.60 The agenda focused on “concrete alternatives”, and the principal outcome of the meeting was the establishment of the Beweging voor de Vernieuwing van de Muziekpraktijk (Movement for the Renewal of Musical Practice).61 BEVEM was a kind of thinktank which issued reports on various aspects of Dutch musical life. One of the most influential was the “Plan for Ensembles”, which argued for a “new definition of the concept of chamber music”, one that would embrace unconventional groups of mu55 Raaijmakers, cited in The complete tape music of Dick Raaijmakers: a guidebook, Amsterdam, 1998, pp. 118–122. 56 Andriessen, cited in Martin Schouten, Hoe de zestigers de Nederlandse muziek uit de droom hielpen, in: Haagse Post, 3 November 1973, pp. 56–66, here p. 65. 57 Louis Andriessen, Brief history of De Volharding, in: The Art of Stealing Time, ed. by Mirjam Zegers, trans. by Clare Yates, Todmorden 2002, pp. 128–36, here p. 129. 58 Kennedy, Nieuw Babylon, p. 144. 59 Ibid. 60 Peters, Geëmancipeerde arbeiders en dissonanten, p. 614. 61 More details on BEVEM are given in Mineur, Actie notenkraker, p. 58 ff.

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sicians “formed more or less peripatetically”.62 In 1972 Schat and Andriessen themselves followed this model, by forming their own portable ensembles, the Amsterdam Electric Circus and the Orkest de Volharding respectively. The shift in attitude to performance practice was accompanied by a belated rapprochement with the music of the streets. Schat’s 1972 work To You, for nine guitars, electric keyboards and voice, was initially conceived for performance by ‘the unregulated gypsies of the street’63 – i.e., the guitar-playing hippies that took up residence in the squares and parks of Amsterdam during the summer months. Andriessen’s De Volharding (1972), meanwhile, whose first performance launched the group of the same name, couched its negotiations with American minimalism and big band jazz in the angry rhetoric of workers’ protest music. The events of the late sixties thus laid the foundation for the ensemble culture for which the Netherlands is renowned today.64 Many of the numerous new ensembles created in the seventies were managed by the performers, and increased governmental subsidies improved their standard of living. In this way, musicians themselves were amongst the principal beneficiaries of the musical democratisation at which composers aimed in the aftermath of 1968. The extent to which audiences felt a comparable democratisation is a more complex question. De Volharding sought to establish a distinctly new relationship with its public, performing in cafés, community halls and at outdoor events, and encouraging listeners to engage in discussion after the performances. The manifestos of De Volharding signalled a concession that “the quality of pure aesthetic research can be gauged only through social application”65 – that, in other words, the avant-garde imperative of musical progress, which had remained an item of faith through the late sixties, no longer held value independently of questions of social effectiveness. Nonetheless, part and parcel of De Volharding’s approach was the passing of “critical comment on prevailing [i.e. popular] musical forms and musical practices”. This reluctance to cater unconditionally for the existing tastes of their target audiences signalled that aesthetic considerations remained very much in play – considerations about which De Volharding’s untutored listeners were often predictably indifferent.66 The underlying didacticism of the desire to “develop” audiences67 tended paradoxically to present a further impediment to the eradication of the gulf between new music and a wide public. Of greater long-term significance to listeners was the way in which groups such as De Volharding and the Electric Circus were to cement the dismantling of compositional purism that had been initiated by the polystylistic works of the late sixties. The in62 Cited in Rudy Koopmans, On music and politics: activism of five Dutch composers, in: Key Notes 4 (1976), pp. 19–36, here p. 26. 63 Peter Schat, unpublished letter to Jo Elsendoorn, November 1970; contained in the Peter Schat archive. 64 For a comprehensive account of this ensemble culture, see Ssst! Nieuwe ensembles voor nieuwe muziek, ed. by Elmer Schönberger et al, Amsterdam 1996. 65 De Volharding brochure, cited in Koopmans, On music and politics, p. 27. 66 Revealing first-hand accounts of some poorly attended De Volharding concerts are contained in Schouten, Louis Andriessen en zijn rode kapel. 67 This aspect of De Volharding shows the influence of Hanns Eisler: see Robert Adlington, Louis Andriessen, Hanns Eisler and the Lehrstück, in: Journal of Musicology 21/3 (2004), pp. 381–417.

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corporation of elements of popular music suited emerging groups within the Netherlands’ substantial population of high-culture consumers in the decades following 1968, particularly younger listeners with broader frames of cultural reference. This ‘new’ audience for contemporary music, however, continued to possess traditional markers of social distinction, notably a high level of musical training and educational achievement.68 The Reconstructie composers, meanwhile, embarked on their own “long march through the institutions” (to borrow a phrase from Rudi Dutschke’s legendary address to the 1968 International Congress on Vietnam),69 gaining prominent positions in performing groups, educational institutions and governmental agencies. By the 1990s, this “new elite” was being attacked by younger composers angry about perceived cliquism, unaccountability, and aesthetic inflexibility,70 just as the soixante-huitards who had risen to political power in parts of Europe were the focus of increasing criticism. Nonetheless, the progress secured in the immediate wake of the sixties – progress conceived precisely in terms of the “counterinstitutions and liberated zones” envisioned by Dutschke71 – had a lasting and transformative impact on Dutch musical life, even as the bolder ambitions of 1968 lay largely unrealised.

68 Cas Smithuijsen, Hoorspel: Luisteraars van hedendaagse muziek onderzocht, in: Ssst!, ed. by Schönberger et al., pp. 164–95. 69 Cited in Michael Watts, 1968 and all that…, in: Progress in Human Geography 25/2 (2001), pp. 157–188, p. 167. 70 Bas van Putten, De opstand tegen het machtsimperium van de ex-Notenkrakers, in: Vrij Nederland (17 February 1996), pp. 23–28. 71 Watts, 1968 and all that…, p. 167. Watts paraphrases Dutschke.

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Hans Werner Henzes Bassariden im Kontext der achtundsechziger Bewegung Hans Werner Henzes Bassariden, ein Auftragswerk für die Salzburger Festspiele 1966, markieren in der Musikgeschichtsschreibung bisher die Grenze zwischen der so genannten zweiten (vor 1966) und der dritten Schaffensphase (nach 1966) in Henzes Werk; die dritte Phase nach 1966 zeichnet sich vor allem durch Henzes gesteigertes Maß an politischem Engagement in Leben und Werk aus. Für Wolfram Schottler etwa sind Henzes Versuche, „mehr engagierte Sujets statt rein ästhetisierende zu schaffen“ für die Phase nach 1966 charakteristisch, jetzt werde von Henze „Musik [...] im Gegensatz zu seinem früheren Elfenbeinturm als ‚nolens volens politisch’ betrachtet.“ Hat diese Einteilung in die unterschiedlichen Lebens- und Werkphasen auf verschiedensten Ebenen ihre Berechtigung – etwa im Hinblick auf die veränderte kompositorische Sprache und Formenwahl Henzes nach 1966 –, so ist dennoch das Bild der ersten Schaffensphase als ein Verharren im „Elfenbeinturm“ mit rein „ästhetisierenden Sujets“ im Gegensatz zu „engagierten Sujets“ nach 1966 zu korrigieren. Fast alle Opern vor 1966 sind in verschiedenem Maße gesellschaftlich engagierte und als Gesellschaftsstücke auch immanent politische Werke. Schon der 1960 uraufgeführte Prinz von Homburg in Zusammenarbeit mit Ingeborg Bachmann war durch die Kleistsche Stoffvorlage um 1960 ein Politikum, da Prinz Friedrich von Homburg vor allem im Wilhelminismus und der Zeit des Nationalsozialismus politischem Missbrauch ausgesetzt war. Bachmann und Henze wurden durch ihre Akzentverschiebung vom Militärischen zum Humanen im Prinz von Homburg  

Zuerst bei Peter Petersen, Hans Werner Henze, ein politischer Musiker, Hamburg 1988, S. 14. Wolfram Schottler, Die Bassariden von Hans Werner Henze, Trier 1992, S. 12. Auf Schottlers aufschlussreiche Dissertation stützen sich Teile der folgenden Erläuterungen; zu den Bassariden siehe auch Karen Achberger, Literatur als Libretto – das deutsche Opernbuch seit 1945, Heidelberg 1980, S. 60–66, Peter Andraschke, Zur Wirkungsgeschichte der Antike nach dem zweiten Weltkrieg. Hans Werner Henzes „Bassariden“, in: Der Komponist Hans Werner Henze, hrsg. von Dieter Rexroth, Mainz et al. 1986, S. 122–131, Albrecht Puhlmann, Zerrissen und Zerreißungsmächtig. Zur Aktualität der ‚Bassariden’ von Hans-Werner Henze, in: Musiktheater im 20. Jahrhundert (Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 10), Laaber 1988, S. 205–213; Wolf-Daniel Hartwich, Iconoclasm on the 20th century musical stage (Schönberg, Henze and Glass), in: Representation in Religion, Festschrift Moshe Barasch, hrsg. von Jan Assmann und Albert I. Baumgarten, Leiden et al. 2000, S. 331–345. Zitiert wird nach dem Textbuch Die Bassariden. Musikdrama in einem Akt von Wystan Hugh Auden und Chester Kallman. Musik von Hans Werner Henze. Textbuch. Mainz, revidierte Fassung, 1992 und der Partitur Die Bassariden. Musikdrama in einem Akt von Wystan Hugh Auden und Chester Kallman. Musik von Hans Werner Henze. Partitur. Mainz, revidierte Fassung, 1992. Alle nicht gesondert gekennzeichneten Gespräche mit Henze stammen aus Hans Werner Henze, Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955-1984, hrsg. von Jens Brockmeier, München 21984, im Weiteren zitiert als MuP.

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der spezifischen Rezeptionssituation um 1960 gerecht, in der für viele Zuschauer das Kleist-Drama noch mit den verfälschenden Inszenierungen der NS-Zeit im Sinne der Führerideologie verknüpft war. Ist Bachmanns und Henzes Prinz von Homburg im Sinne einer Vergangenheitsbewältigung nach 1945 interpretierbar, so findet in den Bassariden bereits eine Auseinandersetzung mit Themen statt, die um 1968 eine gewichtige Rolle in der Öffentlichkeit spielen sollten. Das Libretto und die Idee zu dem Stoff der Bassariden stammen von W. H. Auden und Chester Kallman; Vorlage sind die Bakchen von Euripides. Die Idee für das Sujet kam von den beiden Librettisten bereits 1961 bei den Proben für die erste gemeinsame Oper, die Elegie für junge Liebende; Henze lernte den Stoff der Bakchen 1962 kennen, das Libretto war im September 1963 bereits vollendet. Die Entstehungszeit des Operntextes liegt damit zeitlich im Rahmen einer allgemeinen „Politisierung der Literatur“ der 1960er Jahre. Die Grundbefindlichkeit, die zur antiautoritären Revolte führte, war lange vor dem „historischen Augenblick [...], den das Jahr 1968 als Chiffre benennt“, nicht nur in intellektuellen Kreisen weit verbreitet; Alfred Andersch bezeichnet später in einem Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger schon den Nonkonformismus der Literatur der 1950er Jahre als „Vorläuferfunktion zur Studentenbewegung.“ In den 1960er Jahren erfolgt schließlich allgemein eine verstärkte künstlerische Auseinandersetzung mit Themen wie Revolution und Verdrängung, die auch in den Bassariden von 1961 bereits verarbeitet werden: Nach Luigi Nonos Intolleranza 1960 wird Peter Weiss’ Die Verfolgung und Ermordung Jean-Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade 1964 in West-Berlin uraufgeführt, und mit Günter Grass’ Die Plebejer proben einen Aufstand (1966) wird schließlich eine Reihe von Dramen eingeleitet, die in den ausgehenden 1960er Jahren aus aktuellem Anlass die Widersprüche revolutionären Handelns zum Thema haben. In den Bassariden selbst geht es um die revolutionäre Übernahme des Thebanischen Königreichs durch die Gottheit Dionysos. Zu Beginn des Werkes steht der gerade neu eingesetzte und junge Thebanische König Pentheus noch an der Spitze des Reiches. Pentheus einerseits und Dionysos andererseits personifizieren von Anfang an gegensätzliche Prinzipien in der Oper: Pentheus, der von seinem Volk distanzierte, grüblerische und asketisch veranlagte Herrscher, verkörpert das ratio 

 





Vgl. hierzu Antje Tumat, Dichterin und Komponist – Ästhetik und Dramaturgie in Ingeborg Bachmanns und Hans Werner Henzes „Prinz von Homburg”, Kassel et. al. 2004, S. 165ff. Vgl. das Kapitel „Politisierung der Literatur (1960-1968)“, in: Ralf Schnell, Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, Stuttgart und Weimar 1993, S. 310–387. Zur Diskussion um eine Datierung des ‚Strukturbruchs’ in den 1950er oder 1960er Jahren siehe Michael Schmidtke, Der Aufbruch der jungen Intelligenz. Die 68er Jahre in der Bundesrepublik und den USA, Frankfurt 2003, S. 13ff. Schnell, Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, S. 314. Alfred Andersch, Hans Magnus Enzensberger. Die Literatur nach dem Tod der Literatur. Ein Gespräch, in: Nach dem Protest, Literatur im Umbruch, hrsg. von W. Martin Lüdtke, Frankfurt/Main 1979, S. 85–102, hier: S. 88. Vgl. von Peter Weiß Gesang vom Lusitanischen Popanz (1967), VietNam Diskurs (1968), Trotzki im Exil (1970), Hölderlin (1972); von Rolf Hochhuth Guerillas (1970); von Hans Magnus Enzensberger Das Verhör von Habana (1970). Zum folgenden vgl. genauer Tumat, Dichterin und Komponist, S. 139ff.

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nale Prinzip. Er wehrt sich gegen die Anerkennung des Gottes Dionysos und versucht dabei, seine Glaubenswahrheit gegen alle Widerstände mit Gewalt durchzusetzen. Dionysos tritt in der Oper zunächst als rauschhafter Befreier auf, der die Thebaner sowohl aus ihrer politischen Unterdrückung erlöst als auch sexuelle und konventionelle, also gesellschaftliche Schranken aller Art öffnet; er stiftet die ehemaligen Bürger Thebens, die zur Masse der Bassariden werden, zur Revolution an. Pentheus kann sein Volk bald nicht einmal mehr mit Folter von der Teilnahme am nächtlichen Dionysos-Kult abhalten, bei dem inzwischen selbst seine Mutter anwesend ist. Schließlich lässt er sich von Dionysos davon überzeugen, sich den Kultort heimlich anzuschauen. Dort wird Pentheus im Rausch-Taumel von den Mänaden unter Anführung seiner eigenen verblendeten Mutter zerrissen – sie glaubt, einen Löwen getötet zu haben. Dionysos übernimmt schließlich die Herrschaft über Theben und verbannt als Tyrann das alte Herrschaftsgeschlecht. Uraufgeführt wurde die Oper im August 1966 bei den Salzburger Festspielen und an der Deutschen Oper Berlin unter der Leitung von Christoph von Dohnanyi, also in einem durchaus konventionellen Aufführungskontext. Die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bewegungen der 1960er Jahre, die in den Protestaktionen von 1968 kulminieren, findet in dieser noch mit eindeutig traditionellen musikalischen Mitteln arbeitenden Oper ausschließlich im Sujet statt: Henze nutzt konventionelle Gesangstechniken, seine Ausdrucksmittel sind an traditioneller musiksprachlicher Gestik orientiert, zudem arbeitet er mit einer großen, klanglichen Farbenreichtum ermöglichenden Besetzung ohne avantgardistische Spieltechniken sowie mit Anklängen an tonale Harmonik.10 Seine Auseinandersetzung mit dem Musikdrama Wagnerscher Prägung und mit den Sinfonien Mahlers haben nach eigener Aussage das „Musikdrama in einem Akt“11 stark beeinflusst.12 Innerhalb dieses traditionellen Rahmens ordnet Henze sein musikalisches Material dem Libretto entsprechend in zwei Welten an: Durch Zuweisung von Intervallstrukturen und Artikulationsarten zu bestimmten Personenkonstellationen und Szenenorten der Handlung nimmt er die im Sujet angelegten Oppositionen auf und interpretiert ihr Kontrastverhältnis in seiner Musik. Das komplexe, beziehungsreiche Libretto spitzt das oppositionale Verhältnis, das Henze musikalisch umsetzt, durch konkrete Anspielungen auf die 1960er Jahre zu. W. H. Auden und Chester Kallman aktualisieren den Mythos der Bakchen, in dem durch Kostümierungsangaben alle Figuren mit verschiedenen Rollenbildern als Ausdruck von Geisteshaltungen verbunden werden. Das Kollektiv der im Befreiungsrausch ihren König zerreißenden Bassariden z.B. ist bei seinen KultveranstalMit der punktuellen Musik nach 1950 war eine grundsätzliche Abkehr von der ‚Sprachlautlichkeit’ der Musik verbunden, d.h. von „der Orientierung an Syntax, Rhythmik, Tonfall und Artikulation der Sprache bzw. ihrer Rhetorik“ (Albrecht von Massow, Atonalität und Sprache, in: Sprache und Musik. Perspektiven einer Beziehung, hrsg. von Albrecht Riethmüller, Laaber 1999, S. 88–100, hier: S. 87). 10 Vgl. Schottler, Die Bassariden, S. 251. 11 So ist das Werk in der revidierten Partitur von 1992 unterschrieben. Henze spricht 1975 noch von „Oper in einem Akt“ (Henze, Komponist als Interpret – Gegen die ‚Material-Disziplin’, in: MuP, S. 244–252, S. 252). 12 Schottler, Die Bassariden, S. 180ff. 

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tungen mit langem Haar, Bärten und Sandalen ausgestattet: „Die Mänaden sind identisch gekleidet: schwarze kurze Röcke, rote Wollstrümpfe, Ballettschuhe, Blusen mit Rehfellmuster, das Haar wie Brigitte Bardot, die Brauen mit Efeu bekränzt. Die Bacchanten sind ebenfalls gleich gekleidet: Sandalen, schmutzige Werktagshosen, Sporthemden mit Rehfellmuster, langes Haar und Bärte.“13 Sie sind „völlig in Trance: summen vor sich hin und singen hin und wieder ein weiches ‚Ayalyalya’“.14 Bei der Deutung dieser Kostümierung scheint bisher kein Zweifel daran, dass es sich hier um eine Anspielung auf die durch unkonventionelle Kleidung in den 1960er Jahren revoltierende Generation handelt; eine Feststellung, die jedoch zumeist unspezifisch und unkommentiert bleibt: „The Bassarids are hippies“15, so der AudenForscher John Fuller. Der Regisseur der Uraufführung Gustav Rudolf Sellner stellt die Bassariden weniger in den Zusammenhang mit der US-amerikanischen Hippiebewegung als vielmehr mit den gewalttätigen Ausschreitungen von jugendlichen Rockmusikfans Mitte der 1960er Jahre: „Wer die Verwüstung der Waldbühne in Berlin während einer Veranstaltung der Rolling Stones miterlebt hat oder davon weiß, dass dort eine Explosion des lange Verdrängten stattfand, der wird die Beziehungen zu den Bassariden begreifen, wenn dort gegen Ende die verwilderten Thebaner in blutiger Kleidung der Beatle-Fans auftreten.“16 Ein weiterer Aspekt, den Auden, Kallman und Henze dem traditionellen Stoff hinzufügen und der die drei Künstler besonders interessiert haben dürfte, war derjenige der psychischen und sexuellen Befreiung – ein Thema, das für Henze und Auden als Homosexuelle in den 1960er Jahren besondere Relevanz hatte17 und das gleichfalls ein zentrales der Achtundsechziger-Generation war. Das vordringliche Interesse der Autoren am Thema dieser Befreiung artikuliert sich konkret im Libretto, das die Handlung des Euripides auf verschiedenen Ebenen ergänzt und verändert.18 Euripides Bakchen erzählen die Geschichte des Demut fordernden Gottes Dionysos und des sich überhebenden Menschen Pentheus, der die Macht des Gottes leugnet. Der dramatische Konflikt findet hier zwischen Menschen und Göttern statt, der unter Hybris leidende Mensch Pentheus wird von einem Gott

��������� Die Bassariden, S. 41. Textbuch Ebd., S. 21. John Fuller, W. H. Auden. A Commentary, Princeton und Oxford 22000, S. 506. Gustav Rudolf Sellner, Zur Uraufführung der Bassariden von H. W. Henze, in: Österreichische Musikzeitschrift 21 (1966), S. 379–380, hier: S. 380. Christopher Innes sieht „the bacchic revellers as contemporary counter-culture youth“ (Christopher Innes, Auden’s plays and dramatic writings, in: The Cambridge compagnion to W. H. Auden, hrsg. von Stan Smith, Cambridge 2004, S. 82–95, hier: S. 92); für Richard DavenportHines “the Maenads resemble Left Bank waifs” (Richard Davenport-Hines, Auden, New York 1995, S. 313); Schottler schreibt unter anderem “Sandalen, schmutzige Werktagshosen, Sporthemden, langes Haar und Bärte sind die Symbole der 1968 gegen die etablierte Gesellschaft aufbegehrenden jungen Generation“ (Schottler, Die Bassariden, S. 131). 17 Der Paragraph 175 des deutschen Strafgesetzbuches, der sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte, wurde erst 1969 und – noch einmal – 1973 reformiert; seitdem waren nur noch homosexuelle Handlungen mit männlichen Jugendlichen unter 18 Jahren strafbar. Aufgehoben wurde der gesamte Paragraph 175 erst im Zuge der Rechtsangleichung mit der ehemaligen DDR 1994. 18 Eine Gegenüberstellung von Vorlage und Libretto findet sich bei Schottler, Die Bassariden, S. 77ff. 13 14 15 16

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mit der Zerreißung durch Mänaden gestraft.19 Auden und Kallman verändern den Konflikt und psychologisieren ihn, indem sie dem Inneren des Pentheus stärkeres Gewicht geben: Pentheus leugnet zwar in der äußeren Handlung auch die Macht des Gottes Dionysos, auf der inneren Handlungsebene negiert er jedoch vor allem seine eigenen Triebbedürfnisse und Phantasien – und damit aus der Sicht einer psychologischen Deutung des Mythos20 den Bereich, dem die Macht des Dionysos eigentlich gilt. Das Libretto ergänzt die Handlungsabfolge des Euripides um Szenen, die den Aspekt der Askese und der Verdrängung von Pentheus’ Wünschen betonen: Bei Auden und Kallman reagiert Pentheus mit einem Keuschheitsgelübde auf die Verführungsgewalt des schönen Dionysos, gleichfalls nimmt das erotisch aufgeladene, quasi-ödipale Verhältnis zu seiner Mutter Agave deutlich mehr Raum ein. Schließlich wird ein Intermezzo eingeführt, in dem Dionysos Pentheus in einem Spiegel seine eigenen verdrängten Phantasien erblicken lässt: In einer obszönen traumatischen Vision verfolgen die Mutter des Pentheus’ und ihre Schwester einen Hauptmann der Wache inmitten von Satyrn auf der Jagd nach Nymphen. Pentheus „windet sich vor Ekel“ über seine eigenen Phantasien: „Hätte ich doch die nackte Tat gesehn, Wunsch und Werbung im Vollzug! Das simple Vieh treibt keinen Scherz mit seiner Brunst – doch dies! Augen lügen nicht!“ Dionysos antwortet: „Sie sehen, was sie wollen“.21 Während in Henzes musikalischer Umsetzung dieser Szene die Bassariden im Hintergrund spöttisch lachen22 und damit gleichsam die eigene Scham des Pentheus thematisieren, folgt seine innere Niederlage: Er entscheidet sich an einer dionysischen Kultveranstaltung in Frauenkleidern23 teilzunehmen, bei der er schließlich von den rasenden Bassariden zerrissen werden wird. Henze abstrahiert die Gegenüberstellungen der Handlung, den Gegensatz der Welten, die Protagonist und Antagonist repräsentieren, im Medium Musik, indem er die Opposition von Hedonismus und Askese direkt in sein musikalisches Material überträgt. Er habe versucht, so Henze im Rückblick, in seiner Partitur „darzustellen, wie das Tonmaterial des Gottes Dionysos langsam, lockend, listig und am Ende auch äußerst gewalttätig die mönchisch keusche Klangwelt des Pentheus zernichtet“.24 Die beiden Klangwelten dienen nur mittelbar der Personencharakteristik, sie sind nicht an die zu ihnen gehörenden Figuren geknüpft, sondern primär an die Wandlungen ihrer – von Henze durchaus ambivalent gedeuteten – Machtbereiche. Die 19 Euripides beginnt sogleich mit einem Prolog des Dionysos, der sich an Pentheus für dessen Hybris rächen will. Pentheus wird somit bereits als der Widersacher des Kultes und als sich den Göttern nicht Unterwerfender eingeführt. 20 Vgl. hierzu Henzes Aussagen zu den Bassariden in einem Gespräch mit Horst Goerges (Henze, Tiefenpsychologie in der Musik, in: MuP, S. 118–122). 21 Textbuch Die Bassariden, S. 31. 22 Partitur Die Bassariden, S. 333. 23 Diese gleichsam transvestitische Kleidung verleiht ihm eine plötzliche innere Freiheit, siehe Schottler, Die Bassariden, S. 119. 24 Hans Werner Henze, Reiselieder mit böhmischen Quinten, Frankfurt/Main 1996, S. 255. Henzes „erlebnismäßiger Schwerpunkt“, so der Komponist lag „in der jahrelangen Vorbereitung zweier musikalischer Welten, der des Pentheus und der des Dionysos, die aufeinander losgelassen werden und schließlich zu einer werden“ (Henze, Tiefenpsychologie in der Musik (1966), in: MuP, S. 118–122, hier: S. 118).

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sinnlich-elegischen und rauschhaften Klangmomente der dionysischen Welt stehen einer Musik, die durch starre Hemmung und Zersplitterung Pentheus’ Welt charakterisiert, gegenüber. Durch die allmähliche Verführung des jungen Königs wandeln sich im Verlauf des Werkes die Klangmomente des Pentheus und der ihm zugeordneten thebanischen Welt und gleichen sich schließlich den dionysischen an. Als Zeichen seiner inneren Selbstaufgabe nach der für ihn tödlichen Entscheidung, am Dionysos-Kult teilzunehmen, singt Pentheus den Gesangspart des Dionysos im dritten Satz unisono mit,25 bevor kurze Zeit später die Regieanweisung lautet: „Die Bühne ist in blutrotes Licht gebadet. Pentheus zögert einen Augenblick, dann ergreift Dionysos seine Hand und führt ihn wie einen Bräutigam unter dem Bogen hindurch, den die Speere der Wachen bilden.“26 Pentheus’ Inneres ist nach dieser möglicherweise optischen homoerotischen Hochzeitsmetapher27 musikalisch gleichsam nicht mehr vorhanden, das Dionysische in ihm hat ihn zur Selbstaufgabe gezwungen und überwältigt. Das Tonmaterial der beiden zentralen Themenkomplexe basiert auf von Henze als „zwölftonartige Modi“28 bezeichneten Tonfolgen, die in der für ihn typischen Weise frei verwendet werden. Sie dienen als Motivmaterial und Intervallbasis für die beiden Klangwelten,29 werden folglich nach außermusikalischen Kriterien, nicht im Sinne einer konsequenten, reihengebundenen Systematik eingesetzt. Für die motivisch-thematische Gestaltung der Oper ist die Intervallstruktur der Reihen wichtig, die Henze horizontal und vertikal einsetzt: Die Zwölftonreihe des Pentheus ist vor allem von Sekunden dominiert.30 Da die Reihenpartikel darüber hinaus oft in sehr weiten Oktavlagen erklingen, in denen große Intervallsprünge wie etwa Duodezimen entstehen, wirkt ihr Gestus anti-elegisch. Pentheus selbst singt zumeist syllabisch-rezitierend, dem dramatischen Sprechgesang angenähert in schlichten unmelodiösen Linien ohne Koloraturen.31 Die Pentheus-Reihe erklingt das erste Mal vollständig bei der Erwähnung seines Namens nicht im Gesang, sondern in der Viola, also einem dunklen Instrument. Die abstrakte Intervallfolge in enger Lage lautet hier:32 kleine Sekunde – kleine Sekunde – Tritonus – große Sekunde – Quart – Tritonus – Quart – kleine Sekunde – große Sekunde – große Terz – Quart. Die Reihe ist also von Chromatik durchsetzt; durch ihren Dissonanzreichtum legt sie Assoziationen wie die des Schmerzhaften nahe. Auch der erste Auftritt des Pentheus verarbeitet die Pentheus-Reihe; seine Gesangs-

25 Partitur Die Bassariden, S. 388, 3. Satz, Takt 205. 26 Textbuch Die Bassariden, S. 35. 27 Schottler deutet diese Szene auch als kultische Verheiratung von Gott und Opfer (Schottler, Die Bassariden, S. 119). 28 Henze, Komponist als Interpret, S. 252. 29 Henzes Skizzen zu den Reihen sind abgedruckt bei Schottler, Die Bassariden, S. 206f. 30 Sie tritt sehr selten vollständig auf und ist im 4. Satz nach Pentheus’ Tod gar nicht mehr zu hören. 31 Schottler, Die Bassariden, S. 220. 32 Die Töne an dieser Stelle lauten: fis – f – e – b – as – es – a – d – des – h – g – c; Partitur Die Bassariden, S. 73, T. 379–381. Zur Pentheus-Reihe vgl. Schottler, Die Bassariden, S. 207. Vgl. hierzu die Reihenskizzen Henzes, abgedruckt ebd., S. 205f.

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Abb. 1 Erster Auftritt des Pentheus, Partitur S. 90, mit freundlicher Genehmigung von Schott Musik International, Mainz

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Abb. 2 Erster Auftritt des Pentheus, Partitur S. 91, mit freundlicher Genehmigung von Schott Musik International, Mainz

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stimme ist aus Partikeln der Krebsumkehrung der Pentheus-Reihe auf h gestaltet (s. Abbildung 1 und 2).33 Ganz anders formt Henze die Reihe der dem entgegen stehenden rauschhaften Welt des Eros-Gottes. Sie entfaltet ihre Wirkkraft sogleich in der ersten Szene, in der der Lockruf des Dionysos „Ayayalya“ ohne Orchesterbegleitung in einem rezitativisch gedehnten Takt, der aus jeglicher metrischen Bindung gelöst, hinter der Bühne hörbar ist. Die ekstatisch springenden Sexten weisen auf ein Charakteristikum der Dionysos-Reihe hin, die – ab dem zweiten „Ayayalya“ mit as1 als erstem Ton – hier exponiert wird und sich neben Sexten durch ihren Reichtum an Terzen auszeichnet.

Abb. 3 Erster Auftritt des Dionysos, Partitur S. 19, mit freundlicher Genehmigung von Schott Musik International, Mainz

Die abstrakte Intervallfolge dieser Reihe in enger Lage lautet:34 große Terz – große Terz – Quart – große Terz – große Sekunde – Tritonus – kleine Terz – große Terz – große Terz – kleine Terz – große Terz. Zum einen entsteht durch die Terzen- und Sextenschichtung in der dionysischen Sphäre ein Klangeindruck, der an tonale Kompositionsweisen erinnert. Desgleichen enthält diese Reihe durch die Folge der großen Terzen zwei übermäßige Dreiklänge, zu Beginn Ton 1-3 und Ton 8-10, von denen beim ersten Erklingen der Reihe der erste abwärts, der zweite aufwärts gerichtet ist. Diese hörbaren übermäßigen Dreiklänge können als musikalische Umsetzung der Unmäßigkeit in einer hedonistischen Welt verstanden werden. Nicht nur die Intervallcharakteristik ist für einen Klangeindruck ausschlaggebend, der dem Überbordenden der dionysischen Sphäre Rechnung trägt: Melismen und Koloraturen, wie schon hier in dem ersten Lockruf des Dionysos, finden sich nur im Gesang der bacchantischen Welt. Dionysos wird zudem von Saiteninstrumenten wie Gitarre, Mandoline und Harfe oder Schlaginstrumenten wie Celesta, Vibraphon, Marimbaphon, Xylophon sowie hohen Holzbläsern mit weichem, pastoralem Klang, etwa dem Horn, begleitet; seine Welt entfaltet eine exotische Klangwirkung.35 Wird nun das musikalische Material der beiden Reihen im Hinblick auf die Prinzipien gedeutet, die in den jeweiligen Welten vertreten werden – Askese und Hedonismus – so zeigt Henzes Gegenüberstellung sowohl in der Materialanordnung 33 Partitur Die Bassariden, S. 90–91, T. 481; Die Umkehrung der Pentheus-Reihe auf h lautet: h – c – des – g – a – d – as – es – e – ges – b – f. Pentheus’ Gesang bei seinem ersten Auftritt beginnt sogleich mit der Krebsumkehrung der Pentheus-Reihe auf h: f – b – ges – e – es – as. 34 Partitur Die Bassariden, S. 19, Takt 103; die Töne lauten an dieser Stelle: as – c – e – h – es – des – g – b – d – fis – a – f. Vgl. Schottler, Die Bassariden, S. 203. 35 Ebd., S. 230. Um den ekstatisch-tänzerischen Kult zum Ausdruck zu bringen, umgibt Dionysos und seine Sphäre weiteres Schlagwerk wie das Glockenspiel, Tomtoms und Bongos; seine Welt entfaltet so eine exotische und sehr abwechslungsreiche Klangwirkung.

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als auch in Artikulation und Instrumentation einerseits eine asketische Welt voller Hemmnis und Schmerz, die untergeht, und andererseits eine dionysische Welt, die reich, sehnsuchtsvoll, überbordend rauschhaft, aber auch hemmungslos gewalttätig und damit destruktiv ist. Henzes oppositionelle Anlage legt es nahe, diese als Ausdruck einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Reflexion darüber zu deuten, zwischen welchen Triebeinschränkungen und -auswüchsen eine Gesellschaft sich bewegen kann. Diese Frage ist in Bezug auf die Musik nicht nur im Sinne einer Vergangenheitsbewältigung als allgemeine Auseinandersetzung mit eskalierenden gesellschaftlichen Umwälzungen deutbar. Das Libretto hingegen konkretisiert diese allgemeine Reflexion in den Bassariden; auch Henzes rückblickend formulierte Deutung seiner Komposition bezieht neben der allgemeinen gesellschaftlichen Reflexion bereits diese Konkretisierung auf die Bewegung „um 1968“ mit ein: „Interessant und modern und uns angehend und eigentlich auch die Jahre um 1968 angehend sind eben die Fragen: ‚Was ist Freiheit, was ist Unfreiheit? Was ist Repression, was ist Revolte, was ist Revolution?’ All das wird eigentlich bei Euripides gezeigt, angedeutet, angeregt.“36 Die Bassariden enthalten also vor allem von Seiten der Librettisten – Auden war 1967, als die Studentenbewegung durch die gewalttätigen Begegnungen mit der Polizei während Demonstrationen zunehmend Aufmerksamkeit vonseiten der Medien erhielt, bereits 60 Jahre alt – eine frühe, bereits auch kritische Auseinandersetzung mit der antiautoritären Revolte, für deren Höhepunkt 1968 steht.37 Damit verbunden sind Themen wie innere Repression und Befreiung, die in der Versinnlichung im musikalischen Material ihren konkreten Ausdruck finden, und die für Henze zur Zeit der Komposition persönlich eine große Rolle spielen. Als ein für ihn wichtiges Buch vor der Komposition der Bassariden nennt er in seinen Erinnerungen Herbert Marcuses positive Utopie Triebstruktur und Gesellschaft: „Türen sprangen auf. Es wurde möglich, sich selbst in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen zu sehen“.38 Marcuse beschreibt in seiner von Marx beeinflussten, an Freud anschließenden psychoanalytisch fundierten Kulturtheorie, wie die Beschränkungen durch das so genannte „Realitätsprinzip“ durch die Repression der menschlichen Triebbedürfnisse überhaupt erst Kultur ermöglicht haben. Zwei mythische Urbilder kontrastiert er miteinander: Dem „Kulturheld[en] der Mühsal“, dem leidenden Prometheus, steht als utopisches Gegenbild einer nichtrepressiven, befreiten Kultur neben Orpheus unter anderem Dionysos gegenüber: „Ihre Imago ist die der Freude und Erfüllung, ist die Stimme, die nicht befiehlt, sondern die singt.“39 Dionysos ist „der Antagonist des Gottes, der die Logik der 36 Henze, Komponist als Interpret, S. 250. 37 Auch Schottler erwähnt am Rande, dass nach bestimmten Deutungsversuchen „die Bassariden Reizthemen des Zeitgeistes der 60er Jahre“ treffen, „indem sie inhaltliche Ansätze der ganz Europa und Amerika erschütternden 68er Bewegung vorausahnen.“ (Schottler, Die Bassariden, S. 124) 38 Henze, Reiselieder mit böhmischen Quinten, S. 251. Siehe auch Henze, Die Schwierigkeit, ein bundesdeutscher Komponist zu sein, in: MuP, S. 300–331, hier: S. 330. Schon 1972 hatte Henze im Gespräch mit Hans-Klaus Jungheinrich darauf verwiesen, dass er seine später für ihn so wichtigen Marxismus-Studien nicht mit Stalin oder Lukács begonnen habe, sondern mit Dutschke und Marcuse (Henze, Musica impura – Musik als Sprache, in: MuP, S. 190–199, hier: S. 196–197). 39 Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, übersetzt

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Herrschaft, das Reich der Vernunft sanktioniert“.40 Im Abschnitt über die „Verwandlung der Sexualität in den Eros“41 beschreibt Marcuse den „Kampf des Einzelnen“ gegen die unterdrückende Kraft der Triebe zunächst als „ein[en] Kampf gegen die objektive Vernunft: Daher würde die Heraufkunft eines nicht-repressiven Realitätsprinzips, das Triebbefreiung mit sich brächte, eine Regression unter die erreichte Stufe zivilisierter Rationalität bedeuten. […] Im Sinne dieser [der gesellschaftlichen] Institutionen ist die Triebbefreiung ein Rückfall in die Barbarei. Aber wenn diese Befreiung nun auf der Höhe der Zivilisation vonstatten ginge, als Folge eines Sieges und keineswegs als Niederlage im Kampf ums Dasein, mit der Unterstützung einer freien Gesellschaft, dann könnte sie sehr andere Resultate erbringen“.42 Im Rahmen utopischer Lösungen durch „nicht-repressive Sublimierungen“ diskutiert Marcuse hier nicht nur den Eros, sondern auch die Kunst. Letztere spielt in seiner Kulturtheorie im Anschluss an Schillers Ästhetische Briefe eine besondere Rolle: Als Ausdruck der Phantasie ist sie frei vom Realitätsprinzip. Einzig in der Kunst kann das Subjekt zwanglos die Anforderungen der Realität mit seinen Triebbedürfnissen verbinden. Viele dieser Fragestellungen scheinen in den Bassariden gespiegelt. Den Grundkonflikt seiner Oper sieht Henze – wieder aus dem Rückblick – in Oppositionen, die auch an Marcuse erinnern: “In den ‚Bassariden’ gibt es als Grundkonflikt die Auseinandersetzung zwischen Repression und gesellschaftlicher Befreiung, auch sexueller Befreiung: die Befreiung des Individuums. [...] Das Ganze könnte gesehen werden […] als rauschhafte Befreiung von Menschen, die sich plötzlich selber entdecken, die den Dionysos in sich entstehen lassen. Auf der anderen Seite ist der Mensch, der diese Freiheitsbewegung in sich unterdrückt, offiziell und in sich selbst, der König von Theben, ein wohlmeinender junger, von modernen Philosophen Griechenlands erzogener Mensch, der zum Opfer seiner unterdrückten Sexualität wird.“43 Schließlich hat Henze die Frage von Repression und Befeiung in veränderter Form bereits zuvor beschäftigt. Die Zwei-Welten-Trennung im kompositorischen Material weist Parallelen zu seinen Opern vor 1966 auf; so ist etwa im Prinzen von Homburg dieselbe musikalische Opposition schon wirksam, um dem intuitiv handelnden, verträumten jungen Prinzen dem zwanghaft selbstbeherrschten und einem gnadenlosen Gesetz verpflichteten Kurfürsten gegenüberzustellen; auch hier ist dem Prinzen die elegisch-sangliche Musik mit tonalen Relikten zu eigen, während der gesetzestreue Kurfürst mit quarten- und quintenreichen Reihen ausgestattet ist; der als Perversion der Staats- und Gesetzeswelt interpretierbare Militärapparat ist in der Kleist-Oper schließlich stellenweise im Klangbild des Serialismus gestaltet.44 In

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von Marianne von Eckardt-Jaffe, Frankfurt 21968, S. 158ff., vgl. Puhlmann, Zerrissen und Zerreißungsmächtig, S. 209. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 160. Ebd, S. 195ff. Ebd., S. 196. Henze, Komponist als Interpret, S. 250. Vgl. Tumat, Dichterin und Komponist, S. 265.

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dieser Zuordnung der Kompositionstechniken zu Personen und Szenentypen lässt sich wiederum Henzes künstlerischer Konflikt mit der Darmstädter Avantgarde und dem Verdikt des Serialismus erkennen, dem er sich hier bereits mit gleichsam „dionysischem Komponieren“ entgegenstellt. Unter Einbezug dieser indirekten musikästhetischen Aussage der sechs Jahre zuvor uraufgeführten Oper gewinnen auch die beiden Klangwelten in den Bassariden eine weitere Dimension: Ihre musikalische Struktur entwickelt sich somit zunächst aus dem persönlichen Bedürfnis des künstlerischen Außenseiters Henze, der in den 1950er und 60er Jahren nie zur ‚eigentlichen’ Avantgarde um Stockhausen, Boulez oder Kagel dazugehörte, nach künstlerischer Befreiung einerseits und des Homosexuellen und damit gesellschaftlichen Außenseiters nach sittlicher Befreiung andererseits. Deshalb kann die Kunst für Henze schließlich die katalytische befreiende Funktion haben, die Marcuse ihr in seiner utopischen Kulturtheorie zugedacht hat.45 Henzes musikalische Umsetzung des Konflikts der Bassariden ist also ursprünglich aus persönlicher Motivation gespeist; im Kontext der achtundsechziger Bewegung gelesen wird die Oper durch die Betonung des Körperaspekts und der psychischen Befreiung sowie das Thema von Revolution und Anarchie allerdings gleichzeitig ein politisch hochaktueller Beitrag zur zeitgeschichtlichen Situation.

45 Marcuses Konkretisierung dieser Kunst als Popularmusik erfolgt erst später, nicht in Triebstruktur und Gesellschaft. Vgl. hierzu den Aufsatz von Steffen A. Schmidt in diesem Band. In diesem Beitrag geht es primär um Henzes Marcuse-Rezeption in Triebstruktur und Gesellschaft.

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Glossolalische Stimmen Politisches Ethos, Selbsterfahrung und Spiel in Dieter Schnebels experimentellen Kompositionen der 1960er und 70er Jahre „Der Inhalt macht’s nicht allein – noch der revolutionärste Satz kann orthodox wirken, wenn der sprachlichen Gestalt die entsprechende Dynamik fehlt.“ Dieser Satz ist Teil von Schnebels Gedenkrede für Adorno, die er am 5. Dezember 1969 in Frankfurt gehalten hat. Schnebel verweist hier auf dynamische Komponenten sprachlicher Interaktion, die häufig wenig Beachtung finden und doch essentiell sind. Insbesondere wenn Sprache nicht nur gelesen wird, sondern erklingt, sind ihre Klangfarben, Dynamik, Melodik sowie unter Umständen visuelle Parameter wie Mimik, Gestik, Raumbewegung und Merkmale der Umgebung wie etwa die Interaktion weiterer Personen in der Nähe am Erleben beteiligt. Eine Analyse, die gerade solche Aspekte der menschlichen Interaktion besonders beachtet, stößt dabei häufig auf essentielle Wirkungsaspekte und Ebenen der Interaktion. Als besonders effektiv erweist sich hier die Praxis „szenischen Verstehens“ im Sinne des psychoanalytischen Sozialforschers Alfred Lorenzer. „Der Analytiker seinerseits benutzt szenisches Verstehen als Instrument, das noch nicht Benennbare, ihm aber in Beschreibungen sinnlich-szenisch Vorgeführte (wie im Theater) zu enträtseln. Er muß sich Szenen vorstellen, muß aus dem Vergleich der Szenen das Verborgene (weil noch nicht Sprachfähige, jedoch szenisch Beschriebene) sich zugänglich machen. In seiner Interpretation verharrt er dabei ausdrücklich im sinnlich-szenisch Vorgestellten. Es geht ja nicht nur um einen Vergleich der Szenen im Sinne von: Das eine Erlebnis ist ‚wie‘ das andere, die gegenwärtige Szene ist ‚wie damals‘, sondern auch, in der Rekonstruktion von Schlüsselerlebnissen und Originalfällen, [...] eine sinnlich-konkrete Rekonstruktion der Konfliktdramatik.“ Die demnach alle Ebenen menschlicher Wahrnehmung umfassende Systematik szenischen Verstehens, auf die hier allerdings nicht näher eingegangen werden kann, wird inzwischen auch durch umfassende Erkenntnisse aus der Hirnforschung gestützt.  �������� Dieter Schnebel, Komposition von Sprache – sprachliche Gestaltung von Musik, in: Adornos Werk (Gedenkrede am 5. Dezember 1969 zum Tod Theodor W. Adornos), in: ders. Denkbare Musik. Schriften 1952–1972, hrsg. von Hans Rudolf Zeller, Köln 1972, S.461–470, hier S. 466.  ���������������� Alfred Lorenzer Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, Frankfurt/Main 1984 (zuerst 1981), S. 163.  � �������������������������������������������������������������������������������������������� Überblicksartige, dennoch detaillierte Ausführungen dazu finden sich in: Simone Heilgendorff, Experimentelle Inszenierung von Sprache und Musik. Vergleichende Analysen zu Dieter Schnebel und John Cage, Freiburg (Reihe Cultura Bd. 16) 2002, S 44–61 inkl. kleinem Glossar S. 60f.

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Die Energie des Irrationalen sowie intuitiver und emotionaler Elemente, vormals als für das Verstehen wenig zuverlässig und wenig ergiebig eingeschätzt, wurde in den 1960er und 70er Jahren nicht nur in der psychoanalytischen Arbeit Lorenzers zusehends ernst genommen und in die Forschung einbezogen. Den Möglichkeiten vielfältiger gegenseitiger Durchdringung individuellen psychischen Erlebens mit jedweden Ausdrucks- und Lebensformen im kollektiven, gesellschaftlichen Umfeld wurde seit den 1960er Jahren in etlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere aber in der Psychologie, verstärkt nachgegangen. Lorenzer entwickelte seine Methodik und Theorie seit den frühen 1960er Jahren am Institut für Sozialforschung in Frankfurt/Main, wo er jahrzehntelang forschte und lehrte. So verwundert es nicht, dass sein Konzept einer psychoanalytischen Kulturforschung den Geist der Frankfurter Schule atmet. Auch Lorenzer sah den Status Quo des ihn umgebenden gesellschaftlichen Lebens nicht mehr als die unumstößliche Instanz an, wonach sich ein Individuum zu richten hat, sondern er ging der Frage nach, worin nicht nur individuelle, sondern vor allem kollektive psychologische Schäden, Neurosen oder Psychosen liegen könnten. An der Aufdeckung und Lösung solcher Deformationen hatte auch die freiheitliche Theologie Interesse, die einst aus der Bewegung der bekennenden Kirche hervorging. Im Umfeld entsprechend gesonnener Gemeinden und Pfarrer wie etwa in der Friedenskirche in Berlin-Dahlem mit Pfarrer Helmut Gollwitzer wurden daher offenkundige psychische Schäden, die sich etwa in Form überkommener Rituale und Verhaltensmuster manifestierten, bewusst in Weisen angegriffen, die nicht nur provozierten, sondern dazu sorgfältig ausgewählte Mittel gezielt einsetzten. Der Theologe, Lehrer, Musiker und Wissenschaftler Schnebel ist in diesem Kontext eine besonders facettenreiche Figur, da er verschiedene wissenschaftliche, pädagogische und künstlerische Tätigkeiten in sich vereinte und zu einer individuellen Durchdringung brachte, die sich wiederum in allen seinen Aktivitäten bis heute ausdrückt. Schnebel verband Zeitgenossenschaft mit der studentischen Protestbewegung der späten 1960er Jahre, in sofern hier wie dort ein Sinn für die insgeheim wirksamen Mechanismen gesellschaftlichen und individuellen Interagierens erwachte und sich gerade in den Wirkungsversuchen der studentischen Protestbewegung aber auch in der experimentellen Kunst vielerorts manifestierte. Es wurde versucht, starre Elemente der kollektiven Erfahrungsstruktur mittels gezielt wirkenden Verhaltens auszuhebeln. Ein in der politischen Debatte oftmals angeführtes, sehr anschauliches Dokument jenes protestierenden Zeitgeists ist die bekannte Rede Peter Schneiders vor der Vollversammlung aller Fakultäten an der Freien Universität in Berlin vom 5. Mai 1967. „Wir sind sachlich gewesen, wir sind gehorsam gewesen, wir sind wirklich unerträglich gewesen. […] Wir haben es dahin kommen lassen, dass sie uns anläss ������������������������������������������������������������������� Eine wichtige erste Buchveröffentlichung dazu ist: Alfred Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse, Frankfurt/Main 1970.  ���������������������������� Gollwitzer unterstützte im Übrigen ���������������������������������������������������������������������������� auch die Studentenbewegung, nicht zuletzt in seiner Eigenschaft als Professor (für Evang. Theologie) an der FU Berlin.. An der Kirche Gollwitzers predigte auch Schnebel in unregelmäßigen Abständen.

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lich eines Sit-Ins, das sich ausdrücklich gegen die unerträgliche Ruhe und Ordnung an dieser Universität richtete, mit einem Hinweis auf Ruhe und Ordnung zu Ruhe und Ordnung zu bringen versuchten. […] Es geht tatsächlich um die Abschaffung von Ruhe und Ordnung, es geht um undemokratisches Verhalten, es geht darum, endlich nicht mehr sachlich zu sein. Wir haben in aller Sachlichkeit über den Krieg in Vietnam informiert, obwohl wir erlebt haben, daß wir die unvorstellbarsten Einzelheiten über die amerikanische Politik in Vietnam zitieren können, ohne daß die Phantasie unserer Nachbarn in Gang gekommen wäre, aber dass wir nur einen Rasen betreten zu brauchen, dessen Betreten verboten ist, um ehrliches, allgemeines und nachhaltiges Grauen zu erregen. […] Wir haben ruhig und ordentlich eine Universitätsreform gefordert, obwohl wir herausgefunden haben, daß wir gegen die Universitätsverfassung reden können, soviel und solange wir wollen, ohne dass sich ein Aktendeckel hebt, aber dass wir nur gegen die baupolizeilichen Bestimmungen zu verstoßen brauchen, um den ganzen Universitätsaufbau ins Wanken zu bringen. Da sind wir auf den Gedanken gekommen, dass wir erst den Rasen zerstören müssen, bevor wir die Lügen über Vietnam zerstören können, daß wir erst die Marschrichtung ändern müssen, bevor wir etwas an den Notstandsgesetzen ändern können, dass wir erst die Hausordnung brechen müssen, bevor wir die Universitätsordnung brechen können. Da haben wir den Einfall gehabt, dass das Betretungsverbot des Rasens, das Änderungsverbot der Marschrichtung, das Veranstaltungsverbot der Baupolizei genau die Verbote sind, mit denen die Herrschenden dafür sorgen, dass die Empörung über die Verbrechen in Vietnam, über die Notstandspsychose, über die vergreiste Universitätsverfassung schön ruhig und wirkungslos bleibt.“ Schneider beschreibt hier konkret, welche kollektiven psychischen Deformationen die Protestierenden vorfanden, aus denen sie dann ihre Mittel des Protests ableiteten, obwohl sie diese fast kindlich-trotzig erscheinenden Wege sonst nicht gewählt hätten. Auffallend ist auch, dass sie die erschreckend simplen Deformationen, die entleerten neurotischen Worthülsen und verselbständigten Verhaltensmuster der damaligen bundesrepublikanischen Gesellschaft erst entdecken konnten, als sie die Möglichkeiten „szenischen Verstehens“ (d.h. umfassenden Wahrnehmens und einer Sensibilisierung für ‚alle‘ Ebenen der Kommunikation) einsetzten, um über das eigentlich sprachlich dominierte Argumentieren hinaus zu kommen und die eigene Einbindung in die kollektiven Interaktionsformen zu reflektieren. Bis dahin erlebten sie mit ihren wiederholten politischen Ermahnungen gewissermaßen jenen  ���������������� Peter Schneider, Wir haben Fehler gemacht (Text der Rede vor der Vollversammlung aller Fakultäten an der Freien Universität Berlin 5. Mai 1967), zitiert nach: http://www.glasnost.de/hist/apo/fehler.html, 19. September 2005. Dem zitierten Abschnitt geht unmittelbar voraus: „Wir haben Fehler gemacht, wir legen ein volles Geständnis ab: Wir sind nachgiebig gewesen, wir sind anpassungsfähig gewesen, wir sind nicht radikal gewesen. […] Wir haben uns zur Feier des Augenblicks von unseren Plätzen erhoben, obwohl uns die Feierlichkeit des Augenblicks nicht bewusst geworden ist. […] Wir haben Seminarsitzungen protokolliert, die nicht zu protokollieren, sondern nur zu kritisieren waren. Wir haben Tatsachen auswendig gelernt, aus denen nicht das mindeste zu lernen war. Wir haben Prüfungen vorbereitet, die nur der Prüfung unseres Gehorsams dienten. Wir sind nervös geworden, wir sind unlustig geworden, wir sind immer schwieriger geworden, wir litten an mangelnder Konzentration, wir konnten nicht einschlafen, wir konnten nicht beischlafen, wir haben uns einmal ausgesprochen. Wir haben uns sagen lassen, wir müssten erst mal mit uns selber fertig werden. Wir sind mit uns selber fertig geworden.“

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von Schnebel beschriebenen Mechanismus des am Mangel einer entsprechenden Dynamik scheiternden revolutionären Ausdrucks und hantierten am Ziel vorbei. Dies ist teilweise erklärbar mit ihrer eigenen Befangenheit in der herrschenden erstarrten kollektiven „Erfahrungsstruktur“, die sie erst aufbrechen mussten mithilfe von Bewusstseinsprozessen, nicht ganz ohne selbst neuen Schaden zu nehmen, indem bisher Gültiges ins Gegenteil verkehrt wurde. Hier sind Deformationen bis hin zum Extremfall der RAF zu verzeichnen, von denen einige heute noch bezüglich der Altachtundsechziger diskutiert werden. Die Aktivitäten der Studentenbewegung sind als Teil einer Entwicklung zu verorten, die alle westlichen Industriestaaten zu verzeichnen haben. Es überrascht daher kaum, dass auch Künstlerinnen und Künstler mit verwandten Ansätzen hantierten. Dies gilt insbesondere für die experimentellen Entwicklungen der 1960er und 70er Jahre, die – wiewohl Teil dieser gesellschaftlichen Umwälzungen – diesen chronologisch in einigen Hinsichten voraus waren. Wesentlich ist, dass Künstlerinnen und Künstler der experimentellen Avantgarde nach Möglichkeiten gesellschaftlicher, lebensweltlicher Wirksamkeit suchten und entgegen traditionellen Vorstellungen den Anspruch politischer Wirksamkeit von Kunst einforderten. Dabei zielte die Stoßrichtung auf ähnliche Mechanismen und Verfestigungen, wie sie im Kontext der Studentenbewegung diagnostiziert wurden. Künstlerisch geschah dies insbesondere durch eine immer radikalere Entgrenzung unter den Künsten und bezüglich des Alltagslebens. In diese Zeit fallen z.B. Joseph Beuys’ Konzept der „sozialen Plastik“, die Fluxusbewegung, die Startphase der Happenings und Environments, John Cages psychologisch-ethisch begründete Ästhetisierung des Zufalls (fortlaufend seit Beginn der 1950er Jahre) usw. Inzwischen sind viele dieser vormals umkämpften Entgrenzungen selbstverständlicher Bestandteil multimedialen künstlerischen Schaffens und/oder multimedialer Alltagskultur. Gerade die experimentellen Tendenzen sorgten in der Musik und später in der Klangkunst bis heute für einen regen internationalen Austausch, was nicht allein durch Neuartigkeit, sondern auch durch ihre mentalitäts- und wirkungsgeschichtlich verwandten Ziele und Haltungen gegen alles Überkommene ausgelöst und vorangetrieben wurde. In der Bundesrepublik Deutschland gab es allerdings eine (mentalitäts-)geschichtlich verankerte besonders konsequente Auseinandersetzung mit dem Herkömmlichen, aus Tradition Überkommenem. Eine solche schien angesichts der Schrecken der jüngsten Vergangenheit vonnöten und führte zu einer expliziteren und dezidierten Kunst. Der mitschwingende Ernst politischer Verantwortung fand im Spielerischen ein geeignetes und kunsttypisches Gegengewicht. Dabei bietet das Spielerische zugleich Schutzraum zum Ausagieren und Erproben von im Alltag nicht lebbarem Verhalten sowie die Möglichkeit, alternative Regelungen und Absprachen  ������������ Vergleiche Schnebel, Komposition von Sprache, S. 466.  ����������� Lorenzer, Das Konzil der Buchhalter, S. 88.  ��������������������������������������������������������������������������������������������������� Die „soziale Plastik“ ist in der Demokratiebewegung zu einem Schlüsselbegriff geworden. Zu Beuys’ Konzept der sozialen Plastik entstand eine rege Rezeptionsgeschichte. Eines der frühesten Bücher zu diesem Thema is Folgendes: Volker Harlan, Rainer Rappmann, Peter Schata Soziale Plastik. Materialien zu Beuys, Achberg 1976.

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zu entwickeln, durchzuführen und zu erproben. Durch Transfers oder die Neuverortung an sich bekannter Interaktionsformen in künstlerisch-musikalischen Ereignissen wirken Effekte des Verfremdens und des Absurden, die vielfach unwillkürlich zu assoziativen Verknüpfungen des künstlerisch Dargebotenen und Neuverorteten mit den alltäglichen Herkunftskontexten führten. Dadurch entsteht allerdings teilweise eine zeitgeschichtliche Gebundenheit des Materials, die es nicht immer erlaubt, dessen vormaligen Stachel des Widerstands mit gleicher oder ähnlicher Wirkung in die Erfahrungsstrukturen späterer Jahrzehnte zu übertragen. So gesehen haben sich die Verhältnisse tatsächlich verändert. Insbesondere in Stücken Schnebels von den späten 1950er bis weit in die 1970er Jahre sind sein sozialkritischer Anspruch und die bewusste Auseinandersetzung mit den Deformationen der jüngeren Vergangenheit omnipräsent. Schnebels Haltung verschärft und konkretisiert sich in dieser Zeit zusehends und koinzidiert letztlich mit einigen Maximen der Achtundsechziger-Bewegung, in der Schnebel einen Teil seiner künstlerischen und wohl auch seiner theologisch-pädagogischen Impulse wiederfand. Schnebels Bedarf nach einer entsprechenden Auseinandersetzung drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass er sein musikalisches Material in Nachbar- und Randgebiete, etwa des Alltagsgeschehens, ausdehnt. Dabei widerfährt der Regelung oder Steuerung zwischenmenschlicher Interaktionen als einem zentralen organisatorischen Aspekt besondere Sorgfalt: etwa wenn er im 1959 entstandenen Konzept glossolalie (Zungenreden) mit 29 paarig angelegten Blättern (14 Paare plus ein Einzelblatt), den so genannten Materialpräparationen die im Alltagsumfeld mitschwingenden Bedeutungszusammenhänge instrumentaler und vokaler Aktionen genau abstimmt und dabei auch die räumliche Bewegung (auf den Präparationen die Raumdirektive (RD, vergleiche Abb. 1) bedenkt. Oder wenn er im Concert sans orchestre (1964) für einen Pianisten und Publikum die Publikumsreaktionen‚ nach denen sich der Musiker richtet, voraus „berechnet“ und damit teilweise ihrer Depraviertheit überführt. Ein zweiter wesentlicher, wohl von Adorno beeinflusster und auch in Lorenzers Systematik virulenter Aspekt in Schnebels experimentellen Stücken ist sein Fokus auf die Entstehungsphasen musikalischer bzw. künstlerischer Ereignisse, also auf die „Produktionsprozesse“10 als Bestandteile der Stücke selbst. Ihr bewusstseinsveränderndes und daher psychologisch wirksames Potential entsteht, weil sie den üblicher Weise auf der Bühne stattfindenden Ereignissen vorgelagert sind und als solche zum Einen nicht den konventionellen Ansprüchen an Kunst genügten und/ oder zum Anderen nicht für einen Transfer in die Öffentlichkeit einer Aufführung bestimmt waren. So werden subversiv, auf basale, allgemein vertraute Interaktionsformen zurückgreifend, Verbindungen zum Alltagsgeschehen geknüpft, machen einige Aspekte bewusst und geben ihnen durch Versetzung in den weit reichend geschützten spielerischen Raum einer Aufführung ästhetische Qualität (die allerdings oft genug angezweifelt wurde). Stücke, die auf derartigen Materialien basieren 10 ������������������������������������������������������������������������������������������������������� Dieser Begriff konnte sich in der Musikforschung für die Beschreibung von Ereignissen etablieren, die den Weg zum vermeintlichen Endprodukt als Teil eines Kunstwerkes vorführen. Vergleiche z.B. Ivanka Stoïanova, Geste –Texte – Musique, o.O. 1978.

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und ihre Prozesshaftigkeit bzw. ihre Beteiligung am künstlerischen Prozess thematisieren, schaffen so unwillkürliche Verbindungen zu Situationen, die sozial und ästhetisch nicht unter dem konventionellen Normbereich künstlerischer Aktivität subsummiert werden. Dabei setzte Schnebel auf die Wirkungsmöglichkeiten seiner Kompositionen, durchaus im Sinne von Lorenzers Kunstkonzept, als einer zentralen Zone kollektiven Lebens. Die doppelt wirksame Weite von Kunst als Schutzraum zwischen noch nicht, nicht mehr oder gar niemals Sagbarem ist mit dem Vorteil eines im unmittelbar materiellen Sinn zwecklosen Daseins, ihrem so gesehen nicht vorhandenen Gebrauchswert gekoppelt.11 In ihren vielfältigen und sorgfältig auf die Sprengung von Überkommenem abgestimmten materiellen Strukturen sind gerade Stücke Schnebels Kulminationsorte szenischen Verstehens und als solche immer noch wirksam. Drei Beispiele aus verschiedenen Schaffensphasen in Schnebels Oeuvre sollen dies im Folgenden konkretisieren: glossolalie (1959), Glossolalie 94 (1994) und Maulwerke (1968–1974). Im Fall des Konzepts glossolalie (1959) wird die spezifische sozialkritisch verankerte Wirksamkeit des Werkes durch eine neue Ausarbeitung des Freiburger Ensemble Recherche von 1994, die Glossolalie 94, bestätigt. Es geht Schnebel um eine emotional und szenisch-musikalisch durchdrungene Bewusstmachung alltäglicher Interaktionsformen, die von den Ausführenden im Prozess der gemeinsamen, möglichst wenig hierarchisierten Erarbeitung und den folgenden szenischen Aufführungen erlangt werden soll. Nicht nur ästhetisch ging die Arbeit des Ensemble Recherche auf, sondern die Mitwirkenden der Glossolalie 94 berichteten noch Jahre später gerne über die wahrnehmungs- und bewusstseinsverändernden (Nach-)Wirkungen.12 Aus den 29 paarig geordneten Blättern der glossolalie, den Materialpräparationen, sei nun das Blatt mit dem Titel „bestätigungen“ exemplarisch ausgewählt.

Abb. 1 D. Schnebel MP „bestätigungen“ aus glossolalie, Manuskript © Paul Sacher Stiftung Basel 11 �������������������� Vergleiche Lorenzer, Konzi, S. 157. 12 ����������������������������������������������������������������������������� Interview der Autorin vom 29. August 1997 in Freiburg (Tonbandaufzeichnung).

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Andere Titel wären etwa dessen Partner-Blatt „folgen“, das MaterialpräparationenPaar „einwände/einwürfe“ und „einverständnisse“, die „impulsationen“ und „extentionen“, „einfälle“, „verbindungen“, „verwicklungen“, „für sich“ und das Einzelblatt „ausbruch“.

Abb. 2 Regieblatt zur Ausarbeitung der MP „bestätigungen“ in Glossolalie 94 (Sprache), Manuskript © Ensemble Recherche Freiburg

Um Schnebels intendiertes Vorgehen zu begreifen, lohnt es sich, durch Sammeln eigener Assoziationen zum Begriff „Bestätigungen“ hinsichtlich Inhalt, Tempo, Satzlängen, Dynamik etc. dessen Bedeutung für sich selbst zu fassen und sie dann mit Schnebels Vorgaben abzugleichen. Außerdem ist ein Abgleich dieser Materialpräparationen (Abb. 1) mit dem Schlussteil der Glossolalie 94 (Abb. 2 und 3) erhellend, der auf „bestätigungen“ basiert. Die Materialcharakteristik MC von „bestätigungen“ liegt im Mittelfeld des gesamten Konzepts, beruht aber wie alle 29 Präparationen auf dem Prinzip deutlicher Wertung. Diese wirkt in allen fünf Parameterfeldern: Materialcharakteristik (MC), Materialindex (MI), Aktionsdirektive (AD),

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Synchronisationsregel (SR) mit Synchronisationsschema (SS), Raumdirektive (RD)). Betrachtet man lediglich ein Einzelbeispiel wie „bestätigungen“ ist dies vor allem in der Kombination der so genannten vokalen (v) und instrumentalen (i) Materialcharakteristik (MC) und der Aktionsdirektive (AD) zu erkennen. Die Materialcharakteristik (MC) sieht vokal „Satzreihen in gängiger Syntax – Clichés aus verschiedenen Bereichen – in mehreren Sprachen, Muttersprache bis nahe Sprachen“ mit der Aktionsdirektive (AD) „Nur Männerstimmen […] pathetische, hymnische, usf. Sprechweise.“ vor. Die Vorgaben für die Instrumente sind ähnlich.

Abb. 3 Regieblatt zur Ausarbeitung der MP „bestätigungen“ in Glossolalie 94 (Musik vom Band), Manuskript © Ensemble Recherche Freiburg

Eine solche Präparation zeitigt Material, dass eine dezidiert kritische Haltung gegenüber demselben dokumentiert, so auch bei der Ausarbeitung der Glossolalie 94. Die akustischen Regeln der Materialpräparation – deren Raumdirektive ist auditiv kaum überprüfbar – werden auf dem dokumentarischen CD-Mitschnitt13 alle eingehalten inklusive der Besetzung mit Männerstimmen. Die Auswahl der Texte zeigt in der Tat Clichés, abgenutzte Zitate aus der öffentlichen Sphäre wie z.B. „We will go the extra mile for“ (mit dem unerwarteten und subversiv provozierenden Schluss „for New Music“ statt des Werbespruchs „Camel Filter“, Abb. 2). Ähnliches gilt für die ‚abgedroschenen‘ Musikbeispiele14 etwa von Eric Clapton oder Gustav Mahler, die den Eindruck von Depraviertheit und Clichéhaftigkeit vermitteln sollen. Dies wird einerseits mittels der Verwendung einer ‚Tonkonserve‘, also eines ‚wohlrenommierten Instruments‘, andererseits durch die unvermittelte, filmschnitttechnische Montage der disparaten Musikstile erreicht. Der in der glossolalie von 1959 formulierte Ansatz Schnebels geht in der Glossolalie 94 darüber hinaus auch im Sinn ei13 ��������������������������������������������������������������� Dokumentations-CD der Wittener Tage für neue Kammermusik 1994. 14 Dies ist im Regiebuch mittels einer grafisch angeordneten Liste der Musiktitel dokumentiert, aus denenAusschnitte abgespielt werden. Vgl. Abb. 3. Es empfiehlt sich, zur weiteren Veranschaulichung die Dokumentations-CD zur Uraufführung der Glossolalie 94, aufgenommen bei den Wittener Tagen für Neue Musik 1994.

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niger Maximen der Studentenbewegung, wie z.B. der Dehierarchisierung von Strukturen und der Idee eines fließenden Übergangs zwischen Alltag und Kunst, auf. Ein in der experimentellen Avantgarde der 1960er und 70er Jahre besonders beliebtes Mittel zur Bewusstmachung ist die mikroskop- oder lupenartige Fokussierung auf im Alltag unscheinbare Details, für die gerne Kontaktmikrophone eingesetzt wurden. In seinem bis zu 90 Minuten ausdehnbaren Stück Maulwerke für Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte konzentriert Schnebel sein Material auf Prozesse unmittelbar stimmlicher Klangerzeugung. Dabei setzt er das Brennglas nicht nur klanglich ein, sondern kommt durch eine starke Betonung des Selbst-Bewusstseins und der Bereitschaft zur Selbsterfahrung intim nah an die Individuen heran, die die klanglichen Prozesse erzeugen, so nah, dass etwa die an der Uraufführung beteiligte Carla Henius von einem über Jahre dauernden zeitweilig nahezu unerträglichen psychotherapeutischen Prozess berichtete, der allerdings letztlich ausgesprochen positiv bewertet wird: „Das musikalische Geschehen schien reduziert auf die Parameter Dauer und Intensität. Ästhetische Kategorien wie Klang und Vortrag waren eliminiert. Aber durch die Hintertür brachten sie sich doch wieder ins Spiel. Als Reflex dieser kontrollierten Körpersprache des Atmens machten sie sich einfach Luft und erscheinen als ‚Ausdruck‘ – je disziplinierter und konzentrierter die Ausführenden waren, desto elementarer war die Wirkung. Die Paradoxie dieses Vorgangs war den beteiligten sehr bald klar. Man fühlte sich als Person wie ausgelöscht durch diese Einengung auf nichts als πνευμα, also am Anfang des Lebens stehend, noch vorbewusst – eine künstlich repetierte, frühkindliche Erfahrung.“ Und zur Uraufführung der Gesamtfassung mit ‚Profis‘ und Schülern des Oskar-von-Miller-Gymnasiums München in Donaueschingen 1974 erklärte sie: „Diese jungen Hunde – dachte ich – balgen sich schamlos lustig mit einem Stück herum, das mich drei Jahre lang gebeutelt hatte wie eine Analyse! Mit meinem ganzen Kunstverstand war ich am Ende“.15 Ähnlich wie beim Konzept glossolalie stellt Schnebel wieder einen umfassenden Materialfundus, sogar für diesen kleinen Ausschnitt der „pneu- Abb. 4 D. Schnebel Maulwerke, matischen“ Erzeugung, bereit, mit einem etliche Materialblatt a1 (Ausschnitt) Seiten umfassenden Begleittext, der die seitens der © Schott Musik International 15 Carla Henius, Lehr-Stück von Dieter Schnebel, in: dies., Schnebel, Nono, Schönberg oder Die wirkliche und die erdachte Musik. Essays und Autobiographisches, Hamburg 1993, S. 137–143, hier S. 139f. Es wäre darüber nachzudenken, in wiefern die Jugendlichkeit auch eine weniger stark vorhandene Befangenheit in den durch gesellschaftliche Normierung eingegrenzten Prozessen solcher Lautäußerung, also der Produktionsprozesse selbst, vorhanden ist. Diese gereicht den Jugendlichen gegenüber den Älteren, noch strenger Erzogenen, vor der Studentenbewegung jung Gewesenen hier klar zum Vorteil.

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Abb. 5 D. Schnebel Maulwerke, Ausarbeitung Atemzüge (Ausschnitt), © Schott Musik International

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Abb. 6 D. Schnebel Maulwerke, „Tutti zugleich“ (Ausschnitt), © Schott Musik International

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Interpretierenden zu durchlaufenden Entstehungsprozesse und die ungewöhnliche Notation erläutert. Nicht nur haben hier alle Mitwirkenden höchst detaillierte, sonst nie in dieser Weise bewusst einzusetzende Klangerzeugungsübungen mit ihren stimmgebenden Organen (Kehlkopf, Stimmbänder/-lippen, Mundhöhle, Zäpfchen etc.) zu erlernen, sondern mit deren Einsatz auch noch ihre kommunikativen Prozesse zu steuern, wofür Schnebel in seinem ausführlichen Begleittext selbst die Option einer psychologischen Begleitung vorschlägt.16 Auf der Basis von großen Materialtafeln (Abb. 4), Koordinationsbeschreibungen (Abb. 6) und einer ausgearbeiteten (sinfonischen)Beispiel-Fassung (Abb. 5) kann dann allmählich ein aufführungsreifes Stück entstehen dessen akustische Ereignisse ebenso elektronisch modelliert werden können wie Aspekte der Lichtgestaltung und eventuell die Hinzufügung weiterer visueller Elemente. Auch für die visuelle Gestaltung liegen Vorschläge Schnebels bei. Bezüglich der Wirkung der Maulwerke beim Publikum hatte sich Schnebel allerdings verkalkuliert, denn er ging davon aus, dass dessen Material einen allgemeinen Bekanntheitsgrad genießt, der zu positiven Reaktionen des Publikums führt.17 Dass diese tief in Kopf und Hals sitzenden, ohnehin keineswegs vertrauten Klangerzeugungsprozesse in einem, zumindest ohne die visuellen Mittel, sehr abstrakten Setting eher Befremden auslösen, scheint jedoch nur zu verständlich. Dennoch zählen die Maulwerke zu den meistgespielten Stücken Schnebels, was Gisela Nauck auf die typische Achtundsechziger-Spezifik der Komposition zurückführt: „So waren die Maulwerke, die Achtundsechziger-Kritik ernst nehmend, sozial konkret, nach Schnebels Vorstellung auch für musikalische Laien verständlich, nichtelitär, antiautoritär und anschaulich. Zu ihrer Ausführung bedarf es keines Musikstudiums, es gibt keine ‚Autorität‘ des Notentextes oder eines dirigentischen Beherrschers, und die Reproduktionsinstrumente sorgen dafür, dass man hören und sehen kann, wie die Musik entsteht, und dass man dadurch in die Vorführung gleichsam einbezogen wird. […] Umso enttäuschender waren für den Komponisten bei den ersten Aufführungen Befremden und Ablehnung durch den überwiegenden Teil der Zuhörer. Viel später erinnert er sich: ‚Ich war richtig beleidigt, dass bei der ersten Aufführung die Leute so schockiert waren. Da macht man endlich etwas Allgemeinverständliches, doch eigentlich waren die Maulwerke für die Leute besonders schlimm‘ (25.6.1995).“18 Naucks Nennung von typischen Elementen einer Achtundsechziger-Musik trifft aber auf weit mehr Kompositionen Schnebels als nur die Maulwerke vor und nach diesem Jahr zu; sie sind gewissermaßen Basisnahrung; dass der originäre Kontext 16 ������������� Carla Henius, Lehr-Stück von Dieter Schnebel, in: dies., Schnebel, Nono, Schönberg oder Die wirkliche und die erdachte Musik. Essays und Autobiographisches, Hamburg 1993, S. 137–143, hier S. 139f. Es wäre darüber nachzudenken, in wiefern die Jugendlichkeit auch eine weniger stark vorhandene Befangenheit in den durch gesellschaftliche Normierung eingegrenzten Prozessen solcher Lautäußerung, also der Produktionsprozesse selbst, vorhanden ist. Diese gereicht den Jugendlichen gegenüber den Älteren, noch strenger Erzogenen, vor der Studentenbewegung jung Gewesenen hier klar zum Vorteil. 17 �������� Dieter Schnebel, Maulwerke für Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte, Begleitheft, Mainz 1971, S. 6. 18 ������������� Gisela Nauck, Schnebel. Lesegänge durch Leben und Werk, Mainz 2001, S. 146.

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der Maulwerke das linksintellektuelle Klima von ‚1968‘ sei, kann also nicht ohne weiteres konstatiert werden. Die Besonderheit liegt vielmehr darin, dass ein mikroskopisch herausgearbeitetes Material-Konzentrat, wie es auch andere Künstler jener Zeit einsetzen, auf Schnebels spezifisches Konzept sozialer Interaktion der Aufführenden trifft. Die Kombination von beidem könnte zur besonderen Anziehungskraft der Maulwerke beigetragen haben. Sie hat zudem den Vorteil einer sorgfältig und gründlich konzipierten interaktiven Struktur, die ein besonderes Gelingen des Erarbeiteten erwarten lässt. Eine bewusstseinsverändernde Wirksamkeit lässt sich hier im Kontext der Ereignisse von 1968 in zwei Hinsichten kaum leugnen: Zum einen sind es jene Aktivitäten der Studentenbewegung, die auf Erkenntnissen subversiver Wirkungsmechanismen beruhen und die Peter Schneider 1968 so treffend beschrieb (s.o.). Zum anderen ist der Erfolg solcher künstlerischer Angebote szenischen Verstehens zu nennen, die bei derartigen subversiven Wirkungsmechanismen ansetzen, wie es bei Schnebels glossolalie, Glossolalie 94 und Maulwerken der Fall ist. Daher ist es nach einer solchen Gegenüberstellung von avancierten politischen und künstlerischen Aktivitäten in den 1960er und 70er Jahren ernüchternd, ja kaum begreiflich, dass es weiterhin auch aus den politischen Reihen der Linken in der Nachfolge der Achtundsechziger-Bewegung zur umfassenden Ablehnung solcher musikalisch-künstlerischer Aktivitäten kommen konnte und Forderungen nach einer angepassten Kunst für die Massen vertreten wurden. Gegen diese setzte sich auch Schnebel vielfach zur Wehr, so etwa auch in dem Ende 1971 entstandenen und 1972 von Radio Bremen gesendeten Text „Autonome Kunst politisch“, der auch das politische Gegenüber im gleichen linken Lager konkreter beschreibt: „Also wird von [Vertreterinnen und Vertretern der ‚sozialistischen‘ Kunst] gefordert, um der gesellschaftlichen Wirkung willen und auch um die Einstimmung breiterer Massen zu erreichen, auf autonome Gestaltung von Kunst zu verzichten; etwa indem ein Komponist statt fortgeschrittener Kompositionstechniken ältere anwendet, etwa indem er die komplexere Emotionalität neuer Kunst preisgibt und auf einfache Gefühlstönungen zurückgreift; etwa indem man Kunst, statt diffusen Strebungen nachzugeben, auf drastische politische, ja agitatorische Willensäußerungen bringt. Das mag in manchen Kunstformen, die sich gerade heute ausbilden, sinnvoll sein (in Agitationskunst, Straßentheater, etc.). Trotzdem ist ein solches Vorgehen problematisch. Es steht außer Frage, daß man, um sich verständlich zu machen, die Sprache dessen kennen muss, dem das Bemühen gilt. Wohl aber ist zu prüfen, ob diese Sprache – wegen ihrer Verdinglichung und Geschrumpftheit – nicht selbst der Erneuerung bedürfte. Moderne Musik, die zum Zweck irgendeiner Verständlichkeit die Kompositionstechnik zurücknimmt, gibt dem musikalischen Denken keine Anstöße und hilft so einen schlechten Zustand bestätigen, statt ihn zu überwinden. Auch kann es nicht gleichgültig sein, welche Gefühle Musik ausdrückt und übertragend mobilisiert. Es sollten kaum die abgestandenen, schalen Emotionen sein, die sich einmal nur in beschränkten Verhältnissen zu regen vermochten, da erhabene Gefühle sich erst bei der Nationalhymne einstellten. >Sozialistische< Kunst krankt nicht zuletzt daran, dass sie, um die arbeitenden Schichten anzusprechen, bei deren alten, nostal-

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gisch lieb gewonnenen Emotionen bleibt, und sie gerade in der Enge belässt, aus der sie eigentlich heraus sollten.“19 Schnebels Stücke glossolalie, Glossolalie 94 (als Ausarbeitung der glossolalie durch ein Ensemble) und Maulwerke gehören zu derjenigen experimentellen Musik, die auf Grund ihrer sorgfältigen strukturellen Konzeption in Kombination mit ihrer inhaltlichen und materiellen Offenheit immer noch einen effektiven Wirkungsgrad erreichen können. Ihre Zielgruppe mit den nach Schnebel „abgestandenen, schalen“, „nostalgisch lieb gewonnenen Emotionen“ allerdings ist mit ihm gealtert. Heute wird Schnebels Musik bei einem neuen Publikum mit neuen Schwierigkeiten konfrontiert. Für dieses steht die Musik der klassischen Tradition (der noch die schal gewordenen Emotionen gelten/galten) nicht nur nicht mehr für die positiv besetzten nostalgischen Werte, sondern es kennt diese Musik vielmehr kaum noch und verortet dies nicht als Bildungslücke und allenfalls als veränderten Anspruch an die Position von Musik in ihrem Leben. Doch schaffen es häufig gerade die experimentellen Zugriffe auf klangliche Prozesse, auch diese neuen jüngeren und ganz jungen Zielgruppen zu erreichen, etwa durch Angebote, selbst zu erproben, und durch die Alltagsnähe des im Bühnenkontext Dargebotenen. Als gewünschter Nebeneffekt kann diese Musik bewusstseinsverändernd auf deren (neue) Deformationen wirken. Dafür sind etliche Stücke Schnebels aus den 1960er und 70er Jahren nach wie vor sehr gut geeignet.

19 ���������������������������������������������������������������� Ebd. Zur Aufführungsgeschichte vergleiche Aufstellung von Nauck, ebd., S. 336f.

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Le donne in rivolta o la rivolta femminile? Luigi Nonos Al gran sole carico d’amore und die italienische Frauenbewegung

I. In einem Interview mit Luigi Pestalozza bemerkte Luigi Nono 1975: „Ich finde, gerade durch die geistige Vielschichtigkeit der Frauengestalt im Befreiungskampf, dass sie [die Frauengestalten] auch auf musikalischem Gebiet viel reichere Möglichkeiten bieten, als die in gewisser Weise festgelegte Gestalt des männlichen Revolutionärs.“20 Abgesehen davon, dass die Gesangspartien in der überwiegenden Zahl in Nonos Kompositionen mit Frauen-, seltener mit Männerstimmen besetzt sind und sich Nonos Feststellung insofern auf viele seiner Vokalwerke beziehen lässt, ist Nonos Überlegung zur musikalischen und musiktheatralen Wirkung von Frauen- und Männerfiguren insbesondere für ein Werk maßgeblich: seine azione scenica Al gran sole carico d’amore. Sämtliche größere Partien des Bühnenwerkes, das 1976 an der Mailänder Skala uraufgeführt wurde, sind mit weiblichen Darstellerinnen besetzt. Nonos Äußerung kann insofern also als Reflex auf die eigene künstlerische Arbeit an seinem Werk begriffen werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich jedoch die Frage: Worin besteht die ‚geistige Vielschichtigkeit‘ von Frauengestalten in Al gran sole, die Nono hervorhebt? ������������������� Die azione scenica Al gran sole carico d’amore hat zwei große Teile. ���������� Der erste Teil des Werkes thematisiert die Niederschlagung der Pariser Commune, jenes von Arbeitern getragenen Stadtparlaments, das im Frühjahr 1871 Paris für wenige Wochen regierte. Die Pariser Commune, die heute als frühe Umsetzung der politischen Ideen Marx’ und Engels’ gilt, überdauerte, wie gesagt, nur wenige Wochen. Kurz nach ihrer Konstituierung wurde sie vom bürgerlichen Lager, das sich vorübergehend nach Versailles zurückgezogen hatte, mittels der Nationalgarde blutig niedergeschlagen. Die Protagonistin dieses ersten Teils von Nonos Bühnenwerk – in ihr laufen die Fäden der Handlung zusammen – ist die historische Figur der Lehrerin Louise Michel (1830–1905), die sich in der Commune engagierte. Für ihren Einsatz wurde sie nach der blutigen Niederschlagung zu lebenslänglicher Verbannung verurteilt und nach Neu Kaledonien ausgeschifft. Damit blieb ihr das Schicksal vieler Kampfge-

20 � Gespräch zwischen Luigi Nono und Luigi Pestalozza zu Al gran sole carico d’amore während der Inszenierungsarbeit (19. Januar 1975), in: Möglichkeit und Notwendigkeit eines neuen Musiktheaters (= Material zum Theater, Heft 16 (= Nummer 74), hrsg. vom Verband der Theaterschaffenden der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1976, S. 57–79, hier S. 146.

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nossinnen und -genossen erspart, die von der französischen Regierung hingerichtet wurden. Das Zentrum des zweiten Teils von Al gran sole ist historisch dort verortet, wo die Biographie Louise Michels endet: im Jahre 1905. Am 22. Januar, dem so genannten Petersburger Blutsonntag, wurde die Russische Revolution von 1905, die der entscheidenden Oktober-Revolution im Jahre 1917 vorausging, grausam, d.h. ähnlich wie die Pariser Commune, niedergeschlagen. Die Figur, die – symmetrisch mit Louise Michel im ersten Teil – die Ereignisse um die russische Revolution im zweiten Teil bündelt, ist die ‚Mutter‘ (Madre), eine Figur aus Maxim Gorkis gleichnamigen Roman, in dem der Dichter die Ereignisse im Vor- und Umfeld der russischen Revolution literarisch verarbeitet hat. Al gran sole fokussiert somit zwei historische Ereignisse desselben Typus: Die azione scenica zeigt vom Volk, d.h. den unteren sozialen Schichten getragene, blutig niedergeschlagene Revolutionen. Für beide Ereignisse figuriert eine Frauengestalt, die in die Revolutionsereignisse involviert ist, als Emblem und personaler Referenzpunkt. Diese Grundstruktur wird ergänzt und ausdifferenziert durch weitere, ‚von unten‘ (oder zugunsten der unteren sozialen Schichten) ausgeführte Revolutionen – in Bolivien, auf Kuba und in Turin –, die gleichermaßen scheiterten, indem die jeweiligen Machthaber sie niederschlugen. Frauengestalten, die in diesem Kontext in Al gran sole auftreten, sind Tanja Bunke, Deola, Haydée Santamaria und Celia Sanchez. Wie ist nun, bezogen auf Al gran sole, das oben wiedergegebene Zitat Nonos zu verstehen? Inwiefern zeichnen sich die Frauengestalten in Al gran sole durch Vielschichtigkeit aus? II. Das Libretto, das Nono aus Zitaten, Dokumenten und Dichtungen aus einer Vielzahl von Quellen zusammengestellt hat, lässt verschiedene Frauentypen erkennen, die durch vier Frauengestalten repräsentiert werden: Der erste Frauentypus wird durch die Figur der Tanja Bunke verkörpert:21 Zusammen mit Che Guevara beteiligte sie sich am antiimperialistischen Befreiungskampf ab 1967 in Bolivien, um am dortigen Aufbau eines kommunistischen Systems mitzuwirken; der Umstand, dass sie die Geliebte Che Guevaras gewesen sein soll, dürfte zu ihrer Berühmtheit beigetragen haben; er ist für den vorliegenden Kontext jedoch irrelevant. Die von Nono ausgewählten Textpassagen weisen Bunke typische weibliche Attribute wie Blumen und Kunst zu. In einer retardierenden Zwischenszene im Vorfeld der Kampfhandlungen in der Pariser Commune singt sie z.B.: „Wenigstens Blumen, wenigstens Gesänge. Wie soll mein Herz handeln?“22 Und später, offenbar im Kontext ihres Todes, äußert sie: „So muss ich gehen, wie Blumen, 21 ��������������������������������������������������������� Ihr bei den Behörden registrierter Name war Tamara Bunke. 22 „Almenos flores, almenos cantos. Cómo ha de obrar mi corazón?“ (Luigi ����������� Nono, Al gran sole carico d’amore (Partitur), Mailand 1978, Teil I, Szene 2).

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die welken – Ein Andenken hinterlassen.“23 Eine solche Rhetorik in einem modernen avantgardemusikalischen Werk, das darüber hinaus eine sozialistisch-kommunistische Ideologie verficht, ist durchaus ungewöhnlich. Die Rhetorik scheint aus einer romantischen Oper des 19. Jahrhunderts entlehnt zu sein. In der Tat deckt sich die Motivik – Blumen, Grab, Andenken – mit jener von Violettas Abschiedsarie im dritten Akt von La Traviata. In der deutschen Übersetzung von Natalie von Grünhof heißt es: „…ach! verblüht sind die lieblichen Rosen der Wangen. […]; im Grabe verschlaf’ ich die bleiernen Stunden. Mein Hügel empfängt weder Blumen noch Tränen, kein Kreuz wird der Welt meinen Namen erwähnen…“24 Die Korrespondenz zwischen Tanja Bunke und Violetta Valérie beschränkt sich allerdings nicht nur auf die Motivwahl und den Sprachgebrauch der Personen auf dem Theater, sondern lässt sich auch bezüglich der Funktionen nachweisen, die beide Personen innerhalb des Plots einnehmen. Beide, Bunke und Violetta, sind Opfer einer gesellschaftlichen Schieflage oder Intrige. Ähnlich wie Violetta, die aufgrund der Doppelmoral der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zur Aufgabe ihrer Partnerschaft gezwungen wird, ist Bunke Opfer einer Intrige. Sie soll, so vermuten Historiker, von bolivianischen Regierungstruppen hinterrücks ermordet worden sein. Indem die viktimisierten Protagonistinnen innerhalb der dramatischen Handlung, der rhetorischen Figur der Synekdoche vergleichbar, als Repräsentantinnen für die niedergeschlagenen Revolutionen als Ganzes fungieren, wird auch ihr Märtyrertum auf die Revolutionshandlungen übertragen, die Al gran sole vorführt. Die Glorifizierung des Opfers, die mit der Opfer- und Märtyrerrolle zwangsläufig einhergeht, kann somit in den Dienst des politischen Impetus’ des Bühnenwerkes gestellt werden. Der zweite Frauentypus wird von Deola verkörpert, die ausnahmsweise keine historische, sondern eine poetische Gestalt, eine Figur Cesare Paveses ist. Als Prostituierte repräsentiert Deola per se das Rollenstereotyp ‚Hure‘, wie es im literarischen und musikdramatischen Genre unter anderem durch Figuren wie Lulu, Violetta Valérie (in La Traviata), Giuletta (in Les Contes d’ Hoffmann) und Marie (in Wozzeck) geprägt wurde. Nono hat darüber hinaus jene Textstellen aus Paveses Dichtung ausgewählt, die Deola als ‚partnerorientiert‘ kennzeichnen, d.h. als eine Persönlichkeit, die erst in ihrem Partner und im Schatten ihres Partners ihre Identität findet oder – weniger pejorativ formuliert – als Gefährtin und ‚Frau an seiner Seite‘ fungiert. So bekennt Deola unter anderem: „Und ich denke an die Kraft, die mir dieser Mann gegeben hat, dem Meer ihn entreißend, den fernen Ländern, dem harten Schweigen.“25 Mit diesem Fokus auf das andere Geschlecht erfüllt Deola jenes Rollenschema, das seit Mitte des 18. Jahrhunderts die westlich-abendländische Gesellschaft bestimmt und das bereits in der Bibel angelegt ist. So wie Eva aus der Rippe Adams gemacht wurde, gilt das weibliche Geschlecht – so hat Simone de

23 „Dejar un recuerdo con que he de irme, cuál flores que fenecen“ (Nono, Al gran sole, Teil I, Szene 9). 24 ��������������� Guiseppe Verdi, La Traviata (Klavierauszug), Leipzig o.J., Akt III, Nr. 16. 25 ������������������������� „E io penso alla forza/ che ���������������������������� mi ha reso quest’ uomo/ strappandolo ���������������������� al mare/ alle �������������������� terre lontane/ al ���������������� silenzio che dura“ (Nono, Al gran sole, Teil II, Szene 2).

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Beauvoir bekanntlich gezeigt26 – als das zweite und subordinierte, das sich in der Rolle der Gattin und Geliebten erfüllt. Zahlreiche feministische Studien, wie diejenigen von Elisabeth Bronfen, Carola Hilmes, Inge Stephan und Sigrid Weigel, haben in den vergangenen Jahren herausgearbeitet, dass männliche Imaginationen, wie sie sich in kulturellen Produkten wie Belletristik und Kunstwerken manifestieren, von einem relativ klar umgrenzten Spektrum an weiblichen Stereotypen – dem Opfer, der Hure, der Hexe oder der Jungfrau – geprägt sind.27 Die Figur der Mutter im zweiten Teil von Al gran sole verkörpert, mit diesen Untersuchungsergebnissen korrespondierend, ein weiteres Frauenstereotyp. „Jeden Tag“, so heißt es im Libretto, für das Nono auf Brechts Bühnenadaption zurückgegriffen hat, „bereite ich meinem Sohn die Suppe, fast schäme ich mich, sie hinzustellen. Vorige Woche ist ihm sein Lohn verringert worden; jetzt ist die Suppe noch schlechter. Was kann ich, Witwe eines Arbeiters und Mutter eines Arbeiters, tun?“28 Wie Deola ganz auf den Mann, als Sexualpartner bezogen ist, ist der zentrale Referenzpunkt im Leben der Mutter in Al gran sole ihr Sohn. Sie leidet dementsprechend am Leid des Sohnes – am schlechten Essen, das sie dem Sohn auftischen muss, sowie an seiner Armut im allgemeinen. Demgegenüber fällt auf, dass das eigene Leid der Mutter, derselbe Hunger, der ihren Sohn plagt, keine Erwähnung im Libretto findet. Der vierte Frauentypus, den Al gran sole exponiert, scheint zu den bis hierher identifizierten Frauenstereotypen im Kontrast zu stehen: die starke Frau, die Kämpferin. Sie wird von Louise Michel personifiziert, deren Äußerungen im Libretto unverhohlene Aggression und Konfrontationsbereitschaft artikulieren.29 „Wenn ich in Montmartre gewesen wäre, als sie [die Regierungstruppen] kamen, um auf das Volk zu schießen, so hätte ich nicht gezögert, auf jene schießen zu lassen, die solche Befehle erteilten. […] Ich wollte den Versailler Eindringlingen eine Flammenbarri26 ������������������� Simone de Beauvoir, Le deuxième sexe (1949). 27 ����������������������������������������������������������������������������������������������������� „Die Frau repräsentiert die Grenzen, Ränder oder Extreme der Norm – das extrem Gute, Reine und Hilflose oder das extrem Gefährliche, Chaotische und Verführerische. Die Heilige oder die Hure, Jungfrau Maria oder Eva. […] Die Konstruktion der Frau als ‚das Andere‘ dient rhetorisch dazu, eine gesellschaftliche Ordnung zu dynamisieren, während ihre Opferung oder ihre Heirat das Ende dieser Phase der Veränderung bezeichnet. Über ihren medialen Tausch werden kulturelle Normen bestätigt oder gesichert, sei es, weil das Opfer der tugendhaften unschuldigen Frau zur Gesellschaftskritik und Läuterung dient […], oder sei es, weil eine Opferung der gefährlichen Frau […] eine Gegenordnung ins diskursive Spiel bringt“ (Elisabeth Bronfen, Weiblichkeit und Repräsentation – aus der Perspektive von Semiotik, Ästhetik und Psychoanalyse, in: Genus, hrsg. von Hadumod Bussmann und Renate Hof, Stuttgart 1995, S. 409–445, hier S. 418–419). Vgl. auch Carola Hilmes, Femme Fatale, Stuttgart 2000, insbesondere S. XII und XIV; Inge Stephan und Sigrid Weigel, Die verborgene Frau, Berlin 1983; und Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit, Frankfurt am Main 1979. Die oben genannten Verse Tanja Bunkes zum Themenkreis Kunst, Blumen, Andenken korrespondieren z.B. mit Cornelia Klingers Beobachtung, dass die Frau in der westlich-patriarchalischen Konstruktion und Imagination mit ‚Landschaft‘ und ‚Kunstwerk‘ gleichgesetzt wird (Cornelia Klinger, Frau – Landschaft – Kunstwerk. Gegenwelten oder Reservoire des Patriarchats?, in: Feministische Philosophie, hrsg. von Herta Nagl-Docekal, Wien und München 1990, S. 63–94). 28 ��������������������������������������������������������������������������������������������������������� „Ogni giorno preparo la minestra a mio figlio […] La settimana scorsa gli hanno diminuito la paga; adesso la minestra è peggiorata“ (Nono, Al gran sole, Teil II, Szene 2). 29 ����� Nono hat diese Passagen den Memoiren Michels entnommen (Louise Michel, Mémoires de Louise Michel, Paris 1886).

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ere entgegenstellen.“30 Auch wenn der Typus der kämpferischen Frau auf den ersten Blick ungewohnt erscheinen mag, so steht er dem Reigen der traditionellen Frauentypen keineswegs entgegen. Zwar gelten Kampfbereitschaft oder Kampfeslust sowie damit verbundene Aggressivität und Gewaltbereitschaft gemäß traditioneller Geschlechterrollen als eine Charaktereigenschaft, die dem männlichen Geschlecht zugeordnet und vorbehalten ist; von dieser Geschlechterzuteilung ist jedoch die Frau in der sozialen Rolle der Mutter ausgenommen, wenn diese ihren sozialen Mikrokosmos, d.h. die Familie und insbesondere die eigenen Kinder, bedroht sieht. Diesbezüglich gilt die Redewendung, dass die Mutter „wie eine Löwin um ihre Jungen“ kämpft – und auch kämpfen soll. Insofern als Kampfgeist also eine Komponente des Muttertypus’ ist, lässt sich der kämpferische Einsatz von Frauen, wie ihn Al gran sole vorführt, als eine auf andere Gegenstände verschobene Mutterliebe begreifen. Dass diese Vorstellung in der Tat Nono geleitet haben dürfte, lässt sich u.a. an einer Textpassage ablesen, die Nono für Haydée Santamaria, eine Mitkämpferin während des Sturms auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba 1953 zu Beginn des kubanischen Befreiungskampfes, ausgewählt hat: „Für mich war Moncada wie eine Frau, die einen Sohn haben wird.“ „Sie wird vor Schmerzen schreien! Aber diese Schmerzen sind keine Schmerzen.“31 Der gesellschaftspolitische Kampf wird hier also zum Gebären eines Kindes als homolog begriffen und das kämpferisch-aggressive Verhalten der Frauen kann somit den traditionellen sozialen Rollenmustern, insbesondere der Rolle der Mutter, zugeordnet werden. Die Ausgangsfrage – der tiefere Sinn von Nonos Panegyrikus auf die „geistige Vielschichtigkeit der Frauengestalt“ – ist damit freilich weiterhin unbeantwortet. Zwar ist evident, dass das Spektrum an Frauengestalten in Nonos azione scenica im Vergleich zu den Männerfiguren, die, wie für das Musiktheater charakteristisch, kaum als komplexe Persönlichkeiten ausgestaltet sind, in der Tat relativ vielfältig ist; eine geistige Vielschichtigkeit, die Frauengestalten für das Musiktheater als besonders geeignet erscheinen lassen, lässt sich jedoch nicht erkennen. Was Nono mit dem Begriff der „geistigen Vielschichtigkeit“ der Frauen im Sinn gehabt haben könnte, lässt sich, so wird zu zeigen sein, nicht durch eine allein werkimmanente, auf Al gran sole und/oder auf die Werke Nonos generell beschränkte Betrachtung klären, sondern verlangt die Berücksichtigung des soziokulturellen Kontextes der Entstehungszeit der azione scenica. Der Rekurs Nonos auf weibliche Stereotypen – Opfer, Hure und Mutter – erfolgt nämlich gerade in jener soziohistorischen Phase, in der Frauen in Italien begannen, sich gegen ihre traditionelle Rolle

30 ������������������������ „Si je m’étais trouvée à�� Montmartre ��������������������������������������������������������������������������������� quand ils ont voulu faire tirer sur le peuple, je n’aurais pas hésité à�� faire tirer moi-même sur ceux qui donnaient des ordres semblables! […] je voulais opposer une barrière des flammes aux envahisseurs de Versailles“ (Nono, Al gran sole, Teil I, Szene 6). ������������� Louise Michel war nach ihrer Rückkehr aus der Verbannung weiterhin politisch tätig und nahm in diesem Kontext auch weitere Gefängnisstrafen in Kauf. 31 „Para mi el Moncada era como cuando una mujer va tener un hijo. [...] Los dolores hacen gritar pero esos dolores no son dolores“ (ebd., Teil II, Szene 5).

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und eben die damit verbundenen weiblichen Stereotypen, die ihnen seit Generationen von der Gesellschaft aufgenötigt wurden, zur Wehr zu setzen. III. Wie in anderen Ländern Europas und Nord-Amerikas formierte sich gegen Ende der 1960er Jahre auch in Italien die so genannte neue Frauenbewegung. Das Attribut der Neuheit wird ihr dabei insofern zugeschrieben, als sie sich hinsichtlich einer Reihe von Aspekten von der so genannten alten Frauenbewegung deutlich unterschied: War die alte Frauenbewegung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert im Umfeld der italienischen Arbeiterbewegung verortet; so ging die neue Frauenbewegung demgegenüber zu einem bedeutenden Anteil aus den höheren sozialen Schichten, insbesondere der Studentenbewegung um ‚1968‘32 hervor. Vor dem Hintergrund, dass die – männlich dominierte – Studentenbewegung die Gleichberechtigung für alle gesellschaftlichen Gruppen forderte, erkannten viele junge Frauen, dass zwischen den emanzipatorischen, auf Gleichbehandlung abzielenden Ansprüchen der ‚Genossen‘ und den realen Arbeitsverhältnissen innerhalb der Studentenbewegung ein eklatanter Widerspruch bestand. Wie in allen anderen gesellschaftlichen Segmenten herrschte auch hier eine geschlechtsspezifische Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen vor: Auf den Versammlungen redeten, belehrten und diskutierten die männlichen Kommilitonen, während die Studentinnen die Manuskripte abtippten, zuhörten und Beifall spendeten.33 Diese unausgewogene Situation stimulierte die Studentinnen, sich für ihre eigenen Rechte zu engagieren. Die Institutionen der alten Frauenbewegung stellten hierfür freilich keinen geeigneten Rahmen dar. Denn die alte Frauenbewegung, die sich im institutionellen Rahmen der Alten Linken organisiert hatte, litt unter einer ähnlichen Problematik, d.h. einem drastischen Ungleichgewicht hinsichtlich der Arbeitsverteilung, das sich auch innerhalb der Studentenbewegung abzeichnete. Dass geschlechterdemokratische Verhaltensweisen der Alten Linken, wie der italienischen Gesellschaft generell, fremd waren, legte Rosana Rossanda, langjähriges Mitglied der Partita Communista Italiana (PCI) und der dort verorteten alten Frauenbewegung, in einem Rückblick 1979 dar. Die Frauen der Alten Linken trugen in der Regel, so Rossanda, eine „Doppelbelastung als Arbeiterinnen in der Fabrik und als unbezahlte Domestiken zu Hause“.34 Diese Situation wirkte sich innerhalb der PCI unter anderem dahingehend aus, dass Frauen für die aktive Parteiarbeit kaum zu gewinnen waren: „Von einer Frau zu verlangen, nach Feierabend noch eine Versammlung zu besuchen, war unmöglich, da wir es ja schon von ihrem Mann ver32 �������������������������������������������������������������������������������������������� ‚1968‘ ist hier Chiffre für die Studenten- und Protestbewegungen der 1960er und 70er Jahre. 33 Vgl. Rossana Rossanda, Einmischung (Italienisch: 1979), Frankfurt am Main 1980, S. 26 sowie Thomas Sablowski, Italien nach dem Fordismus, Münster 1998, S. 116–125 und Carmine Chiellino, Italien, Bd. 1, München 1989, S. 101–110, sowie für Deutschland Kristina Schulz, Der lange Atem der Provokation, Frankfurt am Main 2002 und für die USA Judith Evans, Feminist Theory Today, London u.a. 1995, S. 62, und Alice Echols, Daring to be Bad: Radical Feminism in America, 1967–1975, Minneapolis 1989, S. 3. 34 ��������� Rossanda, Einmischung, S. 19.

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langten: Damit er sich die Zeit nehmen konnte, musste sie sich desto mehr sputen. ‚Wir kommen nicht an die Frauen ran‘, rief der jüngste Genosse immer an einem bestimmten Punkt unserer Diskussion, woraufhin die anderen zu glucksen anfingen. Er wollte sagen: Wir erreichten die Frauen nicht, weil ‚das System‘ sie voll in Beschlag nahm mit ihrer ganzen Zeit – Klassenschwestern, die uns durch die Maschen glitten.“35 Obwohl die Mitglieder der Alten Linken diese unerfreuliche Situation sehr wohl beobachteten, wie die zitierte Passage aus Rossandas Rückblick deutlich macht, blieb sie über Jahrzehnte unverändert, weil als Ursache für das geschlechtsspezifische Ungleichgewicht eine Instanz diagnostiziert wurde, die durch kleine Maßnahmen nicht zu beeinflussen war: ‚das System‘, d.h. das bestehende kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, das die Mehrfachbelastung für Frauen – Haushalt, Kindererziehung und zusätzlich Lohnarbeit zur weiteren finanziellen Unterhaltung der Familie – unumgänglich machte. Die Aufhebung der soziopolitischen Mängelsituation, unter der die Frauen litten, sollte dementsprechend nicht durch direkte, unmittelbar wirksame Eingriffe – wie z.B. eine Entlastung der Frauen, indem statt der Männer gezielt (und vielleicht ausschließlich) Frauen zu den Versammlungen eingeladen wurden –, sondern durch einen Systemwechsel bewirkt werden. Die Befreiung der Frau würde, so die logische Schlussfolgerung aus der Analyse, im Rahmen der Arbeiterbewegung,36 quasi als Nebenwirkung aus der generellen Befreiung mittels eines radikalen gesellschaftlichen Wandels erzielt werden. „Was hätte die Frauen aus diesem Gefängnis befreien können“, so reminiszierte Rossanda die feministische Theoriebildung innerhalb der Alten Linken 1979, „wenn nicht die Revolution – dieselbe, die alles verändern würde? […] Warum sollte man bei den Frauen ‚Emanzipation‘ nennen, was bloß Verstrickung in das gemeinsame Schicksal aller Ausgebeuteten war?“37 Die Mitglieder der neuen Frauenbewegung beurteilten demgegenüber den Ursachenkomplex für die Unterdrückung der Frau anders. Statt die Ausbeutung der Frauen auf das kapitalistische System, d.h. eine gesellschaftlich weit übergeordnete und abstrakte Instanz, zurückzuführen und das Schicksal von Frauen damit als „Verstrickung in das gemeinsame Schicksal aller Ausgebeuteten“ aufzufassen, vertraten die jungen Studentinnen die Auffassung, dass die Geschlechterungleichheit bereits ganz konkret auf den unteren organisatorischen Ebenen der kommunistischen und sozialistischen Partei vonseiten der männlichen Genossen erzeugt werde. Damit war eine Institutionalisierung der aus der Studentenbewegung hervorgegangenen neuen Frauenbewegung in den Aktionsgruppen der alten Frauenbewegung (wie der der Partita Socialista Italiana nahe stehenden Unione Donne Italiane (UDI, ab 1944) oder dem Centro Italiano Femminile (ab 1945)) als Zweig der Arbeiterbewegung nicht mehr wünschenswert. Die Initiative der jungen Studentinnen mobilisierte ebenfalls die Mitglieder der alten Frauenbewegung, die reihenweise aus der PCI 35 ������������� Ebd., S. 20. 36 ���������� Chiellino, Italien, S. 336; Donald Sassoon, Contemporary Italy. ����������������������������������������� Economy, Society, and Politics since 1945, London 1991, S. 101. 37 ��������� Rossanda, Einmischung, S. 20���� –��� 21.

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austraten.38 Diese verweigerten von nun an die klassische Rolle als Genossinnen im gemeinsamen, von beiden Geschlechtern ausgetragenen Kampf für das sozialistischkommunistische System. Letzteren interpretierten die Frauen stattdessen als fehlgeleitet, weil er letztlich nur das Patriarchat konsolidiert hätte. Als Ersatz für das organisatorische Gerüst im Rahmen der PCI gründeten Frauen eigene, von den klassischen Arbeiterparteien unabhängige Organisationen wie die Lotta Femminile (ab 1972) und die Rivolta Femminile (ab 1970), auf die ich bereits im Titel zu diesem Beitrag verwiesen habe. Was der kurze Abriss zur neuen Frauenbewegung in der erste Hälfte der 1970er Jahre deutlich macht, ist eine auffällige Asynchronizität. Nono stellt Frauen, historische Frauengestalten und ihre Schicksale, ins Zentrum von Al gran sole, vermeidet gleichzeitig aber offenbar jeglichen Bezug zur aktuellen, Frauen betreffenden Thematik: der zweiten Frauenbewegung, die zu einschneidenden Veränderungen in der italienischen Gesellschaft beitrug. Die azione scenica rekurriert stattdessen, wie gezeigt, auf die herkömmlichen Frauenstereotypen und – nahezu mit einem nostalgischen Gestus – das herkömmliche Geschlechterverhältnis, wie es in der PCI bis zum Beginn der 1970er Jahre vorherrschte: Die Frauen in Al gran sole – Louise Michel, die Mutter, Tanja Bunke, Deola, Haydée Santamaria und Celia Sanchez – kämpfen an der Seite der Männer für die gesamtgesellschaftliche Sache. Diese Rückwärtsgewandtheit manifestiert sich auch in der Musik. IV. Nono wies wiederholt darauf hin, dass seine Vorbilder für die Stimmbehandlung in seinen Werken Bellini und Verdi (sowie auch Mussorgsky und Schönberg) gewesen seien.39 Insofern überrascht es nicht, dass die Frauenpartien in Al gran sole hinsichtlich ihrer stimmtechnischen Anlage der Belcanto-Tradition nahe stehen.40 Die geschwungene, in einem mittleren, bis langsamen Tempo vorzutragende Melodielinie gibt der Sängerin den Raum für das charakteristische Belcanto-Portamento.41 Diesem Gesangsstil kontrastiert der gesangliche Duktus der – nur selten hervortretenden – männlichen Protagonisten, denen häufig ein Parlando zugewiesen ist. Die zwischen den Geschlechtern differenzierende Stimmführung wird durch die Lage der Partien unterstrichen. Die Frauen-Stimmen – insbesondere die Soprane – sind in vergleichsweise hoher Lage komponiert. Es liegt auf der Hand, dass die Frauenpartien aufgrund der relativ großen Körper-Spannung, die die hohe Lage 38 �������� Sassoon, Contemporary Italy, S. 109. 39 ���������������� Vgl. Luigi Nono, Gespräch mit Leonardo Pinzauti (1970), S. 246–257, hier S. 256, und ders., Gespräch mit Guy Wagner (1971), S. 258–262, hier S. 262, beide in: ders., Texte, hrsg. von Jürg Stenzl, Zürich und Freiburg im Breisgau 1975. 40 ������������������������������ Die Gemeinsamkeiten von Nonos Stimmführung mit dem Belcanto konzentrieren sich auf das Merkmal der Klangschönheit und der ausgewogenen Tongebung, nicht auf dasjenige der Koloraturen. 41 ���������������������������������� Vgl. z.B. die Partie Tanja Bunkes zu Beginn von Teil I, Szene 2. Der Vortrag im Modus des Belcanto realisiert sich u.a. durch legato-Bögen, Fermaten, relativ einfache, d.h. aus der Dur-moll-Tonalität vertraute Intervallfolgen und eine organische Dynamik (An- und Abschwellen).

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erfordert, einen intensiven, emotional-drängenden bis hin zu einem insistierenden Ausdruckscharakter besitzen.42 Die Tonrepetitionen der solistischen und der chorischen Soprane klingen daher passagenweise wie wutentbrannte Schreie, wie aggressives Kreischen, das dem politischen Impetus der Komposition, in Ergänzung zum plastischen Inhalt des Bühnenwerkes, mit nonverbalen, emotiv besetzten akustischen Mitteln Ausdruck verleiht.43 Darüber hinaus verstärkt das beobachtete geschlechterdualistische Schema hinsichtlich der Stimmbehandlung die bestehende Geschlechtertypologie im Libretto – und zwar, indem sie auf die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gültige Geschlechterdichotomie rekurriert. Aus der Subordination des weiblichen Geschlechtes gegenüber dem männlichen emergiert, so haben unter anderem Elisabeth Conradi und Karin Hausen gezeigt,44 eine bis heute noch weithin wirksame binäre Logik, der gemäß Männer rational, stark und kämpferisch, Frauen – im Kontrast dazu – gefühlsbetont, schwach, sanft und harmoniebedürftig sein sollen. Es ist diese Binarität, die sich auch in der Musik zu Al gran sole artikuliert. Die Emotionalität und Klangsinnlichkeit des Belcantos korrespondiert der Gefühlsemphase, die der weiblichen Sphäre zugeordnet ist. Das in Al gran sole den Männern zugewiesene Parlando, deren Eigentümlichkeit aus dem Fokus auf eine gut verständliche Artikulation der Worte resultiert, bestätigt demgegenüber die Verbalsprache als Medium des rationalen, vernunftorientierten und somit – gemäß der traditionellen Geschlechterpolarität – männlichen Diskurses. Dieser Zusammenhang zwischen, um mit Cassirer zu sprechen, Sprachform und Denkform schlägt sich außerdem in einem weiteren kompositorischen Detail, dem Gesang ohne Worte auf nonverbalen Lauten nieder. Eine etablierte, im Kontext der dargelegten binären Geschlechterlogik des 18. und 19. Jahrhunderts entwickelte Denkfigur schreibt Frauen zu, dass sie sich – als gefühlsbetontes Geschlecht – bevorzugt nonverbaler, expressiver Ausdrucksformen bedienen. Herder unterschied dementsprechend in seiner Abhandlung Über den Ursprung der Sprache von 1772 zwischen der ‚normalen‘ Verbalsprache und einer so genannten „mütterlichen Sprache“.45 Die mütterliche, also genuin weibliche Sprache bestehe, so Herder, weil sie 42 ���������������������������������������������������������������������������������������������������� Der Funktionszusammenhang zwischen der Steigerung des Nachdrucks auf der einen und Gesang in hoher Lage auf der anderen Seite besteht insbesondere für Frauenstimmen, weil diese im Gegensatz zu Männern nicht ins Falsett oder falsettartige Klangmischungen ausweichen können. Der Klang der Frauenstimme wird, umso höher sie geht, auch wenn die Schwingung der Stimmbänder auf die Randkantenschwingung reduziert wird, „intensiver“. 43 ��������������������������������������������������������������������������������������������������������� In Teil I, Szene 1, Takt 166 repetieren die Chorsoprane dreimal mit Akzent versehene c’’’. Die Repetitionstöne der Louise Michel (Nono, Al gran sole, Teil I, Szene 9, Takt 692–702), hier vom 4. Solosopran gesungen, liegen zwar nicht so hoch wie diejenigen des Chorsoprans in Takt 166 – Nono schreibt für Michel Töne zwischen fis’’ und h’’ vor –, die Repetitionspassage erstreckt sich jedoch über mehrere Takte. Der Effekt des ‚Kreischens‘ ist damit noch deutlicher. 44 ������������������ Elisabeth Conradi, Ist der Ausschluß von Frauen für die traditionellen Demokratietheorien grundlegend und wie wird er gerechtfertigt?, in: Feministische Studien, Heft 2, 1989, S. 85–98, hier S. 82 und 92; Karin Hausen, Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, hrsg. von Werner Conze, Stuttgart 1976, S. 363–393, hier S. 369ff. 45 ������������������������ Johann Gottfried Herder, Abhandlung „Über den Ursprung der Sprache“, Leipzig und Wien 1891, S. 7.

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das Andere der Verbalsprache sei, im Unterschied zur Verbalsprache aus bloßen unartikulierten Lauten. Diese Vorstellung, dass eine unartikulierte Ausdrucksweise eine eigentlich weibliche Ausdrucksweise sei, manifestiert sich unter anderem auch in Goethes Faust, wenn Mephisto einem Schüler Fausts erklärt: „Besonders lernt die Weiber führen,/ es ist ihr ewig Weh und Ach [also ihre unartikulierten, nonverbalen Exklamationen]/ so tausendfach/ aus einem Punkte zu kurieren.“46 Indem unartikulierte Laute aber im Vergleich mit der Verbalsprache als reduziert, weniger elaboriert, phylogenetisch vorgängig, d.h. historisch früher und somit ‚primitiver‘, sowie ontogenetisch kindlich, unreif und ‚noch nicht entwickelt‘ begriffen werden müssen, ist die ‚mütterliche Lautsprache‘ zwangsläufig innerhalb unseres kulturellen Wertesystems unterhalb der Verbalsprache verortet. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Denkfigur der Lautsprache als genuin weiblicher Sprache kennzeichnet das ‚typisch weibliche Sprachsystem‘ gegenüber dem männlichen – auch wenn die Idee der mütterlichen Lautsprache positive Assoziationen der Ursprünglichkeit und Eigentlichkeit wecken mag – als defizitär. Vor dem Hintergrund dieser geschlechtlich konnotierten Wertehierarchie verbaler und nonverbaler Kommunikationsmittel ist es signifikant, dass die solistischen Partien der Frauenstimmen – nicht der Männerstimmen – streckenweise nicht auf Text, sondern auf nonverbalen Lauten („ahs“ und „ohs“) zu singen sind.47 Der Verzicht auf verbalsprachliche Artikulation in den Frauenstimmen, der vor allem deshalb heraus sticht, weil die azione scenica ansonsten stark textbasiert ist,48 korrespondiert damit auffällig mit der im Rahmen der traditionellen Geschlechterdichotomie entwickelten Vorstellung, dass die nonverbale und anti-argumentative Ausdrucksweise für Frauen – im Gegensatz zum rationalen verbalsprachlichen Diskurs von Männern – typisch sei. Dass in Al gran sole auch das Männerkollektiv, d.h. die Männerchöre, zuweilen Vokalisen auf ‚Ah und Oh‘ singt, stellt diesen Befund und die traditionelle Geschlechterordnung, die sich im kompositorischen Umgang Nonos mit den Singstimmen artikuliert, dabei keineswegs in frage. Denn die nonverbalen Passagen in den Männerstimmen besitzen einen anderen dramatischen Status. In der Regel handelt es sich bei den von Männerstimmen vorzutragenden textlosen Phrasen nämlich um 46 ��������������������������� Johann Wolfgang von Goethe, Faust, Teil I, Szene im Studierzimmer. 47 ����������������� Vgl. Tanja (Nono, Al gran sole, Teil I, Szene 1, Takte 137–138; Szene 2, Takte 181–182, 186–187 und 189 sowie Takt 203 mit Auftakt bis Takt 207), Madre (ebd., Teil II, Szene 1, Takte 1–2, 7, 10 und 16), insbesondere Deola (ebd., Teil II, Szene 4, Takte 371–373, 382–384 und 399–401). Der Textvortrag wird durch eine Form von introvertiertem Summen (also textlosem Singen mit geschlossenem Mund) eingeleitet oder unterbrochen. Diese Vortragsform erzeugt eine Atmosphäre der Intimität und Privatheit, eine Stimmung des Sinnlich-Besinnlichen, deren ‚Entrückung‘ durch darunter liegende elektronisch-verhallte und insofern nicht richtig ortbare, ort- und raumlose Klänge vom Tonband gesteigert wird. 48 ���������������������������������������������������������������������������� Von diesem Verfahren des unartikulierten Gesangs ist die Gesangstechnik in La Fabbrica Illuminata für Sopran und Tonband (1964) zu unterscheiden. Zwar wird auch hier textloses Singen wie in Al gran sole exponiert. Innerhalb der Komposition haben die mit geschlossenem Mund vorzutragenden Klänge jedoch einen anderen Status als in Al gran sole. Indem im kompositorischen Zentrum von La Fabbrica Illuminata nicht Tonhöhenstrukturen, sondern Timbres – Klänge und Geräusche vom Band – stehen, ist es die Timbrequalität der gesummten Töne, die in Bezug zu den anderen Klängen und Geräuschen vom Band stehen und darin ihre musikalische Bedeutung der Musik besitzen.

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musikalische Zitate von Arbeiterliedern, wie dem russischen Volkslied „Dubinuska“ z.B.49 Der Vortrag dieser Melodie bedeutet somit nicht die Produktion gesungener nonverbaler, unartikulierter Laute, sondern stellt das Summen einer Melodie vor. Dass Nono bezüglich der weit bekannten Arbeiterlieder auf den Textvortrag verzichtete, ist dabei darauf zurückzuführen, dass der Text – so dürfte Nono kalkuliert haben – ohnehin vom Hörer automatisch vergegenwärtigt wird, sobald er die bekannte Melodie vernimmt. Der nonverbale Gesangsvortrag des Männerchores ist also, anders als der hochexpressive Gesang der Frauensolistinnen,50 als Bühnengesang zu kategorisieren, wie er unter anderem im Jägerchor des Freischütz und dem Sängerwettstreit in den Meistersingern sein Vorbild hat.51 V. Dass sich Nono all dieser geschlechtertypischen Charakteristika, die sich in der Gestaltung der Frauenpartien in Al gran sole – sowohl hinsichtlich des Librettos als auch hinsichtlich der musikalischen Komposition – manifestieren, bewusst war, dass er also intendiert die auch heute noch weitgehend vorherrschende binäre GenderLogik in Al gran sole vorführte, ist sicherlich nicht anzunehmen. Eher wahrscheinlich ist, dass er für die Gestaltung der Personen der Handlung intuitiv auswählte, was ihm am plausibelsten und vertrautesten erschien. Und dies waren zweifellos die klassischen Frauenbilder, Frauenrollen und -artikulationsweisen, die, wie gezeigt, auch die Kernaussage von Al gran sole unterstützen: In der Fiktion der Bühnenhandlung erfüllen die Frauen – noch – die Rolle, die ihr in der Alten Linken zugewachsen war. Während in der Lebenswirklichkeit die italienischen Frauen – oder zumindest ein Teil der italienischen Frauen – den Modus der Kooperation mit Männern einer Revision unterzogen und ‚ihre eigene Sache‘ verfolgten, setzen sich die Frauen auf der Musiktheaterbühne nicht nur, wie gemäß der historischen Überlieferung, solidarisch an der Seite der Männer für die gesamtgesellschaftliche Revolution ein, sondern sie stehen als eigentliche Akteure der Revolution sogar im Mittelpunkt. Worin die von Nono gelobte „geistige Vielschichtigkeit der Frauengestalt“ auf der Opernbühne besteht, lässt sich vor dem Hintergrund der soziohistorischen Entstehungszeit von Al gran sole also folgendermaßen bestimmen: Nonos Äußerung dürfte – da sie im Rahmen eines Interviews entwickelt wurde – eher als ein spontaner Einfall als eine ausgereifte Idee zu interpretieren sein, mit der nicht so sehr eine differenzierte Musiktheatertheorie, als in erster Linie eine subjektive Befindlichkeit zum Ausdruck gebracht wurde: eben das Interesse an und die Irritation über Frauengestalten. Angesichts der Ereignisse im Umfeld der zweiten Frauenbewegung, die über die Medien distribuiert wurden, artikuliert Nonos Verweis auf die geistige 49 ��������������������������������������������� Vgl. Coro Operai (Tenöre und Bässe) in: Nono, Al gran sole, Teil II, Szene 4, Takte 351–362 sowie auch Coro Operai (Tenöre und Bässe), Teil II, Szene 3, Takte 254–258. 50 ��������������������������������������������������������������������������������������������������� Diese Passagen kommen als Ruhepunkte im Verlauf der Handlung weitgehend dem so genannten ‚inneren Monolog‘ oder dem ‚kontemplativen Ensemble‘, d.h. musiktheatralischen Formen des ‚tönenden Schweigens‘ nahe. (Vgl. Carl Dahlhaus, Vom Musikdrama zur Literaturoper, München 1983.) 51 ������������������������������������������������ Ein weiteres Beispiel wäre der Jungfernchor im Lohengrin und im Freischütz.

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Vielschichtigkeit vielleicht mehr seine Ratlosigkeit und Überraschung hinsichtlich der aktuellen soziokulturellen Entwicklungen im Zusammenhang mit der zweiten Frauenbewegung – eine Ratlosigkeit, die, wie gezeigt, in Al gran sole keineswegs verarbeitet und für die künstlerische Aussage fruchtbar, sondern mittels einer künstlerischen Gegen-Gestaltung neutralisiert wurde. Die Frauen in Al gran sole kämpfen dementsprechend nicht nur, wie in der historischen Vergangenheit, an der Seite der Männer, sondern sie übernehmen sogar die Führungsrolle im Kampf für das gesamtgesellschaftliche Anliegen. Nonos Revitalisierung dieses zur Zeit der Entstehung von Al gran sole obsoleten Frauenbildes, desjenigen der Alten Linken, ist über die genannten genderhistorischen Aspekte hinaus für Nonos Verhältnis zu ‚1968‘ generell paradigmatisch. Denn ähnlich, wie Nono bezüglich der Frauenfrage eine traditionelle Ideologie verfocht, besaß er auch bezüglich der Neuen Linken – obwohl diese, wie oben dargestellt, in Hinsicht auf ihr Frauenbild eher konservativ orientiert war – eine ambivalente Haltung. Schriftliche Dokumente aus den Jahren 1968 und 1969 zeigen, dass Nono zwar gegenüber den studentischen Aktivitäten prinzipiell aufgeschlossen war, zugleich jedoch eine skeptische Einstellung besaß: Nono besuchte z.B. den vom Berliner SDS organisierten Vietnamkongress im Februar 1968,52 an dessen Vorbereitung sich auch Hans Werner Henze beteiligt hatte;53 er hielt im Sommer 1969 einen Vortrag in einer Berliner Musikhochschule vor einem Publikum, das zur Mehrheit aus SDS-, APOund AStA-Mitgliedern sowie auch aus italienischen Gastarbeitern bestand;54 weiterhin widmete Nono sein 1965/1966 komponiertes Stück A floresta è jovem e cheja de vida der Nationalen Befreiungsfront von Vietnam. Trotz der Teilnahme an achtundsechziger Aktionen artikulierte er jedoch auch eine gewisse unüberhörbare Distanz gegenüber der Neuen Linken und deren Aktionen.55 Gerade vor dem Hintergrund, dass die Neue Linke als eine Konkurrenz und Bedrohung vonseiten der Alten Linken empfunden wurde,56 darf folgende Aussage Nonos nicht unterbewertet werden. In einem Interview aus dem Jahre 1969, zusammen mit Marcello Cini und Rosana Rossanda (als Interviewerin), erklärte er, dass er die Alte Linke gegenüber der Neuen Linken für leistungsfähiger und erfolgreicher halte.57

52 ����������� Luigi Nono, Vietnam in Berlin, in: ders., Texte, S. 155–158. 53 ������������������ Hans Werner Henze, Reiselieder mit böhmischen Quinten, Frankfurt am Main 1996, S. 291. 54 ����������� Luigi Nono, Gastarbeiter in Berlin, in: ders., Texte, S. 163–166. 55 ��������������������������������������� Diese Skepsis zeigt sich z.B. in Nonos Kommentar zum Vietnamkongress und zur anschließenden Demonstration: „Die grandiose, verantwortungsvolle, sichere Demonstration, und auf der anderen Seite die Gefangenen ihrer selbst. Zwei Welten, zwei Auffassungen“ (Nono, Vietnam in Berlin, S. 158). 56 ������������������������� Vgl. Friederike Hausmann, Kleine Geschichte Italiens seit 1943 bis heute, Berlin 1990, S. 58–59; Jan Kurz, Die Universität auf der Piazza, Köln 2001. 57 � Gespräch mit Marcello Cini und Rossana Rossanda, in: Nono, Texte, S. 218–229.

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„Hesse ist wirklich ein Proto-Hippie“ Zur musikalischen Rezeption Hermann Hesses „Eine Sonate in Prosa“ Trotz einiger früher Übersetzungen und trotz der Ehrung durch den Nobel-Preis, die von den führenden publizistischen Organen mit Befremden registriert wurde, konnte der deutsche Schriftsteller Hermann Hesse (1877–1962) in den USA bis zu seinem Tode 1962 nicht Fuß fassen und wurde vom Gros der amerikanischen Bevölkerung ignoriert. Doch plötzlich, mit dem Anfang der sechziger Jahre, begann ein regelrechter „Hesse-Boom“ in den Staaten, der vor allem durch sein bereits 1927 erschienenes Buch Der Steppenwolf ausgelöst wurde. Doch um den Erfolg des Steppenwolfs nachvollziehen zu können, muss man zunächst einige Worte zu seiner Entstehungs- und Wirkungsgeschichte verlieren. 1927 erschien – zunächst ohne Gattungsbezeichnung, später mit dem Genre „Erzählung“ übertitelt – Der Steppenwolf. Diesem Werk vorausgegangen war ein Lebensabschnitt, den Hermann Hesse als die „Krise des Mannes von fünfzig Jahren“ bezeichnete. Zahlreiche private Schwierigkeiten – unter anderem die Scheidung von seiner ersten Frau Maria Bernoulli, der Versuch, seine Probleme durch eine Psychoanalyse zu überwinden, die Beziehung zu seiner zweiten Frau Ruth Wenger, die 1927 ebenfalls in die Brüche ging (das Gericht nannte Hermann Hesse in seinem Urteil einen „Sonderling, Neurotiker, Eremiten, Schlaflosen und Psychopathen“ – die Parallelen zu seinem Protagonisten Harry Haller sind frappierend) – sowie körperliche Leiden wie Augenschmerzen, Gicht und Ischias veranlassten ihn zur Niederschrift dieses „unbarmherzigsten und seelenzerwühlendsten aller Bekenntnisbücher, düsterer und wilder als Rousseaus Confessions, die grausamste        

Donald Pease, You don’t have to be high to like Hermann Hesse, in: Über Hermann Hesse��, hrsg. von Volker Michels, Bd. 1, Frankfurt am Main 1977, S. 490. Theodore Ziolkowski, Hermann Hesses Steppenwolf. Eine Sonate in Prosa, in: Materialien zu Hermann Hesses Der Steppenwolf, hrsg. von Volker Michels, Frankfurt am Main 1972, S. 353–376, hier S. 353. Vgl. Eugene F. Timpe, Hermann Hesse in den Vereinigten Staaten, in: Hermann Hesses Steppenwolf, hrsg. von Egon Schwarz, Königstein im Taunus 1980, S. 163–166, hier S. 163. Fred Haines, Hermann Hesse und die amerikanische Subkultur, in: Materialien zu Hermann Hesses Der Steppenwolf, S. 388–400, hier S. 395. Hermann Hesse, Der Steppenwolf, Frankfurt am Main 1974. Vgl. Siegfried Unseld, Hermann Hesse – eine Werkgeschichte, Frankfurt am Main 1974, S. 109. Ebd., S. 109. Aus dem Urteil des Zivilgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 27.4.1927, in: Materialien zu Hermann Hesses Der Steppenwolf, S. 115–116, hier S. 116.

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Geburtstagsfeier, die je ein Dichter sich selbst zelebrierte“, wie Kurt Pinthus in einer Rezension des Steppenwolfes im 8 Uhr-Abendblatt 1927 feststellte. Thematisch geht es im Steppenwolf um die Geschichte einer seelischen Krise. Der „annährend fünfzig Jahre“10 alte Harry Haller schildert eine entscheidende Etappe in seinem „Leben eines Selbstmörders“.11 Der Steppenwolf gliedert sich äußerlich in drei Abschnitte: Das „Vorwort des Herausgebers“, das „Tractat vom Steppenwolf“ und „Harry Hallers Aufzeichnungen“. Jeder dieser drei Teile ist aus einer anderen erzählerischen Perspektive heraus geschrieben. Im „Vorwort“ beschreibt der „Herausgeber“ (der Neffe der Hauswirtin, bei der Harry Haller wohnt) das Äußere des Steppenwolfes Harry Haller. Im „Tractat“ spricht ein imaginärer Verfasser von dessen Innerem. In seinen „Aufzeichnungen“ – die „nur für Verrückte“12 bestimmt sind – berichtet nun Harry Haller selbst von dem, was ihm widerfahren ist.13 Kunstvoll ist Der Steppenwolf in seinem Aufbau, „eine Sonate in Prosa“14 urteilte der Hesse-Forscher Theodore Ziolkowski. Für viele ist es deshalb das gekonnteste Werk des gebürtigen Calwers. Diese Erzählung ist sein wirkungsträchtigstes Buch, aber zugleich jenes, das am stärksten missverstanden wurde. Die Verkennung liege darin, so bemerkte der Autor schon 1941, dass dieses Buch von einem Fünfzigjährigen geschrieben sei und von den Problemen eben dieses Alters handle, aber sehr häufig von ganz jungen Menschen gelesen und deshalb falsch verstanden werde.15 Des Weiteren missfiel es Hesse sehr, dass so viele sich mit dem Steppenwolf identifizieren konnten: „Der Steppenwolf wird freundlicher aufgenommen als ich dachte und als mir lieb ist. Gerissene Journalisten und schmachtende Tanten entdecken plötzlich auch in sich den Steppenwolf und klopfen mir kollegial auf die Schulter!“16 „Der Steppenwolf selbst ist neurotisch, weil der Nachkriegsintellektuelle es ist“17 Zunächst stand die Beziehung zwischen Hermann Hesses Werk und der Rezeption in den USA unter einem denkbar ungünstigen Stern. Der Autor hegte typische deutsch-konservative Vorurteile gegen die USA. Der Amerikaner sei, so Hesse, ein vergnügter und genügsamer Halbmensch, dessen Musikalität im Handhaben eines Grammophons bestehe und für den ein gut lackierter Kraftwagen schon zur Welt des Schönen zähle.18 Aber seine Abneigung gegen den neuen Kontinent fiel nicht so sehr ins Gewicht wie die Gleichgültigkeit seitens der amerikanischen Medien,  10 11 12 13 14 15 16 17 18

Unseld, Hermann Hesse – eine Werkgeschichte, S. 115. Hesse, Der Steppenwolf, S. 7. Ebd., S. 25. Ebd., S. 29. Vgl. Hesse, Der Steppenwolf, S. 29–46, S. 74–237. Ziolkowski, Hermann Hesses Steppenwolf. Eine Sonate in Prosa, S. 353. Vgl. Unseld, Hermann Hesse – eine Werkgeschichte, S. 108. Brief an Felix Braun vom 8. Juli 1927, in: Materialien zu Hermann Hesses Der Steppenwolf, S. 121. Bernard Smith, Wölfe der Steppen, in: Hermann Hesses Steppenwolf, S. 56. Vgl. Siegfried Unseld, Hermann Hesses Wirkung, in: Über Hermann Hesse, Bd. 2, S.447–465, hier S. 448.

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Literaturkritiker und Leserschaft. Denn der gebildete – das heißt Bücher lesende – Amerikaner richtete sein Augenmerk stets auf den angloamerikanischen Kulturkreis, selten darüber hinaus, zum Beispiel auf die französische Literaturszene, noch seltener auf den deutschen Büchermarkt.19 Zwar lagen Hesses Werke Demian, Der Steppenwolf und Narziß und Goldmund wenige Jahre nach ihrem Erscheinen in Deutschland als amerikanische Ausgaben vor, doch eine breite Öffentlichkeit erreichten sie nicht.20 Wenn Rezensenten den Steppenwolf positiv erwähnten, dann ausgerechnet deshalb, weil dieses Buch „typisch deutsch“ sei: „Nur ein Deutscher, tief in den Traditionen von Walpurgisnacht und Werwolf befangen, hätte Steppenwolf schreiben können.“21 „Ein wimmernder Wolf wehklagt unter Qualen das Selbstmitleid.“22 Zu seinen Lebzeiten kümmerten sich die USA so wenig um Hermann Hesse wie dieser um die USA. Thornton Wilder, Henry Miller und Thomas Mann wiesen folgenlos auf sein Werk hin. „Ist es notwendig zu sagen, dass der Steppenwolf ein Romanwerk ist, das an experimenteller Gewagtheit dem Ulysses, den Faux monnayeurs nicht nachsteht?“ schrieb Thomas Mann 1948 in seinem Vorwort zur amerikanischen Ausgabe der Erzählung Demian.23 Selbst als Hermann Hesse 1946 den Literaturnobelpreis bekam – in Deutschland löste man dadurch eine Hesse-Renaissance aus – bewegte dies die amerikanischen Kritiker kaum. „Der Ruf des Autors scheint kaum groß genug, um den Nobelpreis zu rechtfertigen“,24 schrieb ein amerikanischer Journalist 1947, „das Buch wird keiner Sorte von Lesern empfohlen“25 ein anderer. „Es ist ein abstoßendes Beispiel jener bierseligen alten Sache, dem deutschen Romantizismus, der schon vor der Nazizeit krank in den letzten Zügen lag.“26 Arthur Gould vergleicht den Steppenwolf mit Goethes Leiden des jungen Werther und nennt Hesses Buch „modisch frisiert, aber immer noch so altmodisch und dumm“ wie Goethes Werk!27 Des Weiteren wurde darauf hingewiesen, dass Der Steppenwolf bereits 1929 in amerikanischer Übersetzung zu haben gewesen sei, aber „damals prompt von den meisten amerikanischen Lesern ignoriert wurde.28 Erst in den sechziger Jahren, als Hermann Hesse 19 Vgl. Egon Schwarz, Ein Fall globaler Rezeption: Hermann Hesse im Wandel der Zeiten, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 15/1974, S. 50–60, hier S. 50. 20 Vgl. Rudolf Koester, USA, in: Hermann Hesses weltweite Wirkung. Internationale Rezeptionsgeschichte, Bd. 1, hrsg. von Martin Pfeifer, Frankfurt am Main 1977, S.155–171, hier S. 156. 21 Anonym, Ein unvergesslicher Roman, in: Hermann Hesses Steppenwolf, S. 57. 22 Arthur Gould, Ein wimmernder Wolf wehklagt unter Qualen das Selbstmitleid, in: Hermann Hesses Steppenwolf, S. 67–68, hier S. 67. 23 Unseld, Hermann Hesse – eine Werkgeschichte, S. 117. 24 Edwin Seaver, Hesse findet kein Vergnügen in der trivialen Welt, in: Hermann Hesses Steppenwolf, S. 71–74, hier S. 71. 25 Charles Denecke, Der Steppenwolf, in: Hermann Hesses Steppenwolf, S. 64–65, hier S. 65. 26 Anonym, Preisträger, in: Hermann Hesses Steppenwolf, S. 70–71, hier S. 70. 27 Gould, Ein wimmernder Wolf wehklagt, S. 67. 28 Vgl. ebd., S. 67.

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in Deutschland wieder auf ein „literarisches Abstellgleis“29 geschoben wurde („Seien wir ehrlich, mit diesem Schriftsteller ist heute kein Blumentopf mehr zu gewinnen“30 schrieb der Zeit-Redakteur Rudolf Walter Leonhardt anlässlich von Hesses Tod im Jahre 1962), begann man, sich in den USA für diesen deutschen Autor zu interessieren.

„Hermann Hesse – ein umgekehrter Kolumbus: Er fuhr nach Indien und wurde in Amerika entdeckt!“31 Bereits in den fünfziger Jahren hatte es in verschiedenen Bereichen Bemühungen um den Schriftsteller gegeben, die man als Vorläufer der späteren Hesse-Welle werten kann. Erfolgreiche Neuansätze seitens der Verlage32 – zum Beispiel neue Übersetzungen (die erste Übertragung des Glasperlenspiels ins Amerikanische beispielsweise, das 1943 in der Schweiz erschienen war, wies erhebliche Mängel und sogar viele Übersetzungsfehler auf, wie eine Dissertation aus den fünfziger Jahren aufzeigte33) und der Druck von billigen Taschenbuchausgaben34 – ließen die akademischen Kreise aufhorchen. Diese wiederum – allen voran die Universitäten – bemühten sich um Besprechungen von Hesses Werken in Fachzeitschriften und um die Publikation von Sekundärliteratur.35 Wichtiger war aber noch die Würdigung, die dem Dichter in nicht akademischen Kreisen zuteil wurde. Denn die amerikanische Gegenkultur, die so genannten Beatniks, entdeckte Hesse. Der Auslöser mochte wohl Colin Wilson, das „Enfant terrible“ der britischen Literaturszene, mit seinem Buch The Outsider36 gewesen sein. Darin pries er 1957 Hesses Steppenwolf als faszinierenden Ideenroman37 und verbreitete den Ruhm des deutschen Dichters in zahlreichen Vorträgen vor amerikanischen Oberschülern und Studenten.38 Der Steppenwolf, konstatierte der Hesse-Biograph Ralph Freedman, sei das Buch des damaligen Amerika gewesen.39 Bei der amerikanischen Germanistik entstand eine unersättliche Nachfrage nach Hesse-Kursen.40 Der ehemalige Suhr-

29 Koester, USA, S. 157. 30 Volker Michels, Hermann Hesse, immer wieder Autor der jungen Generation. Die Renaissance dieses Schriftstellers und einige ihrer Gründe, in: Über Hermann Hesse, Bd. 2, S. 110–140, hier S. 112. 31 Eberhard Seybold, Hermann Hesse, in: Hermann Hesses weltweite Wirkung. Internationale Rezeptionsgeschichte. Dritter Band, hrsg. von Martin Pfeifer, Frankfurt am Main 1991, S. 245. 32 Vgl. Koester, USA, S. 157. 33 Vgl. ebd., S. 156. 34 Vgl. ebd., S. 157. 35 Vgl. Theodore Ziolkowski, Hermann Hesse in den USA, in: Hermann Hesses Steppenwolf, S. 177–181, hier S. 177. 36 Colin Wilson, The Outsider, Boston 1956. 37 Vgl. Colin Wilson, Der romantische Outsider, in: Über Hermann Hesse, hrsg. von Volker Michels, Bd. 1, Frankfurt am Main 1976, S. 279–298. 38 Vgl. Koester, USA, S. 158. 39 Vgl. ebd., S. 177. 40 Vgl. ebd., S. 162.

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kamp-Verleger Siegfried Unseld stellte fest, dass der amerikanische Student von 1967, quer durch alle Sozialschichten, Hermann Hesse las.41 Hermann Hesse war für viele der Repräsentant des von keiner Seite einkaufbaren Outsiders, die Personifizierung des Sandkorns im Uhrwerk.42 In ihrer Naivität wurde er von vielen amerikanischen Jugendlichen für einen Zeitgenossen, ja sogar einen Landsmann, gehalten.43 Auf die Frage, was dieser deutsche Schriftsteller der jungen amerikanischen Generation bringe, antwortete ein New Yorker Mädchen: „Hesse ist das antimaterialistische Ferment, das Amerika braucht.“44 Viele Dinge sprachen die damalige Jugend an Hesse an, denn er schien genau ihre Ziele – Protest gegen das Establishment, Revolte gegen den Vietnamkrieg, Kampf gegen Rassismus, Aufbruch zu neuem, fernöstlichem Gedankengut und Selbstfindung – zu propagieren. Sie sahen im Autor des Peter Camenzind den Umweltschützer, im Autor des Demian den Pazifisten, im Autor des Siddhartha und der Morgenlandfahrt den Sucher des höchsten Bewusstseins und im Autor des Steppenwolfs den Außenseiter und Nonkonformisten. Zwar schrieb Hermann Hesse nie ausdrücklich über Umweltverschmutzung, Überbevölkerung oder Ökologie, doch gingen ihm diese Probleme sehr nahe. Er beschrieb sie in seinen Dichtungen als gestörtes Verhältnis zwischen Geist und Natur. Im Januar 1971 veröffentlichte die Frauenzeitschrift Mademoiselle Hesses 1917 entstandenen Zeitungsartikel An einen Staatsminister.45 Was Hermann Hesse damals über den Ersten Weltkrieg geschrieben hatte, wurde nun unter dem Titel If the war goes on auf den Vietnamkrieg übertragen.46 Die Bücher des „Linksromantikers“47 schlossen die unterschiedlichsten Protestbewegungen – Hippies und Beatniks, Kriegsdienstverweigerer und engagierte Friedenskämpfer, Aussteiger und Sucher der östlichen Philosophien, LSD- und Haschisch-Anhänger – zusammen. Sie alle wählten Hesses Romane als Lebenshilfe. 1969 beschrieb der amerikanische Journalist George Steiner in einem Feature für den New Yorker eine Kommune in Haight Ashbury, der legendären Hippie-Hochburg San Franciscos. Ein Blumenmädchen habe ihm erzählt, dass man hier nicht viel lesen würde, außer Hermann Hesse natürlich. Aus ihrer Tasche habe sie sodann eine völlig zerlesene Ausgabe des Glasperlenspiels geholt und gesagt: „Wir lesen das hier. Ich kann es auswendig. Ich weiß verdammt genau fast jedes einzelne Wort daraus.“48 Und in der Küche habe er, zwischen Paprikaschoten liegend, den Step-

41 Vgl. ebd., S. 162. 42 Vgl. Egon Schwarz, Hermann Hesse, die amerikanische Jugendbewegung und Probleme der literarischen Wertung, in: Über Hermann Hesse, Bd. 2, S. 79–89, hier S. 92. 43 Vgl. ebd., S. 92. 44 Michels, Hermann Hesse, immer wieder Autor der jungen Generation. Die Renaissance dieses Schriftstellers und einige ihrer Gründe, S. 130. 45 Vgl. Hermann Hesse, An einen Staatsminister, in: Politik des Gewissens. Die politischen Schriften. Erster Band: 1914–1932, hrsg. von Volker Michels, Frankfurt am Main 1981, S. 211–215. 46 Vgl. Ziolkowski, Hermann Hesse in den USA, S. 178. 47 Schwarz, Hermann Hesse, die amerikanische Jugendbewegung und Probleme der literarischen Wertung, S. 92. 48 George Steiner, Eastward Ho!, in: Über Hermann Hesse, Bd. 2, S. 483–485, hier S. 484.

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penwolf entdeckt.49 So entstand allmählich das Zerrbild vom „Guru aus Montagnola“.50 „Vor deiner LSD-Sitzung solltest du Siddhartha und Steppenwolf lesen.“51 1963 brachte ein Artikel in der Zeitschrift Psychedelic Review eine der abwegigsten und zugleich einflussreichsten Hesse-Würdigungen. Der Psychologe Dr. Timothy Leary, ein abtrünniger Harvard-Dozent, von dessen LSD-Experimenten viele fasziniert waren, empfahl Hermann Hesses Bücher als das Werk des „Meisterführers zum psychedelischen Erlebnis“:52 „Vor deiner LSD-Sitzung solltest du Siddhartha und Steppenwolf lesen. Der letzte Teil des Steppenwolfs ist ein unschätzbares Lehrbuch.“53 Der Psychologe lehrte auf seinem Landsitz im Hudsontal – den er in Anlehnung an Das Glasperlenspiel „Kastalia“54 nannte – Bewusstseinsvertiefung unter anderem durch die Einnahme von LSD. Durch Learys viel beachteten Essay Hermann Hesse, the Poet of the Interior Journey hatte man nun sozusagen die staatlich geprüfte Legitimierung für einen Dropout.55 Leary fühlte seine Lehre durch den Steppenwolf gerechtfertigt, denn auch dort geht es an mehreren Stellen um Drogen. So bietet zum Beispiel der Trompeter Pablo im „Magischen Theater“ eine „herbsüße, wunderlich unbekannt und fremd schmeckende Flüssigkeit, die in der Tat unendlich belebend und beglückend wirkte“56 zu trinken und „drei dünne, lange, gelbe Zigaretten“57 zu rauchen an. Für Leary sei dies ein „klassische[r] Trip Report“58 gewesen, schlussfolgert Lutz Neitzert, dem jedes Blumenkind im Lotussitz, sei es auch literarisch noch so unbelesen gewesen, zwischen seinen Räucherstäbchen und Cannabisplantagen selig lächelnd habe folgen können. Weitere Passagen, zum Beispiel aus Siddhartha,59 scheinen diese These zu unterstreichen.

49 Vgl. ebd., S. 484. 50 Koester, USA, S. 164. 51 Timothy Leary, Meisterführer zum psychedelischen Erlebnis, in: Materialien zu Hermann Hesses Der Steppenwolf, S. 344–353, hier S. 352. 52 Ebd., S. 352. 53 Ebd., S. 352. 54 Sigrid Bauschinger, Die Beförderung des Hermann Hesse zum Heiligen. Die Hesse-Renaissance in Amerika, ihre Symptome und Folgen, in: Über Hermann Hesse, Bd. 2, S. 68–72, hier S. 70. 55 Vgl. Koester, USA, S. 160. 56 Hesse, Der Steppenwolf, S. 190. 57 Ebd., S. 190. 58 Lutz Neitzert, Abraxas und der Steppenwolf: Born to be wild! – Hippies lesen Hesse, in: SWR2-Dschungel (Baden-Baden) vom 2. Juli 2002. 59 „Er sah seines Freundes Siddhartha Gesicht nicht mehr, er sah stattdessen andre Gesichter, viele, eine lange Reihe, einen strömenden Fluss von Gesichtern, von Hunderten, von Tausenden, welche alle kamen und vergingen […] und doch Siddhartha waren.“ – Hermann Hesse, Siddhartha, Frankfurt am Main 1977, S. 107.

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„Hesse is beautiful, Hesse is God!“60 Zweifellos war Hesse nun ‚in‘ in den USA. Das vom Pop-Art-Künstler Andy Warhol stammende Hesse-Plakat prangte neben dem von Che Guevara. Studenten trugen grellfarbene Buttons mit entstellten Hesse-Zitaten darauf, wie zum Beispiel „Grooving beneath the Wheel?“, was so viel heißt wie „Wonnig unterm Rad?“61 Sie wollten damit auf ihr Leiden unter der Knute von Präsident Nixon aufmerksam machen und bedienten sich deshalb des 1906 erschienenen Romans62 um den Calwer Schüler Hans Giebenrath, dem die „Lateinschule zur Tragödie“63 wird und der deshalb „unterm Rad“64 landet. 1967 zählte das amerikanische Blatt Nation Hermann Hesse und J.R.R. Tolkien, den Autor des Herrn der Ringe, zu den „Top of the Pops“.65 Bis 1976 verkaufte sich Der Steppenwolf 1.600.000 Mal, dicht gefolgt von Siddhartha mit 1.402.000 Mal.66 Auf dem Höhepunkt der Hesse-Welle bemächtigte sich die Geschäftswelt ihrer und dies beschleunigte ihr Abflauen. Plötzlich gab es nicht nur Learys Castalia Foundation im Hudsontal, sondern „Hesse-Jünger“67 konnten das Studentenlokal The Magic Theater in Philadelphia besuchen, im Kleider- und Schmuckgeschäft namens The Bead Game in Manhattan einkaufen, im Demian‘s Rathskeller in Princeton und Siddhartha’s Pad in Bloomington ihr Bier trinken, in Steppenwolf-Bars gehen und in vegetarischen Siddhartha-Restaurants speisen und Glückwunschkarten mit den „Worten der Liebe“ aus Siddhartha verschicken, um nur einige Beispiele zu nennen.68 Und was las im April 1971 der Comic-Held Snoopy von den Peanuts zur Entspannung, während er auf seiner Hundehütte lag? Hermann Hesse – was sonst.69 Aus dem „deutschen Guru“,70 dem „Kulthelden der psychedelischen Generation“,71 dem „Heiligen der Hippies“72 war ein „Rattenfänger“73 für clevere Geschäftsleute geworden.

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Ziolkowski, Hermann Hesse in den USA, S. 178. Hans Joachim Maitre, Hesse, der Guru, in: Über Hermann Hesse, Bd. 2, S. 497–498, hier S. 498. Hermann Hesse, Unterm Rad, Frankfurt am Main 1972. Unseld, Hermann Hesse – eine Werkgeschichte, S. 25. Ebd., S. 24. Ziolkowski, Hermann Hesse in den USA, S. 178. Vgl. Koester, USA, S. 179. Klaus Harpprecht, Aus einem neuen Transatlantischen Tagebuch, in: Über Hermann Hesse, Bd. 2, S. 505–506, hier S. 505. Vgl. Ziolkowski, Hermann Hesse in den USA, S. 180. Ebd., S. 180. Ebd., S. 178. Ebd., S. 178. Ebd., S. 177. Ebd., S. 179.

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„Verdammt nochmal, ich möchte wissen, welche Musik dem alten Hermann Hesse selber vorgeschwebt hat“74 Fred Haines wies ein seinem Aufsatz Hermann Hesse und die amerikanische Subkultur darauf hin, dass der Hesse-Boom in den USA in den gleichen Jahren empor schnellte, in denen die neue musikalische Kultur der jungen Generation entstand.75 „Hesse-Paperbacks stapelten sich auf den Marshall-Verstärkern studentenbewegter Garagenbands“,76 konstatierte Lutz Neitzert in einem Rundfunk-Feature zu Hesses 125. Geburtstag. Die Gründe, warum sich Hippies und Beatniks gut mit dem bis zu seinem Tode zurückgezogen im Tessin lebenden Schriftsteller identifizieren konnten, wurden bereits erläutert. Hinzu kam die Tatsache, dass Musik ein zentrales Sujet in Hesses Werken ist, häufiger als bei anderen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts. Joachim-Ernst Berendt merkte in seinem Aufsatz Mozart ist Pablo. Hermann Hesse und die musikalische Subkultur an, dass im Glasperlenspiel Musik Gleichnis für die Schöpfung werde. In Gertrud sei vom Erlauschen der Sphärenharmonie als höchster und innigster Vorstellung reiner Seligkeit die Rede. Der junge Hesse habe sich selbst als Hermann Lauscher bezeichnet, als lauschenden, als hörenden Menschen. Klein aus der Erzählung Klein und Wagner erfahre in seinem Sterben die Erleuchtung als musikalisches Ereignis: „Aus dem Gesang der Seligen […] baute sich eine Kuppel aus Tönen, ein Dom von Musik, in dessen Mitte saß Gott.“77 Und Pablo, der Gegenspieler des Steppenwolfs, sei ein Jazz-Saxophonist. Damals habe Hesse gedichtet: „Wenn ich doch Banjo könnte spielen/ Und Saxophon in einer Jazzband blasen!“78 Diesem Gedicht habe er den bezeichnenden Titel Neid gegeben.79 „In Amerika geht der Steppenwolf um“80 titelte die Süddeutsche Zeitung im August 1968. Zahlreiche Bands – nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Europa – „outeten“ sich als Hesse-Fans. Die Progressive Rock-Band Yes inspirierten seine Bücher zu dem Album Close to the Edge. Auf dem Santana-Cover zu Abraxas steht Folgendes: „Ich stand davor und wurde vor innerer Anstrengung kalt bis in die Brust hinein. Ich fragte das Bild, ich klagte es an, ich liebkoste es, ich betete zu ihm; ich nannte es Mutter, ich nannte es Geliebte, nannte es Hure und Dirne, nannte es Abraxas.“81 Es handelt sich dabei um ein Zitat aus Demian. Jim Morrison von den Doors überraschte die Stern-Reporterin Florentine Pabst in einem Interview mit der Rezitation eines Hesse-Gedichts. Als diese ihn daraufhin auf

74 Joachim-Ernst Berendt, Hermann Hesse und die Musik, in: Booklet zu Hesse Between Music, Music Factory GmbH, Mainz 1974, S. 1–7, hier S. 1. 75 Vgl. Haines, Hermann Hesse und die amerikanische Subkultur, S. 395. 76 Neitzert, Abraxas und der Steppenwolf. 77 Hermann Hesse, Klein und Wagner, Frankfurt am Main 1979, S. 93. 78 Hermann Hesse, Neid, in: Materialien zum Steppenwolf, hrsg. von Volker Michels, Frankfurt am Main 1977, S. 171–172, hier S. 172. 79 Vgl. Joachim-Ernst Berendt, Mozart ist Pablo. Hermann Hesse und die musikalische Subkultur, in: Über Hermann Hesse, Bd. 2, S. 276–284, hier S. 276. 80 Robert von Berg, Auflagen-Millionär Hesse, in: ebd., S. 510–511, hier S. 510. 81 Hermann Hesse, Demian, Frankfurt am Main 1974, S. 138f.

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Friedrich Schiller ansprach, musste er passen – von diesem deutschen Dichter habe er noch nie etwas gehört.82 „Ein Steppenwolf trabt durch die Nacht“, heißt es in einem Artikel im Argentinischen Tageblatt im Jahre 1969, „die Nacht der großen Städte: New York, San Francisco, Pittsburgh, Chicago, Los Angeles. Er bewegt sich nicht auf eigenen Beinen, sondern im Überlandbus durch die Felsengebirge der Rocky Mountains oder in einer Autokolonne über die Hochgebirgspässe von Colorado und Utah. Dieser Steppenwolf, der wie seine vierbeinigen Brüder Nacht für Nacht sein Domizil wechselt, ist eine Combo aus fünf jungen Menschen, von denen zwei aus Deutschland stammen.“83 1968 nannte John Kay seine Rockgruppe The Sparrows in Steppenwolf um. Auf die Frage, warum die Band mit ihren legendären Hits wie The Pusher und Born to be Wild sich gerade diesen Namen gegeben habe, antwortete Bandleader Kay, dass man sich gut mit der Wolfsidee habe identifizieren können – primitiver Rock, animalischer Sound, usw. –, obwohl eine Menge Leute nicht gewusst hätten, was es zu bedeuten habe. Doch nachdem er das Buch gelesen habe, habe er darin noch mehr gefunden, nämlich das ziellose Umherschweifen zwischen Establishment und Aussteigen, die Suche nach Wärme und Behaglichkeit des Systems und zugleich den Wunsch nach vollkommener Isolation.84 Bei der englischen Spacerock-Band Hawkwind zeigte sich der Einfluss sowohl in den Lyrics, als auch in der Performance. Auf der Bühne verwandelte sich Sänger Bob Calvert allabendlich in Harry Haller. „I ��������� think Steppenwolf is a great book and Harry Haller is a fascinating character. […] The idea was to have the werewolf films combined with Hesse’s man wolf with a big distinction between the two“,85 gab er in einem Interview zu verstehen. ������������������������������������������ Den Kampf zwischen Mensch und Wolf machte Hawkwind auch zum Thema eines ihrer Lieder: In Steppenwolf aus dem Jahre 1976 sang Calvert, bei Konzerten ganz in schwarz gekleidet, mit Gehrock und Hut ausstaffiert, so dass er Harry Haller ähnelte, den Refrain auf deutsch: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Ein weiteres Beispiel, allerdings wesentlich später, finden wir bei dem amerikanischen Singer-Songwriter Graham Parker. Zwar ist sein Lied Just like Hermann Hesse erst 1992 aufgenommen worden, aber er erklärte in einem Interview gegenüber der Verfasserin, dass er den Impuls dazu um 1969 – im Zusammenhang mit Drogenkonsum – erhielt: „LSD! ������������������������������������������������ Hesse‘s writing was often uncannily reminiscent of the psychedelic experience. I wrote the song years after those days of using the drug, but, you know … it never really stops for some of us. […] I read a bit of Kerouac and Burroughs which may have crept into a few songs and also fit in nicely with the whole hippie thing. Hesse was all about the inner journey. […] It was around 1969 when I first started reading his work. I was taking acid fairly regularly and all the ,heads‘ were reading Hesse, along with other writers like Tolkien. I read Journey

82 83 84 85

Vgl. Neitzert, Abraxas und der Steppenwolf. Gerhard H. Wilk; Steppenwolf in den USA, in: Über Hermann Hesse, Bd. 2, S. 490–493, hier S. 490f. Magali Laure Nieradka, Calw feiert Hermann Hesses 125. Geburtstag, in: dpa-KORR, 5. August 2002. www.aural-innovations.com/robertcalvert/quotes/calvertquotes.html vom 1. September 2005.

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to the East which is like one long acid trip, Steppenwolf, Narcissus and Goldmund and Siddhartha.“86 Nach seinem großen Erfolg bei den Hippies und Beatniks in den USA wurde Hesse in den siebziger Jahren auch in seiner Heimat ein „Held der Popkultur“.87 Der „Morgenlandfahrer“88 Peter Michael Hamel produzierte 1974 mit seiner international besetzten Improvisationsgruppe Between die Platte Hesse between Music. Auch Deutschrocker Udo Lindenberg ist bekennender „Hessianer“.89 Ganz eindeutig zeigt sich das bei den Lyrics des Liedes Er wollte nach London von der Platte Alles klar auf der Andrea Doria aus dem Jahre 1973. Gleich drei wichtige Stichworte fallen hier: Hermann Hesse, Meditation und Saxophon. Eine späte, aber ziemlich berühmte Adaption ist die Vertonung von Hesses Liebesmärchen Piktors Verwandlungen der schwäbischen Krautrockband Anyone‘s Daughter von 1981. Selbst in Japan übten Hesses Texte einen Einfluss auf die Musik aus: Die Protestrockband Zunou Keisatsu, was soviel heißt wie Gedankenpolizei, verarbeitete sein Gedicht An Frau Welt zu dem Lied Sayounara Sekai Fujin Yo.90 Auch heute setzen sich noch junge Künstler mit dem „Guru von Montagnola“ auseinander. So zum Beispiel die amerikanische Sängerin Paula Cole, die ihren internationalen Durchbruch 1997 beim Baden-Badener New Pop Festival des Südwestrundfunks schaffte: „Ich habe Hesse für mich entdeckt, als ich 17 war“,91 erzählte sie der Frankfurter Rundschau. Narziß und Goldmund habe sie bisher dreimal gelesen, Siddhartha noch öfter. „Das hat mich tief berührt und verändert, diese klassische Reise des menschlichen Geistes, das ist so einfach wie tiefsinnig. Ich liebe ihn einfach.“92 „Die wahren Hesse-Kenner“, schrieb Joachim-Ernst Berendt 1976, „werden – auch wenn sie es heute nicht für möglich halten mögen – den Tag erleben, an dem sie den jungen Menschen der Subkultur, den Freunden der Rockmusik und alles dessen, was damit zusammenhängt, danken werden, dass sie den deutschen Dichter Hermann Hesse davor bewahrt haben, von den Gebildeten in unserem Lande vereinnahmt zu werden.“93

86 87 88 89 90 91

Magali Laure Nieradka, Interview mit Graham Parker, 2. September 2005. Joachim-Ernst Berendt, Hermann Hesse und die Musik, S. 6. Ebd. Magali Laure Nieradka, New Pop Festival 2004, in: dpa-KORR, 18. ��������������� September 2004. Es sei an dieser Stelle Dr. Joachim Scharloth für diese Information gedankt. Anonym, Steppenwolf half auf den Weg nach Hause. Paula Cole: Für Amen gerappt, gegospelt, gegroovt, in: Frankfurter Rundschau, 16. Oktober 1999. 92 Ebd. 93 Berendt, Mozart ist Pablo, S. 276.

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“The Germans Meet the Underground” The Politics of Pop in the Essener Songtage of 1968 Introduction In September 1968, the Ruhr Valley city of Essen hosted a cultural spectacle the likes of which Europe had never seen before. At the Essener Songtage [Essen SongDays] dozens of musical acts from all over the world performed over a five day period to an audience estimated at upwards of 40,000. With light shows, experimental films, open mic sessions and a psychedelic happening, the festival put on display for a European audience all the exciting new wares of the sixties cultural revolution. Billed as “Europe’s first great festival of folklore, folksong, chanson and good popular music” (note the distinction regarding popular music, to which we shall return) the Songtage were explicitly conceived of as a European answer to the Monterey Pop Festival which had taken place in California only a little over a year before. At Monterey, where Jimi Hendrix concluded his sexually-charged performance by setting fire to his Fender Stratocaster guitar, beckoning to the flames like an Indian snake-charmer as feedback moaned through stacks of Marshall amplifiers, the link between the new youth culture and the revolutionary potential of popular music was solidified for a mass audience. In importing this revolution to West Germany, the organizers of the Essener Songtage bridged not only continents and cultures, but musical and artistic genres. Top American acts like the Mothers of Invention and the Fugs shared billing with well-known figures of German political song like Franz Joseph Degenhardt and Dieter Süverkrüp; English performers like Julie Driscoll and Pink Floyd with jazz musicians like Gunter Hampel and Peter Brötzmann. Most strikingly of all, the festival showcased the new crop of German experimental rock bands – Amon Düül, Can, Tangerine Dream and others – marking the breakout of German performers onto the world stage. Showcasing both international and local performers, attended by fans from throughout Europe and beyond, the festival represented a key transnational moment of the late-sixties, signaling the birth of an international youth culture with popular music as its soundtrack. At the same time, the festival represented the dovetailing of the new youth culture with the new politics associated with the student left. Conceived by its organizers – and received by its detractors – as an explicitly political event, the festival helped crystallize debates  

Internationale Essener Song Tage (IEST 68) veranstaltet: (Press Release – English Version) Sammlung Uwe Husslein, Dokumentationszentrum für Popkultur, Köln. Information Nr 1, Sammlung Uwe Husslein.

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about the relationship between the mainstream and the “underground” (the buzzword of the festival, as we shall see) between art and commerce, and – above all – between popular music and politics. Pop and Politics in West Germany: A Brief Excursion It is only in retrospect that the left-wing extra-parliamentary opposition in West Germany and the new popular music can be seen as natural bedfellows. The student movement in 1960s West Germany exhibited little official interest in popular music. This was in part a matter of timing: the high period of the Socialist German Student League (SDS) – an organization which reached its apogee in 1968 and disbanded the following year – predated the massive interest in, and politicization of, popular music which would mark the period from 1968 on. More fundamentally, however, the serious and highly-theoretical orientation of the movement’s leaders left little room for a consideration of the potential emancipatory power that would be ascribed to rock and roll a few years later. This is not to say that these leaders ignored popular culture – Rudi Dutschke, the SDS firebrand, was sufficiently impressed by the Louis Malle film Viva Maria – a lightweight revolutionary sex farce that suggested to Dutschke how Marxism and anarchism might be combined in importing Third World revolution to the metropole (!) – that he named his working group within SDS after it. Dutschke also occasionally paid lip service to popular music, in one essay citing “the Stones and Aretha Franklin” as important harbingers of revolution alongside Malcolm X and Franz Fanon. But straddling as he did the transition between Old- and New Left – attempting to rescue the emancipatory potential and traditions of early Marxism and the pre-1933 working class movement while embracing the possibilities offered by Third World anti-colonialism – Dutschke never quite understood the appeal of the new youth culture organized around popular music.  

  

See Wolfgang Seidel, Scherben…, in: Scherben. Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben, ed. by Wolfgang Seidel, Mainz 2005, pp. 69–114. “In the Socialist German Student League,” writes Detlef Siegfried, “Beat Music as mass culture was looked at skeptically, because, as Theodor W. Adorno postulated in connection with the Beatles, it ‘represented in its objective form something backward;’” Detlef Siegfried, Unsere Woodstocks: Jugendkultur, Rockmusik und gesellschaftlicher Wandel um 1968, in: Rock! ��������������������������������� Jugend und Musik in Deutschland, ed. by Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, Berlin 1995, pp. 52–61, here p. 53. Alexander Holmig, ‘Wenn’s der Wahrheits(er)findung dient…’ Wirken und Wirkung der Berliner Kommune I (1967–1969), Magisterarbeit, Humboldt Universität, August 2004. Rudi Dutschke, Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf (1968) in: 1968. Eine Enzyklopädie, ed. by Rudolf Sievers, Frankfurt am Main 2004, pp. 252–262, here p. 260. Wolfgang Seidel observes: „Rudi Dutschke war nach dem Attentat auf ihn nach London gezogen und besuchte dort das Abschiedskonzert für Brian Jones in Hyde-Park. In seinem Tagebuch berichtet er ganz verständnislos von Tausenden junger Leute, die sich da sammelten, obwohl ‚die Band doch gar keine politische Botschaft’ habe. Er konnte diese Begeisterung wohl nicht verstehen, weil es zwischen ihm (und den Protagonisten des SDS) und den jungen Arbeitern, die plötzlich die Demonstrationen zu Massenveranstaltungen anschwellen ließen, einen sozialen Unterschied, aber auch einen Altersunterschied gab” (Wolfgang Seidel, Berlin und die Linke in den 1960ern. Die Entstehung der Ton Steine Scherben, in:

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Although the SDS – above all the anti-authoritarian wing headed by Dutschke – did contain the seeds of a cultural-revolutionary transformation, the most spectacular actions involving the student organization – those which did the most to escalate conflict between the students and the authorities – were instigated not by any governing body of SDS, but by the provocateur-clowns of the so-called Kommune I, a West Berlin ‘commune’ adept in scandalizing the petit bourgeoisie with (mostly staged) incidents of sexual revolution and anarchist terror. With the goal of making the revolution fun, the media-savvy communards blurred the boundaries separating politics from other areas of existence, seeking to erase the distinction between public and private, between art and life. The most notorious members of the Kommune I – Fritz Teufel and Rainer Langhans – became something very much like rock stars at a time (1966–1967) when West Germany had yet to produce any actual rock stars of its own. Fantasy figures of anti-authoritarian revolt, profiled in countless features in both the mainstream and left-wing press, Teufel and Langhans received voluminous fan mail from frustrated young people throughout the Federal Republic and beyond.10 Langhans and his girlfriend, the model Uschi Obermaier – who was also, unsurprisingly, a member of Amon Düül, one of the new German experimental rock groups which performed at the Essener Songtage – became darlings of the media, poster boy and girl for the new lifestyle revolution.11 In the second phase of the Kommune I beginning in late summer 1968, the communards took over a building in the Berlin Stephanstrasse – the “KI Fabrik” – where they retreated from the public sphere to delve inward using drugs and music as tools of personal and group exploration. Loose plans to form a band involving Langhans came to naught,12 and the Kommune I was never important for its relationship to music per se; but in helping to expand the field in which activist politics could be pursued – into the realm of the personal, the subjective – the communards helped open the ground for the use of personal lifestyle and appearance for the creation of political identity. It was in this politicization of the personal that the greatest emancipatory potential of popular music would later be seen to lie.13 Not everyone in the SDS approved of the Kommune I’s style of politics – many saw the flirtation with the mainstream media as selling out, the instigation of conflict with the authorities as both a distraction and a threat;14 but by the time the commu-



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Scherben. Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben, ed. by Wolfgang Seidel, Mainz 2005, pp. 25–50, here p. 44). On the Kommune see Ulrich Enzensberger, Die Jahre der Kommune I. Berlin 1967–1969, Köln 2004; Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001, p. 149–182. Thomas. Hütlin, Die Tage der Kommune, in: Der Spiegel, June 30, 1997, p. 100; see also Seidel, Berlin und die Linke in den 1960ern, p. 34. Collected ������������� in Korrespondenz der Kommune I, 1967–1968, Hamburg Institute for Social Research/HISArchiv, SAK 130.03. See Gerd Conradt, Starbuck. Holger Meins. Ein Porträt als Zeitbild, Berlin 2001, p. 99. ���������������� Antje Krüger, interview with the author, October 5, 2006. Klaus Weinhauer, Der Westberliner ‘underground’. Kneipen, Drogen und Musik, in: agit 883. Bewegung Revolte Underground in Westberlin 1969–1972, ed. by rotaprint 25, Berlin, 2006, p. 73–84, here p. 82. See Nick Thomas, Protest Movements in 1960s West Germany, Oxford and New York 2003, p. 103. ���������������

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nards were ejected from the student organization, it was too late to put the genie of cultural-provocation-as-politics back in the bottle. The tension between political and cultural versions of the revolution exacerbated by the notoriety of Kommune I mirrored a split in the extra-parliamentary opposition, a split which came to the fore from the end of 1968. In the wake of the attempted assassination of Rudi Dutschke in April of that year, the remains of the student movement split (speaking rather schematically) into ‘political’ and ‘countercultural’ wings. Many young activists joined the profusion of new Marxist-Leninist and Maoist parties – the so-called KGruppen [Communist Groups], while others retreated from formal political organization into a highly-politicized ‘freak’ subculture organized around urban squats.15 Here drugs, music, and – increasingly – anti-state violence combined with all the accoutrement of Anglo-American hippie culture to form a potent anti-authoritarian brew. Rock music and rock music culture played a key role in this scene as a means of transmission for anti-authoritarian ideas and style codes (sartorial and otherwise).16 Yet popular music also became a battleground over which the relationship between popular art and popular politics was fought out, a struggle which was foreshadowed in the Essener Songtage of 1968. “The greatest thing of its kind that has ever existed in Europe” In a way typical of an era of high expectations and boundless optimism, the organizers of the Essener Songtage conceived of their project in grandiose terms. The festival was to be “the greatest thing of its kind that has ever existed in Europe,” a total event bridging musical and artistic genres while staking a claim for the political and social relevance of popular culture.17 The leading light of the festival was a 25-year old music journalist from Cologne named Rolf Ulrich Kaiser. A pop-cultural renaissance man who first came to appreciate the social significance of popular music in connection with the annual folk song festivals at Burg Waldeck, Kaiser played a role in the debates around the political function of the festival during the mid-sixties. In 1967 he published a book on the international folk scene featuring interviews with leading American figures like Joan Baez and Pete Seeger. In 1969, he co-founded the Ohr record label which became home to many of the new experimental German rock groups who appeared at the Songtage. With his hand in radio, production, promotion, and publishing18– he wrote some dozen books on popular 15 ������������������� See Michael Baumann, How it all Began, Vancouver 1977; Ralf Reinders and Ronald Fritsch, Die Bewegung 2. Juni. Gespräche über Haschrebellen, Lorenzentführung, Knast, Berlin and Amsterdam 1995; Enzensberger, Die Jahre der Kommune I, chapter 13; see also the essays in agit 883. 16 See Weinhauer, Der Westberliner ‘underground’; on sartorial codes see Kathrin Fahlenbrach, ProtestInszenierungen, Visuelle Kommunikation und Kollektive Identitäten in Protestbewegungen, Wiesbaden 2002. 17 Internationale Essener Song Tage (IEST 68) veranstaltet: (Press Release – English Version) Sammlung Uwe Husslein. See ����������������������������������������������������� the photos and press excerpts on the festival in 1968 am Rhein: Satisfaction und ruhender Verkehr, ed. by Kurt Holl und Claudia Glunz, Köln 1998. 18 Uwe Husslein, ‘Heidi Loves You!’ in Knallgelb–oder: Psychedelia in Germania, in: Summer of Love. Art of the psychedelic Era, �������������������������������������� German edition, Stuttgart 2006; Kaiser’s books include Protestfibel. ������������� Formen einer

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music and underground culture between 1967 and 1972 – Kaiser was an indispensable organizational and intellectual talent behind the rise of the nascent German rock scene dubbed “Krautrock” by British music journalists.19 The rise of this new German scene was connected with a reevaluation of the value of popular music. No longer simply entertainment directed at teenagers – not ‘Beat Music’, as the music associated with the original British invasion was known in Germany – popular music was now to be recognized as a serious artistic and social force in its own right. This reevaluation was carried forward in the new West German music periodicals like Sound and Song. The decision of the latter in 1967 to begin covering pop and rock as ‘serious music’ alongside jazz and folk was indicative of the new direction.20 A key goal of the organizers of the Essener Songtage (which alongside Kaiser included Martin Degenhardt und Thomas Schröder) was to transmit this new evaluation of the worth of pop music to a mass audience. This assertion of worth – regarding not just popular music but also the broader culture of lifestyle and artistic experimentation with which it was connected – was expressed by the organizers of the Songtage through the idea of the ‘underground’, a term gaining a new currency in the 1960s as it was applied to aspects of the cultural explosion (e.g. ‘underground film’). The Songtage marked one of the first times that the idea of ‘the underground’ was systematically propagated as an antidote to the artistic and spiritual deficiencies of the ‘mainstream’. “Die ��������������������������� einen erschauern oder bekreuzigen sich,” read the festival’s press release, “die anderen wittern subversive Umtriebe [sic], viele denken an die Metro, einige an die Revolution, die meisten wissen mit dem Begriff nichts anzufangen: underground. Was das ist, underground oder Untergrund, das werden die Internationalen Essener Song Tage, IEST ’68, vom 25. Bis 29. September zeigen. IEST ’68 wird nicht nur Europas erstes großes Festival für Folklore, Chanson, Folksong und populäre Musik, sondern auch eine Mammut-Untergrund-Fete, ein Fest dessen, was kluge Leute von McLuhan bis Scheuch die Subkultur nennen.”21 The ������������������������������������������������������� use of terms like “subculture” and “underground” – and the citing of scholars like Marshall McLuhan and Fritz Scheuch – was an attempt to legitimate the festival and the youth revolution it claimed to represent, a focus also evident in the organizers’ trumpeting of the ‘Brain Trust’ of experts involved in choosing acts for the festival and the inclusion of panels and seminars during the festival to discuss the social significance of popular music.22 “[The] choice of artists

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neuen Kultur. Mit einem lexikographischen Anhang von Rolf-Ulrich Kaiser, Bern, 1968; Zapzapzappa— Das Buch der Mothers of Invention, Köln 1969; Bist doch ein Scheißer. Das Beste aus der deutschen Untergrundpresse, Düsseldorf 1969; Das Buch der Neuen Pop-Musik, Düsseldorf 1969; Underground? Pop? Nein! Gegenkultur!, Köln, 1970. The term retains currency to the present day. For a treatment of Krautrock in English see Julian Cope, Krautrock Sampler, London 1995. �������� Husslein, ‘Heidi Loves You!’ Internationale Essener Song Tage (IEST 68) veranstaltet: (Press Release – German Version) Sammlung Uwe Husslein. ������������������������������������������������������������������������������������������������������� Each day of the festival included a morning seminar on “The song as a means of expression in our time” (Internationale Essener Song Tage (IEST 68) veranstaltet: (Press Release – English Version), Sammlung Uwe Husslein.

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shows,” argued the organizers, “that this festival does not shut out [popular music], but…makes a definite [distinction] between tearjerkers and hit-songs.”23 The assertion of popular music’s artistic merit complimented the attempt to establish its political credentials. The two were intimately linked, indeed, for the claim to rock music’s artistic significance (and the attempt to connect rock music with a lineage embracing folk, jazz, and political song) were part of a larger attempt to establish and legitimize a sphere of cultural activity autonomous from traditional spheres and producers of culture.24 This autonomous sphere of culture—the “underground”—was not a sphere of “conspiracy and criminality,” but rather, argued the organizers, a sphere in which it was possible “to produce…without worrying about the commercial potential, that which is fun, which corresponds to one’s own convictions, which the established producers can’t and don’t want to do, and which is therefore not available in the [mainstream] market.”25 The idea of the underground was linked, in short, with the right to produce an alternative culture from below, a right linked with the assertion of artistic and social worth; the goal was “to advance and expand [through] ownership of the means of production, that which is created with the intention, not to entertain, but to enlighten, to agitate, to provoke, to develop awareness.”26 Many of the performers at the festival were, accordingly, chosen both for artistic and political merit. The political aspects of performers like the Mothers of Invention and the Fugs, the German agit-rock group Floh de Cologne and the political singer-songwriters like Wolf Biermann, were emphasized in the festival’s press releases. One entire segment of the festival – »Seht Euch diese Typen an!« – was dedicated to protest singers.27 The title, which mocked a leading West German politician’s well know cry of exasperation over the shaggy appearance of left-wing protesters, was clearly aimed at solidifying the link between underground culture and New Left politics.28 Acts like Floh de Cologne and the Fugs did not disappoint, the latter parading a porcine presidential candidate on stage during a performance featuring Vietcong flags and posters likening American vice president Hubert Humphrey to Adolf Hitler.29 Such provocations had the desired effect of scandalizing West German opinion (see below); but such explicit political displays represented only one face of the link between politics and music in the Essener Songtage. As important as the explicit anti-authoritarianism of many of the new performers was the perceived consonance between the experimental thrust of much of the new mu23 Information Nr 1, Sammlung Uwe Husslein. 24 Frank Gingeleit, The ‘Progressive Seventies’ in South Western Germany: Rock in the Rhein-Neckar Area. Nine Days’ Wonder, Kin Ping Meh, Twenty Sixty Six and Then, Tritonus, in: Aural Innovations, Nr. 21, 2002, http://www.aural-innovations.com/issues/issue21/issue21.html� �������������������������������������������������������������. 25 Internationale Essener Song Tage (IEST 68) veranstaltet: (Press Release—German Version) Sammlung Uwe Husslein. 26 Ibid. 27 The concert took place on Thursday afternoon in the large hall of the Essen youth center (the Youth Welfare Office of Essen was a co-sponsor of the event) and was repeated the following day in a different venue (cf. “Diese �������������������������������������� Typen,” Sammlung Uwe Husslein). 28 The leading West German politician was Klaus Schütz of the SPD. 29 (No author given), Sex Show mit Vietkong Fahne, in: Hellweger Anzeiger, September 27, 1968.

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sic – freer form, longer compositions, more eclectic instrumentation, the use of the new sonic possibilities offered by electronic amplification in general and the electronically-amplified guitar in particular – which differentiated it from the more-orless blues-based, more-or-less derivative compositions of Beat Music. In marking out “German Rock as a musical-political-psychedelic experimentation field”, the Songtage helped to solidify a new linkage between musical experimentation and cultural-political experimentation.30 This linkage was carried forward in the festival’s attempt to recreate, on West German soil, the psychedelic ‘happenings’ of San Francisco and New York. The Saturday night blow-out in Essen’s Grugahalle – entitled “Take a Trip to Asnidi,” or as festival co-organizer Thomas Schroeder preferred to call it, “Take a Trip to Hashnidi”,31 accomplished this in grand style.32 With 10,000 fans in attendance, light and strobe effects, continuously-running underground films, musical performances on two stages (often simultaneous) and Frank Zappa of the Mothers of Invention shouting “freak out” to the stoned masses, the event was meant to signal the full-scale arrival of the psychedelic revolution in West Germany.33

The Fugs performance at the Essener Songtage caricatured in the 8-Uhr Blatt, Nürnberg, October 10, 1968

30 Gingeleit, The ‘Progressive Seventies;’ Siegfried, Unsere Woodstocks, p. 55. 31 Thomas Schroeder, (no title given), in: Song-Magazine der IEST, 1968, no page numbers given. 32 The Saturday night “Happening” at the Grugahalle figures in a recent novel by Bernd Cailloux; see Bernd Cailloux, Das Geschäftsjahr 1968/69, Frankfurt am Main 2005. 33 Husslein, ‘Heidi Loves You!’

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“Where were the critical youth?” This unwelcome prospect was received with predictable alarm by the establishment. Press accounts of the festival, although not uniformly negative, emphasized its chaotic aspects while questioning its claims of political and social relevance. The condescending and sarcastic tone of much of the coverage was in part a product of the unprecedented tensions of the previous few years between members of the extraparliamentary opposition and defenders of the status quo; but it also reflected an attempt by the establishment to come to grips with the way that the two previously more-or-less separate foes of pop music and political protest seemed to be dovetailing together and morphing into some new as-yet-poorly understood but vaguely dangerous animal. The impression of a ‘revolutionary’ popular culture, and the conflation of the rhetoric of left-wing extremism with the rhetoric of youth cultural revolution, was a product not just of the festival organizers’ grand pronouncements, but was, as Detlef Siegfried has shown, heavily reinforced in the music advertising of the period.34 The link between pop and revolution forged by the Kommune I also played a role, and indeed, numerous press reports before the event speculated that members of Kommune I were traveling from Berlin to take part in the festivities.35 In the aftermath of the festivals, journalists deplored the ‘dirty hippies’ who had descended on Essen. Many papers chose to publish the same photograph, of two hippies asleep on a park bench, the filthy bare feet of one inches away from the greasy hair of the other, and expressed outrage at the “obscene” performances by groups like Floh de Cologne and the Fugs. Special outrage – and much coverage – was reserved for an incident in which Mayor Wilhelm Nieswandt was jeered and pelted with beer coasters by “members of the extra-parliamentary opposition.”36 Whether disapproving a case of “Sauerei in einem Schweinestall”37, lamenting “Obzönitäten und Krawalle”38, or blaming the festival’s problems on “eine aggressive Minderheit” of “kranke Jugend”39, press coverage of the festival sensationalized the events surrounding it and questioned whether a repeat event should be allowed. Significantly, some of the most biting criticism was reserved for the intellectual and political claims of the festival organizers. A number of writers juxtaposed the intellectual claims of West Germany’s “critical youth” – based in a commitment to the ‘critical theory’ of the Frankfurt School and exemplified in the founding of a

34 Siegfried, Unsere Woodstocks, p. 55. ��������������������������� See also Detlef Siegfried, Time is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Hamburg 2006. 35 (No author given), Kommune auch dabei, in: Siegener Zeitung, September 26, 1968. See also Peter W. Schröder, Auch ohne Teufel war der Teufel los, in: Wormser Zeitung, September 26, 1968. 36 Peter W. Schröder, Den OB machen wir fertig, in: Augsberger Allgemeine, October 6, 1968. 37 F.P., Das war Sauerei in einem Schweinestall, in: Essener Tageblatt, October 3, 1968. 38 Rüdiger Knott, Irre Orgien. Kleister, Sex und Hitlerreden bei den Essener Song-Tagen, in: Rhein Zeitung, October 3, 1968. 39 Thilo Koch, Die Kranke Jugend, in: NRZ am Rhein und Ruhr, October 10, 1968.

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“Critical University”40 in West Berlin in late 1966 – with the politics of cultural provocation on display at the festival. One writer concluded that young people who applauded an “obscene” performance by Floh de Cologne renounced any claim to possessing a critical intelligence: “Zwanzig Minuten auf der Bühne waren ausgefüllt mit einem gegenseitigen Bekleistern mit brauner Farbe, Zeigen von obszönen Bildern und tierischen Urlauten. Dennoch ����������������������������������������������������� war auch ihnen der Beifall wie allen sicher. Die Kritikfähigkeit der ‘kritischen Jugend’ strafte sich selber Lügen.”41 The West German television journalist Thilo Koch, writing in Die Zeit, described Floh de Cologne’s performance as a “Pseudo-Orgie in orangefarbenem Licht. �������� PlayboyNackedeis werden an die Bühnenwand projiziert”.42 Glee over the alleged failure of young smart-alecs to live up to their bold rhetoric – “critical youth asleep in Essen” was a fairly typical putdown – fairly leap off the pages of the press coverage of the festival.43 The concept of the ‘underground’ – as in “culture bums from the underground” – was the object of sarcastic attention.44 “Underground,” as one writer put it, was nothing but “a code word for the frustrated of every stripe.”45 In a piece published even before the festival had begun – “New Magical Formula for the Uninhibited? The Germans meet the Underground” – the Bayer-Kurier worried about what Germany should expect from an “underground” imported from the United States, a leading “hotbed of new religions for the frustrated [and the] neurotic.”46 With rather more sophistication, Die Zeit put its finger on the paradox of an “underground” placed on sale for mass consumption. “Den ����������������������������������� Eintritt in den Underground,” ��������������������������������� commentators, in a somewhat the paper wryly observed, “war nicht frei”.47 Many similar, if slightly disingenuous vein, tried to imply that the festival had somehow not been political enough – that is, that its claims to social-political relevance had been sabotaged by its fall into the subcultural gutter. In addition to complaining of the “hippie camp” established by festival-goers on the shores of the Baldeneysee, the Handelsblatt Düsseldorf questioned the social relevance of the festival, arguing rather disingenuously that the festival’s association with the idea of “subculture” cancelled out its association with the idea of “revolution”.48 The “Happening” in the Grugahalle, far from inspiring acts of liberation, rendered its participants into mere passive spectators. The festival promoters’ alleged failure of vision was conflated with the alleged sheep-like passivity of the masses of camped-out concert-goers sleeping off the party after the festival, with the sarcastic jibe “even revolutionaries need down-time” appearing in more than one press account of the event.49 At the 40 On the Critical University see Tilman Fichter and Siegward Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS, Berlin 1977, p. 112–114. 41 Rüdiger Knott, Auch Revoluzzer mögen Mußestunden, in: Neckar und Enzbote, Sep 30, 1968. 42 Thilo Koch, Lustverzicht, in: Die Zeit, October 18, 1968. 43 (No author given), Die kritische Jugend schlief in Essen, in: Rheinische-Merkur, Oct 1, 1968. 44 Kurt Unold, Unter-, vorder-, hintergründig. ‚Kultur Bums’ aus dem Untergrund bei ‚Essener-Song Tagen’, in: 5-Uhr Blatt, October 1, 1968. 45 Hans Vongerichten, Ferkeleien mit Stadt-Mitteln, in: Bayer Kurier, October 19, 1968. 46 (No author given), Neue Zauberformel für Hemmungslose?, in: Bayer-Kurier, September 9, 1968. 47 Manfred Sack, Underground an der Oberfläche, in: Die Zeit, Nr. 40, October 4, 1968, here p. 14. 48 Jochen Schumann, Subkultur statt Revolution, in: Handelsblatt Düsseldorf, date illegible. 49 (No author given), Die kritische Jugend schlief in Essen, in: Rheinische-Merkur, Oct 1, 1968.

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same time, the claim of passivity made in much of the newspaper coverage was echoed by some nominal supporters of the festival. “Anyone who came to the Essener Songtage to analyze the social function of the political song and to convert artistic protest into direct action”, observed the Bochumer Studenten Zeitung, “came away disappointed.”50 Complaining that the festival presented a “consumerism without discussion”, the article criticized the festival’s failure to more fully analyze the role – musical, political and otherwise – of the subculture it claimed to represent.51 Other sympathetic publications similarly questioned the extent to which the festival had suceeded in achieving a truly critical, truly political effect.52 Such criticisms hardly detracted from the success of the festival, which even many of its critics grudgingly acknowledged; but they did identify an unresolved tension at the heart of the festival’s attempt to combine music with politics, art with commerce, a tension that would become more pronounced in the years to follow. Conclusion In the aftermath of the Songtage, Rolf Ulrich Kaiser answered charges that the festival had failed in its aims by underlining the vital link between culture and politics. He argued that by “present[ing], in all its diversity, the other culture that until now lived [only] in the underground,” the festival had helped prepare the way for the elimination of taboos in television, radio and the recording industry. This emancipatory impulse, he argued, could not but have positive political consequences.53 Yet the idea of subculture connected with the festival – and the easy relationship between consumerism and revolution it assumed – became a point of heated contention as the psychedelic hippie era of optimistic experimentation began to turn, in West Germany, into a highly politicized and bitter struggle between denizens of the subculture and the rest of society. Even as consumer capitalism became more adept at commodifying youthful rebellion, rock music came to be seen as the “property” of the extreme left.54 The anarchist underground press in West Germany tended to treat bands according to the seriousness with which they were believed to represent the interests of ‘the revolution’.55 The American group Grand Funk Railroad, for example, was dismissed as “the prototype of a capitalist pop group”56, while other performers like Jimi Hendrix, the MC-5, and the German group Ton Steine Scher-

50 (No author given), IEST: Verpopt, verpatzt, und bald [illegible], in: Bochumer Studenten Zeitung, Nr. 30, October 10, 1968. 51 Ibid. 52 (No author given), Waldeck ohne Wald, in: tatsachen, Nr. 41/68, October 12, 1968. 53 (No author given), Songtage waren Hoffnung für die ‘Kultur aus dem Untergrund,’ in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 229, October 1, 1968. 54 Detlef Siegfried, Unsere Woodstocks, here p. 56. 55 Weinhauer, Der Westberliner ‘underground’, p.  81. 56 “Falls Grand Funk Railroad jemals nach Berlin kommt, werden wir ihnen auf alle Fälle das Geschäft versauern” ((no author given), Fizz, Nr. 1, reprinted in Fizz Re-Print 1–10, Berlin, 1989).

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ben57 were held up as praiseworthy examples of radical art.58 The music industry was criticized for exploitation of bands and fans.59 In the leading West Berlin radical paper 883, the possibilities of liberation through popular music and subculture were the subject of ongoing debate.60 While recognizing that popular music and subcultural identity could play a role in freeing consciousness and strengthening resistance to capitalism’s demands at the level of daily life, the paper also criticized the role played by hippies in the commercialization of the underground.61 Members of the West Berlin radical scene – the ‘Blues’ scene as it was known to its members (note the musical connotation of the name) – took this critique a step further, attacking the Berlin premier of the musical Hair for its alleged role in paving the way for the destruction of the true Berlin subculture. “We are well aware,” read a flier distributed in connection with the action, “that ‘Hair’ only appears in the guise of the subculture in order to gratify capitalist demands”.62 Rolf Ulrich Kaiser came face to face with this sort of criticism when he appeared, in December 1971, on the WDR television program “Ende offen...” to take part in a round table discussion on “Pop und Co—Die andere Musik zwischen Protest und Markt.” Also on the panel was Nikel Pallat, manager of the radical rock group Ton Steine Scherben. After abusing Kaiser for several minutes—“du arbeitest für den Unterdrucker und nicht gegen den Unterdrucker”—Palet attacked the studio table with an axe (for some 45 seconds!), and was only hussled away by shocked personnel after he began stuffing the studio’s microphones into his pockets.63 In claiming the right of the underground to define itself from below, such attacks hit upon a major contradiction, one that lay at the heart of the Essener Songtage. Probing at unresolved tensions – between passive consumerism and active self-invention, between the ‘underground’ and the ‘mainstream’, between art as entertainment and art as revolution – they pinpointed dichotomies that the festival, conceived in the heady days of sixties optimism, had attempted but failed to bridge.

57 On the Scherben see Kai Sichtermann and Jens Johler, Keine Macht für Niemand, Berlin, 2000; Rio Reiser, König von Deutschland. Errinnerungen an Ton Steine Scherben und mehr. Erzählt von ihm selbst und Hannes Eyber, Berlin, 2001; Seidel, Berlin und die Linke in den 1960ern, here p. 48. 58 See (no author given), Ton Steine Scherben, in: 883, Nr. 73, 24.12.1970; Scherben machen auch Musik, in: 883, Nr. 83, 3.7.71, reprinted on DVD in agit 883. 59 See (no author given), Stones, Spooky-Tooth, Broughton etc.: Macht Schluss mit der Ausbeutung der Veranstalter!, in: 883, Nr. 71, 15 October 1970, in ibid. 60 See Weinhauer, Der Westberliner ‘Underground’, here pp. 82–83. 61 See (no author given), Sind Hippies Kulturrevolutionäre?, in: 883, Nr. 35, 9 October 1969, in agit 883. 62 See (no author given), Ist ‘Hair’ Subkultur?, in: Gefunde Fragmente 1967–1980, ed. by Die Umherschweifenden Haschrebellen et al., Berlin 2004. 63 See Sichtermann, Keine Macht für Niemand, here pp. 66–69. Also ������������������������������������������ present at the roundtable discussion were the music theorist Heinz-Klaus Metzger, the journalist Wolfgang Hamm, and Conny Weit, a member of the group Popol Vuh.

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Friedliche Utopien und Kommerz Die Musikkultur der Hippies Gesellschaftlicher Protest artikulierte sich in den späten 1960er Jahren nicht nur in lautstarken Demonstrationen, sondern auch in der Ausbildung alternativer Lebenskonzeptionen. Dass insbesondere die Hippie-Bewegung ein positives Gegenbild zu der als langweilig und korrumpiert empfundenen bürgerlichen Gesellschaft zu entwerfen suchte, machen schon die von ihr propagierten Werte deutlich, die die etablierte amerikanische Werteordnung ins genaue Gegenteil verkehrten: Gefühl statt Vernunft, Selbstbestimmung statt Anpassung, Liebe statt Macht, Friedfertigkeit statt Gewalt, ungehemmte Sexualität statt prüder Lustfeindlichkeit. Noch während der Blütezeit der Hippies setzte massiv eine romantisierende Verklärung und Kommerzialisierung ein. Im folgenden soll gefragt werden, welche Interessen hinter der diesen Prozess begleitenden Mythenbildung vermutet werden können und warum das Millionenpublikum, dass in der Realität mehrheitlich andere Lebensentwürfe verfolgte, sich mit den Symbolen und der Musik der Hippies so hervorragend identifizieren konnte. Dazu wird deren Musikkultur überblicksartig dargestellt und auf die Widersprüche von Ideal und Wirklichkeit hingewiesen, wie sie bereits in den sechziger Jahren erlebt wurden. Musik war eines der ‚Bindemittel‘, die die Hippie-Bewegung zusammenhielt, denn ihre Zusammenkünfte waren immer auch musikalische Events: Rockgruppen wie The Grateful Dead spielten bei den ersten Acid-Tests im Jahre 1966 – Parties, auf denen gemeinsam LSD konsumiert wurde – ebenso wie bei den ersten be-ins im Januar 1967 im Golden Gate Park, die als Vorläufer der wenig später einsetzenden Rockfestivals angesehen werden können. Nach der Auffassung von John Bassett McCleary, dem Autor des Hippie-Dictionary, kann die Bedeutung von Musik für die Bewegung schwerlich überschätzt werden, war sie doch das wichtigste Medium, durch das ihre sozialen und politischen Anliegen ausgedrückt wurden. Von einer homogenen Musikkultur der Hippies kann freilich nicht die Rede sein, denn wenngleich mit dem Acid Rock bzw. Psychedelic Rock eine der Bewegung durchaus eigene Musikrichtung entstand, zeichnet sich der San Francisco Sound – der Ausgangspunkt der Hippie-Bewegung war zeitweilig das Rockzentrum der USA – gerade durch stilistische Vielfalt von Blues, Folk, Rock und anderen Stilen aus, wie im Juni 1967 in der Zeitschrift Time zu lesen war: „The San Francisco Sound encompasses everything from bluegrass to Indian ragas, from Bach to jug-band music 

John Bassett McCleary, The Hippie Dictionary: A Cultural Encyclopedia (and Phraseicon) of the 1960s and 1970s, Berkeley und Toronto 2002, S. 335.

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– often within the framework of a single song. �������������������������������������� It’s a raw, raucous, rough-hewn sound that has the spark and spontaneity of a free-for-all jam session.“� Symbolische Demarkationslinien Rockmusik war in den 1950er und 60er Jahren gleichbedeutend mit Protest gegen die bestehende Ordnung. Wie Musik in späteren Jugendkulturen diente auch Rockmusik der Identitätsstiftung durch Abgrenzung: Durch den gemeinsamen Konsum dieser Musik grenzten sich ihre Anhänger von den Jugendlichen ab, die nicht ‚dazugehörten‘. Vor allem aber diente Rockmusik dazu, eine symbolische Demarkationslinie zur Welt der Erwachsenen zu ziehen, von denen diese Musik in der Regel vehement abgelehnt wurde. (Daher kann Rockmusik von Gruppen wie den Rolling Stones heute nicht mehr Identität stiften, weil Eltern keineswegs abgeschreckt werden, sondern im Zweifelsfall zum Konzert mitkommen.) Daneben werden durch den Musikbereich auch bestimmte Lebensstile und Wertemuster propagiert, so war Rockmusik immer eng verknüpft mit dem Diskurs um die Länge der Haare; dabei ging es natürlich nicht wirklich um Frisuren, das Tragen langer Haare war vielmehr eine symbolische Handlung des Widerstands. Ein schwer aufzulösendes Paradoxon – dass schon in der Zeit oft als problematisch empfunden wurde – ist allerdings, dass eine Gegenkultur wie die, die der Gegenstand dieses Artikels ist, immer auch von dem System getragen wird, gegen das sie sich richtet. So wurden die Hippies, die meist keiner geregelten Beschäftigung nachgingen, letztlich vom dem System unterhalten, gegen das sie sich richteten. Denn auch wenn sich etwa Joan Baez immer wieder dezidiert gegen das kapitalistische System wandte, waren ihre kommerziell gigantisch erfolgreichen Schallplatten doch ein funktionierender Teil dieses Systems. Rockmusik war also eines der wichtigsten Ventile, um dem Verlangen nach gesellschaftlichen Veränderungen, das zumindest einen erheblichen Teil der Jugend erfüllte, Ausdruck zu verleihen. Schon der Rock’n’roll hatte diese Protestfunktion seit Bill Haleys im Jahre 1954 veröffentlichter Single Rock Around The Clock erfüllt: Frustrierte Jugendliche deuteten den Song, der durch den Film Blackboard Jungle (1955, dt. Die Saat der Gewalt) einem größeren Publikum bekannt wurde, als ein Fanal und randalierten in den Kinos ebenso wie in den Konzerthallen, in denen Haley und die Comets auftraten, um auf diese Weise ihren Protest gegen die kulturindustrielle Vermarktung zu artikulieren, der sie letztlich jedoch das Konzertereignis verdankten. Der „Komet der Triebentfesselung“, wie die Zeitung Rheinischer Merkur Haley anläßlich einer Deutschland-Tournee bezeichnete, habe „einen Generalangriff auf Geschmack, Achtung und Selbstachtung“ gewagt. Sorgfältig inszenierten sich auch später Rockgruppen wie die Rolling Stones als Rebellen, kultivierten ihr „Bad-Boy-Image“ durch bewußt rüpelhaftes Auftreten und demonstrativ  

Zitiert nach Gene Sculatti und Davin Seay, San Francisco Nights. The Psychedelic Music Trip, 1965–1968, London 1985, S. 99. Zitiert nach Siegfried Schmidt-Joos und Barry Graves unter Mitarbeit von Bernie Sigg, Rock-Lexikon, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 135.

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in die Öffentlichkeit getragene Drogen-Exzesse. Auch wenn die Fans selbst in der Regel nicht so weit über die Stränge schlugen wie ihre Idole, so ermöglichte es die Identifikation mit diesen der eigenen, vielfach nur diffus empfundenen Unzufriedenheit einen Ausdruck zu verleihen und sie zu kanalisieren. Hier bahnte sich ein neues Protestverhalten seinen Weg, dass „sich nicht primär mit den politischen Inhalten der Songtexte verband, sondern mit einem neuen Körpergefühl, einem rauschhaften Erleben, das ganz auf [das] Individuum ausgerichtet war“ und „auf eine gefühlsbetonte Grenzüberschreitung und imaginative Welterweiterung“ abzielte. Der Protest der Hippie-Bewegung war in aller Regel friedlich; verglichen mit der vorhergehenden Generation „war diese Jugend [...] sanfter, gewaltloser als diejenige der fünfziger Jahre, und sie liebte auch sanftere Klänge“. Die rüpelhaft-rebellische Pose der Rolling Stones scheint in der Hippie-Musik eine eher untergeordnete Rolle zu spielen. Ähnlich untypisch waren für die Hippie-Bewegung auch Ausdrucksdimensionen des Vulgären und der Erotik, auch wenn diese Eigenschaften offenbar der Bluessängerin Janis Joplin, einer der Leitfiguren der Hippie-Bewegung, zu eigen waren. Jedenfalls machte ihr hemmungsloser Gesangsstil auf den Kritiker Al Aronowitz den Eindruck, „als würde sie von der zweiten Etage eines Bordells herunterbrüllen: Kommt rauf!“ Ihre Expressivität, die sich – wie das im Zitat evozierte Bild eines Freudenhauses treffend umreißt – gleichermaßen des Vulgären wie der Erotik bediente, ist dabei eher eine Spielart von Rockmusik, für die sich die Bezeichnungen Psychedelic Rock bzw. Acid Rock eingeprägt haben. In dieser drückte sich in gewisser Weise eine Lebenskonzeption aus, die nicht auf gewaltsame äußere Veränderungen abzielte, sondern die eine bessere Welt durch die Neugestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen erreichen wollte – und diese definierte sich dabei vor allem durch Erotik und Sex. Um dafür das Bewusstsein und die Sensibilität zu schärfen, dazu sollte auch die Musik dienen. „����������������������� The stage is our bed“, spitzte es Marty Balin von der Rockgruppe Jefferson Airplane zu, „����������������� ������������������ and the audience is our broad. ������������������������������������������� We’re not entertaining, we’re making love“. Eine Verbesserung der Welt erhoffte man sich aber auch durch den Gebrauch fernöstlicher Meditationstechniken wie durch den Konsum von Drogen. „Erlösung“ durch LSD Die Bezeichnung ‚Acid Rock‘, die mit dem Terminus ‚Acid‘ auf LSD explizit Bezug nimmt, legt nahe, dass zum Verständnis dieser Musik die in den 1960er Jahren im Gebrauch befindlichen bewusstseinsverändernden Drogen ein Schlüssel ist. Das Wortpaar ‚Drogen und Rockmusik‘ kann drei Sachverhalte bezeichnen: Eine Musik, die unter dem Einfluss von Drogen entstanden ist; eine Musik, die zum Hören im    

Knut Hickethier, Protestkultur und alternative Lebensformen, in: Die Kultur der 60er Jahre, hrsg. von Werner Faulstich, München 2003, S. 11–30, hier S. 16. Tibor Kneif, Rockmusik und Subkultur, in: Rockmusik. Aspekte zur Geschichte, Ästhetik, Produktion, hrsg. von Wolfgang Sandner, Mainz 1977, S. 37–51, hier S. 38. Zitiert nach Schmidt-Joos und Graves, Rock-Lexikon, S. 160. Zitiert nach Sculatti und Seay, San Francisco Nights, S. 6.

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Rauschzustand bestimmt bzw. besonders geeignet ist, und eine Musik, die dem Rauschzustand vergleichbare Sinneserlebnisse, Visionen und Halluzinationen hervorrufen kann. Bei den verwendeten Rauschgiften handelte es sich (neben dem weitaus schwächer wirkenden Marihuana) vor allem um das synthetisch erzeugte Lysergsäurediäthylamid (LSD) sowie zwei in der Natur vorkommende Substanzen: das aus einem Pilz gewonnene Psilocybin und das aus einem Kaktus hergestellte Mescalin, welche beide schon von den indianischen Ureinwohnern Nordamerikas zu kultischen Handlungen verwendet worden waren. Die Verbreitung von Drogen war in den 1960er Jahren enorm, sollte aber auch nicht überschätzt werden: 1967 ergab eine Untersuchung, dass ein Viertel der Studenten in Berkeley Marihuana rauchte und dass 7% von ihnen in Kontakt mit LSD gekommen waren. Das heißt umgekehrt, dass selbst in der Hochburg der Hippie-Kultur drei Viertel der Studenten – also die übergroße Mehrheit – mit Drogen nichts zu tun hatte. Wie man sich die Wirkung von LSD vorzustellen hat, verdeutlicht der Erfahrungsbericht des ersten Rauschs, der überhaupt erlebt wurde. Diesen erfuhr während des zweiten Weltkriegs der beim Schweizer Pharmahersteller Sandoz angestellte Chemiker Albert Hofmann, der LSD auf der Suche nach einem Kreislaufstimulans synthetisiert hatte. Nach einem Selbstversuch konnte er seinem Vorgesetzten anschließend berichten: „Vergangenen Freitag, 16. April 1943, mußte ich mitten am Nachmittag meine Arbeit im Laboratorium unterbrechen und mich nach Hause begeben, da ich von einer merkwürdigen Unruhe, verbunden mit leichten Schwindelgefühlen befallen war. Zu Hause legte ich mich nieder und versank in einen nicht unangenehmen rauschartigen Zustand, der sich durch eine äußerst angeregte Phantasie kennzeichnete. Im Dämmerzustand – das Tageslicht empfand ich als unangenehm grell – drangen ununterbrochen phantastische Bilder von außerordentlicher Plastizität und mit intensivem, kaleidoskopartigem Farbenspiel auf mich ein. Nach etwa zwei Stunden verflüchtigte sich der Zustand.“10 Bemerkenswert ist, dass, auch wenn der Rausch nach einiger Zeit nachlässt, sich der Konsument danach noch an alle wahrgenommenen Einzelheiten erinnern kann. Meist kommt es erst zu diesem Zeitpunkt zur Kunstproduktion im eigentlichen Sinne wie dem Malen davon inspirierter Bilder, was während den überbordenden Sinneseindrücken des Rauschs kaum möglich war.11 LSD ruft psychotische Erscheinungen wie Halluzinationen hervor, die denen der Schizophrenie gleichen. Die Gefahren der Droge waren in den sechziger Jahren gut bekannt, nicht zuletzt, da der amerikanische Geheimdienst CIA auf der Suche nach einer Wahrheitsdroge groß angelegte Versuchsreihen mit LSD angestellt hatte, während denen offenbar Probanden zu Tode kamen, weil sie sich im Zustand para-



Tibor Kneif, Sachlexikon Rockmusik. Instrumente, Stile, Techniken, Industrie und Geschichte, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 186.  Jacques Barsamian und François Jouffa, L’Âge d’or de la Rock Music. ����������������������������������� Blues, country, rock’n’roll, soul, San Francisco sound, underground, hippies, festivals, Paris 1986, S. 128. 10 Albert Hofmann, LSD – mein Sorgenkind, München 1993, S. 27. 11 Ebd.

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noider Verwirrung aus dem Fenster gestürzt hatten.12 Einen „Horrortrip“, bei dem er sich dem Tode nahe fühlte, hatte schon der Chemiker Hofmann beim ersten absichtlichen Selbstversuch erlebt.13 Neben diesen Reaktionen führte LSD-Genuss häufig zu schweren Unfällen, da Konsumenten im Gefühl der Allmacht ihre Fähigkeiten überschätzen, bis hin zur fatalen Fehleinschätzung, fliegen zu können. Albert Hofmann warnte eindringlich davor, LSD als Genussmittel zu missbrauchen, propagierte es jedoch als ein unter ärztlicher Aufsicht zu verabreichendes Hilfsmittel zur Psychotherapie; hierfür wurde die Droge auch zeitweise von Sandoz vermarktet. Durch LSD erfährt „das alltägliche Weltbild eine tief greifende Umwandlung und Erschütterung“, womit „eine Lockerung oder gar Aufhebung der Ich-Du-Schranke“ verbunden sein kann, was bei Ich-bezogenen Störungen einen positiven Therapieeffekt nach sich ziehen könne.14 Genau diese Wirkung machte LSD für die Hippie-Bewegung so interessant, hoffte sie doch, durch Veränderungen des Einzelnen eine bessere Gesellschaft auf den Weg zu bringen. Das „visionäre Erkennen einer tieferen, umfassenderen Wirklichkeit als der, welche unserem rationalen Alltagsbewußtsein entspricht“15 – dies stellte LSD zumindest scheinbar in Aussicht – erschien dafür als ein gangbarer Weg. Obwohl 1966 in den USA verboten, wurde LSD bekanntlich zur Modedroge der Zeit. Die weitere Verbreitung ist mit dem Namen Timothy Leary verbunden, einem zur Durchführung von psychologischen Experimenten mit LSD und Psilocybin an Harvard berufenen, dann jedoch gerade deshalb aus Harvard entlassenen Psychologieprofessor, dessen Publikationen LSD erfolgreich als den kürzesten Weg zu einer Art von mystischer Erleuchtung propagierten. Die Fähigkeit der Droge, nicht nur ungeahnte Reisen in das Innere zu machen, sondern auch tiefgehende religiöse Gefühle zu erzeugen, ließ ihr eine Bedeutung zukommen, die über die bloß aufputschende oder sedierende Wirkung anderer Drogen weit hinausging. Mit einem geradezu missionarischen Eifer verbreitete Leary die Botschaft einer Erlösung durch LSD. Sich selbst rechnete er zu „den Alchemisten des Bewußtseins, den Gelehrten des Bewußtseins“, und reihte sich wegen seiner drogenbedingten Aufenthalte in amerikanischen Haftanstalten selbstbewusst in eine lange Tradition ein: „Von den großen Männern der Vergangenheit, die ich als Vorbilder betrachte, war fast jeder im Gefängnis oder seines spirituellen Glaubens wegen mit Gefängnis bedroht: Gandhi, Jesus, Sokrates, Laotse.“16 Für den selbsternannten „Messias und Märtyrer der psychedelischen Bewegung“17, „Papst einer neuen Religion, deren Hostie LSD war“18 und „Priester des Gottes Acid“19 war seine Arbeit für die Verbreitung des Drogenkonsums „grundsätzlich religiös, weil sie die systematische Erweiterung des 12 Siehe Jay Stevens, Storming Heaven. LSD and the American Dream, New York 1987. 13 „Ein Dämon war in mich eingedrungen und hatte von meinem Körper, von meinen Sinnen und meiner Seele Besitz ergriffen“ (ebd., S. 30). 14 Ebd., S. 54. 15 Ebd., S. 9. 16 Timothy Leary, Politik der Ekstase, Hamburg 1970, S. 9. 17 Ebd., S. 17. 18 Barsamian und Jouffa, L’Âge d’or de la Rock Music, S. 128. 19 Harry Shapiro, Sky High. Droge und Musik im 20. Jahrhundert, Wien 1995, S. 182.

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Bewußtseins und die Entdeckung innerer Energien zum Ziele hat, die von den Menschen ‚göttlich‘ genannt werden. [...] Das Streben aller östlichen Religionen gilt, wie das Streben von LSD dem High: das heißt, das Bewußtsein zu erweitern und darin Ekstase und Offenbarung zu finden.“20 Letztlich diente die Droge in seinen Augen der Weltverbesserung, denn eine „Gesellschaft, in der ein großer Prozentsatz der Bevölkerung regelmäßig und harmonisch sein Bewußtsein mit psychedelischen Drogen verändert, wird eine ganz andere Lebensweise hervorbringen.“21 Inwieweit diese ideologische Verbrämung des Drogenkonsums – von Leary in den handlichen Slogan „turn on – tune in – drop out“22 verpackt – vom Gros der Konsumenten wirklich „geglaubt“ wurde, kann hier nicht diskutiert werden. Zweifellos sanktionierten Learys Botschaften aber für viele den Gebrauch von LSD, und zwar umso nachdrücklicher, als sie von einem in der amerikanischen Gesellschaft Geächteten stammten. Der Drogenkonsum war letztlich auch für den frühen Tod einiger der wichtigsten Künstler verantwortlich – Brian Jones wurde nur 25, Janis Joplin starb mit 27, Jimi Hendrix und Jim Morrison mit 28 –, auch wenn diese nicht unmittelbar an LSD starben. Drogen und Musik Die Wirkung von LSD sollte besonders für die Rockmusik von Bedeutung sein, weil sie eine Überfülle von Sinneseindrücken, Bildern, Tönen und Farben hervorruft und die Fähigkeit zur Synästhesie verstärkt, also den Eindruck erweckt, dass man Farben „hören“ und Töne „sehen“ kann. Derartige Erfahrungen machte Hofmann bereits bei den ersten Versuchen: „Kaleidoskopartig sich verändernd drangen bunte phantastische Gebilde auf mich ein, in Kreisen und Spiralen sich öffnend und wieder schließend, in Farbfontänen zersprühend, sich neu ordnend und kreuzend, in ständigem Fluß. Besonders merkwürdig war, wie alle akustischen Wahrnehmungen, etwa das Geräusch einer Türklinke oder eines vorbeifahrenden Autos, sich in optische Empfindungen verwandelten. Jeder Laut erzeugte ein in Form und Farbe entsprechendes, lebendig wechselnde[s] Bild.“23 Die unter Drogeneinfluß produzierte Rockmusik nahm auf diese Wahrnehmungsveränderungen Bezug, durch die alltägliche Dinge und banale Geräusche als bedeutend und tiefschürfend erlebt wurden. Die Auftritte wurden inszeniert als ein „entgrenztes, drogengestütztes Event, das durch Lichteffekte, Farb-, Film- und Diaprojektionen einen synästhetischen Charakter erhielt.“24 20 Leary, Politik, S. 31. 21 Ebd., S. 51. 22 Diesen in seiner Zeit populären Slogan hat Leary folgendermaßen erläutert: „,Turn on‘ bedeutet, Verbindung mit alten Energien und Weisheiten aufnehmen, die in das Nervensystem eingebaut sind. ‚Tune in‘ heißt, sich diese neue Perspektive nutzbar zu machen und in einem harmonischen Tanz mit der äußeren Welt zu verbinden. ‚Drop out‘ bedeutet, sich vom Stammesspiel zurückzuziehen“, der amerikanischen Gesellschaft zu entziehen (Leary, Politik, S. 36). 23 Hofmann, LSD, S. 31. 24 Peter Wicke, Artikel „Rockmusik“, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Band 8, Kassel 1998, Sp.

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Drogen-Erfahrungen machten auch die Beatles, deren Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band (1967) zahlreiche Verbindungen zum Pychedelic Rock aufweist.25 Als LSD-Musik ist der dort veröffentlichte Song Lucy In The Sky With Diamonds bekanntlich schon wegen seines Titels verstanden worden; die surreale Bilderwelt von Textstellen wie „tangerine trees and marmalade skies“, „kaleidoscope eyes“ oder „cellophane flowers of yellow and green“ verweist darüber hinaus nachdrücklich auf Drogenerfahrungen, auch wenn John Lennon und Paul McCartney als Hintergrund des Inhalts ausschließlich das Märchen Alice im Wunderland gelten lassen wollten. Und auch musikalisch lehnt sich das Album an die psychedelische Rockmusik an, für die lange Improvisationen, elektronische Klangverfremdungen, Geräuschmontagen und musikalische Einflüsse der indischen und arabischen Kultur als charakteristisch angesehen werden können.26 Häufig lässt sich überdies eine außerordentliche Ausdehnung der Musik beobachten, so dauerten die Kollektivimprovisationen von The Grateful Dead in der Regel mehrere Stunden. Wie selbst Anhänger dieser Gruppe einräumen, ist ein Teil ihres in den 1960er Jahren entstandenen Materials „fast nicht anhörbar, wenn man sich dabei nicht in einem veränderten Bewußtseinszustand befindet“.27 Tibor Kneif führt diese Überlängen auf das veränderte Zeitgefühl der im Drogenrausch befindlichen Musiker zurück.28 Dies wird durch Beobachtungen Learys gestützt, der eine Intensivierung des Musikerlebens unter Drogeneinfluss beschreibt: „Wenn man sich mit LSD anturnt, wird das Cortische Organ im inneren Ohr zu einer zitternden Membrane, die unter dem Zapfenstreich der Klangwellen aufschäumt. Die Vibrationen scheinen tief in einen zu dringen, zu schwellen und dort zu platzen. Man hört eine Note aus einer Bachsonate, und sie hängt da, glitzernd, pulsierend, eine endlose Zeit lang, während man sich langsam um sie dreht. Dann, Jahrhunderte später, kommt die zweite Note der Sonate, und wieder treibt man jahrhundertelang langsam um die beiden Noten herum, beobachtet ihre Harmonie und Dissonanz und meditiert über die Musikgeschichte.“29 Problematisch war allerdings, dass die ungewohnte Ausdehnung der Musikstücke keine Rücksicht auf die üblicherweise durch die Single-Schallplatte festgelegte Länge von Songs nahm. Selbst ein Künstler wie Jimi Hendrix wurde daher von seiner Schallplattenfirma zu Kürzungen angehalten. So war Purple Haze (1967) ursprünglich geplant als die „Geschichte einer Astralreise“ und dauerte mehr als 15 Minuten; um ihn als Single verkaufen zu können, wurde er unter gänzlichem Verzicht auf den ursprünglichen vorgesehenen Sinn auf eine Dauer von drei Minuten gestrafft.30 Aber nicht nur die Produktion wurde durch die Vorliebe für Rauschmittel geprägt, sondern auch die bevorzugte Rezeptionshaltung. Die Auftritte fanden also 350–370, hier Sp. 359. 25 So befindet sich unter den auf dem Schallplattencover abgebildeten Prominenten auch der Drogen-Guru Timothy Leary, daneben sind auch eine Cannabis-Pflanze und eine türkische Wasserpfeife zu erkennen. 26 Peter Wicke, Kai-Erik und Wieland Ziegenrücker, Handbuch der populären Musik, Zürich 1997, S. 463. 27 Shapiro, Sky High, S. 195. 28 Kneif, Sachlexikon Rockmusik, S. 186. 29 Leary, Politik, S. 22. 30 Lothar Trampert, Elektrisch! Jimi Hendrix. Der Musiker hinter dem Mythos, Augsburg 1991, S. 171.

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nicht mehr überwiegend im Tanzsaal statt, sondern nahmen den Charakter konzertanter Darbietungen an. Wie Peter Wicke unterstreicht, entfiel damit der Zwang, die Stücke prinzipiell mit tanzbaren Rhythmen unterlegen zu müssen, wodurch komplexere musikalische Formen möglich wurden.31 Gängige Praxis war es, „stoned“ (berauscht von LSD) auf dem Boden zu liegen, den Kopf direkt zwischen die beiden Lautsprecher der Stereoanlage zu halten, um mit hoher Lautstärke Musik von Jimi Hendrix, Jefferson Airplane oder Iron Butterfly – z.B. von letzterer Gruppe In-AGadda-Da-Vida (1968) – zu hören.32 In-A-Gadda-Da-Vida war „the primary psychedelic song of the era“33; auffällig an dem mehr als fünf Millionen Mal verkauften Song ist die lange Spieldauer von mehr als 17 Minuten, wobei der Song live noch erheblich ausgedehnt wurde. Zur Entstehung des sonderbaren Songtitels, des einzigen wirklichen Erfolgs von Iron Butterfly, existieren zwei Versionen: Die eine deutet In-A-Gadda-Da-Vida als eine unter Drogeneinfluss entstandene Verballhornung von ‚In the Garden of Eden‘, die andere als Anklang an das Hindu-Epos Bhagavad Gita.34 Rockmusik und Protest Der Psychedelic bzw. Acid Rock wirkte durch die mit dieser Musik verbundene Verherrlichung von Drogen insofern als politischer Protest, als letztere illegal waren, der Genuss verbotener Drogen also ein bewusstes Übertreten der Gesetze darstellte. Abgesehen davon stand gesellschaftlicher Protest in diesem Bereich jedoch nicht im Mittelpunkt und war auch nicht beabsichtigt, denn die „eher unpolitische Hippiebewegung versuchte, im Gegensatz zum Underground keinen politischen, gesellschaftlichen Umsturz, sondern eher einen alternativen, individuellen Drop-Out aus der bürgerlichen Realität.“35 Jerry Garcia, als Kopf der Rockband The Grateful Dead eine der Leitfiguren der Bewegung, formulierte es folgendermaßen: „Als ich die Erwachsenenwelt mit fünfzehn verließ, ging ich auf Urlaub, und da befinde ich mich heute noch“.36 Darüber hinausgehend scheinen die durch LSD hervorgerufenen „Erweiterungen“ des Bewusstseins jedoch nicht auch das revolutionäre Bewusstsein erweitert zu haben – von Bewegungen, die einen tatsächlichen Umsturz anstrebten (und nicht bloß einen vorübergehenden ‚Urlaub‘ vom bestehenden System) wie den Black Panther wurde übermäßiger Drogengenuß daher abgelehnt.37 Angesichts ausufernder Improvisationen und langer Instrumentalsoli ließen sich mit Songtexten konkrete Inhalte hier kaum vermitteln. Jimi Hendrix’ Sprechgesang 31 32 33 34 35

Wicke, Rockmusik, Sp.359. McCleary, Hippie-Dictionary, S. 15. Ebd., S. 256. Ebd. Herbert Hopfgartner, Psychedelic Rock. Drogenkult und Spiritualität in der psychedelischen Rockmusik und ihre musikpädagogische Reflexion, Frankfurt am Main et al. 2003, S. 139. 36 Zitiert nach Schmidt-Joos und Graves, Rock-Lexikon, S. 124. 37 John P. Robinson, Robert Piskaln und Paul Hirsch, Protest Rock and Drugs, in: Journal of Communication 26 (1976), S.125–136, hier S. 135.

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kann kaum als textverständlich bezeichnet werden. Aber auch wenn für die Zuhörer nicht die Möglichkeit bestand, dem Text zu folgen, setzte er ein Zeichen des Aufbegehrens. Wohl nicht zu Unrecht ist es als ein Abgesang auf den amerikanischen Way of life gedeutet worden, wie er mit Rückkopplungen und Glissandi den StarSpangled-Banner gleichsam zerfetzte. Textverständlichkeit war jedoch gegeben in der musikalischen Gattung, in der sich in diesen Jahren der gesellschaftliche Protest konzentrierte: dem Folk-Song bzw. seiner Synthese mit dem Rock, dem Folkrock, der in den 1960er Jahren in Bob Dylan, Joan Baez und Phil Ochs seine wirkungsvollsten Interpreten gefunden hatte. Folk-Musik war schon vor den sechziger Jahren politisch gewesen, denn bereits in den vierziger Jahren hatten Künstler wie Woody Guthrie oder Pete Seeger das gemeinsame Singen von Gewerkschafts- und Friedensliedern (die oft auf tatsächlicher Volksmusik beruhten) als politische Manifestation etabliert. Seegers Aufnahmen durften zwar während der McCarthy-Zeit mehr als fünfzehn Jahre lang nicht von amerikanischen Rundfunkanstalten gespielt werden, weil er kommunistischer Umtriebe bezichtigt wurde; dennoch erfuhren seine Kompositionen wie Where have all the flowers gone oder das von ihm mitverfaßte We shall overcome durch andere Sänger eine starke Verbreitung. In diesen Kontext ordnet sich eine der Hymnen gegen den Vietnam-Krieg ein, die auf kaum einer Kundgebung fehlte und auch in Woodstock zu hören war: der 1965 veröffentlichte I-Feel-Like-I’m-Fixin’-To-Die Rag von Country Joe and the Fish, „San Francisco’s most overtly political band“.38 Anders als es der harmlose wirkende Künstlername ‚Country Joe‘ vermuten lässt, der den Musiker in die Nähe der konservativen Country&Western-Musik zu rücken scheint, war Joe McDonald politisch weit links anzusiedeln. Der Bandname verweist sogar auf den politisch radikalen Hintergrund: „Country Joe“ war im zweiten Weltkrieg der Spitzname für Josef Stalin, und der 1942 geborene Joe McDonald war von seinen kommunistischen Eltern auf den Namen ‚Joe Stalin‘ getauft worden. Seine Begleitgruppe The Fish – die hier nicht in Erscheinung tritt, wohl aber in anderen Stücken, die auch der eben skizzierten Richtung des Psychedelic Rock angehören – wiederum verdankte ihren Namen einem Ausspruch von Mao Tse-Tung. ���� Der I-Feel-Like-I’m-Fixin’-To-Die Rag bezieht seine Wirkung aus dem krassen Gegensatz einer heiteren Musik zum Mitsingen und einem beißenden Text, der Phrasen aus dem kalten Krieg aufnimmt („The only good commie is the one who’s dead“), Kriegsgewinnler geißelt (��������� „�������� There’s plenty good money to be made/ By supplying the Army with the tools of the trade,/ Just hope and pray that if they drop the bomb,/ They drop it on the Viet Cong“), und sich über Pflichterfüllung gegenüber dem Vaterland lustig macht (��������������� „�������������� Well, come on mothers throughout the land,/ Pack your boys off to Vietnam./ Come on fathers, don’t hesitate,/ Send ‘em off before it’s too late./ Be the first one on your block/ To have your boy come home in a box“). Unstreitig wird der Protest gegen den Vietnam-Krieg hier ausgedrückt. Aber die zufriedenen Gesichter des gut gelaunten Publikums, die der Woodstock-Film während Joe McDonalds Darbietung zeigt, lassen den Verdacht aufkommen, dass da38 Sculatti und Seay, San Francisco Nights, S. 110.

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durch keine unmittelbaren Aktivitäten ausgelöst wurden, an den Verhältnissen etwas zu ändern. Vielmehr scheinen sie zum Ausdruck zu bringen, dass viele WoodstockBesucher überzeugt waren, der Pflicht zur Opposition durch bloßes Mitsingen von Protestliedern genügen zu können; McDonalds Aufforderung an das Publikum lauter zu singen, da sonst der Vietnam-Krieg nicht beendet werden würde, kann dafür – auch wenn sie kaum ernst gemeint sein kann – als bezeichnend gelten. Ein Vorwurf gegenüber dem Protest-Rock war es dann auch, nicht wirklich etwas zu bewirken. So kommt eine empirische Studie aus dem Jahre 1976 zu dem Ergebnis, dass Rockmusik soziale Unruhe in eine politisch eher passive Haltung kanalisiert haben könnte; der Protest-Rock habe, indem er revolutionäre Ansichten in „rhetorisches Gewäsch“ übersetzte, es den Jugendlichen lediglich leichter gemacht, in eine Opposition gegenüber dem Status quo zu treten39 – eine Opposition, die jedoch nur scheinbar gewesen sei. Jürgen Habermas’ Kritik, die Studentenbewegung habe „Symbol und Wirklichkeit verwechselt“, es habe sich eher um symbolische Aktionen als um eine wirkliche Revolution gehandelt, scheint sich hier übertragen zu lassen. Allerdings bedeutet dies keineswegs, dass symbolische Handlungen ohne Wirkung sind. Gerade die Protestkultur der Achtundsechziger hat, wie Knut Hickethier unterstreicht, „die längst fällige kulturelle Modernisierung der Gesellschaft vorangebracht“, indem sie die „systematische Zersetzung der alten kulturellen Traditionen“ initiierte und deren Transformation in neue Formen beförderte, die der Situation der Gesellschaft angemessener waren als die tradierten Werte.40 Mythen von Blumenkindern und Liebesfesten Bereits 1967 setzte die bis heute anhaltende Verklärung der Hippies ein, für die Scott McKenzies mehr als sieben Millionen Mal verkaufter, noch heute regelmäßig gespielter Song San Francisco (1967) vielleicht der nachhaltigste Beleg ist. Mit dem freundliche Blumenkinder beschwörenden Text wurde die Bewegung in ein idyllisches Licht gerückt, das die nicht immer unproblematische Realität stark schönte: „If you’re goin’ to San Francisco/ Be sure to wear some flowers in your hair/ If you’re goin’ to San Francisco/ You’re gonna meet some gentle people there.“ Joel Selvin kommt in seiner Darstellung des als „Summer of love“ bezeichneten Ereignisses des Jahres 1967 sogar zu dem überraschenden Schluss: „The Summer of Love never really happened“. Erfunden worden sei die Phrase von Journalisten; die Öffentlichkeit habe sie begierig aufgenommen. Erfasst wurde damit nicht, was sich in dem relativ kleinen Personenkreis in San Francisco wirklich abspielte; die Phrase beschrieb vielmehr die romantisierende Vorstellung dessen, von dem man annahm, dass es sich dort abspielen würde.41 Wegen der immer mehr um sich greifenden Kommerzialisierung und Vereinnahmung der Hippie-Symbole durch die bürgerliche Gesellschaft sahen manche 39 Robinson, Piskaln und Hirsch, S. 135. 40 Hickethier, Protestkultur, S. 29. 41 Joel Selvin, Summer of Love. The Inside Story of LSD, Rock & Roll, Free Love and High Times in the Wild West, New York 1994, S. 1.

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Anhänger bereits zu dieser Zeit das Ende der Bewegung gekommen, was mit einem dreitägigen, „Death of the Hippie“ betitelten Event zwischen dem 7. und 9. Oktober 1967 begangen wurde. Die Kommerzialisierung einer bewusst anti-kommerziell ausgerichteten Bewegung ist allerdings keineswegs ungewöhnlich. Es ist ein allgemeines Phänomen der Rockmusik, dass ihre Künstler sich als Anwalt des kleinen Mannes geben, auch wenn sie Millionen scheffeln; und obwohl Fans Authentizität meist als wesentlich ansehen, wird dieser Widerspruch kaum erlebt. Wie Dietrich Helms betont, reicht es, damit ein Song als authentisch wahrgenommen werde, „dass die Hörer eine Übereinstimmung zwischen dem auktorialen Erzähler und dem lyrischen Ich wahrnehmen, d.h. dass Image und Song übereinstimmen.“42 Aber gerade zur Ideologie der Hippie-Bewegung mit ihrer Verweigerung gegenüber dem Profitdenken der amerikanischen Wohlstandsgesellschaft43 war diese Allianz von Musikmachen und Kapitalismus besonders problematisch. Wegen der Ablehnung von Profitdenken wie auch wegen der großen Bedeutung von Musik für die Bewegung wurde von vielen Künstlern und Rezipienten die Forderung erhoben, dass der Besuch von Konzerten möglichst kostenlos zu sein habe oder zumindest ein nur sehr niedriger Eintritt verlangt werden dürfe. ������������������������������������������������������������ Angst vor Vereinnahmung durch die großen Plattenfirmen existierte durchaus auch auf Seiten der Künstler: „The group was incredibly paranoid“, erinnerte sich Ed Denson, der Manager von Country Joe and the Fish, „they were sure some record company was going to rip off their music and use the profits for ����������������������������������������������� der Realität waren diese Vorstellungen auf God-knows-what evil scheme“.44 Mit Dauer kaum zu vereinbaren. So war auch das Festival in Woodstock in erster Linie eine Veranstaltung, die auf kommerziellen Erfolg abzielte; daran änderte auch nichts, dass das Festival so unzureichend organisiert war, dass viele Zuschauer bekanntlich über die Zäune kletterten, ohne Eintritt zu zahlen. Ein finanzieller, aber wohl auch künstlerischer Erfolg – angesichts der eher schwachen Soundanlage dürften viele Besucher nicht allzu viel von den Darbietungen mitbekommen haben – wurde Woodstock erst nachträglich durch die Schallplattenverwertung und den Film von Michael Wadleigh von 1969, die die organisatorische Beinahe-Katastrophe zum Fest der Liebe verklärten. Die kommerziellen Interessen der Musikindustrie an der Hippie-Bewegung liegen auf der Hand: Die ungeheure Nachfrage nach ihrer Musik verhieß den Schallplattenfirmen gute Profite. Es bleibt aber zu fragen, warum sie sich so gut vermarkten ließ – die Hippie-Attribute und -Musik verbreiteten sich weit über den Hörerkreis hinaus, der die Ideale der Bewegung in der Lebenspraxis tatsächlich umsetzte. Das moderne Marketing geht davon aus, dass sich Bedürfnisse nur in engen Grenzen 42 Dietrich Helms, Ein bißchen Frieden hören. Vom Krieg und der Befriedung der populären Musik, in: Vom hörbaren Frieden, hrsg. von Hartmut Lück und Dieter Senghaas, Frankfurt am Main 2005, S. 575–599, hier S. 591. 43 Seinen vielleicht deutlichsten Ausdruck fand die Ablehnung des Kapitalismus in der Einrichtung von Gratisläden in San Francisco, in denen man abgab, was man übrig hatte und in denen man zugleich kostenlos mitnehmen konnte, was da war und was man brauchte. (Nicht verschwiegen sei allerdings, dass sich diese Gratisläden selbst in der Blütezeit der Hippies als nicht praktikabel erwiesen.) 44 Zitiert nach Sculatti und Seay, San Francisco Nights, S. 136.

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künstlich generieren lassen; Bedürfnisse als bereits bestehende, nicht als generierte, müssen vielmehr aufgespürt werden, damit man Produkte entwickeln kann, die diese befriedigen sollen. Offenbar hatte auch das über die Hippie-Szene weit hinausreichende Millionenpublikum, das die Schallplatten kaufte und das die geschilderte Romantisierung aufnahm, ein Bedürfnis, dasjenige zu leben, was in den einleitend genannten Idealen der Hippie-Bewegung formuliert war: starke Gefühle, Selbstbestimmung, Liebe, Friedfertigkeit und freiere Sexualität. Das Millionenpublikum nahm dies dabei freilich nicht alles wörtlich und zog dementsprechend auch nicht in eine Kommune oder verzichtete auf persönlichen Besitz. Aber die Verwendung von Hippie-Symbolen und der Konsum ihrer Musik ermöglichte es, zumindest einen mentalen ‚Urlaub‘ vom kapitalistischen System zu nehmen, sich der Illusion hinzugeben, in die weltweite Aufbruchsstimmung der 1968er eingebunden zu sein und an der Utopie der Hippies zu partizipieren. Man konnte ‚Spaß‘ haben und gleichzeitig etwas für eine bessere Welt tun.

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Kommunikationsguerilla 1968 Strategien der Subversion symbolischer Ordnung in der Studentenbewegung Die performative Konstruktion der Wirklichkeit Jede Revolution zielt nicht nur auf politische Veränderungen, sondern greift tief in die Rituale des Alltags ein und verändert die alltäglichen Verkehrsformen. Sie wendet sich nicht nur gegen eine herrschende Klasse, sondern auch gegen deren symbolische Praktiken. Auch die 1968er-Bewegung wollte eine radikale Veränderung der bundesrepublikanischen Verhältnisse und träumte von einer an Mao und seinen Roten Garden geschulten Kulturrevolution. Für Teile der Bewegung lag in der radikalen Veränderung von Lebensstil und Lebenspraxis, in der Revolutionierung des Alltags das eigentliche Ziel der Revolte. Doch wie ist dieser Zusammenhang von symbolischen Praktiken und der Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu denken? Die soziale Wirklichkeit ist nicht objektiv gegeben, sondern wird von den Mitgliedern einer Gesellschaft im Handeln hergestellt. Sie ist das Produkt gesellschaftlicher Interaktion, deren Prozesse durch Wiederholung habitualisiert werden und sich durch Typisierung von Akten und Akteuren zu Institutionen verdichten. Indem institutionales Handeln die Individuen zu typisierten Akteuren macht, verleiht es ihnen eine soziale Identität und weist ihnen so einen Platz in der Gesellschaft zu. Die soziale Wirklichkeit ist eine ständige gesellschaftliche Produktion, sie wird in jedem Augenblick im Handeln der Akteure neu geschaffen. Jede Handlung, die den institutionalisierten Mustern folgt, affirmiert die gegebene Ordnung, jede Veränderung dieser Muster ist eine Veränderung der sozialen Wirklichkeit. Jede Abweichung von den Mustern kann mit gesellschaftlichen Sanktionen belegt sein. Obwohl die Wirklichkeit sozial hergestellt wird, wird sie von den Menschen als objektive Realität erlebt. „Sie ist einfach da – als selbstverständliche, zwingende Faktizität.“ Auch wenn jede institutionalisierte Handlung die Wirklichkeit der Alltagswelt affirmiert und ihre unhinterfragte Faktizität bestätigt, so gibt es doch einen Modus des Handelns, dem bei der Produktion, aber auch bei der Subversion gesellschaftlicher Ordnung eine besondere Bedeutung zukommt: performatives Handeln. Dieser Modus des Handelns ist in den letzten Jahren in den Fokus kulturwissenschaftlicher Theoriebildung gerückt. Damit einher geht ein Perspektivenwechsel, der schon früh

 ���������������� Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 51977, S. 26.

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als „performative turn“ bezeichnet wurde: Neben die Metapher von der Kultur als Text, die Kultur als komplexes Bedeutungsgewebe modelliert, ist die Konzeptualisierung kultureller Phänomene mittels des Bühnenmodells getreten. „Die Erklärungsmetapher ‚Kultur als Text‘ setzt voraus, daß Kultur insgesamt ebenso wie einzelne kulturelle Phänomene als strukturierter Zusammenhang von Einzelelementen aufgefaßt werden, denen bestimmte Bedeutungen zugeschrieben werden können. Wird dagegen Performance als modellhaft für Kultur betrachtet, so verlagert sich das Interesse auf die Tätigkeit des Produzierens, Herstellens, Machens und auf die Handlungen, Austauschprozesse, Veränderungen und Dynamiken, die sowohl die jeweiligen Akteure und deren Materialien als auch die jeweiligen kulturellen Ereignisse überhaupt erst konstituieren.“ Text- und Bühnenmodell sind dabei nicht konkurrierende, einander ausschließende Perspektiven auf Kultur, vielmehr steht das spezifische Verhältnis von Text und Performance im Fokus kulturwissenschaftlicher Theoriebildung. Der Begriff verdankt sich der produktiven Verschmelzung des PerformanzKonzeptes der Sprechakttheorie und des Performance-Konzeptes der Theater- und Ritualwissenschaften. Dies zeigt sich an den Merkmalen performativer Handlungen: sie müssen körperlich vollzogen werden, es gibt keine semiotischen oder medialen Ersatzhandlungen (Korporalität), sie werden von den Akteuren im Bewusstsein vollzogen, beim Vollzug beobachtet zu werden (Rezeptivität), sie zeichnen sich durch einen Überschuss an formaler Gestaltung aus, ihre Form lässt sich nicht allein aus ihrem Zweck erklären (Ästhetizität/Markiertheit), sie sind üblicherweise gesamthaft an einem Muster orientiert, das ihnen wie ein Skript zugrunde liegt (Musterhaftigkeit), sie repräsentieren keine ontologischen Tatsachen oder Differenzen, sondern stellen wie Austins performative Sprechakte im Vollzug her, was sie repräsentieren (Selbstreferenzialität), sie bestätigen oder setzen – wie Austins explizit performative Sprechakte – neue Bedingungen, unter denen künftige Handlungen als adäquat gelten und haben daher das Potenzial, Identitäten zu stiften oder Situationen zu definieren (Transformativität). Da Performanz ein Modus des Handelns ist, können performative Handlungen von ganz unterschiedlicher Komplexität sein: Die Spanne reicht von reduzierten, ritualisierten Alltagshandlungen wie dem Gruß bis zu komplexen, sequenzierten, ästhetisch elaborierten und alltagstranszendierenden Handlungen wie Zeremonien oder Festen. In dieser Perspektive sind die Ritualkritik und die Entstehung neuer Ritualisierungen nicht Begleiterscheinung von Umbruchssituationen. Vielmehr sind die Kritik der performativ hergestellten Ordnung, die Störungen des Ablaufs ritualisierter Handlungen und die Herausbildung neuer performativer Praktiken ein lebensweltlicher Umbruch für die beteiligten Akteure, der  ��������������������� Erika Fischer-Lichte, Auf dem Weg zu einer performativen Kultur, in: Kulturen des Performativen (= Paragrana, Heft 1, 1998), hrsg. von Erika Fischer-Lichte und Doris Kolesch, S. 13–29.  ��������������� Dietrich Harth, Handlungstheoretische Aspekte der Ritualdynamik, in: Ritualdynamik. Kulturübergreifende Studien zur Theorie und Geschichte rituellen Handelns, hrsg. von Dietrich Harth und Gerrit Jasper Schenk, Heidelberg 2004, S. 95–113.  ��������������������� Erika Fischer-Lichte, Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer performativen Kultur, in: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, hrsg. von Uwe Wirth, Frankfurt am Main 2002, S. 277–300, hier S. 293.

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sich nach dem Schema der Dynamisierung (Kritik und Störung) und Verfestigung (Institutionalisierung und Ritualisierung) vollzieht. Die Achtundsechziger-Bewegung war ihrem Selbstverständnis nach eine antiritualistische Bewegung. Zahlreiche Aktionen richteten sich gegen traditionelle Rituale und Ritualisierungen: Feiern zur Rektoratsübergabe, Immatrikulationsfeiern, Vorlesungen, staatliche Zeremonien, Weihnachtsgottesdienste oder öffentliche Diskussionsveranstaltungen. Zugleich bildeten sich aber neue Ritualisierungen in der kritischen Auseinandersetzung mit traditionellen rituellen Praktiken. Für diese Formen der Ritualisierung wurde das Konzept des Antirituals geprägt. Unter dem Begriff des Antirituals soll nicht die individuelle oder gesellschaftliche Ablehnung rituellen Handelns verstanden werden, sondern ein gegen bestehende Rituale und andere Handlungsformen gerichtetes Gegen-Ritual. So bildeten sich in der kritischen Auseinandersetzung mit den als autoritär empfundenen Vorlesungen und universitären Seminaren studentische Seminare und Arbeitskreise bis hin zu ihrer Institutionalisierung in „Kritischen Universitäten“, als Gegenentwurf zu den als ritualisiert und tabuisiert empfundenen öffentlichen Debatten wurden kritisches Diskutieren und „Hinterfragen“ zu Praktiken mit sozialsymbolischer Funktion. Auch Protestformen wie Sitzblockaden (häufig als „Sit-ins“ bezeichnet) oder Go-ins verloren schnell ihre Neuheit und wurden als Formen direkter Aktion in das Repertoire der Protestpraktiken der Neuen Linken aufgenommen. Das Schema von Dynamisierung und Verfestigung lässt sich daher auch auf die Achtundsechziger-Bewegung anwenden. Die folgende Untersuchung fokussiert den antiritualistischen Aspekt der Studentenbewegung und berührt die Verfestigungen nur am Rande. Sie fragt mittels welcher semiotischen Praktiken die Aktivisten der Achtundsechziger-Bewegung die Selbstverständlichkeit der alltagsweltlichen Ordnung zu stören suchten. Dabei wird stets versucht, die Systematisierung mit einer skizzenhaften Rekonstruktion von Akteurskonzepten zu verbinden. Im Anschluss soll nach der Funktion dieser Praktiken für den kulturellen Wandel gefragt werden. Zwei Vorbemerkungen sind für das Verständnis der folgenden Untersuchung von Nöten. Die eine betrifft die Terminologie, die auf dem Feld der Performanzforschung in den deutschen Kulturwissenschaften leider wenig einheitlich ist. Im Folgenden soll das Wort „Performanz“ (und sein korrespondierendes Adjektiv „performatorisch“) das generelle Phänomen und das Feld des wissenschaftlichen Diskurses bezeichnen, der Ausdruck „Performance“ den einmaligen Vollzug einer Handlung,  ������������������� Wolfgang Braungart, Ritual und Literatur, Tübingen 1996, S. 71.  �������������������� Hans-Georg Soeffner, Rituale des Antiritualismus – Materialien für Außeralltägliches, in: Materialität der Kommunikation, hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt am Main 1998, S. 519–546; Mary Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt am Main 1986.  ����������������������������������������������������������������� Dass mit dem Ausdruck „Kommunikationsguerilla“ im Titel auf das Handbuch der Kommunikationsguerilla angespielt wird, hat seine Ursache darin, dass einerseits eine Vielzahl von Protestpraktiken, die von der Spaß- und Kommunikationsguerilla theoretisiert wurden, bereits in der Achtundsechziger-Bewegung Anwendung fanden, dass andererseits das lesenswerte Buch als Inspirationsquelle für die vorgestellte Systematisierung gedient hat. Vgl. autonome a.f.r.i.k.a. gruppe, Luther Blissett, Sonja Brünzels, Handbuch der Kommunikationsguerilla, Berlin u.a. 1997.

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die über die Eigenschaften der Korporalität, Rezeptivität, Ästhetizität, Musterhaftigkeit, Selbstreferenzialität und Transformativität bestimmbar ist, und unter „Performativität“ (und seinem korrespondieren Adjektiv „performativ“) soll die sozialkonstruktive Kraft als einer Eigenschaft von Handlungen mit Aufführungscharakter verstanden werden. Die zweite Vorbemerkung betrifft die Gegenstandsadäquatheit der performatorischen Perspektive. Sich aus einer Perspektive mit der Achtundsechzigerbewegung zu befassen, in der die soziale Wirklichkeit eine durch symbolische Praktiken konstruierte ist, scheint vor dem Hintergrund gegenwärtiger soziologischer Theorien selbstverständlich. Es heißt aber zugleich von einer Position aus zu argumentieren, die dogmatischen Marxisten höchst suspekt gewesen sein dürfte; denn die Relativität und soziale Konstruiertheit der Wirklichkeit zu postulieren bedeutet, die normative Kraft des Seins, die Bedeutung der objektiven ökonomischen Bedingungen für die soziale Ordnung zu leugnen. Es war aber gerade die objektive Stellung im Produktionsprozess und die daraus resultierende Ausstattung mit Gütern, die den Theoretikern der Studentenbewegung als analytische Kategorie bei der Erklärung der sozialen Verhältnisse diente. Ich halte diese Diskrepanz zwischen der Perspektive der damaligen Akteure auf der einen und der Perspektive meiner Analyse auf der anderen Seite allerdings für unproblematisch: Zum einen werden die folgenden Untersuchungen zeigen, dass viele Akteurskonzepte – unintendiert – eine Nähe zu postruktural-konstruktivistischem Gedankengut aufweisen, zum anderen ist eine Übernahme der Akteursperspektive ohnehin nur dann sinnvoll, wenn man Handlungsmotivationen untersuchen will. Dies will dieser Aufsatz aber ausdrücklich nicht; sein Ziel ist es, Einblick zu geben in die Mechanik gesellschaftlicher und kultureller Wandelprozesse in den 1960er Jahren. Strategien der Subversion symbolischer Ordnung Die Aktionsformen der Achtundsechziger-Bewegung sind so mannigfaltig, dass sie sich nur schwer klassifizieren lassen. Wenn dies im Folgenden dennoch versucht wird, dann im Bewusstsein der Relativität der Kriterien und der mit der Klassifikation verfolgten Erkenntnisinteressen. Weil sich der vorliegende Aufsatz mit symbolischen Praktiken beschäftigt, wird die folgende Klassifikation nach semiotischen Kriterien vorgenommen. Ich unterscheide Strategien, bei denen die Ausdrucksseite konventioneller Zeichen Verwendung findet, die Zeichen aber eine Umdeutung erfahren (1.), Strategien, bei denen die Botschaft durch Verfremdung konventioneller Zeichen nicht mehr entschlüsselt werden kann (2.), und Strategien, bei denen Handlungen trotz ihrer symbolischen Dimension in ihrer Zeichenhaftigkeit nicht aufgehen (3.). Die Beispiele, die ich heranziehe, sollen nicht als Beleg dafür ver ������������������������������������������������� Die Terminologie ist angelehnt an Christoph Wulf, Zur Genese des Sozialen. Mimesis, Performativität, Ritual, Bielefeld 2005.  ���������������������������������������������������������������������������������������������������� Eine Zusammenstellung von Klassifikationsversuchen von Protestformen der Neuen Sozialen Bewegungen findet sich bei Thomas Balistier, Straßenprotest: Formen oppositioneller Politik in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1979 und 1989, Münster 1996, S. 24–28.

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standen werden, dass in dieser Situation ein kultureller Wandel stattgefunden hätte. Vielmehr sind sie Beispiele dafür, wie in bestimmten Situationen Deutungskonflikte geschaffen oder gar die konventionelle Semantik und mit ihr die symbolische Ordnung lokal außer Kraft gesetzt wurde. 1. Umdeutung: Die Strategie der Umdeutung von Zeichen, besteht in der Zuweisung einer neuen Inhaltsseite zu einer gleich bleibenden Ausdrucksseite. Je nachdem, ob die Referenz auf die Inhaltsseite explizit oder implizit geschieht und ob die Bedeutungsveränderung durch die Art des Handlungsvollzugs oder durch den Kontext hergestellt wird, lassen sich drei unterschiedliche Strategien der Umdeutung unterscheiden. Die wohl konventionellste Strategie ist (1) die Umdeutung durch explizite sprachliche Thematisierung. Die Ausdrucksseite eines Zeichens wird verwendet mit dem Kommentar, dass dieses Zeichen eine andere Bedeutung hat, als ihm konventionell zukommt. Um ein Beispiel zu geben: Der Spiegel berichtet, ein angeklagter Student habe in einem Schlusswort vor der Urteilsverkündung erklärt: „Wenn wir uns im Folgenden erheben, dann tun wir dies im Andenken und zu Ehren von Che Guevara.“10 Das Erheben, das üblicherweise den Respekt vor dem Gericht und dem Akt der Urteilsverkündigung zum Ausdruck bringt, wird hier also umgedeutet in ein Gedenken an eine Leitfigur der antiimperialistischen Bewegung. Doch nicht nur transitorische sprachliche Zeichen, auch statische wurden mit dem Ziel der Umdeutung eingesetzt. So wurden Graffiti oft dazu benutzt, die Botschaft von Architektur zu verändern. Umberto Eco hatte diese Technik 1967 in seinem Plädoyer Für eine semiologische Guerilla11 zu einer Strategie gegen die manipulative Wirkung der Massenkommunikation erklärt. Zwar könne man gegen die Botschaften nichts tun, man könne aber durch explizite sprachliche Thematisierung bei den Empfängern für eine angemessene Kontextualisierung sorgen. Eine weitere Strategie ist die Umdeutung durch subversive Affirmation. Anders als bei der Umdeutung durch explizite sprachliche Thematisierung handelt es sich bei der subversiven Affirmation um einen formal korrekten Zeichengebrauch, bei dem der Bedeutungswandel implizit durch die Art des Handlungsvollzugs hergestellt wird. Diese Art des Vollzugs markiert die Handlung als ironisch oder gar parodistisch und negiert dadurch die Bedeutung, die die Handlung konventionell denotiert. Als Beispiel sei hier eine Demonstration in Berlin am 13. Juni 1967 angeführt, die die Polizei nur unter der Bedingung genehmigt hatte, dass die Organisatoren für je 50 Teilnehmer einen Ordner stellten. Weil die Aktivisten der AchtundsechzigerBewegung diese Auflage als eine Zumutung empfanden, kehrten sie die Zahlenverhältnisse um: Sie bestellten für je einen Demonstranten 50 Ordner. Die damit einhergehende Kritik an der staatlich eingeforderten Ordnung und Disziplin machten die Aktivisten zudem durch demonstrativ beschriftete Plakate und das Marschieren in geordneten Blöcken deutlich.12 Zu dieser Kategorie gehören auch die massenhaften Selbstanzeigen wegen Landfriedensbruch in der Folge von Demonstrationen, 10 � Der Spiegel, Heft 45, 1969, S. 102. 11 ������������ Umberto Eco, Für eine semiologische Guerilla, in: ders, Über Gott und die Welt. Essays und Glossen, München und Wien 1985, S. 146–156. 12 ��������������������������������������� Eine Abbildung findet sich in Michael Ruetz, Ihr müßt diesen Typen nur ins Gesicht sehen. APO Berlin 1966–1969, Frankfurt am Main 1980, S. 63.

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die formal die rechtliche Ordnung bestätigten, aber in Wahrheit das Ziel verfolgten, durch Überlastung des Justizapparates Ermittlungen gegen die Köpfe der Bewegung zu behindern. Die letzte von der Achtundsechziger-Bewegung verwendete Strategie ist (3) die Umdeutung durch Um- und Rekontextualisierung. Dabei handelt es sich um die Verwendung der Ausdrucksseite eines Zeichens in Kontexten, die eine andere Bedeutung konstituieren. Diese Technik der Umdeutung fand besonders bei statischen Zeichen Anwendung, seltener bei transitorischen. Prominentes Beispiel ist ein Werbeplakat des SDS, das auf rotem Grund Klassiker des Sozialismus abbildete und versprach: „Alle reden vom Wetter. Wir nicht“. Das Plakat zitiert einen Werbeslogan der Deutschen Bahn, den diese plakatierte, um ihre im Vergleich zum Straßenverkehr größere Wetterunabhängigkeit zu kommunizieren. Allerdings bildete die Bahn nicht die Konterfeis von Marx, Engels und Lenin ab, sondern zeigte eine Lokomotive auf verschneitem Gleis. Eine Durchbrechung des konventionellen Interpretationsrahmens bewirkte auch die Benutzung geliehener Polizeiuniform durch Studenten in München. Sie unternahmen den Versuch als Polizisten verkleidet einen Professor aus seiner Vorlesung heraus zu verhaften. Ihre Benutzung der Polizeiuniform sollte die Funktion der Uniform als bloße Inszenierung von Autorität durchschaubar machen und der Uniform so ihren autoritätseinflößenden Charakter rauben. Auch der Fake als ausgeprägteste Form der Zweckentfremdung fand in der AchtundsechzigerBewegung Anwendung. So benutzte Fritz Teufel das bei der Rektoratsbesetzung am 27. Juni 1968 entwendete Dienstsiegel und Briefpapier der Freien Universität, um Kündigungsschreiben für unliebsame Ordinarien auszustellen. Wie schnell das ‚Establishment‘ freilich von den Aktivisten lernte, zeigt dessen Umgang mit einer Provokation: Anlässlich der Besetzung der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) und ihrer Umbenennung in Dziga-Wertow-Akademie13 befestigten die Studenten eine rote Fahne an einem Fenster, um das Gebäude auch symbolisch als Hort der Revolution zu kennzeichnen. Problematisch daran war, dass sich die DFFB im obersten Stockwerk des SFB-Gebäudes befand und die rote Fahne so nicht nur als symbolische Besetzung der DFFB, sondern auch des Westberliner Rundfunksenders verstanden werden konnte. Dieser Provokation begegnete der SFB dadurch, dass er an allen anderen Fenstern ebenfalls Fahnen anbringen ließ; freilich keine roten Fahnen, sondern Fahnen in allen Farben. Dadurch wurde die rote Fahne an den Fenstern der DFFB umgedeutet: durch Schaffung eines neuen Kontextes wurde das Revolutionssymbol zu einem Bestandteil des allgemeinen Gebäudeschmucks.14 Die Techniken der Umdeutung sind von den theoretischen Texten und Aktionen des Situationismus inspiriert, dem die Zweckentfremdung (détournement) eine wesentliche Strategie bei der Subversion der symbolischen Ordnung war.15 Auch die folgende Strategie dürfte von Situationismus und Dadaismus inspiriert sein.

13 ������������� Dziga Wertow (1896–1954) war sowjetischer Filmemacher. 14 ���������������������������������������� Eine Abbildung findet sich etwa in der Nacht-Depesche vom 29. Mai 1968, S. 12. 15 ����������������������� Vgl. Guy-Ernest Debord, Gil J. Wolman, Gebrauchsanweisung für die Zweckentfremdung, in: Der Beginn einer Epoche: Texte der Situationisten, hrsg. von Roberto Ohrt, Hamburg 1995, S. 20–26.

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2. Mehrdeutigkeit: Eine besonders von den Kommune I häufig verwendete Subversionsstrategie war die Erzeugung mehrdeutiger Botschaften. Durch die Kombination zum Teil widersprüchlicher Zeichenhandlungen oder durch die performative Durchbrechung von Interpretationsrahmen stellten die Aktivisten Botschaften her, die auf der Basis konventioneller Semantiken nicht verständlich waren. Das wohl prominenteste Beispiel sind die als Puddingattentat in das kollektive Gedächtnis eingegangenen Vorbereitungen zu einer Aktion gegen den amerikanischen Vizepräsidenten Humphrey, dessen Berlinbesuch mittels Rauchbomben und Pudding gestört werden sollte. Die der Form nach konspirativ als Attentat vorbereitete Aktion erhielt dadurch ihren besonderen Charakter, dass Humphrey mit einer so harmlosen Substanz wie Pudding beworfen werden sollte. Dieser Widerspruch stellte nicht nur die Berliner Justiz, sondern auch Presse und öffentliche Meinung vor ein Deutungsproblem: Die Aktion konnte nicht eingeordnet und daher nur inadäquat beschrieben werden. Die gleiche Strategie verfolgten die Mitglieder der Kommune I in einigen ihrer Flugblätter, etwa in dem berühmten Flugblatt Nr. 8 vom 24. Mai 1967 mit dem Titel „Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?“. Weil die Berliner Staatsanwaltschaft darin eine Aufforderung zur Brandstiftung zu erkennen glaubte, strengte sie einen Prozess gegen Rainer Langhans und Fritz Teufel an, der nicht zuletzt wegen zahlreicher Gutachten von Literaturwissenschaftlern mit Freispruch endete: Eine eindeutige Textbotschaft konnte nicht identifiziert werden. Auch die Dialoge dieses Prozesses, die in der Dokumentation Klau mich wiedergegeben sind, können als permanente Brechung der konventionellen Interpretationsrahmen durch die Angeklagten beschrieben werden.16 Welche Irritationen dieses Verhalten beim offensichtlich überforderten Gericht auslöste, ist daran erkennbar, dass es eine Überprüfung des Geisteszustands der Angeklagten anordnete. 3. Direkte Aktion: Während die Umdeutung und die Erzeugung mehrdeutiger Botschaften Strategien sind, die in semiotischen Kategorien beschrieben werden können, handelt es sich bei der direkten Aktion um einen Handlungstypus, der nicht in seiner Zeichenhaftigkeit aufgeht. Zwar verweist etwa die Blockade von SpringerDruckereien auf die kritische Haltung der Aktionisten gegenüber der Berichterstattung des Berliner Verlagshauses und ist insofern demonstrativ und zeichenhaft. Zugleich ist die Blockade aber eine tatsächliche Behinderung: sie will nicht nur Protest zum Ausdruck bringen, verweist also nicht nur auf ein anderes, sondern ist performativ, also selbstreferentiell in dem Sinne, dass Handlungsform und Handlungszweck aufeinander bezogen sind. Diese Dimension eignet gefälschten Kündigungsschreiben an Ordinarien nicht, denn die durch ihre Entlarvung erzeugte Botschaft, die Kritik an der Vergangenheit, den politischen Haltungen der betreffenden Personen sowie den von ihnen vertretenen Lehrinhalten, wird durch die Simulation des performativen Akts der Kündigung lediglich symbolisiert; der Akt der Kündigung wird aber nicht tatsächlich vollzogen. Beim Konzept der direkten Aktion handelt es sich um eine Akteurskategorie, die in der amerikanischen Bürgerrechts16 �������������� Vgl. Joachim Scharloth, Ritualkritik und Rituale des Protest: Die Entdeckung des Performativen in der Studentenbewegung der 1960er Jahre, in: 1968. Ein Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte, hrsg. von Martin Klimke und Joachim Scharloth, Stuttgart 2007, S. 75–87.

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bewegung entwickelt, von Michael Vester in die bundesdeutsche Neue Linke vermittelt und von Rudi Dutschke in seiner Theorie der Selbstaufklärung der Aktivisten in der politischen Aktion weiterentwickelt wurde.17 Kultureller Wandel Die bislang geleistete Systematisierung von Subversionsstrategien zeigt, mit welchen Mitteln in der Achtundsechziger-Bewegung in bestimmten Situationen symbolische Ordnung außer Kraft gesetzt wurde. Sie zeigt jedoch nicht, auf welche Weise performative Praktiken zu kulturellem Wandel beitragen konnten und wie sich dieser kulturelle Wandel in den 1960er Jahren vollzogen hat. Dies soll Gegenstand der folgenden Reflexionen sein. Wie wirken performative Praktiken? – Wenn Dutschke mit seinem Konzept der „direkten Aktion“ die Absicht verfolgte, das Bewusstsein der Akteure in der Auseinandersetzung mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen im Rahmen politischer Aktionen zu bilden, so trifft dies in gleicher Weise auf die von den Aktionen Betroffenen zu. Als Dutschke am Weihnachtsgottesdienst in der Gedächtniskirche in Berlin die Kanzel betreten wollte, um mit der anwesenden Gemeinde über Vietnam zu diskutieren, allerdings gewaltsam entfernt und blutig geschlagen wurde, so enthüllte das nicht nur den Aktivisten der Achtundsechziger-Bewegung die latente Gewaltbereitschaft der Gesellschaft, sondern bewegte auch die Teilnehmer am Gottesdienst. Dies hat seine Ursache darin, dass performatives Handeln nicht nur performativ in dem Sinn ist, dass es eine bestehende Ordnung reproduziert oder soziale Wirklichkeit hervorbringt, d.h. faktitiv ist; performatives Handeln ist auch metaperformativ: es legt die Konventionen und Prozeduren der Hervorbringung konventioneller Zustände fest.18 Dadurch, dass in Performancen das Publikum gezwungen wird, aus seiner Rolle als Publikum herauszutreten, und durch die Aktion zum Akteur wird, kommt ein kaum zu steuernder Prozess von Aktion und Reaktion in Gang, in dem die alltagsweltlichen Prozeduren der Sinnerzeugung potentiell Gegenstand von Aushandlungen werden. Die Verletzung der mittels ritualisierter Praktiken hergestellten Ordnung durch die Aktivisten und die Reaktion des durch die Aktion zum Akteur gemachten Publikums machen allen Beteiligten erfahrbar, auf was Ordnung in dieser konkreten Situation beruht und wie sie im Allgemeinen hergestellt wird. Die Feedback-Schleife zwischen den Beteiligten19 erzeugt damit eine Reflexivität, die der Wirklichkeit ihre rituelle Selbstverständlichkeit, ihre Objektivität und damit ihre Faktizität raubt. Sie wird der kritischen Analyse nicht nur zugänglich, vielmehr wird sie durch die Aktion als strittig konstituiert. Neben der Schaffung von Reflexivität haben performative Praktiken aber auch das Potenzial, Utopien eine – wenn auch nur temporäre, so doch immerhin konkrete 17 �������������������� Vgl. Michael Vester, Die Strategie der direkten Aktion, in: neue kritik, Heft 30, Juni 1965, S. 12–20; Uwe Bergmann, Rudi Dutschke, Wolfgang Lefèvre und Bernd Rabehl, Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition. Eine ������������� Analyse, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 63. 18 ����������������� Roy A. Rappaport, Ritual and Religion in Making of Humanity, Cambridge 1999. 19 ��������������������� Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004, S. 58ff.

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– Gestalt zu geben. In ihnen können Gegenwirklichkeiten simuliert und ausagiert werden, Freiräume, in denen die Gesetzlichkeit der Alltagswelt keine Gültigkeit hat. Etwa zeigt der Auftritt von Karl Dietrich Wolff vor dem Senatsausschuss für innere Sicherheit der USA am 14. März 1969, dass die Vertreter des US-amerikanischen Staates und der Aktivist der bundesrepublikanischen Studentenbewegung nicht über eine gemeinsame Wirklichkeit verfügten: Während der Vorsitzende Senator Strom Thurman sich streng an den Regeln orientierte, die für parlamentarische Ausschüsse gelten, agierte Wolff so, als gäbe es die Institution und ihre rituelle Ordnung nicht: Er stellte dem Senator Fragen, machte ihm Vorhaltungen, versuchte in den Verfahrensablauf einzugreifen und beendete das Hearing, als er keine Möglichkeit mehr sah, seine kommunikativen Absichten zu erreichen.20 Er schuf damit eine Wirklichkeit, in der die Geltungsansprüche der staatlichen Institutionen keine Gültigkeit haben, in der das Hearing ein Gespräch zwischen zwei Personen ist, zwischen denen im Prinzip kein Autoritätsgefälle herrscht, eine Wirklichkeit freilich, die die Angehörigen des Senatsausschusses nicht teilten. Die performative Erzeugung von Gegenwelten im hic et nunc ist eine Idee, die auch der Schaffung von ‚temporären autonomen Zonen‘ zugrunde liegt, einer Protestform, die in der autonomen Szene der Gegenwart häufig praktiziert wird. Diese Idee wurde ansatzweise schon in der Achtundsechziger-Bewegung gedacht. Etwa erklärte Rudi Dutschke in einem Fernsehinterview mit Günter Gaus: „Dass also unsere Aktivitäten innerhalb des Wahlkampfes uns die Möglichkeit geben sollen, durch Bewusstseinsprozesse und durch Aktionen unsere Basis zu verbreitern und das Potenzial, das wir gewinnen, nicht in die bestehenden Institutionen hineinzubringen, sondern in unsere eigenen Institutionen, unsere politischen Clubs, unsere kleinen Ansätze von Selbstorganisation. Dort werden wir es versuchen hineinzubringen und so etwas vielleicht wie eine Subkultur – ein Gegenmilieu – soll heißen eine Gesamtheit von Zusammenhängen zu schaffen, wo die Menschen miteinander vielleicht besser leben, eben gemeinsam bestimmte Sachen tun [...]. Das ist unser Weg, der außerhalb der bestehenden Institutionen vor sich geht.“21 Performative Praktiken können demnach auf zweierlei Weise an der Induzierung kulturellen Wandels beteiligt sein: einerseits dadurch, dass sie Reflexivität erzeugen und so die rituell hergestellte Ordnung ihrer Faktizität berauben, und andererseits durch die Schaffung von Gegenwirklichkeiten. Von kulturellem Wandel kann aber nur dann gesprochen werden, wenn Performancen nicht einmalige, lokal begrenzte Ereignisse bleiben, sondern sich durch Wiederholung zu Praktiken verfestigen, die von einer größeren Anzahl von Personen praktiziert werden. Durch welche Prozesse diese Verfestigung in den 1960er Jahren ermöglicht wurde, dazu sollen im Folgenden einige Überlegungen angestellt werden. ‚1968‘ und die Medien: Dass die Achtundsechziger-Bewegung die erste soziale Bewegung mit und gegen die Medien zugleich gewesen sei, ist ein Allgemeinplatz 20 ������������������������ Vgl. Wolfgang Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung: Von der Flaschenpost bis zum Molotowcocktail, 3 Bände, Hamburg 1998, hier Bd. I, S. 407; vgl. auch Der Spiegel, 24. März 1969. 21 �������������� Rudi Dutschke im Interview mit Günter Gaus im Rahmen der Sendung zu protokoll, gesendet am 3. Dezember 1967 im Südwestfunk.

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der Geschichtsschreibung der 1960er Jahre, der einer Präzisierung bedarf. Dass die Bewegung einerseits eine medienkritische war und sich mit Teilen der etablierten Medien leidenschaftlich auseinandersetzte, belegen schon die Kampagnen gegen die Zeitungen aus dem Verlagshaus Springer. Dass soziale Bewegungen wie die Achtundsechziger-Bewegung andererseits auf mediale Repräsentation angewiesen sind, um ihre politischen Ziele in der Bevölkerung zu verbreiten, dürfte auch unstrittig sein. Das Besondere an der Situation in den 1960er Jahren war aber, dass hier eine soziale Bewegung mit einer mediengeschichtlichen Schwellensituation zusammentraf und sich aus diesem Zusammentreffen eine besondere Dynamik ergab. Die mediale Berichterstattung zeigt starke Tendenzen hin zu einer zunehmenden Personalisierung und Intimisierung der Berichterstattung, die eine Aufweichung der Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit zur Folge hatte. Die Achtundsechziger-Bewegung war an diese Entwicklung anschließbar, denn sie produzierte visuelle Codes, die zur neuen Repräsentationslogik der Medien passten. Die Spanne reicht hier von der Ereignisinszenierung wie den für die Fernsehkameras nachgestellten Vorbereitungen des geplanten Puddingattentats bis hin zur Repräsentation traditionell privater Räume und Tätigkeiten etwa in Form von Homestories aus der Kommune I oder Fotos von Dutschke beim Wickeln seines Sohnes. Welchen Effekt die mediale Repräsentation von Protestereignissen hatte, zeigt sich etwa daran, dass Dutschkes Störung des Weihnachtsgottesdienstes in der Berliner Gedächtniskirche zwar ein singuläres Ereignis war, durch die massenhafte mediale Verbreitung aber zum Vorbild für zahlreiche ähnliche Aktionen an Weihnachts- und Silvestergottesdiensten in ganz Deutschland wurde.22 Doch auch für die visuellen Codes, die sich im Rahmen der Studentenbewegung besonders markant auf den Gebieten Wohnkultur, Kleidung, Frisuren und Körperhaltung bildeten, waren die Medien ein bedeutender Multiplikator. Freilich gingen die Medien in ihrer Multiplikatorfunktion nicht auf, sondern erzeugten durch die medienästhetische Überhöhung auch eine Transformation der Ziele des Protests, die von den Aktivisten nicht intendiert war. Diese Dialektik von Selbststilisierung und medialer Inszenierung trug in den späten 1960er Jahren erheblich zur Ausbildung von alternativen Habitus und Lebensstilen bei: skeptischer Verweigerungsstil und hedonistischer Selbstverwirklichungsstil wurden zu Symbolen einer Protestkultur, die bis weit in die 1970er Jahre hinein ein ganzes Milieu prägten.23 In medienwissenschaftlicher Perspektive verdankt die AchtundsechzigerBewegung ihren Einfluss auf die Kultur der Bundesrepublik also einer Wechselwirkung zwischen medialer Repräsentation und Transformation visueller Codes und performativer Protestpraktiken, die durch eine medienhistorische Schwellensituation ermöglicht wurde.

22 ������������ Vgl. o.A., Anarchisten entern die Kanzeln, in: Deutsche Nachrichten, 5. Januar 1968, der zahlreiche Störaktionen auflistet. 23 ����������������������������� Vgl. die Studie von Kathrin Fahlenbrach, Protest-Inszenierungen. Visuelle Kommunikation und Kollektive Identitäten in Protestbewegungen, Opladen 2002.

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Musik als rebellische Instanz Hans Kresniks Susi Cremecheese Für das Jahr 1968 besitzt Popmusik, verstanden im Sinne einer Musik, die sich als Aufbegehren gegen traditionelle Konventionen und damit als Stimme der Jugend begreift, einen so überragenden symbolischen Gehalt, dass alle anderen musikalischen Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft in jener Zeit zur marginalen Notiz verblassen. Das Woodstock-Festival, die von Ekstase und Zerstörungswut begleiteten Rolling Stones- und Beatles-Konzerte, haben sich tief in das kollektive Gedächtnis der „antiautoritären Bewegung“ eingeschrieben. Wer glaubt, dies sei eine Angelegenheit bloβer Identitätsbildung bei gleichzeitiger Substanzlosigkeit im Musikalischen gewesen und allein durch politisch angehauchte Texte bei ödem Geklimper zu kulturellen Ehren gekommen, täuscht sich angesichts einer Fülle von ästhetischen Theorien und Überlegungen, die das Phänomen der Popmusik bereits um 1968 begleitet haben. Einschlägige Theoretiker wie Herbert Marcuse und der Künstler und Kulturphilosoph Raoul Vaneigem sahen in der herkömmlich als ‚abtrünnig‘ begriffenen Musik im Kontext von ‚1968‘ einen gesellschaftlichen Befreiungsakt und verliehen dem Phänomen Pop ästhetisches Daseinsrecht: „Die neue Sensibilität ist zum politischen Faktor geworden. […] Die neue Sensibilität, die den Sieg der Lebenstriebe über Aggressivität und Schuld ausdrückt, würde im gesellschaftlichen Maßstab das vitale Bedürfnis nach Abschaffung von Ungerechtigkeit und Not fördern und die weitere Entwicklung des Lebensstandards gestalten. […] Das Ästhetische als mögliche Form einer freien Gesellschaft erscheint auf einer Entwicklungsstufe, wo die intellektuellen und materiellen Ressourcen für die Überwindung des Mangels vorhanden sind; wo ehedem progressive Repression sich in regressive verkehrt; wo die höhere Kultur, in der die ästhetischen Werte monopolisiert und von der Wirklichkeit abgespalten waren, zusammenbricht und sich in entsublimierte, niedere und destruktive Formen auflöst; wo der Hass der Jungen in Gelächter und Gesang ausbricht und sich Barrikade und Tanzboden, Liebesspiele und Heroismus verquicken. Gleichermaßen attackieren die Jungen des esprit de sérieux im sozialistischen Lager: Miniröcke gegen Apparatschicks, Rock n Roll gegen sowjetischen Realismus.“  



Vgl. zur Definition von Pop den Artikel von Dieter Mersch, Art & Pop – kein Thema mehr? in: Ästhetik und Kommunikation, Heft 101, 29. Jg., Juli 1998, S. 37–46. Klaus Briegleb verwendet den Begriff der antiautoritären Bewegung als übergeordnete Bezeichnung für die achtundsechziger Bewegung. Vgl. Klaus Briegleb, 1968. Literatur in der antiautoritären Bewegung, Frankfurt am Main 1993. Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung, Kapitel Die neue Sensibilität, in: ders., Schriften, Bd. 8,

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Vaneigem proklamierte in seinem Handbuch der Lebenskunst für die jüngere Generation improvisiertes Musizieren als eine Form der „Neustrukturierung des Unbewussten.“ Musik, in diesem Fall der Jazz, trage demnach zum Aufbau einer neuen Gesellschaft mit befreiten Individuen bei: „Das Individuum kann sich erst dann neu strukturieren, wenn das Unbewusste neu strukturiert ist (siehe die Konstruktion von Träumen). [...] Das Bewusstsein der Gegenwart findet seine Harmonie mit der erlebten Erfahrung wie bei einer Improvisation. Mich reizt es, diese Lust, die noch arm ist, weil isoliert, und bereits reich, weil Hinweis auf die identische Lust der anderen, mit der Freude am Jazz gleichzustellen. Die Höhepunkte im Improvisationsstil des täglichen Lebens treffen das, was Dauer [der Jazzexperte und Musikethnologe Alfons Dauer] über den Jazz schreibt: ‚Der wesentliche Unterschied zwischen unserer rhythmischen Konzeption und derjenigen der Afrikaner besteht darin, dass wir den Rhythmus vom Gehör her erfassen, sie hingegen aus der Bewegung. Wir haben in dieser Technik der Afrikaner eine Ekstasis im wahrsten Sinne des Wortes vor uns; denn ihr Wesen ist es, das statische Ruhen in sich selbst, das Metrum und Rhythmus neben ihrer Eigenschaft als zeitliche Ablaufsformen auszeichnet, durch Überlagerung ihrer Akzente mit ekstatischen Schwerpunkten zu beunruhigen, zwischen statischen und ekstatischen Akzenten Spannung zu erzeugen.‘“ Die zitierten kulturtheoretischen Perspektiven, die im Einzelnen genauer zu diskutieren wären, sollen an dieser Stelle nur einen grob skizzierten Bezugsrahmen erstellen, in dem die folgenden Betrachtungen positioniert werden. Beide Zitate lassen sich unmittelbar mit der ästhetischen Aufbruchstimmung von ‚1968‘ in Verbindung bringen und thematisieren das zentrale Moment von Spontaneität im ‚Hier und Jetzt‘. Die Praxis der spontanen und unkontrollierten Äuβerung, die die Achtundsechziger-Bewegung nicht nur ästhetisch propagierte, sondern worin sich gerade auch ihre Schlagkraft zeigte, wurde zum neuen Paradigma erhoben. Der bekannte Slogan auf einer Pariser Wand „Die Phantasie ist an die Macht gelangt“ propagierte in kurzer und prägnanter Form das Ziel der Bewegung. In einem Interview Jean Paul Sartres mit Daniel Cohn-Bendit knüpfte der französische Philosoph seine Fragen an die besagte Wandinschrift an und zollte der Bewegung Bewunderung aufgrund der von ihr verfolgten „Erweiterung des Feldes der Möglichkeiten“. Cohn-Bendit sah diesen Effekt der Bewegung begründet durch: „die Stärke unserer Bewegung, […] [die] sich auf eine unkontrollierte Spontaneität stützt “, sowie durch die Tatsache, „dass man die Theorie von der dirigierenden Avantgarde aufgeben und durch eine viel einfachere und ehrenwertere ersetzen muss: durch die Theorie der handelnden Minderheit.“

  

Frankfurt am Main 1984, S.  261–281), Wiederabdruck in: 1968. Eine Enzyklopädie, hrsg. von Rudolf Sievers, Frankfurt am Main 2004, S. 344–356, hier S. 344–346. Raoul Vaneigem, Kreativität, Spontaneität und Poesie (1978), in: 1968. Eine Enzyklopädie, S. 215–227, hier S. 219f. Jean-Paul Sartre, Die Phantasie an die Macht. Jean-Paul Sartre interviewt Daniel Cohn-Bendit, in: 1968. Eine Enzyklopädie, S. 263–271, hier S. 266. Ebd., S. 266 und S. 271.

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Spontane Lebensäußerung durch improvisierte Aktionen wurde somit ästhetisch und gesellschaftlich legitimiert als Handlung, die zur Befreiung der Individuen beiträgt. Ein derartiger Umdeutungsprozess von Werten erscheint in den Augen von Boris Groys als „Innovation“ und zugleich als „ökonomische Operation“, die gesellschaftliche Auswirkungen besitzt, nämlich den Akt der Befreiung. Aus dem Lager der elitären Musik hingegen wurde und wird gemeinhein die Sache der Popmusik allein als Marktstrategie interpretiert, die mit gesellschaftlicher Innovation rein gar nichts zu tun habe. Zwischen der Ästhetik der Neuen Musik und der Popmusik finden seitdem Grabenkämpfe um die angemessene Formulierung des gesellschaftlichen Protests statt: Das musikalische Materialdenken der Neuen Musik steht dem Ausdruck des Begehrens in der Popmusik unversöhnt gegenüber. Während die gesellschaftliche Reflexion im Sinne der achtundsechziger Bewegung der zeitgenössischen Musik zwar wichtige neue Impulse geben konnte, sich hier aber keineswegs als ästhetische Revolution auswirkte, hatte sie auf den deutschen Tanz einen gravierenden Einfluss; sie manifestierte sich in der Entstehung der Gattung ‚Tanztheater‘, oder ‚Choreografisches Theater‘. Die aus dem Tanzforum Köln seit Mitte der 1960er Jahre hervorgegangenen Choreografinnen und Choreografen Pina Bausch, Hans Kresnik, Susanne Linke, Gerhard Bohner und Reinhild Hoffmann, behandelten gesellschaftskritische Themen in ihren choreografischen Arbeiten – als Erster und am deutlichsten Hans Kresnik, der 1968 mit seinem Stück Paradies? ganz unmittelbar auf die Ereignisse des Jahres einging (und daraufhin als Chefchoreograf ans Bremer Theater berufen wurde): „Das Ballett Paradies? war meine Antwort auf die Bonner Notstandsgesetze und das Dutschke-Attentat. Tausende von Bildzeitungen regneten vom Bühnenhimmel – ich habe damals den Dutschke getanzt – und riesige Malerkübel donnerten vom Schnürboden auf die Bühne rum und wieder rum. Und Josef Schmidt sang dazu: Oh, Paradies. so wunderschön. Polizisten kamen und knüppelten alles nieder. Das ganze war ein Versuch, dem Publikum die Situation aufzuzeigen, die damals herrschte.“ Ganz anders als in den Vorstellungen von Marcuse und Vaneigem vermochte die Tanzszene eine Art politisches Theater ins Leben zu rufen, das sich sowohl auf ästhetische Maximen von ‚1968‘ berufen konnte (nämlich ein im Vergleich zum klassischen Tanz unkontrollierbares, weil improvisiertes Geschehen, das dem Living theatre verpflichtet war), zugleich aber auch über die Aufgabe des Ästhetischen als „Neustrukturierung des Unbewussten“ im Sinne von Vaneigem hinausging und politische Inhalte bewusst formulierte. Die Abweichungen zu der oben skizzierten „Neuen Sensibilität“ sind offensichtlich. An die Stelle des Abflieβens libidinöser Energien schlägt sich das neu entwickelte ‚Choreografische Theater‘ Kresniks auf die Seite politischen Protests, die gesellschaftlichen Zustände im Widerspruch von demokratischem Anspruch und Missstand des Wirtschaftswunders dokumentierend. In seiner folgenden Arbeit von 1969 versuchte Kresnik dann sehr viel gezielter, der Vorstellung einer „neuen Sensibilität“ näher zu kommen. So zumindest wird Kres-

 

Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt am Main 1999, S. 14. Susanne Schlicher, TanzTheater, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 54.

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niks Entwicklung in der Tanzwissenschaft und der Kresnik-Forschung gesehen. Bereits 1984 schrieb Susanne Schlicher: „Verweigerung der alten Rollen und das Ringen um eine neue unbelastete Identität endet in der tödlichen Katastrophe. […] Blues und Rock hatten vorgemacht, wie die neuen kritischen Inhalte einer neuen Form, eines neuen musikalischen Stiles bedurften. […] In Susi Cremecheese lieβ Hans Kresnik – diesmal sein eigener Bühnenbildner – das Gesicht Frank Zappas als überdimensionales Poster erscheinen. Eine Mischung aus Agitprop und Popularität in Mitteln, Aussage und Darstellung ist für die frühen Stücke charakteristisch.“ Und neuerdings schrieb Anja von Witzler: „Zunächst geht Kresnik diese Materie [die Durchbrechung des klassischen Tanzes] in humorvoller Weise an, in dem er in Susi Cremecheese Tänzer und Tänzerin ihren Pas de deux zu Musik von Frank Zappa auf der Bühne lautstark in Spanisch und Bayerisch kommentieren lässt. Kresnik berichtet, dass er dieses Stück choreographierte, um sich von der vorherrschenden Thematik ‚Liebe, Tod und Verzweiflung‘, die er bei anderen Choreographen beobachtete, abzusetzen und auch seinen eigenen Gedankenkreislauf von Liebe, Tod, Krieg und Verzweiflung durchbrechen wollte.“10 Die Loslösung vom moralisierenden Polittheater sollte – so interpretiert von Witzler die damalige Situation des Tanztheaters – durch die Verwendung von Popmusik zu jener „neuen Sensibilität“ führen, die nicht nur Kresniks persönliche Befreiung, sondern auch eine Befreiung von den Fesseln des klassischen Tanzes bedeutete, ohne jedoch, wie im Choreografischen Theater, das Potential des ‚reinen‘ Tanzes preiszugeben – eines Tanzes, der außerkünstlerische Lebenswelt nicht einfach nur abbildet, sondern in abstrakte Körperbilder und Bewegungsenergien transformiert und als Potential zur ‚Neustrukturierung des Unbewussten‘ erhält. Werden derartige ästhetische Hintergründe für die Interpretation geltend gemacht, so erscheint Susi Cremecheese unterschätzt, da es bei allem Humor ganz konkret um die Einlösung ästhetischer Maximen der Achtundsechziger-Bewegung ging. Diese Vermutung wird durch Texte des damaligen Programmheftes gestützt, dem gemäß das Ziel des Stückes war, „die Gesetze und Regeln des klassischen Tanzes nur noch als eines vieler Mittel zu verwenden, die sich aus Elementen des Jazztanzes, des freien Tanzes, der Akrobatik, des Sports zusammensetzen. Der Versuch: eine neue Körpersprache zu erfinden, um Tanz neu zu formulieren.“11 Dass dabei die Wahl auf die Musik Zappas fiel, hing mit dem Anspruch auf gesellschaftliche Provokation und Rebellion zusammen und damit verbunden auch mit der Suche nach neuen tänzerischen Mitteln, wofür Zappas Musik – gewissermaßen homologisch – exemplarisch einstand. Die konsumkritischen Äußerungen des Amerikaners, die im Programmheft mit langen Zitaten abgedruckt wurden, erwei Ebd., S. 55. 10 Anja von Witzler, Johann Kresniks choreographisches Theater, in: Johann Kresnik und sein choreographisches Theater, hrsg. von Uta Ackermann, Berlin 1999, S. 11–50, hier S. 20. 11 Zitiert aus einer Kopie des Programmheftes von Ballettabend 9 der Spielzeit 1969/1970, das zur Wiederaufführung von Susi Cremecheese am Bremer Theater erstellt wurde. Die Kopie stellte mir freundlicherweise Herr Dieter Behne zur Verfügung. Unterlagen zur Berliner Uraufführung existieren nach Aussagen der Deutschen Oper zu Susi Cremecheese nicht mehr.

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terten dessen Image als rebellische Instanz noch, so dass Zappa zum eigentlichen Protagonisten, vielleicht nicht der Choreografie, aber doch der Gesamtproduktion wurde. Worin bestand der Zweck, Zappas Musik als rebellische Instanz zu präsentieren? Welche Art der Rebellion wurde damit im Zusammenhang mit dem Tanz behauptet? Entsprach seine Musik den Forderungen einer „neuen Sensibilität“ im Sinne Marcuses und dem Denken der Achtundsechziger? Zappas musikalischer Protest war zwar offensichtlich, zugleich aber auch geradezu singulär und sehr schwer zu positionieren, da er sich gegen alle Fronten der Ideologisierung wandte. Geprägt durch die amerikanische Popmusik seiner Zeit auf der einen Seite, war er auf der anderen Seite ebenso beeindruckt von Igor Strawinsky und Edgard Varèse. Schon in der ersten LP der Mothers of Invention, Freak out von 1966, trafen daher Collagen von U-Musik und E-Musik unvermittelt aufeinander; absurde Szenen wurden zum anstöβig imaginären Musiktheater. Obszönität, Persiflage und Parodie waren die zentralen Techniken, mit denen Zappa und die Mothers einerseits die Gesellschaft des prüden Amerika verhöhnten, wie andererseits mit dem Album We are only in it for the money, eine Parodie auf Sgt. Peppers von den Beatles, die vermeintliche Protesthaltung der Popmusik als leere Geste anprangerten. Als Produzent und Popmusiker war Zappa keineswegs elitär, seine politischen und theoretischen Ansichten jedoch gaben sich massiv arrogant. Diese Arroganz war allerdings motiviert durch die Intention, den Konsumterror zu entlarven, der sowohl die Popmusik wie auch die gesamte Gesellschaft beherrschte. In seinem enzyklopädischen Aufsatz Frank Zappa as Dadaist beschreibt Ben Watson die Bedeutung Zappas für die amerikanische Kunst und positioniert den Komponisten als eine Fortsetzung des Surrealismus und des Dada in die Nähe von Cage und Rauschenberg. Ähnlich wie Cage die Ästhetik der Neuen Musik zeitweise unterlief, bezeichnet Watson die Strategie von Zappa als Sabotage der kommerziellen Manipulation: „Refusing to subscribe to any particular ideology of musical production allowed him to experiment with sound in a way that did not subordinate it to ideas. This ������������������������������������������������������������������������ respect for musical material […] sounds out like a protest against the triteness of both classical minimalism and radio pop: a dadaist denunciation of standardization at whatever cultural level it may be found.“12 Die Sabotage war umso wirkungsvoller, als sie sich nicht in abgeschlossenen Kreisen der hohen Kunst ereignete, sondern in Popkonzerten. Geradezu vorbildlich wurden Maximen der Protestbewegung eingelöst: unkontrollierte Spontaneität, unelitäres Arbeiten im Sinne eines Aufgreifens subkultureller Genres sowie eine betont kritische Haltung zur Konsumgesellschaft. Watsons Feststellung, dass Zappa bereits mit seinem Album Freak out die gesellschaftlichen Implikationen der Aufnahmetechnik reflektierte (hier auf die Opfer-Thematik bei Jacques Attali13 Bezug nehmend), beleuchtet zudem Zappas Verbundenheit mit der Ästhetik Marshall McLu[…] In the hans: „Zappas Freak out […] placed a sacrifice at the record’s heart. ����������� 12 Ben Watson, Frank Zappa as Dadaist: Recording Technology and the Power to Repeat (1996), in: The Frank Zappa Compendium, hrsg. von Richard Kostelanetz, New York 1997, S. 151–190, hier S. 188. 13 Jaques Attali, Noise. The Political Economy of Music, Minnesota 82003, S. 21–45.

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sacrifice of Suzy Cremecheese […] the founding crime of recording, in Zappa’s view, is that it can make private moments public. […] For Zappa, sexual innocence Das Medium, was intimately bound-up with technical discovery and innovation.“14 ������������ das aus der Aufnahmetechnik resultiert, verkündet die eigentliche Botschaft in Form eines rituellen Vorgangs, der Musik (Attali). Die Collagefetzen von Geräusch, Alltagsgespräch, ‚high‘ und ‚low art‘ führen die Gegenwart in ihrer unaufhörlichen Fragmentierung vor Augen. Popmusik wird als schöner Schein, als Verblendung und Reduzierung, entlarvt. Suzy Cremecheese, Personifikation des unschuldigen Schulmädchens, fungiert bei Freak Out als Metapher der Popmusik selbst. Im Kontrast dazu wird die skurrile und tiefes Misstrauen einflössende Selbstinszenierung der Mothers of Invention zum subversiven Moment, dem Garanten von Wahrheit, umgemünzt. Das skandalöse Ereignis einer zwielichtigen Entjungferung, die in der Schlussnummer von Freak out vollzogen wird und die mit allen damaligen Mitteln der modernen Aufnahmetechnologie ausgestattet wurde, passt weder zur moralisch integren Befreiung des Hippietums, noch fügt es sich in das amerikanische Erfolgsmodell des ‚BeatPopPorno‘, das Leslie Fiedler 1968 im Playboy propagiert hatte.15 Stattdessen wird Fiedlers Exportartikel ‚BeatPopPorno‘ grell überzeichnet und medial reflektiert. Gemessen an Marcuses Vorstellung einer „neuen Sensibilität“ wird mit Zappas Kritik an der Popmusik deutlich, dass es sich bei der Popmusik (oft) nur um eine unschuldig bemäntelte Marktstrategie handelte. Demgegenüber setzt Zappa die Collage zwar nicht als psychische Befreiung, aber doch als Dechiffrierung des Unbewussten. Die Haltlosigkeit individuellen Denkens angesichts der Überflutung konsumgesteuerter Ideologie ist das zentrale Thema zappaesker Inszenierung und eröffnet das problematische Panorama westlicher Gesellschaften. Das wird anhand der Figur von Suzy Creamcheese speziell thematisiert, indem sie in ihrer Identität die Seiten wechselt wie Zappas Musik: Von der vermeintlichen Unschuld der Popmusik mutiert sie an einer anderen Stelle des Stücks zur widerborstigen Intellektuellen, zum Sprachrohr von Zappas Credo. Ein von Zappa im September 1966 in der Los Angeles Free Press veröffentlichter Text, mit Suzy Creamcheese unterschrieben, lautet: „Freaking out“, so Zappa selber zu seiner Produktion, „should presuppose an active freedom, freedom meaning a liberation from the control of some other person or persons. […] If we could channel the energy expended in ��������������������� ‚�������������������� Freaking out‘ physically into ����������������������������������������������������������������������������� ‚���������������������������������������������������������������������������� Freaking out‘ intellectually, we might possibly be able to create something concrete out of the ideological twilight of bizarre costumes and being seen bizarre. Do we really listen? And if we really listen, do we really think? Freedom of thought, conversely, brings an awesome responsibility. Looking and acting eccentric is not enough.“16 Das ���������������������������������������������������������������������� Zitat bestimmt sehr genau den politisch-ästhetischen Standort von Zappa, der sich zum einen gegen die normativen Gesetze der Konsumwelt auflehnt, andererseits ebenso Kritik an der ideologischen Bewegung der Studentenrevolte übt. 14 Watson, Frank Zappa, S. 157. 15 Briegleb, 1968, S. 19. 16 Zappa, zitiert nach Barry Miles, Zappa, New York 2004, S. 128–129.

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Gerade der letzte Satz steht in einem Kontext, den Zappa in einem Interview von 1969 genauer erläuterte: „Diese ganze linke Haltung – ‚wir stampfen diese beschissene Welt einfach in Grund und Boden und fangen noch einmal von vorne an, zurück zur Natur‘ – gründet ihre Prinzipien auf die marxistische Lehre, auf dies und das von Mao Tse-Tung und all die anderen Klischees, die sie aus dem Unterricht kennen. Und sie meinen, das sei die Grundlage für die Revolution, die den einfachen Mann befreien wird. Bloβ kennen sie keinen einzigen einfachen Mann. Die mit ihren ModKlamotten oder den Che Guevara-Anzügen. Das ist doch alles ein Spiel. Ich habe ihnen gesagt, dass das, worauf sie da gerade abfahren, nichts anderes ist als die diesjährige Ausgabe von Flower Power.“17 Als Johann Kresnik und Dieter Behne 1969 ihr Stück Susi Cremecheese mit Musik von Zappa inszenierten, zitierten sie somit mittelbar auch eine Instanz der Rebellion – eben den Komponisten Zappa selber –, die mit ästhetischen Werkzeugen der herrschenden Konsumideologie kämpferisch begegnete. Dass dieser Bezug zu Zappa als verkörperte Revolte auch in der Tat intendiert war, daran lassen weder die Musik-Collage von Dieter Behne, noch das Programmheft einen Zweifel.18 Die rebellisch-dadaistische Komponente – begreift man Dada als zeitspezifische Form der Rebellion mit ästhetischen Mitteln – kam durch Verwendung von Sprachfetzen, kakophonischen Passagen, Klangtests und anderen Aufnahme-Events, zusammen geschnitten von verschiedenen Zappa-Schallplatten, voll zur Geltung – im Gegensatz zur Person von Suzy Creamcheese, die nur sehr kurz vorgestellt („My name is Suzy Creamcheese.“) und in ihrer zappaesken Widersprüchlichkeit kaum thematisiert wurde. Kresnik schuf seine eigene Susi, die schon durch die Orthografie eine eigene Identität erhielt: Aus Suzy Creamcheese bei Zappa wurde Susi Cremecheese bei Kresnik. Das Zusammentreffen von Zappa und Kresnik versprach ein explosiv rebellisches Gemisch, das jedoch von Seiten der Kritik, wie auch von der Tanzwissenschaft, als ‚nur‘ humorvoll, wenn nicht gar misslungen, bewertet wurde: „eine verwegene Sache, halb Grand Guignol, halb Jerome Robbins“,19 „eine Befreiungstat“,20 „die völlig ungenügende choreographische, tänzerische und szenische Realisation, […] eine Totgeburt.“21 Die bereits erwähnten Texte des Programmhefts der späteren Bremer Aufführung – die Uraufführung fand bei den ‚Tanzwochen‘ in Berlin statt –, gaben sich weitaus ambitionierter. Susi Cremecheese muss zumindest als Versuch verstanden werden, mit einer neuen Musik eine neue Tanzsprache zu kreieren, die nicht nur ‚unbeschwert‘ war, sondern sich auch den rigiden Gesetzen der Unterhaltungsindustrie sowie den eingefahrenen Bahnen kultureller Konventionen und ihren Institutionen widersetzte. Dabei ging Kresnik den umgekehrten Weg als Zappa: Während 17 Zappa, zitiert nach F.Z. in eigenen Worten, hrsg. von Barry Miles, Heidelberg 1996, S. 115. 18 Neben dem Programmheft schickte mir Dieter Behne (s. Anmerkung 10) auch eine CD mit seiner Musikcollage zu Kresniks Susi Cremecheese sowie eine GEMA-Liste, aus der hervorgeht, aus welchen Schallplatten Zappas die Collage zusammengestellt wurde. 19 Georg Zivier, Die jungen Choreographen, in: Der Tagesspiegel, 7. November 1969. 20 Jochen Schmidt, Von Apollon bis zu Susi Cremecheese, in: Essener Tagesblatt, 11. November 1969. 21 Reinhard Beuth, Neuer Typ zeitgenössischen Balletts, in: Frankfurter Rundschau, 21. Januar 1970.

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der Komponist von der Popmusik kam und diese subversiv durch Strategien der avantgardistischen ‚high art‘ unterwanderte, war Kresniks Ausgangspunkt der klassische Tanz, der durch andere Bewegungssprachen der ‚Nicht-Kunst‘ erweitert wurde. Die rebellische Musik wurde jedoch durch die Choreografie anscheinend zweifach entschärft: erstens nämlich durch den Wegfall des schockierend Obszönen und Widersprüchlichen, womit die Figur der Suzy bei Zappa verbunden war, und zweitens durch die Substitution der im Tanz üblichen ernsten Musik durch Popmusik. Dementsprechend reagierte das Feuilleton belustigt. ‚Susi‘ wurde kaum als Rebellion gewertet, sondern als ‚humorvolle‘ Unterhaltung goutiert und kritisiert. Die Rezeption durch das Feuilleton insgesamt wirft ein schräges Licht auf das Stück: Während kritisch gestimmte Zeitungen wie die Frankfurter Rundschau „Susi“ als „Totgeburt“ bezeichneten, war es ausgerechnet die von den Achtundsechzigern gehasste Springer-Presse, die Bilder der Choreografie auf die Titelseite setzte22 und das Stück als groβen Erfolg wertete. Eva Collani schrieb zur Uraufführung in der Deutschen Oper in der BZ einen mit „Sieg für Super-Susi“ überschriebenen Artikel: „Hurra, einer hats gewagt, hat frischen Wind der Richtung Pop in Berlins geweihte Kulturstätte geblasen.“23 Einer Feuerwerksrakete gleich explodierte das Stück, um im nächsten Moment zu verpuffen. Die widersprüchlichen Reaktionen des Publikums („Die Lacher und die Buher“), dokumentiert von Klaus Geitel in der Welt, geben noch am deutlichsten das gesellschaftliche Dynamit der Produktion wieder.24 Als „naiv“ bezeichnete hingegen Imke Gehl die spätere Wiederaufführung im Bremer Theater.25 Die ‚Susi‘-Rakete war erloschen. Es mag für die Kritik verwirrend gewesen sein, dass nach Kresniks Paradies? und gemeinsam mit Kriegsanleitung für Jedermann ein Stück wie Susi Cremecheese auf die Bühne kam, das nicht buchstäblich in aller Deutlichkeit gesellschaftliche Missstände anprangerte. Die sprachliche Neutralität des künstlerischen Statements wurde mit Banalisierung gleichgesetzt, als sei Kunst dann erst für voll zu nehmen, wenn ausgesprochen wird, wofür sie steht. Abqualifizierend war etwa auch die Bemerkung Imke Gehls, „Subkultur auf Subventionsbühnen zu hieven“, wodurch sie zwar immerhin die unterschiedliche Herkunft von Zappa und Kresnik hervorhob, dies jedoch in Bezug zum althergebrachten Wertmaßstab ,Wirtschaftlichkeit‘ tat. Dass Zappa von Collani umstandslos als „Pop“ bewertet wurde, muss Bedenken hervorrufen. Diese Bedenken richten sich in erster Linie auf den Stellenwert, den Collani Musik und Tanz in ihrem Zusammenspiel zuweist, sowie deren ästhetische Bewertung. Und die Bilanz Collanis darf als ernüchternd betrachtet werden. Denn aus der Rezension lässt sich ihre Weigerung ablesen, Musik und Tanz als politisch einflussreich zu akzeptieren, und ebenso, ‚Unterhaltendes‘ als relevanten Gegenstand, geschweige denn als kritische Aussage, oder als Möglichkeit einer rebellierenden 22 23 24 25

Die Welt, 8. November 1969. BZ, 7. November 1969. Klaus Geitel, Knien, rutschen, rollen, schlurfen, in: Die Welt, 8. November 1969. Imke Gehl, Getanzte Widersprüche, in: Bremer Nachrichten, 20. Januar 1970.

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Subversion zur Kenntnis zu nehmen. Das muss umso mehr erstaunen, da Dieter Behne nicht den ‚poppigen‘, sondern den experimentellen Zappa in seiner Collage verarbeitet hat. Es ist aus heutiger Sicht schwer, ein Stück zu beurteilen, von dem nur noch eine Musikspur existiert und die Choreografie dem Vergessen anheim gegeben wurde. Aber es scheint, als habe Susi Cremecheese ein gröβeres Potential als das eines erfolgreichen ‚Rausschmeiβers‘ besessen: nämlich das Potential, das Verhältnis von Musik und Tanz zu politisieren, jedoch nicht durch Parolen, sondern durch ästhetische Strategien. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang eine Notiz von Reinhard Beuth in der Frankfurter Rundschau, die insbesondere auf den Aspekt der ästhetischen Strategien zu sprechen kommt, darin aber dem Stück glattes Scheitern attestiert: „Den skurrilen Humor, die leichthändige Selbstironie der jungen Generation bekommt Kresnik nicht in den Griff.“26 Doch selbst, wenn die Choreografie die Anerkennung Beuths gefunden hätte, eine rebellierende Dimension hätte der Kritiker auch dann nicht wahrgenommen. Denn entscheidend für die Choreografie war ja weniger, ob sie ‚gut gemacht‘ ist, sondern dass das Bewegungsvokabular (und das Klangvokabular) als ästhetische Strategie der Entgrenzung diente, die wiederum zu einer „Neustrukturierung des Unbewussten“ hätte führen können. Obwohl Kresniks Susi Cremecheese Aspekte des Protests aufweist – gegen den elitären Kunstkanon und damit gegen die bürgerliche Kunstwelt sowie gegen die Konsumgesellschaft – und das Stück im Kontext mit der Achtundsechziger-Bewegung seinen definitiven Standort, zumindest für und durch Kresnik, gewinnt, blieb die kritische Dimension ungehört. Das Stück traf nicht den Nerv der Zeit, oder besser: den Nerv der Gesinnungen. Das Tanztheater setzte sich vor allem als kritische Stimme durch, wo gesellschaftliche Missstände unmittelbarer angeprangert und Geschichte und Ereignisse verarbeitet wurden. In dieser Richtung definierte sich dementsprechend auch das neu entstandene Tanztheater der 1960er Jahre und so auch fand es sein Publikum. Susi Cremecheese passte nicht in dieses Format. Kresniks Paradies? und Kriegsanleitung für Jedermann, in unmittelbarer Nähe zu Susi Cremecheese entstanden, konnten klar den Ereignissen zugeordnet und als Protest rezipierbar werden. Die Rebellion Zappas hingegen, in erster Linie gegen die Verblödung durch Konsum gemünzt, verpasste – oder besser: vermied – gerade die Möglichkeit einer deutlichen Klassifikation. Seine Strategie, zwischen Fronten zu vermitteln und die Einseitigkeiten der Ideologien zu entlarven, wurde erst später honoriert: Lange Zeit wurde Zappa als reiner Spinner und Nihilist bewertet. Dass sich hinter der grotesken Oberfläche seiner musikalischen Inszenierung eine ernsthafte Diskussion abspielte, die musikalisches Materialdenken mit gesellschaftlicher Befreiung in Bezug setzte, wurde den Wenigsten bewusst. Das rebellische Moment war zu hintergründig, um für eine gezielte Ideologie dienen oder eine Rebellion anzetteln zu können (womit nicht behauptet werden soll, dass Zappas Musik ideologiefrei gewesen wäre). Kresniks Susi Cremecheese war ein interessantes Projekt, das im Kreuzfeuer ideologischer Grabenkämpfe – zwischen Pop als Befreiung und 26 Beuth, Neuer Typ zeitgenössischen Ballets.

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Marktstrategie, zwischen Tanz und Tanztheater, zwischen Neuer Musik und musikalischer Subkultur – unterging. Das Verdienst des Stückes ist es zweifellos, in Form einer subversiven Aktion derartiges Spartendenken als Ideologie verortet zu haben.

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‚1968‘ und der Wandel der Protestkultur in der Musik im Ostblock Bei den Ereignissen, die man symbolisch mit der Jahreszahl 1968 verbindet, denkt man zunächst einmal an die gesellschaftlichen Protestbewegungen des Westens, die seinerzeit als Folge des politischen Gegensatzes im Kalten Krieg ohne große Schwierigkeiten mit Amerika und Westeuropa gleichgesetzt werden konnten. Dieses ‚1968‘ war ein in der westlichen Welt zentrales Ereignis, das bei aller Unterschiedlichkeit in den einzelnen nationalen Ausprägungen doch von Grundfragen des Denkens dieser westlichen Welt geprägt war. Sämtliche Erscheinungsformen von den Studentenprotesten bis hin zum Woodstock-Festival, so unterschiedlich sie auch waren, entsprangen einer Auseinandersetzung mit den Grundfesten der kapitalistischen Ordnung. Was dennoch eine Untersuchung zum Einfluss von ‚1968‘ auf den Ostblock aussichtsreich erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass dort ebenfalls eine länderübergreifende Protestkultur existierte, die sich bereits in den ersten Nachkriegsjahren herausgebildet hatte, gehemmt nur durch die jeweils nationalen Ausprägungen des Stalinismus. Daher liegt die Frage nach gegenseitigen Einflüssen nahe, lehnte man sich doch hier wie dort gegen das Establishment auf. Daher mag es zunächst befremden, die Ereignisse von ‚1968‘ mit einer gänzlich anderen Welt in Beziehung setzen zu wollen, wie sie der Ostblock ja bildete. Hier stößt man nämlich unter der Jahreszahl 1968 keineswegs auf identische Verhältnisse, sondern auf einen ganz anderen Vorgang: 1968 ist das Jahr, in dem der Prager Frühling durch das gemeinsame Einmarschieren sowjetischer, polnischer, ungarischer und DDR-Streitkräfte gewaltsam beendet wurde. Es handelte sich hierbei nicht einfach nur um die Niederschlagung einer nicht konformen Bewegung, sondern um einen der Wendepunkte im sozialistischen System überhaupt. Der Ostblock, so monolithisch er von außen aussehen mochte, war in sich stark gegliedert und stellte ein kompliziertes System dar, das man mit einer Anordnung kommunizierender Röhren vergleichen könnte. Daher hatte das tschechoslowakische ‚1968‘ für den gesamten Ostblock eine eminente Bedeutung – weit über die Tatsache hinausgehend, dass es Truppen der sozialistischen ‚Bruderländer‘ waren, die die Niederschlagung  

Die einfachen Anführungszeichen sollen die Funktion der Jahreszahl als Chiffre für die gesamte Protestbewegung verdeutlichen. Die gegenseitige Beeinflussung der Länder nicht nur auf offizieller, sondern auch auf oppositioneller Ebene ist am deutlichsten am Beispiel der Unruhen von 1956 in Polen und Ungarn zu erkennen, die nicht unabhängig voneinander stattfanden, sondern aufeinander bezogen waren. Vgl. János Tischler, I do szabli… Polska i Węgry. Punkty ������� zwrotne �������� w �� dziejach ��������� obu ���� narodów ����������������� w latach 1956 ����� oraz ����� 1980 ����� –�� 1981, ���� Warszawa 2001.

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des Prager Frühlings besorgten. Es war dieses Jahr 1968, das für die Kulturen der Länder des Ostblocks das zentrale Merkmal bildete, und nicht das ‚1968‘ des Westens. Eine Betrachtung der Musik in dieser Protestbewegung muss sich diesem Aspekt in besonderem Maße widmen, und zwar aus zwei Gründen: Musik hatte in der westlichen Protestkultur von ‚1968‘ eine Schlüsselstellung eingenommen. Immer wieder dienten Lieder, politische Songs oder bestimmte Musikgruppen als Ausdrucks- und Transportmedium für den Protest, der dadurch nicht nur in ritualisierter Form kundgetan werden konnte, sondern die Musik bot auch eine Möglichkeit zum emotionalen Ausdruck des Protestes an. Darüber hinaus - dies der zweite Grund – übte Musik, die ja in ihrer Eigenschaft als wortungebundenes Medium wesentlich unmittelbarer Wirkung zeitigen kann als Bücher oder politische Schriften, auch und gerade länderübergreifend eine Bindungsfunktion aus. Der in eine griffige, emotional ansprechende Form gegossene Protest konnte mithilfe der Musik schnell auch über Sprachgrenzen hinweg verbreitet werden. In der Rückschau vom Beginn des 21. Jahrhunderts aus nun ist deutlich, dass die Geschichte der Rock- und Popmusik im Ostblock auch eine Geschichte des Scheiterns offizieller Stellen vor dem Einfluss des Westens gewesen ist. Wenn nun gerade die Musik des westlichen ‚1968‘ so wichtig gewesen ist, so liegt die Frage auf der Hand, ob diese Musik nicht auch im Ostblock wenigstens merkliche Einflüsse hinterlassen hat und möglicherweise sogar einen der vielen Beiträge zur Erosion des sozialistischen Systems geliefert hat. Diese Fragestellung ist noch kaum erforscht, so dass auch hier die Beantwortung dieser Frage nicht geleistet werden kann. Hier sollen als Einstieg für spätere Arbeiten lediglich anhand einer schlaglichtartigen Betrachtung der Situation in der DDR, der VR Polen, der ČSSR und in Ungarn Hinweise dafür gegeben werden, dass Einflüsse des westlichen ‚1968‘ tatsächlich vorlagen, die sich mit einem Wandel der Proteststruktur im Ostblock in den 1970er Jahren in Verbindung bringen lassen. Dabei kann es hier auch nicht annähernd um eine vollständige Darstellung der Szenen in den jeweiligen Ländern gehen, sondern lediglich um die punktuelle Veranschaulichung von Tendenzen.� West und Ost – zwei Systeme, zwei Protestkulturen Auch wenn sich dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs der Protest jeweils gegen das Establishment bzw. die Herrschenden richtete, wäre es jedoch naiv, bereits daraus auf eine vollständige oder auch nur weitgehende Übereinstimmung der Ziele und Absichten zu schließen. Tatsächlich handelt es sich hier um zwei zunächst ein-



Die Rolle der Kunst zwischen den Zwängen der „Kulturindustrie“ (Adorno) einerseits und der ihr eigenen Funktion als Mittel des Ausdrucks von Befindlichkeiten wurde bereits damals thematisiert. Vgl. Michael Schmidtke, Der Aufbruch der jungen Intelligenz. Die 68er Jahre in der Bundesrepublik und den USA, Frankfurt am Main 2003, besonders das Kapitel „Ideen als Kollektivsymbole: Medien, Kunst und ‚Kulturrevolution‘“, S. 170–200.

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mal unabhängig voneinander auf der Grundlage des jeweiligen politischen Systems entstandene Protestkulturen. Mit aller Vorsicht und im Bewusstsein einer gewissen Vorsicht gegenüber Urteilen über eine Zeit, derer sich die Geschichtswissenschaft erst in allerjüngster Zeit anzunehmen begonnen hat (griffig formuliert: die 1968er sind noch nicht ‚Geschichte‘) kann doch die These vertreten werden, dass ‚1968‘ im Westen aus einer Verschränkung dreier Bereiche bestand: erstens der neomarxistischen Theoriediskussion unter Intellektuellen; zweitens der jungen Generation, die die Nachkriegszeit aufarbeiten wollte; drittens der Hippie-Generation, die für mehr individuelle Freiheit kämpfte. Der Hauptgegensatz zwischen West und Ost lag in der vollkommen unterschiedlichen Haltung zum Marxismus-Leninismus. Während im westlichen ‚1968‘ als ideologische Unterfütterung nicht unwesentlich eine Neuauflage marxistischer Thesen und Grundgedanken mitschwang, so hatte der Einmarsch nach Prag die letzen Reste an Glauben an einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ bei ost- und ostmitteleuropäischen Intellektuellen und in der Bevölkerung gleichermaßen vernichtet. Vereinfacht gesagt: Lehnte man sich im Westen unter Berufung auf marxistische Thesen gegen das Establishment auf, so vollzog sich diese Auflehnung im Osten hingegen gegen ein Establishment, das den Marxismus wenigstens verbal noch im Schilde führte. Weitere Unterschiede kamen hinzu, wenn man insbesondere die Studentenproteste in Ost und West vergleicht. Im Ostblock kämpften die Studenten für elementare Bürgerrechte, die ihre Kommilitonen in Westeuropa bereits besaßen. Auch konnten sie ganz im Gegensatz zu ihren westlichen Kollegen nicht mit der Aufmerksamkeit der Presse und einer breiten öffentlichen Diskussion ihrer Forderungen rechnen, sondern mussten gewärtig sein, vom allgegenwärtigen Staatsapparat aus dem Verkehr gezogen und mundtot gemacht, ja sogar ermordet zu werden. Die Studentendemonstrationen des Ostblocks richteten sich anfangs stets gegen konkrete materielle Probleme (dauernde Stromausfälle und dergleichen), dann erst erfolgte der Umschlag von materiellen in politische Forderungen (mehr Freiheit – Regimewechsel). Oft demonstrierte man im Glauben, es reiche, nur einige Stunden durchzuhalten, dann kämen die Amerikaner – größer konnte der Gegensatz zwischen den Protestkulturen in West und Ost nicht sein als in diesem diametral entgegen gesetzten Bild der Amerikaner als Retter im Osten und Ausbeuter im Westen.



 



Ausführliche, faktenreiche Informationen zum Rock in Ostmitteleuropa liefern Timothy Ryback, Rock around the bloc, New York usw. 1990, speziell zur politischen Bedeutung der Musik Sabrina P. Ramet (Hrsg.), Rocking the State: Rock Music and Politics in Eastern Europe and Russia, Boulder 1994. Diese Einteilung folgt der Darstellung von Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland, Westeuropa, USA, München 2001. So hatten Dubček und Smrkovský auf dem ZK-Plenum vom 5. April 1968 das Ziel ihres Aktionsprogramms beschrieben. Diese Formulierung wurde fortan zum geflügelten Wort für die Reformversuche des tschechoslwoakischen 1968. Vgl. Jörg K. Hoensch, Geschichte der Tschechoslowakischen Republik 1918 – 1978, 2. Aufl. ���������������������������� Stuttgart u.a. 1978, S. 154. Vgl. Jerzy Eisler, March 1968 in Poland, in: 1968: The World Transformed, hrsg. von Carole Fink et al., Cambridge 1998, S. 237 – 252, hier S. 250f.

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Ergebnis waren oft genug charakteristische Szenen des Unverständnisses von Vertretern des Widerstands aus West und Ost in gegenseitigen Kontakten, die Ausdruck der Existenz zweier unterschiedlicher, eigenständiger Protestkulturen waren. Bei genauerem Hinsehen ist aber doch erkennbar, wie einige der wesentlichen Ideen des ‚westlichen‘ 1968 auch im Ostblock großen Widerhall fanden: Individualisierung, Befreiung von Konventionen prägten nämlich auch die Szene der 1970er Jahre, und auch die Ausbildung alternativer Symbolsysteme erhielt wesentlichen Auftrieb. Für die ost- und ostmitteleuropäischen Kulturszenen (also auch für die Musik) während der Zeit des Sozialismus war der treibende Gedanke nicht primär der zielgerichtete, differenziert argumentierte und in wohlgesetzten Worten artikulierte Widerstand, sondern zunächst einmal die Befriedigung des elementaren menschlichen Bedürfnisses nach einem Mindestmaß an Freiraum, worauf sich dann weitergehende politische Forderungen anschlossen. Während also die marxistischen Diskussionen des Westens im Ostblock auf Unverständnis stoßen mussten, wo spätestens nach 1956 der Glaube an die Reformierbarkeit bzw. praktische Anwendbarkeit des Sozialismus gescheitert war, so waren die Aufarbeitungsversuche der jungen Generation sowie der Kampf für mehr individuelle Freiheit hingegen auch im Ostblock zentrale Anliegen der Jugend. Musik und Widerstand in Ost und West Die Musikform, in der sich traditionell Widerstand artikulierte, war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Jazz. Mehrere Faktoren flossen hier zusammen: Das Amerikanische des Jazz forderte die europäischen Eliten in ihrem kulturellen Überlegenheitsdünkel heraus. Viele gerade der ‚gebildeten‘ Musiker blickten auf den ‚primitiven‘ Jazz mit Verachtung hinab. Jazz mit seinem sexuellen Element provozierte das geltende Normensystem und galt zudem schlicht als unanständig. Ergebnis waren ständige Reibereien zwischen konservativen Erwachsenen und einer Jugend, die sowohl in West- als auch in Osteuropa den Jazz als Ausdruck ihrer Adoleszenz demonstrativ in Anspruch nahm. Es ist bedeutsam, dass es sich hierbei noch nicht eigentlich um Prozesse gesellschaftlichen Widerstands im Sinne von ‚1968‘ handelte, sondern eher um einen in der Öffentlichkeit ausgetragenen Dauergegensatz zwischen Jugend und Establishment. Auch wenn die unbequeme Musik der Jugend aufgrund der Störung der öffentlichen Ordnung immer wieder zum Politikum wurde, handelte es sich doch nicht um politische Musik in dem Sinne, dass hier konkrete politische Botschaften formuliert, propagiert, geschweige denn umgesetzt werden sollten.





Oldřich Tůma, Das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei und seine Gegner. Phasen, Zäsuren und Generationen der Opposition 1948 – 1989, in: Aufstände im Ostblock. Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus, hrsg. von Hendrik Bispinck et al., Berlin 2004, S. 309– 334, hier S. 329. Aus diesem Grund ist in der Literatur die Bezeichnung ‚Alternativkultur‘ weiter verbreitet als der Begriff ‚Protestkultur‘. Vgl. exemplarisch Josef Alan et al., Alternativní kultura. Příběh české společnosti 1945 – 1989, Prag 2001.

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‚1968‘ nun bot eine ideologische Grundlage, die über die einfache Demonstration jugendlichen Ungestüms weit hinausging. Eine detaillierte Untersuchung über die gesellschaftliche Funktion der Musik seit dem Zweiten Weltkrieg im Westen könnte gewissermaßen den Weg dahin zeigen. Eine wichtige Zwischenstufe war das Aufkommen des Rock’n’Roll, der (etwa in Form von Bill Haley’s Rock around the Clock) wie ein Bombe einschlug und fortan den Jazz als erste Form jugendlichen Aufbegehrens ablöste.10 Ein weiteres taten die Beatles, die den Rock als eigenständige Musikform etablierten. Nunmehr konnten Rockbands in ihren Songs das Lebensgefühl einer ganzen Generation ausdrücken, wie etwa die Rolling Stones mit ihrem berühmten Song I can’t get no satisfaction von 1965. Schließlich – und das machte recht eigentlich die Musik von ‚1968‘ erst aus – entstand die Musik von vorneherein aus einer auf politische Themen gerichteten Intention. Beispielhaft hierfür steht Mick Jagger, dessen Song „Street Fighting Man“ von einer Demonstration in London gegen den Vietnam-Krieg am 17. März 1968 inspiriert wurde.11 Rockmusik wurde von ihren Hörern nun als Träger politischer Botschaften begriffen. Einen eigenen Teilbereich innerhalb der AchtundsechzigerSubkultur bildet der Woodstock-Komplex. Das an diesem Ort vom 15. bis zum 17. August 1969 abgehaltene Rockkonzert war Ausgangspunkt eines weltweiten Mythos, der auch ganz wesentlich durch Musik transportiert wurde, wie etwa durch Jimi Hendrix’ verfremdete Fassung der amerikanischen Nationalhymne The Star Spangled Banner, das durch Verfremdungseffekte unüberhörbar den Vietnam-Krieg evozierte und kommentierte.12 Zum Woodstock-Komplex gehörte nicht nur Rockmusik, sondern ganz wesentlich auch die Songs der Liedermacher, allen voran Bob Dylan.13 Unter ganz anderen Vorzeichen verlief die Entwicklung im sich ausbildenden Ostblock. In dem Maße nämlich, in dem sich gegen Ende der 1940er Jahre das sozialistische Herrschaftssystem stabilisierte, schwur man auch das Kulturleben auf die ideologischen Vorgaben ein. Literaten, Künstler und Musiker wurden auf entsprechenden Kongressen dazu gezwungen, sich in vom Staate beobachtete Organisationen einzugliedern, die eine Kunst im Geiste des Sozialistischen Realismus hervorzubringen hatten.14 Mit dem Beginn der Inkorporation der Kulturszene in das sozialistische System begann sich nun auch ein eigenes Funktionsmodell von Kultur,

10 Zum Komplex ‚Politische Musik im westeuropäischen Zusammenhang‘ vgl. Robin Denselow, The Beat goes on. Popmusik und Politik, Reinbek 1991 (englisches Original 1989); Kersten Glandien, Musik und Politik. Zu musikkonzeptionellen Problemen der Rock-Avantgarde Westeuropas, in: BzMW 30 (1988), S. 273–284. 11 Zum Funktionsunterschied der Musikstile vgl. Mark C. Gridley, Clarifying Labels: Jazz, Rock, Funk and Jazz-Rock, in: Popular Music and Society, 1983, 9(2), S. 27–34. 12 Vgl. Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung, S. 75. 13 Zu Woodstock vgl. James J. Farrell, The Spirit of the Sixties. The Making of Postwar Radicalism, New York 1997, S. 214. Vgl. ������������������������ auch Rudolf Sievers, Vorwort zu: 1968. Eine Enzyklopädie, hrsg. von dems., Frankfurt am Main 2004, S. 17. 14 Die amerikanische Folk music mit Pete Seeger, Joan Baez und vor allem mit Bob Dylan hatte schon seit den 1950er Jahren die Fehler der Gesellschaft angeprangert und damit einen Nerv vor allem der amerikanischen Bevölkerung getroffen, vgl. Farrell, The Spirit of the Sixties, Kapitel „The Folk Beat“, S. 70–79.

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hier: von Musik, und damit zusammenhängend auch ein eigenes Widerstandsmodell herauszubilden.15 Sehr viel schneller und in erheblich erweiterter Hinsicht als im Westen nämlich wurde die Musik im Osten zum Politikum, auch wenn hier – ebenso wie im Westen – die Formulierung einer politischen Aussage, also eine recht eigentlich politische Intention, nicht am Beginn der Entwicklung stand, sondern viel eher das erwähnte Bedürfnis nach Freiraum. Hier war es der Staat bzw. das Repressionssystem, das den politischen Charakter der Musik noch wesentlich verstärkte oder sogar mitunter erst hervorbrachte. Jazz und später Rock fungierten als ‚Fenster zum Westen‘ angesichts einer Situation, in der sich die Staaten des Ostblocks gezwungenermaßen mehr und mehr abschotteten. Die sozialistischen Kulturpolitiker standen dabei vor dem Dilemma, gerade diejenigen Musikformen, die am ehesten geeignet waren, Zusammenhalt und positive Emotionen zu stiften, aus ideologischen Gründen ablehnen zu müssen. Musik aus dem kapitalistischen Ausland durfte per definitionem keine positive Rolle in der Gesellschaft einnehmen, da dies das sozialistische Überlegenheitspostulat infrage gestellt hätte. Deshalb musste man auch den Jazz ablehnen, auch wenn dieser als musikalische Ausdrucksform der unterdrückten farbigen Bevölkerung Amerikas doch eigentlich gut mit der Ideologie zu vereinbaren wäre.16 Rock provozierte im Ostblock auf etwas andere Weise: das Amerikanische trat hier nicht ganz so deutlich hervor, dafür aber umso mehr das ‚unanständige‘ Element. In den Jahren um 1968 spielte Rock die Hauptrolle als musikalische Artikulationsform. An zweiter Stelle kam das Politische Lied und erst danach der Jazz, der mittlerweile seine Breitenwirkung eingebüßt hatte. In ganz besonderer Art und Weise zum Politikum wurde Musik im Ostblock nicht erst 1968, sondern bereits nach 1953 bzw. im Jahr 1956. Nachdem zuvor die staatssozialistischen Gesellschaften rigoros auf den stalinistischen Kulturbegriff eingeschworen worden waren und eine Opposition dagegen nur noch im Verborgenen möglich war,17 begann man nun umso mehr, auch in der Musik das Freiheitsstreben zu demonstrieren. Bedeutsam ist hier vor alle die Rolle der Kunstmusik in Gestalt des Festivals zeitgenössischer moderner Musik in Warschau, des so genannten ‚Warschauer Herbsts‘ (Warszawska Jesień). In Erkenntnis der Tatsache, welche internationalen Entwicklungen man im gesamten Ostblock aufgrund der politischen Isolation nicht hatte rezipieren und adaptieren können, luden polnische Komponisten ihre Kollegen nicht nur aus dem östlichen, sondern auch aus dem westlichen Ausland nach Warschau ein. Der Warschauer Herbst entwickelte sich in den Folgejahren zu 15 Im polnischen Fall fand der entsprechende Kongreß vom 5. bis 8. August 1949 in Łagów Łubuski statt. Vgl. Leszek Polony, Powikłania ideologii estetycznych w powojennym pięćdziesięcioleciu, in: Muzyka Polska 1945 – 1995. Materiały sesji naukowej 6 – 10 grudnia 1995 w 20-lecie zakładu analizy i interpretacji muzyki, hrsg. von Krzysztof Droba et al., Kraków 1996, S. 41–51, hier S. 45. 16 Vgl. Roman Rogowiecki, Rock na barykadach: big-beat w walce z ideologią, in: Wprost 2000, Nr. 26, S. 106–107. 17 Eine charakteristische Ambivalenz im Umgang mit dem Jazz war die Folge: Man trennte zwischen ‚gutem‘ ursprünglichen und ‚schlechtem‘ kommerziellen Jazz. Gerade in sozialistischen Staaten scheinen die Aufführungsrichtlinien oft völlig willkürlich zu sein, erklären sich aber bei genauerem Hinsehen aus dieser Ambivalenz heraus.

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einem international anerkannten Forum des künstlerischen Austauschs, auf dem dann bald namentlich polnische Komponisten wie Lutosławski oder Penderecki von sich reden machten.18 Dieses an sich rein musikalische Ereignis wurde jedoch sofort politisch aufgeladen, als sich das Regime plötzlich mit der Situation konfrontiert sah, eine große Anzahl junger Musikstudenten aus Polen und anderen sozialistischen Ländern in Warschau zu haben, die man kaum kontrollieren konnte. Verbieten konnte man das Festival aufgrund seiner internationalen Bekanntheit nicht. Es öffnete sich daher hier ein Freiraum, der nicht nur auf die Länder des gesamten Ostblocks, sondern auch auf die anderen Musikrichtungen ausstrahlte. Insofern könnte man das nachstalinistische Tauwetter als ‚Gründerzeit‘ einer alternativen Musikkultur im Ostblock ansehen. Hier liegt ein weiterer Gegensatz zu Westeuropa: Die Protestkultur im Ostblock orientierte sich vor allem am eigenen politischen System und war bereits vor 1968 voll ausgebildet. Die Ereignisse von ‚1968‘ im Westen bildeten daher lediglich ein wichtiges Akzidens, nicht aber einen Gründungsmythos. Dennoch ist es auffällig, dass der gesamte Komplex der Alternativkultur in den Ostblockstaaten mit Beginn der 1970er Jahre einem fundamentalen Wandel unterliegt. Für diese Zeit setzt man in der Samizdat-Bewegung, dem Herzstück der alternativen Kulturszenen, den Beginn des so genannten Zweiten Umlaufs an. Außerdem erfuhr die Gitarrenlyrik, die es in der Sowjetunion bereits seit den 1950er Jahren gegeben hatte, eine immer breitere Rezeption, was auch wesentlich damit zusammenhing, dass Tonband und Kassettenrekorder für den Normalverbraucher erschwinglich zu werden begannen, so dass Tonträger nunmehr auch im privaten Bereich kursieren konnten. Neben den russischen Barden wie Bulat Okudžava und Vladimir Vysockij, die auch in den anderen Staaten des Ostblocks wahrgenommen wurden, erschienen Sänger wie Jaroslav Hutka und Vlastimil Třešňák in der ČSSR oder später Jacek Kaczmarski in Polen.� In den 1970er Jahren kam es in den betrachteten Ländern darüber hinaus zu einer Konsolidierung der je eigenen, ‚nationalen‘ Rockszenen und -stile. Polen In Polen entwickelte die Obrigkeit eine Strategie, die durch die Gewährung gewisser Freiräume der Gefahr der Systemdestabilisierung gewissermaßen den Wind aus den Segeln nehmen sollte. So berichtete das für die polnische Jugend bestimmte Presseorgan Sztandar Młodych bereits zu Beginn der 1960er Jahre ausführlich über die Rockszene im Westen und verteidigte die Musik der Beatles gegenüber konservativen Stimmen.19 Diese Erscheinung ist für die polnische Rockszene kennzeichnend: die Freiräume, die das System gewährleistete, waren so groß, dass nicht wie an18 In Polen spricht man für diese Zeit vom Katakomben-Jazz, vgl. Tomasz Toborek, Artyści czy chuligani? O początkach jazzu w „Polsce Ludowej“, in: Biuletyn Instytutu Pamięci Narodowej 6 (29) 2003, S. 34– 40. 19 Vgl. Warschauer Herbst und neue polnische Musik, hrsg. von Volker Kalisch, Essen 1998; sowie Rüdiger Ritter, Music as vehicle for politics. ������������������������������������������������������������������ „Warsaw Autumn“ between Socialist power and opposition in Poland,

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derswo vor allem die politische Führung der Hauptgegner der Rockmusik war, sondern die musikalisch Konservativen – die hier freilich unter Umständen ungewollt durch ihren Protest zu Handlangern des politischen Systems wurden: Als im März 1966 die britische Band The Hollies nach einem Konzert in Krakau von enthusiastischen Fans zum Hotel begleitet wurde, stießen sie auf Studenten, die Transparente mit der Aufschrift „Lang lebe Chopin! Hollies Go Home!“ präsentierten.20 Auch wenn dies kein Einzelfall war, so waren Gruppierungen wie diese dennoch in der Defensive. Der Staat, der ja Freiräume gewähren wollte, unterband Gastauftritte westlicher Rockbands nicht, sondern förderte sie noch. So gastierten im Jahr 1963 Paul Anka und im Jahr 1967 schließlich die Rolling Stones in Warschau. Bezeichnend ist, dass man nach den Zerstörungen durch Vandalismus zwar an eine Verlegung künftiger Konzerte dachte, nicht aber etwa daran, weitere Rockkonzerte von vorneherein zu unterbinden.� Dieses scheinbar reibungslos funktionierende Katz-und-Maus-Spiel zwischen Staat und Musikszene wurde durch einige Schlüsselerlebnisse des Jahres 1968 entscheidend gestört. Im März 1968 verbot die polnische kommunistische Regierung die Aufführung eines Theaterstücks von Adam Mickiewicz, der damals wie heute als polnischer Nationaldichter und polnisches Nationalsymbol allergrößte Wertschätzung und Achtung erfuhr.21 Studentenproteste waren die Folge, die sich bald vom konkreten Anlass ablösten, so dass es zu grundsätzlichen, systemkritischen Forderungen kam. Schließlich erklärte im Oktober das Parteiblatt Trybuna Ludu, die „Hooligan-Exzesse der Jugend“22 nicht länger dulden zu wollen. Eine große Anzahl von Studenten, darunter politische Aktivisten wie Adam Michnik und Jan Lityński, wurden verhaftet, von der Universität exmatrikuliert oder zwangsweise zum Militärdienst eingezogen. Die Ereignisse vom März 1968 bildeten in Polen ein generationsprägendes Ereignis. Die Ablehnung des Systems war deutlicher geworden als je zuvor, die Aufgeschlossenheit gerade der jungen Intellektuellen für die polnische Gegenkultur war ein weiteres Mal deutlich angewachsen. Allerdings blieb der Protest vorerst ohne Folgeerscheinungen, da die Ereignisse des Jahres 1968 eine reine Studentenbewegung blieben; zur Unterstützung durch die Arbeiterschaft kam es noch nicht. Beide Gruppen agierten vorerst getrennt. Umgekehrt sprangen die Studenten den Arbeitern nicht bei, als erstere zwei Jahre später wegen des schlechten Lebensstandards auf die Straße gingen. Erst gegen Ende der 1970er Jahre traten beide gesellschaftlichen Gruppierungen in Verbindung, was schließlich zur Entstehung der unabhängigen

GDR, and Hungary, Vortrag auf der Konferenz der British Association for Slavonic and East Euopean Studies (BASEES), Cambridge ��������������������������������������� April 2005, in Vorbereitung. 20 Vgl. hierzu Ivo Bock, Sabine Hänsgen und Wolfgang Schlott, Kultur jenseits der Zensur, in: Samizdat.. Alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa: Die 60er bis 80er Jahre, hrsg. von Forschungsstelle Osteuropa, Bremen 2000, S. 64–77, besonders S. 71. 21 Timothy Ryback, Rock around the Bloc. A History of Rock music in Eastern Europe and the Soviet Union, New York et al. 1990, S. 92. 22 Ebd., S. 93.

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Gewerkschaft Solidarność und damit zu einer ganz neuen Qualität des Widerstands führte.23 In den Jahren nach 1968 gelang es der Obrigkeit zunächst einmal wieder, Ruhe und Ordnung herzustellen. Die Musik wurde in diesen Prozess einbezogen. Polskie Nagrania, die staatliche polnische Plattenfirma, die noch in den 1960er Jahren einige Anstrengungen unternommen hatte, dem Musikgeschmack der Rock-Jugend gerecht zu werden, wurde nun zum Steuerungsinstrument für den Staat. Eine neue Generation polnischer Bands wie die Trubadurzy, die Skałdowie oder No To Co wurde staatlicherseits propagiert. Sie lieferten ‚harmlosen‘, in der Volksmusik verhafteten Rock ohne politische Spitzen. Ein erster Höhepunkt dieser neuen Musikrichtung bestand in der Person von Maryla Rodowicz, die zum führenden Pop- und Folkmusikstar der 1970er Jahre wurde. Das Jahr 1968 erweist sich im Rückblick als wichtiges Jahr des Wandels in der polnischen Protest- und auch Musikkultur. Eine einfache Rückkehr zum Katz-undMaus-Spiel wie vorher war nun nicht mehr möglich. Der Staat suchte nunmehr wesentlich gezielter auf die Musikszene Einfluss zu nehmen und das Milieu dadurch sozusagen ruhig zu stellen – eine Strategie, der aber nur kurzfristiger Erfolg beschieden war. Zunächst scheint es, als ob die Protestkultur in den 1970er Jahren als solche verschwunden sei. Die Rockmusiker begannen sich zu professionalisieren und damit auch zu etablieren, sie erhielten staatliche Unterstützung und dienten mitunter sogar als Aushängeschild wie etwa der berühmteste polnische Rockmusiker Czesław Niemen, der 1972 mit seiner Band die Olympischen Spiele in München eröffnete.� DDR Die Grundtaktik der DDR-Führung bestand nicht so sehr in der Gewährung von Freiräumen, sondern in der gezielten Schaffung und im Propagieren von Alternativen. Entsprechende Versuche wurden unternommen: Aus dem Jahr 1958 stammt der Lipsi, ein auf dem Reißbrett geschaffener Kunsttanz, der die sozialistische Alternative zum ‚schädlichen‘, ‚dekadenten‘ Jazz darstellen sollte, mit viel Brimborium propagiert wurde, aber schon bald kläglich unterging.24 Als der Rock den Jazz als populäre Musikform abzulösen begann, verhielt sich das Regime zunächst nicht ganz so kompromisslos wie zuvor in den 1950er Jahren beim Jazz. „Man sollte nicht unbedingt politische Tendenzen hinter diesen Dingen suchen, sondern die Begeisterung der Jugend in richtige Bahnen lenken.“25 – diese 23 Krzysztof Ruchniewicz, Antistalinisten und Chartisten, Reformer und politische Aussteiger. Die verschiedenen Oppositionsgenerationen im real existierenden Sozialismus, in: Aufstände im Ostblock, S. 275– 286, hier S. 282. 24 Ryback, Rock around the bloc, S. 242. 25 Michael Rauhut, Beat in der Grauzone. DDR-Rock 1964 bis 1972 – Politik und Alltag, Berlin 1993, S. 40. Zur Musikpolitik des SED-Regimes vgl. David Tompkins, Musik zur Schaffung des neuen sozialistischen Menschen, in: Die Macht der Töne. Musik als Mittel politischer Identitätsstiftung im 20. Jahrhundert, hrsg. von Tillmann Bendikowski et al., Münster 2003, S. 105–113.

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Formulierung kennzeichnet die Grundeinstellung des Apparats zur Rockmusik der 1960er Jahre. Der entscheidende Einschnitt in der Politik des Regimes gegenüber dem Rock bildete kein politisches Ereignis wie etwa der Mauerbau des Jahres 1961, sondern ein musikalisches. Am 15. September 1965 kam es bei einem Gastspiel der Rolling Stones in der Westberliner Waldbühne zu heftigen Krawallen, die in der Bundesrepublik sofort in den Medien ausführlich ausgebreitet wurden. Dies bildete für das DDR-Regime das Signal, um den schon länger schwelenden Unwillen gegenüber der Rockmusik in konkrete Aktionen zu überführen.26 Im Dezember dieses Jahres verurteilte das Zentralkomitee den Rock auf ganzer Linie. Walter Ulbricht drückte sein Missbehagen darüber aus, „dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, kopieren müssen.“27 Ergebnis war eine Straffung der Kontrolle des Regimes auf ganzer Linie. Im Jahr 1967 war Pete Seeger nach Ost-Berlin gekommen und hatte in der Volksbühne ein Konzert gegeben und dabei auch die Bürgerrechtshymne We shall overcome gesungen. Diese letztere Hymne wurde so populär, dass bereits im März 1967 das Neue Deutschland das Singen dieses Liedes für nicht mehr akzeptabel erklärte und die sozialistische Jugend zur Komposition eigener Lieder aufrief. Mehr und mehr manövrierte man sich hierdurch allerdings ins Abseits. Das Neue Deutschland konnte nun nicht mehr die Leistungen der eigenen Landsleute anerkennen, sondern musste sie als Rockmusiker automatisch verdammen. Daher quittierte man den internationalen Erfolg der Swingle Singers mit ihrer a-capella-Version von Bachs g-moll-Fuge mit dem Etikett „unvereinbar mit sozialistischer Kulturpolitik“.28 Wohl auch um diesem Dilemma zu entgehen, kam es im Jahr 1967 zu einer Neudefinition sozialistischer Kulturpolitik. Eine vorsichtige Liberalisierung ließ in den Folgejahren das Klima für Rockmusik in der DDR etwas günstiger werden. In dieser Situation wirkten die Ideen von ‚1968‘ wie ein Donnerschlag. Insbesondere die Hippie-Kultur mit ihrer Betonung des Individuellen und persönlicher Freiheit wirkte geradezu elektrisierend.29 Peter Gläser, ein Mitglied der Gruppe Klaus Renft Combo, erinnerte sich an die Hippie-Welle in der DDR, die nicht nur so revolutionäre Dinge wie „Gruppensex“ mit sich brachte, sondern auch ganz allgemein „eine richtige Sehnsucht nach Freiheit und Freizügigkeit.“30 Sein Kollege Jörg Schulz stellte heraus, wie sehr das Woodstock-Festival den „Nerv der Leute“ gerade deshalb traf, „weil vom Staat immer versucht wurde, so etwas zu unterbinden.“31 Ein Ergeb-

26 Bezirksvorstand der Partei des Demokratischen Sozialismus Leipzig, Parteiarchiv, IV A-2/16/464 (Äußerung nach den Unruhen des 31. Oktober 1965), hier zitiert nach Rauhut, Beat in der Grauzone, S. 149. 27 Ebd., S. 118 28 Walter Ulbricht auf der 11. Tagung des ZK der SED vom 15.–18. Dezember 1965, hier zitiert nach Rauhut, Beat in der Grauzone, S. 162. 29 Ryback, Rock around the bloc, S. 90. 30 Grundlegend für die Darstellung der Szene ist Michael Rauhut und Thomas Kochan, Bye Bye, Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR, Berlin 2004. 31 Rauhut, Beat in der Grauzone, S. 235

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nis des Einflusses von ‚1968‘ auf die DDR-Musikszene war die gestiegene Bedeutung des Blues, der eine Art „Religion“ war, wie Peter Gläser herausstellt.32 Die neue Art des Umgangs miteinander trug offensichtlich in nicht unerheblichem Maße zur weiteren Ausbildung und Festigung einer Art musikalischer Infrastruktur bei. Die Ideen von ‚1968‘ waren ein Auslöser für die vermehrte Bildung von Jugendgruppen - nicht nur von Musikbands, sondern allein von einfachen Freundschaftstreffen, die sich verfestigten. Vom Regime wurde diese Entwicklung aufmerksam und misstrauisch beäugt und die musikbegeisterten Jugendlichen in die Nähe von Kriminellen und Staatsfeinden gerückt.33 Hier ist deutlich zu sehen, wie der übersteigerte staatliche Kontrollwille des DDR-Regimes sich gewissermaßen seine Feinde selber schuf: Da dem Regime aufgrund seiner autokratischen Struktur jede nicht vollkommen kontrollierte Gruppenbildung auch in noch so kleinem Ausmaß als Gefahr für die eigene Herrschaft erscheinen musste, war man gleichsam gezwungen, auch schon völlig harmlose Freundschaftstreffen von Jugendlichen als systemdestabilisierend zu kriminalisieren und solcherart die Beatmusik, die ein wesentliches Element dieser Treffen darstellte, zu einem Politikum ersten Ranges zu machen. Richtig war hieran lediglich die Erkenntnis, dass Musik ebenso wie die dazugehörigen Accessoires in Kleidung, Habitus und Umgang wesentlich Symbole der Bildung solcher Gruppen bildeten, die ihren alternativen Charakter erst in Reaktion auf die intransigente Natur des Systems erhielten. Ulrich Plenzdorf formulierte in seinem Roman Die neuen Leiden des jungen W.: „Jeans sind eine Einstellung und keine Hosen“.34 Es gab jedoch auch eine Kehrseite dieser intransigenten Haltung. Ganz ähnlich wie in Polen versuchte man es in der DDR nämlich auch mit einer Strategie der Anerkennung. Im Jahre 1969 wurde mit den Puhdys die bald bekannteste Rockband der DDR gegründet, die schließlich gemeinsam mit dem Dirigenten Kurt Masur den Nationalpreis erhielten. Tatsächlich gelang es dem Regime dadurch, die unbequeme Rockszene bis zu einem gewissen Grade für die Zwecke des Systems nutzbar zu machen. Wie Christan Kunert rückblickend feststellte, war Rockmusik durch ihre offizielle Anerkennung korrumpierbar geworden.35 Das Zitat zeigt, dass hier durch eine relative Freizügigkeit der prinzipielle Interessenskonflikt des Systems mit der Szene partiell verdeckt wurde. In der DDR war das in den 1970er Jahren, besonders nach dem Amtsantritt Erich Honeckers im Jahr 1971 bis zur Ausbürgerung Biermanns 1975 der Fall. Die beiden wichtigsten Bands dieser Zeit, die Puhdys und die Klaus Renft Combo, lieferten mit ihren Che GuevaraSongs sozusagen die Synthese aus der westlichen Kapitalismuskritik im Gefolge

32 33 34 35

Ebd. Ebd., S. 240–241. Ebd., S. 236. Ebd., S. 236. Zum amerikanischen Einfluß und zum Eindringen der Symbolwelt der westlichen Protestkultur in die DDR vgl. Therese Hörnigk, Jeans, Rock und Vietnam. Amerikanische Kultur in der DDR. Materialien einer wissenschaftlichen Konferenz „Jeans, Rock und Vietnam“ vom 15. bis 18. 1. 2002 in Berlin, Berlin 2002.

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von ‚1968‘ und dem Bekenntnis einer staatskonformen Gesinnungstreue.36 In den 1980er Jahren begann die Szene sich dann musikalisch und auch politisch stark zu verändern.37 ČSSR Die Chronisten des tschechoslowakischen Rock beschreiben die frühen 1960er Jahre als sein Goldenes Zeitalter.38 Es existierte eine lebendige, dezentralisierte, sich selbstorganisierende Musikszene, deren Höhepunkt drei tschechoslowakische BeatFestivals waren, deren erstes 1967 und letztes immerhin noch 1971 stattfand. Die Wende zu den 1970er Jahren bedeutete jedoch auch einen Wandel der tschechoslowakischen Rockszene, die bis dahin die „modernste der sozialistischen Staaten […] mit hohem musikalischen Niveau“39 gewesen war, zu einer Phase der „Stagnation“ und „Resignation“40. Im vorliegenden Zusammenhang drängt sich die Frage auf, ob neben den musikalischen Gründen hierfür die Ereignisse des Jahres 1968 und das Gedankengut von ‚1968‘ einen Einfluß ausgeübt hatten. Im Frühling 1967 zeigten sich die Schwächen im Kontrollsystem des bisherigen Staats- und Parteichefs Novotný. Auf dem Vierten Kongress der Schriftstellerunion verlas Pavel Kohout mit großer Geste den berühmten Brief Solženicyns mit der Kritik am Zensurwesen. Versuche Novotnýs, durch Säuberungen die Kontrolle über die Partei wiederherzustellen, führten lediglich zu Studentenprotesten und öffentlichem Aufruhr. Im Januar 1968 wurde Novotný durch Aleksander Dubček ersetzt, der im April ein Programm zur Schaffung eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“41 in der ČSSR ausrief. In der Folge kam es zu einigen spektakulären Konzertauftritten und Schallplattenaufnahmen einheimischer Musikgruppen, die allesamt die intensive Westorientierung der tschechoslowakischen Rockmusiker illustrierten. Die Band The Primitives gab gecoverte Songs von Jimi Hendrix und Frank Zappa. Die staatliche Schallplattenfirma Supraphon brachte im Jahr 1968 die Platte Želva der Gruppe

36 Christian Kunert, „Schau mich nicht so schüchtern an, weil ich Dich gut leiden kann.“, in: Rock-Session, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 201, hier zitiert nach Rauhut, Beat in der Grauzone, S. 253. 37 Hier wird der Gegensatz zwischen der Symbolwelt von ‚1968‘ im Westen und den Protestbewegungen im Ostblock auf konzentrierte Weise deutlich: Ein Song über Che Guevara diente im Westen als Anzeichen ‚linker‘, also ‚widerständiger‘ Gesinnung, während ein Song über dasselbe Thema im Ostblock Akklamationsmusik war. Gegensätze dieser Art sorgten dafür, dass sich die alternativen Szenen in beiden Systemen fremd blieben. 38 Vgl. Wir wollen immer artig sein… Punk, News Wave, HipHop, Independent-Szene in der DDR 1980 – 1990, hrsg. von Ronald Galenza und Heinz Havemeister, Berlin 21999. 39 Vojtěch Lindaur und Ondřej Konrád, Bigbít, Praha 2001, Kapitel „Zlaté časy“, S. 32–55. Zum tschechischen Rock vgl. außerdem Vojtěch Lindaur und Ondřej Konrád, Život v tahu aneb Třicet roků rocku, Praha 1990. 40 Lindaur und Konrád, Bigbít, S. 54. 41 Ebd.

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Olympic auf den Markt, das ebenfalls in einigen Teilen an Jimi Hendrix angelehnt war.42 Einige Konzerte nahmen den Charakter spontaner, wenn nicht sogar anarchistischer Happenings an. Als The Primitives in Prag ein Fisch Fest organisierte, bewarfen sich Publikum und Musiker schließlich gegenseitig mit Fisch43 – es herrschte ein Chaos, das sämtliche bisherigen bürgerlichen Verhaltensweisen destruierte und insofern ein hervorragendes Beispiel für die Befreiungsbewegung der Achtundsechziger ist. Als dann schließlich am 20. August 1968 der Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in die ČSSR begann, fanden sich in Prag, Bratislava und anderen Städten langhaarige Jugendliche und Hippies in vorderster Front des Widerstands.44 Nach seiner Rückkehr aus Moskau verkündete Dubček, der Prager Frühling sei keineswegs vorüber. Tatsächlich konnte im Herbst 1968 der erste Hippie-Kongreß der Slowakei stattfinden. Dennoch war die Stimmung nach dem Einmarsch in hohem Maße depressiv, was sich am deutlichsten anhand der Selbstverbrennung des 21 Jahre alten Philosophiestudenten Jan Palach auf dem Wenzelsplatz demonstrieren lässt. Tschechische Anhänger und Liedermacher kleideten die Stimmung in Worte und Melodien. Eins der populärsten Protest-Lieder nach August 1968 stammt von Waldemar Matuška. Mit ihrem Lied Modlibat pro Martu (Gebet für Martha) auf der Grundlage eines mährischen Theologen aus dem 17. Jahrhundert wurde Marta Kubišová zu einem Symbol der Zeit. Die Melodie dieses Liedes wurde bis zum Verbot im Jahr 1969 als Erkennungsmelodie des Tschechoslowakischen Fernsehens gespielt. Im Jahr 1969 und später wurde der 21 Jahre alte Sänger und Liedermacher Karel Kryl zum musikalischen Sprachrohr der enttäuschten Jugend. In seinem Lied Close the gate hatte er allegorisch die SU gegenüber der ČSSR gekennzeichnet. 1969 unternahm Kryl eine Tour durch das Land, Supraphon stellte eine Schallplatte her. Im Juni 1969 schrieb Kryl als eine Art Warnung das Lied Cancer, in dem er die kommende Zeit der Erstarrung bereits vorausahnte. Auch ihn selbst sollten die Vorboten dieser Eiszeit treffen: Als Kryl im September 1969 ein großes Konzert in München gab, schloss die ČSSR die Grenzen, so dass Kryl die Rückreise verwehrt blieb und er schließlich in München Mitarbeiter am Radio Free Europe wurde. Somit erhielt er die Möglichkeit, wenigstens durch seine Mitarbeit an der ČSSR-Abteilung dieses US-amerikanischen Propagandasenders weiteren Einfluß zu nehmen. Die Kontakte mit dem Westen machten der tschechoslowakischen Jugend ihre Ohnmacht nur noch bewusster.45 Ein letzter Höhepunkt nach der Niederschlagung des Prager Frühlings bestand in einem Konzert der Beach Boys im Juni 1969 in der ČSSR, als die Gruppe den Liedtext „Ich kann nicht so, wie ich möchte“ unumwunden auf Dubček transfe42 S. Anm. 6. 43 Ebd., S. 41. 44 Die Selbstdarstellung der Primitives auf der Bühne war ganz offensichtlich ein Faszinosum für die Zeitgenossen im Vergleich zu anderen Bands, vgl. Lindaur und Konrád, Bigbít,, S. 45. 45 Ryback, Rock around the bloc, S. 78.

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rierten. Zumindest für die Rockszene bildete jedoch die Kampagne der so genannten Requalfizierung (rekvalifikace) den entscheidenden Wendepunkt, als nämlich im Jahr 1972 das Regime, unter dem Vorwand, das Musikleben professionalisieren und dadurch qualitativ steigern zu wollen, faktisch auf die Zentralisierung des Musiklebens zielte und die systemunabhängige Infrastruktur dadurch zerstörte.46 Dennoch gab es auch in den 1970er Jahren immer wieder Treffen von Rock-, Pop- und Jazzgruppen, die angesichts der Restriktionen große Bedeutung für die nationale Musikszene hatten.47 In den 1970er Jahren wurde das politische Klima gegenüber dem Rock zunehmend restriktiver. Fans wurden zu ihren Konzerten von der Polizei eskortiert. 1974 in Rodolfov und 1977 in Kdyně kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen Polizei und Konzertbesuchern. Daraufhin prangerte die kritische Sektion der Musikunion das Vorgehen der Behörden an und warnte davor, die Jugend durch rigorose Verbote in die Totalverweigerung zu treiben. Die führende Rockband jener Zeit, die Plastic People of the Universe, hatten im Jahr 1970 vergeblich versucht, einen offiziellen Status zuerkannt zu bekommen.48 Immer wieder traten sie durch die Durchführung von Untergrundkonzerten in Erscheinung, bis schließlich im Jahr 1976 gegen führende Mitglieder dieser Band ein Prozeß eröffnet wurde, der sie zu mehrmonatigen Freiheitsstrafen verurteilte. Eine Solidaritätswelle weit über die Rockszene hinaus war die Folge, auch seitens vieler im Jahr 1969 kaltgestellter Intellektueller. Sie wiesen darauf hin, „daß diesmal kein politischer Gegner, sondern ein anderer Lebensstil vor Gericht stehe.“49 Die Solidarität mit den Plastic People transformierte die bisher auf die Musikszene beschränkte Symbolwelt von 1968 endgültig ins Politische und bildete einen entscheidenden Impuls für die Entstehung der Bürgerrechtsbewegung Charta ’77 um die Jahreswende 1976/77, in der nicht nur eine alternative Lebensweise, sondern bereits ein anderes Wertesystem gefordert wurde – einer der vorläufigen Endpunkte des Einflusses von 1968. Ein Versuch, dem Mief und der beklemmenden Situation der 1970er Jahre zu entkommen, war die Gründung der so genannten Prager Jazz-Sektion (Jazzová Sekce), aus Mitgliedern der beständig im Untergrund weiteragierenden Jazz-Szene. Dabei handelte es sich um eine Künstlervereinigung, die zunächst als lockerer Interessensverbund begann, sich bald aber zu einer regimeunabhängigen Konzertagentur entwickelte und dadurch schließlich zu einer Keimzelle einer organisierten Opposition wurde, deren Forderungen weit über musikalische Belange hinausgingen. Kennzeichnend für die Entwicklung in der Tschechoslowakei ist jedoch die

46 Die „Bewegung der revolutionären Jugend“ in der ČSSR 1969 hatte gute Kontakte zu BRD und Frankreich (Tůma, Das kommunistische Regime, S. 320). 47 Lindaur und Konrád, Bigbít,, S. 59–60. Zum tschechischen Rock seit dieser Zeit vgl. Mikoláš Chadima, Alternativa. Svědectvi o Českém Rock & Rollu Sedmdesátých Let, (od Rekvalifikací k „Nové Vlně se Starým Obsahem“), Brno 1992. 48 Lindaur spricht von „Träumen von einem tschechischen Woodstock“, Lindaur und Konrád, Bigbít,, S. 87–88. 49 Zu den Plastic People vgl. Egon Bondy, The Plastic People of the Universe (Bášně z roku 1976), Samizdat Popelnice 1980.

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Tatsache, dass diese Initiative schließlich vom Staat zerschlagen wurde.50 Jazz-Sektion und Charta `77 sind die deutlichsten Beispiele dafür, wie der Wandel der Protestkultur nach 1968 das Gebiet der Musik zum Ausgangspunkt weitreichender oppositioneller Bewusstseinsbildungsprozesse werden ließ. Ungarn Das Jahr 1968 war in Ungarn nicht nur das Jahr des Einmarsches in die Tschechoslowakei. Man verband diese Jahreszahl auch mit den Wirtschaftsreformen der kommunistischen Staatspartei und dem gesellschaftlichen Konsens über die ‚kleinen Freiheiten‘. Ein gewisser Stolz der Bevölkerung wegen verschiedener Konsum- und Reisemöglichkeiten im Unterschied zu den ‚Bruderländern‘ setzte ein, der – so das Kalkül der Machthaber – zu einer Identifikation mit dem System führen sollte.51 Dabei stellte auch hier das Jahr 1968 keinen Bruch dar. Bereits seit den frühen 1960ern beschritt die ungarische Staatspartei unter János Kádár einen Weg der „Befriedung“ der Gesellschaft im obigen Sinne. Diesem Ziel diente der Ausschluß Rákosis, Gerős und anderen aus der Partei und schließlich die Propagierung des „Neuen Ökonomischen Mechanismus‘“ im Jahr 1966 durch Rezső Nyers. Ausgangspunkt war das Jahr 1956 bzw. die feste Absicht des Regimes, ein solches Ereignis in Ungarn nicht nochmals eintreten zu lassen. Dieses Denken bestimmte fortan die gesamte offizielle politische sozialistische Willensbildung in Ungarn bis zum Zusammenbruch des sozialistischen Ungarn in den 1990er Jahren.52 Im Gegensatz etwa zu Polen gelang es den Machthabern, weitere Aufstände in Ungarn durch ihre Strategie zu vermeiden. Auch die internationalen Ereignisse des Komplexes von ‚1968‘ sowie die Ereignisse dieses Jahres selbst (d.h. der Einmarsch in der Tschechoslowakei) vermochten das Funktionieren dieses ungarischen Wegs nicht zu erschüttern. Diese gesamtgesellschaftlichen Tendenzen hatten auch Auswirkungen auf die Musik. Konservative Elemente milderten das Gefahrenpotential des Rock. In dieser Situation sah die Staatsmacht sich in der Lage, Rockkonzerte zuzulassen, was die Gefahr ihrer Ausnutzung als Gegenveranstaltung nochmals verringerte. Zugleich jedoch behielt der Staat die Schlüsselpositionen der Musiklandschaft in der Hand, wie etwa die weiterhin staatlich und zentral betriebene Schallplattenfirma. Die Rockmusiker konnten keine eigenständige Infrastruktur entwickeln, was ihre Handlungsmöglichkeiten wesentlich einschränkte.53 50 Vgl. Jan Pauer, Charta 77. Moralische Opposition unter den Bedingungen der Diktatur, in: Samizdat. Alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa: Die 60er bis 80er Jahre, hrsg. von Forschungsstelle Osteuropa, Bremen 2000, S. 52–63, hier S. 55. 51 Karel Srp, Výjimečné Stavy. Povolání Jazzová Sekce, Prag 1994. 52 Zu den Grundlinien der ungarischen Wirtschaftspolitik jener Zeit vgl. Rudolf L. Tőkés, Hungary´s Negotiated Revolution. Economic reform, social change, and political succession, 1957 – 1990, Cambridge 1996. 53 Zu Strategien der Machthaber, insbesondere des Geheimdienstes gegenüber dem Rock vgl. Tamás Szőnyei, Nyilván tartottak. Titkos szolgák a magyar rock körül 1960-1990, Budapest 2005.

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Das Protestpotential des ungarischen Rock nahm als Folge dieser Entwicklung stetig ab. Ein Beispiel dafür bietet János Bródy von der Gruppe Illés. Im Jahr 1973 war Bródy mit seinem Lied Sárga rózsa (Text: János Bródy, Musik: Levente Szörényi) zensiert worden, da die Staatsvertreter in dem vordergründig auf rein florale Motive beschränkten Text dennoch die deutliche Verurteilung und die Trauer Bródys über die ungarische Beteiligung am Einmarsch in die Tschechoslowakei herauslesen konnten.54 Gegen Ende der 70er Jahre stellte sich das Verhältnis zur Staatsmacht ganz anders dar: Dieselben Rockmusiker, die sich zehn Jahre vorher mit Kulturfunktionären angelegt hatten, berieten nun gemeinsam mit den kommunistischen Kulturfunktionären über eine Strategie zur Kontrolle der ungarischen Jugend. Rockmusiker schlugen vor, zu diesem Zweck die so genannte ‚Strategie der drei t’ konsequent anzuwenden.55 Mit der Rock-Oper Fictitious Report on an American Pop Festival nach einem Roman von Tibor Déry, die im Jahr 1972 in Budapest aufgeführt wurde und einer Idealvorstellung der Herrschenden entsprach, schien schließlich der Wandel von Protest- zur Akklamationskultur vollzogen zu sein: eine sozialistische Rock-Oper verdammte die kapitalistische Rockszene.56 Spätestens damit hatte sich die offizielle Rockszene für die Jugend als Oppositionsmedium kompromittiert, nachdem sie zuvor schon mehr und mehr kommerzialisiert und dadurch kaum noch glaubwürdig war. Bezeichnend dafür war ein Rockkonzert der Gruppe Omega vor 16.000 Fans in Budapester Kisstadion im Jahr 1976, in dem man der Gruppe ähnliche Allüren wie westliche Rockmusiker vorwarf und dabei die Ähnlichkeit ihres Verhaltens zu Narzissmus und Extravaganz eines David Bowie anprangerte. Dass Kritiken wie diese aufkamen, ist ein deutliches Anzeichen für den kommerzialisierten Status des ungarischen Rock in dieser Zeit. Ende der 1970er Jahre schloss man schließlich ein offenes Übereinkommen mit der Staatsmacht. Péter Erdős, ungarischer Musik- und Kulturoffizieller, stellte umfangreiche Privilegien (z.B. Privathäuser in Rózsadomb, einem Villenviertel in Budapest) für die bekanntesten Rockmusiker unter der Bedingung in Aussicht, dass sie sich systemkonform und systemstabilisierend verhalten würden.

54 Anna Szemere, Up from the underground. The Culture of Rock Music in Postsocialist Hungary, Pennsylvania 2001, S. 33. 55 Ebd., S. 36. ������ 56 Dabei handelte es sich um das von Kulturminister György Aczél eingeführte System der Bewertung von Kunsterzeugnissen durch die Zensur. Drei Kategorien wurden aufgestellt, in die die staatliche Zensur jede neue Kunstproduktion einordnen musste: tiltás, tűrés oder támogatás (Verbot, Duldung, Förderung). Besonders die mittlere Kategorie der Duldung (tűrés) eröffnete den Künstlern die Möglichkeit, bescheidene Versuche zur Erweiterung des Freiraums durchzuführen – allerdings eröffnete eben diese Kategorie auf der anderen Seite auch eine völlig willkürliche Beurteilung. Vgl. László Beke / Edit Sasvári: „Ungarn kann dir gehören“. Die Künstler des Underground, in: Samizdat. Alernative Kultur in Zentral- und Osteuropa: Die 60er bis 80er Jahre, hrsg. v. Wolfgang Eichwede, Bremen 2000, S. 168 – 171, hier S. 168. Ergebnis war die Erscheinung der öncenzúra (Selbstzensur) der Kunstwerke bereits im Vorfeld, eine für das ungarische Kulturleben des Kádárismus typische Erscheinung. Der Kádárismus bezeichnet das Angebot des Regimes, den Bürgern kleine private Freiheiten und einen bescheidenen Wohlstand zu gewähren und als Gegenleistung dafür politische Loyalität einzufordern. ����� Vgl. A Cultural History of Hungary in the nineteenth and twentieth Centuries, hrsg. von László Kosa, Budapest 2000, S. 296.

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Gegen die solcherart kaltgestellte offizielle Szene rebellierte jedoch die Jugend an der Wende zu den 1980er Jahren in Form der no-future-Generation der csőves (Pfeifen), die als Abgrenzung von den Vorgängern die Ethik und Musik des Britischen Punk Rock übernahmen und durch einen Dresscode aus Denim Jeans, Turnschuhen und langen Haaren eine in Ungarn bis dahin so nicht gekannte eigene Symbolwelt schufen, die stark an die Hippies erinnerte, so dass hier auch eine mittelbare Einwirkung eines Strangs des westlichen ‚1968‘ auf den ungarischen Fall zu sehen ist.57 Auch später benutzten ungarische Jugendliche Musik als Ausdrucksmittel gesellschaftlichen Widerstands, wie etwa die ungarische Rap-Szene zeigt.58 Versuch einer Bilanz Trotz vieler Unterschiede im Detail ist in den hier betrachteten Einzelfällen doch ein gemeinsames Muster erkennbar: Nach einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Blütezeit des Rock in den 1960er Jahren bedeutete das Jahr 1968 einen Einschnitt – allerdings nicht so sehr wegen des Eindringens von Elementen der Protestkultur des Westens, sondern wegen der Ereignisse in Prag und des Einmarsches der Nachbarländer. Einmal mehr ist ganz offensichtlich die Entwicklung im eigenen Land und im Gefüge des Ostblocks zunächst einmal wichtiger als der Einfluß des westlichen ‚1968‘. Dennoch ist dieser Einfluß bei genauerem Hinsehen immer wieder an kleinen Einzelheiten zu beobachten. An erster Stelle sind hier das Vordringen der Hippie-Bewegung sowie Versuche zur Organisation kleiner ‚Woodstocks‘ zu nennen. Mindestens ebenso wichtig ist aber auch, dass mit der Rezeption der aktuellen Musik des Westens auch die Symbolsprache des westlichen Jugendprotests rezipiert und produktiv angeeignet wurde, der sich weitgehend auf ‚1968‘ zurückführen lässt. Die 1970er Jahre hatten dann ein Doppelgesicht: Einerseits suchten nun die Machthaber der sozialistischen Länder dem Protest der Jugendlichen sozusagen dadurch den Wind aus den Segeln zu nehmen, dass nunmehr – allerdings mit Ausnahme der ČSSR - durch ‚liberale‘ Politik die Entfaltungsmöglichkeiten etwas verbessert wurden. Andererseits führte gerade diese Liberalisierung nicht zu einer Zähmung oder Eindämmung der jugendlichen Protestkultur, sondern gewährte ihnen die Möglichkeit zur intensiven Verwurzelung in der Gesellschaft. Nun spielte man nicht mehr nur britischen oder amerikanischen Rock nach, sondern es entstanden eigenständige, nationalsprachliche Rockszenen, die auch je eigene nationale Symbolkulturen ausbildeten, zentriert jeweils auf die in den einzelnen Ländern führenden Rockgruppen. Im Westen hatte ‚1968‘ dazu geführt, dass der Protestcharakter der Rockmusik, der im Rock’n’Roll eine geradezu elementare Gewalt hatte, auch bis weit in die 57 Szemere, Up from the underground, S. 39. 58 Éva Miklódy, A.R.T., Klikk, K.A.O.S, and the Rest: Hungarian Youth Rapping, in: Blackening Europe. The African American Presence, hrsg. von Heike Raphael-Hernandez, New York 2004, S. 187– 200, hier S. 197.

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1970er Jahre hinein erhalten blieb. Im Ostblock rezipierte man die Entwicklungen im Westen sehr aufmerksam. Dadurch, dass die Rockmusik im Westen ihren widerständigen Charakter behielt, war sie für die Protestbewegungen im Ostblock weiterhin sehr attraktiv, auch wenn die inhaltliche Ausrichtung des Protestes mitunter diametral verschieden war. Daher behielt der Westen musikalisch trotz der sich ausbildenden nationalen Rockszenen in den einzelnen Ostblockländern der 1970er Jahre auch weiterhin trotz des Funktionsunterschieds der Musik zum Westen eine musikalische und ideelle Führung: Musik erhielt nach 1968 im Ostblock eine intensive Funktion mit der sich wesentlich verstärkenden Samizdat-Kultur des sog. ‚Zweiten Umlaufs‘, der schließlich sein eigenes Symbol- und Habitus-System etablierte. Die Symbolwelt des westlichen ‚1968‘ hatte hier ebenfalls ein wichtiges Vorbild geliefert.

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Anti-optimistic or allusive? Polish Art Music after 1968 Political and social background 1968 was a notable year in the social, political and economic life of Poland. For several years the country’s economy had been deteriorating, and plans and reforms had changed nothing. Polish intellectuals and writers aspired to better economic conditions and to live in a free country. But their desire for change, known as “revisionism”, was combated by the official authorities. On the other hand there were a great many people who did not want change, and their dogmatic point of view often clashed with that of the revisionists. Against such a background, on 30th January 1968 at the National Theatre of Warsaw, there was a student demonstration against the banning of performances of Dziady, a play of the celebrated poet Adam Mickiewicz (1798–1855). The Polish government cancelled the production, which had been directed by the famous theatre director Kazimierz Dejmek (1924–2002), because of its excessively anti-Russian tone. It is worth adding that the production had been prepared for a celebration commemorating the 50th anniversary of the “Great October Revolution” in Russia, but the censors had already been active during rehearsals. The first-night performance had taken place on 25th November 1967 and proved a great triumph. However, the Ministry of Culture soon ordered that the number of performances be limited, and the Polish press began a campaign against the production. The last performance, in the National Theatre on 30th January, was performed to a full house and was greeted with a stormy half-hour standing ovation. At the end there were shouts of “Down with censorship” from the audience. The performance was followed by a public demonstration leading to the first clashes with the police and arrests. Thus, Polish people wanted the performance and fought for it, despite government repression. The student demonstration was directed not only against attacks on Polish national culture but also against an increase in the censor’s control of the mass-media and the growth of misinformation. The authorities’ response to the demonstration 



���������� Mickiewicz spent the last 20 years of his life in exile in Paris where, besides writing poetry, he published political articles which circulated among the émigré Polish community. He accused the Polish elite of opportunism and servility and also tried to explain the Polish defeat in the November uprising of 1830 (for instance in Dziady). Dejmek ������ who, at this time, was the manager of the National Theatre in Warsaw was removed from this position after his 1967 production of Dziady.

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was to arrest the students and expel them from their universities. As a result, on 8th March, the students organized a protest against infringements of basic civil rights in the courtyard of Warsaw University, which was attended by several thousand people. It demanded the re-admittance of the expelled students to their colleges. The participants of the rally were dispersed by the police and squads of ORMO (the Voluntary Reserve of the Citizens’ Militia). Some of them were also arrested and expelled from their colleges. Amongst other things, these events led to many thousands of students demonstrating in such towns as Gdansk and Cracow. Tens of thousands of demonstrators were involved in encounters with the police. Riots lasted for three weeks and several thousand people were arrested. The press unleashed a campaign which targeted academic groups, and in the factories rallies were organized denouncing the riots. This entire period came to be referred to in Poland as “March 68”. Two months later, on 14th May, influenced by the March events, the basis on which students were admitted to university courses was changed: more points were awarded for social background (ideally worker or peasant) and for military service and professional work lasting at least six months. Poland’s already difficult domestic political situation deteriorated even further after 21st August, when Poland’s armed forces took part in the Warsaw Pact attack on Czechoslovakia. Some intellectuals openly condemned the action and one of many government responses was to introduce, on 8th October 1968, a new legal framework for the higher education system, which remained in force for a number of years. From this time forward the position of university rector became a government appointment, which was made on the basis of political correctness and without reference to the university teaching staff. Radio broadcasts of Western light entertainment music, but first and foremost of English songs were banned (because almost everything that came from the West could ‘threaten Poland’s stability’). Reflections in literature The events of March 68 helped to clarify the opposition’s aims and aspirations in Poland. These goals were also mirrored in literature. On the one hand, some Polish poets and writers left their native country in order to continue writing in exile. On the other hand, at the same time, a distinct new poetic generation known as “Generation 68” emerged. Their artistic activity became an expression of protest against the hypocrisy of official rhetoric and against the stagnation in Polish politico-economic life. The most prominent representatives of this sizeable group of young Polish poets were: Stanisław Barańczak, Julian Kornhauser, Ryszard Krynicki and Adam Zagajewski. Generation 68 was not a literary grouping in the traditional sense. Its members were born in the years 1943–1949; they came from different cities (Poznań, Cracow, Warsaw, Łódź); they did not present a common manifesto; and, before they became a generational movement, each of them individually had founded a small poetic circle. They were also distinct from one another in terms of their views, literary models and heroes, and by their poetic techniques. However, they came to be perceived as a single generation because their poetic attitudes were for-

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med by definite political events and the practice of poetry became for them an act with an ethical dimension. Representatives of Generation 68 fought against the official ideology and made direct attacks on censorship and official propaganda, which had paralyzed the development of poetry as a genre for many years. Writers and poets were conscious of their role in Polish cultural life, and their readiness to oppose creative constraint unsurprisingly brought repression. The works of writers and poets who had identified themselves with the opposition refused publication. Many university teachers lost their posts and social status. Clearly, these repressions concerned not only representatives of Generation 68 but poets and writers of all generations. Reflection in music It is difficult to find in Polish art music a direct reflection of the events of 1968 of the type to be seen in Polish literature. It is hard to speak of a musical Generation 68. Political events have had more of a direct influence on the current musical life of Poland. However, changes in creative stylistics can be seen with the benefit of hindsight not as individual acts – a response to the needs of the moment –, but rather as a certain general modification of prevailing attitudes, of some principles and experiments aimed at producing new solutions in the field of sound, musical poetics and its expression. Even the important public discussion led by Polish musicologists (to mark 30 years of Polish musicology) in the late 1970s in the columns of the journal Ruch Muzyczny reveals no distinct signs of change after 1968. On the other hand, it was not possible at that time to speak about everything in the columns of press, and even what had already been said was not always published because of the interference of the omnipresent censor. Finally, it is worth stressing that in the abovementioned discussion the political events of 1968 were not even mentioned. First, however, let me say a few words about Polish musical events after March 1968. From within musical circles only Stefan Kisielewski (1911–1987) and Zygmunt Mycielski (1907–1987) – both composers and music critics, the latter editor of the music journal Ruch Muzyczny – made clear (written) declarations against the authorities and the government. As a result, early in March 1968, Kisielewski’s writing was denied publication and, at the end of April, Mycielski was dismissed from his post as editor-in-chief of the journal Ruch Muzyczny. Performance of their music both in concert and on the radio was forbidden. Direct reaction to Polish participation in the Warsaw Pact forces’ attack on Czechoslovakia came from a group of performers from Western Europe who refused to attend the 1968 Warsaw Autumn festival. Contrary to the desires of the organizers, the music of Soviet and Bulgarian composers dominated the repertoire of the festival. Letters outlining reasons for not attending the Warsaw Autumn were sent to Witold Lutosławski, the chairman of the Society of Modern Music. The Vesuvius Ensemble from Italy, for instance, reported that, after heated discussions, members of the group had come to the conclusion “that even musicians cannot bury their heads

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in the sand and be completely indifferent to world events” and that their decision was a “personal protest”. The official Polish government reaction to the attitude of those Western European artists who had condemned “fraternal help” and who did not want to come to Warsaw was to introduce a “record of censure” on them. For some time it was even forbidden to perform the works of Stravinsky, because he had signed Rafael Kubelik’s appeal to musicians to boycott concerts and festivals in countries which had participated in the attack on Czechoslovakia. Though the organizers of the Warsaw Autumn tried to operate solely on artistic criteria, politics exerted an influence on its repertoire until almost the mid-1970s. The organizers had to take care to balance the repertoire between music from Eastern Europe and from the West. They could choose music from the West without any restrictions, but visits of performers from Eastern Europe were dictated by rules of exchange between Ministries of Culture. The Ministries very often put forward music that did not fit in with the festival’s artistic aims. Under political pressure the Repertoire Commission sometimes had to make decisions which militated against the quality of the festival. In consequence the members of the Commission were accused of cliquish behaviour, of tendentious selection of musical works, of omitting Polish music and even of acting in a way which harmed it. The meeting of the Polish Composers’ Union called at the beginning of 1969 reflected the exchange of stormy opinions about the Warsaw Autumn and its repertoire. In his Dzienniki (Diary) Stefan Kisielewski stated: “There were completely terrible goings-on. They quarrelled about money, performances, trips abroad, about almost everything, saying not a word about more important things. Even such people as Lutos[ławski] and the musicologist and editor Tomaszewski (b. 1921), speaking more extensively and with turgidity, in fact strove only for a kind of status quo, identifying it bombastically with national culture. “In Stalin’s period I strove to maintain the view that music does not express thought,” said Kisielewski, “therefore it cannot be treated as a political object. As it happened, my view prevailed and, because of this, composers have liberty in their music (though of course nobody thanked me for it, but I am not surprised because this view is embarrassing for both sides and needs silent acceptance). Today, listening to the essentially pragmatic production of ‘little people’ who create ‘great art’, I sometimes regret that I succeeded in achieving my purpose too well and that there is absolutely no content in what musicians produce. And when all’s said and done, they even did this consciously, because comrades [...] from the Central Committee of the Party [KC] were watching carefully to make sure there was no thought-content to their work”. “Lack of content” in music was thus a notion that was put to perfidious use. And, if in former times, it had presented an argument to deflect attention from the content of works written to comply with the ideological demands of socialist-realism, by 1969 it had become a weapon in the hands of the politicians. Even Witold Lutosławski, at this time 55 years old and already considered a mature composer,   

Danuta Gwizdalanka and Krzysztof Meyer, Lutosławski (= Droga do mistrzostwa, vol. 2), Kraków 2004, p. 122. Ibid., p. 122. Stefan Kisielewski, Dzienniki [Diary], Warszawa 1996, p. 181.

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referred to the “lack of content” and non-political nature of music and acknowledged this as its ‘natural’ state. But his Cello Concerto proved that, given the political and social conditions of the time, the notion of “lack of content” in music was not fully achievable. It is possible to take this work as a representative example of a direct creative, musical reaction (or one that was perceived as such), to the political events of 1968. The Cello Concerto was written in 1968–1969 to a commission from the Royal Philharmonic Society in London for the second half of the artistic season 1969/1970. It was decided considerably later that the first solo performer would be the cellist Mstislav Rostropovich, to whom the work is dedicated. Political circumstances attendant upon genesis of the work and comments made by Rostropovich led to suspicions that the Cello Concerto has a programme (which is not true of any of Lutosławski’s other works). The real story is rather different. Rostropovich had a problem with understanding and learning Lutosławski’s Concerto; he had never played such music before. The composer wanted to help him, so he explained the general idea of his work as a conflict between an individual and the community. Rostropovich picked up on and publicized that idea and added a political dimension to it. Thus it was Rostropovich himself who added a programme to the Concerto and attributed to it illustrative elements. He singled out a solo passage and affirmed that it represented him and his life; the groups of brass instruments which repeatedly interrupt such solo passages were thus construed by Rostropovich as enemies who were persecuting him. “There you already have the whole Central Committee” was his verdict on the chord which appears at the climax of the work. All this was in keeping with Rostropovich’s position at the time as a dissident in the Soviet Union. Galina Vishnevskaya, Rostropovich’s wife, supported such an interpretation, calling the work “a Don Quixote for the 20th century”. Polish critics also detected in the Cello Concerto some extra-musical content, though Lutosławski always categorically denied political interpretations of his music. The example of Lutosławski’s Concerto bears witness that at that time (especially after the political events in 1968) the people of Eastern Europe sought political allusions where was possible to find them and tried to interpret music in political terms. It was a kind of search for freedom in art in place of freedom of speech. The latter was, of course, prohibited. The abandonment of the avant-garde Only in hindsight is it possible to observe the changes which appeared in Polish music after 1968. The most fundamental and typical of these changes is a conscious abandonment of the avant-garde. A lack of interest in novelty in music is evident from the mid-1960s. The excitement generated by the presentation of avant-garde music at the Warsaw Autumn started to decline. Stefan Kisielewski notes in his Dzienniki in September 1969 after a concert of Cage’s music: “Formerly avant-garde music had the taste of forbidden fruit; performing it stood in for ideological struggle or even a kind of politics. Now everything is passed: the authorities allow avant-

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garde performances (they turned out to be wise in that respect) and everything has become a plaything without meaning and lacking in seriousness. In addition, the dignity of music is diminished; there is so much of it everywhere...” The Polish reviewer Zdzisław Sierpiński, writing a survey of fifteen Warsaw Autumn festivals in 1970, noted that the festivals had gradually become less and less attractive, but that the main reason seemed to be the impasse in avant-garde musical creativity (mainly that of foreign composers). He wrote: “The monotonous repeatability of certain creative concepts, experiments in originality at any price (even at the expense of the music), a lack of invention: all this, especially after a period of initial excitement about musical novelties in the ’60s, has made musical audiences bored – even those who were most interested in modern music”. Probably the most significant critic of the avant-garde, Stefan Kisielewski, noted that avant-gardism was not in keeping with the spirit of the Polish cultural tradition or with conservatism, which was an important element of traditional Polish positive cultural values. Kisielewski suggested an attempt to renew musical creativity, feeling that “the way back” was not a solution. He proposed working to find a new musical form, advancing the idea: “Form is an intellectual value, and the new art should in some respects be conventional, ‘artificial’, because the word ‘art’ comes from ‘artificial’. Traditional music created a universal ‘sound-form’, which incorporated different aesthetic and cultural attitudes: aristocratic and working-class values, dignity and ridicule, prose and poetry, provocation and conformism, ancient and modern. Where can one find an equivalent of this in the appallingly simple gestures of Cage?” Kisielewski added that a new constructivism must be found, a new tune for music, and a new, universal solution for sound. The idiom of Polish neo-classicism faded from the stage of the Warsaw Autumn with the death in January 1969 of the prominent Polish neo-classical composer Grażyna Bacewicz (1909–1969). Dodecaphonic music and serialism likewise failed to take root amongst Polish composers (though there were isolated examples from Michał Spisak (1914–1965) and, to a greater extent, Artur Malawski10 (1904–1957) Bolesław Szabelski ���������11 (1896–1979) on the on the one hand, and from Bacewicz and ������������������ other). The sudden explosion of anti-avant-garde sentiment may have come about for various reasons. One was probably the second-hand reception of avant-garde art and ideology in Poland. These were taken over from the West by Polish avant-garde composers with a time-lag of several-score years (typically the Polish avant-garde started in the early sixties) and examples are limited both in number and with regard    

Kisielewski, Dzienniki, p. 282. Zdzisław Sierpiński, Jesień Warszawa-Wrzesień [Konfrontacje 70], in: Ruch Muzyczny 18 (1970), p. 10. Stefan Kisielewski, Awangarda czy bezsilność, in: Ruch Muzyczny 13 (1970), p. 12–13. Spisak ������ lived in Paris from 1937. In his music, neo-classical tendencies predominate. His works are harmonically conventional, but use varied instrumental textures and are very rich in orchestral tone colour. 10 �������� Malawski’s early compositions were influenced by Impressionism. Later he developed his own musical language, in which “centric harmony”(chords related to a central pitch or chord), dynamic rhythms and references to folk music play an important part. 11 Szabelski’s ��������� music combined contemporary musical form and methodology with those of the Baroque period.

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to genre.12 There was no experience of a deep-seated belief in the avant-garde, such as that which had occurred in centres such as Darmstadt. Therefore, the avant-garde seemed to be alien to the ‘natural spiritual tradition’ of Polish music. Going back to the source: to religion and New Romanticism The turning-point in musical creativity that took place in the early 1970s (initially in Górecki’s music, then in the music of other leading Polish composers such as Penderecki and Wojciech Kilar13 (b. 1932)) has been defined by Polish historians as a turn towards a new romanticism. It meant going back to old sources – to the classical tradition, to the “sincerity” of expression of folk music or to basics, and lastly to the inspiration of the great humanistic ideas, partly rejected by the avantgarde. Going back “to the fountainhead” also meant drawing attention to spiritual, religious content. The long conflict in Poland between the Church and the State meant that all religious works enjoyed wide circulation; people detected in them a political dimension. One example was the St. Luke Passion composed in 1966 by Krzysztof Penderecki to commemorate the 1000th anniversary of the Christianization of Poland. It was actually composed in response to a commission by Cologne Radio, but has been accepted equally as an artistic and political event. After 1968, religious themes gradually began to appear in the musical works of Henryk Mikołaj Górecki, Wojciech Kilar and many other Polish composers. Religiosity in Polish music increased in the 1970s, as the programme of the Warsaw Autumn demonstrates. Though at first the presence of religious elements was a consequence of the composers’ personal convictions, the audience was particularly receptive to political implications in the arts. This was because at that time the Church in Poland played an important part in the opposition movement, supporting liberty, freedom of expression and artistic creativity. Through the new religiosity, composers appealed indirectly to liberty and freedom of expression. This process, whereby a composer’s convictions and identity and the sacred dimension of the work found expression in music was accelerated by the events of 1968. The St. Luke Passion became a turning-point in Penderecki’s career as a composer and in his aesthetic development. It inaugurated his creation of the series of great religious works (cantatas and oratorios) and his symphonic output, gradually turning more distinctly towards late-Romantic aesthetics. Starting from that period, 12 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Communist ideology meant that avant-garde music was doomed to silence. Communist regimes were against avant-garde experimental art, which could emphasize the artist’s individuality and repudiated authority. The avant-garde reached Poland in 1956, when the International Festival of Contemporary Music known as the ‘Warsaw Autumn’ was inaugurated in Warsaw. This date marks a turning-point in Polish post-war history. In any event, the beginning of the avant-garde movement was delayed by a number of years in relation to Western Europe. Moreover the repertoire of that music was represented only to a limited extent. 13 ����� Kilar’s music was influenced firstly by the works of Stravinsky and Bartók, later by Webern and Boulez. Early in the 1960s he introduced into his music jazz elements. He embarked on a new creative phase in around 1971, turning to neo-folklorism and neo-primitivism.

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Penderecki composed the oratorio Dies Irae (1967) – in memory of the victims of the concentration camp in Auschwitz –, Kosmogonia (1970), Jutrznia [Matins] (1970), Magnificat (1974), Te Deum (1980), the Polish Requiem (1984), an opera Diabły z Loudun [The Devils of Loudun] (1969), Raj utracony [Paradise Lost] (1978). The creative output of Henryk Mikolaj Górecki between 1971 (Ad Matrem) and 1980 (Harpsichord Concerto) constitutes a distinct phase. In that period, apart from the music mentioned above he composed only five works: the Second Symphony “Copernican” for soprano, baritone, chorus and orchestra (1972) – in commemoration of the jubilee of Mikołaj Copernicus and commissioned by the Kościuszko Foundation in New York – first performed in June 1973 in Warsaw, the famous Third Symphony “Symphony of Sorrowful Songs” for soprano and orchestra, Beatus Vir (1979) for baritone, chorus and orchestra, Euntes ibant et flebant (1973) for chorus, and Amen (1974). The next four chamber “Muzyczki” [Musics] (1967–1970) inaugurated the great turning-point in Górecki’s work. Then follows Muzyka staropolska [Old Polish Music] (1969), Two Songs for chorus to poems by Julian Tuwim (1972) and Ad Matrem for soprano solo, mixed choir and orchestra (1972). In Górecki’s music of this period it is possible to notice a return to simplicity after experimentation with massive sounds or sonoristic composition and serial music. He gradually developed his individual musical language with such characteristic features as new approaches to musical time, repetition of a single, very simple motif over long periods of time, and extensive use of sound����������������� ���������������������� -spaces, as well as a significant limitation of means of expression and simplification of technical procedures. The composer was able to speak to his audience on an emotional level and had an ability to combine extreme simplicity and extreme complexity. Thus in the case of Górecki’s music, we can say that the works he composed after 1968 led gradually towards his greatest achievements, towards the apogee of his music. His early works were usually experimental in nature. The anti-avant-garde atmosphere of the late 1960s hastened his decision to search for ideas in music that were important for him personally. The main features of his music composed after 1968 – such as loftiness, mysticism, direct emotionality, spiritual inspiration – were generally also a strict response to the mood of the time and to changes in that mood. They have made Górecki the greatest authority in Polish musical life, especially respected by young composers who have followed his example, declaring a return to beauty, to loftiness, to important human ideas and the sacred. A few words about musical form In the early 1960s practically nobody in Poland composed symphonies (the First Symphony of Lutosławski was finished about 1967). Only Krzysztof Meyer14 (b. 1943) returned to the symphonic tradition in his first three symphonies (1964, 1967 and 1968, respectively). In the Second and Third Symphonies the composer set 14 Meyer later, in 1987, became a professor at the Hochschule für Musik in Cologne.

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words (both symphonies are vocal) and tried to expand their semantic association by taking advantage of modern compositional techniques. In his next symphonies – the Fourth Symphony (1973) and the Fifth Symphony (1979) – he expanded further the range of means of expression, including a reintegration of more traditional means. In the case of the other Polish composers, variety and enrichments in sound material usually led to a new approach to musical form. The creative emphasis shifted to technique, and this had an impact upon form, occasioning a variety of formal schemes. In conclusion, we can say that changes in political and social life after 1968 were reflected in Polish art music. But it was not a sudden change, rather it was a gradual process leading to the new face of 20th-century Polish music – more humanistic, inspired by great human ideas and by religious influences. In contrast to the experimental, technical orientation of the works composed previously, this new music turned to certain Romantic categories of expression and to a new, more contemplative approach to musical time. The determining features of sonoristic composition were replaced by a new term – New Romanticism – that generally corresponded more to the positive values and spirit of Polish cultural tradition (the positive side of Polish conservatism).

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Zu den Autorinnen und Autoren Robert Adlington ist Senior Lecturer in Music an der University of Nottingham (seit August 2005). Er erwarb einen BA in Music (First Class) an der Oxford University (Brasenose College) und einen MA in Music an der University of Sussex. Seinen PhD erhielt er ebenfalls von der University of Sussex 1996 mit einer Dissertation zur Temporality in post-tonal music. Von 1996 bis 1999 war er Lecturer in Music an der University of Sussex, anschließend an der University of Nottingham. Neben zahlreichen Aufsätzen, die in Sammelbänden und Fachzeitschriften wie dem Journal of Musicology und Journal of Royal Musical Association erschienen sind, verfasste er zwei Monographien zu Louis Andriessen: De Staat (Aldershot: Ashgate Publishing, 2004) und The Music of Harrison Birtwistle (Cambridge 2000). Timothy S. Brown ist Assistant Professor of German History an der Northeastern University. Seine Monographie Bolsheviks, Beefsteaks and Brownshirts: A Cultural History of Radical Extremism in the Weimar Republic erscheint in Kürze bei Berghahn Books. Zurzeit arbeitet er an einem Buchprojekt mit dem Titel 1968: West Germany in the World. Eric Drott ist Assistant Professor of Music Theory an der University of Texas at Austin (seit 2004). Zuvor war er Assistant Professor of Music Theory (von 2002 bis 2004) sowie Visiting Assistant Lecturer (von 2001 bis 2002) an der Yale University. 2001 erwarb er seinen PhD an der Yale University mit einer Arbeit über Agency and Impersonal2003 und 2004 erschienen Artikel in den Fachity in the Music of György Ligeti. ��������������������������������������������� zeitschriften American Music, dem Journal of Musicology und Music Analysis. Martin Elste ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Staatlichen Institut für Musikforschung Berlin (seit 1982). Er studierte ab 1971 Musikwissenschaft und Massenkommunikation (bei Alphons Silbermann) in Köln. 1974 ging er mit einem DAAD-Stipendium an das King’s College, University of London (Certificate of Advanced Musical Studies, C.A.M.S.). 1977 wechselte er an die Technische Universität Berlin und schloss sein Studium 1981 mit einer Dissertation über Bachs Kunst der Fuge auf Schallplatten ab. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Diskologie, Organologie und Aufführungspraxis. 1983–1992 war er Schriftleiter für Rezensionen des Phonographic Bulletin, 1992–1996 Vorsitzender des Discography Committee der International Association of Sound and Audiovisual Archives (IASA). 2000 wurde Elste zum Vorsitzenden des Preises der deutschen Schallplattenkritik e.V. gewählt. Neben Kritiken für Die

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Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Fanfare, FonoForum u.a. hat er zahlreiche Artikel in wissenschaftlichen Sammelbänden und Periodika veröffentlicht. Er hat bisher zehn Monographien geschrieben, darunter Meilensteine der Bach-Interpretation 1750–2000 (2000), die mit dem Award for Excellence der Association for Recorded Sound Collections ausgezeichnet wurde. Elste ist Fachbeirat für Die Musik in Geschichte und Gegenwart und Mitglied des Advisory Board der Encyclopedia of Recorded Sound in the United States (1993). Simone Heilgendorff ist seit Januar 2007 Professorin für angewandte Musikwissenschaft an der AlpenAdria-Universität Klagenfurt. Sie studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Psychologie (Dr. phil. 1999) sowie Viola (Master of Music/University of Michigan) in Freiburg, Zürich, den USA und in Berlin. Seit 1993 lehrt sie im Hochschulbereich mit dem Schwerpunkt ‚Vermittlung von wissenschaftlicher und künstlerischer Praxis‘. Sie ist Bratschistin des von ihr mit begründeten Kairos Quartetts, das auf Neue Musik spezialisiert ist. Veröffentlichungen liegen vor in Form von CDs und Texten: u.A. zu Georg. F. Haas’ Streichquartetten (CD, Preis der deutschen Schallplattenkritik 2005) sowie zum instrumentalen Theater (zwei CDs, Dokumentation zur Musik in Deutschland 1950 bis 2000), zur neuen und barocken Musik, ihren kulturellen Kontexten und der musikalischen Analyse sowie ihrer Aufführungspraxis. Buchveröffentlichung: Experimentelle Inszenierung von Sprache und Musik. Vergleichende Analysen zu Schnebel und Cage (Diss., Reihe Cultura Bd. 12, Freiburg 2002).  Frank Hentschel ist Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar. Er studierte von 1989–1999 Musikwissenschaft, Philosophie und Germanistik in Köln. 1992/1993 verbrachte er ein Studienjahr in London (King‘s College) und erwarb dort das Certificate of Advanced Musical Studies. 1994 schloß er sein Studium mit einer Magisterarbeit über Funktion und Bedeutung der Symmetrie in den Werken Béla Bartóks (Premio Internazionale Latina di Studi Musicali 1994) ab. Die Promotion folgte 1999 mit einer Dissertation zum Thema ‚Sinnlichkeit und Vernunft in der mittelalterlichen Musiktheorie‘ (Preis der Offermann-HergartenStiftung 2002). Von Oktober 1995 bis September 1999 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität zu Köln, von Oktober 1999 bis September 2006 Wissenschaftlicher Assistent an der Freien Universität. 2003/2004 hielt er sich mit einem Feodor-Lynen-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Harvard University auf. 2006 hat er sich an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über ‚Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776–1871‘ habilitiert. Seit 2000 fungiert er als Schriftleiter des Archiv für Musikwissenschaft. Martin Iddon ist Lecturer in Music an der Lancaster University. Er studierte von 1994 bis 1997 and der University of Durham (BA in Music) und 1998 bis 2004 an der University

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of Cambridge (MPhil in Musical Composition und PhD in Musicology). Die Dissertation verfasste er über The Dissolution of the Avant-garde, Darmstadt 1968– 1984. 2002 bis 2003 forschte er mit einem Jahresstipendium des DAAD am Internationalen Musikinstitut Darmstadt. 2004 bis 2005 war er Lecturer in Music am University College Cork. Veröffentlichungen erschienen im Musical Quarterly und der Contemporary Music Review. Beate Kutschke ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Künste Berlin (seit 2003) und hat u.a. Lehraufträge an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und der Technischen Universität Dresden inne (seit 2005). Sie studierte Musikwissenschaft und Kulturwissenschaft (sowie Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie) an der TU, FU und HU Berlin. 1998/1999 war sie Visiting Scholar an der Johns Hopkins University. 2000 wurde sie promoviert (Wildes Denken in der Neuen Musik, Würzburg 2002). Im gleichen Jahr war sie teaching assistant an der Harvard University/Cambridge. In ihrer Forschung verfolgt sie eine kulturwissenschaftlich orientierte Musikwissenschaft. An die Dissertation über die ‚Idee vom Ende der Geschichte bei Theodor W. Adorno und Wolfgang Rihm‘ schlossen sich Arbeiten zum Themenbereich ‚1968 und Musik‘ an. Im Juni 2007 erschien ihre zweite Monographie Neue Linke/Neue Musik bei Böhlau. Darüber hinaus veröffentlichte sie einen Tagungsbericht zu Gender Studies in der Musikwissenschaft sowie zahlreiche Aufsätze in Fachzeitschriften und Sammelbänden. Bogumila Mika ist promovierte Musikwissenschaftlerin und Soziologin und hat zurzeit eine Stelle als Vize-Direktorin des Musikinstituts an der Universität von Schlesien in Cieszyn inne. 2005 erhielt sie ein zweijähriges Stipendium des Polnischen Ministeriums für Erziehung und Wissenschaft für ihr Forschungsprojekt ‚Zitate in Polnischer Musik des 20. Jahrhunderts‘. Ihren Abschluss in Musiktheorie (M.M.) erwarb sie an der Musikakademie in Katowice in Oberschlesien. 1999 wurde sie im Fachgebiet Soziologie promoviert. Sie hielt Vorträge auf zahlreichen Konferenzen in Polen (Warschau, Lublin, Lodz, Krakau, Katowice, Bydgoszcz und Zielona Gora) und im Ausland (Paris, Rom, Helsinki, Imatral, Yale und Schwerte). Neben zahlreichen Aufsätzen zur zeitgenössischen Musik, zu Neuen Medien sowie zu sozialen Aspekten von musikalischen Phänomenen publizierte sie drei Bücher: Krytyczny koneser czy naiwny konsument (Der kritische Connoisseur oder der naive Konsument) (2000), Musica Polonica Nova na Slasku (zusammen mit Magdalena Dziadek und Anna Kochanska, 2003) und Muzyka jako znak w kontekście analizy paradygmatycznej (Musik als Zeichen im Kontext paradigmatischer Analyse) (2007). Magali Laure Nieradka ist Lektorin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Nizza. Von 1996 bis 2002 studierte sie Germanistik und Romanistik an der Ruprecht-KarlsUniversität in Heidelberg und war danach dort als Lektorin für Deutsch als Fremdsprache und Französisch tätig. Sie arbeitet an einer fächerübergreifenden und bina-

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tionalen Dissertation (cotutelle de thèse zwischen den Universitäten Heidelberg und Amiens/Frankreich) zum Thema Die Hauptstadt der deutschen Literatur – Sanarysur-Mer aus der Sicht der deutschsprachigen Exilschriftsteller 1933 bis 1942, unterstützt von der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg. 2003 veröffentlichte sie, gefördert von der Stiftung Preussische Seehandlung, die erste Biographie über den Schriftsteller Franz Hessel (Der Meister der leisen Töne) und 2004 eine Monographie über die Exilanten in Südfrankreich (Sur les pas des Allemands et des Autrichiens en exil à Sanary, 1933 à 1942) sowie zahlreiche Artikel zum Thema des Exils 1933–1945 und zur Rock- und Pop-Musik. Darüberhinaus ist sie seit März 1996 freie Journalistin für diverse Medien (u. a. Badische Neueste Nachrichten/ Karlsruhe, dpa/Karlsruhe, Katholisches Rundfunkbüro/Karlsruhe, Konradsblatt/ Karlsruhe, Doppelpfeil/Stuttgart, Dollami/Eschwege). Frieder Reininghaus ist Kulturkorrespondent und Publizist für den Deutschlandfunk/DeutschlandRadio, WDR und Südwest(rund)funk, mehrere Tageszeitungen und den Rheinischen Merkur sowie zahlreiche Fachorgane. Er studierte Musik, Musik- und Theaterwissenschaft, Germanistik und Soziologie in Stuttgart (dort 1968–1971 Vorsitzender des Allgemeinen Studentenausschusses), sowie Tübingen, Berlin und Köln. 1972 war er Wissenschaftlicher Assistent in Berlin und gründete dort zusammen mit Volkmar von Braunbehrens, Rüdiger Safranski u.a. die Initiative sozialistischer Kulturschaffender. 1976–1983 war er Redakteur der Zeitschrift SPUREN/Kunst und Gesellschaft sowie als Komponist (verschiedene Arrangements, Schallplattenaufnahmen und (Film-)Kompositionen) tätig. Publikationen erschienen u.a. zur Geschichte und Gegenwart der Faust-Musiken, zu Claudio Monteverdi, J.S. Bach, Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven, Giacomo Meyerbeer, Heinrich Heine, Franz Schubert, Thomas Mann, Ernst Bloch, Theodor W. Adorno, Kurt Weill, Hanns Eisler und zur Musik in der Emigration. Als Resümee zum neuen Musiktheater gab er – zusammen mit Katja Schneider und Sabine Sanio – das Handbuch Experimentelles Musik- und Tanztheater heraus (Laaber 2004). Er hielt verschiedene Gastvorlesungen an der Univerzity Komenského Bratislava und ist seit 1996 Lehrbeauftragter an der Universität Bayreuth. Rüdiger Ritter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität im von der VW-Stiftung geförderten Forschungsprojekt ‚Widerständigkeit durch Kulturtransfer. Der Jazz im Ostblock‘. Er studierte von 1985 Osteuropäische Geschichte, Musikwissenschaft, Mittlere und Neuere Geschichte und Philosophie. 1994 schloss er seine Studien mit einer Magisterarbeit über Die Anwerbung von Teilnehmern für die Abstimmungskämpfe in Oberschlesien 1919 und 1921 in Deutschland und Polen – ein Vergleich an der Universität Köln ab. Rüdiger Ritter lehrt seit 1996 regelmäßig zu Themen der Musik- und Kulturgeschichte des polnisch-litauisch-russischen Raums an der Universität Bremen. Im Jahr 1997 war er wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität Köln. Von 1998 bis 2001 erhielt er ein Doktorandenstipendium der FriedrichNaumann-Stiftung. Im Dezember 2001 promovierte er bei Prof. Dr. Manfred Ale-

Autorinnen und Autoren

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xander, Universität Köln, mit einer Arbeit über Die Rolle der Musik in der polnischen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert am Beispiel des polnischen Komponisten Stanislaw Moniuszko (1819–1872). Bis 2007 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen im von der VW-Stiftung geförderten Forschungsprojekt ‚Kollektive Identitäten und Geschichte in postsozialistischen Diskursen. Belarus, Litauen, Polen, Ukraine‘. Während der Schul- und Studienzeit erhielt er am Mainzer Konservatorium eine Klavierausbildung und ist praktizierender Organist. Joachim Scharloth ist Wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Seminar der Universität Zürich (seit 2002). Er studierte Germanistik, Politische Wissenschaft und Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg von 1992 bis 1998. Er ist Co-Leiter des EU-Forschungsprojekts ‚European Protest Movements since the Cold War‘ und Mitherausgeber des Buchs 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte (Stuttgart 2007), sowie des Sammelbandes 1968 in Europe (New York 2008). Im Rahmen seiner Habilitation befasst er sich mit der Ritualität und Sozialstilistik der Protestkommunikation und den längerfristigen Auswirkungen der achtundsechziger Bewegung auf die Kommunikationsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Steffen Schmidt ist als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich im Rahmen eines Projekts des Schweizer Nationalfonds über das Verhältnis der Künste beschäftigt. Er studierte Musikwissenschaft, vorderorientalische Sprachen und italienische Literatur und promovierte in Musikwissenschaft über Rhythmus in der neuen Musik des frühen 20. Jahrhunderts. Anschließende Stipendien in Rom und Paris ermöglichten seine Studien über das Verhältnis von Musik und Tanz bei Monteverdi und Lully. Als Komponist und Choreograph für Tanztheater und als Ballettpianist sowie als Tänzer für historischen Tanz vertiefte er seine Forschungen über das Verhältnis der beiden Künste. Weiterhin wirkte er als Konzertredakteur an der Staatsoper Unter den Linden Berlin. Glenn Stanley ist Professor für Musikgeschichte an der University of Connecticut. 1997 lehrte er als Fulbright Senior Guest Professor an der Humboldt Universität, Berlin. Er ist Herausgeber des Cambridge Companion to Beethoven (1999). Seine zahlreichen Aufsätze und Rezensionen zu Beethoven sind u.a. im Cambridge Companion to Beethoven, The Journal of the American Musicological Society, Beethoven Forum und Musicologica Austriaca erschienen. Er verfasste Beiträge über ‚Beethoven in Amerika‘ für das Beethoven-Lexikon (Laaber-Verlag) und über Beethovens Orchestrierung und die Rezeption des Fidelio für das Beethoven-Handbuch (Laaber-Verlag). Für das New Grove Dictionary of Music and Musicians verfasste er die Beiträge „Historiography“ und „German Music Criticism“. Seine Schriften zu Arnold Scherings hermeneutischer Methode, Musikgeschichtsschreibung im geteilten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, das deutsche Oratorium im 19. Jahrhundert,

240

Autorinnen und Autoren

Wagners Parsifal sowie diverse Aufsätze über Mozart, Schubert, und Mendelssohn wurden in amerikanischen, englischen und deutschen Publikationen veröffentlicht. Antje Tumat ist Wissenschaftliche Assistentin am Musikwissenschaftlichen Seminar Heidelberg und Leiterin der Nachwuchsgruppe ‚Die Libretti des Stuttgarter Hoftheaters im 19. Jahrhundert: Musikhistorische Regionalforschung mit europäischer Perspektive‘. Sie studierte Musikwissenschaft, Germanistik, Anglistik und Pädagogik in Heidelberg und lehrte in Stoke-on-Trent (Großbritannien); sie war Sophie-Bernthsen- und Richard-Wagner-Stipendiatin. 2003 promovierte sie mit einem Promotionsstipendium der Friedrich-Naumann-Stiftung an der Universität Heidelberg über Ästhetik und Dramaturgie: Ingeborg Bachmanns und Hans Werner Henzes „Prinz von Homburg“, war 2003 bis 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt ‚Musik und Bühne am Stuttgarter Hoftheater im 19. Jahrhundert‘ sowie Lehrbeauftragte in Heidelberg und an der Musikkhochschule Stuttgart. Ihre Dissertation wurde mit dem Ruprecht-Karls-Preis 2004 und dem Walter-Witzenmann-Preis der Heidelberger Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen neben der Schauspielmusik in den Bereichen Musikästhetik, Librettoforschung und Musik des 20. Jahrhunderts. Sebastian Werr ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei dem von der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderten Forschungsprojekt ‚Politik mit sinnlichen Mitteln: Oper und Fest am Münchner Hof, 1680–1745‘ am Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth. Er studierte Musikwissenschaft und Betriebswirtschaftslehre an der FU Berlin sowie an der Università degli studi di Milano. 1996 schloss er sein Studium mit einer Magisterarbeit über den Komponisten Errico Petrella ab. Er war Stipendiat des Evangelischen Studienwerks. 2001 wurde er an der Universität Bayreuth mit einer Arbeit über den französischen Einfluss auf die italienische Oper in der Mitte des 19. Jahrhunderts promoviert. Anschließend wirkte er vertretungsweise als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Musiktheater (Thurnau). 2003–2004 Postdoc-Stipendiat der Fritz-Thyssen-Stiftung. Lehrbeauftragter an der Universität Bayreuth und der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie freiberufliche Tätigkeit als Musikjournalist (u.a. für die Süddeutsche Zeitung).

Register

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REgister Abbado, Claudio 36 Achberger, Karen 115 Ackermann, Uta 200 Aczél, György 222 Adam, Theo 70 Adlington, Robert 9, 12, 18 Adorno, Theodor W. 9, 29–36, 69, 106, 127, 131, 164, 208, 237, 238 Agnon, Samuel Josef 79 Josef Alan 210 Albrecht, Gerd 76, 78 Amon Düül 163, 165 Amsburg, Claus von 104 Amsterdam Electric Circus, The 113, 114 Andersch, Alfred 116 Andraschke, Peter 115 Andriessen, Louis 12, 105–107, 109, 111–114 Anyone‘s Daughter 162 Aronowitz, Al 177 Assmann, Jan 115 Attali, Jacques 201, 202 Attinello, Paul 55 Auden, W. H. 13, 115, 116��������� –�������� 119, 124 Bacewicz, Grayna 230 Bach, Hans-Elmar 46–48 Bach, Johann Sebastian 71 Bachmann, Ingeborg 115 Bader, Roland 70 Baez, Joan 29, 166, 176, 183, 211 Bahk, Junsang 42, 56 Balin, Marty 177 Balistier, Thomas 190 Bandur, Markus 57, 59, 61, 62 Baraczak, Stanisaw 226 Barsamian, Jacques 178, 179 Barthes, Roland 101 Bartók, Béla 231 Baudry, Jean-Louis 99 Bauer, Walter 78, 79

Bauermeister-Stockhausen, Mary 42, 56 Baumann, Michael 166 Baumgarten, Albert 115 Bausch, Pina 199 Bauschinger, Sigrid 158 Bazin, André 99, 101 Beach Boys, The 219 Beatles, The 197, 181, 201, 213 Beatrix, Prinzessin der Niederlande 104 Beaud, Paul 93 Beaujean, Alfred 67 Beauvoir, Simone de 144 Becker, Günther 48 Becker, Wolfgang 62 Beethoven, Ludwig van 31, 34, 67, 69, 70, 73, 76, 77, 81–84, 87, 88, 111, 238, 239 Behne, Dieter 200, 203, 205 Bellini, Vincenzo 148 Bendikowski, Tillmann 8, 215 Benjamin, Walter 69 Berendt, Joachim-Ernst 160, 162 Berg, Robert von 160 Bergeijk, Gilius van 112 Berger, Peter L. 187 Bergmann, Uwe 194 Berliner Philharmonisches Orchester 67 Bernoulli, Maria 153 Bernstein, Leonard 67 Bestgen, Ulrike 84 Between 162 Beuth, Reinhard 203 Beuys, Joseph 130 Biermann, Wolf 37, 168 Bispinck, Hendrik 210 Blissett, Luther 189 Bloch, Ernst 37, 82 Blom, Onno 107 Blum, Klaus 70, 71

242 Bock, Ivo 214 Bodenhöfer, Andreas 28 Boehmer, Konrad 28, 31, 32, 36, 47, 111 Böhm, Karl 73, 86 Bohner, Gerhard 199 Bojé, Harald 60 Bondy, Egon 220 Bose, Hans-Jürgen von 50 Boulez, Pierre 32, 36, 45, 49, 50, 55, 73, 83, 105, 231 Bourdieu, Pierre 12, 93, 101 Bovenschen, Silvia 144 Bowie, David 222 Braungart, Wolfgang 189 Brecht, Bertolt 29, 79, 81, 144 Breh, Karl 72 Brennecke, Wilfried 40, 52–54 Brenner, Hildegard 28 Breuker, Willem 106 Briegleb, Klaus 197, 202 Brinkmann, Reinhold 46 Bródy, János 222 Bronfen, Elisabeth 144 Brötzmann, Peter 163 Brown, Timothy 15, 19 Bruckner, Anton 76 Brünzels, Sonja 189 Buckinx, Boudewijn 55, 57 Bunke, Tanja 142–144, 148 Burgelin, Olivier 100 Burroughs, William S. 161 Busch, Ernst 29 Bussmann, Hadumod 144 Buzelin, Françoise 106 Buzelin, Jean 106 Cadenbach, Rainer 76 Cage, John 30, ���������������� 56, 127, 130 Cailloux, Bernd 169 Calvert, Bob 161 Can 163 Cardew, Cornelius 36 Caskel, Christoph 42, 43, 56, 59 Cassirer, Ernst 149 Chadima, Mikoláš 220

Register

Chiellino, Carmine 146, 147 Chopin, Frédéric 72 Cini, Marcello 152 Claus, Hugo 109 Cocker, Joe 29 Cohn-Bendit, Daniel 198 Cole, Paula 162 Collani, Eva 204 Comet, The 176 Comolli, Jean-Louis 99 Conradi, Elisabeth 149 Conradt, Gerd 165 Conze, Werner 149 Cope, Julian 167 Copernicus, Mikołaj 232 Cormick, Glenn 39 Cott, Jonathan 111 Country Joe and the Fish 183, 185 Crosby, David 29 Dadelsen, Hans-Christian von 50, 54 Dahlhaus, Carl 5, 6, 11, 14, 46, 73, 151 Dandrel, Louis 99 Dannenberg, Peter 84 Dannenberg, Sophie 6 Darmstadt, Hans 48 Davenport-Hines, Richard 118 Deathridge, John 57 Debord, Guy-Ernest 192 Degenhardt, Martin 167 Dejmek, Kazimierz 225 Dekker, Dirk 111 Denecke, Charles 155 Denselow, Robin 211 Denson, Ed 185 Déry, Tibor 222 Dibelius, Ulrich 29–32, 69 Dohnanyi, Christoph von 117 Dollase, Rainer 5 Donizetti, Gaetano 70, 71 Donner, Hein 105 Doors, The 15, 160 Douglas, Mary 189 Drew, David 34 Driscoll, Julie 163

Register

Droba, Krysztof 212 Drott, Eric 12 Dubek, Aleksander 209, 218, 219 Dutschke 194, 196 Dutschke, Rudi 55, 114, 124, 164, 165, 166, 194, 195, 196 Duyn, Roel van 104, 105 Dylan, Bob 29, 183, 211 Echols, Alice 146 Eckardt-Jaffe, Marianne von 124 Eco, Umberto 191 Eisler, Hanns 14, 29, 34, 114 Eisler, Jerzy 209 Elsendoorn, Jo 113 Elste, Martin 10, 11, 71, 89, Engels, Friedrich 141, 192 Enke, Heinz 48 Enzensberger, Hans Magnus 28, 83, 84, 85, 77, 83, 116, 166 Enzensberger, Ulrich 165 Eötvös, Peter 60 Erds, Péter 222 Euripides 116, 118, 119, 124 Evans, Judith 146 Eyber, Hannes 173 Eyerman, Ron 6, 8 Fahlenbrach, Kathrin 9, 166, 196 Fanon, Franz 164 Farrell, James J. 211 Faulstich, Werner 177 Feldhoff, Silke 84 Ferneyhough, Brian 10, 57 Ferrari, Luc 3, 12, 91–102 Fichter, Tilman 171 Fink, Carole 209 Fischer, Walter 39 Fischer-Lichte, Erika 188, 194 Floh de Cologne, The 168, 170, 171 Forbes, Jill 99 Franklin, Aretha 164 Freedman, Ralph 156 Freud, Sigmund 124 Fried, Erich 77 Friedrich, Götz 87 Frisius, Rudolf 42, 45–48, 56

243

Fritsch, Ronald 166 Fugs, The 163, 168, 170 Fuller, John 118 Furtwängler, Wilhelm 88 Galenza, Ronald 218 Gandhi, Mahatma 179 Garcia, Jerry 182 Gates, Bill 37 Gaudibert, Pierre 93 Gaulle, Charles de 108 Gaus, Günter 195 Gehl, Imke 204 Gehlhaar, Rolf 47, 62 Geitel, Klaus 204 Gerős, Ernö 221 Geuen, Heinz 6 Gilcher-Holtey, Ingrid 6, 16, 19, 209, 211 Gillmann, Sabine 8 Gingeleit, Frank 168, 169 Giulini, Carlo Maria 70 Glandien, Kersten 211 Gläser, Peter 216, 217 Globokar, Vinko 57 Glunz, Claudia 166 Goerges, Horst 119 Goethe, Johann Wolfgang von 150, 155 Goeyvaerts, Karel 55 Gönnenwein, Wolfgang 70 Górecki, Henryk Mikoaj 20, 231, 232 Gorki, Maxim 142 Goscha, Christopher 109 Gottwald, Clytus 8, 9, 73 Gould, Arthur 155 Grand Funk Railroad 172 Grass, Günter 116 Grateful Dead, The 175, 181, 182 Graves, Barry 176, 177, 182 Gridley, Mark C. 211 Grisey, Gérard 10, 57 Grootveld, Robert Jasper 104 Groys, Boris 199 Grünhof, Natalie von 143

244

Register

Guevara, Ernesto Che 88, 106, 109, 142, 159, 191, 217, 218 Gumbrecht, Hans Ulrich 189 Guthrie, Woody 183 Haines, Fred 153, 160 Haley, Bill 176, 211 Hamel, Peter Michael 42, 46, 49, 50, 56, 162 Hamm, Peter 71 Hamm, Wolfgang 173 Hampel, Gunter 163 Hänseroth, Albin 66 Hänsgen, Sabine 214 Harden, Ingo 70 Harpprecht, Klaus 159 Harst, Jan van der 108 Harth, Dietrich 188 Hartmann, Rudolf 75 Hartwich, Wolf-Daniel 115 Harvey, Sylvia 98 Haug, Wolfgang Fritz 68 Hausen, Karin 149 Hausmann, Friederike von 152 Havemeister, Heinz 218 Hawkwind 161 Heilgendorff, Simone 13 Heinrich, Rudolf 86 Helms, Dietrich 185 Helms, Hans G 32, 42, 71, 72, 73 Hendrix, Jimi 29, 163, 172, 181, 182, 211, 218 Henius, Carla 135, 138 Hentschel, Frank 3, 10, 20, 51, 53, 236 Henze, Hans Werner 10, 12, 13, 17, 22, 32, 37, 115–119, 123–126, 152 Herder, Johann Gottfried 149 Hesse, Hermann 3, 15, 153–162 Het Leven 112 Hickethier, Knut 177, 184 Hilmes, Carola 144 Hirsch, Paul 182, 184 Hitler, Adolf 168 Hochhuth, Rolf 116 Ho Chi Minh 107

Hof, Renate 144 Hoffmann, Ingfried 39 Hoffmann, Reinhild 199 Hofmann, Albert 178, 179, 180 Holl, Kurt 166 Hollies, The 214 Holmig, Alexander 164 Hommel, Friedrich 45–47, 57 Hopfgartner, Herbert 182 Horkheimer, Max 34 Hörnigk, Therese 217 Horres, Kurt 82, 83 Huber, Nicolaus A. 8, 9, 36, 42, 53, 56 Hübner, Kurt 86 Humphrey, Hubert H. 168, 193 Husslein, Uwe 166, 167, 169 Hutka, Jaroslav 213 Hütlin, Thomas 165 Iddon, Martin 10, 20, 55–57 Innes, Christopher 118 Iron Butterfly 182 Ives, Charles 106 Jacobshagen, Arnold 23 Jagger, Mick 211 Jamison, Andrew 6, 8 Jansen, Christian 8 Jefferson Airplane 177, 182 Jesus Christus 88, 179 Jethro Tull 39 Johler, Jens 173 Jones, Brian 164 Jong, Piet de 108 Joplin, Janis 29, 177 Jouffa, François 178, 179 Jungheinrich, Hans-Klaus 47, 60, 124 Kaczmarski, Jacek 213 Kádár, János 221 Kagel, Mauricio 46, 47, 50, 55 Kaiser, Rolf Ulrich 166, 167, 172 Kallman, Chester 13, 115–119 Karajan, Herbert von 11, 66, 67, 70, 73 Karthago 39, 40 Kaufmann, Harald 32 Kay, John 161

Register

Keim, Jean 101 Keller, Max E. 42, 45, 56 Kennedy, James 103, 104, 112 Kerouac, Jack 161 Kier, Herfrid 72 Kilar, Wojciech 20, 231 Kisielewski, Stefan 227–230 Klaus Renft Combo 216, 217 Kleist, Heinrich von 115 Klemperer, Otto 73 Klimke, Martin 7, 193 Klinger, Cornelia 144 Klompé, Marga 106 Kneif, Tibor 177, 178, 181 Knott, Rüdiger 170, 171 Koch, Gerhard R. 79, 89 Koch, Thilo 170, 171 Kochan, Thomas 216 Koenen, Gerd 165 Koester, Rudolf 155, 156, 158, 159 Kohout, Pavel 218 Kolesch, Doris 188 Konrád, Ondej 218, 219, 220 Kontarsky, Aloys 48, 50, 61, 62 Koopmans, Rudy 113 Kornhauser, Julian 226 Kostelanetz, Richard 201 Kraftwerk 39, 40 Kraushaar, Wolfgang 7, 195 Krebber, Jürgen 41, 59 Kresnik, Hans 4, 18, 197, 199, 200, 203–205 Krist, Joachim 62 Kroes, Rob 109 Krüger, Antje 165 Kryl, Karel 219 Krynicki, Ryszard 226 Kubelik, Rafael 228 Kubišová, Marta 219 Kühn, Dieter 10 Kundera, Milan 37 Kunert, Christian 217, 218 Kupfer, Harry 88 Kurtz, Michael 60 Kutschke, Beate 3, 6, 8, 14, 21, 237

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Lachenmann, Helmut 10, 50, 57, 68 Langer, Susanne 12 Langhans, Rainer 165, 193 Laotse 179 Laube, Horst 82 Leary, Timothy 158, 159, 179–181 Leeuw, Reinbert de 105 Leeuw, Ton de 111 Lefèvre, Wolfgang 194 Lehnhoff, Nikolaus 83–85 Leniger, Markus 23 Lemery, Denys 100 Leniger, Markus 8 Lenin, Wladimir Iljitsch 107, 192 Lennon, John 181 Leonhardt, Rudolf Walter 156 Ligeti, György 46, 50, 55, 61 Lindaur, Vojtch 218–220 Lindenberg, Udo 162 Linke, Susanne 199 Lityski, Jan 214 Lönnendonker, Siegward 171 Lorenzer, Alfred 13, 127, 128, 131, 132 Lösche, Jürgen 10, 56–59 Lukács, Georg 124 Lück, Hartmut 185 Luckmann, Thomas 187 Lüdtke, W. Martin 116 Luns, Joseph 108, 109 Lutos������������������������������ ł����������������������������� awski, Witold 213, 227–229, 232 Maar, Rimko van der 109 Machart, Renaud 91 Machaut, Guillaume de 107 Mâche, François-Bernard 92 McLuhan, Marshall 201 Maderna, Bruno 48, 49, 55, 105 Mahler, Gustav 117 Maitre, Hans Joachim 159 Malawski, Artur 230 Malcolm X 164 Malle, Louis 164 Mamadouh, Virginie 105, 111 Mandela, Nelson 88, 89

246

Register

Mann, Thomas 33, 155 Mao Tse-Tung 28, 106, 183, 187, 203 Marat, Jean-Paul 116 Marcuse, Herbert 106, 124–126, 197, 199 Marissing, Lidy van 106 Marx, Karl 107, 124, 141, 192 Masson, Diego 107 Massow, Albrecht von 117 Masur, Kurt 217 Matuška, Waldemar 219 Mayer-Vogt, Claudia 41 MC-5 172 McCartney, Paul 181 McCleary, John Bassett 175, 182 McDonald, Joe 183, 184 McKenzie, Scott 184 McLuhan, Marshall 167 Melchinger, Ulrich 76, 78 Melucci, Alberto 7 Mengelberg, Misha 105, 106, 107 Mersch, Dieter 197 Metzger, Heinz-Klaus 21, 30, 33, 173 Meyer, Krzysztof 228, 232 Michael, Hermann 83 Michael Vester 194 Michel, Louise 141, 142, 144, 145, 149 Michels, Volker 153, 156, 157, 160 Michnik, Adam 214 Mickiewicz, Adam 214, 225 Mika, Bogumila 19, 20, 51 Miklódy, Éva 223 Miller, Henry 155 Mineur, Jacqueline 110, 113 Misch, Imke 57, 59, 61, 62 Morrison, Jim 160 Mosse, Kate 25 Mossmann, Walter 22 Mothers of Invention, The 163, 168, 169, 201, 202 Mozart, Wolfgang Amadeus 65, 70, 160, 162 Muggler, Fritz 47 Mulisch, Harry 105–109, 111

Müller-Siemens, Detlev 50, 54 Mungen, Anno 6 Musica Elettronica Viva (MEV) 21 Mussorgsky, Modest 148 Mycielski, Zygmunt 227 Nagl-Docekal, Herta 144 Nakken, Marco 106 Narzissmus und Extravaganz 222 Nauck, Gisela 138, 139 Neitzert, Lutz 158, 160, 161 New York Philharmonic 67 Niehaus, Manfred 41, 53 Niemen, Czesaw 215 Nieradka, Magali Laure 15, 161, 162, 237 Nieswandt, Wilhelm 170 Nixon, Richard 159 Nono, Luigi 3, 14, 22, 36, 37, 55, 116, 138, 141������������� –������������ 145, 148���� –��� 152 No To Co 215 Novotný, Antonín 218 Nyffeler, Max 10, 46��� –�� 50 Obermaier, Uschi 165 Ochs, Phil 183 Oehlschlägel, Reinhard 21, 42, 43, 45� – 50, 56, 59 Ohrt, Roberto 192 Oistrach, David 67 Okudžava, Bulat 213 Oliveros, Pauline 43 Olympic 219 Orkest de Volharding 112���� –��� 114 Ormandy, Eugene 73 Orten, Jiri 78, 79 Osten, Manfred 76 Ostendorf, Jens-Peter 55 Oudart, Jean-Pierre 99 Pabst, Florentine 160 Palach, Jan 219 Parker, Graham 161, 162 Partch, Harry 43 Pas, Niek 104 Passport 39, 40 Pauer, Jan 221 Pauli, Hansjörg 30, 91, 93���������� –��������� 95, 97��� –�� 99

Register

Pavese, Cesare 143 Pease, Donald 153 Penderecki, Krzysztof 20, 213, 231 Pestalozza, Luigi 141 Peters, Peter 103, 113 Petersen, Peter 115 Pfeifer, Martin 155, 156 Pfeiffer, K. Ludwig 189 Pink Floyd 163 Pinthus, Kurt 154 Pinzauti, Leonardo 148 Piskaln, Robert 182, 184 Plastic People of the Universe 220 Plenzdorf, Ulrich 217 Poll, K.L. 106 Pollini, Mauricio 36 Polony, Leszek 212 Popol Vuh 173 Pöppmann, Dirk 8 Potter, Keith 58 Pousseur, Henri 55 Primitives, The 218, 219 Puhdys 217 Putten, Bas van 114 Raaijmakers, Dick 112 Rabehl, Bernd 194 Rákosi, Mátyás 221 Ramet, Sabrina P. 209 Raphael-Hernandez, Heike 223 Rappaport, Roy A. 194 Rauhut, Michael 215, 216, 218 Regtien, Ton 111 Reinders, Ralf 166 Reininghaus, Frieder 3, 8, 9, 33, 35, 36, 67, 68, 238 Reiser, Rio 173 Rembrandt von Rijn 103 Rennert, Günther 86, 88 Rexroth, Dieter 115 Richter, Svatoslav 67 Richter-Forgách, Thomas 76, 78 Riehm, Rolf 47 Rigby, Brian 93 Righart, Hans 103���� –��� 105 Rihm, Wolfgang 10, 37, 50, 57

247

Riley, Terry 43 Ritter, Rüdiger 18, 19 Ritzel, Fred 55 Robbins, Jerome 203 Robinson, John P. �������� 182, 184 Roder, Horst 84 Rodowicz, Maryla 215 Roegholt, Richter 103 Rogowiecki, Roman 212 Rolling Stones, The 29, 118, 164, 176, 197, 211, 214, 216 Rooduijn, Tom 106 Rosenberg, Wolf 69, 72 Ross, Kristin 95 Rossanda, Rosana 146, 147, 152 Rossem, Maarten van 109 Rostropovich, Mstislav 67, 229 Rousseau, Jean-Jacques 153 Ruchniewicz, Krzysztof 215 Ruetz, Michael 191 Rummenhöller, Peter 8, 33, 68 Ruthenfranz, Robert 53 Ryback, Timothy 209, 214��������� –�������� 216, 219 Rzewski, Frederic 36, 50 Sabais, Heinz Winfried 45, 56 Sablowski, Thomas 146 Sachs, Nelly 79 Sack, Manfred 171 Sandner, Wolfgang 177 Santana, Carlos 15, 160 Sartre, Jean-Paul 79, 107, 198 Sassoon, Donald 147, 148 Schaefer, Solf 59 Schaeffer, Pierre 92, 96 Scharloth, Joachim 7, 17, 18, 162, 193 Schat, Peter 12, 105–107, 109–111, 113 Schenk, Gerrit Jasper 188 Scheuch, Fritz 167 Schikaneder, Emanuel 70 Schiller, Friedrich von 125, 161 Schlicher, Susanne 199, 200 Schlott, Wolfgang 214 Schlüter, Wilhelm 59–62 Schmidt, Jochen 203

248

Register

Schmidt, Josef 199 Schmidt, Steffen A. 18 Schmidt-Faber, Werner 71 Schmidt-Joos, Siegfried 176, 177, 182 Schmidtke, Michael 116, 208 Schnebel, Dieter 3, 13, 14, 22, 30, 36, 127, 128, 130, 131–133, 135, 138–140, 236 Schneider, Peter 128, 129, 139 Schnell, Ralf 116 Schönberg, Arnold 34, 138, 148 Schönberger, Elmer 113, 114 Schortemeier, Dirk 39, 40 Schottler, Wolfram 115, 117–119, 123, 124 Schouten, Martin 112, 114 Schreiber, Ulrich 69, 70 Schreiner, Claus 39 Schröder, Peter W. 170 Schröder, Thomas 167 Schroeder, Thomas 169 Schulz, Jörg 216 Schulz, Kristina 146 Schumann, Jochen 171 Schütz, Klaus 168 Schwarz, Egon 153, 155, 157 Schweinitz, Wolfgang von 50 Sculatti, Gene 176, 177, 183, 185 Seaver, Edwin 155 Seay, Davin 176, 177, 183, 185 Seeger, Pete 29, 166, 211, 216 Seidel, Wolfgang 164, 165 Sellner, Gustav Rudolf 118 Selvin, Joel 184 Senghaas, Dieter 185 Seybold, Eberhard 156 Shapiro, Harry 179, 181 Sichtermann, Kai 173 Siegele, Ulrich 47 Siegfried, Detlef 164, 169, 170, 172 Sierpiski, Zdzisaw 230 Sievery, Rudolf 211 Sigg, Bernie 176 Silbermann, Alphons 66 Ska����������� ł���������� dowie 215

Smith, Bernard 154 Soeffner, Hans-Georg 189 Sokrates 88, 179 Solženicyns, Aleksander 218 Sontag, Susan 96 Souster, Tim 42, 56 Sparrows, The 161 Spisak, Micha 230 Srp, Karel 221 Stäbler, Gerhard 10, 56–59 Stalin, Josef 124, 183, 228 Stanley, Glenn 11 Steel Organ 39, 40 Stein, Peter 86 Steinberg, William 73 Steinecke, Wolfgang 63 Steiner, George 157 Stenzl, Jürg 148 Stephan, Inge 144 Stephen Heath 101 Steppenwolf 15, 161 Stern, Isaak 73 Stiebler, Ernstalbrecht 42, 45, 56 Stockhausen, Karlheinz 3, 10, 31, 46, 47, 49, 50, 55–63, 111, 112 Stockhausen, Markus 63 Stoïanova, Ivanka 131 Stoltzenberger, Peter 83 Stravinsky, Igor 201, 228, 231 Süverkrüp, Dieter 163 Szabelski, Bolesaw 230 Szemere, Anna 222, 223 Sznyei, Tamás 221 Szörényi, Levente 222 Tangerine Dream 163 Tešák, Vlastimil 213 Teufel, Fritz 165, 192, 193 Thomas, Ernst 41–50, 56, 57, 59, 61– 63 Thomas, Nick 165 Thurman, Strom 195 Timmermann, Klaus 25 Timpe, Eugene F. 153 Tischler, János 207 Tkés, Rudolf L. 221

Register

Tma, Oldich 210, 220 Tolkien, J.R.R. 159, 161 Tomaszewski, Mieczysaw 228 Tomek, Otto 48, 53 Tompkins, David 215 Ton Steine Scherben 29, 173 Toscanini, Arturo 72 Traber, Habakuk 8, 33, 35, 36, 67, 68 Trachtenberg, Alan 99 Trampert, Lothar 181 Trapp, Klaus 41, 42, 49, 50 Trojahn, Manfred 50 Trubadurzy 215 Trumpff, Gustav Adolf 60 Tumat, Antje 13, 116, 125 Tuwim, Julian 232 Uecker, Günther 84 Umherschweifenden Haschrebellen, Die 173 Unold, Kurt 171 Unseld, Siegfried 153–155, 157, 159 Vaisse, Maurice 109 Valkenburg, Jochem 103 Vaneigem, Raoul 197–199 Varèse, Edgard 201 Verdi, Giuseppe 143, 148 Vester, Michael 194 Vetter, Johannes 10, 56��� –�� 59 Vincent, Paul 108 Vishnevskaya, Galina 229 Vlijmen, Jan van 105, 110 Vongerichten, Hans 171 Vysockij, Vladimir 213 Wadleigh, Michael 185 Wagner, Guy 148 Wagner, Richard 34 Wagner, Wieland 82 Warhol, Andy 80, 159 Wasel, Ulrike 25 Watson, Ben 201, 202 Watts, Michael 114 Webern, Anton von 231 Wecker, Konstantin 26 Wedekind, Frank 29 Weigel, Sigrid 144

249

Weill, Kurt 34 Weinbauer, Klaus 165, 166 Weinert, Erich 29 Weinhauer, Klaus 172, 173 Weiss, Peter 116 Weit, Conny 173 Wells, Thomas 55 Wenger, Ruth 153 Wennink, Victor 112 Werr, Sebastian 16 Wertow, Dziga 192 Whiteside, Shaun 93 Who, The 29 Wicke, Peter 180–182 Wilder, Thornton 155 Willener, Alfred 93 Wilson, Colin 156 Wirth, Uwe 188 Witzler, Anja von 200 Wolff, Christian 46, 50 Wolff, Jochen 82, 83 Wolff, Karl Dietrich 195 Wolman, Gil J. 192 ��� Wulf, Christoph 190 Xenakis, Iannis 36, 46, 50 Yates, Clare 112 Yes 160 Young, La Monte 43 Zadek, Peter 86 Zagajewski, Adam 226 Zappa, Frank 18, 21, 29, 169, 200– 205, 218 Zegers, Mirjam 112 Zeller, Hans Rudolf 127 Ziegenrücker, Kai-Erik 181 Ziegenrücker, Wieland 181 Ziolkowski, Theodore 153, 154, 156, 157, 159 Zivier, Georg 203 Zukerman, Pinchas 73 Zunou Keisatsu 162

Frank Hentschel

Die „Wittener Tage für neue Kammermusik“ Über Geschichte und Historiografie aktueller Musik Unter Mitarbeit von Andreas Domann und Almut Ochsmann

Archiv für Musikwissenschaft – Beiheft 62 2007. 277 Seiten mit 4 Abbildungen und 7 Notenbeispielen. Geb. ¤ 52,– ISBN 978-3-515-09109-1

Wie selbstverständlich wurde die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts von der Musikwissenschaft auf die so genannte neue Musik, also auf einen winzigen Ausschnitt der historischen Realität, reduziert. Am Beispiel der Wit­ tener Tage für neue Kammermusik, eines der herausra­ genden Festivals dieser Szene, analysiert der Autor die Ideologien und sozialen Mechanismen, die diese – auch im Verhältnis zur „populären Musik“ – konstituieren. Der Schwerpunkt liegt auf dem Zeitraum zwischen 1970 und 2000. Dabei verknüpft die Arbeit die Geschichte des Festivals mit der Problematisierung historiografischer Me­ thoden. Ästhetische, soziale, biografische und kompositori­ sche Elemente werden herausgearbeitet, die die „neue Musik“ nicht so sehr als Resultat musikgeschichtlicher Entwicklungen, sondern als soziales und kulturpraktisches Konstrukt erscheinen lassen. aus dem inhalt

Vom Nationalsozialismus zur Postmoderne p Der Begriff Kammermusik und das historiografische Objekt p Tabu­ brüche p Das Image der Komponisten p „Ernste“ Musik p Neue Musik als Ideologie und Szene p Geräusch

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