Vjera Biller und das Kindliche: Primitivistische Entwürfe von Künstlerinnenschaft in der Avantgarde der 1920er Jahre 9783839460337

Vjera Biller gehört zu einer ganzen Generation heute unbekannter Künstlerinnen der Avantgarde, die im Berlin, Belgrad un

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Vjera Biller und das Kindliche: Primitivistische Entwürfe von Künstlerinnenschaft in der Avantgarde der 1920er Jahre
 9783839460337

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Mirjam E. Wilhelm Vjera Biller und das Kindliche

Studien zur visuellen Kultur  | Band 28

Editorial Orte und Weisen des Zu-Sehen-Gebens, Inszenierungen von (Un-)Sichtbarem und die Machteffekte sowohl bewusster wie unbewusster visueller Strukturen – auch im historischen Kontext – bilden das Forschungsfeld der »visuellen Kultur«. Es geht damit auch um die Erzeugung, Re- und Umformulierung von Bedeutungen in den Repräsentationen von Geschlecht, von sozialen und ethnischen Differenzen. Studien zu visuellen Kulturen nehmen Fragestellungen von Cultural, Gender, Queer und Postcolonial Studies auf, und sie führen Diskurse fort, die etwa von avancierten theoretischen Positionen der (feministischen) Kunstwissenschaft, der Wahrnehmungs- und Medientheorie angeregt wurden. Aus deren Perspektive ist »das Bild« nur ein Element im Gefüge visueller Kulturen, das sich über Verhältnisse räumlicher und visueller Ordnungen, in den besonderen Verknüpfungen von Wort und Bild und in den je spezifischen ästhetischen und materialen Eigenschaften ihrer Medien herstellt. Dieses Gefüge wird als ein Feld gesehen, in das Ordnungen von Gemeinschaften mit ihren jeweiligen Ein- und Ausschlüssen eingeschrieben sind, und innerhalb dessen sich kulturelle Deutungsmacht als Ausdifferenzierung zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Globalisierung, Nationalisierung und Regionalisierung bestimmen lässt. Die Reihe Studien zur visuellen Kultur bietet wissenschaftlichen Untersuchungen Raum, die sich kritisch und transdisziplinär mit historischen und aktuellen Phänomenen visueller Kulturen auseinandersetzen. Gegenstandsfelder sind High und Low, die Künste und die Populärkultur, traditionelle und neue Medien in ihren Wechselwirkungen – ebenso wie Analysen von Strategien der Sichtbarmachung und Studien zur Visualität. Publiziert werden herausragende wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten, Monografien und auch Sammelbände. Die Reihe richtet sich an Kunst-, Medien-, Kulturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen sowie an Interessierte in angrenzenden Wissenschaftsdizplinen und Institutionen der Kunst- und Kulturvermittlung. Die Reihe wird herausgegeben von Sigrid Schade und Silke Wenk.

Mirjam E. Wilhelm, geb. 1990, ist Kunsthistorikerin und ist seit 2021 Forschungsmitarbeiterin am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI). Sie ist ehemalige Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes und Alumna der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, an der sie ihre Promotion abgeschlossen hat. 2018 war sie Visiting Assistant in Research an der Yale University, New Haven.

Mirjam E. Wilhelm

Vjera Biller und das Kindliche Primitivistische Entwürfe von Künstlerinnenschaft in der Avantgarde der 1920er Jahre

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Zeitlehren. Die vorliegende Publikation ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation »Vjera Biller (1903-1940) und das Kindliche – Entwürfe von Künstler*innenschaft in den Avantgarden der 1920er Jahre zwischen Balkanisierung und Barbarisierung« (Erstreferentin: Prof. Dr. Silke Wenk / Zweitreferentin: Prof. Dr. Renate Hansen-Kokoruš), die vom Promotionsausschuss der kulturwissenschaftlichen Fächer der Fakultät III der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg zur Erlangung des Grades Dr. phil angenommen und am 22.02.2021 verteidigt wurde.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6033-3 PDF-ISBN 978-3-8394-6033-7 https://doi.org/10.14361/9783839460337 Buchreihen-ISSN: 2747-3082 Buchreihen-eISSN: 2747-3090 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Danksagungen ........................................................................... 7 Allgemeine Hinweise ..................................................................... 9 1. 1.1 1.2 1.3 1.4

Einleitendes ........................................................................ 11 Vjera Biller. Ein biografischer Aufriss................................................. 16 Fragestellungen und Ziele........................................................... 25 Material und Materialauswahl ....................................................... 27 Forschungsstand ................................................................... 29 1.4.1 Vjera Biller und die Avantgarden der 1920er Jahre ............................ 29 1.4.2 Künstlerische Archaismen ................................................... 37

Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen .......................................... 51 Methodenskizze ..................................................................... 51 2.1.1 Impulse von Panofsky und Bourdieu. Zwischen kritischer Ikonologie und Feldbegriff .............................................................. 57 2.1.2 Zu den Schlüsselbegriffen: Balkan und Barbarisches.......................... 66 2.1.3 Kanonisierungsfragen ....................................................... 72 2.1.4 Resümee der Methodenskizze ................................................ 75 2.2 Schlüsselbegriffe: Balkan und Barbarisches ......................................... 77 2.2.1 Den Balkan gibt es nicht. Oder doch? Zur Persistenz ethnifizierender Zuschreibungen ............................................. 77 2.2.2 »Wir, die Barbaren.« Die Genese des Barbarischen im Zenitismus ............. 94

2. 2.1

3. 3.1

Biller als Künstlerin in der Avantgarde ............................................. 113 Die Barbarisierung des Kindlichen.................................................. 128 3.1.1 Biller als »barbarisches Genie«. Identifikations- und Legitimationsstrategien von Künstlerinnenschaft ............................ 136 3.1.2 ›Markt‹: Die Trauben des Zeuxis in Frauenhand .............................. 139 3.1.3 Das Kinderspiel. »Barbarische« Kreativität zwischen Mimesis und Destruktion ............................................................ 148

3.2 Zivilisationskritik. Eine Konstante Biller’schen Bilderzählens ..................... 157 3.2.1 Spielarten der Zivilisationskritik im Berliner Sturm-Expressionismus ................................................... 158 3.2.2 Spielarten der Zivilisationskritik im Belgrader Zenitismus .................... 164 4.

Biller als Jugoslawin, Biller als jüdische Künstlerin Selbst- und Fremdzuschreibungen zwischen Balkan und Byzanz ..................... 171 4.1 ›Piazza San Marco‹, Neo-Byzantinismus und Billers zeitgenössische Rezeption als serbische Zenitistin.................................................. 173 4.1.1 Byzanz als Vehikel »serbischer Nationalkultur« in den 1920er Jahren .........174 4.1.2 Modernistisch-avantgardistische Byzanz-Rezeption im Zenitismus ............ 177 4.1.3 ›Piazza San Marco‹ und das Mosaikprogramm des Markusdoms .............. 185 4.2 ›Osteria‹ und ›Spaziergang durch Venedig‹. Jüdisches Selbstverständnis im Kontext der Berliner Sturm-Avantgarde ......................................... 196 4.2.1 Biller und Chagall. Ein Vergleich ............................................. 198 4.2.2 Exkurs: »Jüdische Kunst«. Zur Problematisierung eines streitbaren Terminus ..................................................215 5.

Abschluss und Ausblick............................................................219

Abbildungsteil .......................................................................... 227 Quellenteil.............................................................................. 257 I. Transkription der Briefkorrespondenz Vjera Biller – Ljubomir Micić (1923-1928) ...... 257 II. Biografische Karte: Vjera Biller (1903-1940) ......................................... 260 Bibliografie............................................................................. 261 I. Primär- und Sekundärliteratur ..................................................... 261 II. Archivquellen ...................................................................... 289 III. Internetquellen und Datenbanken .................................................. 289 Abbildungsnachweise ...................................................................291

Danksagungen

Ganz unterschiedliche Personen und Institutionen haben den Prozess meiner Forschungen über mehrere Jahre hinweg begleitet. Mein Dank gilt der Studienstiftung des Deutschen Volkes, deren Promotionsstipendium mir die Arbeit an diesem Projekt, insbesondere aber mehrere Archiv- und Recherchereisen u.a. in die USA, ermöglicht hat. Ebenso gilt mein Dank der Stiftung Zeitlehren, deren Druckkostenzuschuss einen substantiellen Beitrag zur Veröffentlichung dieses Projekts in Buchform beigetragen hat. Prof. Dr. Silke Wenk hat mich als Doktormutter von Anfang an begleitet und mich mit wertvollen Ratschlägen, eingehender Lektüre und kritischen Einwürfen zum Weiterdenken und Vorankommen gebracht. Als Zweitbetreuerin hat Prof. Dr. Renate Hansen-Kokoruš den Fortschritt des Projekts umfassend unterstützt. Ihnen beiden gilt mein herzlicher Dank. Den Mitkollegiat:innen und Wegbegleiter:innen aus dem DFG-Graduiertenkolleg Selbst-Bildungen sowie aus dem von Prof. Dr. Silke Wenk und Prof. Dr. Barbara Paul geleiteten Promotionskolleg Kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien an der Universität Oldenburg danke ich für die spannenden und einsichtsreichen Diskussionen. Für inspirierenden interdisziplinären Austausch danke ich überdies den Teilnehmenden des Doktorand:innen-Workshops von Prof. Renate Hansen-Kokoruš an der KarlFranzens-Universität Graz. Prof. Dr. Marijeta Božović, die mich während meiner Zeit an der Yale University tatkräftig unterstützt hat, danke ich ebenfalls. Für eine kompetente und unkomplizierte Zusammenarbeit geht mein Dank an dieser Stelle auch an meine Projektbetreuerin Katharina Wierichs beim transcript Verlag sowie an meine Lektorin Ulrike Schuff. Ein besonderer Dank gebührt meiner Frau, Familie und dem Freund:innenkreis in Deutschland, Kroatien, Österreich und Ungarn.

Allgemeine Hinweise

I. Hinweise zu Sprach- und Schriftverwendung, Übersetzungen und Transliterationen Die Bearbeitung eines von radikaler Mehrsprachigkeit (u.a. Deutsch, Ungarisch, Bosnisch-Kroatisch-Serbisch, Italienisch, Hebräisch) und unterschiedlichen Alphabeten geprägten Quellenmaterials ist stets eine Herausforderung und verlangt nach Hinweisen zu Sprach- und Schriftverwendung, Übersetzungen und Transliterationen. Mit der Verwendung des Terminus »Bosnisch-Kroatisch-Serbisch« (kurz: »BKS«) habe ich mich für eine der Slawistik entlehnte Sprach(gruppen)bezeichnung entschieden, die auf die Multifokalität des Gegenstands abzielt und diesen nicht auf ein vermeintliches Serbo-Kroatisches und/oder Jugoslawisches engführt. In der Analyse der Textproduktion des Zenitismus auf BKS war es mir ein Anliegen das ursprüngliche Schriftbild des jeweiligen, im Zenit-Magazin abgedruckten Texts als Originalquelle deckungsgleich zu übernehmen und auch im originalen Schriftsystem wiederzugeben: In der meinerseits getroffenen Auswahl dominiert jenseits der grundsätzlichen Vielsprachigkeit der Zenit-Magazinbeiträge das kyrillische Alphabet. Umso mehr muss an dieser Stelle betont werden, dass das kyrillische und latinische Schriftsystem auf BKS grundsätzlich gleichwertig und austauschbar ist. Die erstmalige Nennung von Zenit-Primärquellen im Fließtext folgt deshalb diesem Schema: ›Titel kyrillisch/Titel latinisch‹ (»Übersetzung auf Deutsch«). Beispiel: Ljubomir Micić, ›Зенитософија/Zenitosofija‹ (»Zenitosofie«). Mittels der durch einen Schrägstrich organisierten Doppelnennung der Titel wird dabei nochmals in aller Deutlichkeit auf die Austauschbarkeit und Gleichwertigkeit beider Schriftsysteme aufmerksam gemacht. Bereits genannte Zenit-Texte kommen anschließend mit Blick auf einen dadurch vereinfachten Lesefluss im Deutschen mit einem Kurzzitat und latinischem Titel aus (Beispiel: Micić, ›Zenitosofija‹). Die 30 Buchstaben des kyrillischen Alphabets auf BKS werden dabei in der etablierten Schreibweise im Lateinischen mit entsprechenden Digraphen und diakritischer Zeichen in Groß- und Kleinschreibung transliteriert: Č/č für Ч/ч, Ć/ć für Ћ/ћ, Dž/dž für Џ/џ, Đ/đ für Ђ/ђ, Lj/lj für Љ/љ, Nj/nj für Њ/њ, Š/š für Ш/ш und

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Vjera Biller und das Kindliche

Ž/ž für Ж/ж. Eigennamen von Personen werden im Fließtext außerhalb von Originaltextpassagen und Zitaten ausschließlich im latinischen Alphabet geschrieben und nicht ins Deutsche transliteriert (Beispiel: Micić, statt Mitzitsch). Eigennamen von Orten werden ebenfalls in der lateinischen Schreibweise angegeben (Beispiel: Belgrad statt Beograd, Sofia statt Sofiya). Alle deutschen Übersetzungen stammen, sofern nicht anders angegeben, aus meiner eigenen Feder. II. Hinweise zu Abkürzungen sowie zur generellen Begriffs- und Zeichenverwendung Publikationsnamen und Titel werden im Fließtext mit einfachen Anführungszeichen (›‹) markiert, Zitate und erstmalige Begriffsnennungen sowie uneigentlich Gemeintes mit doppelten Anführungszeichen (»«). Kursive Hervorhebungen im Fließtext verweisen auf aus anderen Sprachen übernommene Begriffe oder Sprachformeln (et cetera, primus movens, nation building …) oder Betonungen. Die im Verlauf des Kapitels 4 gewählte und absichtlich »verfälschende« Schreibweise »G’tt« statt »Gott« dient indes einem Abgrenzungsmoment: Gemeint ist damit ein wissenschaftlich greifbares und historisierbares Konzept (»G’tt«), statt der glaubensbasierten Anwesenheit eines Dritten (»Gott«). Zur Benennung des dem sog. »Ersten Jugoslawien« vorausgehenden Staatengebildes zwischen 1918 und 1929 dient der Terminus Kraljevina Srba, Hrvata i Slovenaca (»Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen«) mit der entsprechenden Abkürzung »SHS«. Der Begriff Nezavisna Država Hrvatska (»Unabhängiger Staat Kroatien) und dessen Abkürzung »NDH« bezeichnet den von 1941 bis 1945 existierenden, faschistischen Satellitenstaat der Achsenmächte im heutigen Kroatien. Auf das sog. »Zweite Jugoslawien« (1945-1991/92) wird begrifflich ebenso verwiesen. Zur spezifischen Bezeichnung der Socijalistička Federativna Republika Jugoslavija (»Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien«) zwischen 1963-1991/92 wird indes die Abkürzung »SFRJ« benutzt. III. Hinweise zur Verwendung gendersensibler Schreibweisen Im Fließtext findet der sog. »Gender-Doppelpunkt« im Wortinneren als gendersensible Schreibweise durchgängig Verwendung. Er fungiert als Platzhalter, um in Personenbezeichnungen auch diversgeschlechtliche Dimensionen jenseits des Binären (männlich, weiblich) typografisch sichtbar zu machen (Beispiele: Avantgardist:innen, Künstler:innen, Zenitist:innen). Damit soll auf der Ebene des Sprachbilds insbesondere das generische Maskulinum (Beispiel: Künstler) konsequent vermieden werden. Dort, wo im Text dennoch ausschließlich von »männlich« und/oder »weiblich« die Rede ist, werden diese Begriffe als zeithistorisch spezifische geschlechterlogische Ideologeme verstanden und als solche zum Gegenstand der Analyse gemacht.

1. Einleitendes »Immer schon habe ich gemalt. Bereits als kleines Kind. Mit 14 Jahren schickte man mich auf die Malschule, […] aber ich blieb nur 14 Tage dort, weil ich verstanden habe, dass man Kunst nicht lernen kann. […] Ich liebe meine Bilder sehr und zögere sie überhaupt zu verkaufen, aber da ich gerne einmal alle Teile dieser Welt bereisen würde, versuche ich es nun.« (Vjera Biller an Ljubomir Micić, 8.12.1923)

Vjera Biller (1903-1940) gehört zu jenen »vergessenen« Künstlerinnen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, die in den Avantgarden der Zwischenkriegszeit große Erfolge feierten. Bereits mit 16 Jahren stellt Biller ihre Arbeiten im Kreis der ungarischen MA-Gruppe in Budapest aus, wo ihre Pastelle zu den gleichen – oder höheren – Preisen als die Arbeiten ihrer Künstlerkollegen, darunter Béla Uitz, János Máttis Teutsch und Sándor Bortnyik, verkauft wurden.1 Zwischen 1921-22 ist Vjera Biller eine der prominentesten Figuren in der Berliner Sturm-Galerie Herwarth Waldens, wo ihre Arbeiten an der Seite Alexander Archipenkos, Marc Chagalls, Robert Delaunays, Jacoba van Heemskercks, Paul Klees, Oskar Kokoschkas und Maria Uhdens gezeigt werden.2 Im Zeitraum von gerade einmal zwei Jahren nimmt sie an 12 Sturm-Ausstellungen teil. Während der 98. Sturm-Gesamtschau im Juni 1921 steht sie gemeinsam mit Rudolf Bauer im Mittelpunkt (Abb. 12). Ab 1924 ist sie eine der wenigen »Ausnahmekünstlerinnen«, die umfassende Sichtbarkeit im Kontext des Zenitismus – der um Ljubomir Micić in Belgrad organisierten jugoslawischen Avantgardebewegung – erlangt. Mit mehreren Arbeiten nimmt Biller an der ersten großangelegten Zenit-Ausstellung 1924 teil, ihre Kunstproduktion findet im Anschluss wiederholt Eingang ins Zenit-Magazin, das bis zum Jahr 1926

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Vgl. Lajos Kassák, Hg., »Katalogus. A Ma grafikai (VII.) kiállitásához«, MA, Nr. 1/IV (1919). o. S. [S. 1-2]. Vgl. Kapitel 3.2. und 4.2, sowie die biografische Karte im Quellenteil II.

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erscheint und als wichtigstes, mediales Sprachrohr der Zenitist:innen gilt.3 Vjera Biller taucht ab 1924 mehrmals an prominenter Stelle als Zenit-Künstlerin im Magazin auf und wird u.a. auf der Titelseite namentlich genannt.4 Ausstellungsteilnahmen Billers lassen sich Anfang der 1920er Jahre außerdem in der Casa d’arte Bragaglia in Rom und 1933 schließlich letztmals in der Galerie Bernheim Jeune in Paris nachweisen.5 Mit einer um das Leitmotiv des Kindlichen kreisenden Kunstpraxis etabliert sich Vjera Biller erfolgreich inmitten der internationalen Avantgarden der Zwischenkriegszeit und weist sich, wie die oben zitierte Briefkorrespondenz an Micić deutlich macht, in diesem Zuge die Position der anti-akademischen, und damit in Gänze avantgardistischen, Kunstschaffenden zu. An anderer Stelle taucht in einem Reisedokument die von Biller gewählte Berufsbezeichnung »pittore« (Malerin) auf, die ein entsprechendes Selbstverständnis und Bewusstsein abermals dokumentiert.6 Im Gegensatz zu den oben genannten Avantgardisten – seien es Archipenko, Chagall, Delaunay, Klee oder Kokoschka – ist Vjera Biller trotz aller Erfolge jedoch fast gänzlich in Vergessenheit geraten: die Diskrepanz zwischen diesem Moment des Vergessens und Billers Sichtbarkeit als Avantgarde-Künstlerin bis zum Jahr 1938 erscheint dabei besonders frappierend. Vor allem in der kunsthistorischen Historiografie der Moderne, in der Biller nur in den seltensten Fällen Erwähnung findet, tritt diese Diskrepanz offen zu tage. Julie Johnson hat in ›The Memory Factory‹ im Zusammenhang mit den »vergessenen« Künstlerinnen des Wiener Fin de Siècle auf eben diese Diskrepanz aufmerksam gemacht und dabei einige Gedanken formuliert, die es sich an dieser Stelle wiederzugeben lohnt: »Despite men-only policies in its main art institutions, [Vienna, Anm. MW] offered a myriad of unexpected ways for women artists to forge successful public careers. […] Because so many of the artists were Jewish women, a large portion of their records was actively silenced, beginning in the late 1930s. Many had to flee Austria, losing their studios and lifework in the process. […] Some were killed in concentration camps. […] The Memory Factory [Hervorhebungen im Original, Anm. MW] thus refers not only to the process of creating memory, but also to its erasure. Belated memory […] has much to do with the dearth of scholarship on these

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Vgl. Ljubomir Micić, ›Во Имја Зенитизма. Каталог Прве зенитове међународне изложбе у Београду 1924 г./Vo Imja Zenitizma. Katalog prve zenitove međunarodne izložbe u Beogradu 1924 g.‹ (»Im Namen des Zenitismus. Katalog der Ersten Internationalen Zenit-Ausstellung in Belgrad 1924«)«, Zenit, Nr. 25 (1924), o. S. [S. 3]. Vgl. Zenit, Nr. 38 (1926). o. S. [S. 1] sowie Zenit, Nr. 43 (1926), o. S. [S. 24]. Vgl. Biografische Karte im Quellenteil II. Vgl. Scheda individuale foglio familia no. 708/3315 (1931), Abbazia, Državni arhiv u Rijeci (Staatsarchiv Rijeka).

1. Einleitendes

women artists, as well as their exclusion – not from the historical world of finde-siècle Vienna, but from the secondary literature on it.«7 Ungeachtet der vielfältigen Exklusionsmechanismen, die die Teilhabe am männlich dominierten Feld der Künste um die Jahrhundertwende verkompliziert haben,8 und die im meinerseits betrachteten Zeitraum der Zwischenkriegszeit ihre Entsprechung in den um Genie- und Destruktionsmetaphern kreisenden maskulinistischen Programmen der Avantgarde finden,9 lassen sich eine Vielzahl an »unerwarteten« Erfolgsgeschichten von Künstler:innen nachzeichnen. Das Moment des Vergessens entfaltet seine Wirkmacht im Falle Vjera Billers – Avantgardekünstlerin, Jüdin und österreichische Staatsbürgerin – ebenfalls keineswegs durch eine marginalisierte Position im Kunstbetrieb der 1920er Jahre, sondern erst durch den eklatanten Mangel an kunsthistorischer Forschung und Sekundärliteratur zu ihrem Kunstschaffen und ihrer Person. Dieser wiederum steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der spärlichen Rezeption Billers in Kanonkontexten der sog. Klassischen Moderne und der Avantgarden der Zwischenkriegszeit.10 Mittels diskursanalytischer Zugänge, der institutional critique sowie geschlechterkritischer (Re-)Evaluierungen normativer Kanonisierungsprozesse haben Kunsthistoriker:innen dieses Phänomen in seinen Bedeutungsdimensionen umrissen, problematisiert und kritisiert.11 Dabei ist im Sinne eines Forschungsschwerpunkts zuweilen der von Griselda Pollock entwickelte Begriff der separate spheres für die Künstlerinnenforschung starkgemacht worden,12 den Pollock in ihrer Studie im Länderkontext Frankreichs für das 19. Jahrhundert entwickelt: Demnach seien der Erfolg und die Sichtbarkeit von Künstlerinnen dort vor allem an deren Milieuzugehörigkeit zur Bourgeoisie geknüpft gewesen, die wiederum im Sinne eines eigenen und vom allgemeinen Feld der Künste ausgeschlossenen Bereichs des Häuslichen und des Femininen zumindest gewisse Formen künstlerischer Betätigung ermöglicht hätte, deren Anerkennung als solche jedoch

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Julie Johnson, The Memory Factory. The Forgotten Women Artists of Vienna 1900 (West Lafayette, IN, 2012). S. 1 und S. 6. Vgl. Urte Helduser, Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Moderne um 1900 (Köln/Weimar/Wien, 2005). S. 15. Vgl. Albrecht Koschorke, »Die Männer und die Moderne«, in Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde, Avantgardekritik, Avantgardeforschung, hg. von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Amsterdam, 2000), 141-162. Vgl. hierzu ausführlich die Darlegung des Forschungsstands im Kapitel 1.4. Vgl. Sigrid Schade und Silke Wenk, »Strategien des Zu-Sehen-Gebens. Geschlechterpositionen in Kunst und Kunstgeschichte«, in Genus. Gender Studies/Geschlechterforschung in den Kultur- und Sozialwissenschaften, hg. von Hadumod Bußmann und Renate Hof (Stuttgart, 2005), S. 144-185. Vgl. Anja Zimmermann, Hg., Kunstgeschichte und Gender (Berlin, 2006). S. 87-89.

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Vjera Biller und das Kindliche

kaum stattgefunden habe.13 Die Übertragung dieser Forschungsergebnisse auf die Avantgarden der 1920er Jahre scheint jedoch nicht ohne weiteres möglich, da deren »vergessene« Künstler:innen ganz unterschiedlichen Milieus und Gesellschaftsschichten angehörten, wie Johnsons Studie gezeigt hat.14 Vielmehr kann dieses Moment des Unsichtbar-Werdens in direkten Zusammenhang mit der NS-Politik in Österreich ab 1938 gebracht werden, der in Johnson Eingangszitat bereits angeklungen ist: »A picture […] without women as public artists has emerged because the artists, artwork, and records of this past have been interrupted, erased, and destroyed in a uniquely and historically specific way.«15 In aller Deutlichkeit wird dies von der Autorin anhand des folgenden Zitats von Sabine Plakolm-Forsthuber veranschaulicht: »The high percentage of Jewish women artists who were murdered or driven out [by the NS-regime, Anm. MW], and the percentage of those, who because of their political stance […] had to flee, makes clear that the blossoming of women’s art [in Austria, Anm. MW] ca. 1938 (despite all difficult circumstances) was broken off.«16 Ein solches, unmittelbar mit den NS-Verbrechen korrelierendes Lückenhaft-geworden-Sein trifft auch auf Vjera Billers Lebenswerk zu.17 Von dem vormals reichhaltigen Fundus an künstlerischen Arbeiten, die in den mannigfaltigen Ausstellungsteilnahmen Billers bis 1926 zu sehen waren, haben sich gerade einmal acht Grafiken im Nachlass Ljubomir Micićs in Belgrad erhalten,18 dessen Bestände die verheerenden Bombardements der NS-Luftwaffe 194119 sowie die Wirren des Jugoslawienkriegs weitgehend unbeschadet überstanden haben. Biller selbst, die sich seit Beginn der 1930er Jahre wiederholt in psychiatrische Behandlung begeben hatte (Abb. 44),20 wird ab 1938 von den Nazis als sog. »Volljüdin« und »Geisteskranke« im NS-Psychiatrie-Apparatus festgesetzt und aus dem Sanatorium Wetzelsdorf in die Steirische Staatsklinik »Am Feldhof« in Graz

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Vgl. Griselda Pollock, Vision and Difference. Femininity, Feminism and the Histories of Art (London, 1988). S. 73-77. Vgl. Johnson, The Memory Factory. The Forgotten Women Artists of Vienna 1900. S. 24. Ebd. S. 339. Ebd. Und siehe auch: Sabine Plakolm-Forsthuber, Künstlerinnen in Österreich 1897-1938. Malerei, Plastik, Architektur (Wien, 1994). Vgl. Irina Subotić, »Vjera Biller (1903-?)«, in Zenit i avangardna 20-tih godina. Ausst.Kat. Serbisches Nationalmuseum (Belgrad, 1983), S. 89-91. Vgl. Irina Subotić, »Vjera Biller. Malerin der urbanen Naiven Kunst«, in Sturmfrauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin. Ausst.Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt a.M., hg. von Max Hollein (Frankfurt a.M., 2015), S. 24-31. Hier S. 25. Vgl. Dejan Zec, »Escape into Normality. Entertainment and Propaganda in Belgrade during the Occupation (1941-1944)«, in Local Dimensions of the Second World War in Southeastern Europe, hg. von Xavier Bougarel, Hannes Grandits, und Marija Vulesica (London, 2019), S. 237-260. Vgl. Krankenakt – Vjera Biller (1935), MA 8 Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Sig. 1.3.2.209.2.A11/2.

1. Einleitendes

zwangsverlegt.21 Am 28. Mai 1940 wird Biller in einer Gruppe von 204 Menschen in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz deportiert.22 Dort wird die Künstlerin noch im selben Jahr im Rahmen der ersten Phase des NS-»Euthanasie«-Programms Aktion T4 im Alter von 37 Jahren ermordet.23 Die Zerstörung eines Großteils des Biller’schen Oeuvres sowie eine im Vergleich zur Nachkriegs-Erinnerungspolitik der BRD (und der USA) verspätet einsetzende Aufarbeitung der NS-Zeit in Österreich24 haben keinen geringen Anteil gehabt am Vergessen dieser ehemals so erfolgreichen Avantgardekünstlerin nach 1945. Denn, da die Kanons der Kunstgeschichte(n) auch eine Form des Erinnerns sind, das durch stetige Wiederholung zustande kommt, mittels einer permanenten oder in Zyklen der »Wiederentdeckung« verlaufenden Reproduktion bestimmter Arbeiten einzelner Künstler:innen,25 wird das ganze Ausmaß einer solchen Zerstörung, Lückenhaftigkeit und Fragmentierung deutlich. Der Verlust der Biller’schen Arbeiten ist auch ein Verlust an kunsthistorischer Evidenz, der wiederum die Kanonisierung der Künstlerin durchkreuzt und zu ihrer Unsichtbarkeit beiträgt. Im Wissen um dieses spezifische Geworden-Sein der Biller’schen Vita und Kunstpraxis hat sich diese Monografie nicht nur zur Aufgabe gemacht, der Sichtbarkeit avantgardistischer Künstlerinnenschaft in der Zwischenkriegszeit am Beispiel Vjera Billers und ihres Leitmotivs des Kindlichen nachzugehen, sondern ebenso die Mechanismen ihres anschließenden Unsichtbar-Bleibens im Detail zu beleuchten und damit Kunstgeschichte ex negativo – aus dem Lückenhaften, Vergessenen und Nurin-Teilen-Erhaltenen – zu betreiben.

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Vgl. Biller, Vjera, Deutsches Bundesarchiv, Patientenakten NS-»Euthanasie«, Aktion T4, Bestand R-179, Sig. 19833. Vgl. Sandra Kristöfl, NS-»Euthanasie«: Ihre Struktur und Systematik in Österreich. Der Grazer »Feldhof«, seine Nebenanstalten und Vernetzungen mit Niedernhart und Hartheim, Diplomarbeit (Graz, 2012). S. 1-121. Vgl. Ebd. Die International Claims List der IAAPA führt Vjera Biller ebenfalls an (vgl. https:// www.iaapa.de/il/46024/claimslist/Bi-Bo.htm, letzter Aufruf: 10.06.2020), gleiches gilt für die List of Persons Murdered by German Medical Doctors between 1939 and 1948 des United States Holocaust Memorial Museums in Washington D.C. (vgl. https://www.ushmm.org/online/hsv/ source_view.php?SourceId=30821, letzter Aufruf: 23.08.2021). »In Austria, memory of the Nazi past was repressed, contributing to a reluctance to investigate its exiled and murdered women artists or exhibit their works.« Johnson, The Memory Factory. The Forgotten Women Artists of Vienna 1900. S. 342. Johnsons Einschätzung bliebe in aller Kürze hinzuzufügen, dass die österreichische Regierung erst im Jahr 1988 entgegen des bis dahin vorherrschenden, nationalen Opfer-Narrativs offiziell anerkannt hat, dass der »Anschluss« des Landes an Nazi-Deutschland 1938 von Begeisterungsstürmen österreichischer Staatsbürger:innen auf dem Wiener Heldenplatz begleitet wurde. Vgl. Plakolm-Forsthuber, Künstlerinnen in Österreich 1897-1938. S. 206. Sowie jüngst auch: Linda Erker, Andreas Huber und Klaus Taschwer, Der Deutsche Klub. Austro-Nazis in der Hofburg (Wien, 2020). Vgl. Johnson, The Memory Factory. The Forgotten Women Artists of Vienna 1900. S. 373-400.

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Vjera Biller und das Kindliche

1.1

Vjera Biller. Ein biografischer Aufriss

Die spärlichen und zum Teil widersprüchlichen26 Informationen zur Biografie Vjera Billers sollen hier einleitend im Format eines biografischen Aufrisses gebündelt werden. Ein nicht unerheblicher Teil biografischer Eckdaten stammt aus der Feder Billers selbst, die in einer sieben Briefe umfassenden Korrespondenz mit Ljubomir Micić aus den Jahren 1923 bis 1928 eine schriftliche Selbstbeschreibung liefert, auf die wiederholt zurückzukommen sein wird.27 In einem auf den 8.12.1923 datierten Schreiben gibt Biller ihr Geburtsjahr mit 1903 sowie ihren Geburtsort in der slawonischen Stadt Đakovo an (heute: Kroatien, damals: der in der Habsburger Doppelmonarchie noch Südungarn zugehörige Teil des Staatsgebiets) und berichtet ferner, dass sie bis zu ihrem neunten Lebensjahr zunächst in Osijek und anschließend in Zagreb gelebt habe, bis die Familie nach Budapest übergesiedelt sei.28 Während ein im Staatsarchiv Rijeka vorliegendes Meldedokument, das den späteren Umzug Billers von Opatija nach Wien im Jahr 1932 dokumentiert, das Geburtsjahr der Künstlerin (7. Dezember 1903) bestätigt,29 ist die Frage nach der Zuverlässigkeit der Geburtsortsangabe nach wie vor ungeklärt. Denn im Đakovaer Melderegister und Geburtenverzeichnis des besagten Jahres 1903 taucht Vjera Billers Name an keiner Stelle auf, obschon ihre Eltern – Emil Biller und vor allem Malvina Biller, geb. Kugel – dort deutliche, archivalische Spuren hinterlassen haben: Vjera Billers Mutter, Malvina Kugel, deren Nachname in nahezu allen Publikationen bislang fälschlicherweise mit »Kugler« angegeben worden ist,30 wurde nachweislich am 22. Juli 1881 in Đakovo geboren.31 Ihre Eltern, die Großeltern Vje-

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Vgl. Mirko Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje (Đakovo, 2019). Vgl. Quellenteil I. Transkription der Briefkorrespondenz Vjera Biller – Ljubomir Micić (1923-1928). Die Briefe, ursprünglich aus Micićs Nachlass stammend, befinden sich heute in der Sammlung des Serbischen Nationalmuseums in Belgrad. 1980 wurden Billers auf Deutsch verfasste Briefe an Micić in BKS-Übersetzung publiziert, vgl. Vidosava Golubović, »Pisma Vjere Biller Ljubomiru Miciću (Književni arhiv Ljubomira Micića 4)«, Književna reč, Nr. 154/10 (1980), S. 11. Vgl. Vjera Biller an Ljubomir Micić, 8.12.1923: »Hier ein paar Informationen über mich: Ich wurde 1903 in Đakovo geboren. In Kroatien habe ich gelebt bis ich 9 Jahre alt war, in Osijek und Zagreb, dann zog ich um nach Budapest. […]«. Vgl. Scheda individuale foglio familia no. 708/3315 (1931), Abbazia, Državni arhiv u Rijeci (Staatsarchiv Rijeka). Zudem weist auch Vjera Billers Eintragung in der Krankenakte des Deutschen Bundesarchivs das Geburtsdatum mit dem 7.12.1903 aus. Vgl. Biller, Vjera, Deutsches Bundesarchiv, Patientenakten NS-»Euthanasie«, Aktion T4, Bestand R-179, Sig. 19833. Vgl. exemplarisch Subotić, »Vjera Biller. Malerin der urbanen Naiven Kunst«. S. 24. Die namentliche Richtigstellung ist Mirko Ćurićs Archivrecherchen vor Ort in Đakovo zu verdanken, vgl. Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 19. Vgl. Schülerinnenregister der Đakovaer katholischen Volksschule: Izvještaj o Djevojačkih Učionah u Samostanu Milosrdnica Svetoga Križa Koncem Školske Godine 1890/1 (Đakovo, 1891). S. 2. Hier wird Malvina Kugel an 25. Stelle mit folgenden Angaben gelistet: »Kugel, Malvina. iz-

1. Einleitendes

ra Billers mütterlicherseits, mit denen die Familie zwischen 1927 und 1932 für einige Jahre in Opatija lebte, finden sich hier ebenfalls namentlich genannt: Leopold Kugel und Cäcilie Kugel, geb. Weiss/Weisz.32 Beide Großeltern wurden auf dem jüdischen Friedhof in Đakovo beigesetzt, die Gräber sind bis heute vor Ort erhalten geblieben. Dort findet sich auch das Grab von Katharina Kugel, geb. Marktstein (1809-1904), der Mutter Leopold Kugels und somit Urgroßmutter Vjera Billers.33 Malvina Kugels Name taucht ferner im Verzeichnis der Mädchenklassen der Jahre 1888-89 und 1891-92 der Đakovaer katholischen Volksschule im Kloster der Barmherzigen Schwestern vom Hl. Kreuz auf. Demnach wurde der Schulabschluss mit Auszeichnung bestanden, außerdem weist das Dokument explizit die jüdische Religionszugehörigkeit der Familie Kugel aus.34 Eine standesamtliche Heiratsurkunde der Stadt Đakovo dokumentiert die Eheschließung zwischen Malvina Kugel und Emil Biller am 02. Februar 1902.35 In den Archiven der jüdischen Gemeinde Đakovo war ein entsprechendes Dokument allerdings nicht zu ermitteln. Generell scheint Emil Biller, der Vater Vjera Billers, im Gegensatz zu den Familien Kugel und Weiss/Weisz im Gemeinde-Kontext deutlich weniger in Erscheinung getreten zu sein.36 Eine immer wieder zitierte namentliche Nennung Emil Billers im Teilnehmerverzeichnis der Mitgliederversammlungen des Đakovaer Gesangsvereins, ein Kreis des (klein-)städtisch gehobenen Bürgertums,37 aus den Jahren 1902 und 1903 konnte im Rahmen eigener Archivrecherchen ebenfalls nicht konkretisiert werden. Spätestens um 1910-11 muss die Familie jedoch bereits von Đakovo nach Osijek umgezogen sein, da das Geburtenregister der Stadt Vjera Billers jün-

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rael. rodj. u 22./VII. 1881 u Djak. Otac Leopold trgovac […].«/»Kugel, Malvina. israel. geb. am 22./VII. 1881 in Djak[ovo]. Vater Leopold Händler […].« Vgl. Ebd. S. 2. Vgl. Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 20-21. Vgl. Izvještaj o Djevojačkih Učionah u Samostanu Milosrdnica Svetoga Križa Koncem Školske Godine 1890/1. S. 2. Neben Malvina Kugel werden von insgesamt 76 Schülerinnen der katholischen Schule nur acht weitere, jüdische Schülerinnen mit der Religionszugehörigkeit »izrael.« in diesem Register geführt. Vgl. Matična knjiga Đakovo i Viškovac 1902/3 (Đakovo, 1903). Stadtarchiv Đakovo, Sig. 31, S. 23. Vgl. Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 27: »Emil Biller, također, nije bio službenik bogoštovne općine židovske, jer ga ne spominju autori koji se bave ovom temom.«/»Emil Biller war zudem kein Mitglied der jüdischen religiösen Gemeinde, da er von den Autoren, die sich mit diesem Thema befassen, an keiner Stelle erwähnt wird.« Vgl. Subotić, »Vjera Biller. Malerin der urbanen Naiven Kunst«. S. 24. Subotić geht hier überdies davon aus, dass in dieser Vereinsfestschrift Vjera Billers Geburtsdatum explizit genannt würde und verweist auf Ćurićs Recherchen. Dieser wiederum rekurriert aber in der Rezeption dieser Festschrift nicht auf Biller selbst, sondern lediglich auf eine vermeintlich namentliche Nennung Emil Billers, des Vaters, in diesem Dokument in den Teilnehmerlisten aus den Jahren 1902-03, vgl. Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 26.

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Vjera Biller und das Kindliche

geren Bruder Walter mit dem Geburtsdatum 28. Juli 1911 vor Ort verzeichnet.38 Der Aufenthalt von Emil und Malvina Biller in Đakovo im Anschluss an ihre Heirat im Jahr 1902 dürfte sich dementsprechend, sofern die Übersiedelung nach Budapest den brieflichen Schilderungen Vjera Billers folgend im Jahr 1912 zu verorten ist und die Familie schon 1910-11 in Osijek gemeldet war, auf eine Zeitspanne von ein paar wenigen Jahren konzentrieren. Dafür spricht zudem, dass – wie den Đakovaer Grundbuchregistern zu entnehmen ist – das Ehepaar Biller vor Ort kein Eigentum erworben hat und das dem Großvater Leopold Kugel gehörende Haus bereits 1905 nachweislich an eine Familie Kohen verkauft worden war.39 Im Anschluss an den Aufenthalt in Osijek folgt mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs der Umzug nach Budapest (1914-1921), wo Biller eine akademische Ausbildung beginnt, diese aber rasch wieder abbricht und bald Anschluss an den avantgardistischen MA-Zirkel erhält, in dessen Kreis sie 1919 erstmalig ausstellt.40 Von Budapest aus erfolgt die Übersiedelung nach Berlin (1921-1924), die zwischen 1921 und 1922 von Billers reger Teilnahme in den Ausstellungsaktivitäten der expressionistischen Sturm-Gruppe begleitet wird.41 Wie den auf den 8.12.1923 sowie den 16.01.1924 datierten Briefen an Micić zu entnehmen ist,42 bemüht sich die Künstlerin in ihrer Berliner Zeit betont um Abgrenzung – »Ich mag es hier überhaupt nicht und würde Berlin gern verlassen«43 – und verweist auf die weiteren Umzugspläne der Familie: »Wir haben vor nach Opatija zu ziehen, zu meiner Großmutter und meinem Großvater, doch meine Mutter möchte zunächst alle Möbel verkaufen und das ist jetzt schwierig. Ich denke nicht, daß wir diesen Monat übersiedeln werden«44 . Der Umzug nach Opatija, einem mondänen ehemaligen k. u. k. Bade- und Kurort an der Kvarner Bucht, erfolgt Mitte 1924.45 Vor Ort mietet die Familie Biller nachweislich die Villa Vesna an, die sie gemeinsam mit den Großeltern – Leopold und Cäcilie Kugel – bewohnt.46 Ein unter dem Karteinamen »Scheda individuale foglio famiglia no. 708« (im Jahr 1931 intern zu no. 3315 geändert) geführter Meldezettel aus Abbazia/Opatija, der sich im Staatsarchiv Rijeka erhalten hat, dokumentiert den Zuzug

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Vgl. Ebd. S. 22. Vgl. Ebd. S. 20. Sowie Željko Lekšić, »Numeracija kuća u Đakovu iz sredine 19. stoljeća i njihovi vlasnici«, Zbornik Muzeja Đakovštine, Nr. 12/1 (2015), S. 55-69. Vgl. Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 42-47. Siehe auch Biografische Karte im Quellenteil II. Vgl. Biografische Karte im Quellenteil II. Vjera Biller an Ljubomir Micić, 8.12.1923: »Seit über einem Jahr bin ich nun in Berlin, wo es mir überhaupt nicht gefällt […].« Vjera Biller an Ljubomir Micić, 16.01.1924. Ebd. Vgl. Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 50-52. Vgl. Ebd. S. 52.

1. Einleitendes

der Familie Biller im Jahre 1924 aus Deutschland.47 Ferner werden hier die österreichische Staatsbürger:innenschaft aller Familienmitglieder, ein Hauptwohnsitz in Graz sowie die einzelnen Berufsstände der Personen vermerkt: Malvina Biller wird als Hausfrau geführt, Walter Biller (hier mit italienischer Schreibweise seines Vornamens: »Gualtiero«) als Student identifiziert, und Vjera Biller wird schließlich explizit als »pittore« (Malerin) ausgewiesen.48 Im selben Familienregister wird auch der Fortzug der Billers aus Opatija nach Wien im Jahr 1932 notiert. In Wien lebt die Familie drei Jahre lang zwischen 1932 und 1935, bis schließlich die Übersiedelung nach Graz erfolgt.49 Mirko Ćurić verweist indes darauf, dass über Emil Biller – den Vater Vjera Billers – so gut wie nichts bekannt sei und versichert seinen Leser:innen in einer geradezu akrobatisch anmutenden Argumentation, dass er ein Kroate aus Osijek gewesen sei: Aufgrund eines am Finanzgericht Osijek verzeichneten Insolvenzverfahrens50 gegen Emil Biller aus dem Jahre 1912, argumentiert Ćurić für eine dramatische Flucht des Vaters aus der SHS vor seinen Gläubigern51 und sieht Emil Biller entgegen seiner vermeintlich kroatischen Herkunft durch die Insolvenz zur Annahme einer neuen, nämlich der österreichischen, Staatsbürgerschaft gezwungen: »Ne znamo točan datum i mjesto rođenja njenog oca Emila Billera, koji zasigurno nije bio ›Austrijanac‹ u vrijeme dok je živio u Đakovu i Osijeku, već je austrijsko državljanstvo dobio nakon Prvog svjetskog rata. Moguće je da se Emil rodio u Osijeku, jer je iz Osijeka njegova sestra Betina [sic! Bettina, Anm. MW] (Betika) Kraus, rođ. Biller, udana u jednu od tada najuglednijih i najbogatijih osječkih židovskih obitelji Kraus.«52 47 48 49 50

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Vgl. Scheda individuale foglio familia no. 708/3315 (1931), Abbazia, Državni arhiv u Rijeci (Staatsarchiv Rijeka). Vgl. Ebd. Vgl. Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 54. Siehe auch Biografische Karte im Quellenteil II. Vgl. Stečajni predmet. Biller Emil, velezakupnik, Osijek 1912, Držanstvo arhiv Osijeku (Staatsarchiv Osijek), Sig. 48. Die Einleitung des Insolvenzverfahrens fällt indes mit dem Ausbruch der Balkankriege zusammen und könnte somit eine mögliche Erklärung für den Konkurs liefern, zumal Emil Biller nachweislich Geschäftsbeziehungen nach Bosnien-Herzegowina unterhielt. Die Insolvenzakte weist als einen der größten Gläubiger die in Osijek ansässige Eskom-Bank aus, eine Zweigstelle der bosnisch-herzegowinischen Nationalbank Brcko. Vgl. Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 35. Ebd. S. 28, Fußnote 63: »Cijela obitelji je imala austrijsko državljanstvo, ali je pravi razlog njegova ishođenja vjerojatno bijeg Emila Billera od vjerovnika u Hrvatskoj, a ne austrijsko podrijetlo.«/»Die ganze Familie besaß die österreichische Staatsbü rgerschaft, aber der wahre Grund fü r seinen Fortgang liegt wahrscheinlich in Emil Billers Flucht vor seinen Gläubigern in Kroatien begrü ndet und nicht in seiner österreichischen Herkunft.« Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 29.

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Vjera Biller und das Kindliche

»Wir kennen das genaue Datum und den genauen Geburtsort ihres Vaters Emil Biller nicht, der zu dem Zeitpunkt, als er in Đakovo und Osijek lebte, sicherlich kein ›Österreicher‹ war, aber nach dem Ersten Weltkrieg die österreichische Staatsbürgerschaft erwarb. Es ist möglich, dass Emil Biller in Osijek geboren wurde, da seine Schwester Betina (Betika) Kraus, geb. Biller, dort in eine der angesehensten und reichsten jüdischen Familien – die Familie Kraus – einheiratete.« Einer solchen, wie hier von Ćurić beabsichtigten Vereinnahmung Billers als dezidiert »kroatische Avantgardistin« aufgrund der vermeintlich kroatischen Herkunft ihres Vaters wäre an dieser Stelle mit dem meinerseits ermittelten Meldezettel Emil Billers aus dem Stadtarchiv Graz kritisch zu begegnen.53 Dieses Dokument weist sowohl dessen Geburtsdatum als auch den Geburtsort amtlich aus: Emil Biller wurde 1871 in Gries, dem 5. Grazer Stadtbezirk, geboren, der bis 1938 ein Zentrum jüdischen Lebens vor Ort war.54 Mit »Öster.-Ungarn« als Geburtsland und dem Ausweis der Religionszugehörigkeit (»Israel.), der Berufstätigkeit (»Privatier«) sowie dem Familienstand (ein durchgestrichenes und mit einem »ehel.« wie »ehelich« ersetztes »l« wie »ledig«) lässt sich anhand dieses Dokuments die Person Emil Billers fassen.55 Explizit Erwähnung findet ferner ein Aufenthalt in Đakovo 1902-1903, der wiederum »diesen« Emil Biller eindeutig als Vjera Billers Vater identifiziert.56 Auch werden hier bereits mehrere Aufenthalte in Berlin bis zum Jahr 1916 vermerkt. Ćurićs Narrativ einer vermeintlich kroatischen Herkunft Emil Billers – dessen Schwester Bettina Kraus, geb. Biller, tatsächlich mit dem in Osijek ansässigen Johann Kraus verheiratet war57 – kann in der Folge also eine quellenbasierte Absage erteilt werden und somit eine wichtige inhaltliche Richtigstellung der jüngsten Rezeptionsgeschichte Billers erfolgen. Dem väterlicherseits herrührenden Graz-Bezug der Familie Biller lässt sich indes anhand weiterer Archivquellen nachspüren: In Graz waren nicht nur alle Familienmitglieder hauptamtlich gemeldet, wie aus dem Register in Rijeka hervorgeht,58 sondern, wie meinerseits in der Friedhofsdatenbank der Israelitischen Kultusgemeinde Wien recherchiert werden 53 54

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Vgl. Meldezettel: Emil Biller, Stadtarchiv Graz, Sig. 732.18. Vgl. Gerald Lamprecht, »Graz 1938. Von der Zerstörung der jüdischen Gemeinde«, in Hörmal. Überlebensgeschichten 1938-2008, hg. von Kultur in Graz (Graz, 2008), S. 1-22 auch veröffentlicht in erinnern.at. Nationalsozialismus und Holocaust: Gedächtnis und Gegenwart, https://ww w.erinnern.at/themen/e_bibliothek/seminarbibliotheken-zentrale-seminare/8-zentrales-se minar/Lamprecht %20zerstorung_judische_gemeinde_graz_lamprecht.pdf (letzter Aufruf: 25.08.2021), S. 1-22. Hier S. 1. Vgl. Meldezettel: Emil Biller, Stadtarchiv Graz, Sig. 732.18. Vgl. Ebd. Vgl. Ljiljana Dobrovšak, Židovi u Osijeku od doseljavanja do kraja Prvog svjetskog rata, Židovski općina Osijek (Osijek, 2013). S. 32-34. Vgl. Scheda individuale foglio familia no. 708/3315 (1931), Abbazia, Državni arhiv u Rijeci (Staatsarchiv Rijeka).

1. Einleitendes

konnte, wurde Emil Biller überdies am 09. September 1936 auf dem Grazer jüdischen Friedhof bestattet.59 Der Tod des Vaters und seine Bestattung, zwei Jahre vor dem »Anschluss« Österreichs an Nazi-Deutschland, deckt sich indes mit dem letzten dokumentierten Aufenthalt der Familie in Graz, wo Malvina Biller und Vjera Biller zwischen 1935 und 1938 gemeinsam ein Apartment in der Rechbauerstraße 16 bewohnten.60 Wie Gerald Lambrecht ausführlich herausgearbeitet hat, stellt der März 1938 »die entscheidende Zäsur jüdischen Lebens in der Steiermark im 20. Jahrhundert«61 dar. Bereits vor dem offiziellen »Anschluss« an Nazi-Deutschland am 12. März 1938 war es in Graz zu antisemitischen Großdemonstrationen und Kundgebungen, »Boykott-Aktionen« gegen jüdische Geschäfte sowie vermehrten Fällen der »Inschutzhaftnahme« jüdischer Stadtbewohner:innen gekommen, die die darauffolgende Propagierung der Stadt als Ort der ersten österreichischen »Volkserhebung« in der NS-Presse befeuern sollten.62 Bereits im Frühjahr 1939 erklärte sich Graz, die Landeshauptstadt der Steiermark und »Stadt der Volkserhebung«, vor allen anderen Kommunen österreichweit als vollständig »judenfrei«.63 Neben den bereits Mitte März 1938 erfolgten Verhaftungen führender politischer, religiöser und wirtschaftlicher Mitglieder der Grazer jüdischen Gemeinde64 lässt sich, so Lamprecht, anhand der kommunalen Tageszeitungen – allen voran der Grazer Tagespost – die systematische Entrechtung der jüdischen Stadtbewohner:innen rekonstruieren. So wurde beispielsweise am 16. März 1938 ein allgemeines Schächtungsverbot verlautbart,65 während am Tag zuvor verkündet worden war: »Keine Juden in der Rechtspflege!«66 Dieselbe Mitteilung gibt die Entlassung aller jüdischen Richter und Staatsanwälte sowie eine Sperre der Neuaufnahmen in Rechtsanwaltskanzleien und Notariate und damit de facto ein umfassendes Berufsverbot für ganz Graz bekannt.67 Zugleich kam es, wie Walter Höflechner betont hat, auch an der Karl-Franzens-Universität bereits sehr früh zu »Säuberungsaktionen« und

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Vgl. Friedhofsdatenbank Israelitische Kultusgemeinde Wien (https://www.ikg-wien.at/friedh ofsdatenbank/, letzter Aufruf: 25.08.2021): Biller, Emil, Gest. 09.09.1936, Friedhof Graz, Gruppe 003, Grab 007. Vgl. Subotić, »Vjera Biller. Malerin der urbanen Naiven Kunst«. S. 26. Lamprecht, »Graz 1938. Von der Zerstörung der jüdischen Gemeinde«. S. 1. Vgl. Ebd. S. 1. Vgl. Ebd. Während die jüdischen Vereine in Graz mit März 1938 ihre Tätigkeit schlagartig einstellen mussten, zog sich die Auflösung der jüdischen Gemeinde in mehreren Schritten bis 1941 hin. Vgl. Ebd. S. 8. Vgl. »Verbot des Schächtens«, Tagespost, Nr. 74 (16.03.1938), S. 8. Vgl. »Keine Juden in der Rechtspflege«, Tagespost, Nr. 73 (15.03.1938), S. 4. Vgl. Ebd.

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Vjera Biller und das Kindliche

Entlassungen.68 Ab Herbst 1938 waren jüdische Studierende vollständig vom Hochschulstudium ausgeschlossen, Dozierenden war bereits Anfang April die Lehrbefugnis entzogen worden, bevor sie Ende des Monats aus dem Dienst entlassen wurden: darunter der Rabbiner der Grazer jüdischen Gemeinde David Herzog sowie der Nobelpreisträger Otto Loewi, dem die Emigration in die USA gelang.69 Am 26. April 1938 erfolgte mit der sog. »Verordnung über die Anmeldung der Vermögen von Juden« die organisierte Enteignung der Grazer Jüd:innen durch die kommunale NS-»Vermögensverkehrsstelle«, die auch die zahlreichen »Arisierungen« jüdischer Betriebe in und um Graz überwachte und verwaltete.70 Privates Wohneigentum wurde von dieser Abteilung seit April 1938 beschlagnahmt und zudem systematisch Mietrechte entzogen.71 Bereits ab Mitte März waren zudem umfassende Einschränkungen des Alltags sowie der persönlichen Bewegungsfreiheit für die jüdischen Stadtbewohner:innen verhängt worden: Ausgehverbote galten so beispielsweise in öffentlichen Parkanlagen der Stadt Graz, in allen Kinos und zahlreichen Kaffeehäusern.72 Insbesondere von diesen Diskriminierungsmaßnahmen sowie dem Entzug der Mietrechte bzw. des privaten Wohneigentums dürfte Malvina Biller, zu diesem Zeitpunkt in der Rechbauerstraße 16 in Graz ansässig, unmittelbar betroffen gewesen sein. Während Vjera Billers Aufenthaltsorte zwischen 1937 und 1940 – zunächst im Sanatorium Wetzelsdorf bei Graz, von wo aus sie am 01. Juni 1938 auf offizielle Direktive hin in die Grazer Steirische Staatsklinik »Am Feldhof« zurückverlegt und schließlich von dort aus zwei Jahre später nach Hartheim deportiert wurde – anhand der NS-Krankenakten vergleichsweise gut nachvollzogen werden können,73 verlieren sich die Spuren der Mutter Malvina Biller und des jüngeren Bruders Walter, der am 31. August 1935 in Vjera Billers Krankenakte aus der Wiener Heil- und Pflegeanstalt »Am Steinhof« als Besucher vermerkt ist (Abb.

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Vgl. Walter Höflechner, Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz. Von den Anfängen bis in das Jahr 2005 (Graz, 2006). S. 194-203. Vgl. Alois Kernbauer, »Der lange Marsch zur ›politischen Hochschule‹. Die Grazer Hohen Schulen in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft«, in Graz in der NS-Zeit 1938-1945, hg. von Stefan Karner (Graz, 1998), S. 179-193. Hier S. 187. Vgl. Eduard Staudinger, »›Ich bitte die Vermögensverkehrsstelle um baldige Entscheidung.‹ Aspekte der ›Arisierung‹ in der Steiermark«, in Jüdisches Leben in der Steiermark. Marginalisierung – Auslöschung – Annäherung, hg. von Gerald Lamprecht (Innsbruck, 2004), S. 209-222. Vgl. Ebd. S. 218. Vgl. Lamprecht, »Graz 1938. Von der Zerstörung der jüdischen Gemeinde«. S. 5. Vgl. Biller, Vjera, Deutsches Bundesarchiv, Patientenakten NS-»Euthanasie«, Aktion T4, Bestand R-179, Sig. 19833. Die International Claims List weist neben Vjera Biller noch drei weitere Personen mit Nachnamen »Biller« aus (Anna, Franz und Josef), zu denen aller Wahrscheinlichkeit nach keine familiäre Verbindung besteht. Die Angaben der IAAPA scheinen indes nur wenig zuverlässig. Vgl. https://www.iaapa.de/il/46024/claimslist/Bi-Bo.htm (letzter Aufruf: 25.08.2021).

1. Einleitendes

44),74 völlig. Vor der endgültigen Zwangsübersiedelung der nach den Novemberpogromen noch in Graz verbliebenen Jüd:innen nach Wien, von wo aus die Deportationen in die Vernichtungslager Auschwitz und Dachau im Frühjahr 1940 organisiert wurden, schätzt Gerhard Lamprecht deren Zahl noch auf rund 305 Menschen, zumeist Frauen und Kinder.75 Namentliche Identifizierungen sind allerdings angesichts der unübersichtlichen und lückenhaften Aktenlage schwer zu bewerkstelligen. Ob Malvina und/oder Walter Biller ebenfalls über Wien deportiert wurde(n) oder ob sie noch vor 1940 aus Graz fliehen konnte(n), war im Rahmen meiner Recherchen nicht mehr zu klären. Laut Otto Rendi werden allein für den Zeitraum von Mitte März bis November 1938 insgesamt 417 geflüchtete Personen, allerdings ohne Namen, in den internen SS-Berichten aus Graz und Umgebung aufgeführt.76 Die Emigrationsländer und ersten Fluchtziele für jüdische Geflüchtete aus Graz waren meist die unmittelbaren Nachbarstaaten jenseits der österreichischen Grenze, vor allem Ungarn und die SHS.77 Schlepperaktivitäten und Menschenschmuggel sind so beispielsweise für die steirisch-slowenische Grenze zwischen 1938 und 1939 belegt und im Detail aufgearbeitet worden.78 Dass Malvina Biller und Walter Biller noch vor 1940 die Flucht vor dem NS-Regime ins Ausland gelang – von Graz aus vielleicht ins nahegelegene Jugoslawien,79 wo die Familie ja bereits gelebt hat-

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Vgl. Krankenakt – Vjera Biller (1935), MA 8 Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Sig. 1.3.2.209.2.A11/2. Vgl. Lamprecht, »Graz 1938. Von der Zerstörung der jüdischen Gemeinde«. S. 17. Vgl. Otto Rendi, »Zur Geschichte der Juden in Graz und in der Steiermark«, Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark, Nr. 62 (1971), S. 160-171. Hier S. 162. Vgl. Doron Rabinovici, »Die Suche nach dem Ausweg. Die Organisation von Flucht und Rettung 1938-1941«, in Flucht in die Freiheit. Österreichische Juden in Palästina und Israel, hg. von Angelika Hagen und Joanna Nittenberg (Wien, 2006), S. 99-121. Hier S. 105. Vgl. Lamprecht, »Graz 1938. Von der Zerstörung der jüdischen Gemeinde«. S. 18-19. Wie Alexander Korb ausführlich dargelegt hat, erlangte Jugoslawien als Fluchtziel große Bedeutung. Allerdings wurden die dorthin Geflüchteten mit dem sog. »Balkan-Feldzug«, der im April 1941 mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Jugoslawien begann, vom Krieg und von den Nationalsozialisten eingeholt. Das mit den Nazis kollaborierende faschistische Ustaša-Regime im NDH-Staat war in diesem Zuge vollumfänglich an der Internierung und systematischen Ermordung von als jüdisch, serbisch und/oder als Sinti und Roma verfolgten Menschen im KZ Jasenovac beteiligt. Vgl. Alexander Korb, Im Schatten des Weltkriegs. Massengewalt der Ustaša gegen Serben, Juden und Roma in Kroatien 1941-1945 (Hamburg, 2013). S. 76f. Auch muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass, wie am Beispiel des sog. »Kladovo«-Transports gezeigt werden konnte, schon ab 1939 viele Auslandstransporte jüdischer Geflüchteter über Jugoslawien scheiterten, da diese zum Teil bereits kurz nach der Grenze von den örtlichen Behörden festgesetzt wurden. Vgl. Gabriele Anderl und Walter Manoschek, Gescheiterte Flucht. Der jüdische »Kladovo-Transport« auf dem Weg nach Palästina 1939-42 (Wien, 1993). S. 12f.

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Vjera Biller und das Kindliche

te –, scheint folglich durchaus denkbar.80 Vjera Biller selbst war zu diesem Zeitpunkt nach ihrer amtlichen Zwangseinweisung 1938 bereits seit über zwei Jahren und ohne Fluchtmöglichkeit in der Grazer Psychiatrieanstalt »Am Feldhof« interniert worden, von wo aus sie schließlich in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz deportiert und dort im Rahmen des sog. NS-»Euthanasie«-Programms Aktion T4 ermordet wurde.81 Billers umfassende Krankenakte, ein Konvolut aus dem Nachlass des Wiener Steinhofs, in dem sich auch eine auf den 22.08.1935 datierte und bislang unveröffentlichte Fotografie mit Billers Portrait erhalten hat (Abb. 45), gibt zudem Auskunft über vorangegangene Klinikaufenthalte der Künstlerin nach ihrer Rückkehr nach Österreich in den Jahren 1932-35, denen sie sich aufgrund einer vermeintlich schizophrenen Erkrankung unterzieht.82 Auf diesen Umstand wird auch in der Rezeption Billers stets verwiesen – mit mal mehr und mal weniger pathologisierendem Impetus, auf den das Kapitel zum Forschungsstand erneut zurückkommen wird. Eine solche Lesart wird jedoch durch die im Rahmen der Wiener Krankenakte versammelten und in der dritten Person durch das Klinikpersonal notierten Aussagen Billers aus den wiederholt mit ihr geführten Patientinnen-Interviews verkompliziert, anhand derer die Künstlerin als »homosexuell« kategorisiert wird: »Sie habe nämlich ein Männerherz. Sie sei homosexuell. Sie wisse das, weil sie sich zu Männern nie recht hingezogen gefühlt habe.«83 Aufgrund ihres zeitgenössischen Entstehungskontexts bleiben diese Beschreibungen zwar ambivalent, zeigen jedoch, dass die Biller in aller Eindeutigkeit attestierte Diagnose ›Schizophrenie‹, die ihre Rezeption bis heute mitbestimmt, zumindest diskutabel ist. Während die 1930er Jahre in Billers Biografie primär von diversen Klinikaufenthalten geprägt sind – zu erwähnen bliebe, dass Biller trotz ihres ersten Klinikaufenthalts 1932 noch im darauffolgenden Jahr mit einer Einzelausstellung in der renommierten Pariser Galerie Bernheim Jeune vertreten ist –, fallen in den Jahren zuvor ihre zahlreichen und überaus diversen Ausstellungsaktivitäten ins Auge: Im Nachgang ihrer ersten, erfolgreichen Ausstellung mit der Budapester MAAvantgarde 1919 und ihres Umzugs nach Berlin avanciert Biller in den Jahren 192122 zu einer der aktivsten Sturm-Künstlerinnen (Kapitel 3.2.1). Das dritte und insbesondere die zweite Hälfte des vierten Buchkapitels befassen sich mit diesem Thema

80 81 82 83

Dies konnte von mir allerdings aufgrund der COVID-19-bedingten Archivschließungen nicht (mehr) abschließend ermittelt werden. Vgl. Biller, Vjera, Deutsches Bundesarchiv, Patientenakten NS-»Euthanasie«, Aktion T4, Bestand R-179, Sig. 19833. Vgl. Krankenakt – Vjera Biller (1935), MA 8 Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Sig. 1.3.2.209.2.A11/2. Vgl. Ebd.

1. Einleitendes

und beleuchten Billers künstlerische Auseinandersetzung mit der Semantik des Jüdischen, die vor allem in der Berliner Zeit eine wichtige Rolle spielt und sich auch auf ikonografischer Ebene in ihren Arbeiten artikuliert (Kapitel 4.2). Ab 1924 tritt Biller als Zenitistin in Erscheinung und gehört damit zu einer der wenigen sichtbaren Künstlerinnen innerhalb dieser männlich-dominierten Avantgardegruppe in Belgrad. Die erste Hälfte des vierten Buchkapitels ist Billers Zenit-Aktivitäten gewidmet (Kapitel 4.1) und wirft ein Schlaglicht auf die bereits zu Lebzeiten teils widersprüchliche Rezeption der Künstlerin in diesem spezifischen Kontext, der überdies von den Schlüsselbegriffen Balkan und Barbarisches bestimmt ist, zu denen Billers Kunstpraxis sich verhält.

1.2

Fragestellungen und Ziele

Mein Buch nimmt das lückenhaft gewordene Oeuvre Billers und ihr Leitmotiv des Kindlichen zum Anlass, um aus der Perspektive der kunstwissenschaftlichen Geschlechterstudien der Frage nach Entwürfen von Künstlerinnenschaft nachzugehen (Kapitel 3). Diese Entwürfe wiederum werden mit den multifokalen und teils widersprüchlichen Selbst- und Fremdzuschreibungen an Biller – Sturm-Künstlerin, ungarische MA-Aktivistin, »naive« Autodidaktin, »Balkankünstlerin«, serbische Zenitistin, Jugoslawin, jüdische Künstlerin, »Geisteskranke« – in Ausstellungs- und Rezeptionskontexten von den Zwischenkriegsavantgarden bis hin zur spärlichen Rezeption in den neueren und neuesten Kunstgeschichten konfrontiert (Kapitel 4). Zunächst steht dabei den geschlechterlogisch organisierten und auf tradierten Genienarrativen beruhenden Maskulinisierungstendenzen der internationalen Avantgarden der 1920er Jahre84 – sei es der Sturm-Expressionismus in Berlin, die MA-Gruppe in Budapest oder der Zenitismus in Belgrad – Billers bereits in sehr jungen Jahren entwickeltes selbstbewusstes Verständnis als Avantgarde-Künstlerin entgegen, das aufs Engste mit ihrer Kunstpraxis und ihrem Leitmotiv des Kindlichen in Verbindung steht. Letzteres wird damit im Sinne einer Entwurfsfolie für Künstlerinnenschaft intelligibel und bildet den Hauptanalysefokus meiner Arbeit. Billers multifokale Sichtbarkeiten im Register des Avantgardistischen sowie ihre umfassenden Ausstellungsteilnahmen mit dem Leitmotiv des Kindlichen zwischen 1919 und 1926, die die junge Künstlerin im Anschluss an ihre Etablierung als Avantgardistin mit gerade einmal 16 Jahren in Budapest konsequent weiterverfolgt, liefern indes belastbare Anhaltspunkte dafür, dass eine solche Positionierung als Künstlerin mit dieser Motivik durchaus Erfolg hatte.85 Im Sinne einer konzisen Selbstpositionierungsstrategie, die jenseits der 84 85

Vgl. Albrecht Koschorke, »Die Männer und die Moderne«. Vgl. Biografische Karte im Quellenteil II.

25

26

Vjera Biller und das Kindliche

avantgardistischen Engführung des Kreativen auf das Maskuline Raum für Billers diskursive Teilhabe am Künstlerisch-Avantgardistischen erschließt, soll das Biller’sche Kindliche folglich nach seinen Eigenlogiken befragt werden: Wie lässt sich dieses Leitmotiv im von Primitivismen, Archaismen und Nativismen geprägten Feld der Zwischenkriegsavantgarden86 verorten und einordnen? Welche An- und Ausschlusspotenziale werden dabei im Zenitismus und Sturm-Expressionismus auf ästhetischer sowie ideologischer Ebene wirksam? Wie lassen sich diese für Entwürfe von Künstlerinnenschaft produktiv nutzbar machen? Welche Relate bestimmen indes die Divergenzen zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen an die Biller’sche Vita, Kunstpraxis und Rezeption? Die an diese forschungsleitenden Erkenntnisinteressen geknüpften Ziele meiner Monografie lassen sich also wie folgt zusammenzufassen: Erstens, Billers Oeuvre soll im Sinne einer exemplarischen Fallstudie aus dem Bereich der Künstlerinnenforschung qualifiziert werden für kunstwissenschaftliche Geschlechterstudien. Zweitens, in Auseinandersetzung mit Billers primitivistischem Motiv des Kindlichen soll eine Akzentsetzung zugunsten des Terminus des Barbarischen – die zentrale Semantik im Zenitismus, die Billers Selbstpositionierung in dieser Avantgarde mitbestimmt – im Kontext kunsthistorischer Primitivismusforschungen erfolgen. Drittens, es soll ein Beitrag zur Diversifizierung der facheigenen Avantgardeforschung jenseits sog. »Hotspots der Moderne« (allen voran: Paris) geleistet werden. Damit wird auf die Destabilisierung der Diskursmuster von Zentrum vs. Peripherie sowie West vs. Ost hingewirkt, zugunsten einer Idee radikaler Transnationalität der Avantgarden sowie Momenten des Transfers.87 Diese lassen sich exemplarisch anhand der von multiplen Dimensionen, Zugehörigkeiten, Orten und Sprachen geprägten Biografie und Kunstpraxis Billers symptomatisch nachvollziehen. Viertens, die umfassende Kritik der insgesamt überaus spärlich gebliebenen und oftmals unterkomplexen Rezeption Billers – entweder im Register der »Balkankünstlerin«, der »Kind-Künstlerin«, der vermeintlich »Geisteskranken« oder aber als Vertreterin einer jeweils nationalen Avantgardetradition – ist dieser Studie ebenfalls ein Anliegen. Fünftens, einem interventionistischen Impetus folgend, soll mit der Wiedereinschreibung Billers in kunsthistorische Forschungen und Historiografien der Moderne dem Unsichtbar-Machen dieser Künstlerin als einem unmittelbaren Resultat der NS-Gewaltverbrechen begegnet werden, ohne dabei eine ausschließlich viktimisierende Perspektive einzunehmen.

86 87

Vgl. William Rubin, Primitivismus in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts (München, 1984). S. 28f. Vgl. Béatrice Joyeux-Prunel, »Peripheral Circulations, Transient Centralities. The International Geography of the Avant-Gardes in the Interwar Period (1918-1940)«, Visual Resources, Nr. 35/3-4 (2019), S. 295-322.

1. Einleitendes

1.3

Material und Materialauswahl

Das bis heute erhalten gebliebene Oeuvrefragment Vjera Billers besteht aus lediglich acht Arbeiten, darunter die auf 1921-22 datierte Venedig-Serie – bestehend aus den fünf Blättern ›Gondel‹ (Abb. 1),88 ›Spaziergang durch Venedig‹ (Abb. 2),89 ›Markt‹ (Abb. 3),90 ›Osteria‹ (Abb. 4)91 und ›Piazza San Marco‹ (Abb. 5)92 –, die aufgrund ihres geschlossenen Charakters im Hauptfokus meiner Bildanalysen stehen werden. Alle diese Arbeiten befinden sich heute in der Sammlung des Serbischen Nationalmuseums in Belgrad, waren allerdings ursprünglich in einer Mappe im Nachlass Ljubomir Micićs aufgetaucht, der seit 1982 Teil des dortigen Sammlungsbestands ist.93 In dieser Mappe befand sind auch die Arbeit ›Alte Kastanienverkäuferin‹ (Abb. 6), die sich heute in der Sammlung der Ungarischen Nationalgalerie in Budapest befindet.94 Mitte der 1980er Jahre erhielt das Haus Billers Kastanienverkäuferin seitens des Serbischen Nationalmuseums in einem gut dokumentierten Tausch für ein Portait Branko Ve Poljanskis aus der Feder Lajos Tihanyis.95 Daneben haben sich zwei dem Zenit zuzuordnende Arbeiten Billers in Pastell – ›зенит/Zenit‹ (Abb. 7)96 und ›пет година зенита/Pet godina Zenita‹ (»Fünf Jahre Zenit«) (Abb. 8)97 – erhalten. Letztere hat in Reproduktion überdies Eingang in die Zenit-Ausgabe 38 von Februar 1926 gefunden (Abb. 9).98 Der farbigen Originalzeichnung in Pastell im Serbischen Nationalmuseum steht somit die schwarz-weiße Reproduktion im Journal gegenüber, die im Zenit-Archiv der Serbischen Nationalbibliothek vorliegt. Dort findet sich die vollständige Journal-Reihe mit 43 Nummern in 34 Ausgaben,

88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98

Vjera Biller: ›Gondel‹ (1921-22), Schwarzlinienschnitt in Linoleum, 24,3 x 32,6 cm, Serbisches Nationalmuseum, Belgrad. Sig. 35_2886. Vjera Biller: ›Markt‹ (1921-22), Schwarzlinienschnitt in Linoleum, 32,6 x 24,3 cm, Serbisches Nationalmuseum, Belgrad. Sig. 35_2885. Vjera Biller: ›Osteria‹ (1921-22), Weißlinienschnitt in Linoleum, 33,0 x 24,0 cm, Serbisches Nationalmuseum, Belgrad. Sig. 35_2884. Vjera Biller: ›Piazza San Marco‹ (1921-22), Schwarzlinienschnitt in Linoleum, 33,0 x 24,5 cm, Serbisches Nationalmuseum, Belgrad. Sig. 35_2883. Vjera Biller: ›Spaziergang durch Venedig‹ (1921-22), Weißlinienschnitt in Linoleum, 32,9 x 24,1 cm, Serbisches Nationalmuseum, Belgrad. Sig. 35_2884. Vgl. Subotić, »Vjera Biller. Malerin der urbanen Naiven Kunst«. S. 25. Vgl. Vjera Biller: ›Alte Kastanienverkäuferin‹ (1921-22), Weißlinienschnitt in Linoleum, 33,1 x 24,2 cm, Ungarische Nationalgalerie, Budapest. Sig. 91.72331. Vgl. Subotić, »Vjera Biller. Malerin der urbanen Naiven Kunst«. S. 25. Vjera Biller: ›зенит/Zenit‹ (1924), Pastell auf Papier, 46,8 x 60,3, Serbisches Nationalmuseum Belgrad. Sig. 32_1639 Vjera Biller: ›пет година зенита/Pet godina Zenita‹ (»Fünf Jahre Zenit«) (1926), Pastell auf Papier, 62,3 x 47,7 cm, Serbisches Nationalmuseum Belgrad. Sig. 32_1638. Vgl. Vjera Biller: ›пет година зенита/Pet godina Zenita‹ (1926), in Zenit, Nr. 38 (1926), o. S. [S. 3].

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Vjera Biller und das Kindliche

die zudem im Jahr 2017 im Rahmen eines umfassenden Digitalisierungsprojekts bearbeitet und online zugänglich gemacht worden ist.99 Eine weitere Arbeit Billers, deren Original indes nicht erhalten geblieben ist, wurde in der Nummer 25 von Februar 1924 abgedruckt: ›Eisenbahn‹ (Abb. 10).100 Frühere Arbeiten Billers vor dem Jahr 1921, die den im Sturm-Expressionismus und anschließend im Zenit rezipierten Exemplaren vorausgehen, konnten nicht (mehr) ermittelt werden – auch keine einzige jener Grafiken, die im Rahmen der 1919 in Budapest veranstalteten MA-Grafik-Ausstellung gezeigt worden waren. Jenseits dieses soeben skizzierten, sehr kleinen Oeuvrefragments der Künstlerin geben allerdings auch die Ausstellungskataloge der verschiedenen, internationalen Avantgardekontexten, in denen Biller im Verlauf der 1920er Jahre sichtbar geworden ist, Aufschluss über den Umfang und die Leitmotivik ihrer Kunstpraxis, darunter der Index der soeben erwähnten Ausstellung in Budapest (›Katalogus a Ma grafikai VII. kiállitásához‹) (Abb. 11),101 die Kataloge der Berliner Sturm-Galerie (Abb. 12-23)102 zwischen 1921 und 1922 sowie der im Zenit-Magazin publizierte Ausstellungskatalog im Nachgang der Ersten, Internationalen Zenit-Ausstellung in Belgrad von 1924 (Abb. 24).103 Von den in allen drei Ausstellungskontexten präsentierten Arbeiten der Künstlerin hat sich keine einzige erhalten. Allein im Katalog der 98. Sturm-Ausstellung vom Juni 1921 findet sich der Verweis auf Billers ›Eisenbahn‹,104 die drei Jahre später 1924 im Zenit-Magazin wiederabgedruckt wird und somit heute zumindest noch in Reproduktion vorliegt.

99 100 101 102

103

104

 Vgl. https://digitalna.nb.rs/sf/NBS/Tematske_kolekcije/procvat_pismenosti/NBS6_casopisi_a vangarde/P_4284 (zuletzt aufgerufen am: 24.08.2021). Vgl. Vjera Biller: ›Eisenbahn‹ (1924), in Zenit, Nr. 25 (1924), o. S. [S. 9]. Vgl. Kassák, »Katalogus. A Ma grafikai (VII.) kiállitásához«. o. S. [S. 1]. Vgl. die folgenden Sturm-Ausstellungskataloge, in denen Biller namentlich erwähnt wird: Sturm-Katalog (Mai 1921): 98. Ausstellung (»Rudolf Bauer Vjera Biller, Gesamtschau«), o. S. [S. 1-2]. Sturm-Katalog (Juli/August 1921): 99. Ausstellung, o. S. [S. 1, 5]. Sturm-Katalog (September 1921): 100. Ausstellung (»Zehn Jahre Sturm, Gesamtschau«), S. 1, 4. Sturm-Katalog (Dezember 1921): 103. Ausstellung, S. 1, 8. Sturm-Katalog (Januar 1922): 104. Ausstellung, o. S. [S. 1, 5]. Sturm-Katalog (Februar 1922): 105. Ausstellung, o. S. [S. 1-2]. Sturm-Katalog (Mai 1922): 108. Ausstellung, o. S. [S. 1, 4]. Sturm-Katalog (Juni/Juli 1922): 109. Ausstellung, o. S. [S. 1-2]. Sturm-Katalog (August 1922): 110. Ausstellung, o. S. [S. 1-2]. Sturm-Katalog (September 1922): 111. Ausstellung, o. S. [S. 1-2]. Sturm-Katalog (Oktober 1922): 112. Ausstellung, o. S. [S. 1-2]. Sturm-Katalog (Dezember 1922): 114. Ausstellung, o. S. [S. 1-2]. Vgl. Ljubomir Micić, »Во Имја Зенитизма. Каталог Прве зенитове међународне изложбе у Београду 1924 г./Vo Imja Zenitizma. Katalog Prve zenitove međunarodne izložbe u Beogradu 1924 g.« (»Im Namen des Zenitismus. Katalog der Ersten Internationalen Zenit-Ausstellung in Belgrad 1924«). o. S. [S. 3]. Vgl. Sturm-Katalog (Mai 1921): 98. Ausstellung (»Rudolf Bauer Vjera Biller, Gesamtschau«), o. S. [S. 1-2].

1. Einleitendes

In Ergänzung des soeben skizzierten, bildkünstlerischen Materials, das im Hauptfokus meiner Bildanalysen stehen wird, bilden die sieben Briefe aus der Feder Vjera Billers an Ljubomir Micić, die sich in dessen Nachlass erhalten haben und 1983 in bosnisch-kroatisch-serbischer Übersetzung publiziert worden sind,105 einen weiteren Teil des Fundus an Originalmaterialien. Diese Schreiben, die in ihrer floskelhaften Kürze und pragmatischen Präzision den Eindruck von künstlerischer Zusammenarbeit auf Sachebene vermitteln, haben sich indes durch die hier verschriftlichten biografischen Informationen, die Biller im Vorfeld ihrer Teilnahme an der ersten Zenit-Großausstellung in Belgrad an Micić weitergibt, als besonders aufschlussreich erwiesen. Die Transkriptionen der Biller’schen Briefe aus Micićs Nachlass werden hiermit erstmalig in der deutschen Ursprungsfassung bearbeitet und abgedruckt.106

1.4 1.4.1

Forschungsstand Vjera Biller und die Avantgarden der 1920er Jahre

Bedingt durch das in den letzten Jahren gesteigerte Forschungsinteresse, dessen sich der Berliner Sturm-Expressionismus erfreut, ist Vjera Biller als »SturmKünstlerin« verstärkt ins Blickfeld der deutschsprachigen Kunstgeschichte(n) gerückt worden. Die Kunstschau ›Sturm-Frauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910-1932‹, die von Oktober 2015 bis Februar 2016 in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt a.M. zu sehen war,107 hat das Biller’sche Oeuvre erstmals einem breiteren Publikum in Deutschland vorgestellt108 und einen maßgeblichen Akzent in Hinblick auf die nach wie vor nur unzureichende Sichtbar-Werdung nichtmännlichen Kunstschaffens in Avantgardekontexten geliefert. Vjera Biller war in dieser Ausstellung mit insgesamt sechs Linoleumschnitten vertreten, darunter die

105 Vgl. Golubović, »Pisma Vjere Biller Ljubomiru Miciću (Književni arhiv Ljubomira Micića 4)«. Die Übersetzungen aus dem Deutschen stammen von Josip Babić. 106 Vgl. Quellenteil I. 107 ›Sturm-Frauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910-1932‹ in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt a.M., Oktober 2015 – Februar 2016. 108 Bis dato sind Billers Arbeiten in folgenden Museumsausstellungen zu sehen gewesen: Zenit i avangarda dvadesetih godina, Serbisches Nationalmuseum, Belgrad, Februar-März 1983. Konstruktywizm w Jugosławii. Zenit i jego krąg 1921-1926, Muzeum Sztuki, Lodz, Oktober 1986. Az avantgárd Jugoszláviában. A Zenit-kör 1921-1926, Ungarische Nationalgalerie, Budapest, Dezember 1986 – Januar 1987. Prodori avangarde u hrvatskoj umjetnosti prve polovice 20. stoljeća, Glyptothek HAZU (Hrvatska Akademija Znanosti i Umjetnosti, Kroatische Akademie der Wissenschaften und der Künste), Zagreb, August 2007. Vgl. Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 10-11.

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Vjera Biller und das Kindliche

fünf Blätter der Venedig-Serie von 1921-22 sowie die Arbeit ›Alte Kastanienverkäuferin‹. Der kuratorische Leitfaden sowie die forcierte Besucher:innenführung der Schau hatte jedoch stets die Einbindung der einzelnen Künstlerinnenfiguren in das Lebenswerk ihres »väterlichen« Fürsprechers und Mentors Herwarth Walden zum Ausgangspunkt.109 Diese Rezeption des Sturms und Billers als »SturmKünstlerin« bleibt, wie auch im Falle der übrigen Frauenfiguren der Frankfurter Kunstschau, folglich überaus stark an die männliche Persona des Sturm-Gründers Herwarth Walden geknüpft und findet sich sowohl in älteren110 als auch neueren111 Publikationen zum Thema im Sinne eines geschlechterlogisch organisierten Diskursmusters. Zwei dicht aufeinander folgenden Konferenzen anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Sturm-Zeitschrift in Berlin112 und Stuttgart113 verfolgten ganz ähnliche inhaltliche Stoßrichtungen. Erstere wurde indes unter der Leitung von ›DER STURM. Förderverein Kunst und Kultur e.V.‹ veranstaltet, einem Zusammenschluss von zur Sturm-Thematik forschenden (Kunst)-Historiker:innen um Sina Walden, der Tochter Herwarth Waldens, mit Sitz in Frankfurt a.M..114 In Reaktion auf diese ihrer Tendenz nach einseitige Sturm-Rezeption, die in der prominenten Figur eines männlichen Gründers, Urhebers und Ideengebers zentriert bleibt, gelang es Maike Moniek van Rijn mit ihrer 2013 erschienenen Dissertation ›Bildende Künstlerinnen im Berliner Sturm der 1910er Jahre‹, wichtige 109 Vgl. exemplarisch die Überschrift des Einleitungs-Essays von Ingrid Pfeiffer aus dem ausstellungsbegleitenden Katalog: »Sturm-Frauen. Oder wie Herwarth Walden in großem Stil die Künstlerinnen der Avantgarde gefördert hat«, in Sturmfrauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin. Ausst.Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt a.M., hg. von Max Hollein und Ingrid Pfeiffer (Frankfurt a.M., 2015), S. 12-23. 110 Vgl. exemplarisch Georg Brühl, Herwarth Walden und der Sturm (Leipzig/Köln, 1983) und Volker Pirsich, Der Sturm. Eine Monografie (Göttingen, 1985). 111 Vgl. Freya Mülhaupt, Hg., Herwarth Walden (1878-1941). Wegbereiter der Moderne (Berlin, 1991); Robert Hodonyi, Herwarth Waldens Sturm und die Architektur. Eine Analyse zur Konvergenz der Künste in der Berliner Moderne (Bielefeld, 2010); Irene Chytraeus-Auerbach und Elke Uhl, Hg., Der Aufbruch in die Moderne. Herwarth Walden und die europäische Avantgarde (Stuttgart, 2013). Sowie jüngst die Beiträge von Ingrid Fürhapter und Markus Ender (»Herr Walden ist leider anderer Meinung wie Sie.«, S. 3-25), von Ann-Katrin Günzel (Von der futuristischen serata zur dadaistischen soirée über die Vermittlung Herwarth Waldens und des Sturm«, S. 59-82), von Friederike Kitschen (»Herwarth Walden und die Kunstkritik«, S. 83-100) und von Kirsten Fitzke (»Herwarth Walden und der politische Aufbruch der Avantgarde nach dem Ersten Weltkrieg«, S. 317-336), alle in: Henriette Herwig und Andrea von Hülsen-Esch, Hg., Der Sturm. Literatur, Musik, Grafik und die Vernetzung in der Zeit des Expressionismus (Berlin/Boston, 2015). 112 Der Sturm. Avantgarde der Kunst in Berlin. Internationales Symposium zum 100-jährigen Jubiläum der Sturm. 14.-15. Oktober 2010, Max-Liebermann-Haus, Berlin. 113 Aufbruch in die Moderne. Herwarth Walden und die europäische Avantgarde. 26-27. November 2010 im Schauspielhaus Stuttgart. 114 Vgl. DER STURM. Förderverein Kunst und Kultur e.V. unter https://dersturm.wordpress.com (letzter Aufruf: 08.07.2021).

1. Einleitendes

Impulse zur inhaltlichen Erweiterung dieses Forschungsdiskurses jenseits solch etablierter Schemata zu setzen.115 Van Rijns Interesse konzentriert sich dabei auf die künstlerischen Arbeiten und Nachlässe von insgesamt fünf Künstlerinnen, zu denen Gabriele Münter, Maria Uhden, Jacoba van Heemskerck, Marianne von Werefkin und Nell Walden gehören, und analysiert Ego-Dokumente wie Briefe, Postkarten und Tagebucheinträge. Mit Ausnahme von Werefkin ist die Forschungsarbeit damit ausschließlich Künstlerinnen gewidmet, die sich vordergründig im westeuropäischen Kontext verorten lassen. Vjera Biller findet keinerlei Erwähnung. Auch die vertiefende Analyse der jeweiligen Bildkorpora dieser Sturm-Künstlerinnen rückt in den Hintergrund, zugunsten einer biografistischen Auseinandersetzung mit Schriftzeugnissen privater Natur, die die künstlerischen Praktiken (fast) völlig vernachlässigt. Dennoch möchte ich mich an dieser Stelle van Rijns Kritik an der fehlenden inhaltlichen – und, wie hinzuzufügen wäre: transnationalen sowie methodischen – Diversität der Künstlerinnenforschung anschließen.116 Das Unsichtbar-Bleiben Vjera Billers selbst in solchen, durchaus feministischkritisch motivierten Forschungen, hängt meines Erachtens mit einem Moment der doppelten Marginalisierung zusammen, das – sofern Biller überhaupt Erwähnung findet – dann erneut ihre vermeintliche Außenseiterinnenposition als »Balkan-Künstlerin« fokussiert. Ein solcher Duktus lässt sich anhand des anlässlich der Sturm-Frauen-Ausstellung publizierten Katalogbeitrags (in deutscher Übersetzung) von Irina Subotić ›Vjera Biller. Malerin der urbanen Naiven Kunst‹ exemplifizieren,117 der nicht nur Billers Geburtsort Đakovo betont, sondern ihre künstlerischen Erfolge in der internationalen Avantgarde der Zwischenkriegszeit abermals entlang des bereits skizzierten und geschlechterlogisch organisierten Schemas stets an männliche Figuren rückbindet: zunächst an ihre Bekanntschaft mit Lajos Kassák und Lászlo Péri in der Budapester MA-Gruppe, dann an Herwarth Walden im Berliner Sturm und schließlich an Ljubomir Micić, den Gründer des Zenitismus, in Zagreb und Belgrad. Billers vielschichtiger Kunstpraxis hingegen sind nur wenige Abschnitte gewidmet, am Ende des Artikels wird die Künstlerin schließlich als »naive Kindermalerin«118 bezeichnet. Die wohl umfassendste »Balkanisierung« Billers im deutschsprachigen Fachdiskurs steht allerdings in Zusammenhang mit dem von Karla Bilang veröffentlichten Künstlerinnenverzeichnis ›Frauen im Sturm‹, das 2013 in Berlin erschienen ist und neben Subotićs Studien

115 116 117 118

Vgl. Maaike Moniek van Rijn, Bildende Künstlerinnen im Berliner Sturm der 1910er Jahre. Dissertation (Tübingen, 2013). Vgl. Ebd. S. 20. Vgl. Subotić, »Vjera Biller. Malerin der urbanen Naiven Kunst«. Ebd. S. 27.

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Vjera Biller und das Kindliche

als Standardreferenz zitiert wird.119 In einem Kapitel mit dem gleichermaßen sprechenden wie diskutablen Titel ›Avantgarde vom Balkan‹ widmet sich die Autorin sowohl Biller als auch der bulgarischen Künstlerin Mascha Jiwkova-Usunova und etabliert beide über den Nexus der Balkan-Terminologie im Sinne eines randständigen Phänomens unter den Künstlerinnen der Moderne. Auf meine bereits hier anklingende Kritik an der Alterisierung des Biller’schen Oeuvres durch die westeuropäische Sekundärliteratur als ein vermeintlich »naives« sowie folkloristisches, und damit spezifisch »balkanisches« wird im Rahmen meiner Bildanalysen erneut zurückzukommen sein. Ferner ist mit dem Hinweis auf die Betonung des Biller’schen Geburtsorts in Subotićs Katalogbeitrag120 auch auf eine weitere Problematik verwiesen, die neben der »Balkanisierung« der Künstlerin ihre Rezeption in der Kunstgeschichtsschreibung der Länderkontexte Ungarns und Ex-Jugoslawiens bestimmt: die Ausdeutung ihrer Biografie sowie ihres Oeuvres entlang von Nationalzuschreibungen. Éva Bajkay nimmt diese beispielsweise im Register des Ungarischen vor,121 während Subotić und allen voran Mirko Ćurić in seiner jüngst erschienenen Monografie Biller, ungeachtet ihrer von Momenten der Transnationalität und der Multiperspektivität geprägten Biografie, als Künstlerin in einer dezidiert kroatischen Avantgardetradition verstanden wissen will.122 Der Zenitismus wird dabei als Artikulation einer

119

Vgl. Karla Bilang, »Avantgarde vom Balkan. Vjera Biller (Belgrad) und Mascha JiwkowaUsunowa (Sofia)«, in Frauen im Sturm. Künstlerinnen in der Moderne (Berlin, 2013), S. 230-238. 120 Subotićs Studien gelten indes seit Mitte der 1980er Jahre als Standardwerke der ZenitismusForschung. Vgl. Irina Subotić, Hg., Az avantgárd Jugoszláviában a Zenit-kör. Ausst.Kat. Nationalgalerie Budapest (Budapest, 1986); Irina Subotić, »Istorijske avangarde. Dadaizam – Zenitizam – Nadrealizam«, in Od Avangarde do Arkadije (Belgrad, 2000), S. 2-10. Sowie Irina Subotić, »Zenitism, Futurism. Similarities and Differences«, in International Yearbook of Futurism Studies, hg. von Günter Berghaus (Rom, 2011), S. 201-230. 121 »In the collective exhibition (Gesamtschau), which was linked to this, the best of the abstract Expressionists […] were featured with a selection of between two and six works each. Biller Vjera from Southern Hungary, who was already known from the January 1919 graphics exhibition of MA, also exhibited at this show. « Éva Bajkay, »Under the Spell of Der Sturm in Berlin«, http://mattis.kfki.hu/english/tanulman/7/tanulma7.html (letzter Aufruf: 08.07.2021). Zur MAAvantgarde vgl. grundlegend Krisztina Passuth, Treffpunkte der Avantgarden. Ostmitteleuropa 1907-1930 (Budapest, 2003). S. 22-46. Sowie Pál Deréky, Zoltán Kékesi und Pál Kelemen, Hg., Mitteleuropäische Avantgarden. Intermedialität und Interregionalität im 20. Jahrhundert (Frankfurt a.M., 2006). S. 32-45. 122 Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 46: »Éva Bajkay […] Vjeru Biller naziva ›slikaricom iz južne Mađarske‹, ali je jasno da ona nije podrijetlom iz Mađarske već samo sudjeluje kraće vrijeme u najvažnijem mađarskom avangardnom […]«./»Éva Bajkay […] bezeichnet Vjera Biller als ›Malerin aus Südungarn‹, aber es ist eindeutig, dass sie eigentlich nicht ungarischer Herkunft ist, sondern nur für kurze Zeit an der wichtigsten, ungarischen Avantgarde teilnimmt.«

1. Einleitendes

solchen nationalen Avantgardetradition sowohl von kroatischer als auch von serbischer Seite beansprucht.123 Eine weitere, dritte Marginalisierungsebene ergibt sich – neben den bereits erwähnten Alterisierungs- und Nationalisierungstendenzen in der spärlichen Rezeption Billers – durch die auffällige Pathologisierung der Künstlerin, die vor allem Mirko Ćurić in seiner jüngsten Publikation forciert, die sich jedoch bereits in Aleksandar Flakers ›Nomadi ljepote‹ von 1988 angekündigt hatte, in dem der Autor Biller nur am Rande, allerdings in direktem Zusammenhang mit dem Schlagwort des »Infantilismus« erwähnt.124 Diese Deutung aufgreifend und vor dem Hintergrund eines attestierten »Infantilismus« ins Pathologische zuspitzend, interpretiert Ćurić mit Verweis auf Billers wiederholte Klinikaufenthalte in den Jahren 19351940 ihr Oeuvre nun explizit als die Artikulation einer »infantilen Kind-Künstlerin« und »Geisteskranken«.125 Über den unkritischen Gebrauch eines weitläufig dem Freud’schen Vokabular entlehnten Regressions-Begriffs wird Billers Leitmotiv – das Kindliche – folglich als Krankheitssymptom ausgedeutet. Eine breitere Rezeption des Zenitismus hat indes innerhalb der Literaturwissenschaften im Kontext der SFRJ bereits mit Aleksandar Flakers Studie ›Formalna Metoda i Njezina Sudbina‹ in den 1960er Jahren eingesetzt.126 Anschließend führte der 1977 veröffentlichte Artikel von Zoran Markus zu innerfachlichen Debatten.127 Bezugnehmend auf jenen im Zenit-Magazin publizierten Text von 1926, der unter dem Titel ›Зенитизам кроз призму марксизма/Zenitizam kroz prizmu Marksizma‹ (»Der Zenitismus durch das Prisma des Marxismus«) die Sympathien der Bewegung für Kommunismus und Marxismus ausformuliert und damit den politisch motivierten Anlass für das endgültige Verbot der Zenit-Zeitschrift geliefert hatte,128 argumentierte Markus zugunsten einer marxistisch-leninistischen Weltanschauung dieser Avantgarde jenseits nationalistischer Verflechtungen. Infolgedessen wurde der Autor mit dem Vorwurf der Unterschlagung von Ljubomir

Vgl. Marijeta Božović, »Zenit Rising. Return to a Balkan Avant-Garde«, in After Yugoslavia. The Cultural Spaces of a Vanished Land, hg. von Radmila Gorup (Stanford, 2013), S. 135-146. 124 Vgl. Aleksandar Flaker, Nomadi ljepote. Intermedijalne studije (Zagreb, 1988). S. 236. 125 »Budući da znamo kako je kod Vjere Biller od djetinjstva postojala i latentna duševna bolest […], moguće je shvatiti njen odnos prema djeci i djetinjstvu i kao ›znak nazadovanja‹.« Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 62. »Weil wir wissen, dass Vjera Biller seit ihrer Kindheit an einer latenten Geisteskrankheit litt […], kann man ihr Verhältnis zum Kind und zur Kindheit als ›Symptom der Regression‹ verstehen.« 126 Vgl. Aleksandar Flaker, »Formalna Metoda i Njezina Sudbina«, in Stilovi i Razdoblja (Zagreb, 1964), S. 70-91. 127 Vgl. Zoran Markus, »Zenitizam i Avangardni Pokreti u Zapadnoj Evropi«, Delo, Nr. 3 (1977), S. 30-42. 128 Vgl. Ljubomir Micić, »›Зенитизам кроз призму марксизма/Zenitizam kroz prizmu Marksizma‹ (»Der Zenitismus durch das Prisma des Marxismus«)«, Zenit, Nr. 43 (1926), S. 12-53. 123

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Vjera Biller und das Kindliche

Micićs Serbo-Nationalismus und Anti-Jugoslawismus konfrontiert.129 Die in den darauffolgenden Jahren im Feld der Kunstgeschichten und nicht zuletzt zwischen Belgrad und Zagreb geführte fachliche Auseinandersetzung um die politische sowie nationale Verortung des Zenitismus verhalf dieser Avantgarde-Bewegung auch verstärkt zu populärmedialer Präsenz, die 1980 im Erscheinen von ›Splav Meduze‹ kulminierte, jenem episodenhaften Filmbeitrag zum Zenitismus unter der Regie von Karpo Ačimović-Godina, der diese Zwischenkriegsavantgarde mit kineastischen Mitteln re-aktualisiert hat.130 Marijeta Božović hat indes in ihrem 2013 erschienenen Beitrag ›Zenit Rising‹ die im Grunde rivalisierenden Tendenzen in der Aufarbeitung des Zenitismus zwischen Belgrad und Zagreb thematisiert.131 Diese Tendenzen hätten überdies zu einer »veritable flood of articles, books, monographs, exhibits […] on the subject [of Zenitism, Anm. MW]«132 geführt. Als Beispiele hierfür ließe sich auf die jeweils fast zeitgleich in Belgrad und in Zagreb herausgegebenen Zenit-Monografien aus dem Jahr 2008 verweisen,133 ebenso die Faksimile-Edition der Gesamtausgaben der Zenit-Magazinreihe, die unter anderem Eingang in die Sammlung der ›Ubu Gallery‹ in New York gefunden hat,134 die wiederum seit mehreren Jahren ZenitExponate sammelt und bereits seit 2012 publikumswirksam ausstellt.135 Das von Irina Subotić und Vidosava Golubović herausgegebene Belgrader Kompendium, das in Kooperation mit der Serbischen Nationalbibliothek erschienen ist, behandelt – erneut mit Fokus auf den beiden männlichen Protagonisten der Bewegung, Ljubomir Micić und dessen Bruder Branislav – den Entstehungskontext der Bewegung in Zagreb Anfang der 1920er Jahre, die Übersiedlung nach Belgrad 1924 sowie das produktive Nebeneinander von expressionistischen, futuristischen und dadaistischen Ästhetiken innerhalb dieser Bewegung.136 Ferner widmen sich seit Beginn der 2000er Jahre kunsthistorische Fachbeiträge mit jeweils divergierenden Vereinnahmungsstrategien verstärkt dem Zenitismus, wie beispielsweise der 129

Vgl. Branko Aleksić, »Legenda o Zenitu ni sa Stitom ni na Stitu ili izmedju nitizma i antinitizma«, Kultura & Kritika, Nr. 11 (1981), S. 179-92. Sowie Radomir Konstantinović, »Ljubomir Micić «, Bice i Jezik, Nr. 5 (1983), S. 355-357. 130 Sezgin Boynik, »Marxist-Leninist Roots of Zenitism. On Historical Avant-Garde Corrections Introduced by Karpo Godina’s film ›Splav Meduze‹«, in On the Cinema of Karpo Godina, or a Book in 71383 Words, hg. von Frankfurt Filmkollektiv (Frankfurt a.M., 2013), S. 133-139. Hier S. 137. 131 Vgl. Božović, »Zenit Rising. Return to a Balkan Avant-Garde«. 132 Ebd. S. 135. 133 Vgl. Vidosava Golubović, »Eksperiment Zenita«, in Zenit i avangarda 20ih godina. Ausst. Kat. Narodni muzej Beograd, Institut za kniježevnost i umetnost, hg. von Irina Subotić und Jevta Jevtović (Belgrad, 1983), S. 35-48. 134 Vgl. Božović, »Zenit Rising. Return to a Balkan Avant-Garde«. S. 135. 135 Vgl. Ebd. 136 Vgl. Irina Subotić und Vidosava Golubović, Zenit 1921-1926 (Belgrad, 2008). Sowie Marinko Sudac, Zenit, Ausst.Kat. Muzej Avangarde (Zagreb 2008).

1. Einleitendes

Artikel von Dragan Kujundzić und Jasna Jovanov zum Yugo-Dada (Zenit als jugoslawische Avantgarde),137 Darko Šimičićs ›Strategije u borbi za novu umjetnost. Zenitizam i Dada u srednjoeuropskom kontekstu‹ (Zenit als kroatische Avantgarde)138 sowie Gojko Tešićs ›Otkrovenje srpske avangarde‹ (Zenit als serbische Avantgarde).139 Insbesondere Tešićs teils offenkundig chauvinistische Argumentationsführung hinsichtlich einer vermeintlich ungebrochenen nationalen Avantgardetradition140 ist von Božović mit Blick auf das Fortschreiben ethnifizierter und ethnifizierender, nationaler Identitätspolitiken kritisiert worden.141 Unter Betonung von Momenten transnationaler Zusammenarbeit und Vernetzung der Avantgardeströmungen der Zwischenkriegszeit über Ländergrenzen hinweg haben indes neben Božović sowohl Jasmina Čubrilo142 als auch Laurel Voloder und Tyrus Miller für eine jenseits solcher Vereinnahmungen verortete Dimension der Internationalität des Zenitismus argumentiert,143 ohne jedoch die bisweilen offenkundig serbischnationalistische persönliche Agenda Micićs in Abrede zu stellen.144 Zugleich ließe sich in den nur spärlich vorhandenen Beiträgen zur ZenitismusForschung aus dem deutschsprachigen Kontext auf eine sich dort abzeichnende

Vgl. Dragan Kujundzić und Jasna Jovanov, »Yugo-Dada«, in The Eastern Dada Orbit. Crisis and the Arts. The History of Dada 4, hg. von Gerald Janecek und Toshiharu Omuka (New York, 1998), S. 58-65. 138 Vgl. Darko Šimičić, »Strategije u borbi za novu umjetnost. Zenitizam i dada u srednjoeuropskom kontekstu«, in Moderna umjetnost u Hrvatskoj 1898-1975 (Zagreb, 2012), S. 40-65. 139 Vgl. Gojko Tešić, Otkrovenje srpske avangarde (Belgrad, 2002). Vgl. auch: Milan Grba, »Belgrade«, in Breaking the Rules. The Printed Face of the European Avant Garde 1900-1937, hg. von Stephen Bury (London, 2007), S. 74-76. 140 Zur Problematisierung und Kritik einer solchen, vermeintlich ungebrochenen Kultur- und Kunsttradition, die mit Božović die umfassenden Zäsuren der Kriegsjahre 1991 bis 1999 ignoriert: »Any post-Yugoslav art must in some way acknowledge and grapple with the legacies of very recent violence, and cannot simply resume the deferred potential of an interrupted avant-garde project.« Božović, »Zenit Rising. Return to a Balkan Avant-Garde«. S. 145. Als Beispiel eines derartigen und hier bereits im Titel wirksam werdenden Narrativs der Kontinuität vgl. exemplarisch: Dubravka Djurić und Misko Suvaković, Hg., Impossible Histories. Historical Avant-gardes, neo-Avant-gardes and post-Avant-gardes in Yugoslavia 1918-1991 (Cambridge, 2006). 141 Vgl. Božović, »Zenit Rising. Return to a Balkan Avant-Garde«. S. 146f. 142 Vgl. Jasmina Čubrilo, »Yugoslav Avant-Garde Review Zenit (1921-1926) and its Links with Berlin«, Centropa. A Journal of Central European Architecture and Related Arts, Nr. 12/3 (2012), S. 234-252. 143 Vgl. Laurel Seely Voloder und Tyrus Miller, »Avant-Garde Periodicals in the Yugoslavian Crucible«, in The Oxford Critical and Cultural History of Modernist Magazines. Europe 1880-1940, Bd. II, Germany, Austria, Switzerland, East Central Europe, Russia, The Soviet Union, and Ukraine, hg. von Peter Brooker (Oxford, 2013), S. 1099-1127. 144 Vgl. Božović, »Zenit Rising. Return to a Balkan Avant-Garde«. S. 142.

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Vjera Biller und das Kindliche

abermalige Überbetonung der Figur Micićs verweisen, die entweder den bereits skizzierten Geschlechterdiskursen im Sinne einer ingeniösen männlichen Schöpfer- und Gründungsgestalt folgen – etwa in Holger Siegels (nach wie vor singulärer) Studie zum Thema145 – oder aber die Person Micićs, aufgrund seiner bisweilen serbo-chauvinistischen Positionen, mit pejorativem Impetus als »provinziell«, »peripher« und somit als besonders »balkanisch« apostrophieren. Exemplarisch ließe sich ein solcher westozentrischer Duktus anhand von Matthias Müller-Lentrodts Ende der 1990er Jahre veröffentlichter Studie zu Yvan Goll nachvollziehen, in der dieser Künstler, ungeachtet seiner redaktionellen und inhaltlichen Beteiligung am Zenit-Magazin in den frühen 1920er Jahren, in direkter und geradezu dialektisch anmutender Opposition zum »Fanatiker« Micić als Pariser Kosmopolit kolportiert wird.146 Über die Figur Micićs organisiert Müller-Lentrodt in generalisierender Stellvertreterposition die Disqualifizierung der gesamten Zenit-Avantgarde, in der der Autor lediglich »eine Art BalkanVersion des internationalen Modernismus und eklektizistische Kreuzung von futuristischen und expressionistischen Thesen«147 zu erkennen glaubt, die sich überdies – so Müller-Lentrodts Wertung – »zum Zeitpunkt der Entstehung der Zenit-Bewegung 1921 [in Westeuropa, Anm. MW] schon überlebt«148 gehabt hätten. Im breiteren Spannungsfeld von national(istisch)er Vereinnahmung, geschlechterlogischen Deutungsmustern sowie virulenten Westozentrismen, bleibt die kunsthistorische Rezeption Vjera Billers letztlich von deutlichen Marginalisierungsmomenten geprägt, die um die folgenden Kategorisierungen kreisen: »das Weibliche«, »das Jüdische«, »das (Süd-)Osteuropäische« sowie »das Infantile/Geisteskranke«. Im Anschluss an diese Skizzierung des Forschungsstands zu Vjera Biller und dessen diskursiven Leitfäden soll nun ein kurzer Aufriss der akademischen Aufarbeitung der für diese Monografie ebenso bedeutsamen Denkfiguren Vgl. Holger Siegel, Hg., In unseren Seelen flattern schwarze Flaggen. Serbische Avantgarde 19181939 (Leipzig, 1992). Der Buchtitel entstammt dem Zenitistischen Manifest von 1921, für das Goll, Micić und Branko Ve Poljanski verantwortlich zeichneten. Siegels Studie gilt indes, nicht zuletzt aufgrund eines veritablen Mangels an Alternativen, noch immer als verlässlichstes Referenzwerk zur Texproduktion des Zenitismus in deutscher Sprache und widmet sich ausführlich den Schriften Micićs, Ve Poljanskis sowie weiterer zenitistischer Autoren. Es ist Siegels profunder Sprachkenntnis in BKS zu verdanken, dass das Buch ein weitreichendes, zenitistisches Textkorpus wiedergibt, bei dem es sich fast ausnahmslos um Erstübersetzungen ins Deutsche handelt. Allerdings finden Beiträge aus dem Bereich der Bildenden Künste bei Siegel keine ausführliche Besprechung, Verweise auf nicht-männliche Akteur:innen im Zenitismus fehlen völlig. 146 Vgl. Matthias Müller-Lentrodt, Poetik für eine brennende Welt. Zonen der Poetik Yvan Golls im Kontext der europäischen Avantgarde (Paris/Berlin, 1997). S. 94. 147 Ebd. S. 95. 148 Ebd. S. 104.

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1. Einleitendes

des Primitiven, des Kindlichen sowie des Barbarischen im Sinne ästhetischer sowie ideologischer Archaismen im Feld der Künste vor dem Zeithorizont der 1920er Jahre geliefert werden.

1.4.2

Künstlerische Archaismen

Vor allem der im Fach Kunstgeschichte sowie innerhalb des sich professionalisierenden Ausstellungswesens, des Kunstmarkts und der Kunstkritik kolportierte Mythos einer frühkindlichen Berufung des ingeniösen Künstlers hat in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das Interesse am Kindlichen in der Kunst innerhalb verschiedenster Avantgarden befördert.149 So haben beispielsweise zahlreiche Studien zum Sturm-Künstler Paul Klee gezeigt, dass dieser nicht nur die Kinderzeichnungen seines Sohnes aus dessen Kleinkindalter goutierte, sondern darüber hinaus sogar dazu überging, eigene Zeichnungen aus Kindertagen nachträglich zu signieren.150 Wie Robert Goldwater in seiner Studie bereits 1937 betont hat, waren schon die diversen Lebensreformbewegungen im Laufe des 19. Jahrhunderts maßgeblich an der Etablierung eines solchen »Kults des Kindes«, oder vielmehr: des Kindlichen, beteiligt gewesen.151 In diesem Zusammenhang ist indes mehrfach kritisch angemerkt worden, dass die lebensreformerische Rezeption Nietzsche’anischer, Langbehn’scher sowie Steiner’scher Thesen zum Kindlichen seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch zunehmend in rassistische und eugenische Bahnen gelenkt worden ist.152 Im Kontext von Dadaismus und Futurismus ist zudem eine überaus starke Tendenz zur Re-Infantilisierung des Künstlerischen konstatiert worden: Beispielsweise hatten die Futurist:innen 1911 explizit dazu aufgefordert, Kinderzeichnungen für die großangelegte Kunstausstellung ›Mostra d’arte libera‹ einzureichen, womit der futuristische Aufruf »Avanti dilettanti!« gewissermaßen wortwörtlich umgesetzt wurde.153 Hiermit verknüpfte Impulse einer Destabilisierung der (zumal akademischen) Position des Künstlers zugunsten der konsequenten Aufwertung künstlerischer Produktion sogenannter Dilettant:innen wurden mit geteiltem, anti-intellektuellem Impetus ebenfalls von den Avantgarden im post-re-

149 Vgl. Klaus von Beyme, Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905-1955 (München, 2005). S. 465. 150 Vgl. Michael Baumgartner, Hg., Klee und Cobra. Ein Kinderspiel (Ostfildern Ruit, 2011). S. 12-23. 151 Vgl. Robert Goldwater, Primitivism in Modern Art (New York, 1937). S. 192f. 152 Vgl. grundlegend: Peter Staudenmaier, Between Occultism and Nazism. Anthroposophy and the Politics of Race in the Fascist Era (Leiden, 2014). S. 90-91. Sowie jüngst Karl Braun, Felix Linzner, und John Khairi-Taraki, Hg., Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer »Aufrüstung« (Göttingen, 2019). S. 45-48. 153 Vgl. Lilli Weissweiler, Futuristen auf Europa-Tournee. Zur Vorgeschichte, Konzeption und Rezeption der Ausstellungen futuristischer Malerei (1911-1913) (Bielefeld, 2015). S. 18.

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Vjera Biller und das Kindliche

volutionären Russland aufgegriffen und weiterentwickelt.154 Die Vorbildfunktion des Kindlichen fand indes auch im Rahmen avantgardistischer Produktionstechniken und der dort verwendeten Medien großen Anklang: So hatten zahlreiche Künstler:innen der expressionistischen Bewegung ›Die Brücke‹ bereits vor dem Ersten Weltkrieg verlauten lassen, den Holz- und Linoleumschnitt neu belebt und von den Kindern wieder erlernt zu haben.155 Auch Vjera Billers bevorzugtes Medium ist der Linoleumschnitt, dessen Inanspruchnahme möglicherweise ein solches expressionistisches Verständnis als besonders »kindliche« Produktionstechnik zugrunde liegen mag. Eine derartige Anlehnung an Formen und ästhetische Gestaltung von Kinderkunst ist bisweilen mit dem bereits erwähnten Begriff des sog. »Infantilismus« beschrieben und innerhalb kunsthistorischer Forschungen zumeist mit Blick auf die Schriften Sigmund Freuds verhandelt worden.156 Als meistzitiertes und gewissermaßen diskursereignishaftes Primärwerk gilt dabei zudem auch Oscar Pfisters Schrift ›Der psychologische und biologische Untergrund des Expressionismus‹, in dem bereits zu dessen Erscheinungsdatum im Jahr 1920 die expressionistisch-avantgardistische Kunstproduktion als Primitivismus ausgedeutet wurde.157 Hiermit eng verknüpft sind ebenso die Schlagwörter des »Dilettantismus« sowie der »Naivität«, die wie Pfisters Schrift auf eine Unmittelbarkeit in der Perzeption und der Produktion des Künstlerischen verweisen, die dem Kindlichen attestiert wird. Beide werden vor allem in modernistisch-avantgardistischen Kontexten aufgegriffen und folgen der Überzeugung, dass das Kindliche als Signum künstlerischer Artikulationen gewissermaßen instinktgesteuert sei, während mit bisweilen anti-intellektuellem Impetus ein zeitgenössischer Akademismus für schuldig befunden wurde, eben diese künstlerischen »Instinkte« und Ursprünge »unterdrückt«, »korrumpiert« oder gar ganz »ausgelöscht« zu haben.158 In diesem Zusammenhang ist beispielsweise vermehrt auf das Oeuvre sowie die Selbstinszenierungsstrategien Henri Rousseaus, des Autodidakten und malenden Zöllners, der

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Vgl. exemplarisch: Nikolaj Tarabukin, »Von der Staffelei zur Maschine«, in Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde, hg. von Boris Groys (Frankfurt a.M., 2005), S. 416-476. Vgl. Christoph Kleinschmidt, Intermaterialität. Zum Verhältnis von Schrift, Bild, Film und Bühne im Expressionismus (Bielefeld, 2012). S. 88-90. Vgl. Larissa Kikol, Tollste Kunst – kindliche Ästhetik in der zeitgenössischen Kunst (Bielefeld, 2015). S. 63f. Sowie Sara Weld Pankenier, Voiceless Vanguard. The Infantilist Aesthetic of the Russian Avant-garde (Evanston, 2014). S. 55-57. Vgl. Oscar Pfister, Der psychologische und biologische Untergrund des Expressionismus (Bern, 1920). S. 133f. Vgl. Weld Pankenier, Voiceless Vanguard. The Infantilist Aesthetic of the Russian Avant-garde. S. 140f.

1. Einleitendes

noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in der Berliner Sturm-Galerie ausgestellt worden war, verwiesen worden.159 Sowohl dem Begriff des Dilettantischen als auch des Naiven sind jedoch Geschlechterlogiken miteingeschrieben, die in der kritischen Darlegung des Forschungsstands zu Vjera Biller und ihrer Mehrfachmarginalisierung bereits angeklungen sind und auf die an dieser Stelle erneut aufmerksam gemacht werden soll: Beide Zuschreibungen können als wirkmächtiger Exklusionsmechanismus für nicht-männliche Kunstproduktion funktionalisiert werden.160 Denn im Gegensatz zum »Ingeniösen«, »Meisterhaften« und »Schöpferischen« etablierter kunsthistorischer Genienarrative kann das Dilettantische, das Kindliche, das Naive im Sinne eines immer partikular und marginal Bleibenden keinerlei Universalgültigkeit beanspruchen und dient somit der Exklusion einer in dieser Form etikettierten Kunst und ihrer Produzent:innen – seien es nicht-männliche, nicht-weiße, nichtheterosexuelle, nicht-westeuropäische.161 Fernerhin ließe sich ein Forschungskonsens konstatieren, demzufolge die Etablierung des Kindlichen im Sinne eines »unmittelbaren« und damit »ursprünglichen« Kunstvermögens und Kunsterfahrens in den 1920er Jahren verstärkt und gleichermaßen durch die Fächer Kunstgeschichte und Psychologie fundiert worden sei, wie beispielsweise die interdisziplinären Studien von Nicola Gess oder Sander Gilman dargelegt haben.162 Letzterer hat insbesondere auf die Interdependenzen der Konzepte von »Rasse« sowie »Geschlecht« und ihrer künstlerischen Repräsentationen im Kontext von (freudianisch geprägter) Psychologie und Psychiatrie aufmerksam gemacht.163 Ausgewiesen wurde in diesem Zuge ferner auch die breite Rezeption von Gustav Friedrich Hartlaubs diskursmächtiger Publikation ›Der Genius im Kinde‹ aus dem Jahre 1922, die maßgeblich an der Etablierung des Kindlichen im Sinne eines ingeniösen Modus von Welt- und Kunstanschauung be-

Vgl. Götz Adriani, Henri Rousseau – Der Zöllner. Grenzgänger zur Moderne (Köln, 2001). S. 125. Sowie Kasper König und Falk Wolf, Hg., Der Schatten der Avantgarde. Rousseau und die vergessenen Meister (Essen, 2015). S. 74-78. Und jüngst: Philip Knee, »Rousseau and the Authority of Nature«, in Rousseau between Nature and Culture. Philosophy, Literature, and Politics, hg. von Anne Deneys-Tunney und Yves Charles Zarka (Boston, 2016), S. 27-44. 160 Vgl. Linda Nochlin, »›Why have there been no great women artists?‹ (1971)«, in The Linda Nochlin Reader, hg. von Maura Reilly (London, 2015), S. 42-68. 161 Vgl. Kathrin Hoffmann-Curtius und Silke Wenk, Hg., Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert (Marburg, 1997). S. 22-25. 162 Vgl. Nicola Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Paderborn, 2013). S. 245f. Sowie Sander L. Gilman, Seeing the Insane. A Cultural History of Madness and Art in the Western World (New York, 1982). Und Sander L. Gilman, Freud, Race and Gender (Princeton, 1993). 163 Vgl. Sander L. Gilman, Difference and Pathology. Stereotypes of Sexuality, Race, and Madness (Ithaca, 1994). 159

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Vjera Biller und das Kindliche

teiligt war.164 Zudem ist von beiden Autor:innen auf die Einbettung der avantgardistischen Denkfigur des Kindlichen in den breiteren Rezeptionskontext von Primitivismus, Archaismus und Exotismus im Feld der Künste verwiesen worden.165 Als Exotismus werden in diesem Zusammenhang meist die diversen »Modeerscheinungen« der Chinoiserien, Orientalismen und Japonismen166 der sog. Klassischen Moderne bezeichnet, die sich seit der Jahrhundertwende auch verstärkt einer idealisierten und eklektizistischen Formsprache des Neo-Byzantinischen sowie des Neo-Ägyptischen bedient haben.167 Überdies wurde auf die Funktion solcher Exotismen als Vehikel einer vermeintlich »neuen«, avantgardistisch-modernistischen Auffassung von Raum, Form und Farbe aufmerksam gemacht, denn sowohl im Sturm-Expressionismus als auch im Zenitismus ließe sich ein programmatischer Rekurs auf archaisierende Kunst- und Bildpraktiken identifizieren – allerdings nicht in der Absicht eines revivals, sondern meist vielmehr im Sinne eines ästhetischen sowie motivischen Mediums der eigenen künstlerischen Gestaltungspraxis, das sich, wie bereits im Falle des »kindlichen« Linoleumschnittes erwähnt worden ist, mithin auch auf die Ebene des Technischen ausweiten lässt.168 Zwei französischsprachige Publikationen sind indes seitens der kunsthistorischen Forschung als besonders einschlägige Referenzwerke der Primitivismusdebatten der ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts identifiziert worden, die beide aus der Feder des Pariser Anthropologen Lucien Lévy-Bruhl stammen: ›Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures‹, das 1910 erschienen war, sowie ›La mentalité primitive‹, das 1922 veröffentlicht wurde.169 Diese zwei Schriften Lévy-Bruhls, die sich dem Kindlich-Primitiven im Sinne eines kreativen Vermögens

164 Vgl. hierzu auch: Heiner Ullrich, Das Kind als schöpferischer Ursprung. Studien zur Genese des romantischen Kindbildes und zu seiner Wirkung auf das pädagogische Denken (Bad Heilbrunn, 1999). S. 332-335. 165 Vgl. Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 223. 166 Vgl. grundlegend aus kulturwissenschaftlicher Perspektive: Tôru Itô, Simone Müller und Robin Rehm, Wort – Bild – Assimilationen. Japan und die Moderne (Berlin, 2016). S. 86f. Sowie zur avantgardistischen Rezeption japanischer Holzschnitte: Hiroyo Hakamata und Yuko Ikeda, Hg., Hokusai and Japonisme. Ausst.Kat. The National Museum of Western Art (Tokyo, 2017). S. 8799. Und Roger Diederen und Davy Depelchin, Hg., Orientalismus in Europa – Von Delacroix bis Kandinsky (München, 2010). 167 Vgl. Roland Betancourt und Maria Taroutina, Hg., Byzantium/Modernism. The Byzantine as Method in Modernity (Boston, 2015). Sowie Maria Taroutina, The Icon and the Square: Russian Modernism and the Russo-Byzantine Revival (University Park, PA, 2018). 168 Vgl. Kleinschmidt, Intermaterialität. Zum Verhältnis von Schrift, Bild, Film und Bühne im Expressionismus. S. 138. 169 Vgl. Lucien Lévy-Bruhl, Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures (Paris, 1910). Und Lucien Lévy-Bruhl, La mentalité primitive (Paris, 1922).

1. Einleitendes

widmen, werden, neben Freuds paradigmatischem ›Totem und Tabu‹,170 wiederholt als wichtigste Impulsgeber der transnational geführten Primitivismus- und Archaismusdebatten der Avantgarden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ausgewiesen.171 Innerhalb der kunstwissenschaftlichen Sekundärliteratur ist hinsichtlich der unterschiedlich gelagerten Rezeption solcher Archaismen innerhalb der jeweiligen Avantgardeströmungen zumeist zwischen drei verschiedenen Ausdrucksformen eines solchen Rekurses unterschieden worden: Primitivismus, Neo-Primitivismus und Folklorismus.172 Deren heuristische sowie inhaltliche Abgrenzung im Sinne einzelner Kategorien bleibt zwar fließend, lässt es jedoch zu, trotz aller Engführung einige der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen innerhalb der Archaismusrezeption einzelner Avantgardebewegungen etwas deutlicher zu konturieren. Während der Primitivismus primär die stilistische Anlehnung an Gestaltungspraktiken noch lebender indigener Gemeinschaften der als »afrikanisch« sowie »ozeanisch« apostrophierten Kulturräume bezeichnet, ließe sich der Neo-Primitivismus als ein Phänomen des Nativistischen beschreiben, in dessen Zuge die »Wiederbelebung« einer vermeintlich früheren und damit archaischen Kultur im eigenen Nationalkontext forciert wird.173 Mit der dritten und letzten Ausdrucksform, dem Folklorismus, wäre hingegen auf die künstlerische Auseinandersetzung mit dem »Bäuerlichen«, Frugalen und Ruralen verwiesen. Dieses wird nicht selten als Relikt einer »anderen, ursprünglicheren Zeit« im Eigenen imaginiert und scheint zudem eng verknüpft mit kulturellen Untergangsszenarien: Jenes Rurale wird in diesem Zusammenhang meist als ein von fortschreitender Modernisierung, Industrialisierung und Urbanisierung Bedrohtes imaginiert und soll dementsprechend durch künstlerische Rezeption und Re-Aktualisierung vor dem Verschwinden bewahrt werden.174 Ein solches Interesse am Folklorismus – und, wie hinzuzufügen bliebe, an Mediävalismen – ist, nicht zuletzt durch die wirkmächtige Gleichsetzung von Modernisierung mit einer fortschreitenden (West-)Europäisierung, bislang vor

170 Vgl. exemplarisch Claudia Nitschke, Der öffentliche Vater. Konzeptionen paternaler Souveränität in der deutschen Literatur (1755-1921) (Berlin, 2012). Hier insbesondere das aufschlussreiche Kapitel über »Freud und der Expressionismus«, S. 381-409. 171 Vgl. Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 348. Sowie Vineeta Sinha, »The Conceptualization of ›Primitive Mentality‹: Reading Lucien LevyBruhl and Franz Boas as Methodologists«, Asian Journal of Social Science, Nr. 35 (2007), S. 681708. 172 Vgl. von Beyme, Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905-1955. S. 445. 173 Vgl. Ebd. 174 Vgl. Sebastian Kaufmann, Ästhetik des »Wilden«. Zur Verschränkung von Ethno-Anthropologie und ästhetischer Theorie 1750-1850. Mit einem Ausblick auf die Debatte über »primitive« Kunst um 1900 (Basel, 2020). S. 610f.

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allem im Kontext der russischen Avantgarden – beispielsweise in der Auseinandersetzung mit den Praktiken der Ikonenmalerei – aufgearbeitet worden.175 Bisweilen ist in einschlägigen, kunsthistorischen Publikationen ferner das Jahr 1905 als »Geburtsjahr« des Neo-Primitivismus identifiziert worden: Hier ließen sich, so die Ansicht von Autor:innen wie Janina Dahlmanns, Aya Soika oder Dietmar Elger, erste Rekurse auf primitivistische Formsprachen innerhalb der Pariser sowie der expressionistischen Avantgarden in Dresden finden.176 Diese Gleichzeitigkeit von Fauves und ›Die Brücke‹ hat im Anschluss Anlass zu Kontroversen um die Frage geführt, welche dieser (deutschen oder französischen) »Schulen« nun den Neo-Primitivismus für sich beanspruchen könne.177 Als nachgewiesen gilt mittlerweile jedenfalls, dass Kirchner 1909-10 einige seiner neo-primitivistischen Bilder um bis zu sechs Jahre vordatiert hat; ein Umstand, auf den William Rubin bereits Anfang der 1980er Jahre hingewiesen hatte.178 Seit Michel Seuphors Studie, die zu Beginn der 1970er Jahre erschienen war, ist jenseits dieser soeben skizzierten unproduktiven, jedoch teilweise bis in die neuere und neueste Expressionismus-Forschungen hineingetragene Streitfrage um die (im Nationalen verortete) »Erfindung« des Neo-Primitivismus eine umfassende Problematisierung des der Tendenz nach formalistischen PrimitivismusVerständnisses in den Fokus gerückt: Kritisiert wurde in diesem Zuge vor allem die Unterstellung eines Kausalzusammenhangs zwischen Neo-Primitivismus und Abstraktion, die, so Seuphor, die neo-primitivistische Neigung zur Abstraktion eo ipso als avantgardistisch missverstanden habe.179 Denn ein Großteil der seitens der westeuropäischen Avantgarden rezipierten und als »primitiv« reüssierenden Objekte sei, wie Seuphor gewissermaßen in Vorwegnahme der kulturwissenschaftlichen Kritik eines White gaze anmerkt,180 gar nicht »abstrakt« gewesen Vgl. grundlegend: Andrew Spira, The Avant-Garde Icon. Russian Avant-Garde Art and the Icon Painting Tradition (Burlington, 2008). 176 Vgl. exemplarisch Janina Dahlmanns, »Ernst Ludwig Kirchner und Erich Heckel. Die Erfindung des Expressionismus«, in Deutscher Expressionismus, 1905 – 1913, hg. von Magdalena Moeller (Berlin, 2009), S. 17-26. Sowie Aya Soika, »›Um die guten Franzosen kennenzulernen, muß man nach Deutschland gehen!‹ Max Pechstein und die französische Moderne«, in Deutscher Expressionismus, 1905-1913, hg. von Magdalena Moeller (Berlin, 2009), S. 45-56. Und jüngst wieder Dietmar Elger, Expressionismus. Eine deutsche Kunstrevolution (Köln, 2018). S. 24f. 177 Vgl. Ebd. S. 25-26. Sowie exemplarisch Jean-Louis Ferrier, Hg., Les Fauves. La règne de la couleur. Matisse, Derain, Vlaminck, Marquet, Comoin, Manguin, van Dongen, Friesz, Braque, Dufy (Paris, 1992). S. 165f. Sowie Bernard Zürcher, Les Fauves (Paris, 1995). S. 34f. 178 Vgl. Rubin, Primitivismus in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts. S. 383. 179 Vgl. Michel Seuphor, »L’art abstrait«, in L’art abstrait, Bd. 5, hg. von Michel Ragon (Paris, 1971), S. 1-19. Hier S. 10. 180 Vgl. zur (Re-)Konzeptualisierung des White gaze im Bereich der gendersensiblen Kunst- und Kulturwissenschaften exemplarisch Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Karl Hölz und Herbert Uer175

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im Sinne eines solchen modernistisch-avantgardistischen und westeuropäischen Formenverständnisses.181 Zudem verkenne diese kunsthistorische Rezeption des Neo-Primitivismus, dass ein nicht unwesentlicher Teil neo-primitivistischer Künstler:innen in den 1920er Jahren, darunter auch Vjera Biller, keineswegs abstrakt, sondern nach wie vor figurativ oder doch zumindest semi-figurativ gearbeitet hat.182 Der Forschungstand zum Themenkomplex Primitivismus ist vor allem in jüngeren Jahren (wieder) von einem Interesse am Kindlichen sowie dessen Analogisierung mit den Denkfiguren des »(edlen) Wilden« sowie des »Wahnsinnigen« geprägt gewesen.183 Wie die Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess in ihrer bereits erwähnten Studie detailreich aufzeigt, wird eine solche Ineinssetzung bereits im Laufe der 1920er Jahre – beispielsweise durch Wilhelm Lange-Eichbaums vielfach rezipierte Schrift ›Genie und Irrsinn‹ (1927) – maßgeblich vorangetrieben und zunehmend etabliert: Weil der Künstler denke wie ein Kind, denke er wie ein »Primitiver«, denke dieser wie ein Wahnsinniger, denke der wie ein Künstler.184 Gess zeichnet ferner die Entwicklung der Affirmation kindlicher Kreativität, wie sie im Zuge der romantischen Idealisierung des Kindes bestimmend war und durch Autoren wie Baudelaire oder Ruskin vorangetrieben wurde,185 hin zur Alterität stiftenden Bezugnahme auf das Kindliche seitens einzelner Schriftsteller (Müller, Musil, Benn und Benjamin) in der Klassischen Moderne nach.186 An die Stelle des topischen Bezugs auf eine idealisierte und romantisierte, dabei aber meist wenig aussagekräftige »perception enfantine«187 oder »childish perception«188 , wie

lings, Hg., Weiße Blicke. Geschlechtermythen des Kolonialismus (Marburg, 2004). S. 12-18. Sowie Chandra Talpade Mohanty, »Under Western Eyes. Feminist Scholarship and Colonial Discourses«, in Feminist Postcolonial Theory, hg. von Reina Lewis und Sara Mills (Edinburgh, 2003), S. 49-74. 181 Vgl. Seuphor, »L’art abstrait«. S. 13. 182 Vgl. Markéta Theinhardt, »Frantisek Kupka und die Formkunst«, in Kubismus, Konstruktivismus, Formkunst, hg. von Agnes Husslein-Arco und Alexander Klee (München, 2016), S. 45-56. Sowie Rose-Carol Washton Long, »Kandinsky, Anarchism, and the Narrative of Modernism«, in Practices of Abstract Art. Between Anarchism and Appropriation, hg. von Isabel Wünsche (Cambridge, 2016), S. 53-68. 183 Vgl. exemplarisch: Joachim Schultz, Wild, irre und rein. Wörterbuch zum Primitivismus der literarischen Avantgarden in Deutschland und Frankreich zwischen 1900 und 1940 (Gießen, 1995). S. 10-12. 184 Vgl. Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 308. 185 Vgl. Tomoko Eguchi, Ethical Aestheticism in the Early Works of Henry James. The Shadow of John Ruskin (Cambridge, 2016). S. 102. 186 Vgl. Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 424. 187 Charles Baudelaire, »Le peintre de la vie moderne«, in L’art romantique (Paris, 1885), S. 51-114. Hier S. 68. 188 John Ruskin, The Elements of Drawing in Three Letters to Beginners (London, 1857). S. 6.

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sie noch Baudelaire und Ruskin Kunstschaffenden anempfohlen hatten, träte, so Gess, zunehmend das alterisierende Potenzial des Kindlichen als Modus künstlerischer Produktion in den Vordergrund.189 Dass die anthropomorphe Figur des Primitiven neben dem kunsttheoretischen Denken auch jenes über den Anfang und Ursprung des Menschen organisiert und dabei vielfältige, teils analogisierende Bezugnahmen auf Kinder und »Edle Wilde« zulässt,190 hat – nicht ohne ein kurzes Augenzwinkern – auch George Boas in seiner bereits 1966 am Warburg Institute erschienenen Abhandlung ›The Cult of Childhood‹ angemerkt.191 Hier formuliert der Autor eine Kritik am »Kult des Kindes«, der wenige Zeilen zuvor gewissermaßen als Epochensignet der Moderne identifiziert wurde: »One might think that when it was proved that the only remaining examples of primitive man did not meet the requirements of the cultural primitivist, that idea would have disappeared. Quite the contrary. A search was then made for a new exemplar that would be, if not the chronological Urmensch, at least the cultural. The outstanding results of this search were Woman, the Child, the Folk (rural), and later the Irrational or Neurotic, and the Collective Unconscious.«192 [Hervorhebung im Original, Anm. MW] Nachdem die stereotypisierte Idealisierung zeitgenössischer indigener Menschen – in aller Kürze seien hier exemplarisch die bildhaft in Szene gesetzten exotisierenden »Südsee-Paradiese« Paul Gauguins erwähnt193 – zunehmend an diskursiver Überzeugungskraft verloren habe, hätten sich stattdessen nunmehr vielfältige diskursive Bezugsfelder eröffnet, in denen primitivistische Denkfiguren verortet und das Ursprüngliche nun erneut ausfindig gemacht werden konnte: im naturalisierten »Weiblichen«, im Kindlichen, im Folklorehaften bzw. dem Ruralen und schließlich im Irrationalen respektive Neurotischen (befördert durch den Rekurs 189 Vgl. Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 77f. 190 Zum Begriff des »edlen Wilden« bzw. »noble savage« und dessen diskursiver Wirkmacht vgl. Terry Ellingson, The Myth of the Noble Savage (Berkeley, 2001). Sowie Monika Fludernik, Peter Haslinger und Stefan Kaufmann, Hg., Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos (Würzburg, 2002). S. 25f. 191 Vgl. George Boas, The Cult of Childhood (London, 1966). 192 Ebd. S. 8. 193 Postkoloniale Forschungen haben in diesem Zusammenhang, jenseits des durch Gauguin idealisierten und exotisierten Paradiesbildes der Südsee, auf die massiven kolonialistischen Einflussnahmen in dieser Region hingewiesen. Dieser Umstand bewegte den Künstler selbst offenbar dazu, bis an den Rand der Fälschung zu gehen, um seinem Publikum ein die koloniale Realität ausblendendes »Archaisches« suggerieren zu können: Viele Passagen in Gauguins Noa Noa sind, wie Colin Rhodes gezeigt hat, fast wortwörtlich aus einem älteren Reisebericht von 1837 übernommen und von Gauguin zusätzlich romantisiert und stilisiert worden. Vgl. Colin Rhodes, Primitivism and Modern Art (London, 1997). S. 66-72. Sowie Caroline BoyleTurner, Paul Gauguin et les Marquises – Paradis trouvé? (Pont-Aven, 2016). S. 48f.

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auf freudianische Konzepte des Unterbewussten). Über den Terminus des Primitiven würden nun folglich kulturelle »Ursprünglichkeiten« statt anthropologischer Konstanten der Menschheitsgeschichte ins Feld geführt. Mit Blick auf die bereits erwähnte Figur des »Wahnsinnigen«, der die Analogisierung von Kindlichem und »Wildem« zu einer Trias ergänzt, ist ferner auch auf die Bedeutung von Arthur Schopenhauers Theorien hingewiesen worden: Denn innerhalb der Schopenhauer’schen Philosophie war die (Geistes-)Krankheit schon in der Spätromantik als stimulus für künstlerische Kreativität und Schöpfungskraft propagiert und dadurch in nicht geringem Maße mythologisiert worden.194 Die Rezeption Schopenhauers hat in zahlreichen avantgardistischen Kontexten von der Wiener Moderne bis hin zum italienischen Futurismus ihre ideologische Wirkung entfaltet.195 Außerdem scheint, wie Beatrice von Bismarck bemerkt hat, die unterschiedlich gelagerte Archaismusrezeption der Zwischenkriegsavantgarden im Allgemeinen recht häufig mit einem Wiederaufrufen des letztlich auf die Antike zurückgehenden und innerhalb der westeuropäischen Ideengeschichte tradierten Mania-Gedankens verbunden gewesen zu sein, demzufolge künstlerischer »Wahnsinn« assoziiert wird mit einer besonderen Nähe zum Schöpferischen und damit dem per se Göttlichen.196 »Wahnsinn« ist als Topos, im Sinne eines ebenso pathologischen wie kreativen Krankheitsprozesses, in zahlreiche zeitgenössische Künstlermonografien der 1920er Jahre miteingeflossen und hat in diesem Zuge zudem Anlass zur Untersuchung der Selbstinszenierungsstrategien von Künstler:innen als sog. »Geisteskranke« gegeben.197 Im Kontext der Zwischenkriegsavantgarden lässt sich allerdings jenseits solcher Inszenierungsstrategien auch ein zunehmendes Interesse an den konkreten künstlerischen Artikulationen der »Geisteskranken« sowie deren Gestaltungspraktiken und -techniken erkennen.198 Hans Prinzhorns ausführliche Studie über die ›Bildnerei der Geisteskranken‹ von 1922 ist in diesem Zusammenhang häufig gar als spätexpressionistisches Manifest bezeichnet worden, das den expressionistischen Mythos einer »wahren« und »authentischen«

194 Vgl. Konrad Paul Liessmann, Philosophie der modernen Kunst (Wien, 2013). S. 71-84. 195 Vgl. Claude Cernuschi, »Depth and Surface, Will and Representation. Egon Schiele and Arthur Schopenhauer«, in Birth of the Modern. Style and Identity in Vienna 1900, hg. von Jill Lloyd (New York, 2011), S. 172-197. 196 Vgl. Beatrice von Bismarck, Auftritt als Künstler – Funktionen eines Mythos (Köln, 2010). S. 27-43. Sowie Alain Ehrenberg, »Depression. Unbehagen in der Kultur oder neue Formen der Sozialität«, in Kreation und Depression, hg. von Juliane Rebentisch und Christoph Menke (Berlin, 2012), S. 52-62. 197 Vgl. Jörg Katerndahl über die Rezeption von Vincent van Gogh und August Strindberg in, »Bildnerei von Schizophrenen«. Zur Problematik der Beziehungssetzung von Psyche und Kunst im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (Zürich, 2005). S. 117-125. 198 Vgl. Ebd. S. 45f.

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Ursprungskunst zwischen »Wahnsinn«, Primitivität und Kindlichkeit zu kondensieren und zudem mittels psychiatrischer Expertise wissenschaftlich zu legitimieren versucht hat.199 Aufgrund der in Prinzhorns Schriften bisweilen virulent werdenden Stilisierung des Therapeuten zur totalitären Führergestalt ist seiner Position allerdings zu Recht der Vorwurf einer ideologischen Nähe zu Ideen der sog. »Konservativen Revolution« gemacht worden.200 Verschärft hat sich diese Kritik durch die in Prinzhorns Studien bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt aufscheinenden Sympathien für den Nationalsozialismus.201 Neben Prinzhorns Arbeit bediente auch Walter Morgenthalers bereits 1921 in Wien erschienene Monografie über Adolf Wölfli – ›Ein Geisteskranker als Künstler‹ – diesen prominenten Konnex von Künstlerischem, Kindlichem und »Geisteskrankem«.202 Auf die enge Verbindung von Expressionismus und Art Brut 203 ist außerdem, nicht zuletzt aufgrund des geteilten anti-intellektuellen Impetus, wiederholt hingewiesen worden.204 Die Art Brut selbst wurde wiederum nach dem Zweiten Weltkrieg begrifflich vor allem von Jean Dubuffet geprägt, der den Kausalnexus zwischen künstlerischer Aktivität und »Wahnsinn« wieder zunehmend in die einzelne Künstler:innenbiografie zurückverlagerte und den Begriff des Wahnsinns terminologisch zurücknahm, zugunsten der Betonung einer Reihe von Phänomenen der sog. »Transnormativität«. Damit vertritt Dubuffet, im Unterschied zu Prinzhorn, die Position, dass sich vermeintlich »Geisteskranke« keineswegs leichter oder gar unmittelbarer durch künstlerisches Schaffen auszudrücken vermögen als »Nicht-Geisteskranke«. Vielmehr hat Dubuffet, ganz im Sinne Foucaults,205 darauf hingewiesen, dass allein durch die normative Unterscheidung einer spezifischen »Kunst der Geisteskranken« bereits das Akzeptieren der ideologischen Grenzziehung zwischen »normal« und »anormal« impliziert werde. Stattdessen beruft sich Dubuffet auf einen Universalismus, der das Potenzial zum künstlerischen Ausdruck als grundlegende Konstante menschlichen 199 Vgl. Ebd. S. 59. 200 Vgl. grundlegend: Thomas Röske, Der Arzt als Künstler. Ästhetik und Psychotherapie bei Hans Prinzhorn (1886-1933) (Bielefeld, 1995). S. 99f. 201 Vgl. Thomas Röske, »Hans Prinzhorn. Ein ›Sinnender‹ in der Weimarer Republik«, in Wahn, Welt, Bild. Die Sammlung Prinzhorn. Beiträge zur Museumseröffnung, hg. von Christoph Mundt et al. (Heidelberg, 2002), S. 31-39. Hier S. 31. 202 Vgl. Walter Morgenthaler, Adolf Wölfi. Ein Geisteskranker als Künstler (Wien, 1921). 203 Vgl. hierzu grundlegend: Jean Dubuffet, Jean Dubuffet. Malerei in der Falle – Antikulturelle Positionen. Schriften. Bd. 1, hg. von Andreas Franzke (Bern, 1991). S. 44f. Sowie Leonhard Emmerling, Die Kunsttheorie Jean Dubuffets (Heidelberg, 1999). S. 63-65. Und jüngst: Carine Fol, From Art Brut to Art Without Boundaries. A Century of Fascination through the Eyes of Hans Prinzhorn, Jean Dubuffet, Harald Szeemann (Mailand, 2015). S. 33f. 204 Vgl. Katerndahl, »Bildnerei von Schizophrenen«. S. 89. 205 Vgl. Michel Foucault, Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin (Berlin, 1976). S. 91.

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Seins identifiziert: Da alle Menschen einen eigenen Antrieb und das Potenzial zu künstlerischer Aktivität und Produktion besäßen, müsse dies auch im gleichen Maße für diejenigen gelten, die als »Irre« und »Wahnsinnige« ausgegrenzt werden.206 Neben der Aufarbeitung der Analogisierung dieser drei primitivistischen Denkfiguren – des Kindlichen, des »Wilden« und des »Wahnsinnigen« – haben die unterschiedlichen politischen Indienstnahmen des avantgardistischen Primitivismus eine Vielzahl an kunsthistorischen Forschungsarbeiten angeregt, die diese Rezeption insbesondere entlang der Themenfelder Archaismus/Nationalismus/Totalitarismus verortet haben.207 Dabei sind zunächst die unterschiedlichen Länderkontexte,208 allen voran der italienische Futurismus mit seinen offenkundigen Verbindungen zur faschistischen Politik Mussolinis, ins Zentrum des Interesses gerückt.209 Stark verkürzt ließen sich die diesbezüglichen Forschungsergebnisse wie folgt zusammenfassen: Im Rahmen zunächst internationalistisch gesonnener Avantgardekontexten, wie z.B. des Vorkriegs-Expressionismus, scheinen Primitivismen der Tendenz nach eher mit der Suche nach einer transnationalen und einheitsstiftenden »Ur-Sprache« oder »Ur-Ikonografie« des Künstlerischen zu korrelieren, der auch transkulturelle Geltung attestiert wurde und die nach den verheerenden Erfahrungen des Ersten Weltkriegs in den Dienst einer umfassenden »Menscheitsverbrüderung« gestellt werden sollte.210 Ein derartiges Interesse an »Ur-Sprachlichkeit« haben beispielsweise Aleksandar Flakers Studien auch mit Blick auf die russischen Avantgarden belegen können, vor allem in Hinblick auf die Kunstproduktion Chlebnikovs und dessen Gedicht ›Aus der Steinzeit‹.211 Ein ähnlicher Impetus ist ebenfalls für Chlebnikovs futuristischen Mit-Künstler Kručёnych konstatiert worden, der in einem Gedicht von 1913 gleichsam »archaische« Lautstrukturen reproduzieren wollte und zu diesem Zwecke einzelne,

206 Vgl. Emmerling, Die Kunsttheorie Jean Dubuffets. S. 76. 207 Vgl. grundlegend: Andrew Hewitt, Fascist Modernism. Aesthetics, Politics, and the Avant-Garde (Stanford, 1993). S. 15f. 208 Im spanischen Avantgardekontext etwa die gesteigerte Rezeption des »Afrikanischen« und »Maurischen«, siehe z.B. Ángel Ganivet und Miguel de Unamuno, El porvenir de España, hg. von Fernando García Lara (Granada, 1998). S. 99-105. Sowie ein ausgeprägtes Interesse am »Eurasischen« und »Skythischen« im Kontext der russischen Avantgarden, vgl. Hans-Caspar Meyer, Greco-Scythian Art and the Birth of Eurasia. From Classical Antiquity to Russian Modernity (Oxford, 2013). S. 179-186. 209 Vgl. John Champagne, Aesthetic Modernism and Masculinity in Fascist Italy (London, 2013). S. 96f. 210 Vgl. Wolfgang Emmerich, »›In dieser trüben und vor Wahnsinn knallenden Zeit‹. Deutsche Erschütterungen 1910-1925«, in Von Paradiesen und Infernos. Expressionistische Bildgeschichten, hg. von Kai Fischer (Bremen, 1999), S. 19-27. 211 Vgl. Aleksandar Flaker, Pojmovnik ruske avangarde (Zagreb, 1993). S. 129.

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besonders »urtümliche« und in ihrer attestierten Primitivität vermeintlich instinktiv verständliche tartarische Vokabeln in sein Poem integrierte.212 Einem solchen universalistischen Impetus innerhalb einzelner Avantgardeströmungen stehen im Sinne einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen deren mal mehr, mal weniger explizit nationalistische und gar totalitäre Verquickungen und Paradoxien auf ideologischer Ebene als Ambivalenz gegenüber.213 Wie Andrew Hewitts ausführliche Studie ›Fascist Modernism‹ verdeutlicht hat, waren neben solchen avantgardistischen Primitivismen vor allem der Technizismus in der Kunsttheorie einiger Gruppierungen, etwa des italienischen Futurismus, inhaltlich sowie rhetorisch kontinuierlich dicht situiert an nationalistischen, chauvinistischen und totalitär geprägten »Blut-und-Boden-Ideologien«, die schließlich vor allem im Kontext der Kultur- und Realpolitik Nazi-Deutschlands ihre fatale und vollumfassende Virulenz entfalten sollten.214 Zeitgenössische Nationalismen, Chauvinismen und Rassismen scheinen dabei in den 1920er Jahren an vielen Stellen ein solches Nebeneinander von Technophilie, Kriegsverherrlichung, »Volk-Ismus« und Antisemitismus auch innerhalb avantgardistischer Programme katalysiert zu haben.215 Dieser diskursmächtige Konnex von Avantgardekultur, Nationalismus und Totalitarismus der Zwischenkriegsjahre ist im Rahmen kunsthistorischer Aufarbeitungen häufig(er) vernachlässigt worden oder hat sich in der Auseinandersetzung mit der Haltung einzelner Künstler:innen sowie einzelner Avantgardegruppierungen zu den Weltkriegskatastrophen sowie den faschistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts erschöpft.216 Vor allem US-amerikanische Autor:innen haben in

Vgl. Rainer Michael Mason, Hg., Guerre S. Trois suites insignes sur un thème 1914-1916. Natalija Gontcharova, Ol’ga Rozanova, Aleksej Kruchenykh (Genf, 2003). S. 44-47. 213 Vgl. Hewitt, Fascist Modernism. Aesthetics, Politics, and the Avant-Garde. S. 27. 214 Vgl. Ebd. S. 127f. Auch Arne Karsten hat auf das vergleichsweise »frühe« Veröffentlichungsdatum des von Kulturnationalismus, Chauvinismus und Misogynie geprägten Futuristischen Manifests hingewiesen, das bereits deutlich vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahr 1909 von F.T. Marinetti veröffentlicht wird, und nicht erst 1915 im Zuge der Generalmobilmachung und daraus resultierender nationalistischer und bellizistischer Rhetoriken nach Kriegseintritt des Königreichs Italiens an der Seite der Entente-Mächte, rezipiert wurde. Vgl. Arne Karsten, Der Untergang der Welt von gestern. Wien und die k.u.k. Monarchie 1911-1919 (München, 2019). S. 141-145. Die ideologischen Verflechtungen der »modernen« Künstlerinnen Leni Riefenstahl, Lee Miller und Janet Flanner mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts hat Zox-Weaver herausgearbeitet, vgl. Annalisa Zox-Weaver, Women Modernists and Fascism (Cambridge, 2011). 215 Vgl. Hewitt, Fascist Modernism. Aesthetics, Politics, and the Avant-Garde. S. 222f. Sowie Matthew Affron, Hg., Fascist Visions. Art and Ideology in France and Italy (Princeton, 1997). S. 48-50, S. 6365 und S. 81-84. 216 Vgl. exemplarisch Siegfried Gohr, Hg., Picasso im Zweiten Weltkrieg (Köln, 1988). S. 50f. Sowie Wolfgang Mommsen, Hg., Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftstel212

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diesem Zusammenhang seit den 1990er Jahren moniert, dass bezüglich des Primitivismus der Zwischenkriegsavantgarden, der daraus abgeleiteten künstlerischen Praxis sowie deren ideologischer Inanspruchnahme nur sehr selten auf totalitäre Verflechtungen hingewiesen worden sei.217 Vor allem post-kolonial und queerfeministisch informierte, transnationale Schwerpunktforschungen kamen und kommen dieser fachinternen Aufarbeitungspflicht inzwischen auch im deutschsprachigen Raum verstärkt nach.218 Abschließend bliebe zu konstatieren, dass das Primitive, Ursprüngliche und »Wilde« – bisweilen auch das »Wahnsinnige« und Kindliche – bereits seit Beginn der 1980er Jahre Gegenstand transdisziplinärer, literatur-, kultur- und kunstwissenschaftlicher Forschungen geworden und ausführlich mit fachinternem Interesse bedacht worden ist.219 Die Bedeutung der Semantik des Barbarischen, wie sie insbesondere innerhalb des Zenitismus als Schlüsselbegriff und rhetorischer Eckpfeiler reüssiert, ist in diesem Zusammenhang bislang allerdings eher unterbeleuchtet geblieben. Zwar sind in den letzten Jahren verstärkt ideengeschichtliche Studien zum Begriff des »Barbarischen« entstanden, von denen insbesondere Maria Boletsis Arbeiten hervorzuheben sind,220 allerdings beschäftigen sich diese aus philosophischer, kulturhistorischer oder literaturwissenschaftlicher Perspektive mit dem Terminus und seinen bisweilen tagesaktuellen Re-Aktualisierungen im Zuge bellizistischer Rhetoriken bspw. im Zusammenhang mit dem US-amerikanischen war on terror sowie dessen Diskursivierungen und Ikonografien nach 9/11.221 Mit Ausnahme des Beitrags von ler im Ersten Weltkrieg (München, 1996). S. 88-90. Und Uwe Schneede, Hg., 1914. Die Avantgarden im Kampf (Bonn, 2013). S. 5-10. 217 Vgl. Hewitt, Fascist Modernism. Aesthetics, Politics, and the Avant-Garde. S. 20. Sowie Affron, Fascist Visions. Art and Ideology in France and Italy. S. 39f. 218 Vgl. exemplarisch Julia Noah Munier, Sexualisierte Nazis. Erinnerungskulturelle Subjektivierungspraktiken in Deutungsmustern von Nationalsozialismus und italienischem Faschismus (Bielefeld, 2017). S. 18f. 219 Für die Bedeutung des Kindlichen in der Literatur- und Filmproduktion Bosniens, Kroatiens und Serbiens vgl. grundlegend Renate Hansen-Kokoruš, »Formen adoleszenter Infantilität und ihre Funktion«, in Kind und Jugendlicher in der Literatur und im Film Bosniens, Kroatiens und Serbiens, hg. von Renate Hansen-Kokoruš und Elena Popovska (Hamburg, 2013), S. 17-36. 220 Vgl. Maria Boletsi, Barbarism and its Discontents (Stanford, 2013). S. 25f. Sowie Maria Boletsi und Christian Moser, Hg., Barbarism revisited. New Perspectives on an Old Concept (Amsterdam, 2015). S. 10-21; Maria Boletsi, »Who’s afraid of Barbarians? Interrogating the Trope of ›Barbarian Invasions‹ in Western Public Rhetoric from 1989 to the Present«, Gronjek. Historisch Tijdschrift, Nr. 49 (2017), S. 115-130. Und zudem: Maria Boletsi, »Crisis, Terrorism, and PostTruth. Processes of Othering and Self-Definition in the Culturalization of Politics«, in Subjects Barbarian, Monstrous, and Wild. Encounters in the Arts and Contemporary Politics, hg. von Maria Boletsi und Tyler Sage (Amsterdam, 2017), S. 12-40. 221 Vgl. Boletsi, »Who’s afraid of Barbarians?«. S. 117-118. Sowie Tom Holert, »Wie die Bilder zur Ordnung rufen. Geschlecht, Militär und Fotografie im ›War on Terrorism‹«, in Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, hg. von Linda Hentschel

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Lucia Re zum Barbaren-Mythos des italienischen Futurismus hat dieses Ideologem im Feld der Zwischenkriegsavantgarden bislang kaum Beachtung gefunden.222 Eine durch das Künstlerisch-Vermittelte informierte Annäherung an diesen semantischen Komplex, der das Primitive im Zenisitmus vom Barbarischen her denkt und das Biller’sche Kindliche als einen positiv besetzten primitivistischen »Barbarismus« intelligibel werden lässt, liefert das dritte Buchkapitel und macht somit ein erstes Angebot zur inhaltlichen Erschließung dieses Forschungsdesiderats. In welchem theoretisch-methodischen Bezugsrahmen sich diese Annäherung verortet, wird die folgende Methodenskizze aufschlüsseln und klären.

(Berlin, 2008), S. 159-182. Und: Silke Wenk, »Sichtbarkeitsverhältnisse. Asymmetrische Kriege und (a)symmetrische Geschlechterbilder«, in Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, hg. von Linda Hentschel (Berlin, 2008), S. 29-49. Hier S. 44f. 222 Vgl. Lucia Re, »›Barbari civilizzatissimi‹. Marinetti and the Futurist Myth of Barbarism«, Journal of Modern Italian Studies, Nr. 17/3 (2012), S. 350-368.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

2.1

Methodenskizze

»Der erste Schritt ist die Erkenntnis, dass das Ästhetische die Weise der Organisierung außerästhetischer Bedeutungen ist, die durch die gesellschaftliche Struktur getragen und vermittelt werden.«1 Dieses Zitat über die radikale Kontextgebundenheit künstlerischer Produktion des tschechischen Philosophen Robert Kalivoda stand gewissermaßen am Anfang der Überlegungen für eine Analytik und deren methodische Kalibrierung in dieser Studie. Kalivodas semiologisch orientierte2 Einsichten in die Abhängigkeiten jeder künstlerischen Produktion von sozialen wie von kulturellen Semantiken bildet(e) gewissermaßen die theoretische Grundlage meiner Analytik, von der aus weiteren Einsprüchen gegen der Tendenz nach isolationistische und essentialistische Bildanalyseverfahren nachgegangen wurde. Dabei verfolgte ich zunächst weitere strukturalistisch geprägte Positionen, mithin auch solche, die wie Frederick Antal,3 Arnold Hauser,4 Francis Klin-

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Robert Kalivoda, Der Marxismus und die moderne geistige Wirklichkeit (Frankfurt a.M., 1970). S. 27. Vgl. dazu grundlegend Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale (Paris, 1967). Saussures Überlegungen zu einer Lehre der Zeichen beinhalten bereits Ansätze, die über den Bereich des Sprachlichen hinausgehen und beispielsweise von Roland Barthes und Umberto Eco ins Visuelle weitergedacht wurden. Vgl. Umberto Eco, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte (Frankfurt a.M., 1977). Und Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation (München, 1992). S. 210-212. In diesem Zusammenhang spricht auch Kalivoda im Falle künstlerischer Artefakte, beispielsweise eines Gemäldes, von visuellen Zeichen, die etwa durch die Dispersion von Farben auf der Leinwand definiert werden können, vgl. Kalivoda, Der Marxismus und die moderne geistige Wirklichkeit. S. 29. Dabei bliebe allerdings zu konstatieren, dass Kalivodas Verständnis des Motivs als Morphem der Saussure’schen Zeichenlogik insofern widerspricht, als dass danach Motive immer schon selbst aus verschiedenen Zeichen zusammengesetzt sind. Ich danke Silke Wenk für diesen wichtigen Hinweis. Vgl. exemplarisch: Frederick Antal, Florentine Painting and its Social Background. The Bourgeois Republic before Cosimo de Medici’s Advent to Power. XIV and Early XV Centuries (London, 1947). Vgl. exemplarisch: Arnold Hauser, Soziologie der Kunst (München, 1974).

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Vjera Biller und das Kindliche

gender5 oder Max Raphael6 durch marxistisches Denken beeinflusst waren, vor allem aber queer-feministische7 Autor:innen, wie etwa Whitney Davis,8 Sander L. Gilman,9 Kathrin Hoffmann-Curtius,10 Linda Nochlin,11 Nanette Salomon,12 Susan Suleiman,13 Sigrid Schade,14 Beate Söntgen15 und Silke Wenk,16 denen eine Kritik der oben genannten Tendenzen mit Nachdruck ein Anliegen war (ist) und die zudem versucht haben, alternative Konzepte im Rahmen kunstwissenschaftlicher Forschungen zu etablieren. Unter dem von mir an dieser Stelle gewählten umbrella term des »Queer-Feministischen« möchte ich all jene (durchaus dichotomen) Ansätze verstehen, die verstärkt seit den 1990er Jahren mit Verweis auf Michel Foucaults ›Geschichte der Sexualität‹ die umfassende Kritik eines Anspruchs auf Werturteilsfreiheit innerhalb wissenschaftlicher, zumal akademischer, Wissensproduktion forciert haben und deren mithin transdisziplinäre Hinwendung zur Ideologie-, Macht- und Geschlechterkritik auch die Sensibilisierung der kunstwissenschaftlichen Praxis für solche Fragen der Situiertheit nach sich gezogen hat.

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Vgl. exemplarisch: Francis Klingender, Marxism and Modern Art. An Approach to Social Realism (London, 1943). Vgl. exemplarisch: Max Raphael, Arbeiter, Kunst und Künstler (Frankfurt a.M., 1975). Vgl. hierzu grundlegend: Schade und Wenk, »Strategien des Zu-Sehen-Gebens. Geschlechterpositionen in Kunst und Kunstgeschichte« und Barbara Paul und Johanna Schaffer, Hg., Mehr(wert) Queer (Bielefeld, 2009). Sowie Elahe Haschemi Yekani und Beatrice Michaelis, Hg., Quer durch die Geisteswissenschaften. Perspektiven der Queer Theory (Berlin, 2005). Vgl. exemplarisch: Whitney Davis, Gay and Lesbian Studies in Art History (Binghampton, 1994). Vgl. exemplarisch: Gilman, Seeing the Insane. Und Gilman, Freud, Race and Gender. Sowie Gilman, Difference and Pathology. Vgl. exemplarisch: Kathrin Hoffmann-Curtius, »›Wenn Blicke töten könnten‹. Oder: der Künstler als Lustmörder«, in Blick-Wechsel. Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte, hg. von Ines Lindner et al. (Berlin, 1989), S. 369-393. Sowie Hoffmann-Curtius und Wenk, Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert. Vgl. exemplarisch: Linda Nochlin, Women, Art, and Power and other Essays (New York, 1988). Vgl. exemplarisch: Nanette Salomon, »The Art Historical Canon: Sins of Omission«, in The Art of Art History. A Critical Ontology, hg. von Donald Preziosi (Oxford, 1998), S. 344-355. Vgl. exemplarisch: Susan Suleiman, Subversive Intent. Gender, Politics, and the Avantgarde (Cambridge, MA, 1990). Vgl. exemplarisch: Sigrid Schade, Monika Wagner und Sigrid Weigel, Hg., Allegorien und Geschlechterdifferenz (Köln, 1994). Vgl. exemplarisch: Beate Söntgen, »Ort der Erfahrung/Ort der Repräsentation. Von weiblichen und männlichen Körpern bei Lisa Tickner«, Kritische Berichte, Nr. 26 (1998), S. 34-42. Sowie grundlegend: Beate Söntgen, Hg., Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als feministische Kulturwissenschaft (Berlin, 1996). S. 7-26. Vgl. grundlegend: Silke Wenk, Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne (Köln, 1996). Sowie Schade und Wenk, »Strategien des Zu-Sehen-Gebens. Geschlechterpositionen in Kunst und Kunstgeschichte«. Und Silke Wenk, »Sichtbarkeitsverhältnisse. Asymmetrische Kriege und (a)symmetrische Geschlechterbilder«.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

In Anknüpfung an diese Ideen wird im Gegensatz zu einer auf der Basis des »Genie«-Begriffs entwickelten bildungsbürgerlichen »großen Erzählung«, die im Künstl-er den alleinigen Ursprung und Urheber eines Bildes identifiziert,17 folglich auch in meiner Untersuchung des Biller’schen Oeuvrefragments das Augenmerk stärker auf die komplexen Vergesellschaftungsprozesse und sozialen Lokalisationen gelenkt werden, in welche die Eigentätigkeiten der Künstlerin eingebunden sind. Die hier virulent werdenden polyvalenten Semantiken der Differenz werden meinerseits vornehmlich entlang der Interpretationsachsen des Nicht-Männlichen, des Nicht-Westeuropäischen sowie des Nicht-Gentilen organisiert. Diese Themenkomplexe prägen meine Auseinandersetzung mit Billers primitivistischen Entwürfen von Künstlerinnenschaft. In den Blick genommen werden diese dabei zunächst im breiteren Kontext der Zwischenkriegsavantgarden (Kapitel 3). Anschließend wird den spezifischen Selbst- und Fremdzuschreibungen an Billers Position als Künstlerin – Biller im Prisma »des Jugoslawischen« (Kapitel 4.1), Biller im Prisma »des Jüdischen« (Kapitel 4.2) – nachgegangen. Diese einzelnen Differenzgehalte konvenieren mit jeweils unterschiedlich gelagerten Konzepten von geschlechtlich, kulturell sowie nicht zuletzt ethnisch-religiös definierter Alterität, die in diesem Rahmen diskursanalytisch näher untersucht werden. Mit dem Begriff der Geschlechterdifferenz18 verweise ich in diesem Zusammenhang auf Geschlecht als eine u.a. durch Repräsentationen und Praktiken performierte semiotische Kategorie des Sozialen19 und damit auch des Künstlerischen. Dementsprechend sind die meinerseits verwendeten Vokabeln des »Männlichen« respektive des »Weiblichen« primär als Beschreibung solch relationaler Bedeutungszusammenhänge im sozial verhandelten Systemfeld der Differenz zu verstehen. Dabei setze ich mit Lisa Tickner eine Reihe enger und sich wechselseitig bedingender Beziehungen zwischen diesen drei Fokussierungen der Differenz – des Nicht-Männlichen, des Nicht-Westeuropäischen, des Nicht-Gentilen – voraus, die mit dem kunstwissenschaftlichen Konzept der Moderne bzw. dem Modernismus, im Sinne eines zeitspezifischen Bündels kultureller Praktiken und Semantiken, konvenieren.20 Darunter finden sich so vielbehandelte Schlagwörter 17 18

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Vgl. Suleiman, Subversive Intent. S. 43. Vgl. Paula-Irene Villa, »Post-Ismen. Geschlecht in Postmoderne und (De)Konstruktion«, in Geschlechterdifferenzen – Geschlechterdifferenzierungen, hg. von Sylvia Marlene Wilz (Wiesbaden, 2008), S. 199-230. Und Antke Engel, »Geschlecht und Sexualität. Jenseits von Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität«, in Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, hg. von Stephan Moebius und Andreas Reckwitz (Frankfurt a.M., 2008), S. 330-346. Vgl. Eve Kosofsky Sedgwick, »Paranoid Reading and Reparative Reading, or, You’re so Paranoid, You Probably Think This Essay is About You«, in Touching Feeling. Affect, Pedagogy and Performativity (Durham, 2003), S. 123-152. Vgl. Lisa Tickner, »Männerarbeit? Männlichkeit und Moderne«, in Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als feministische Kulturwissenschaft, hg. von Beate Söntgen (Berlin, 1996), S. 254-298.

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Vjera Biller und das Kindliche

der Moderne wie Avantgardekultur, Antiakademismus, »Frauenfrage«, Massenmedien, Prekarisierung, Antisemitismus, Industrialisierung, »Fortschritt«, um nur einige wenige zu nennen. Wie Tickner und andere21 überzeugend herausgearbeitet haben, stellt vor allem die Auseinandersetzung mit Geschlechterdifferenz eine der grundlegenden Konstanten der künstlerischen Moderne dar, die – wie die Autorin darlegt – sich als ein semantisches Sammelsurium von u.a. unterschiedlichen Bedrohungsszenarien verstehen ließe, die das Eindringen eines »Anderen ins Eigene«,22 oder vielmehr das Verhindern dieses Eindringens des »Anderen ins Eigene«, zum Gegenstand haben: »das Männliche« sieht sich vom Weiblichen bedroht, der Körper von der Maschine, die Kunst von der Massenproduktion, die Vernunft vom Irrationalen, die Abstraktion vom Ornamenthaften und Dekorativen.23 Solche Krisennarrative24 und Untergangsszenarien25 verdichten sich innerhalb der Kategorie der Geschlechterdifferenz vor allem mit Blick auf die daraus resultierenden Ideen einer mithin kompensatorisch wirkenden, martialischmaskulinistischen und »barbarischen« Virilität, von denen nicht zuletzt die Avantgarden der 1920er Jahre im Nachgang pan-europäischer Kriegserfahrungen26 überaus deutlich geprägt sind.27 Diese Diskursfiguren der Moderne speisen sich hierbei weniger aus einem Ästhetizismus »des Männlichen«, der sich seit etwa 1890 auf Konzepte des Bourgeoisen, des Dandytums oder der Bohème berufen hatte,28 sondern sie beschwören eine nativistisch unkultivierte, gewissermaßen 21

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Vgl. stellvertretend: Helduser, Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Moderne um 1900. Sowie Natalia Igl, Geschlechtersemantik 1800/1900. Zur literarischen Diskursivierung der Geschlechterkrise im Naturalismus (Göttingen, 2014). Auf die antisemitisch motivierte Rahmung »des Jüdischen« im Sinne eines solchen Bedrohungsszenarios wird u.a. im Kapitel 3 eingegangen. Vgl. Tickner, »Männerarbeit? Männlichkeit und Moderne«. S. 259. Vgl. Florian Krobb, »Die Kunst der Väter tötet das Leben der Enkel«. Decadence and Crisis in Finde-Siècle German and Austrian Discourse (Baltimore, 2004). S. 44f. Vgl. Helduser, Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Moderne um 1900. S. 130f. Und Gabriele Schubert, »Entwürfe von Männlichkeit und Weiblichkeit auf dem Balkan in ihren wesentlichen Entwicklungslinien«, in Handbuch Balkan, hg. von Uwe Hinrichs, Thede Kahl und Petra Himstedt-Vaid (Wiesbaden, 2014), S. 649-666. Sowie Katrin Bozeva-Abazi, The Shaping of Bulgarian and Serbian National Identities, 1800s-1900s. Dissertation (Montreal, 2003). S. 62f. Vgl. Doerte Bischoff, »›Dieses auf die Spitze getriebene Mannestum.‹ Kriegsrhetorik und Autorschaft um 1914«, in Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, hg. von Kathrin Hoffmann-Curtius und Silke Wenk (Marburg, 1997), S. 60-72. Und Maria Todorova, Hg., Balkan Identities. Nation and Memory (London, 2004). S. 1-24. Vgl. Albrecht Koschorke, »Die Männer und die Moderne«. S. 144. Vgl. Günter Erbe, »Aristokratismus und Dandytum im 19. und 20. Jahrhundert«, in Der Dandy. Ein kulturhistorisches Phänomen im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Joachim Knoll, AnnaDorothea Ludewig und Julius Schoeps (Berlin, 2013), S. 11-28. Sowie der Beitrag von Moritz Reininghaus im gleichen Sammelband: »Flaneur, Bohemien, Dandy? Franz Hessel in München, Paris und Berlin«, S. 235-250.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

ungehemmte und unverstellte – soll heißen: ursprüngliche – Männlichkeit.29 Diese wiederum trägt – im avantgardistischen Selbstverständnis – erheblich zur Inszenierung einer vermeintlichen Marginalisierung bei. Mal wird diese über die Identifikation mit ganz konkreten gesellschaftlichen (Rand-)Gruppen, wie etwa »den Arbeitern«, »den Geisteskranken«, »den Zigeunern« angestrebt.30 Oder mal mittels breiterer ideologischer Infusionen »des Primitiven« und »Wilden« forciert, wie sie insbesondere im Kontext des Zenitismus programmatisch werden.31 Aufgrund der Funktionalisierung solcher Männlichkeitsideologeme zu machtvollen Exklusionsmechanismen für nicht-männliche Kunstproduktion liegt eine Untersuchung derselben nahe, wenn der Frage nachgegangen werden soll, welche Einschreibungen von Geschlechterdifferenz dabei bemüht und welche Partizipationsmöglichkeiten sich dennoch für Künstlerinnen wie Vjera Biller innerhalb solch hyper-virilen Avantgardekontexten boten, welche Positionen, Strategien und Praktiken der Angleichung und/oder der Intervention vom Standpunkt des ›Anderen‹ aus eingebracht werden können. Da hier bereits vom Machtvollen die Rede war, möchte ich an dieser Stelle nochmals das Anliegen dieser Monografie betonen mittels einer Fallstudie am Beispiel Billers die unterschiedlichen Möglichkeiten des Agierens, zumal eines künstlerischen Agierens, aufzuzeigen, das sich dies- wie jenseits des strukturell Gegebenen bewegt, ihm einerseits unterliegt, es andererseits aber zugleich mithervorbringt. Innerhalb dieser Perspektive kann Biller folglich nicht einseitig auf die Rolle eines zu Passivität und Unterdrückung verdammten »Opfers der Geschichte« reduziert werden. Vielmehr soll es mit Michel Foucaults Verständnis darum gehen, Macht nicht mehr nur als durch Recht und Repräsentation vermittelte zu begreifen, sondern ihr Operieren mittels strategischer Techniken in einem Netz aus ständig gespannten, tätigen Beziehungskontexten in den Vordergrund zu rücken, die Momente der Subversion und der Dissidenz, aber auch der Affirmation, ermöglichen.32 Entgegen der Vorstellung von Macht als Ausschluss und Unterdrückung etabliert Foucault deren produktives Potenzial. Mit dieser Engführung des Machtvollen als dem Produktiven und Reziproken löst sich Foucaults Konzeption

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Vgl. Diana Mishkova, Beyond Balkanism. The Scholarly Politics of Region Making (London, 2019). S. 92. Vgl. Hans-Jürgen Heinrichs, Wilde Künstler. Über Primitivismus, Art Brut und die Trugbilder der Identität (Hamburg, 1995). Sowie die am Schnittpunkt von visueller Kultur, Künstlermythen und Nationalismusdebatten angesiedelte Studie von Iulia-Karin Patrut zur Konvergenz von Antiziganismus und Antisemitismus: Iulia-Karin Patrut, Phantasma Nation. »Zigeuner« und Juden als Grenzfiguren des »Deutschen« 1770-1920 (Würzburg, 2014). Vgl. Mishkova, Beyond Balkanism. The Scholarly Politics of Region Making. S. 92. Vgl. vor allem Michel Foucault, Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit, Bd. 1) (Frankfurt a.M., 1977). S. 33f.

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Vjera Biller und das Kindliche

von einer Vorstellung der Macht als Kraft, die sich nur einseitig »von oben« formieren und kanalisieren lässt, und löst sich damit folglich auch ein Stück weit von der soeben meinerseits monierten Opfer-Rhetorik.33 Im Spannungsfeld von Billers Ermordung als sog. »Geisteskranke« und »Volljüdin« in der Tötungsanstalt Hartheim und der damit sehr wahrscheinlich einhergehenden Vernichtung eines Großteils ihrer Arbeiten, sowie der konsequenten Unsichtbarkeit34 ihres Oeuvres im kunstwissenschaftlich-akademischen Diskurs soll folglich die Würdigung einer künstlerischen Biografie jenseits solcher verengender Opfer- und Betroffenheitssemantiken geleistet werden. Trotzdem, oder vielmehr gerade deswegen, steht Billers Biografie nicht im unmittelbaren Vordergrund dieser Fallstudie, die zwar auf Ego-Dokumente wie Briefe zurückgreift, aber stets das Bildmaterial und die damit verwobenen semantischen Komplexe sowie Fragen von Differenzgehalten und Handlungsspielräumen im Blick behalten will. An den Stellen, an denen biografische Zeugnisse Billers eine Rolle spielen, ist mit Ernst Kris und Otto Kurz kritisch auf den mythologisierenden Gehalt solcher Quellen im Kontext der Ausbildung und Performanz moderner Künstler:innenlegenden und deren inszenierten Biografien zu verweisen.35 Künstlerische Produktion möchte ich also nicht allein als die unmittelbare Artikulation einer individuellen, biografisch ausdeutbaren Willensentscheidung, Absicht bzw. Intention und/oder einer künstlerischen (zumal geschlossenen) Subjektivität und somit als »Spiegel des Selbst« verstanden wissen.36 Stattdessen möchte ich auf die vielschichtigen Vermittlungen und Situiertheiten zwischen Künstlerin, Kunstpraxis und deren mannigfaltigen Semantiken zwischen Kontext, Produktion und Rezeption aufmerksam machen. Desweiteren ist in diesem Zusammenhang aus freudianisch informierter Perspektive von Julia Kristeva jenseits ereignishaft pointierter historischer Problemlagen auf die Bedeutung medial vermittelter ästhetischer Konventionen und Grundmuster aufmerksam gemacht worden, die auch unbewusst Eingang in künstlerische Praktiken und deren Rezeption finden (können).37 Dabei denkt Kristeva vor allen Dingen an normative Vorstellungen von Geschlecht sowie von unterstellter

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Vgl. Ebd. S. 35f. Zur Ambivalenz von (Un-)Sichtbarkeit als Emanzipationsstrategie vgl. Johanna Schaffer, Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung (Bielefeld, 2008). Vgl. Ernst Kris und Otto Kurz, Legend, Myth, and Magic in the Image of the Artist. A Historical Experiment (New Haven, 1979). S. 12-14. Zur Kritik und Dekonstruktion der Einheit von Künstler und Werk aus feministischer (psychoanalytischer) Perspektive vgl. Söntgen, Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als feministische Kulturwissenschaft. S. 17. Sowie Hayden White, der die (Kunst-)Geschichtsschreibung von solchen und anderen Tropen strukturiert sieht: Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in 19th-century Europe (London, 1973). Vgl. Julia Kristeva, »Semiologie. Kritische Wissenschaft und/oder Wissenschaftskritik«, in Textsemiotik als Ideologiekritik, hg. von Peter Zima (Frankfurt a.M., 1977), S. 35-53.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

Fremd- und Andersartigkeit: Jene hätten, so Kristeva, eine Forschung initiiert, die »zu der pre-repräsentativen, d.h. noch-nicht-(ab)bildenden Produktion und zum ›Denken‹ unterhalb des Denkens vorstößt.«38 Für eine semiologische Analyse, die nicht bloß fortfahren möchte, »die semiotischen Systeme aus der Perspektive der Kommunikation [Hervorhebung im Original, Anm. MW] zu formalisieren«, habe sich so die Option geboten, »mitten im Feld der Kommunikationsprobleme […] jenen anderen Schauplatz zu eröffnen, auf dem die dem Sinn vorausliegende Sinnproduktion stattfindet.«39 Besonders das freudianische Verständnis des Symbols, im Sinne einer sozial und konventionell feststehenden »Übersetzung«, die von der Rede und Intention des Sprechenden unabhängig funktioniert, wurde im Anschluss fruchtbar gemacht für die kunstwissenschaftliche Untersuchung von Geschlechterlogiken, wie beispielsweise Silke Wenks Studien zur »Versteinerten Weiblichkeit« und den »Allegorien in der Skulptur der Moderne« eindrücklich gezeigt haben.40 Gerade innerhalb dieser Strukturen des Nichtverfügbaren, die nur bedingt bewussten Regularien unterliegen und sich dadurch der Brennweiteneinstellung »großer« Antagonismen und Ereignisse in der Geschichtsschreibung entziehen,41 entfalten sich diskursive Wirkmächtigkeiten, mittels derer sich historischen Konditionierungen und Konventionalisierungen nachspüren lässt. Die daraus sich ableitende Schlussfolgerung einer radikalen (und nicht immer bewusst gemachten) Standortgebundenheit historischer Artikulationen auch innerhalb des Künstlerischen hat in der Folge die theoretisch-methodischen Konzepte der queerfeministisch sowie postkolonial orientierten Kunstwissenschaft entscheidend mitgeprägt.42

2.1.1

Impulse von Panofsky und Bourdieu. Zwischen kritischer Ikonologie und Feldbegriff

Dieses Spannungsverhältnis zwischen einer lange Zeit mythologisierten (dekonstruierten? wiederkehrenden?) »unmittelbaren« künstlerischen Subjektivität43

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Julia Kristeva, »Semiologie. Kritische Wissenschaft und/oder Wissenschaftskritik«. S. 47. Ebd. Vgl. Wenk, Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne. S. 69-71. Vgl. hierzu insbesondere Fredric Jameson, The Ideologies of Theory Bd. 1: Situations of Theory (London, 1988). S. 143-153. Vgl. exemplarisch: Schmidt-Linsenhoff, Hölz und Uerlings, Weiße Blicke. Geschlechtermythen des Kolonialismus. Annegret Friedrich et al., Hg., Projektionen. Rassismus und Sexismus in der Visuellen Kultur (Marburg, 1997). Sowie Paul und Schaffer, Mehr(wert) Queer. Und »jüngst« Klaus-Michael Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung (Berlin, 2014). Vgl. als Überblicksdarstellung dieser Problematik des Künstler:innen-Subjekts und dessen (Selbst)-Inszenierungen: Sabine Fastert, Alexis Joachimides und Verena Krieger, Hg., Die Wie-

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Vjera Biller und das Kindliche

auf der einen und systemischen Pfadabhängigkeiten sowie reziproken Beeinflussungen auf der anderen Seite muss, meines Erachtens, eine kritische Kunstgeschichtsschreibung innerhalb analytischer Überlegungen in Rechnung stellen und berücksichtigen. Zu diesem Zwecke wurde seitens der Kunstwissenschaft verstärkt der Begriff des »Habitus« rezipiert,44 der auch schon in Erwin Panofskys dreistufigem Ikonografie-Modell Verwendung gefunden hatte.45 Mit Bourdieu ließe sich vom Habitus als einer Art persönlicher Souveränität sprechen, die ihr Fundament in der Beherrschung der gesellschaftlichen Symbolsprachen hat und die jeweilige Akteur:in damit in die Lage versetzt, einen persönlichen Stil zu erzeugen, der nicht etwa – in diesem Falle – unmittelbarer Ausdruck der Subjektivität dieser Künstler:in ist, sondern, wie gesagt, deren polyfokale Brechungen voraussetzt. Diese werden durch den Eintritt in die »symbolischen Ordnungen«,46 soll heißen: Akkulturations- und Sozialisationsprozesse gesellschaftlicher Natur, bewirkt.47 Die eventuelle Modifikation, Negation oder auch Dekonstruktion dieser gesellschaftlich wirkmächtigen symbolhaften Zeichensysteme wird damit als ein integraler Bestandteil, oder doch zumindest als eine immer wieder aufrufbare Option, künstlerischer Praxis installiert. Eine Produktion außerhalb, diesseits oder jenseits der symbolischen Ordnungen einer Gesellschaft ist wiederum weder im Bourdieu’schen noch im Panofsky’schen Verständnis des Habitus-Begriffs denkbar.48

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derkehr des Künstlers. Themen und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung (Köln/Weimar/Wien, 2011). Vgl. Pierre Bourdieu, »Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis«, in Zur Soziologie der symbolischen Formen (Frankfurt a.M., 1970), S. 125-158. Vgl. die beiden Textausgaben von 1932 und 1939/1957: Erwin Panofsky, »Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst (Erstausgabe 1932)«, in Ikonografie und Ikonologie. Theorien, Entwicklungen, Probleme, hg. von Ekkehard Kaemmerling (Köln, 1979), S. 185-206. Sowie Erwin Panofsky, »Ikonographie und Ikonologie (Ausgabe 1939/1955)«, in Ikonographie und Ikonologie. Theorien, Entwicklungen, Probleme, hg. von Ekkehard Kaemmerling (Köln, 1979), S. 207-225. Wie Silke Wenk herausgearbeitet hat, verdankt sich die überarbeitete Fassung wohl nicht zuletzt auch der Anpassung an das englischsprachige Umfeld nach Panofskys Emigration in die USA. Der spätere Text zeige zudem einen deutlich didaktischeren Impuls. Spannenderweise wurde in der überarbeiteten Version der Begriff des Unterbewussten von Panofsky konsequent vermieden. Vgl. hierzu Wenk, Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne. S. 60. Vgl. Pierre Bourdieu, »Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung«, in Zur Soziologie der symbolischen Formen (Frankfurt a.M., 1970), S. 159-201. Hier S. 160. Vgl. Ebd. Vgl. Rebecca Krebs und Silke Wenk, Analysing the Migration of People and Images. Perspectives and Methods in the Field of Visual Culture (York, 2007), einsehbar unter: h ttps://www.york.ac.uk/res/researchintegration/Integrative_Research_Methods/Wenk  %20Visual %20Culture %20April %202007.pdf (letzter Aufruf: 13.07.2021). Hier wird im gleichen Zuge zudem auf die expliziten Bezüge Bourdieus zu Panofsky aufmerksam

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

Weiterhin arbeite der/die Künstler:in, so Bourdieu, unter den jeweiligen Bedingungen ihres/seines spezifischen »Feldes«, in dem die erwähnten semantischen und ästhetischen Traditionen, über die eine bestimmte Zeit und eine bestimmte Gesellschaft verfügt, institutionell und personell repräsentiert seien.49 Mit Bourdieus räumlicher Metapher des Feldes ließe sich der »Ort« künstlerischer Praxis, die stets relativ zu anderen möglichen Positionierungen bleibt, also durch die historischen (synchronen und diachronen) sowie nicht zuletzt durch die geografischen Distanzen und Nachbarschaften zu anderen Positionen veranschaulichen.50 Über ein jeweils spezifisches künstlerisches Feld, das seinerseits von den umfassenden Kreisläufen einer Gesellschaft abhängt, ist folglich die Künstler:in gleichzeitig mit anderen sozialen Feldern und deren Repräsentationssystemen verbunden. So gewinnt die ästhetisch-künstlerische Produktion gesellschaftliche Funktionen in anderen Bereichen der sozialen Realität und umgekehrt reichen soziale, politische, ökonomische, kulturelle, ästhetische Inanspruchnahmen und Funktionalisierungen in die Repräsentationssysteme der Künste hinein. Innerhalb dieses Beziehungsgeflechts definiert sich eine Künstler:in und wird definiert über seine/ihre künstlerischen Handlungen bzw. Haltungen, und zwar stets relational zu anderen Positionen auf der Grundlage von Differenzen und Differenzqualitäten.51 In der Fokussierung auf diesen nicht-essentialistischen, nicht-biografischen und nicht-identitätslogischen Ansatz liegen, meines Erachtens, die großen Stärken der an das Bourdieu’sche Denken geknüpften Begriffe des »Habitus« und des »Feldes«, mittels deren entlehnter Verwendung ich hoffe, innerhalb der meinerseits angestrebten Analytik, einer isolierten Betrachtung des einzelnen Bildes sowie der einzelnen Künstler:in entgegenzuwirken. Zudem bestünde der Vorteil dieses kontextsensiblen Modells künstlerischer Produktion nach Bourdieu gegenüber beispielsweise einer »klassischen« Klassentheorie der Künstler:in im marxistischen Sinne sowie gegenüber einer Kunstgeschichte, die die (attestierte) »Stilzugehörigkeit« einer Künstler:in als vermeintliche Determinante favorisiert, in der methodischen sowie inhaltlichen Flexibilität,

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gemacht. Julia Kristeva hat in diesem Zusammenhang auch von Intertextualität gesprochen. In Anlehnung an Michail Bachtins Theorie der Dialogizität bezieht sich demnach jede künstlerische Artikulation immer und ganz zwangsläufig auf andere, bereits vorhandene Texte oder Bilder. Vgl. hierzu Julia Kristeva, »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman«, in Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 3, Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaften 2, hg. von Jens Ihwe (Frankfurt, 1972), S. 345-375. Vgl. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des künstlerischen Feldes (Erstausgabe 1992) (Frankfurt a.M., 2001). S. 21f. Vgl. Ebd. S. 86. Vgl. Ebd. S. 90-92.

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Vjera Biller und das Kindliche

mit der künstlerische Produktion dabei betrachtet werden kann.52 Im Unterschied zu einer solchen »traditionellen« Kunstgeschichte, die stilistische Brüche zumeist lediglich als wechselnde künstlerische Einflüsse erklärt,53 gehören hier die künstlerischen Optionen zu den aktiven Strategien, mit denen sich eine Künstler:in im Repräsentationssystem – oder eben: im Bourdieu’schen »Feld« – der Künste einen Ort erarbeiten, diesen besetzen oder sich neu ausrichten kann. An die Stelle einiger weniger Determinanten (Klassenstatus, »Stil« etc.), denen Künstler:innen passiv unterliegen, treten damit folglich aktive und potenziell revidierbare künstlerische Entscheidungen, die die Künstler:in in ein Netz von Beziehungen, Abhängigkeiten und Funktionalisierungen hinein sozialisieren und von mannigfaltigen Unvorhersehbarkeiten geprägt sind. Die Begrifflichkeiten »Feld« und »Kontext«, um deren Verwendung ich im Rahmen dieser Studie bemüht bin, genießen gegenüber dem tradierten kunsthistorischen Begriff des »Einflusses« überdies den Vorzug, dass sie das Augenmerk stärker auf die außerbildlichen diskursiven Konstellationen lenken und diese zudem in ihrer Mehrdimensionalität und in ihrem Fluktuationspotenzial erfassen. Zugleich wird auch ihre situative Bedingtheit stets miteinbezogen: Während der »Einfluss« die Künstler:in lediglich im Sinne einer passiven Matrix entwirft, erscheinen künstlerisches »Feld« und/oder künstlerischer »Kontext« als Räume, in denen Künstler:innen als soziale Akteur:innen verstanden werden können. Nichtsdestotrotz muss an dieser Stelle, mit Mieke Bals und Norman Brysons bereits in den 1990er Jahren veröffentlichtem Grundlagentext,54 darauf verwiesen werden, dass »Kontextualisierung« selbst keinen Akt der historischen Objektivierung darstellt. Denn jede Kontextualisierung ist das Ergebnis einer (Aus-)Wahl, die aus der Perspektive der Rezipierenden bzw. der Interpretierenden getroffen wird und die ganz zwangsläufig in die Reflexion der Deutung eingehen muss, da sie eine Rahmung des Gegenstandes nach sich zieht, die notwendigerweise auch dessen wissenschaftliche Lektüre(n) mitbestimmt.55 Neben den soeben skizzierten Bourdieu’schen Impulsen lieferte Erwin Panofskys Ikonologie-Modell, das den Habitus-Begriff – obschon geringfügig modifiziert – ebenfalls und vorwegnehmend bemüht, wichtige Orientierungspunkte für meine Methodenskizze. Die Berücksichtigung situativer Kontextgebundenheiten

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Zur Kritik an Bourdieu aus der Perspektive von (Post-)Marxismus und Kritischer Theorie vgl. Craig Calhoun, Edward LiPuma und Moishe Postone, Hg., Bourdieu. Critical Perspectives (Chicago, 1993). S. 100f. Vgl. exemplarisch »jüngst« wieder u.a. von: Franz Neckenig, Stil-Geschichte der Kunst. Eine ganzheitliche Methode (Berlin, 2011). Vgl. Mieke Bal und Norman Bryson, »Semiotics and Art History«, The Art Bulletin, Nr. 73 (1991), S. 176-208. Vgl. Ebd.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

ist, nach Held und Schneider, konstitutiv für Panofskys Ikonologie.56 Im Unterschied zu den Überlegungen einiger seiner Zeitgenoss:innen, beispielsweise den gestalttheoretischen Ansätzen des Wiener Kunsthistorikers Hans Sedlmayr,57 setzt Panofsky kein disjunktives Verhältnis zwischen der ästhetischen und einer durch historisches Wissen angereicherten Wahrnehmung eines Bildes voraus. Vielmehr führt Panofskys Ansicht nach das im Rahmen seines dreistufigen Modells mittels vorikonografischer Beschreibung, ikonografischer Analyse und ikonologischer Interpretation generierte Wissen immer weiter in ein Verständnis des betreffenden Bildes hinein.58 Nicht ein »künstlerischer Kern« wird interpretativ aus den historischen, kulturellen und sozialen Bedingtheiten befreit, sondern diese Faktoren bilden im Sinne symbolischer Formen und Motiviken in ihren jeweiligen Konstellationen selbst den ästhetischen Sinn eines Bildes.59 Ihre außerbildlichen Referentiale mit aufzurufen lenkt für Panofsky folglich nicht von der ästhetischen Wahrnehmung ab, sondern verleiht ihr vielmehr erst eine notwendige historisierte Tiefendimension und bereichert sie somit.60 Eine Unterscheidung zwischen außerkünstlerischen und künstlerischen Anteilen eines Bildes ist damit für Panofsky ebenfalls sinnlos.61 Die Panofsky’sche Position ließe sich also wie folgt konkretisieren: Der Idee einer universellen Lesbarkeit von Zeichen im Visuellen muss eine Absage erteilt werden, da deren Intelligibilität stets kulturell, historisch und situativ abhängig und vermittelt bleibt.62 Jenseits dessen sind Lesbarkeit und Verständnis nicht möglich; ein Umstand, der sich mit Donna Haraway auch als radikale »Situiertheit des Wissens« beschreiben ließe.63 Die zwingend notwendige Voraussetzung für Verständnis wäre demnach also die Kenntnis des jeweiligen sozialen Kontextes oder Rahmens: des »historisch Anderen«, dem das primäre Forschungsinter-

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Vgl. Jutta Held und Norbert Schneider, Grundzüge der Kunstwissenschaft. Gegenstandsbereiche – Institutionen – Problemfelder (Köln/Weimar/Wien, 2007). S. 363. Vgl. exemplarisch: Hans Sedlmayr, Kunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichte (Hamburg, 1958). Zur Aufarbeitung der Sedlmayr’schen Sympathien mit dem Nationalsozialismus vgl. Hans Aurenhammer, »Hans Sedlmayr und die Kunstgeschichte an der Universität Wien 1938-1945«, in Schwerpunkt: Kunstgeschichte an den Universitäten im Nationalsozialismus, hg. von Jutta Held und Martin Papenbrock (Göttingen, 2003), S. 161-194. Vgl. Held und Schneider, Grundzüge der Kunstwissenschaft. Gegenstandsbereiche – Institutionen – Problemfelder. S. 363. Vgl. Ebd. Vgl. Panofsky, »Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst«. S. 190f. Vgl. Ebd. S. 191. Vgl. Sigrid Schade und Silke Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld (Bielefeld, 2011). S. 76. Vgl. grundlegend: Donna Haraway, »Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective«, Feminist Studies, Nr. 14 (1988), S. 575-599.

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esse Panofskys gilt, aber auch des »kulturell Anderen«.64 Für eine solche Analyse künstlerischer Objekte aus anderen Epochen – und nicht nur für diese – sei in der Folge, so Panofsky, das Studium literarischer Quellen unerlässlich: Dies erst führe zum »alltäglichen Vertrautsein mit Gegenständen und Ereignissen«65 im Rahmen der ikonografischen Analyse. Mit der Infragestellung der Möglichkeit einer »rein deskriptiven« Beschreibung, d.h. mit der Infragestellung der Möglichkeit einer Beschreibung ohne Deutung, erteilt Panofsky implizit überdies auch einer vermeintlichen Neutralität wissenschaftlicher Bildbetrachtung und -beschreibung eine Absage: Am Beispiel der Bildbeschreibung von Matthias Grunewalds ›Auferstehung Christi‹ von 1528 hatte Panofsky gezeigt, dass jede mit so vermeintlich eindeutigen Begrifflichkeiten wie »Stein«, »Mensch« oder »Felsen« operierende »formale Beschreibung« stets zwangsläufig auch schon Bedeutungsebenen mittransportiert und in diese »formale« Analyse hineinträgt.66 Diese programmatische Betonung von Kontextgebundenheiten lässt das Panofsky’sche Denken als besonders geeignet erscheinen für den meinerseits forcierten Forschungshorizont. Durch das Hinzuziehen und Befragen zenitistischer Textproduktion im Rahmen der Biller’schen Bildanalysen – Aufsätze Ljubomir Micićs im Zenit-Magazin, dem Leitartikel ›Барбарство као култура/Barbarstvo kao kultura‹ (»Barbarei als Kultur«) von Risto Ratković sowie einige Schriften Branko Ve Poljanskis – weist auch mein methodischer Zugang bisweilen eine gewisse Textpräsenz auf. Um aber einer einseitigen Vereinnahmung dieser Analysen als »reine Illustration« von Textinhalten kritisch zu begegnen, war es mir ein Anliegen, weitere Korrelate aufzuzeigen, zu denen sich Billers Kunstpraxis und Künstlerinnenposition verhält. Zum einen: der Bezug zu Kommunikationsgemeinschaften67 als Kontexte eines Bildes, und zum anderen: der Vergleich mit anderen Bildern als Kontexte eines Bildes. Die für Billers Kunstproduktion relevanten und historisch-konkreten Avantgarden wie die Budapester MA-Gruppe, den Berliner Sturm-Expressionismus sowie den jugoslawischen Zenitismus verstehe ich folglich als heterogene Kommunikationsgemeinschaften, die allerdings stets über eigene, mehr oder weniger kohärente diskursive Positionierungen (Ästhetik, Werte, Normen, Ideologien, Rhetorik …) im Feld der Künste verfügen. Die Identifizierung spezifischer Semantiken und deren Geworden-Sein innerhalb dieser Kommunikationsgemeinschaften wird neben der bereits erwähnten begleiten-

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Vgl. Schade und Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld. S. 76. Panofsky, »Ikonographie und Ikonologie«. S. 208. Vgl. Panofsky, »Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst«. S. 186f. Vgl. Hamid Reza Yousefi und Ina Braun-Yousefi, »Interkulturelle Theorie der Kommunikation«, in Interkulturalität (Darmstadt, 2011), S. 40-85. Hier S. 42.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

den Befragung avantgardistischer Textproduktion ebenso durch die komparatistische Analyse bildkünstlerischer Arbeiten aus MA, Sturm und Zenit erfolgen. Meine Bildanalysen stützen sich folglich auf die Annahme, dass der »genialen künstlerischen Erfindung« – zumal ex nihilo – eine Absage erteilt werden muss, da jede Kunstpraxis eingebettet bleibt im breiteren Feld der Künste und sich, wie in Billers Fall, im Bild-Text-Arsenal ganz unterschiedlicher avantgardistischer Kommunikationsgemeinschaften zwischen Belgrad, Berlin und Budapest bewegt. Julia Kristevas Begriff der Intertextualität, der davon ausgeht, dass die kreative Praktiken konstituierenden Bilder und Texte in ihrem status nascendi immer auf ein bereits bestehendes semantisch-ästhetisches Verweissystem aus Bildern und Texten bezogen und durch dieses vermittelt sind,68 hat hier einen weiteren wichtigen Gedankenimpuls geliefert, der in meine Überlegungen zur Methodenskizze miteinfließt. Aus dieser Perspektive heraus erscheint auch Billers Kunst folglich vor allem als Umarbeitung, Modifikation, Negation oder auch Imitation dessen, was Bourdieu wiederum als die symbolischen Ordnungen einer Gesellschaft bezeichnet hat.69 Die Frage nach einem solchen Geworden-Sein der Dinge sowie eine grundsätzliche Destabilisierung der klaren gattungstechnischen Trennung zwischen Text und Bild schließen an dieses Kristeva’sche Verständnis von Intertextualität an und prägen mein Analyseinstrumentarium. Im Prisma der Intertextualität lässt sich den Bedeutungsformen und -kontexten des von mir behandelten, ganz spezifischen semantischen Komplexes – Billers Oeuvrefragment und dessen Rezeption – jenseits von Gattungs- und Gewichtungsfragen einzelner Kontexte nachgehen. Eine Unterscheidung zwischen Form – oder gar: Stil – und Inhalt innerhalb der Bildanalysen ist damit ebenfalls hinfällig geworden, da sämtliche Bedeutungen von Stofflichkeit, Motiven oder Materialien ebenso historisch und sozial situiert sind wie die künstlerische Auseinandersetzung mit ihnen. Auch deren Rezeption folgt solchen Gebundenheiten.70 Hinsichtlich der Materialität des Biller’schen Oeuvrefragments ist folglich in meiner Analytik vor allem von Interesse, wie Bedeutungen an dieses mehrdimensionale Gewebe geknüpft werden: was wodurch und auf welche Weise repräsentiert bzw. zur Anschauung gebracht ist und wie dieses Zusehen-Gegebene in Abhängigkeit von bestimmten Deutungskontexten und Kommunikationsgemeinschaften lesbar wird. So produktiv meine Rezeption der Panofsky’schen Ikonologie und ihrer Grundannahmen über die umfassende Kontextgebundenheit eines Bildes auch war, soll an dieser Stelle dennoch der Hinweis auf einige Probleme und blinde Flecken dieses

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Vgl. Julia Kristeva, »Der geschlossene Text«, in Textsemiotik als Ideologiekritik, hg. von Peter Zima (Frankfurt a.M., 1977), S. 194-229. Hier S. 195. Vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst. S. 86. Vgl. Roland Betancourt, »Introduction: The Medium before Modernism«, West 86th: A Journal of Decorative Arts, Design History, and Material Culture, Nr. 23/2 (2016), S. 163-167.

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Modells erfolgen: Im Zusammenhang mit der von Panofsky an den Anfang seines Modells gesetzten vorikonografischen Beschreibung, deren Gegenstand das »primäre« oder »natürliche« Sujet darstellt, ist beispielsweise wiederholt auf den reifizierenden Impetus dieser Formulierung hingewiesen worden, der eine Trennung zwischen »Natur« und »Kultur« voraussetzt.71 Der bei Panofsky nicht eindeutig besetzte Begriff des »Natürlichen« könne, so Sigrid Schade und Silke Wenk, allerdings ebenso gut argumentativ auf die bereits erwähnte Unmöglichkeit einer nicht-deutenden Beschreibung verweisen. Dann wäre damit eine Ebene gemeint, die den Betrachtenden – weil selbstverständlich und automatisiert – unbewusst als »natürlich« erscheint.72 Nichtsdestotrotz sei, so die beiden Autorinnen, gerade auch Panofskys Kulturbegriff und dessen automatische Gleichsetzung mit »Hochkultur« aus der Perspektive der Visual Culture Studies sowie anderer kulturwissenschaftlicher Ansätze kritisch zu befragen.73 Die zweite Stufe des Ikonologie-Modells, die ikonografische Analyse, ist zudem aufgrund ihrer Hinwendung zum Sprachlichen – der Suche nach schriftlichen Quellen – als Hegemonieanspruch des Texts gegenüber dem Bild (miss-)verstanden worden74 und hat in der Folge bereits zu Lebzeiten Panofskys und darüber hinaus eine breite Fachdebatte über die (Über-)Bewertung neoplatonischer Traditionen in der Bildanalyse nach sich gezogen.75 Auch die dritte und damit letzte Stufe des Panofsky’schen Modells – die ikonologische Interpretation – ist, wie Schade und Wenk herausgearbeitet haben, in ihrer ursprünglichen Form kritik- und ergänzungswürdig.76 Sie frage, so Panofsky, nach den »eigentlichen Bedeutungen oder dem Gehalt«.77 Hier sei die Fähigkeit der »Vertrautheit mit den wesentlichen Tendenzen des menschlichen Geistes«78 gefordert, die geprägt und geformt werde durch persönliche Psychologie und Weltanschauung. Mit Hinblick auf das von Panofsky zur Erläuterung des Ikonologie-Modells bemühte und mithin berühmt gewordene Beispiel eines hutziehenden Mannes, konzentriert sich diese Stufe der

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Vgl. exemplarisch: Georges Didi-Huberman, Vor einem Bild (München, 2000). S. 48f. Vgl. Schade und Wenk, »Strategien des Zu-Sehen-Gebens. Geschlechterpositionen in Kunst und Kunstgeschichte«. S. 74. Vgl. Ebd. S. 80. Vgl. hierzu kritisch: Konrad Hoffmann, »Die Hermeneutik des Bildes«, Kritische Berichte, Nr. 14 (1986), S. 34-38. Vgl. dazu ausführlich Schade und Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld. S. 77-78. Vgl. auch Horst Bredekamp, »Götterdämmerung des Neoplatonismus«, Kritische Berichte, Nr. 14 (1986), S. 39-48. Vgl. Schade und Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld. S. 80. Panofsky, »Ikonographie und Ikonologie«. S. 211. Schade und Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld. S. 77.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

Interpretation auf das, was die Persönlichkeit des Hutziehenden charakterisiere: die Gesellschaftsschicht, die Tagesstimmung et cetera. Panofskys Erläuterungen dazu, welche Voraussetzungen und Regeln diesen interpretatorischen Akt kennzeichnen, bleiben jedoch unbestimmt und vage: Oskar Bätschmann hat infolgedessen darauf hingewiesen,79 dass dieser letzten Stufe, der ikonologischen Interpretation, nicht ohne Grund geradezu »magische« Qualitäten attestiert worden seien – Bätschmann spricht hier von »Divination«80 –, da Panofsky in der Tat an keiner Stelle im Detail klarmacht, wie diese Interpretation vermittelt oder geleistet werden könne. Bätschmanns Kritik verweist demnach auf einen blinden Fleck in Panofskys Konzept, der die Selbstreflexion der eigenen Position der Betrachtenden in Gesellschaft und Kultur betrifft. Wie Schade und Wenk mit Blick auf das prominente Beispiel des Hutziehens gezeigt haben, wird dabei klar, dass in diesem Moment der bezuggebende Kontext – »die soziale und kulturelle Kodierung von Bildung und Kennerschaft, [der] Status des Grüßens als geschlechtsspezifische Geste, [der] Habitus des Grüßenden als Zeichen von Männlichkeit und von darauf gründender Autorität«81 – außer Acht gelassen wird. Bei Panofsky »enthülle« sich den »erfahrenen« Beobachtenden dann schließlich einfach, was die Persönlichkeit dieses grüßenden Mannes ausmacht.82 In letzter Konsequenz habe dies – so Schade und Wenk weiter – zur Folge, dass eine derart »magisch« anmutende Interpretation nur unter »Gleichen« gelingen kann, denn das, was Panofsky als Vertrautheit beschreibt, sei de facto viel eher ein Wiedererkennen. Die Erfahrungshorizonte der eigenen Gesellschaftsschicht, der gleichen Kultur und des gleichen Geschlechts würden für diese Deutung somit »voraussetzungslos vorausgesetzt«.83 Panofskys Modell bleibe folglich, so die beiden Autorinnen, mit einem Widerspruch behaftet, insofern es einerseits kulturelle und historische Differenzierung fordert und zugleich diesen Anspruch in der eigenen theoretischen Umsetzung nicht immer ganz einlöst.84

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Vgl. Oskar Bätschmann, »Einleitung«, in Ursachen der Bilder. Über das historische Erklären von Bildern, vf. von Michael Baxandall (Berlin, 1990), S. 7-17. Hier S. 12-14. Ebd. S. 13. Schade und Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld. S. 79. Vgl. Ebd. Ebd. Vgl. Ebd. William Mitchell sieht indes in anderen Texten Panofskys wie z.B. Erwin Panofsky, »Die Perspektive als ›symbolische Form‹«, in Vorträge der Bibliothek Warburg (Leipzig, 1927), S. 258-330, eine derartige kritische Relativierung des kulturell hegemonialen Diskurses konsequent weitergeführt, vgl. William Mitchell, »Über die Evolution von Bildern«, in Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion, hg. von Hans Belting und Dietmar Kamper (München, 2000), S. 43-54. Hier S. 44.

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William Mitchell hat indes, wie Schade und Wenk erwähnen, in seinem Essay ›The Pictorial Turn«85 das Panofsky’sche Hutziehen als »›Urszene‹ [der] ikonologischen Wissenschaft«86 zu einer anderen bekannten »Urszene« in Bezug gesetzt: der der Anrufung in der Althusserl’schen Ideologietheorie.87 Beide stellen eine historisch-kulturelle Semantik dar, die sich als »natürlich« und »universell« geriert und damit als Gegenstand einer Ikonologie als Ideologiekritik – soll heißen: einer kritischen Ikonologie – nutzbar gemacht werden könnte.88 Eine solche kritische Ikonologie wäre indes, so scheint mir, auch überaus anschlussfähig an weitere Theoriebildungen seitens der postkolonialen und queer-feministischen Studien, etwa an Donna Haraways bereits erwähnte Überlegungen zur »Situiertheit des Wissens«.89 Diese, soeben in ihren Leitgedanken und Prämissen umrissene Methodenskizze mit ihren an Bourdieu und Panofsky sowie an Kristeva orientierten Impulsen hat folglich keineswegs den Anspruch einer geschlossenen methodisch-theoretischen Agenda. Vielmehr möchte ich meine Methodenskizze als ergebnisoffenes Analyseinstrumentarium verstehen, das stets die Grenzen vermeintlicher Transparenz im Blick behalten und auf die Fluiditäten von Bedeutung aufmerksam machen will.

2.1.2

Zu den Schlüsselbegriffen: Balkan und Barbarisches

Für die Analyse von Billers zum Fragment gewordenen Oeuvres sowie dessen Rezeption, die zur Beantwortung der Frage nach Mechanismen des (Un-)Sichtbarwerdens sowie der Selbstbehauptung herangezogen werden, sind aus dem Material heraus zwei Schlüsselbegriffe entwickelt worden: Balkan und Barbarisches. Beide Begriffe sind programmatisch für diesen semantischen Komplex, dienen meiner Analytik leitfadenartig als Orientierung und sollen nun im Anschluss ausführlich etabliert werden. Die Reihenfolge, in der diese Schlüsselbegriffe behandelt werden, soll dabei keine hierarchisch gedachte Ordnung wiedergeben, sondern dient lediglich dem Zweck der Leser:innenführung. Die Beschäftigung mit dem Begriff Balkan liegt dabei primär in der Einbindung und Präsenz Billers innerhalb solcher nach wie vor marginalisierter, nicht-

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Vgl. William Mitchell, »Der Pictorial Turn (Erstausgabe in ArtForum 1992)«, in Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, hg. von Christian Kravagna (Berlin, 1997), S. 15-40. Vgl. Mitchell, »Der Pictorial Turn«. S. 27. Vgl. Schade und Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld. S. 80f. Sowie Mitchell, »Der Pictorial Turn«. S. 32f. Vgl. Schade und Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld. S. 80-82. Vgl. Haraway, »Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Priviledge of Partial Perspective«. S. 599.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

westeuropäischer Avantgarden (MA in Budapest sowie Zenit in Zagreb und Belgrad) begründet, die zudem ihre unterkomplexe Rezeption als »Balkankünstlerin« nach sich gezogen haben.90 Das entsprechende Dissertationskapitel zum Balkanbegriff wird sich deshalb einer Betrachtung der mit dieser vielschichtigen Chiffre verknüpften Momente der Alterisierung widmen, die zwischen pejorativer Abgrenzung, Exotisierung, Orientalisierung sowie affirmativer Selbstbeschreibung und ethno-kulturellen Nationalismen oszillieren. Informiert durch das von Edward Said beschriebene Phänomen des Orientalismus91 sowie den daran anknüpfenden Überlegungen Maria Todorovas zum Balkanismus,92 werde ich den Versuch unternehmen, die unterschiedlichen Rhetoriken und identitätslogisch besetzen TextBilder zu skizzieren, die in den für meine Arbeit relevanten ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts an der Etablierung eines »andersartigen« Balkans beteiligt waren und die bis heute in der Rezeption Vjera Billers virulent werden. Die Konvergenz zwischen Said’scher Analyse und dem Feld der New Balkan Studies, die seit Beginn der 1990er Jahre die Forschung in den USA und Großbritannien geprägt haben, wurde nicht zuletzt durch die Veröffentlichung von Todorovas diskursereignishafter Studie ›Imagining the Balkans‹ 1997 angestoßen. Hier wird der Balkan im Sinne eines Alter-Egos des Westeuropäischen verstanden, »couched in negative political and cultural stereotypes, of a quasi-homogeneous hegemonic west engaged in its self-essentialization«.93 Balkanismus, als Beschreibung dieses umfassenden Alteritätsstatus sowie dessen Repräsentation, wurde in diesem Zuge entweder als eine Unterkategorie des Orientalismus behandelt (etwa bei Autor:innen wie Milica Bakić-Hayden, Dimitar Bechev, Vesna Goldsworthy und Alexander Vezenkov)94 oder aber als ein Diskurs, der sich trotz offenkundiger Analogien zum von Said beschriebenen Phänomen weitestgehend unabhängig davon bzw. bisweilen sogar in explizitem Widerspruch dazu entwickelt habe (etwa bei Autor:innen wie Dušan Bjelić, Katherine Fleming, Andrew Hammond, Ludmila Kostova, Obrad Savić und Maria Todorova).95 Im letztgenannten Korpus der Forschungsliteratur dient ei90 91 92 93 94

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Vgl. Karla Bilang, »Avantgarde vom Balkan. Vjera Biller (Belgrad) und Mascha JiwkowaUsunowa (Sofia)«. Vgl. Edward Said, Orientalismus (Frankfurt a.M., 1981). Vgl. Maria Todorova, Imagining the Balkans (Oxford, 1997). Mishkova, Beyond Balkanism. The Scholarly Politics of Region Making. S. 214. Vgl. Milica Bakić-Hayden, »Nesting Orientalisms. The Case of Former Yugoslavia«, Slavic Review, Nr. 54/4 (1995), S. 917-931. Dimitar Bechev, Constructing South East Europe. The Politics of Balkan Regional Cooperation (New York/London, 2011). S. 41-55. Vesna Goldsworthy, Inventing Ruritania. The Imperialism of the Imagination (New Haven, CT, 1998). S. 122-135. Sowie Alexander Vezenkov, »Entangled Geographies of the Balkans. The Boundaries of the Region and the Limits of the Discipline«, in Entangled Histories of the Balkans, Bd. 4, Concepts, Approaches, and (Self-)Representations, hg. von Roumen Daskalov et al. (Leiden/Boston, 2017), S. 115-256. Vgl. exemplarisch Todorova, Balkan Identities. Nation and Memory. S. 100-110. Katherine Fleming, »Orientalism, the Balkans, and Balkan Historiography«, The American Historical Review,

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ne attestierte »geographical and historical concreteness of the Balkans«96 vor allem dazu, einen Gegensatz zur »traveling and mostly symbolic nature of the Orient«97 in Stellung zu bringen, zeige aber letztendlich, so Diana Mishkova, vor allem den quer durch die Disziplin verlaufenden Grabenkampf, der die Integration bzw. Desintegration des Balkanismus-Konzepts in die Postcolonial Studies zum Gegenstand habe.98 Dem postkolonialistischen Impetus vieler Balkanismusforschenden sei zwar die um Ideologiekritik kreisende Problematisierung »balkanischer Differenz« als westeuropäisches Alterisierungsmoment zwischen »Erfindung«, »Imagination« und »Repräsentation« von ›Otherness‹ zu verdanken,99 zugleich liefere die Übertragung des konzeptuellen Apparatus‹ der postkolonialen Theorie auf eine Region, die eigentlich gar keine ausschließlich westeuropäische Kolonialherrschaft im »konventionellen« Sinne erfahren habe, Anlass für Kritik.100 Denn diese Übertragung lasse, so Mishkova, sowohl die historischen als auch die kulturell-geografischen Spezifika des Balkans (zunächst byzantinische, dann osmanische und schließlich österreichisch-ungarische Fremdherrschaft mit flukturierenden Grenzen im geografischen, kulturellen sowie sprachlichen Raum) völlig oder doch zumindest teilweise außer Acht.101 Die hierin sich abzeichnende verallgemeinernde Homogenisierung verschiedenster Weltregionen im Prisma westeuropäischer Kolonialherrschaft und eine damit einhergehende unterkomplexe Perspektive der honorary victimhood, die den jeweiligen nationalen und/oder ethnischen Gruppierungen im Zuge einer solchen verkürzten Imperialismus-Kritik bisweilen angetragen, zumindest aber bereitgestellt wurde, ist damit jüngst in den Fokus der innerdisziplinären Kritik gerückt: »Such reactions are to some extent influenced by the fact that, like in other East European societies, the reception of western postcolonial theories in the Balkans, particularly in Greece, Serbia and Bulgaria, has been dominated by nationalist intellectuals, both conservative and left wing. They use the ideas of Edward Said and other early postcolonial theorists to fuse their traditional interpretations on

Nr. 105/4 (2000), 1218-1233. Dušan Bjelić und Obrad Savić, Hg., Balkan as Metaphor. Between Globalization and Fragmentation (Cambridge, MA, 2002). S. 19-34. Sowie Andrew Hammond, The Debated Lands. British and American Representations of the Balkans (Cardiff, 2007). S. 38-45. 96 Mishkova, Beyond Balkanism. The Scholarly Politics of Region Making. S. 214. 97 Ebd. 98 Vgl. Ebd. 99 Vgl. exemplarisch Rastko Močnik, »The Balkans as an Element in Ideological Mechanisms«, in Balkan as Metaphor. Between Globalization and Fragmentation, hg. von Dušan Bjelić und Obrad Savić (Cambridge, MA, 2002), S. 79-116. 100 Vgl. Mishkova, Beyond Balkanism. The Scholarly Politics of Region Making. S. 214. 101 Vgl. Ebd. S. 215.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

the role of the great powers/imperialism and overt indulgence of the ›honorary victimhood‹ of their nation with more recent and ›hip‹ Euro-scepticism.«102 Die Rezeption früher post-kolonialistischer Theoriebildung im Allgemeinen und Saids Ideen im Besonderen habe, so Mishkova, keinen geringen Anteil an der Verfestigung und Perpetuierung populistisch politisierter Opfer-Rhetorik in Ländern wie Griechenland, Serbien und Bulgarien (zu ergänzen wären fernerhin auch: Rumänien, Kroatien und Ungarn), die – zusammen mit einem wachsenden Euroskeptizismus – die Forschungsdebatten vor Ort bestimmen. Pamela Ballinger hat in diesem Zusammenhang auf die unmittelbare Notwendigkeit der Berücksichtigung, Analyse und Kritik eben solcher post-kolonialer Re-Artikulationen einer von Said entlehnten honorary victimhood, die in den Dienst des (Ethno-)Nationalistischen gestellt wird, hingewiesen und dabei mehr Reflexion sowie ein stärkeres Problembewusstsein seitens der gesamteuropäischen Forschungsgemeinde angemahnt.103 Allen diesen Debatten gemein ist indes die Einbeziehung, Wertung und Positionierung des Balkans inmitten einer normativen Historizität und Diskursivität des (West-)Europäischen und somit dessen semantische »Normalisierung« durch westeuropäisch geprägte Narrative von Geschichte, Nation und Forschungskultur.104 Inspiriert durch die Studien Mishkovas und Todorovas möchte ich im Verlauf des »Balkan-Kapitels« vor allem die polarisierende Konfrontation zwischen einer »westeuropäischen« Kultur und einer von ihr als homogen imaginierten Balkanregion in den Fokus rücken, wohlwissend um gegenläufige Ideen und Konzeptualisierungen von Kultur(en)begegnung, beispielsweise durch kulturelle Hybridisierungsprozesse, wie sie allen voran von Homi Bhabha beschrieben worden sind.105 Im Falle des meinerseits untersuchten Zeitrahmens, vor allem aber hinsichtlich

102 Ebd. S. 216. 103 Vgl. Pamela Ballinger, »Whatever Happened to Eastern Europe? Revisiting Europe’s Eastern Peripheries«, East European Politics and Societies and Cultures 31/1 (2017), S. 44-67. Hier S. 56. 104 Ergänzend zu Ballingers Appel für ein erweitertes Problembewusstsein bezüglich der zunächst vielleicht paradox anmutenden Rezeption postkolonialer Theorien zu nationalistischen Zwecken, wäre an dieser Stelle auf eine ebenso nötige wie grundlegende semantische Erweiterung der Konzepte von »Europa« und »Moderne« hinzuweisen, um eine DeAlterisierung und De-Exotisierung des Balkans zu bewirken. Florin Curta, dem ich hier argumentativ folgen möchte, hat hinsichtlich der Forschungsparadigmen der Mediävistik eine ähnliche Position formuliert: »but its bewildering variety is often taken for a form of exceptionalism, an approach that proves to be wrong. […] adding the Southeast to the standard narrative of European history will raise more questions than it will answer […] The study of medieval Southeastern Europe requires an expansion of our understanding of the Middle Ages and the definition of Europe.« Florin Curta, Southeastern Europe in the Middle Ages 5001250 (Cambridge, 2006). S. 437. 105 Vgl. Homi K. Bhabha, The Location of Culture. Collected Essays (New York, 1994). S. 99f.

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der bis weit in die Zwischenkriegszeit nachwirkenden Verwerfungen der beiden Balkankriege 1912 und 1913 sowie des Ersten Weltkriegs, scheint es mir jedoch gerechtfertigt, hier von deutlichen Polarisierungstendenzen und Alterisierungsmomenten zu sprechen, die das diskursive Gefüge leitfadenartig bestimmen und die ihre ideologische Grundlage in einer unterstellten Kulturopposition Westeuropas gegenüber »dem Balkan« begründen. Selbiger wird aus dieser Schematisierung heraus, die im Übrigen auch die Auseinandersetzung westeuropäischer »Expert:innen« (z.B. des Briten Sir Robert Seton-Watson) mit der sog. »Balkan-Frage« bestimmt, noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs bereits als das »kriegerische Andere« eines vermeintlich zivilisierten Westens in den Blick genommen.106 Dieses oppositionslogisch organisierte Diskursschema einer grundsätzlichen kulturellen Differenz zwischen Westeuropa und »dem Balkan« ist nicht zuletzt auch für das identitätslogische Selbstverständnis der zenitistischen Avantgarde in Belgrad und deren künstlerisches Programm von nicht zu unterschätzender Wirkmacht gewesen. Denn im Zuge zunehmend nativistisch gerahmter Selbstinszenierungsstrategien und in Übereinstimmung mit den um die Schlagworte der Autarkie, Autonomie und »Balkanisierung« kreisenden Diskursspitzen der 1920er und 1930er Jahre107 – so etwa innerhalb der kommunistischen Balkan-Föderation (1920) oder der libertären Balkan-Unionsbewegung und deren zwischen 1930-34 veranstalteten Balkan-Kongressen – begibt sich auch der Zenitismus in der Sphäre des Avantgardistischen auf die Suche nach dem sog. homo balkanicus: »Ideals for ›the balkanization of Europe‹ were encapsulated in various vitalist imageries of the Balkans, like Vladimir Dvorniković’s ›epic man‹ (epski čovek), an epitome of the Balkans and the last refuge of the old – traditional, elevated and heroic – European values, or ›the Balkan Barbarogenius‹, a mythic hero of the most influential Yugoslav (Zagreb-based) avant-garde movement Zenit [kursiv im Original, Anm. MW], invoking a resurrected Balkan ethos and authentic existence capable of generating a new European culture in the face of western degeneration. […] the Zenitists believed in the capacity of the ›awakened Balkans‹ – once it had severed all links with the bourgeois values and resurrected the ›Yugo-Balkan prototype of the HERO-HUMAN‹ [Kapitalisierung im Original, Anm. MW] – to heal Europe of its ›paralysis‹ and erosion and turn the margins into the centers of a new and healthier world. Their daring reversal of the hierarchy consecrated by bourgeois culture, whereby the ›superior‹ (civilization, Europe, progress, education etc.) and the ›inferior‹ (primitivism, the Balkans, […]) radically switched places, went beyond an avant-gardist revolt against established norms and canons and beyond

106 Vgl. Hammond, The Debated Lands. British and American Representations of the Balkans. S. 87-90. 107 Vgl. Mishkova, Beyond Balkanism. The Scholarly Politics of Region Making. S. 72.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

the radicalization of art: it empowered a conversion of the Balkans into a locus of exclusivist culture and identity.«108 Dieser von Mishkova auch am Beispiel des Zenitismus beschriebene und um geschlechterlogisch wirksam werdende Tropen von Heroismus und Schöpfungspotenz organisierte Versuch einer Transsubstantiation »des Balkans« im Sinne einer uranfänglichen Kreativitätsinstanz und eines vermeintlich autochthonen Geistes (der »balkanischen Seele«) mit umfassendem zivilisatorischem Potenzial wird vor allem in der Zwischenkriegszeit virulent.109 Hier ließe sich beispielsweise Ljubomir Micić mit seinem 1925 veröffentlichten Poem ›Avion sans Appareil (fragment ex poème antieuropénne)‹ zitieren, das in der Zenit-Ausgabe Nr. 37 abgedruckt wird: »Balkan est un jeune homme/Europe une vieille putaine.«110 In Ablehnung des alterisierenden westeuropäischen Balkan-Diskurses wird die zenitistische Selbst-Narration als Balkan-Avantgarde entlang dieser semantischen Engführung auf einen heroenhaften und hypervirilen Balkan, sprachbildlich figuriert durch das Jungmännliche, und in misogyner Gegenüberstellung mit der »alten Hure Europa« entwickelt.111 Auf die sich darin abzeichnende Verquickung von Balkanismus und Maskulinismus, die im Sinne eines Exklusionsmechanismus für Vjera 108 Ebd. S. 92. Zu kritisieren bliebe hier Mishkovas Verwendung des Degenerationsbegriffs ohne Anführungszeichen (»in the face of western degeneration«), der eine Historisierung sowie Einordnung desselben insbesondere aufgrund seiner Virulenz in den rassistischen und antisemitischen Vernichtungspolitiken der Folgezeit (im Nationalsozialismus, im Ustaša-Regime etc.) vermissen lässt. Hinsichtlich der Latenz von rassifizierender Rhetorik innerhalb dieses Balkan-Diskurses schon in der Zwischenkriegszeit vgl. exemplarisch folgendes Zitat des jugoslawischen Film- und Kunstkritikers Boško Tokin aus dem Jahr 1928: »In dieser Epoche zog sich durch diese ganze Zeit die Idee des Balkanismus, ein unklar zum Ausdruck gebrachter Wunsch nach ästhetisierendem Dynamismus auf rassischer Grundlage, etwas, was spezifisch für uns, den Balkan, ist.« (eigene Übersetzung) Boško Tokin, »Sedam posleratnih godina naše književnosti«, Letopis Matice srpske, Nr. 318/3 (1928), S. 380-382. Hier S. 380. 109 Vgl. Mishkova, Beyond Balkanism. The Scholarly Politics of Region Making. S. 92. Sowie Vladimir Mihajlović, »Genius loci Balkani. Recepcija prošlosti i konstruisanje akademskog narativa o balkanskom nasleđu«, Etnoantropološki problemi, Nr. 8/3 (2013), S. 779-803. 110 Ljubomir Micić, »Avion sans Appareil (fragment ex poème antieuropénne)«, Zenit, Nr. 37 (1925), o. S. [S. 3]. 111 Zu betonen bleibt an dieser Stelle, dass für solche identitätslogisch besetzte Konzeptualisierungen keineswegs ein Einheitsanspruch erhoben werden kann: So referieren kroatische und slowenische Künstler:innengruppen und Avantgarde-Intellektuelle der Zwischenkriegszeit beispielsweise auf den Terminus Balkan, um ihn als Selbstbeschreibung kategorisch abzulehnen. Dies wird begründet mit einer jeweils als dezidiert dem Westeuropäischen zugehörigen eigenen Historie, die mal mit geografischen, mal mit ethno-kulturellen, mal mit christlich-konfessionellen Argumenten verfochten wird. Dabei spielt insbesondere die Frontstellung zwischen Katholizismus (Kroatisch/Slowenisch, »Westlich«, Europa) versus Orthodoxie (Bulgarisch/Griechisch/Serbisch, »Östlich«, Balkan) eine wichtige Rolle. Vgl. dazu: Mishkova, Beyond Balkanism. The Scholarly Politics of Region Making. S. 96.

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Vjera Biller und das Kindliche

Billers Selbstpositionierung und Rezeption als zenitistische Künstlerin nicht unerheblich gewesen sein dürfte, wird an anderer Stelle noch zurückzukommen sein. Der zweite Schlüsselbegriff, das Barbarische, leitet sich ebenso direkt aus dem vorliegenden Studienmaterial ab und ist, wie bereits angeklungen, aufs Engste mit dem zenitistischen Programm verbunden, das hier als heterogene, aber dennoch kohärente Artikulationsinstanz einer spezifischen Kommunikationsgemeinschaft verstanden wird. Mittels des Blicks ins Zenit-Magazin und der dort reproduzierten Texte wird das zenitistische Verständnis des Barbarischen als eine positiv (neu-)besetzte Identifikationsfigur für künstlerische – und zugleich: ausschließlich männlich konnotierte – Ingeniösität skizziert. Zugleich wird in Hinblick auf Billers erfolgreiche Positionierung als Zenitistin diese Zentralsemantik des Barbarischen auf ihre geschlechterlogisch organisierten Exklusionsmomente für nicht-männliche Kunstproduktion hin untersucht werden, die Billers Leitmotiv aushebelt und zugleich aneignend affirmiert (Kapitel 3.1. sowie 3.1.1 und 3.1.2). Die Eruierung jener Strategien, mit denen die Zenit-Avantgarde eine positive Umdeutung und ReEtablierung des Barbarischen vom negativ besetzten westeuropäischen Schmähbegriff zur Idealfigur barbarisch-balkanischer Kreativkompetenz vornimmt, wird dabei im Sinne einer Hinführung und anhand von zenitistischem Textmaterial in den Fokus der Betrachtung rücken (Kapitel 2.2.2).

2.1.3

Kanonisierungsfragen

Wenn bereits von Kommunikationsgemeinschaften die Rede war, so soll damit nicht nur die Frage nach den breiteren bildlichen, schriftlichen und ideologischen Relaten einer künstlerischen Arbeit gestellt, sondern auch die Träger:innenschaften dieser Praxis in den Vordergrund gerückt werden: Billers Oeuvrefragment ist stark eingebunden in die jeweilige avantgardistische Kommunikationsgemeinschaft (MA, Sturm, Zenit), in deren Rahmen bestimmte Ideen, Bilder, Texte, Konzepte und künstlerische Praktiken rezipiert, produziert, honoriert und akzeptiert werden. All diese Kommunikationsgemeinschaften sind dabei nicht als geschlossen oder gar homogen zu denken, sondern haben sich – wie meine Untersuchung zeigen wird – im Gegenteil an vielen Stellen als Konfliktstruktur erwiesen. Mit dem oben getätigten Verweis auf die situativen und sozialen Abhängigkeiten der An- und Aberkennung von künstlerischer Produktion, die auch, aber nicht nur an bestimmte Kommunikationsgemeinschaften rückgebunden sind, ist ferner bereits die Frage nach den hier angelegten Bewertungskriterien sowie letztlich nach kanonbildenden Mechanismen angeklungen. In diesem Zusammenhang soll jedoch nicht die letztlich müßige Frage gestellt werden, welche Werturteile über Vjera Biller und ihre Kunstpraxis nun »richtig« oder »falsch« sind. Im Mittelpunkt meines Interesses an Kanonisierungsfragen steht vielmehr deren funktionsanaly-

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

tischer Aspekt. Gemeint sind damit jene kanonisierenden Konstituierungsabläufe und die dabei getätigten teils immanenten, teils expliziten Wertzuschreibungen, wie sie im Rahmen meiner Kritik im Kapitel 1.4 zum Forschungsstand und der unterkomplexen Rezeption Billers in der Fachgemeinde bereits erkennbar wurden und die insbesondere mein Nachdenken über mögliche methodische Zugänge und Schwerpunktsetzungen unmittelbar mitbeeinflusst haben. Während »Kanon«, aus dem Alt-Griechischen hergeleitet, zumeist mit »Maßstab«, »Richtschnur« oder manchmal auch als »Norm« übersetzt wird,112 beschreibt er innerhalb der kunstwissenschaftlichen Fachdisziplin auch die als mehr oder weniger verbindlich geltende Festlegung eines bestimmten Corpus vermeintlich herausragender Künstler:innen und ihrer Arbeiten, die dann als Meisterwerke (Deutsch), masterpieces (Englisch), chef-d’oeuvres (Französisch), capolavori (Italienisch),113 weitaus seltener auch als mestermű (Ungarisch) oder remek-djelo (BKS)114 reüssieren. Durch entsprechende Diskurse wird dieses Corpus bewahrt, modifiziert, bisweilen auch infrage gestellt. Wichtig ist zudem festzuhalten, dass dieser Kanon so gut wie nie eine explizite Ausformulierung, geschweige denn Festschreibung erfahren hätte.115 Der kunstwissenschaftliche Kanon geriert sich vielmehr als ein imaginäres Konstrukt, das auf stetige wissenschaftliche und institutionelle Reproduktion sowie (unbewusste) Verinnerlichung angewiesen ist, dadurch jedoch nicht weniger wirkmächtig wird.116 Jenseits eines relativ festen Kerns, der auch über längere Zeiträume hinweg nahezu konstant bleiben kann,117 erscheint der Kanon an seinen Rändern zunehmend diffus und offen, was insbesondere die Frage nach der Einbeziehung oder Ausklammerung der sogenannten »kleineren« oder »marginalen« Künstler:innen betrifft.118

112 113 114 115 116 117

118

Vgl. Held und Schneider, Grundzüge der Kunstwissenschaft. Gegenstandsbereiche – Institutionen – Problemfelder. S. 244. Vgl. Ebd. für diese schlagwortartige Aufzählung in Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch. Meine Ergänzungen zielen auf die auch auf sprachlicher Ebene realisierte Unterrepräsentation nicht-westeuropäischer Kunstgeschichtsschreibung. Vgl. Ebd. S. 246. Vgl. grundlegend Griselda Pollock, Encounters in the Virtual Feminist Museum. Time, Space and the Archive (London, 2007). S. 36f. Ich denke dabei beispielsweise an die langanhaltende und teils bis heute ungebrochen andauernde »Antikenbegeisterung« der westeuropäischen Kunstgeschichte(n). Vgl. Franziska Bomski, Hellmut Seemann und Thorsten Valk, Hg., Die Erfindung des Klassischen. WinckelmannLektüren in Weimar (Göttingen, 2017). S. 23-24. Und: Albrecht Koschorke, »Geschlechterpolitik und Zeichenökonomie. Zur Geschichte der deutschen Klassik vor ihrer Entstehung«, in Kanon, Macht, Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, hg. von Renate von Heydebrand (Stuttgart, 1998), S. 581-599. Vgl. Pollock, Encounters in the Virtual Feminist Museum. Time, Space and the Archive. S. 12f.

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Der Kanon ist also, wie insbesondere Griselda Pollocks und Rozsika Parkers Grundlagenforschungen gezeigt haben, per definitionem innerästhetisch durch Werturteile organisiert und angelegt, besitzt aber dennoch eine nicht zu unterschätzende machtvolle Außenwirkung mittels seiner Leitbildfunktion.119 Diese wiederum kann für bestimmte Konzeptualisierungen von Nation, Kultur, Klasse, Bildungsschicht usw. funktionalisiert werden. Aufgrund seiner weitestgehend westozentrischen Orientierung wird dabei letztlich das Muster einer in (West-)Europa von vorbildlichen »großen Männern« errungenen Kunst kolportiert, die zudem seit der Ausbildung dieses Modells im Verlauf des 19. Jahrhunderts, beispielsweise in den diskursmächtigen Texten Jacob Burckhardts, vor allem mit den Idealen und ästhetischen Vorstellungen des Bildungsbürgertums konveniert.120 Genau deswegen bleibt der Kanon meines Erachtens auch auf den Einspruch und die Widerrede seitens queer-feministischer und postkolonialer Kunstgeschichtsforschungen angewiesen. Dies umso mehr, da »unsere« Disziplin diesen Kanon, im Sinne des außerhalb ihrer Grenzen an Wertmustern bereits Erzeugten, nicht selten unhinterfragt stabilisiert. Durch den ihr öffentlich zugebilligten Expert:innenstatus wird dieser der Tendenz nach männliche, heteronormative, christliche, Weiße Kanon von der Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft mitgetragen und bisweilen sogar verstärkt, obschon die Disziplin an dessen Konstituierung neben Institutionen wie Museum, Galeriewesen und Kunstmarkt nur sekundär beteiligt scheint.121 Wenn bislang vom Kanon lediglich im Singular die Rede war, so erscheint mir das – dies nur als letzte Randnotiz – insofern gerechtfertigt, als ich mich innerhalb meines hier veranschlagten Analyseinstrumentariums auf diesen einen dominanten, westozentristisch geprägten Kanonkomplex bezogen habe. Damit soll allerdings keineswegs die Möglichkeit der Existenz mehrerer Kanones im Sinne eines Nebeneinanders in Abrede gestellt werden.122 Immerhin stellt auch die Kunstwissenschaft als Forschungsdisziplin bei Weitem kein homogenes Gebilde dar, sondern ist intern hinsichtlich der Vorstellungen von dem, was sich als Kunst qualifi-

Vgl. Ebd. S. 125. Sowie Griselda Pollock und Rozsika Parker, »Dame im Bild«, in Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als feministische Kulturwissenschaft, hg. von Beate Söntgen (Berlin, 1996), S. 7193. 120 Vgl. Hoffmann-Curtius und Wenk, Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert. S. 88f. 121 Vgl. exemplarisch: Julia Voss, Hinter weißen Wänden (Berlin, 2015); Isabelle Graw, Der große Preis. Kunst zwischen Markt und Celebrity Kultur (Köln, 2008); sowie jüngst Larry Silver und Kevin Terraciano, Hg., Canons and Values. Ancient to Modern (Los Angeles, 2019). S. 10f. 122 Vgl. Gaby Pailer, »Gattungskanon, Gegenkanon und ›weiblicher‹ Subkanon. Zum bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts«, in Kanon, Macht, Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, hg. von Renate von Heydebrand (Stuttgart, 1998), S. 365-382. 119

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

ziert und was diese Kunst anschließend zu leisten, darzustellen und zu vermitteln hat, notwendigerweise diversifiziert. Dies gelegentlich auch in durchaus konfliktartiger Weise, was wiederum zur Entstehung und Etablierung unterschiedlicher gruppen- und forschungsinteressensabhängiger, teilweise widerstreitender Kanones beiträgt.123

2.1.4

Resümee der Methodenskizze

Geschärft an diesen Einsichten seitens der postkolonialen und queer-feministischen Kunstwissenschaft sowie den Bourdieu’schen, Kristeva’schen und Panofsky’schen Impulsen hat sich meine Methodenskizze zu einem Plädoyer für die geschichtliche Situiertheit des Künstlerischen entwickelt. Sie beinhaltet die konsequente Offenlegung von kontextabhängigen »Nicht-Objektivitäten«, methodologischen »Fallstricken« und bisweilen auch inhaltlichen Sackgassen, die das Nachdenken über Bilder und deren Kontexte prägen und auf die Panofsky bereits in Ansätzen durch die Unmöglichkeit der nicht-wertenden Bildbetrachtung – und somit auch: der Unmöglichkeit der wissenschaftlichen Lektüre – aufmerksam gemacht hat. Ein solches selbst-kritisches Reflektieren, Modellieren und »Zerlegen« der eigenen wissenschaftlichen Praxis hat Kristeva bereits 1968 im Kontext des Tel Quel gefordert: Ihre eigene Disziplin und deren Methode (die Semiologie) sei lediglich als Kritik derselben zu realisieren.124 Der Diskurs der Semiologie »stellt die Ideologie seiner ›Gegenstände‹ und die seines eigenen Zeichenmusters in Frage und denkt sich selbst als Ideologie«125 , so Kristeva. Immer wieder aufs Neue die Frage nach dem Nichtbehandelten, dem Nichtverfügbaren und (Un-)Sichtbar-Gemachten innerhalb akademischer Wissensproduktion (und anderswo) mitzudenken und zu stellen, sehe ich folglich als zentrale Aufgabe einer selbstreflexiven, kritischen Wissenschaft. Das in diesem Kapitel von mir umrissene und an einer durch postkoloniale und queer-feministische Theoriebildungen geschärften Ikonologie orientierte Analyse-

123

Vgl. zum Beispiel das Interesse an Johann Joachim Winckelmann und dessen Historiografie seitens queer-feministischer Akteur:innen: Wolfgang Cortjaens, Hg., Winckelmann. Das göttliche Geschlecht. Ausst.Kat. Schwules Museum* Berlin (Petersberg, 2017). 124 Silke Wenk hat indes darauf verwiesen, dass sich Kristeva mit ihrer Konzeption der Semiologie als gleichzeitige Kritik derselben in die Nachfolge der Marx’schen wissenschaftlichen Praxis stellt, »insofern diese ein absolutes System (einschließlich des Systems der Wissenschaft) verwirft, aber die wissenschaftliche Strategie – Aufbau von Modellen, der Hand in Hand geht mit dem Aufbau der den Modellen zugrundeliegenden Theorien – beibehält.« Kristeva, »Semiologie. Kritische Wissenschaft und/oder Wissenschaftskritik«. S. 40. Vgl. hierzu auch: Wenk, Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne. S. 66. 125 Julia Kristeva zitiert nach Peter Zima, »Diskurs als Ideologie«, in Textsemiotik als Ideologiekritik, hg. von Peter Zima (Frankfurt a.M., 1977), S. 7-31. Hier S. 10.

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Vjera Biller und das Kindliche

instrumentarium beansprucht indes keinesfalls, methodische oder gar theoretische Grundlage von umfassenden kunstwissenschaftlichen Bildanalysen zu sein bzw. sein zu können. Vielmehr möchte ich meine durch die beiden Schlüsselbegriffe Balkan und Barbarisches geprägte Analytik als ein situatives und in seiner Genese unmittelbar durch das Biller’sche Ouevrefragment und dessen Rezeption informiertes Instrumentarium im Sinne Michel Foucaults verstanden wissen.126 Mit ihm kann dieser sehr spezifische Untersuchungsgegenstand kontextgebunden durchleuchtet und auf verschiedene dort wirksam werdende Relate, Semantiken und Ideologeme – das Nicht-Männliche, das Nicht-Westeuropäische, das NichtGentile – untersucht werden. Im Anschluss an Foucault denke ich die dabei bedeutsam werdenden Diskurse nicht nur, aber auch als Ausschließungs-Verhältnisse, die ihrerseits auf unterschiedlich gelagerte Macht- und Hierarchieverhältnisse verweisen,127 von denen zugleich das mit ihnen intrinsisch verwobene historische Bildgedächtnis nicht ganz frei sein kann. Mit Aby Warburg ließe sich in diesem weitestgehend als »kanonisierend« zu bezeichnenden Zusammenhang auch von »auswahlbestimmende[r] Macht« sowie von einem »tendenziösen ›sozialen Gedächtnis‹« sprechen.128 Es liegt mir fern, aus meinen an diese Perspektivierung geknüpften, partiellen und subjektiven Erkenntnisinteressen kunstwissenschaftliche Konzeptionen mit Gesamtheitsanspruch abzuleiten, wie die einer alternativen Historiografie, etwa »die Kunstgeschichte des Zenit«, oder einen alternativen Künstlerinnenkanon, beispielsweise nach feministischen Kriterien, aufzustellen. Den offenkundig postkolonial und queer-feministisch informierten Pfadabhängigkeiten meiner Analytik folgend, wendet sich das vorliegende Buch mit seinem Fokus auf eine heute völlig unbekannte jüdische Künstlerin, die mit dem geografischen Raum Südosteuropa129 assoziiert wird, vielmehr programmatisch jenen Semantiken und Zuschreibungen zu, die Züge der Devianz, der Differenz und der Desautomatisierung tragen. Damit wird absichtsvoll versucht, so manchem der bereits skizzierten blinden Flecken der eigenen Fachdisziplin (Genie-Narrativ, Künstl-er-Mythos,

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129

Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (Frankfurt a.M., 1974). S. 27f. Vgl. Ebd. S. 99f. Aby Warburg, Gesammelte Schriften, Bd. 2, Die Erneuerung der Heidnischen Antike, hg. von Gertrud Bing (Leipzig 1932). S. 564. Warburg hatte, etwa zur gleichen Zeit wie Sigmund Freud, begonnen, eine Signifikantentheorie zu entwickeln, in deren Rahmen die sogenannten Pathosformeln als Bezeichnendes untersucht wurden, deren Bedeutetes sich wiederrum unter fluktuierenden historischen Konstellationen verschieben und verändern kann. Vgl. weiterführend: Wenk, Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne. S. 71f. Zur mithin problematischen Begriffsgeschichte »Südosteuropas« im Rahmen der deutschsprachigen ›Ostforschung‹ der 1930-40 Jahre vgl. Mishkova, Beyond Balkanism. The Scholarly Politics of Region Making. S. 10ff.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

Westozentrismus, Heteronormativität …) inhaltlich sowie analytisch kritisch zu begegnen und damit – so die Hoffnung – den Kristeva’schen Anspruch einer selbstreflektierenden Kritik des eigenen Faches zumindest ein Stück weit einzulösen. Im Anschluss an die Methodenskizze sollen nun die für meine Arbeit und für die späteren Analysen relevanten Schlüsselbegriffe – Balkan und Barbarisches – ausführlicher qualifiziert werden. Dieselben im Sinne mehr oder weniger wirksamer ideengeschichtlicher Epochensignets in den kontextspezifischen Bild-TextDiskursen der 1920er Jahre zu verorten, wird die Aufgabe der folgenden Kapitel sein.

2.2 2.2.1

Schlüsselbegriffe: Balkan und Barbarisches Den Balkan gibt es nicht. Oder doch? Zur Persistenz ethnifizierender Zuschreibungen

Der Begriff »Balkan«, ursprünglich aus dem Türkischen stammend, beschreibt im geografischen Sinne zunächst einmal das gleichnamige Gebirge Стара планина/Stara planina (»alter Berg«) an der Grenze des heutigen Serbiens und Bulgariens.130 Als Bezeichnung einer vermeintlich homogenen Region dient er allerdings in den westeuropäischen Bild- und Textdiskursen verstärkt seit der Jahrhundertwende als Sammelbegriff für die sog. »Balkanhalbinsel«,131 darunter das heutige Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Rumänien, Serbien, Slowenien und bisweilen, je nach Publikation, auch der nördliche Teil Griechenlands. Folglich den Konstruktionscharakter des Terminus »Balkan« und seine zahlreichen Essentialisierungen sowie Ethnifizierungen zu konstatieren, stelle deshalb eine Binsenweisheit dar, wie Karl Kaser bemerkt hat.132 Die Frage, die am Beginn dieser Ausführungen steht, lautet im Anschluss an Kaser also nicht, ob es sich um ein Konstrukt handelt, sondern wie dieses Konstrukt entstehen konnte. Und welche diskursiven Funktionalisierungen in dem für meine Studie relevanten Betrachtungszeitraum in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts an dessen Etablierung beteiligt waren bzw. dessen Perpetuierung bis in die jüngeren und jüngsten kunsthistorischen Historiografien begünstigen.

130 Vgl. Ebd. S. 9. 131 Vgl. Ebd. S. 7. 132 Vgl. Karl Kaser, »Gibt es den Balkan doch? Krieg und visuelle Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts«, in Den Balkan gibt es nicht. Erbschaften im südöstlichen Europa, hg. von Martina Baleva und Boris Previšić (Köln, 2016), S. 142-157. Hier S. 157.

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Vjera Biller und das Kindliche

Wie Maria Todorova herausgearbeitet hat, waren für die westeuropäische Konzeptualisierung des Balkans in den Bild-Text-Diskursen der 1910er und 1920er Jahre vor allem die beiden Balkankriege von besonderer Relevanz.133 Vor allem in der Kriegsberichterstattung wurde »der Balkan« verstärkt homogenisiert, imaginiert und diskursiviert. Innerhalb dieser Berichte entwickelten die beiden »neuen« Medien – Fotografie und Film – beachtliche Virulenz, da sie mit ihrem vermeintlich dokumentarischen und »objektiven« Anspruch dem Konstrukt scheinbar besonders authentischen Gehalt verliehen und dabei gewissermaßen den überaus anschaulichen Beweis lieferten, dass es »den Balkan« – zumal: einen besonders kriegerischen – tatsächlich gab.134 Diesbezüglich spricht Kaser in seinem 2016 erschienen Beitrag zugespitzt von einer »regelrechten visuellen Revolution«135 auf dem Balkan und der entsprechenden westeuropäisch geprägten Berichterstattung über die Region, die von den sechs langen Kriegsjahren zwischen 1912 und 1918 ausgelöst worden sei. Im Verlauf der beiden Balkankriege (1912-1913) und des Ersten Weltkriegs (1914-1918) ließe sich, so Kaser, ein besonders starker Impuls zur Ins-Bild-Setzung »des Balkans« durch in- und ausländische Fotografen und Filmproduzenten konstatieren. Dies wiederum habe die Etablierung asymmetrischer visueller Machtbeziehungen zwischen »dem Balkan« und »Westeuropa« mit sich gebracht,136 deren Manifestationen in den Fokus von Kasers Forschungsinteresse rücken: Denn, wie der Autor im Verlauf der Studie anhand einschlägiger Beispiele zeigt, fungieren Fotografie und Film vor diesem Hintergrund zugleich als identitätsstiftende Relate für Westeuropa, das sich somit in Abgrenzung zum »barbarischen« und kriegerischen Balkan seiner eigenen »Zivilisiertheit« rückversichern kann.137 Auf die Implikationen einer solchen diskursiven Gleichsetzung von Balkan und Barbarischem wird im Verlauf meines Schlüsselbegriffskapitels erneut zurückzukommen sein.

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Vgl. Todorova, Imagining the Balkans. S. 128. Vgl. Kaser, »Gibt es den Balkan doch? Krieg und visuelle Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts«. S. 157. Ebd. Zur Problematisierung des Begriffs »Westeuropa«, der aufs Engste mit Ideen »des Westens« sowie des »Abendlandes« korreliert vgl. grundlegend Edith Hanke, »Max Weber weltweit. Zur Bedeutung eines Klassikers in Zeiten des Umbruchs«, in Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne (1890-1970), hg. von Gangolf Hübinger (München, 2014), S. 285-306. Benedikt Stuchtey, »Liberalismus und Russlandbild bei Isaiah Berlin«, in Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne (1890-1970), hg. von Gangolf Hübinger (München, 2014), S. 229-248. Sowie Gabriele Dietze, Claudia Brunner und Edith Wenzel, Hg., Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht (Bielefeld, 2009). Vgl. Kaser, »Gibt es den Balkan doch? Krieg und visuelle Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts«. S. 152.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

Diese von Kaser konstatierte hierarchische Asymmetrie zwischen »Westeuropa« und »dem Balkan« im Bereich des Visuellen wird anschließend vor allem mit einem eklatanten Ungleichgewicht an in- und ausländischen Positionen innerhalb der Kriegsberichterstattung begründet, die zumeist aus westeuropäischer Perspektive erfolgte und somit einige der oben genannten Tendenziösitäten aufweise.138 Denn die meisten Kamerateams und Frontfotograf:innen, die zu den Kriegsschauplätzen der Balkankriege beordert wurden, waren zumeist bei den großen Medienbüros in New York, London, Paris oder Berlin engagiert, sodass angesichts dieser westeuropäischen Dominanz in der Berichterstattung einheimische Eingaben meist auf wenige Einzelbeiträge beschränkt blieben. In der daraus resultierenden Einseitigkeit der Kriegsberichterstattung sei die Propagierung eines vermeintlich »von Natur aus« kriegerischen Balkans überhaupt erst in dieser Form ermöglicht worden, so Kaser.139 Als sprechendes Exempel hierfür ließe sich zum Beispiel auf die von den französischen und US-amerikanischen Pathé-Studios produzierten Kriegsdokumentationen verwiesen, die seit ca. 1910 als Wochenschauen unter dem Titel Pathé Weekly vertrieben und in den Kinosälen großer Filmspielhäuser in den USA, Frankreich und Großbritannien einem westeuropäischen Publikum präsentiert wurden.140 Die Mehrzahl der sog. Balkan-Länder hingegen wies, wie Konstantin Kostov herausgearbeitet hat,141 zur gleichen Zeit keine vergleichbare öffentliche Präsenz des Mediums Film auf: So wurde beispielsweise das erste Kino in Belgrad im Jahre 1909 im dortigen ›Hotel Paris‹ eröffnet, während zu diesem Zeitpunkt bereits an die 2400 Kinos in Westeuropa existierten, davon allein 200 in Berlin.142 Dementsprechend kann es kaum verwundern, dass die überwältigende Mehrzahl der Kriegsberichterstattungen von ausländischen Fotografen und Kamerateams für westeuropäische Filmbüros produziert wurden. Im Bereich der Zeitschriften- und Magazinproduktion ließe sich allerdings im Falle Serbiens, wie Kostov ebenfalls anmerkt, auch auf die Beteiligung regionaler Formate an der Diskursivierung des Kriegsgeschehens verweisen, so etwa im Rahmen der Publikation ›Балкански рат у слици и речи/Balkanski rat u slici i reči‹ (»Der Balkankrieg in Bild und Wort«), die in Belgrad herausgegeben wurde und in Teilen der städtischen Leser:innenschaft zirkulierte.143 Die Etablierung einer solchen Zeitschriften- und Journalkultur in den Kriegsjahren hat, meiner Ansicht nach, überdies den Weg für die Publikationsaktivitäten der Zenitist:innen in der Zwischenkriegszeit bereitet, 138 139 140 141 142 143

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Konstantin Kostov, Balkanskite vojni v svetovnoto kino (Plovdiv, 2008). S. 218-250. Vgl. Ebd. S. 222f. Vgl. Kaser, »Gibt es den Balkan doch? Krieg und visuelle Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts«. S. 149. Vgl. Kostov, Balkanskite vojni v svetovnoto kino. S. 225. Auch online einsehbar unter: http://ubs m.bg.ac.rs/cirilica/dokument/1916/balkanski-rat-u-slici-i-reci (letzter Aufruf: 16.07.2021)

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Vjera Biller und das Kindliche

da hier bereits wichtige Distributions- und Konsumkanäle für das Medium Zeitschrift erschlossen worden waren. Entlang dieser asymmetrischen Machtbeziehungen innerhalb der Kriegsberichterstattung zwischen 1912 und 1918 lassen sich überdies pejorative Generalisierungen »dem Balkan« gegenüber im Sinne eines prävalenten Diskursmusters identifizieren, die diesen zunehmend auch als politisiertes Synonym für die ideologisch ausdeutbare Fragmentierung großer Imperien in den Blick nehmen: Der Zerfallsprozess des zaristischen Russlands (1916-17), Österreich-Ungarns (1918-19) sowie des Osmanischen Reiches (1908-23) wurde in diesem Zusammenhang als Mitauslöser der Kriege und Konfliktlagen in der Balkan-Region ausgedeutet und der vermeintliche »Rückfall« des Balkans in Tribalismus, Instabilität und Barbarei somit als das Andere des »zivilisierten Westeuropas« diskursiviert.144 Vor diesem Hintergrund und in Abgrenzung zu solchen westeuropäischen und meist pejorativen Balkan-Diskursen nimmt allerdings zur gleichen Zeit auch eine Auseinandersetzung mit dem Balkanbegriff von »balkanischer« Seite ihren Ausgang,145 die im Folgenden vor allem im Bereich des künstlerisch Vermittelten nachvollzogen werden soll. Sie bildet gewissermaßen die Grundlage für die von Nativismen und Balkanismen geprägten Rhetoriken der Zwischenkriegszeit, die sich im Programm des Zenitismus als selbsternannte »Balkan«-Avantgarde verdichten und die als ein stratifikatorischer Fokalisiations- sowie Referenzpunkt für die Selbstpositionierung und Rezeption Vjera Billers in diesem künstlerischen Kontext dienen. Die ideologische Auseinandersetzung mit einer positiven Konzeptualisierung des Terminus »Balkan« zwecks Selbstbeschreibung sowie einer damit verbundenen Etablierung von dezidierter »Balkan-Kunst« lässt sich, wie Nenad Makuljević gezeigt hat,146 bereits in die ersten Jahre nach der Jahrhundertwende und somit in die Zeit vor Ausbruch der beiden Balkankriege zurückverfolgen: Schon während der 1904 im Nachgang der Krönung Petar Aleksandrović Karađorđevićs, genannt Peter I., zum König der SHS in Belgrad veranstalteten Kunstausstellung unter der Leitung von Miloje Vasić werden die Schlagworte »Balkan« und »Balkan-Kunst«

144 Vgl. Todorova, Imagining the Balkans. S. 121. Indes hat Julia Kristeva darauf aufmerksam gemacht, dass solche Alterisierungsmechanismen nur auf der Kontrastfolie eines dem Ich gegenüberstehenden Anderen zu bewerkstelligen sind, der/die die Abgrenzung des Eigenen (auch des kollektiv Eigenen) überhaupt erst ermöglicht. Diesen Mechanismus sieht Kristeva bereits im Rahmen frühkindlicher Mutter-Kind-Beziehungen am Werk. Vgl. Julia Kristeva, La Révolution du langage poétique : L’avant-garde à la fin du XIXe siècle, Lautréamont et Mallarmé (Paris, 1974). S. 67f. 145 Vgl. Mishkova, Beyond Balkanism. The Scholarly Politics of Region Making. S. 35f. 146 Vgl. Nenad Makuljević, »Inventing and Changing the Canon and the Constitution of Serbian National Identity in the Nineteenth Century«, in Symmeikta. Zbornik radova povodom četrdeset godina Instituta za istoriju umetnosti Filozofskog fakulteta Univerziteta u Beogradu, hg. von Ivan Stevović (Belgrad, 2012), S. 505-516. Hier S. 506.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

zentral. Im Rekurs auf den Topos der »Brüderlichkeit der Balkanvölker« sowie eine unterstellte Universalität der Kunst proklamiert Vasić, designierter Professor der Belgrader Universität und Begründer der serbischen »Nationalarchäologie«, in seiner Eröffnungsrede: »Die Ausstellung konnte zum ersten Mal einen echten Erfolg auf dem Gebiet der Arbeit an der kulturellen Vereinigung der Jugoslawen verzeichnen. […] Monumentale Kunst ist ein Feld, auf welchem sich die jugoslawische Gemeinschaft nicht am besten, aber doch am einfachsten manifestieren kann […], denn […] es gibt keine Sprach- oder Stammes-Barrieren […]. Im Gegenteil, eine Statue oder ein Bild, ein Genrebild, ein Portrait oder eine Landschaftsmalerei, und darüber hinaus auch ein Historienbild egal von welchem jugoslawischen Künstler wird für jeden jugoslawischen Bruder verständlich sein.«147 Hier wird folglich der einheitsstiftenden Funktion einer solchen Balkan-Kunst die bedeutsame Rolle unterstellt, das Künstlerische mit dem Kulturellen im »Jugoslawischen« zu vereinen. Ähnliche um Aufwertung und Etablierung einer »eigenen« Kunst- und Kulturgeschichte des Balkans bemühte Rhetoriken lassen sich indes bereits seit den 1830er Jahren im Kontext des Illyrismus,148 einer der südslawischen Nationalbewegungen innerhalb kroatischer Intellektuellenkreise in Zagreb, nachweisen.149 Fernerhin rekurrieren auch Beiträge zur Kanonisierung einer dezidiert Miloje Vasić, »Jugoslovenska umetnička izložba«, Srpski Knijževni Glasnik, Nr. XIII/2 (1904), S. 113-116. Hier S. 113. Nach Nenad Makuljević, »Jugoslawien vor Jugoslawien. Südslawische Brüderlichkeit unter Künstlern«, in Brüderlichkeit und Bruderzwist. Mediale Inszenierungen des Aufbaus und des Niedergangs politischer Gemeinschaften in Ost- und Südosteuropa, hg. von Tanja Zimmermann (Göttingen, 2014), S. 213-229. Hier S. 220 [in der Übersetzung von Slavica Stevanović]. 148 Der Begriff Illyrismus, im kroatischen Kontext auch Hrvatski narodni preporod (›kroatische nationale Wiedergeburt‹), rekurriert im Sinne einer Selbst-Bezeichnung auf die gleichnamige literarisch-philosophische Bewegung des 19. Jahrhunderts. Namensgebend ist hierbei dem Zeitgeist der Antikenbegeisterung folgend Illyrien, jener kulturell und militärisch arrivierte Siedlungsraum an der Adriaküste, der zwischen dem 5. und 3. Jhd. v. Chr. Bestand hatte und die sog. »Illyrischen Provinzen« (u.a. das heutige Dubrovnik, Triest und einen Großteil Dalmatiens) umfasst. Vgl. dazu ausführlicher: Reinhard Stauber, »The Illyrian Provinces«, in The Napoleonic Empire and the New European Political Culture, hg. von Michael Broers, Peter Hicks und Agustin Guimerá (Basingstoke, 2012), S. 241-253. Sowie Rok Stergar, »Nationswerdungsprozesse und neue Grenzen. Der Zusammenbruch der französischen Herrschaft in den Illyrischen Provinzen und ihre (Re-)Integration in das Kaisertum Österreich«, in Am Rande der großen Politik. Italien und der Alpenraum beim Wiener Kongress, hg. von Brigitte Mazohl, Karin Schneider und Eva Maria Werner (Innsbruck, 2017), S. 97-122. Und Janez Šumrada, »Državnopravni status Ilirskih provinc s kratkim pregledom upravne ureditve«, in Vilfanov zbornik. Pravo, zgodovina, narod (Ljubljana, 1999), S. 375-390. 149 Vgl. Makuljević, »Jugoslawien vor Jugoslawien. Südslawische Brüderlichkeit unter Künstlern«. S. 214. 147

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südslawischen Kunstgeschichte, allen voran Ivan Kukuljević Sakcinskis mehrbändiges Künstlerlexikon ›Slovnik umjetnikah jugoslavenskih‹ explizit auf die Trope balkanischer Brüderlichkeit und Eigenständigkeit, die Vasićs Eröffnungsrede fast fünfzig Jahre später wieder aufgreift.150 Sakcinskis Lexikon, das 1858 in Zagreb erschienen war und bis heute als »Gründungsdokument« der kroatischen Kunstgeschichte reüssiert, versammelt eine Vielzahl an Malern, Architekten, Bildhauern, Komponisten und Kunsthandwerkern und betont im Vorwort den expliziten Mangel an slawischen Perspektiven in den bisherigen Historiografien der westeuropäischen Kunstgeschichten.151 Im Anschluss insistiert Kukuljević dem illyrischen Zeitgeist folgend auf der Schlüsselstellung Dalmatiens als kulturelles Zentrum des Balkans, verweist jedoch gleichzeitig auch auf die außerhalb dessen (bspw. in Kroatien, Serbien, Slawonien, Istrien, Bosnien, Krain, Kärnten, Niedersteiermark, Görz und Bulgarien) zu findende Kunstproduktion, die es aufgrund eines gemeinsamen »illyrisch-südslawischen Geistes« zu würdigen gelte.152 Eine dergestalt imaginierte Balkan-Kunst könne folglich den Gegenpol zu den Kunstgeschichte(n) Westeuropas und deren, in der Tat, meist konsequenter Vernachlässigung südosteuropäischer Kunstproduktion bilden.153 Kukuljevićs Versuch der Etablierung einer eigenen »balkanischen« Kunst- und Kulturtradition sowie deren Historiografie in Abgrenzung zum westeuropäischen Kanon büßt, wie das nachstehende Zitat Nadežda Petrovićs veranschaulichen soll, in den Folgejahrzehnten nur wenig an Aktualität ein. Petrović, eine der wenigen kanonisierten Malerinnen der serbischen Moderne,154 verfasst im Zuge der bereits 150 151 152 153

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Vgl. Ebd. S. 214. Vgl. Ivan Kukuljević Sakcinski, Slovnik umjetnikah jugoslavenskih (Zagreb, 1858). S. I. Vgl. Ebd S. II. Sakcinskis kanonbildendes Gründungsdokument versammelt ausschließlich männliche Künstler aus den als genuin slawisch identifizierten Regionen. Künstlerinnen werden in dieser Schrift konsequent ignoriert. Ähnliches lässt sich gleichsam, mit einigen wenigen Ausnahmen, auch für die disziplinkonstituierenden Schriften der westeuropäischen Kunstgeschichte etwa Giorgio Vasaris Viten konstatieren. Vgl. hierzu grundlegend Zimmermann, Hg., Kunstgeschichte und Gender. Sowie Mechthild Fend und Marianne Koos, Hg., Männlichkeit im Blick. Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit (Böhlau, 2004). Petrovićs Arbeiten wurden sowohl im Pariser Herbstsalon als auch im Serbischen Pavillon während der Esposizione di Roma 1911 gezeigt. Neben der bereits 1965 erschienenen umfassenden Monografie von Katarina Ambrozić, die nicht nur Petrovićs umfassendes Werkverzeichnis enthält, sondern auch ihre engen Verbindungen zu Marianne von Werefkins Salon in München sowie ihre Zusammenarbeit mit der russischen Avantgardistin Alexandra Exter betont, ist Petrovićs Konterfei heute auf dem serbischen 200-Dinar-Schein abgebildet. Bisweilen tendiert die kunsthistorische Würdigung von Petrovićs Werk im serbischen Kontext zu einem mal mehr mal weniger nationalistischen Duktus, der jenseits des künstlerischen Oeuvres vor allem Petrovićs Verdienste während der Balkankriege betont: Die Künstlerin war von 1912 bis 1915 freiwillige Krankenpflegerin an der Kriegsfront. Infolgedessen an einer Flecktyphusinfektion erkrankt, verstarb Petrović am 3. April 1915 im Feldlazarett von Valjevo. Vgl.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

oben erwähnten und von Vasić kuratierten Balkankunstschau in Belgrad anno 1904 in der Kunstzeitschrift ›Delo‹ folgende Ausstellungskritik: »Die vereinten Jugoslawen werden für sich ihre eigenen Dauerausstellungen konzipieren, […], sie werden ihre eigene Schule und eigene Kunstgeschichte formieren, die in die allgemeine Kunstgeschichte als ein Ganzes einfließen werden, so wie es die italienische, deutsche, französische usw. mit ihren verschiedenen Schulen tun.«155 Hier wird erneut das Einschreiben in einen von Westeuropa dominierten Kunstkanon zum erklärten Ziel der eigenen »balkanischen« Kunstproduktion und deren Publikumspräsentation. Während in Petrovićs Zeilen in der Betonung einzelner Länderschulen (italienische, deutsche, französische usw.) eine Hinwendung zum Nationalen in der Konzeptualisierung von Balkan-Kunst bereits anklingt, verschärft sich eine solche von Nationalismen durchzogene Diskursivierung in den darauffolgenden Jahren. Insbesondere mit Blick auf die überaus prominente Rezeption des Oeuvres und der Künstlerpersona des Bildhauers Ivan Meštrovićs, mit dem Petrović bereits 1905 die erste jugoslawische Künstlervereinigung (»Lada«) im serbischen Sićevo gegründet hatte.156 Der nach der überaus publikumswirksamen Präsentation seiner Arbeiten in den zentralen Räumen des Serbischen Pavillons auf der internationalen Kunstausstellung Esposizione di Roma im Jahre 1911 einsetzende Personenkult um Meštrović wurde dabei nicht zuletzt durch den Kunstkritiker Dimitrije Mitrinović angestoßen, dessen im Münchener Journal ›Kunst für Alle‹ publizierte Ausstellungsrezension wenig Zweifel an der ideologischen Verortung desselben lässt: »Freilich die offizielle Bezeichnung ›Pavillon des Königreichs Serbien‹ ist irreführend. Die große Masse des serbischen Volkes lebt heute außerhalb Serbiens Grenzen, in Südungarn, Kroatien, Bosnien, Herzegowina, Dalmatien, Montenegro und Mazedonien. Sie alle aber, jene aus Oesterreich-Ungarn wie die aus Montenegro und der Türkei, haben in dem Pavillon Serbiens ausgestellt, denn sie wollten so, obwohl bescheiden an Zahl und Kraft, ihre nationale Einheit betonen. […] daß man an die Zukunft glauben muss, wenn man sie schaffen will, daß die in zwei

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Katarina Ambrozić, Nadežda Petrović 1873-1915 (Belgrad, 1965). Der kategorische Ausschluss Petrovićs aus der in den »Avantgarde Critical Studies« erschienenen Publikation zu Marianne von Werefkins Künstlerinnen-Zirkel bestätigt erneut die Perpetuierung »des Balkans« als blinder Fleck innerhalb jüngerer Fachdiskurse. Vgl. Tanja Malycheva und Isabel Wünsche, Hg., Marianne Werefkin and the Women Artists in Her Circle (Leiden, 2016). Nadežda Petrović, »Prva Jugoslovenska umetnička izložba«, Delo, Nr. 32 (1904), S. 20-128. Hier S. 128. Nach Makuljević, »Jugoslawien vor Jugoslawien. Südslawische Brüderlichkeit unter Künstlern«. Hier S. 221 [in der Übersetzung von Slavica Stevanović]. Vgl. Ambrozić, Nadežda Petrović 1873-1915. S. 145-173.

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Kulturen (die serbisch-byzantinische und kroatisch-westliche), in drei Konfessionen (die orthodoxe, die katholische und moslemitische), in vier Staaten und sieben Parlamente gespaltene Nation sich erst geistig, kulturell einigen müsse, wenn sie auf eine staatliche Einigung Anspruch machen wolle; daß man dem kulturellen Europa eigenen Kulturwert beweisen müsse, wenn man das Recht der freien und nationalen Entfaltung erlangen wolle.«157 Neben dem erneuten Rekurs auf die Notwendigkeit einer Einschreibung in den Kunstkanon Westeuropas zur Unterbeweisstellung des »eigenen Kulturwerts« werden in Mitrinovićs Zitat politisierte Einigungsbestrebungen thematisiert, die die vermeintliche Zerstreuung eines als ursprüngliche Einheit imaginierten »serbischen Volkes« auf Kunstebene vorwegzunehmen versuchen.158 Zugleich installiert Mitrinović jene scheinbar primordiale Dichotomie der miteinander unvereinbaren Kulturkreise des Balkans durch römische bzw. byzantinische Traditionen und den daraus resultierenden Gegensätzen des Westlichen (Kroatien, und wie zu ergänzen bliebe: Slowenien) auf der einen Seite sowie des Östlichen (Serbien) auf der anderen Seite. Im Sinne eines proteisch wiederkehrenden Diskursmusters wird dieses Gegensatzpaar auch die späteren nativistischen Balkanismus-Debatten der Zwischenkriegszeit mitbestimmen, die sich ebenfalls im Programm des Zenitismus abbilden und dort bisweilen in die latent serbisch-chauvinistischen Polemiken Ljubomir Micićs münden.159 Auf die inhaltliche Verquickung der Ideologeme »Serbentum« und »Byzanz«, die sich in der Mitrinović’schen Ausstellungskritik bereits ankündigen, wird im Rahmen von Kapitel 4.1.1 nochmals in aller Ausführlichkeit einzugehen sein. *** Die thematische Ausrichtung der Ausstellung Ivan Meštrovićs im Pavillon des Serbischen Königreichs auf der Esposizione di Roma im Jahre 1911 sowie dessen anschließende Rezeption als »slawischer Michelangelo« ist indes auch in weiterer Hinsicht von Bedeutung: Denn bereits kurz vor Ausbruch der beiden Balkankriege und einer daraus resultierenden vermehrten Ins-Bild-Setzung des Balkans als einer vermeintlich notorisch instabilen, kriegerischen und rückständigen Region werden hier die Chiffren des Kriegerischen, Balkanischen und des Virilen als positive Selbstbeschreibungen für die Konzeptualisierung der Termini Balkan-Kunst 157 158

159

Dimitrije Mitrinović, »Serbische Kunst auf der Internationalen Kunstausstellung in Rom«, Die Kunst für Alle, Nr. 3 (1911), S. 53-62. Hier S. 54 und 58. Hinzuweisen bliebe überdies auch auf Mitrinovićs augenfällige Exklusion der jüdischen Religion, die in dessen Aufzählung der dem Balkan zugehörigen Konfessionen im Gegensatz zu Katholizismus, Orthodoxie und Islam keinerlei Erwähnung findet. Vgl. Nenad Makuljević, Umetnost i nacionalna ideja u XIX veku. Sistem evropske i srpske vizuelne kulture u službi nacije (Beograd, 2006). S. 79-82.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

und Balkan-Künstler etabliert. Solche hyper-maskulinisierenden Tendenzen lassen sich bereits in Vladimir Nazors bekanntem Gedicht ›Kip‹ (»Skulptur«/»Statue«) von 1910 nachzeichnen, in denen Nazor Meštrović zur Figur des Perun stilisiert: der altslawisch-paganen Gottheit des Krieges, die, getrieben von Wut, Heldenmut und Kampfeslust, Skulpturen aus Blut, Feuer und Stein erschaffe.160 Meštrovićs Bildhauerei geriert somit zur »feurigen Kriegskunst« und wird innerhalb dieser Perspektivierung als vermeintlich mythisch, archaisch, genuin »balkanisch«, vor allen Dingen aber als heroisch-hypermaskulin apostrophiert. Eine thematische Zuspitzung dieser ans Hyper-Virile geknüpften Balkanität im Sinne einer Geschlechterlogik, die in der Künstlerpersona Meštrovićs ihre symptomatische Entsprechung findet, lässt sich ebenfalls bereits 1911 im Ausstellungskonzept des Serbischen Pavillons in Rom finden. Wie die Kunsthistorikerin Tanja Zimmermann herausgearbeitet hat, inszeniert der Künstler hier medien- und publikumswirksam den sog. »Kosovo-Mythos« aus serbischer Perspektive sowie dessen Protagonisten Miloš Obilić als Nationalhelden.161 Die Motivik dieses auf den Juni des Jahres 1389 zu datierenden Waffengangs der Serben gegen die osmanischen Truppen des Sultans Murad I. unter der Führung Obilićs auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) nahe dem heutigen Priština im Kosovo perpetuiert dabei, jenseits eines von Zimmermann betonten unifikatorischen Moments im Appell an einen geeinten Balkan in der Widerstandstradition dieser Region gegenüber Fremdherrschaften am Vorabend des Kriegsausbruchs,162 meiner Ansicht nach ebenso ein hyper-viriles Männlichkeitsideal, das um den Topos der Heldenhaftigkeit und der Freiheitsliebe kreist: »a long-standing tradition, harking back to the early nineteenth century, of seeing the Balkan Slavs […] as the embodiment of quintessential manliness, love for freedom, heroism, and unspoiled authenticity«.163 Eine derartige Perpetuierung des ideologischen wie motivischen Konnexes zwischen Balkanität und Hyper-Virilität zeigt sich in aller Deutlichkeit in der Aktualisierung dieses Topos durch Meštrović auch noch in den darauffolgenden Kriegsjahren. So werden auf der vielbeachteten Meštrović-Ausstellung im Victoria & Albert Museum in London im Jahre 1915, ein Jahr nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, Exponate des Künstlers gezeigt, die den sprechenden Titel ›Fragmente 160 Vgl. Makuljević, »Jugoslawien vor Jugoslawien. Südslawische Brüderlichkeit unter Künstlern«. S. 333. 161 Vgl. Tanja Zimmermann, »Ausstellungswesen und transnationales nation building im Ersten und Zweiten Jugoslawien«, in Brüderlichkeit und Bruderzwist. Mediale Inszenierungen des Aufbaus und Niedergangs politischer Gemeinschaften in Ost- und Südosteuropa, hg. von Tanja Zimmermann (Göttingen, 2014), S. 230-247. Hier S. 235. 162 Zudem fehlt in Zimmermanns Ausführungen der Verweis auf die dem Kosovo-Mythos strukturell inhärenten anti-muslimischen Ressentiments, insbesondere in der serbischen Rezeption dieses Topos. Vgl. Ebd. S. 235ff. 163 Mishkova, Beyond Balkanism. The Scholarly Politics of Region Making. S. 52.

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des Kosovo-Tempels‹ tragen.164 Diese skulpturalen Fragmente würden einerseits, so Zimmermann, an die ruinenhaften Reste einer weit entfernten Vergangenheit, an die »membra disjecta der südslawischen Nation [Hervorhebungen im Original, Anm. MW]«,165 erinnern. Andererseits wären sie aufgrund ihrer plastischen Körperlichkeit ebenso in der Lage, im breiteren Kontext der zeitgenössischen Kriegsberichterstattung und deren Bildarsenal ganz konkrete Assoziationen an die zerstückelten Leichname gefallener Frontsoldaten auf den Schlachtfeldern Europas zu wecken.166 Meštrovićs Skulpturen wären somit, so Zimmermann weiter, eingebettet in die umfassendere Auseinandersetzung der Alliierten mit der sog. Balkan-Frage und würden für einen neuzugründenden multinationalen Staat auf dem Balkan unter serbischer Führung werben.167 Die Kunstschau Meštrovićs in London, mitorganisiert von Sir Robert William Seton-Watson, einem Balkanologen, Historiker und Abgeordneten im britischen Parlament, folgte überdies einem kuratorischen Gesamtarrangement, das an den im Titel der Exponate evozierten Tempel erinnerte, wie sich anhand zeitgenössischer Fotografien rekonstruieren lässt, die sich in der hauseigenen Sammlung des Museums erhalten haben und die Zimmermann für ihre Analyse konsultiert: So wurde das Londoner Publikum beispielsweise bereits im ersten Ausstellungsraum durch eine Reihe antikisierter Karyatiden geführt und an deren Ende mit einer zentral angeordneten monumentalen Sphinx-Skulptur konfrontiert. Alle übrigen Skulpturen Meštrovićs stellten erneut vornehmlich die bekanntesten Figuren der serbischen Heldenepik dar: den Anführer der Schlacht auf dem Amselfeld, Miloš Obilić, sowie das Reiterdenkmal des Königssohns Marko, gefolgt von mehreren Reliefs mit antikisierenden Darstellungen serbischer Krieger.168 Der im Anschluss an die Ausstellung im Victoria & Albert Museum sich verstärkende Personenkult um Meštrović ist dann auch wenig überraschend von eben jenen geschlechterlogisch organisierten Ethnifizierungs- und Maskulinisierungsmustern geprägt, die bereits angerissen wurden. Angesichts der Inszenierung heroischer Männlichkeit als »balkanische« Primogenitur finden solche Stilisierungen ebenfalls Eingang in die Begleittexte und Rezensionen der Londoner Kunstschau aus der Feder Seton-Watsons. Als vermeintlicher »Schöpfer eines balkanischen Pantheons« und somit als Balkan-Künstler par excellence wird Meštrović von Seton-Watson goutiert, der 1915 in seiner Funktion als Politiker zugleich das britische Parlament von der 164 Vgl. Zimmermann, »Ausstellungswesen und transnationales nation building im Ersten und Zweiten Jugoslawien«. S. 233. 165 Ebd. S. 237. 166 Zur Trope versehrter Körperlichkeit in der Kunst vgl. grundlegend Irmela Marei KrügerFürhoff, Der versehrte Körper. Revisionen des klassizistischen Schönheitsideals (Göttingen, 2001). 167 Vgl. Zimmermann, »Ausstellungswesen und transnationales nation building im Ersten und Zweiten Jugoslawien«. S. 234. 168 Vgl. Ebd.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

Bedeutung Serbiens als Verbündeter der Alliierten und damit als kriegsstrategisches Gegengewicht zum wachsenden Einfluss der Achsenmächte auf dem Balkan zu überzeugen versuchte.169 Meštrovićs auffallend archaisierende Reiterdenkmäler waren indes bereits einige Jahre zuvor im Kontext der Münchener Kunstkritik und dem schon erwähnten Journal ›Die Kunst für Alle‹, thematisiert worden. Nach dem Besuch des Serbischen Pavillons auf der Esposizione di Roma 1911 konstatiert Hans Barth, Kunsthistoriker und eine der bekannteren Stimmen des Magazins, angesichts der Reiterfiguren Meštrovićs: »Und diese Männer! Jeder eine fast obszöne Herkuleskarikatur! Jener Attilaähnliche Heerfürst, der wie eine Tigerkatze auf einem Monstregaule hockt, der mehr als ein Stockwerk hoch ist! Ein unglaubliches Können, eine künstlerische Urkraft, deren Schöpfungen nicht für ein kulturgezähmtes europäisches Publikum des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern für Tiermenschen der Vorwelt bestimmt scheinen.«170 Die Betonung einer hyper-virilen und überdies dezidiert »balkanischen« Männlichkeit, die Barth hier an die Gestalt des Hunnenkönigs Atilla erinnert,171 führt dazu, dass der Autor selbige zwar einerseits als Karikatur ihrer selbst diskreditiert, sie aber andererseits in der ihr attestierten kreativen »Urgewalt« auch als regelrechte Bedrohung für das vermeintlich »kulturgezähmte europäische Publikum«172 verstanden wissen will und ihr somit eine nicht zu unterschätzende Wirkmacht unterstellt. Durch Barths Verwendung von höchst assoziativen Wortbildungen wie »Tigerkatze«, »Monstregaul« und »Tiermensch« tritt der anti-zivilisatorische Duktus des dadurch entworfenen Bildes »wilder« und überaus kriegerischer »BalkanMännlichkeit« besonders deutlich zu Tage. Die Etablierung einer solchen Tendenz zur Hyper-Virilisierung des Balkans sowie seiner Künstler:innen, die sich im Zuge der Kriegsjahre 1912-1918 noch amplifi-

169 Vgl. Mishkova, Beyond Balkanism. The Scholarly Politics of Region Making. S. 17-25. 170 Hans Barth, »Die Römische Kunstausstellung«, Die Kunst für Alle, Nr. 22 (1911), S. 526-528. Hier S. 527. 171 Barths Aufrufen der Attila-Figur, die hier mit dem Balkanischen assoziiert wird, zeigt indes die Unkenntnis des Autors mit Blick auf deren Symbolik und nationale Diskursivierung: Denn Attila wird vor allem im Nationalkontext Ungarns im Sinne einer mythisch-heroenhaften Gestalt rezipiert und mit den Magyaren, als nationale Selbstzuschreibung, in Verbindung gebracht. Zugleich findet dabei mit dem Verweis auf Attila, der als ungarischer Nationalheld firmiert, eine dezidierte Abgrenzung zum »slawischen Balkan« statt. Mit dem Verweis aufs Attila’eske wird folglich die eigene, nicht-balkanische Position im Ungarischen markiert. Vgl. András Gerő, Imagined History. Chapters from Nineteenth and Twentieth Century Hungarian Symbolic Politics (New York, 2006). 172 Barth, »Die Römische Kunstausstellung«. S. 527.

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ziert, soll nun im Anschlusskapitel ›Balkanismus und Maskulinismus‹ aus einer tiefergehenden, post-kolonialistisch informierten Perspektive in ihren strukturellen Eigenlogiken erschlossen werden. Dabei wird nach den sie auszeichnenden Fiktionalisierungen sowie Funktionalisierungen gefragt werden, die Hyper-Virilität als vermeintliches Signum dieser bestimmten geografischen Region bzw. Kulturkreiszugehörigkeit perpetuieren und deren (In)-Konsistenzen kritisch analysiert.

2.2.1.1

Balkanismus und Maskulinismus. Der »männliche« Balkan als das Andere Westeuropas

In ihrer paradigmatischen und poststrukturalistisch orientierten Studie ›Imagining the Balkans‹, die bereits Ende der 1990er Jahre erschienen ist, hat Maria Todorova eben jenes Balkanbild, das durch Barths obenstehendes Zitat beispielhaft vorgestellt wurde, als wirkmächtige Imagination Westeuropas beschrieben. Im Sinne einer Negativfolie diene sie als das Andere des westeuropäischen Selbst und fungiere damit als »Europas bequemes Vorurteil«.173 Diese Alterisierungsstrategie sei dabei durchwirkt von stereotypen Metaphern, zu denen die vermeintlich inhärente Ambiguität, Konflikthaftigkeit und Instabilität der Region gehöre sowie eine attestierte notorische Rückständigkeit und Armut. Als Bezeichnung für dieses durch ethnifizierende Stereotype und antislawische Klischees geprägte Diskursmuster entwickelt Todorova den Begriff des Balkanismus und schärft diesen in Abgrenzung zum Said’schen Terminus des Orientalismus anschließend mittels einiger Differenzkriterien, darunter historische, geografische und, im Kontext meiner Studie entscheidend: auch explizit geschlechtsspezifische.174 Denn während das durch den Orientalismus beschriebene Konstrukt eines homogenen »Orients«, so Todorova, stets dezidiert »weiblich« konnotiert sei und damit eine den Orientalismus konstituierende, oftmals sexualisierte Feminisierung in Anschlag gebracht werden könne, sei »der Balkan« hingegen ausschließlich mit dem »Männlichen« assoziiert. Im Gegensatz zu den orientalisierten und orientalisierenden Diskursen im Feld der Künste, die das Objekt ihres (oder vielmehr: seines) Interesses als »weiblich« metaphorisieren, sei der Balkan über den Mechanismus der Maskulinisierung organisiert, entbehre mithin jeglicher erotischen Aufladung und Femininisierung.175 In der Tat ist innerhalb der kunstwissenschaftlichen Orientalismus-Forschung inzwischen vielfach konstatiert worden, dass das wirkmächtige westozentrische Konzept »des Orients« eng mit Topoi des Erotischen, »Exotischen« und Weiblichen

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Todorova, Imagining the Balkans. S. 3. Die deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil (Darmstadt, 1999). Vgl. Ebd. S. 14. Vgl. Ebd.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

korrespondiert und somit als vergeschlechtlichter Bild-Ort eines begehrenswerten Fremden konstruiert wurde. So ist seit dem 19. Jahrhundert beispielsweise das Motiv der »verführerischen Orientalin« typischer Bestandteil dieser phantasmatischen (Weißen, meist heterosexuellen176 und männlich geprägten) Vorstellung der Region. Dieser von binären Geschlechterlogiken durchzogene Orientalismus verdichtet sich im um die Jahrhundertwende besonders beliebten Sujet des Harems in der westeuropäisch-bürgerlichen Salonmalerei und deren erotisch aufgeladenen Frauenfiguren, wie Semra Germaner und Zeynep Inankur in ihrer umfassenden Analyse des Themas dargelegt haben: »Scenes of harems, baths, and slave markets were for many Western artists a pretext by which they were able to cater to the buyer’s prurient interest in erotic themes. […] Such pictures were, of course, presented to Europeans with a ›documentary‹ air and by means of them the Orientalist artist could satisfy the demand for such paintings and at the same time relieve himself of any moral responsibility by emphasizing that these were scenes of a society that was not Christian and had different moral values.«177 Der von Salonkünstlern ins Bild gesetzte Harem und dessen Bewohnerinnen als genius loci des Erotischen und (sexuell) Verfügbaren ist von den beiden Autorinnen damit als Projektionsfläche eines westeuropäisch geprägten, bürgerlich-weißen, und meist heterosexuell-männlichen Begehrens identifiziert worden. In der Chiffre der übersexualisierten »Orientalin« als Haremsdame, Badende oder gar Sklavin fände folglich eine Externalisierung bürgerlicher Moralvorstellungen statt, die solche Frauenfiguren in der jenseitigen Ferne des räumlich, konfessionell und kulturell Anderen verortet und somit wiederum externalisiert verfügbar macht.178 Der Balkan habe hingegen, so Todorova, eine solche erotisch konnotierte Femininisierung nie erfahren.179 Mit Ausnahme kurzlebiger Enthusiasmus- und Solidaritätsbekundungen gegenüber der Region in den 1830er Jahren seitens westeu-

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Zu Bezügen und Bedeutung von Homosexualitätskonzepten innerhalb der Orientalismusdiskurse des 19. Jahrhunderts und deren Männlichkeitsentwürfen vgl. Uta Fenske und Gregor Schuhen, Hg., Ambivalente Männlichkeit(en). Maskulinitätsdiskurse aus interdisziplinärer Perspektive (Berlin, 2012). S. 64. Zur Hyper-Sexualisierung »orientalischer Männlichkeit« in der Bildenden Kunst vgl. Melanie Ulz, Auf dem Schlachtfeld des Empire. Männlichkeitskonzepte in der Bildproduktion zu Napoleons Ägyptenfeldzug (Marburg, 2008). Semra Germaner und Zeynep Inankur, Orientalism and Turkey (Istanbul, 1989). S. 42. Vgl. auch den hier in intersektionaler Perspektive relevanten Topos der »schönen Jüdin«: Lynne Swarts, »The Dangerous ›Other‹. Lilien’s Jewish Femmes Fatales, Other Male Avantgarde Behaviour, and Else Lasker-Schüler’s Transgendered Vision«, in Gender, Orientalism and the Jewish Nation. Women in the Work of Ephraim Moses Lilien at the German Fin de Siècle (New York/London, 2020), S. 103-136. Vgl. Todorova, Imagining the Balkans. S. 14.

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ropäischer Philhellenisten und Panslawisten im breiteren Kontext des Illyrismus, die den Balkan und dessen als byzantinisch/post-osmanisch apostrophierte Traditionen bisweilen im Idealbild der »mysteriösen und schönen Fremden« imaginieren,180 entbehre der Balkan, so die Autorin, jeglicher feminisierter Konnotation.181 Der Balkan sei vielmehr stets aufs Engste mit dem Männlichen verknüpft, einem hyper-virilen Männlichen zumal, das außerdem stets dazu neige, ins Pathologische zu kippen: »It is a distinctly male appeal: […] In practically every other description, the standard Balkan male is uncivilized, primitive, crude, cruel, and, without exception, disheveled.«182 Todorovas These eines Balkanismus als Maskulinismus in ihrer Einseitigkeit kritisierend, hat Martina Baleva hingegen auf die Präsenz allegorisierter Frauenfiguren in den Bild- und Textdiskursen über den Balkan sowie auf das Motiv des Massakers als überaus sexualisierter Topos von versehrter Femininität hingewiesen.183 Vergewaltigte und verstümmelte Frauenkörper würden dabei als bestimmendes Gestaltungsmerkmal ins Auge fallen und stünden metonymisch für den Kollektivkörper des Balkans bzw. der jeweiligen Nation (etwa Bulgariens, Griechenlands …). Wie im Falle von Eugène Delacroixs ›Das Massaker von Chios‹ (1824) oder Antoni Pietrowskis ›Das Massaker von Battak‹ (1892) werde dieser Kollektivkörper als dezidiert feminin sowie als durch den Islam bedroht und/oder versehrt imaginiert, wodurch insbesondere anti-muslimische Ressentiments bedient und ins Visuelle übertragen würden.184 Die explizite Darstellung von sexualisierter Gewalt und der versehrte weibliche Körper spielen diesen Autor:innen zufolge eine zentrale Rolle in der diskursiven Allegorisierung der Balkanregion und bilden einen Gegensatz zu jenen geradezu majestätisch anmutenden und bisweilen walkürenhaften Nationalallegorien in Frauengestalt wie der deutschen Germania, der österreichischen Austria oder der Lady Liberty in den USA, die mal mit Fackel und Krone, mal mit Helm und Schild »bewehrt« sind: »Die allegorischen Körper der slawischen Balkanvölker sind ebenfalls weiblich, jedoch in explizite Szenen von Entführungen und Vergewaltigung eingebunden, die an der Grenze zur visuellen Ethnoporno-

180 Vgl. ausführlicher zur Konnotation von Byzanz als ›effeminate male‹, Leonora Neville, Byzantine Gender (Leeds/Amsterdam, 2019). 181 Vgl. Ebd. S. 14. 182 Ebd. 183 Vgl. Martina Baleva, »Den männlichen Balkan gibt es nicht. Überlegungen zum visuellen Balkanismus als bildgeschichtliche Kategorie«, in Den Balkan gibt es nicht. Erbschaften im südöstlichen Europa, hg. von Martina Baleva und Boris Prešivić (Köln, 2016), S. 93-120. Hier S. 102f. 184 Vgl. Ebd. S. 102. Vgl. dazu auch Irvin Cemil Schick, »Christian Maidens, Turkish Ravishers. The Sexualization of National Conflict in the Late Ottoman Period«, in Women in the Ottoman Balkans. Gender, Culture and History, hg. von Amila Buturović und Irvin Cemil Schick (London, 2007), S. 273-305.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

grafie angesiedelt sind.«185 Dies arbeitet Baleva überzeugend anhand der beiden Gemälde ›Entführung einer Herzegowinerin‹ (1861) von Jaroslav Čermák sowie dem großformatigen Werk ›Bulgarische Märtyrer‹ (1877) von Konstantin Makovsky aus. Dabei stünde im Sinne eines ubiquitären Narratives die kollektive Repräsentation nicht-muslimischer Ethnien des Balkans als missbrauchter, Weißer Frauenkörper im Vordergrund.186 Was den Balkanismus folglich vom Orientalismus unterscheide sei, so Balevas Fazit, nicht etwa die Abwesenheit des Femininen – wie etwa Todorova unterstellt –, sondern vielmehr ein spezifischer Entwurf von vergewaltigter und verstümmelter Weiblichkeit.187 Für den Orientalismus hingegen sei der unversehrte und damit begehrenswerte Frauenkörper im Sinne einer erotischen Projektionsfläche unentbehrlich: »Die Frage nach der Differenz zwischen Balkanismus und Orientalismus als bildgeschichtliche Kategorien ist deshalb keine Frage nach den unterschiedlichen geschlechtlichen Zuschreibungen des jeweiligen Raums und seiner Essentialisierung, sondern nach dem Grad und der Quantität der sexuellen Beherrschung des Frauenkörpers durch den Mann, die in Werken des visuellen Balkanismus ostentativ zur Schau gestellt wird.«188 Die soeben skizzierte Frontstellung zwischen Baleva (der Balkan als versehrte Weiblichkeit) und Todorova (der Balkan als martialische Männlichkeit) ließe sich indes mit Verweis auf Silke Wenks Überlegungen zu (a)symmetrischen Geschlechterbildern in der Visualisierung des Kriegerischen in eine weitere produktive Gedankenschleife überführen: Soldatischer Heroismus oder kriegerische Martialität als Signum des Männlichen bleiben stets auf ein als passiv imaginiertes und durch ein vermeintlich feindliches Gegenüber bedrohtes Weibliches (»die Heimat«, »unsere Frauen« …) angewiesen.189 In Übertragung ließen sich folglich auch in den Balkan-Diskursen versehrte Weiblichkeit und martialische Männlichkeit weniger als Ausschließungen, sondern vielmehr als voneinander abhängige geschlechterlogische Interdependenzen begreifen, die als gegenseitige Bedingung fungieren. Während sich in dieser Perspektive die Baleva’sche vs. Todorova’sche Frontstellung argumentativ auflöst, bleibt die von beiden Autorinnen konstatierte Relevanz dieser geschlechterlogisch organisierten Konfigurationen in den Balkan-Diskursen bestehen190 und wird, wenig überraschend, insbesondere im von nativistischer 185 186 187 188 189

Baleva, »Den männlichen Balkan gibt es nicht.«, S. 106. Vgl. Ebd. S. 107. Vgl. Ebd. S. 111. Ebd. Vgl. Wenk, »Sichtbarkeitsverhältnisse. Asymmetrische Kriege und (a)symmetrische Geschlechterbilder«. S. 29-50. 190 Ähnliche Diskursspitzen, die um eine von vermeintlicher Grausamkeit und Gewalt geprägte »balkanische« Männlichkeit kreisen, lassen sich weiterverfolgen und werden beispielsweise in der (primär westeuropäischen) Berichterstattung über die Jugoslawienkriege der 1990er Jahre wieder verstärkt aufgerufen: Vgl. exemplarisch die diskursanalytische Untersuchung

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Vjera Biller und das Kindliche

Rhetorik geprägten Avantgarde-Programm des Zenitismus virulent. Mit betont anti-westeuropäischem Impetus wird im von Ljubomir Micić ersonnenen figürlichen Kondensat des Barbarogenije – dem barbarischen Genie vom Balkan – eine neue, primitivistische, und positiv besetzte Idealfigur für künstlerisches Schaffen propagiert,191 in der Geschlecht (Männlichkeit) und ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit (Balkanität) als Identifikationsstrategie miteinander verknüpft sind. Dadurch wird nicht zuletzt die Frage aufgeworfen, wie sich Vjera Biller ausgerechnet in dieser »balkanistisch-maskulinistisch« geprägten Avantgardeströmung so erfolgreich als Zenitistin hat etablieren können. Das dritte Buchkapitel ist dieser Frage im Detail gewidmet.

2.2.1.2

Begriffsresümee Balkan

Meine Annäherung an den Schlüsselbegriff Balkan ist informiert durch die nach wie vor prävalente unterkomplexe Rezeption Billers als »Balkankünstlerin« und hat diesen Terminus vor allem im Bereich des Visuellen, zumal des künstlerisch

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von: Janine Clark, Serbia in the Shadow of Milošević. The Legacy of Conflict in the Balkans (London, 2008). Hier wird die Prominenz eines solchen, pathologisierenden, hyper-virilen Vokabulars konstatiert und von der Autorin herausgearbeitet wie dadurch die heterogenen Kriegsakteur:innen und Gemengelagen zu einer unterkomplexen Pathologie des gewaltvoll Männlichen subsumiert und essentialisiert werden. Die Kolportierung eben dieser Pathologie im Sinne eines primus movens für den Ausbruch der Jugoslawienkriege hat meines Erachtens erheblichen Anteil an einem einseitig politisierten Diskurs über die Jahre 1991-1999, insofern dabei jenseits der von Slobodan Milošević begangenen und zu Recht aufs Schärfste zu verurteilenden Kriegsverbrechen deren strukturelle (nationalistisch-chauvinistische, xenophobe sowie konfessionelle) Bedingtheiten und historische Bedingungen aus dem Blick zu geraten drohen. Vgl. dazu auch jüngst Steffen Hendel, Den Krieg erzählen. Positionen und Poetiken der Darstellung des Jugoslawienkrieges in der deutschen Literatur (Osnabrück, 2018). Für eine außerordentlich konzise Darstellung der konfliktreichen Gemengelagen während der Jugoslawienkriege und deren erinnerungspolitischer Dimension vgl.: Jelena Obradović-Wochnik, Ethnic Conflict and War Crimes in the Balkans. The Narratives of Denial in Post-Conflict Serbia (London, 2013). Zudem hat Diana Mishkova darauf hingewiesen, dass das Bemühen dieser Tropen aufs Engste mit westeuropäischen Ideologemen der Alterisierung zusammenhängt, die den »jugoslawischen Sonderweg« und eine grundlegende »Andersartigkeit« des Balkans in Opposition zum »Projekt Europa« der Neunziger Jahre in Stellung bringt: »In the midst of widespread optimism for the emergence of a ›new world order,‹ a ›united Europe,‹ a ›liberal world,‹ the Balkans were conceived as obstinately resistant to this progressivist vision. The veritable boom of publications searching for the roots of the Yugoslav wars in the 1990s reanimated conceptions of a Balkan Sonderweg [kursiv im Original, Anm. MW] and the region’s ›otherness‹ to the European project due to endemic violence, rancid ›ancient hatreds,‹ and inherent conflictuality.« Mishkova, Beyond Balkanism. The Scholarly Politics of Region Making. S. 211. Vgl. exemplarisch Ljubomir Micić, »Барбарогениje/Barbarogenije«, Zenit, Nr. 26-33 (Oktober 1924), o.S.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

Vermittelten, kritisch in den Blick genommen. Im Anschluss an Karl Kasers Studie wurde zunächst für ein verstärktes Diskursivieren und Ins-Bild-Setzen dieser nun als homogen imaginierten Region im Zuge der Kriegsberichterstattung über die Balkankriege sowie während des Ersten Weltkriegs argumentiert. Dabei wurde ebenso auf die damit zusammenhängende Etablierung asymmetrischer Machtbeziehungen zwischen »dem Balkan« und »Westeuropa« verwiesen, die sich insbesondere in der Dominanz westeuropäischer Foto- und Filmbeiträge über die dortigen Kriegsschauplätze manifestiert. Im Zuge dessen werden Diskursmuster in Anschlag gebracht, die »den Balkan« als vermeintlich geschlossenen Raum eines zivilisatorischen »Rückfalls« in Gewalt, Instabilität und Tribalismus imaginieren und damit als das Andere der »westeuropäischen Zivilisation« installieren. Gleichzeitig lässt sich vor dem Hintergrund dieser alterisierenden Stereotypen und Klischees auch eine zunehmende Auseinandersetzung und Affirmation eben dieser Topoi des vermeintlich Kriegerischen von »balkanischer« Seite aus konstatieren, die derartige westeuropäische Zuschreibungen als positiv gewendete Chiffre für das eigene Selbstverständnis nutzbar zu machen versuchen und gewissermaßen die diskursive Grundlage bilden für jene nativistischen und balkanistischen Rhetoriken der Zwischenkriegszeit, zu denen auch das Programm des Zenitismus gehört. Die Notwendigkeit der Einschreibung einer als »BalkanKunst« apostrophierten »eigenen« Kunst- und Kulturtradition in den westeuropäischen Kunstkanon und dessen Historiografien, um, in Paraphrasierung der Mitrinović’schen Position, Westeuropa einen »eigenen Kulturwert« zu beweisen, zieht sich dabei im Sinne eines diskursiven Leitfadens durch die meinerseits analysierten Ausstellungs- und Kunstkritiken zwischen 1904 und 1911. Auch findet sie sich, wie der Blick in das Vorwort von Ivan Kukuljević Sakcinskis mehrbändigem und disziplinbegründendem Künstlerlexikon ›Slovnik umjetnikah jugoslavenskih‹ von 1858 gezeigt hat, in ihren Anfängen bereits in den Illyrismus-Kontexten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Jenseits dieses soeben erwähnten und den Kanon destabilisierenden Impetus eines Dimitrije Mitrinovićs oder einer Nadežda Petrović ist meinerseits der Fokus auf die Vereinnahmung und positive Wendung solcher westeuropäischer Zuschreibungen als Selbstverortungs- und Identifikationsstrategie seitens »balkanischer« Künstler gelegt worden: Insbesondere in der Präsentation und Rezeption des Oeuvres und der Künstlerpersona des Bildhauers Ivan Meštrović, die mithilfe von Tanja Zimmermanns Studie exemplarisch anhand zweier Ausstellungskontexte (im Serbischen Pavillon der Esposizione di Roma 1911 sowie der Einzelausstellung Meštrovićs im Victoria & Albert Museum in London im Jahre 1915) verfolgt wurde, lassen sich solche Tendenzen skizzieren, die überdies mit einer auffallenden Hyper-Maskuliniserung einhergehen. Meštrović und sein von Motiven der serbischen Heldenepik durchzogenes Oeuvre werden als Verkörperungen archaischen Krieger- und Heroentums »des Balkans« installiert und folgen damit der von Maria Todorova und Martina Baleva detailreich beschriebenen Dis-

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Vjera Biller und das Kindliche

kurstradition, die diese Region entlang von Geschlechterlogiken imaginiert. ReAktualisierungen dieser bereits in den Kriegsjahren etablierten und um Topoi des Männlichen und des Balkanischen kreisenden Konfigurationen manifestieren sich insbesondere im Kontext der Zenit-Avantgarde und dem von Ljubomir Micić entwickelten Idealbild des Barbarogenije – dem barbarischen Genie vom Balkan. In dieser primitivistischen und positiv besetzten Figur sind Geschlecht (Männlichkeit) und ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit (Balkanität) unmittelbar mit dem avantgardistischen Anspruch auf künstlerische Schaffenspotenz verquickt. Im Sinne eines zweiten Schlüsselbegriffs wird nun im Anschluss der primitivistischen Dimension dieser Konstruktion – dem Barbarischen – nachgegangen. Als eine mit »dem Balkan« aufs Engste verknüpfte Zentralsemantik der zenitistischen Zwischenkriegsavantgarde wird »das Barbarische« dabei als ein spezifischer Bedeutungskomplex mit unterschiedlichen Indienstnahmen qualifiziert und skizziert. Zugleich soll dadurch eine terminologische und inhaltliche Hinführung zu der in den Bildanalysen im dritten Buchkapitel explizierten These einer Barbarisierung des Kindlichen als konzise Selbstpositionierungsstrategie Vjera Billers im Zenitismus geleistet werden.

2.2.2

»Wir, die Barbaren.« Die Genese des Barbarischen im Zenitismus

Der Begriff des Barbarischen sei, so Melanie Rohner und Thomas Winkler in ihrem 2016 erschienenen Aufsatz, für die Idee einer westeuropäischen kulturellen Identität von zentraler Bedeutung gewesen.192 Als barbarisch gelte dabei stets dasjenige, das durch Zuschreibungen des vermeintlich Ungebildeten, Unmoralischen und/oder Unzivilisierten dem eigenen Kulturkreis und Selbstverständnis enthoben wird. Das Barbarische diene somit stets als das Andere des »zivilisierten Westeuropas«, ein Prozess, der von Hayden White bereits in einem Essay aus dem Jahre 1972 treffend als »ostensive self-definition by negation«193 beschrieben worden ist. Ein dergestalt imaginiertes Fremdes würde damit, so auch Herbert Uerlings, folglich im eigentlichen Sinne als das »konstitutive Außen«194 der eigenen westeuropäischen Position funktionalisiert.

Vgl. Melanie Rohner und Markus Winkler, Hg., Poetik und Rhetorik des Barbarischen (Bielefeld, 2016). S. 9. 193 Hayden White, »The Forms of Wildness: Archaeology of an Idea«, in The Wild Man Within. An Image in Western Thought from the Renaissance to Romanticism, hg. von Edward Dudley und Maximilian Novak (Pittsburgh, 1972), S. 3-38. Hier S. 4. 194 Herbert Uerlings, »Frauen, Wilde und Barbaren. Interkulturalität und Geschlechterdifferenz in Goethes Iphigenie auf Tauris und Heiner Müllers Der Auftrag«, in Weiße Blicke. Geschlechtermythen des Kolonialismus, hg. von Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Karl Hölz und Herbert Uerlings (Marburg, 2004), S. 139-156. Hier S. 139.

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2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

Im eklatanten Widerspruch zu einem solchen, pejorativ geprägten Begriffsverständnis des Barbarischen steht hingegen das künstlerische Programm des Zenitismus, das sich durch programmatische, und wichtiger noch, durch positive Affirmationen des Barbarischen auszeichnet.195 Der zenitistische Zirkel um Ljubomir Micić, Branko Ve Poljanski und Risto Ratković, der sich zunächst in Zagreb und dann in Belgrad organisiert, verfolgt dabei die offensive Aufwertung und positive Umwendung eben dieses westeuropäischen Schmähbegriffs. Denn die Zenitist:innen berufen sich ganz explizit auf das Barbarische zum Zwecke der eigenen künstlerischen wie kulturellen Selbstpositionierung: »Wir, die Barbaren« (Kapitel 2.2.2). Die mithin als Signum für Rückständigkeit und Primitivität fungierende Trope »balkanischer Barbarei« wandelt sich im Zenitismus zur Chiffre der Kreativität, Authentizität, Eigenständigkeit und Ingeniösität. In Konfrontation mit solchen stereotypen Fremdzuschreibungen an die Region – notorische Instabilität und Rückständigkeit sowie eine allgemein unterstellte Irrelevanz in Kunstbelangen aufgrund der »dem Balkan« attestierten geografischen Peripherieposition im selten wohlwollenden Vergleich mit den sog. großen Metropolen »des Westens« (Paris, London, Berlin) wie auch »des Ostens« (Wien, Moskau, Istanbul) – erhält dieser Aneignungsprozess von zenitistischer Seite aus einen durchaus interventionistisch zu nennenden Impetus. Exemplarisch für diese programmatische Neubewertung des Barbarischen zur Beschreibung des eigenen Selbstverständnisses im Zenit ist der Beitrag Risto Ratkovićs mit dem Titel ›Barbarstvo kao kultura´ aus dem Zenit-Magazin von 1925. Um das Barbarische als zweiten Schlüsselbegriff dieser Studie zu qualifizieren und diese für die zenitistische Bewegung so bedeutsame, primitivistische Semantik zu explizieren, soll im Folgenden Ratkovićs Leitartikel stellvertretend nach der Genese eines solchen, positiv besetzten Barbarischen als Modus der Selbstbeschreibung befragt werden. Das zenitistische Barbarische, als avantgardistischer Anspruch auf künstlerisches Potenzial und Können, soll dabei vor allem in Abgrenzung zur westeuropäischen Begriffsgeschichte, die in einer schlaglichtartigen Skizze vorgestellt wird, geschärft werden.

2.2.2.1

Das Barbarische als westeuropäisches Schlüsselwort

Bereits gegen Ende der 1980er Jahre wurde das Barbarische in deutschsprachigen Fachpublikationen der Philosophie sowie der Literaturwissenschaft wiederholt als »westeuropäisches Schlüsselwort«196 bezeichnet. In unterschiedlichen Spielarten

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Vgl. Irina Subotić, »Istorijske avangarde. Dadaizam – Zenitizam – Nadrealizam«. S. 3. Sowie Darko Šimičić, »Strategije u borbi za novu umjetnost. Zenitizam i dada u srednjoeuropskom kontekstu«. S. 44. 196 Arno Borst, Barbaren, Ketzer und Artisten. Welten des Mittelalters (Zürich, 1988). S. 19.

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und ideologischen Kontexten scheint es als symptomatische Syntax westeuropäischer Ideengeschichte(n) immer wieder auf: exemplarisch beispielsweise in Friedrich Engels ›Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates‹ von 1884, in Claude Lévi-Strauss‹ Konzeptualisierungen eines ›primitiven Denkens‹, im Kontext der Archaismusrezeption der künstlerischen Avantgarden in der Zwischenkriegszeit bis hin zu Gilles Deleuzes und Felix Guattaris ›Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie‹, das erstmals 1972 erscheint und einen am Engels’schen Verständnis orientierten Begriff des Barbarischen für eine neo-Rousseau’ianische Zivilisationskritik ausbuchstabiert und nutzbar macht.197 Wie Carla Dauven van Kippenberg und Christian Moser aus literaturwissenschaftlicher Perspektive angemerkt haben, sei indes besonders auffällig, dass die semantische Struktur des Begriffs und das ihn vertretende Lexem über Jahrhunderte hinweg nahezu unverändert geblieben sind, während die Referenzobjekte des Barbarischen stark variieren.198 Die beliebig erweiterbare Aufzählung verschiedener Gegensatzpaare, die über den Nexus des Barbarischen organisiert sind, mag dies allenthalben verdeutlichen: persisch versus hellenistisch, christlich versus »heidnisch«, europäisch versus außer-europäisch, »westlich« versus »balkanisch«. Als »barbarisch« wird dieser Perspektive folgend stets das Andere der eigenen Kulturtradition markiert und damit gleichsam disqualifiziert. Angesichts der hier bereits sich andeutenden Persistenz des Begriffs verwundert, dass die Geschichte und vor allen Dingen die aktuellen tagespolitischen Diskursverästelungen dieses Schlagwortes nach wie vor nur unzureichend aufgearbeitet worden sind. So enthält, wie Boletsi und Moser betonen, beispielsweise kaum eines der in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten publizierten begriffsgeschichtlichen Lexika ein Lemma zu »Barbar« oder »barbarisch«, weder die ›Geschichtlichen Grundbegriffe‹ (1972-1997) noch das ›Historische Wörterbuch der Philosophie‹ (1971-2007), noch die ›Ästhetischen Grundbegriffe‹ (2000-2005).199 Auffällig ist darüber hinaus, dass die allermeisten dieser ideengeschichtlichen Annäherungen den Begriff einseitig umreißen, insofern Literatur, Musik und Bildende Kunst innerhalb dieser Untersuchungen völlig außer Acht gelassen werden. Erwähnung finden meist nur philosophische und politisch-theoretische Texte, die den Begriff des Barbarischen bemühen.200 Ein solches Vorgehen verkennt jedoch, wie Rohner

Vgl. Federico Luisetti, »Notes on the Biopolitical State of Nature«, Paragraph, Nr. 39 (2016), S. 108-121. Hier S. 115. 198 Vgl. Carla Dauven-van Knippenberg, Christian Moser und Daniel Wendt, Hg., Texturen des Barbarischen. Exemplarische Studien zu einem Grundbegriff der Kultur (Heidelberg, 2014). S. 32. 199 Vgl. Boletsi und Moser, Barbarism revisited. S. 10. Seitens der Spätantikenforschung liegt mit Michael Maas, Hg., The Cambridge Companion to the Age of Attila (New York, 2015) ein lexikalischer Sammelband vor, der sich dieser Semantik ausführlicher widmet. 200 Vgl. Boletsi, Barbarism and its Discontents. S. 29. 197

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

und Winkler betonen, die im eigentlichen Sinne poetisch-künstlerische Sprachwurzel des Wortes »barbarisch« und somit auch die Etymologie des Begriffs aus dem Bereich künstlerischer Wortschöpfungen.201 Denn bei dem griechischen Nomen und Adjektiv bárbaros handelt es sich um eine onomatopoetische – sprich: lautmalerische – Reduplikationsbildung. Das Wort evoziere die Sprache jener Menschen, denen aufgrund fehlender Griechisch Kenntnisse der Vorwurf gemacht wird, unverständlich zu sprechen, und die sich durch vermeintlich beliebig wiederholbar klingende Silben – »babababar« – untereinander verständigen.202 Bárbaros bringt damit folglich einerseits ein Nichtverstehen-Können, aber andererseits auch ein Nichtverstehen-Wollen zum Ausdruck. Die Disqualifizierung alles Nicht-Griechischen im Sprachbereich wird dabei mittels einer unterstellten Intransparenz evoziert, die nicht nur gemeint, sondern zugleich auch konkret auf Ebene der lautmalerischen Sprachmittel verwirklicht wird.203 Die dem Begriff inhärente Dimension der Abwertung artikuliere sich, so Rohner und Winkler weiter, vor allem in der ethno-zentrischen Opposition zwischen Hellenistischem und Barbarischem, die in der Schriftproduktion der griechischsprachigen Antike zum rhetorischen Topos avanciert.204 Auch Edith Halls grundlegende Studie zum Thema versammelt beispielhaft eine Vielzahl repräsentativer Tragödientexte, etwa ›Iphigenie in Aulis‹ von Euripides und dessen Reaktualisierung bei Johann Wolfgang Goethe, die dieser Oppositionslogik folgen.205 So deklamiert die tragische Heldin Iphigenie im Rahmen ihres Monologs, der um das als dezidiert barbarisch apostrophierte Ritual des Menschenopfers kreist, dem sie selbst in Kürze ausgeliefert werden soll: »Soll der Grieche dem Barbaren doch gebieten, Mutter, nie der Barbar dem Griechen! Er ist Sklave, aber wir sind frei!«206 Welche diskursive Wirkmacht dieser szenische Monolog entfaltet, zeigt dessen Aktualisierung außerhalb des Theaters im Rahmen staats- und rechtsphilosophischer

201 Vgl. Rohner und Winkler, Poetik und Rhetorik des Barbarischen. S. 10. 202 »barbaros was a linguistic connotation of the barbarophonoi people of the East, after the Persian Wars barbarism was retooled into a derogative ethnic trait, maintaining this function also in Aristotle’s Politics.« Luisetti, »The Natural Savage and the Historical Barbarian. On the Biopolitical State of Nature«. S. 109-110. 203 Vgl. Rohner und Winkler, Poetik und Rhetorik des Barbarischen. S. 10. 204 Vgl. Ebd. 205 Vgl. Edith Hall, Inventing the Barbarian. Greek Self-Definition through Tragedy (Oxford, 1989). S. 26. 206 Der Wortlaut des Dramas wird hier zitiert nach der Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe, »Dramen 1776-1790, I. Abteilung, Bd. 5«, in Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 32, hg. von Dieter Borchmeyer (Frankfurt a.M., 1988), S. 553-619. Vgl. zu den unterschiedlichen Ausgaben und Bearbeitungen grundlegend: Joachim Latacz, Einführung in die griechische Tragödie (Göttingen, 2003). S. 60.

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Texte der Antike.207 So bemüht etwa Aristoteles Iphigenies Monolog als Argument dafür, dass alle »Barbaren« von Natur aus Sklaven seien208 – eine Naturalisierung, die die westeuropäische Ideengeschichte im weiteren Verlauf des 16. bis ins 19. Jahrhundert hinein prägen sollte und deren Rezeption, wie Simon Weber konstatiert, nicht unwesentlich dazu beigetragen hat, die Ausbeutungsinteressen westeuropäischer Kolonialmächte zu legitimieren.209 Wie Maria Boletsi in ihren federführenden Studien gezeigt hat, dient die innerhalb des Begriffs des Barbarischen wirksam werdende Oppositionslogik schon bei Platon auch der Bildung eines (kulturalistisch wie geschlechterlogisch organisierten) Feindbegriffs mit äußerst scharfen Konturen.210 Die »Barbaren«, so konstatiert Platon, seien von Natur aus Feinde der Hellenen und aus diesem Grunde sollten die Hellenen dann auch ihre Kriege nicht gegeneinander, sondern vielmehr geeint gegen die von außerhalb sie bedrohenden »Barbaren« führen.211 In der Rhetorik gegenwärtiger westeuropäischer Diskursfelder aus dem Bereich der Tagespolitik und der politischen Philosophie, denen Boletsis primäres Forschungsinteresse gilt, scheint das Barbarische im Sinne einer solchen, klar konturierten Feindbezeichnung bisweilen ebenfalls überaus deutlich auf.212 Bereits im Zuge der kontroversen und bis heute vieldiskutierten Clash of Civilizations-Theorie von Samuel Huntington213 spielen derartige, oppositionslogisch organisierte Zuschreibungen 207 Vgl. François Hartog, »Barbarians. From the Ancient to the New World«, in Barbarism revisited. New Perspectives on an Old Concept, hg. von Maria Boletsi und Christian Moser (Amsterdam, 2015), S. 29-44. Hier S. 31. Vergleiche auch Herbert Uerlings pointierte und intersektional ausgerichtete Studie zu Interkulturalität und Geschlechterdifferenz am Beispiel von Goethes Bearbeitung des Iphigenie-Stoffes: Uerlings, »Frauen, Wilde und Barbaren. Interkulturalität und Geschlechterdifferenz in Goethes Iphigenie auf Tauris und Heiner Müllers Der Auftrag«. S. 141f. 208 Vgl. Bruno Langmeier, Ordnung in der Polis. Grundzüge der politischen Philosophie des Aristoteles (München, 2018). S. 124-141. 209 Vgl. exemplarisch: Simon Weber, Herrschaft und Recht bei Aristoteles (Berlin, München, 2015). S. 168-176. 210 Vgl. Boletsi, »Who’s afraid of Barbarians? Interrogating the Trope of ›Barbarian Invasions‹ in Western Public Rhetoric from 1989 to the Present«. S. 116. Vgl. auch Herbert Uerlings Ausführungen zum Topos des »Edlen Wilden« sowie des »Barbaren« und der »weißen Frau« in Goethes Iphigenie im Kontext der Rousseau’schen Anthropologie und Religions- bzw. Zivilisationskritik der Aufklärung: Uerlings, »Frauen, Wilde und Barbaren. Interkulturalität und Geschlechterdifferenz in Goethes Iphigenie auf Tauris und Heiner Müllers Der Auftrag«. S. 144f. 211 Vgl. Boletsi, »Who’s afraid of Barbarians? Interrogating the Trope of ›Barbarian Invasions‹ in Western Public Rhetoric from 1989 to the Present«. S. 117. 212 Vgl. Boletsi, »Crisis, Terrorism, and Post-Truth. Processes of Othering and Self-Definition in the Culturalization of Politics«. S. 13. 213 Vgl. Samuel Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order (New York, 1996). Samuel Huntingtons bereits 1993 erschienener Essay Foreign Affairs sowie das daraus entstandene und 1996 im Original publizierte Buch The Clash of Civilizations vertritt u.a.

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eine zentrale Rolle und auch in jüngerer Vergangenheit ließen sich exemplarische Belege für die Persistenz des Barbarischen im Sinne eines solchen Feindbegriffs finden. So erklärte beispielsweise Frankreichs damaliger Präsident François Hollande einen Tag nach den Pariser Anschlägen vom 13. November 2015 : »C’est un acte de guerre qui a été commis par une armée terroriste, Daech, une armée de jihadistes, contre la France, contre les valeurs que nous défendons partout dans le monde, contre ce que nous sommes, un pays libre […]. C’est un acte d’une barbarie absolue. […] La France, elle est solide, elle est active, la France elle est vaillante, et elle triomphera de la barbarie.«214 Die hier aufgerufene Opposition von säkularen Werten der Aufklärung, die es gegen fundamentalistische Ideologien zu verteidigen gelte, erhält ihre rhetorische und argumentative Prägnanz nicht zuletzt durch die Gleichsetzung von Islamismus mit – so Hollande wörtlich – »einem Akt der absoluten Barbarei«.215 Daneben sei erwähnt, dass der Begriff des Barbarischen in Frankreich, im Gegensatz

die essentialisierende These eines slawisch-orthodoxen Kulturraumes mit dem Kernstaat Russland. Im Gegensatz zu den übrigen von Huntington identifizierten Kulturräumen (sinisch, hinduistisch, lateinamerikanisch u.a.) findet in diesem Fall eine explizite Verknüpfung von Kultur und Konfessionalität statt: »das Slawische« sei demgemäß »das ChristlichOrthodoxe«. Aufgrund dessen wurde Huntingtons Buch, das als Diskursereignis gelten kann und dessen Veröffentlichung zeitlich mit den Jugoslawienkriegen 1991-1999 zusammenfällt, wiederholt kritisiert: Die Gleichsetzung von »slawisch« mit »christlich-orthodox« befeuere die vor allem in der west-europäischen Berichterstattung über die gewaltvollen Auseinandersetzungen in Ex-Jugoslawien virulente und überaus anachronistische Auffassung, dieser Krieg sei ein Religionskrieg zwischen Katholizismus (Kroatien), Orthodoxie (Serbien) und Islam (Bosnien-Herzegowina). Mittels der Demaskierungstrope eines vermeintlichen Religionskrieges auf »dem Balkan« wurde verdrängt, dass vor allem militante politische und national-chauvinistische Kräfte den Konflikt heraufbeschworen hatten, denen es primär um territoriale sowie wirtschaftliche Machtausweitung und Interessensdurchsetzung ging. Vgl. hierzu Katrin Boekh, »Fremden-Mythen auf dem Balkan. Zur Wirkung von Verschwörungstheorien im orthodoxen Serbien«, in Mythen, Symbole und Rituale. Die Geschichtsmächtigkeit der »Zeichen« in Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Dittmar Dahlmann und Wilfried Potthof (Frankfurt a.M., 2000), S. 89-108. Die Kontroverse über Huntingtons Konzeptualisierung des Islam ist inzwischen überbordend und unüberschaubar geworden, weshalb hier nur zwei einschlägige Positionen genannt werden: Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der »Kampf der Kulturen« (München, 2001). Sowie Amartya Sen, Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt (München, 2010). 214 »Attentats de Paris: François Hollande dénonce ›un acte d’une barbarie absolue‹«, Le Monde (14.11.2015) www.lemonde.fr/attaques-a-paris/video/2015/11/14/attentats-de-paris-francoishollande-denonce-un-acte-d-une-barbarie-absolue_4809920_4809495.html (letzter Aufruf: 21.11.2021). 215 Ebd.

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zu Deutschland oder Großbritannien, seit dessen Aufnahme und Weitertradierung aus dem Napoleonischen Code Civile auch ein dezidiert strafrechtlicher Begriff ist.216 Das Barbarische erweist sich somit auch in jüngeren und jüngsten Diskursfeldern Westeuropas als ein symptomatisches Schlagwort der insbesondere bellizistischen Rhetorik. Dabei wird der Begriff mithin auch topisch auf einen »Rückfall in die Barbarei« enggeführt, der sich – hier wird erneut der Konnex zum Balkan bedeutsam – vor allem im Kontext der Jugoslawienkriege 1991-1999 konstatieren ließe.217 So hat beispielsweise Stjepan Meštrović in seiner 1993 an der Harvard University erschienen soziologischen Studie The Barbarian Temperament die Trope eines vermeintlich singulären und zeitlich überdies begrenzten Rückfalls in die Barbarei explizit veranschlagt und diesen an die zeitgeschichtlich ›jüngsten Ereignisse‹ der Jugoslawienkriege zurückgebunden.218 In Lucia Res philosophiegeschichtlicher Studie wiederum erscheint das Barbarische als antagonistischer Gegenspieler eines allgemeinen zivilisatorischen Fortschritts: »›Barbarism‹ continues to undermine the Enlightenment dream of the progress of rationality and civilization. Modernity, it seems, never really jettisoned barbarism at all.«219 In Abgrenzung zu Autor:innen wie Meštrović oder Re sei an dieser Stelle auf all jene Forschungsund Denkansätze verwiesen, die hier unter Nennung einiger weniger »bekannter Größen« von Sigmund Freud bis Zygmunt Bauman die grundlegende Ambivalenz und Widersprüchlichkeit der Moderne betont haben und damit vom Barbarischen als einem notorischen Kulturphänomen ausgehen.220 Das Barbarische ist diesem Verständnis zufolge also innerhalb moderner Selbstzuweisungen und deren Fortschrittsnarrativen sowie Zivilisationsmythen immer bereits konzeptuell mitangelegt und insbesondere im Bereich des Kulturellen wirksam.221 Das Barbarische als primitivistische Zentralsemantik der Zenit-Avantgarde veranschaulicht indes eindrücklich eine solche historische Präsenz des Begriffs im kulturell Vermittelten der Zwischenkriegszeit. Der Zenitismus beansprucht das Barbarische im Gegensatz zur soeben kursorisch skizzierten westeuropäischen Ideengeschichte jedoch nicht als Schmähbegriff, sondern vielmehr als eindeutig Vgl. Boletsi, Barbarism and its Discontents. S. 123. Zur Trope des »Rückfalls in die Barbarei« in der primär westeuropäischen Diskursivierung der beiden Jugoslawienkriege vgl. grundlegend: Zoran Terzić, Kunst des Nationalismus. Kultur – Konflikt – (jugoslawischer) Zerfall (Berlin, 2007). S. 61f. 218 Vgl. Stjepan Gabriel Meštrović, The Barbarian Temperament. Towards a Postmodern Critical Theory (Cambridge, MA, 1993). S. 99f. 219 Re, »›Barbari civilizzatissimi‹. Marinetti and the futurist myth of barbarism«. S. 352. 220 Vgl. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit (2. ungekürzte Ausgabe) (Frankfurt a.M., 1995). S. 91-93. 221 Vgl. grundlegend: Theodor Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung (Frankfurt a.M., 1981). 216 217

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

positiv besetzte Selbstbezeichnung. Die folgenden Ausführungen werden das zenitistische Verständnis des Begriffs stellvertretend anhand des Texts ›Barbarstvo kao kultura‹ aus der Feder des Zenitisten Risto Ratković näher beleuchten.

2.2.2.2

Das Barbarische als Zentralsemantik des Zenitismus

In seinem Beitrag zum Zenit-Journal mit dem Titel ›Barbarstvo kao kultura‹ gibt der Autor ausführlich Aufschluss über das Barbarische als bedeutungsvollen begrifflichen Eckpfeiler der zenitistischen Bewegung.222 Zu Beginn der Ausführungen, die erstmals in der November-Dezember-Ausgabe Nr. 37 des Zenit-Magazins (1925) abgedruckt wurden, wird dabei das dezidiert zenitistische Barbarische von Ratković in Abgrenzung zum westeuropäischen Begriff entwickelt: »Ниje peч о барбарству каквог су га схватали Jeлини, Кинези и Немци; како га схватаjу спокоjно-културне даме (макар биле и феминитскиње), нити како га схватаjу суптилни духови у папучама Гувернера Банке и шефа инквизициje«223 »Nicht vom Barbarentum, wie es die Griechen, die Chinesen oder die Deutschen verstehen, ist die Rede; wie es die friedlich-kultivierten Damen (selbst wenn sie Feministinnen sind) oder wie es die subtilen Geister in den Pantoffeln eines Bankdirektors und Generalinquisitors verstehen.« Ratković richtet sich hier mit avantgardistisch-polemischem Impetus also vornehmlich gegen ein Barbarismus-Konzept, das der Ideengeschichte der Antike oder des Deutschen Idealismus entlehnt ist.224 Und zugleich wird hier mit Bezug auf die »kultivierten, pazifistischen Damen« Westeuropas dessen Selbstverständnis einer vermeintlich zivilisatorischen Überlegenheit einer radikalen Kritik und Neubewertung unterzogen. Vor dem Hintergrund des zu diesem Zeitpunkt nur wenige Jahre zurückliegenden Ende des Ersten Weltkrieges scheint der Fortschritts- und Zivilisationsmythos Westeuropas brüchig geworden zu sein. Anhand solcher Formulierungen wie den »kultivierten, pazifistischen Damen

222 Risto Ratković, »Барбарство као култура/Barbarstvo kao kultura«, Zenit, Nr. 37 (1925), o.S. [S. 9-10]. Hier S. 9. 223 Hier und im Folgenden in eigener Übersetzung wiedergegeben, da bislang keine Translation ins Deutsche vorliegt. Für die geläufige englischsprachige Übersetzung von Ratkovićs Text nach Marja Starcević: Vgl. Risto Ratković, »Barbarstvo kao kultura«, in Between Worlds. A Sourcebook of Central European Avant-Gardes, 1910-1930, hg. von Timothy Benson und Éva Forgács (Cambridge, 2002), S. 518-521. Hier S. 518. 224 Zum anti-deutschen Impetus der serbischen Diskursfelder in der Zwischenkriegszeit vgl. Mira Radojević und Ljubodrag Dimić, Srbija u velikom ratu 1914-1918 (Beograd, 2014). S. 37f. und John Paul Newman, »Times of Death. The Great War and Serbia’s 20th Century«, in Aftermath. Legacies and Memories of War in Europe, 1918-1945-1989, hg. von Nicholas Martin, Tim Haughton und Pierre Purseigle (Farnham, 2014), S. 25-40.

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(selbst wenn sie Feministinnen sind)« und den »subtilen Geistern in den Pantoffeln eines Bankdirektors«225 zeigt sich indes bereits an dieser Stelle exemplarisch mit Ratković der anti-westeuropäische und anti-kapitalistische, bisweilen auch antifeministische Gestus der zenitistischen Textproduktion. Die darauffolgenden Zeilen von Ratkovićs Artikel sind wiederum dem Gegenentwurf eines Barbarismus ganz nach zenitistischer Façon gewidmet. Das zenitistische Barbarische könne sich derweil, so Ratković, weder an einem zeitgenössisch primitivistischen noch an einem anarchistischen Verständnis orientieren: »Ниje реч ни о примивитизму [sic!], ни о анархизму. И не мисли се о неком »повратку природи«, како je сентименталисао декадент Русо; нити о распоjacaности, коjу сањаjу блесави песници и револуционари под кафанским столом. Ниje ово ни »Umwertung aller Werte« [Hervorhebung der deutschen Wörter in lateinischer Schrift im Original, Anm. MW] jер jе свеjедно: идели се ногама или главом.«226 »Es ist weder von Primitivismus noch von Anarchismus die Rede. Und es wird auch nicht an eine wie auch immer geartete »Rückkehr zur Natur« gedacht, wie der dekadente Rousseau sentimental daherfaselte; auch an keine Zügellosigkeit, von der blöde Poeten und Revolutionäre unter Kaffeehaustischen träumen. Das hier ist keine »Umwertung der Werte«, denn es ist egal, ob man auf den Beinen geht oder [umgekehrt, Anm. MW] auf dem Kopf.« Konzeptionen des Barbarischen nach Rousseau im Sinne einer Rückkehr zur Natur jenseits der Kultur227 werden hier ebenso disqualifiziert wie auch Nietzsches vielzitierter Aufruf zur Umwertung aller Werte228 . Der von Nietzsche in seinen ›Zarathustra‹-Schriften, die hier den Bezugspunkt bilden, so programmatisch formulierte Umwertungsmoment wird folglich verworfen zugunsten der Forderung einer darüber hinausreichenden »radikalen« Neuschaffung.229 Denn das zenitistische Barbarische müsse per definitionem, so Ratković weiter, der Rolle eines Antipoden der Kultiviertheit komplett entwachsen: »Jедном речjу, не мисли се овде на барбарство као на антипод културе, већ на барбарство као културу, као

225 Ratković, »Барбарство као култура/Barbarstvo kao kultura«. S. 9. 226 Ebd. 227 Vgl. zur Problematik der Natur-Kultur-Dichotomie in Rousseaus Werk: Knee, »Rousseau and the Authority of Nature«. 228 Vgl. hierzu Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Kritische Studienausgabe, Bd. 4., hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Berlin, 1988). 229 Zur Re-Aktualisierung des Nietzsche’anisch Dionysischen innerhalb der avantgardistischen, insbesondere expressionistischen Archaismus- und Primitivismusrezeption vgl. David Pan, Primitive Renaissance. Rethinking German Expressionism (Lincoln, 2001). S. 48-57.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

оздрављење културе.«230 Lediglich aus der Wiederbelebung der eigenen und damit dezidiert »balkanischen« Kultur im Sinne einer authentischen und von der westeuropäischen »Leitkultur« sich abwendenden Kultiviertheit des Barbarischen könne ein adäquates Verständnis desselben abgeleitet und legitimiert werden. Spätestens hier wird deutlich, dass diese Verdichtung im in-sich-übergreifenden Motiv eines barbarischen Nativismus die Grundlage für diese zenitistische Zentralsemantik bildet, die zu identifikatorischen Zwecken bemüht und dabei positiv affirmiert wird. Ratkovićs Konzeption scheint dabei den Barbaren im Sinne Michel Foucaults231 als historische und eben nicht – wie in der Rousseau’isch geprägten Denkfigur des Primitiven – als eine »natürliche« Gestalt auszudeuten. Das Barbarische wäre demnach als Grenzposition an den Rändern des Zivilisierten situiert, dessen Widersprüchlichkeiten und Zugriffe durch eben diese Andersartigkeit freigelegt werden. Mehr noch: Nach Ratković ist das Barbarische keineswegs der Antipode der Kultur, es ist dessen konflikthafte Bedingung. Eben diese konfliktbehaftete Frontstellung zwischen einer Kultur und »ihrem« barbarischen Anderen ist von Foucault besonders treffend in ›Society must be defended‹, einer Vorlesungsreihe am Collège de France in Paris, beschrieben worden: »Unlike the savage, the barbarian does not emerge from some natural backdrop to which he belongs. He appears only when civilization already exists, and only when he is in conflict with it.«232 Im Gegensatz zum »natürlichen« Primitiven – in Anlehnung an Hobbes’ianische, Locke’sche oder Rousseau’sche Konzepte233 – stellt auch Ratković mit dem Barbarischen als Kultur an dieser Stelle folglich nicht weniger als das ideengeschichtliche Dispositiv eines vermeintlichen Natur- oder Urzustands der Menschheit selbst zur Diskussion. Dem zeitgenössischen und an Rousseaus Denken orientierten »natürlichen« Primitiven als dem Prä-Kulturellen, wie es andernorts in avantgardistischen Programmen – beispielsweise im Expressionismus – bedeutsam wird,234 erteilt der Text damit eine kategorische Absage, die sich – um erneut Foucault zu bemühen – in ihren Grundannahmen zur Geschichtlichkeit des Barbarischen wie folgt zusammenfassen ließe: »the savage is […] always the noble savage. […] The barbarian, in contrast, has to be bad and wicked […] He has to be full of arrogance and has to be inhuman, precisely because he is not the man of nature and exchange; he is the man of history, the man of pillage and fires, he is 230 »Mit einem Wort, hier ist nicht Barbarentum im Sinne eines Antipoden der Kultur gemeint, sondern Barbarentum als Kultur, als die Genesung der Kultur.« Ratković, »Барбарство као култура/Barbarstvo kao kultura«. S. 9. 231 Vgl. Michel Foucault, »Society must be defended«. Lectures at the Còllege de France 1975-1976 (New York, 2003). S. 194-195. 232 Ebd. S. 195. 233 Vgl. Ellingson, The Myth of the Noble Savage. S. 88f. 234 Vgl. Ebd. S. 100.

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the man of domination.«235 Das Barbarische des Zenitismus gibt sich in der Folge eben nicht als naturalisiertes Ideal eines vorzeitlich Primitiven, noch als Antipode des Kulturellen zu erkennen, sondern fungiert vielmehr als die »eigentliche« Kultur. Ihre Historizität und Sozialität ist indes in der (vermeintlich) archaischen Kultur des Balkans verbürgt, auf die sich der Zenitismus beruft. Das Barbarische als Kultur erweist sich somit bereits hier als eine Semantik des Nativistischen, des Marginalen und des Konflikthaften, die um die Schlagworte von (kultureller wie künstlerischer) Eigenständigkeit, Erneuerung und Emanzipation kreist. Im Folgenden schildert Ratković unter Bemühung diverser Demaskierungsmetaphern die Implikationen eines derartigen, dezidiert zenitistischen Verständnisses des Barbarischen im Sinne einer eigenen Kultur: »Такво барбарство je неисцрпна вечно подмлађуjућа инjeкциja чистоте, стална дезинфекциja убуђалих простора и електризовање усиреног духа. Нада све, барбарство je наше, неутољива жеђ за демаскирањем, за потпуним демаскирањем, ма зато и лице своje рођено морали здерати. Као такво, барбарство je, услед културе jeдна основна револуциja, заклета буна против свих псеудореволуциja. Да би се пак могло демаскирати (и себе и другог) потребно je моћи владати оним што се има […]./Барбари пре свега нису културтрегери већ ствараоци културе, и у односу према њоj стоje као творци према делима […].«236 »Ein solches Barbarentum ist eine ewig unerschöpflich verjüngende Injektion von Reinheit, eine ständige Desinfektion verschimmelter Orte und ein Elektrisieren abgestandenen Geistes. Vor allem gehört dieses Barbarentum uns, es ist der unstillbare Durst nach Demaskierung, nach vollständiger Demaskierung, auch wenn wir uns dafür unser eigenes Gesicht zerkratzen/ramponieren/verlieren müssen. Als solches ist das Barbarentum infolge der Kultur eine fundamentale Revolution, eine verschworene Rebellion gegen alle Pseudo-Revolutionen. Um (sich selbst und andere) demaskieren zu können, ist es erforderlich das zu beherrschen, was man hat […]. Barbaren sind vor allem keine Kulturträger, sondern Kulturschaffende, und ihr Verhältnis zur Kultur ist das der Künstler zu ihren Werken […].« Neben dem expliziten Authentizitätsanspruch des zenitistischen Barbarismus spielt vor allem dessen kulturelle Eigenständigkeit die entscheidende Rolle und verleiht dem nativistischen Anliegen dieser Avantgardegruppe Nachdruck: »dieser Barbarismus ist unserer.«237 In Rückbesinnung auf die »ursprüngliche« Kultur des Balkans imaginiert sich der Zenitismus als zur Erneuerung des Künstlerischen befähigte Avantgarde und ruft – in Ratkvovićs Worten – zur »fundamentalen 235 Foucault, »Society must be defended«. S. 196. 236 Ratković, »Барбарство као култура/Barbarstvo kao kultura«. S. 9. 237 Ebd.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

kulturellen Revolution«238 auf. Jenseits des pan-avantgardistischen und gruppenübergreifend virulent werdenden Topos des Revolutionären239 kulminiert der ohnehin sehr dichte und anspielungsreiche Text hier schließlich in der Auseinandersetzung mit der sog. »Kulturträgertheorie«, die Ratković hier als neuerliche Negativfolie dient: Die Zenit-Barbaren seien Kunstschaffende, keine Kulturträger. Wie also ist der Begriff des Kulturträgers im ideologischen Gewebe des Zenitismus zu verorten, der ein balkanisches Barbarisches als conditio sine qua non des Kulturellen zu etablieren versucht?

2.2.2.3

Risto Ratkovićs ›Barbarstvo kao kultura‹ oder: Von Kulturtragenden und Kulturschaffenden

Als Kulturträgertheorie wird ein spezifisches In-Bezug-Setzen deutsch/»slawischer« – eigentlich: deutsch/polnischer – Verhältnisse bezeichnet, die, einer teleologischen Fortschrittslogik folgend, von einem statischen Entwicklungsgefälle hinsichtlich Politik, Ökonomie und Sozialem zwischen diesen beiden vermeintlich dichotomen Kulturräumen ausgeht.240 Vor allem in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gewann die Kulturträgertheorie im Zuge der deutschen Nationalstaatsbildung an Bedeutung und wird ebenso im Kontext des österreichischen »Ständestaats« der 1920er Jahre nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie in ähnlich antislawischer, xenophober und bisweilen offen rassistischer Ausformung diskursiviert.241 Unter Berufung auf hochmittelalterliche Quellen, allen voran den Schilderungen des weitreichenden Landesausbaus in der Germania Slavica, wurden dabei die im Vergleich zum »deutschen Altsiedelland« als zivilisatorisch rückständig und unterentwickelt kolportierten Landstriche (Süd-)Osteuropas als Gegenentwurf des eigenen »kulturtragenden« Nationalstaats imaginiert und mit bisweilen chauvinistischem Impetus die (im Sinne einer alternativlosen historischen Notwendigkeit kolportierte) »Germanisierung« vor Ort als 238 Ebd. 239 Vgl. Irina Subotić, »The avant-garde visionary and utopian model proposed by Ljubomir Micić and his journal Zenit«, Balkan Studies, Nr. 3-4 (1996), S. 54-57. 240 Vgl. Stefan Guth, Geschichte als Politik. Der deutsch-polnische Historikerdialog im 20. Jahrhundert (Berlin, 2015). S. 54. 241 Vgl. Werner Suppanz, »Die Bürde des ›Österreichischen Menschen‹. Der (post-)koloniale Blick des autoritären ›Ständestaates‹ auf die zentraleuropäische Geschichte«, in Habsburg Postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis, hg. von Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch und Moritz Csáky (Innsbruck, 2003), S. 303-314. Dazu insbesondere S. 305-306: »Komplementärer Bestandteil des Topos der ›österreichischen Mission‹ war die Auffassung, dass Österreich ›Bollwerk der Christenheit und der Kultur Europas‹ sei und die Grenzen des Deutschen Reiches und des christlichen Abendlandes zu schützen habe. […] Der binäre Gegensatz von Kultur und Barbarei, Zivilisation und Wildnis, kennzeichnete die imaginäre Geographie von Zentraleuropa, wobei dank der Leistungen der ›Deutschösterreicher‹ die ›weißen Flecken‹ der Rückständigkeit kontinuierlich weniger wurden.«

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Grundstein der staatlichen sowie geschichts- und kulturprägenden Formgebung Ostmitteleuropas imaginiert.242 Basierend auf diesen in der Kulturträgertheorie verdichteten anachronistischen Projektionen von Nationalstaatsentwicklungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf ständisch-feudale Gesellschaften des Hochmittelalters, wurde im Rahmen der bis 1945 ungebrochen betriebenen sog. »Ostforschung« die Konstruktion und Legitimation eines deutschen Nationalstaatszusammenhangs und dessen Expansionsdrangs vorangetrieben.243 Auffällige und immer wiederkehrende Argumentationsmuster kreisen dabei verstärkt um die Reformation als überkonfessionelles Manifestationsmoment deutschen Nationalbewusstseins sowie um das ausdifferenzierte Ständewesen des Deutschen Reiches als vermeintliches Signum zivilisatorischer Überlegenheit.244 Der neben Peter Scheibert wohl bekannteste Verfechter der Kulturträgertheorie in den 1920er- und 30er Jahren war der 1929 an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin habilitierte Professor für brandenburgische Landesgeschichte und Heimatkunde, Willy Hoppe.245 Hoppes bereits 1924 erschienene Schrift ›Landesgeschichte der Mark Brandenburg«246 vereint programmatisch die soeben skizzierten argumentativen Leitfäden der Kulturträgertheorie und fand, nicht zuletzt aufgrund von Hoppes frühem Eintritt in die NSDAP im Jahr 1931, im Rahmen der NSRassenideologie Verwendung zur vermeintlich akademischen, anthropologischen und historischen Untermauerung der Idee eines »slawischen Untermenschen«.247 Bereits um 1900 hatten indes diverse deutsch-nationale Vereinsbündnisse mit offenkundig rassistischer sowie antisemitischer Agenda wie etwa der ›Verein für das Deutschtum im Ausland‹, der ›Deutsche Ostmarkenverein‹ oder allen voran der ›Altdeutsche Verband‹ unter Berufung auf die Kulturträgertheorie die mithin gewaltsame »Germanisierung« der polnischen und jüdischen Minderheiten in den

242 Vgl. Petra Weigel, »Slawen und Deutsche. Ethnische Wahrnehmungen und Deutungsmuster in der hoch- und spätmittelalterlichen Germania Slavica«, in Ostsiedlung und Landesausbau in Sachsen. Die Kührener Urkunde von 1154 und ihr historisches Umfeld, hg. von Enno Bünz (Leipzig, 2008), S. 47-94. 243 Vgl. Guth, Geschichte als Politik. Der deutsch-polnische Historikerdialog im 20. Jahrhundert. S. 59. 244 Vgl. Weigel, »Slawen und Deutsche«, S. 50. 245 Vgl. den von Esther Abel im Detail rekonstruierten Werdegang Peter Scheiberts als Historiker, Professor und NS-Kunstbeauftragter in: Esther Abel, Kunstraub – Ostforschung – Hochschulkarriere. Der Osteuropahistoriker Peter Scheibert (Bochum, 2015). Sowie zur Persona Willy Hoppes: Michael Grüttner, Biografisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik (Heidelberg, 2004). S. 79ff. 246 Vgl. Willy Hoppe, Landesgeschichte der Mark Brandenburg in ihren Grundzügen bis zur Bildung der Provinz Brandenburg (Berlin, 1924). 247 Vgl. Grüttner, Biografisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik. S. 79.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

sog. »deutschen Ostgebieten« propagiert.248 Vor allem im Kontext der Niederlage des Deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg und den damit verbundenen Territorialveränderungen, die innerhalb dieser virulent nationalistischen Diskursfelder als Verlust vermeintlich »deutscher Kerngebiete« kolportiert wurden, gewann die Kulturträgertheorie im gesamten deutschsprachigen Raum an diskursiver Wirkmacht: Die in diesem Zusammenhang vorgenommenen paternalistischen Setzungen einer Ordnung von vermeintlichen Kulturleistungen entlang eines hierarchischen Gefälles zwischen »Deutschtum« und »Slawischem« war, wie Werner Suppanz herausgearbeitet hat,249 insbesondere im Kontext der ehemaligen k.u.k.Monarchie und deren »Ostmark«-Debatten tonangebend und erklärt damit hinreichend die um Distanzierung bemühte Bezugnahme Ratkovićs innerhalb seines Zenit-Beitrags.250 *** Das Verhältnis des zenitistischen Barbarischen zur Kultur sei vergleichbar mit dem des Künstlers zum eigenhändig geschaffenen Kunstwerk, lässt Ratkovićs Text verlautbaren.251 Damit wird das Barbarische als eine Zentralsemantik der Bewegung umrissen, die zutiefst eingebettet ist in das zenitistische Nachdenken über Kunst und Künstler:innenschaft. Deutlich maskulinisierende Tendenzen werden dabei insbesondere in den Texten Ljubomir Micić, der Gründungsfigur des Zenit, virulent.252 In seinem bereits ein Jahr zuvor im Zenit-Journal veröffentlichten Leitartikel ›Зенитософиja/Zenitosofija‹ (»Zenitosofie«) etabliert Micić eben seine vitalistisch konzipierte Idee des Barbarogenije, eines hyper-virilen barbarischen Genies und spricht der Neuschaffung von Kultur und Kunst eine zentrale Rolle zu;253 ein Ansatz, auf den Ratković in seinem Beitrag offenkundig rekurriert. Micićs ebenfalls in der Zenit-Ausgabe von 1924 veröffentlichtes Poem ›Барбарогениje/Barbarogenije‹ (»Barbarengenie«) scheint folglich besonders anschlussfähig gewesen zu sein für Ratkovićs eigene Überlegungen, betont jedoch weitaus stärker den Sta-

248 Vgl. Christian S. Davis, »The Rhetoric of Colonialism and Antisemitism in Imperial Germany«, in Modern Antisemitisms in the Peripheries. Europe and its Colonies 1880-1945, hg. von Raul Cârstocea und Éva Kovács (Wien, 2019), S. 53-66. 249 Suppanz zitiert beispielsweise aus einem in dieser Hinsicht überaus aufschlussreichen Schulbuch der späten 20er Jahre: »Am Aufschwung der Monarchie gewannen besonders die slawischen Völker, die unter der Obhut des österreichischen Staates erst zu Kulturnationen wurden«, siehe Suppanz, »Die Bürde des ›Österreichischen Menschen‹. Der (post-)koloniale Blick des autoritären ›Ständestaates‹ auf die zentraleuropäische Geschichte«, S. 308. 250 Vgl. Ebd. 251 Vgl. Ratković, »Барбарство као култура/Barbarstvo kao kultura«. S. 10. 252 Vgl. Ljubomir Micić, »Зенитософиja/Zenitosofija«, Zenit 26-33 (Oktober 1924), o.S. [S. 5-7]. 253 Vgl. Ebd. S. 6.

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tus des barbarischen Genies als nahezu omnipotente männliche Schöpferfigur.254 Der Topos des Künstlers als geistiger »(An-)Führer«, als nonkonformistischer Träger neuer Ideen einer zukünftigen Ordnung wird von beiden Autoren dabei ganz ausdrücklich heraufbeschworen und kondensiert in der Zentralsemantik des Barbarischen.255 Vor dem Hintergrund einer umfassenden Verunsicherung der Künstlerposition in der Moderne, die den Status des Künstlers als repräsentativen und einen vermeintlich transzendentalen Sinnhorizont verkörpernden Helden zunehmend in Frage stellt,256 wird in den hier versammelten exemplarischen Belegen zenitistischer Textproduktion eben diese Leitrolle wieder vehement eingefordert. Mit der Proliferation des Barbarischen innerhalb des Zenitismus im Sinne eines monotonen, fast schon reflexartig wiederholten und wiederholbaren Gestus scheint mir ein einschlägiges Beispiel gegeben für jene Art von hyper-maskuliner Selbstapotheose des Künstlers, die Doerte Bischoff in ihrer Studie zu Kriegsrhetorik und Autorschaft vorgelegt hat.257 Der Künstler setzt sich selbst nicht nur als Verkünder ein, sondern reproduziert und artikuliert sich vielmehr als dessen Verkörperung. In den immer wieder neu einsetzenden Beschwörungsformeln – in Bischoffs Studie: des Kriegerischen, hier: des Barbarischen – tritt die zirkuläre Bewegung dieses Akts einer (fast schon zwanghaft kompensatorischen) Selbstapotheose immer wieder aufs Neue hervor. Bischoff spricht in diesem Zusammenhang folglich von einer »inszenierten Selbstgeburt«,258 die sich zugleich immer schon als Phantasma ihrer selbst zu erkennen gibt. Im »barbarischen Reflex« des Zenitismus zeigt sich nicht minder deutlich die umfassende Prekarität dieser hyper-virilen Künstlerposition,259 die sich zwar über den legitimierenden Nexus des Nativistischen und Archaistischen einerseits zum Universellen und Repräsentativen hin entwirft, sich aber andererseits ihrer selbst nie ganz und endgültig versichern kann und deshalb auf geschlechtlich wirksam werdende Ausschlusslogiken angewiesen bleibt. Gerade in dieser Hinsicht verspricht der Schlüsselbegriff des Barbarischen im Zenitismus besonders aufschlussreiche Einblicke in die Konstitutionsprozesse von Künstler:innenschaft, 254 Vgl. Micić, »Барбарогениje/Barbarogenije«. S. 4 255 Zur Problematisierung und Kritik der tagesaktuellen Mobilisierung des Barbarischen in der Selbstinszenierung und Fremdwahrnehmung politischer Akteure – genannt seien stellvertretend Donald Trump, Recep Tayyip Erdoğan, Vladimir Putin, Viktor Orbán – als ideologische Speerspitzen der Hypermaskulinität, vgl. Boletsi, »Crisis, Terrorism, and Post-Truth. Processes of Othering and Self-Definition in the Culturalization of Politics«. S. 17f. 256 Vgl. Bismarck, Auftritt als Künstler – Funktionen eines Mythos. S. 10f. 257 Vgl. Bischoff, »›Dieses auf die Spitze getriebene Mannestum.‹ Kriegsrhetorik und Autorschaft um 1914«. 258 Ebd. S. 64. 259 Vgl. Albrecht Koschorke, »Die Männer und die Moderne«. S. 143.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

ihrer Sichtbarwerdung bzw. ihres Verborgen-Bleibens sowie ihrer Konstruktion, Etablierung und Rezeption zu geben. Insbesondere auf Micićs Konzept des Barbarogenije – des barbarischen Genies – wird deshalb im Rahmen der Bildanalysen von Vjera Billers Arbeiten erneut zurückzukommen sein, wenn der Frage nach Legitimationsstrategien von Künstlerinnenschaft im Zenit nachgegangen werden soll, die sich exemplarisch in Billers Oeuvrefragment aufzeigen lassen.

2.2.2.4

Begriffsresümee Barbarisches

Die Zenit-Avantgarde ist begrifflich zentriert in der Semantik des Barbarischen sowie den damit eng verbundenen Ideen von vermeintlich »balkanischer« und hyper-viriler Authentizität, Kreativität und Ingeniösität. Um diesen Prozess der ReKontextualisierung und positiven Affirmation des Barbarischen exemplarisch in seinen diskursiven Leitfäden zu erfassen, wurde meinerseits der Magazinbeitrag ›Barbarstvo kao kultura‹ aus der Feder Risto Ratkovićs in der November-DezemberAusgabe des Zenit-Journals von 1925 analysiert und die Konzeption des zenitistischen Barbarischen im abgrenzenden Vergleich zur Begriffsverwendung innerhalb der westeuropäischen Ideengeschichte geschärft. Diese ist wie mittels einer kursorischen Skizzierung der Begriffsverwendung innerhalb westeuropäischer Diskursfelder rekonstruiert wurde, von einer letztlich auf die Antike zurückgehenden Oppositionslogik geprägt, die das Barbarische primär als das Andere der eigenen »Hochkultur« und Zivilisation disqualifiziert. Ratkovićs Leitartikel steht hingegen stellvertretend für ein dieser Konzeption diametral entgegengesetztes zenitistisches Affirmationsbestreben, das das Barbarische zur positiven Identifikationsfigur erhebt und in weiteren Bedeutungsdimensionen jenseits westeuropäischer pejorativer Zuschreibungen erschließt. Während zeitgenössisch primitivistische, insbesondere Rousseau’sche sowie Nietzsche’anische Zugänge zum Barbarischen im Sinne eines Antipoden des Kulturellen abgelehnt werden, etabliert sich dabei – wie der von Ratković gewählte Titel bereits vorwegnimmt – das Barbarische selbst als Kultur. Die Ziele der eigenen avantgardistischen Bewegung werden indes unter den Schlagwörtern der Revolution und der Erneuerung verhandelt, die auch im breiteren Kontext der transeuropäischen Zwischenkriegsavantgarden tonangebend sind. Die Genese des zenitistischen Barbarischen als Bedingung und zugleich Konfrontationspunkt von Kultur ist ferner eingebunden in Ratkovićs um inhaltliche Abgrenzung bemühte Auseinandersetzung mit der sog. Kulturträgertheorie, wie ein entsprechender Exkurs im Kapitel aufzeigen konnte. Deren antislawische, rassistische und xenophobe Implikationen geben Anlass zu Ratkovićs wiederholter Negation des Kulturträger-Konzepts sowie der programmatischen Betonung des kulturschaffenden Potenzials zenitistischer Künstlerschaft.

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Das an den Begriff des Barbarischen anknüpfende zenitistische Nachdenken über Kunst und den Künstler:innenstatus wurde anschließend aufgegriffen und das von Ljubomir Micić geprägte Konzept des Barbarogenije, des barbarischen Genies vom Balkan, im Sinne eines Maskulinisierungsmoments und somit auch eines geschlechterlogisch wirksam werdenden Ausschlussmechanismus für Künstlerinnen analysiert. Als Randnotiz bliebe an dieser Stelle zu ergänzen, dass solche maskulinistischen Genienarrative indes ihre Virulenz nicht nur im Zenitismus, sondern auch im Gros der zeitgeschichtlich parallel verlaufenden avantgardistischen Ismen des frühen 20. Jahrhunderts entfalten.260 Im Vergleich zu den beispielsweise im russischen Konstruktivismus und Proletkult der 1920er Jahre wirksam werdenden »Autorentod«-Tendenzen, die den Künstler (zumindest theoretisch) als rein arbeitstechnischen »Spezialisten« überflüssig machen,261 scheint das barbarische Genie des Zenitismus damit besonders deutlich einem bildungsbürgerlich konservativen Begriff künstlerischer Ingeniösität verhaftet zu bleiben.262 Im Zenitismus hingegen wird dieses Privileg des ingeniösen, hyper-virilen Künstlers konserviert und in der positiv affirmierten Chiffre des Barbarischen weitertradiert. Als Ausweis zenitistischen Kunstvermögens markiert der Begriff des Barbarischen überdies gleichermaßen Kulturkreispotenzial wie Kulturkreiszugehörigkeit jenseits westeuropäischer »Leitkulturen«, insofern die Barbarei als Kultur sich – im Gegensatz zu den beispielsweise im italienischen Futurismus dominierenden primitivistischen Primärreferenzen »Afrika« und »Orient«263 – mit archaisierendem Impetus vor allem auf einen »ursprünglichen« Balkan sowie dessen eigene Kunst, Kultur und Geschichte hin rückprojiziert. Ungeachtet der ideologischen Anfechtungen westeuropäischer Fortschrittsnarrative und Überlegenheitstropen seitens der zenitistischen Avantgarde, die in dieser Hinsicht im Kern durchaus Züge der Emanzipation und Subversion tragen, bleibt diese Strömung jedoch folglich trotzdem eine von Topoi der Hyper-Virilität und Ingeniösität geprägte Kommunikationsgemeinschaft: Aller Revolutionsrhetorik zum Trotz muss der Rekurs auf letztlich konservativ-bürgerliche Ideen von Künstlerschaft und Geniekult die Anerkennung nicht-männlicher – und damit der eigenen, exkludierenden Definition folgend: nicht-barbarischen, nicht-balkanischen – Kunstproduktion nahezu verunmöglichen. Insbesondere im figürlichen Kondensat von Micićs Barbarogenije – 260 Vgl. Ebd. S. 143f. 261 Vgl. grundlegend: Mary Elizabeth Gough, The Artist as Producer. Russian Constructivism in Revolution (Berkeley, 2005). S. 20f. 262 Vgl. Boris Groys, »Unsterbliche Körper«, in Die neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, hg. von Boris Groys und Michael Hagemeister (Frankfurt a.M., 2005), S. 8-18. 263 Vgl. Re, »›Barbari civilizzatissimi‹. Marinetti and the Futurist Myth of Barbarism«. S. 354. Zu den Unterschieden und Schnittmengen zwischen Futurismus und Zenitismus vgl. grundsätzlich auch: Subotić, »Zenitism, Futurism. Similarities and Differences«.

2. Theoretisch-methodischer Bezugsrahmen

dem hyper-virilen Balkanbarbaren-Genie – artikuliert sich dieser Ausschlussmechanismus in aller Vehemenz. Die aufgrund dieser Maskulinitätstendenzen für Künstlerinnen wie Vjera Biller auf den ersten Blick nur sehr bedingt anschlussfähig erscheinende Zenit-Avantgarde hat allerdings nichtdestotrotz mit ihr eine ihrer in den Jahren 1924-1926 sichtbarsten Vertreterinnen gefunden. Aus der Perspektive einer »kritischen« Ikonologie möchten die nun folgenden Bildanalysen Billers erfolgreicher Positionierung als Zenitistin vom konkreten Bildmaterial ausgehend nachgehen. Dabei werden Momente des An- und des Ausschlusses fokussiert und in ihren Implikationen für Billers primitivistische Entwürfe von Künstlerinnenschaft, die sich am Leitmotiv des Kindlichen verhandeln lassen, analysiert. Meine Analyse wird sich in einem ersten Schritt auf die zenitistischen Beiträge Billers konzentrieren und die beiden programmatischen Arbeiten ›зенит/Zenit‹ von 1924 (Abb. 7) und ›пет година зенита‹/Pet godina Zenita‹ (»Fünf Jahre Zenit«) von 1926 (Abb. 8) in den Mittelpunkt der Untersuchung stellen. Mit dem darauffolgenden Auseinanderziehen des Analysehorizonts hin zu einer umfassenderen Betrachtung des Biller’schen Figurenkosmos sowie dessen Ikonografien unter Berücksichtigung der vielfältigen, bisweilen auch zum Ambivalenten hintendierenden Interventions-, Subversions-, und Stabilisierungspotenzialen dieser Darstellungen wird im Anschluss die Venedig-Serie von 1921-22264 in den Vordergrund rücken. Erkenntnisleitend werden dabei die folgenden drei Interpretationsachsen sein, die Biller entlang spezifischer Selbst- und Fremdzuschreibungen zunächst als Künstlerin in der Avantgarde, anschließend als »Jugoslawin« und schließlich als jüdische Künstlerin in den Blick nehmen. Ziel der Bildanalyse wird folglich die Erschließung von semantischen Kontinuitäten wie auch Kontrapunkten sein, die die Biller’sche Kunstpraxis in ihren unterschiedlichen Artikulationen, Positionierungen und Ideologemen bestimmt und das Oeuvrefragment vor dem Hintergrund der Frage nach Sichtbarwerdung bzw. Verborgen-Bleiben einzelner Sinngehalte verhandelt.

264 Vjera Biller: Venedig-Serie (1921-22), vgl. Abb. 1-5.

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3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

Vjera Billers transnationale und vielfältige Ausstellungsaktivitäten innerhalb der Avantgarden der Zwischenkriegszeit beginnen zunächst im Kontext der ungarischen MA-Gruppe: Im Jahre 1919 ist ihre Teilnahme im Rahmen der MA grafikai VII. kiállitásához (7. Grafikausstellung der MA) in der Vaci utca 11B in Budapest belegt.1 Der die Schau begleitende und in der Ausgabe 1/IV des MA-Magazins abgedruckte Ausstellungskatalog listet sechs Arbeiten Billers in Pastell, deren Titel jedoch unbenannt bleiben (Abb. 11).2 Der ausgewiesene Kaufpreis von jeweils 300 ungarischen Kronen für Billers Pastelle liegt allerdings deutlich über der Preisgestaltung vieler der ebenfalls ausgestellten Arbeiten ihrer männlichen Künstlerkollegen, darunter auch bereits etablierte Hauptakteure der MA, wie etwa György Ruttkay, János Máttis Teutsch oder Sándor Bortnyik. Deren Arbeiten werden, laut Katalog, mit Werten zwischen 70 und 250 ungarischen Kronen ausgepreist. Lediglich die bereits zu diesem Zeitpunkt als besonders »bekannte Namen« der ungarischen MA reüssierenden Künstler Béla Uitz (500 bis 800 Kronen) und Ferenc Spangher (1200 bis 2500 Kronen) übertreffen dieses Preisniveau deutlich.3 Hinsichtlich des ausgeschriebenen Ankaufspreises rangieren die Biller’schen Arbeiten folglich an dritter Stelle nach Uitz und Spangher und lassen sich somit als ein erstes Indiz für die erfolgreiche Positionierung der zu diesem Zeitpunkt noch sehr jungen Künstlerin innerhalb der ungarischen Zwischenkriegsavantgarde lesen. Es gibt bislang keinerlei Evidenz dafür, dass sich Billers hier ausgestellte, insgesamt sechs »MA-Pastelle« erhalten haben. Nach Billers Übersiedlung nach Berlin im Jahre 1921 folgen zahlreiche Ausstellungen im Kontext der dortigen Expressionist:innen um die Avantgardebewegung Der Sturm. Billers Teilnahme ist in diesem Jahr für die 98. Sturm-Ausstellung (26

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Damit sind auch jene von Karla Bilang geäußerten Zweifel an Billers Teilnahme an einem solchen Format aufgrund des jungen Alters der Künstlerin (16 Jahre) hinreichend ausgeräumt. Vgl. Bilang, »Avantgarde vom Balkan. Vjera Biller (Belgrad) und Mascha Jiwkowa-Usunowa (Sofia)«. S. 231. Vgl. Kassák, »Katalogus. A Ma grafikai (VII.) kiállitásához«. S. 2. Vgl. Ebd.

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Arbeiten),4 die 99. Sturm-Ausstellung (drei Arbeiten), die 100. Sturm-Ausstellung (eine Arbeit) zum Jubiläum der Avantgarde im September 1921 sowie für das darauffolgende Jahr 1922 im Rahmen der 111. und der 114. Sturm-Ausstellung (jeweils zwei Arbeiten) in der Forschungsliteratur rezipiert.5 Diese Aufzählung gibt den aktuellen Forschungsstand wieder, der u.a. auch von Subotić im Ausstellungskatalog ›Sturm-Frauen‹ der Schirn Kunsthalle von 2015/16 reproduziert wurde,6 der sich jedoch durch meine Recherchen als unvollständig erwiesen hat: Bislang keinerlei Erwähnung gefunden haben die zusätzlich dokumentierten Teilnahmen Billers an der 103. Sturm-Ausstellung (eine Arbeit), der 104. Sturm-Ausstellung (zwei Arbeiten), der 105. Sturm-Ausstellung (zwei Arbeiten), der 108. Sturm-Ausstellung (eine Arbeit), der 109. Sturm-Ausstellung (zwei Arbeiten) sowie der 110. SturmAusstellung (eine Arbeit) und der 112. Sturm-Ausstellung (zwei Arbeiten). Den in der Forschung bereits nachgewiesenen fünf Ausstellungen Billers (98., 99., 100., 111. und 114.) stehen folglich sieben bislang gänzlich unbeachtete Teilnahmen der Künstlerin entgegen (103., 104., 105., 108., 109., 110. und 112.). Diese lassen sich anhand der jeweils publizierten Sturm-Ausstellungskataloge belegen (Abb. 12-23) und weisen Billers Teilnahme und Präsenz in diesem Avantgardekontext als eine Konstante der Ausstellungsaktivitäten für die Jahre 1921-1922 aus. Die Arbeiten der Künstlerin werden in diesem Kontext u.a. zusammen mit Werken Alexander Archipenkos, Xenia Boguslawskajas, Marc Chagalls, Robert Delaunays, Jacoba van Heemskercks und Paul Klees präsentiert. Der von Herwarth Walden, Gründungsfigur des Sturms, publizierte Ausstellungskatalog zur Doppelschau Vjera Billers und Rudolf Bauers im Rahmen der 98. Sturm-Ausstellung von 1921 gibt Aufschluss über die dort präsentierten Arbeiten der Künstlerin mit den folgenden Titeln: Kinder 1 Kinder 2 Kinder 3 Kinder 4 Spielende Kinder Zwei Kinder Vier Kinder Haus und Kinder Häuser und Kinder Sonne und Kinder 4 5 6

Vgl. Katalog der 98. Sturm-Gesamtschau (Mai 1921), o. S. [S. 1-3]. Und Abb. 12. Vgl. exemplarisch : Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 49. Vgl. Subotić, »Vjera Biller. Malerin der urbanen Naiven Kunst«. S. 25. Subotić gibt hier überdies die erste Teilnahme Billers am Sturm im Rahmen der 98. Ausstellung fälschlicherweise mit Juni 1921, statt Mai 1921, an.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

Kinder und Wagen Zwei Mädchen Zwei Menschen Straße 1 Straße 2 Elefant Fische Pferdebahn Eisenbahn Menschen Schule Schneemann Hafen Strand Budapest Stadt7 Die Aufzählung macht die Präsenz von Billers Leitmotiv des Kindlichen (zwölf von insg. 26 Arbeiten) innerhalb dieser Sturm-Schau besonders deutlich. Auch fällt die explizite Bezugnahme der Künstlerin auf die ungarische Hauptstadt Budapest, ihrem Lebensmittelpunkt vor dem Umzug nach Berlin, ins Auge. Eine der hier genannten Arbeiten Billers – ›Eisenbahn‹ – ist an dieser Stelle nochmals besonders hervorzuheben, da sie sich als einzige der »Sturm-Arbeiten« der Künstlerin erhalten hat, obgleich nur in Reproduktion im Zenit-Magazin (Abb. 10). Im Kontext dieser jugoslawischen Avantgarde wird ›Eisenbahn‹ in der Ausgabe 25 des Magazins im Jahr 1924 in Belgrad erneut rezipiert.8 Alle übrigen Arbeiten der Künstlerin, die in den Berliner Sturm-Ausstellungen gezeigt wurden, sind – genau wie die Budapester Ausstellungsstücke – heute nicht mehr auffindbar. Billers letzte Wohnadresse in Berlin lässt sich hingegen anhand ihrer 1923 beginnenden und heute noch verfügbaren Briefkorrespondenz mit »Zenitistenführer« Ljubomir Micić eindeutig ermitteln: die Schwäbische Straße 9.9 Im Zuge dieses Austauschs und dem Kontakt zu Micić erfolgt Billers erste Teilnahme an einer Zenit-Ausstellung, der 1924 in Belgrad veranstalteten, großangelegten ZenitGesamtschau, in deren Rahmen acht Arbeiten der Künstlerin präsentiert werden, 7 8

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Vgl. Sturm-Katalog (Mai 1921): 98. Ausstellung (»Rudolf Bauer Vjera Biller, Gesamtschau«), o. S. [S. 1-2]. Abb. 12. Vgl. Ljubomir Micić, »Макроскоп/Makroskop«, Zenit, Nr. 25 (1924), o. S. [S. 9]: Im Rahmen dieser Rubrik aus der Feder Micićs wird Billers ›Eisenbahn‹ in Schwarz-Weiß wiederabgedruckt und mit der Signatur der Künstlerin in lateinischen sowie serbisch-kyrillischen Lettern als »Vera Biler« [sic!] bzw. »Вера Билер« [sic!] ausgewiesen. Vgl. Golubović, »Pisma Vjere Biller Ljubomiru Miciću (Književni arhiv Ljubomira Micića 4)«. S. 11.

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wie abermals anhand des entsprechenden Ausstellungskatalogs rekonstruiert werden kann (Abb. 24).10 Zwei dieser »Zenit-Arbeiten«, die 1924 entstandene PastellZeichnung ›Zenit‹ (Abb. 7) sowie die auf 1926 datierbare Arbeit ›Fünf Jahre Zenit‹ (Abb. 8) sind erhalten geblieben und finden sich in letzterem Falle zusätzlich auch noch in Reproduktion im Magazin wieder (Abb. 9).11 Gemeinsam mit der erhalten gebliebenen und auf die Berliner Jahre 1921-22 datierten Venedig-Serie geben diese beiden dem Zenit zuzuordnenden Arbeiten Billers Aufschluss über ihr Leitmotiv des Kindlichen, mittels dessen sich die Künstlerin sowohl innerhalb des Sturms als auch des Zenit erfolgreich als Avantgardistin etabliert. Auf all diese Arbeiten, angefertigt in Pastell und als Linoleumschnitte, wird anschließend im Rahmen der Bildanalysen im Detail eingegangen. Doch zunächst sollen die Biller’schen Kinderfiguren in ihren grundsätzlichen Charakteristiken vorgestellt und stilistisch eingeordnet werden. Auch werden die für Billers künstlerische Praxis kennzeichnenden Ausgestaltungs- und Kompositionsmerkmale behandelt sowie der weitere Gesamtfigurenkosmos der Künstlerin in aller Kürze umrissen, dem sich die Bildbesprechungen in den darauffolgenden Kapiteln (3.1, 3.2. sowie 4.) anschließend mit mehr Tiefenschärfe widmen. *** Billers Kinderfiguren sind geprägt von einer auffallenden Alterslosigkeit und einer überaus typisiert wirkenden Ausgestaltung, die sich im Sinne einer Schematisierung vor allem anhand der dargestellten Gesichter ablesen lässt (Abb. 1-8). Ihre charakteristischen Gesichtszüge mit den besonders großen Augen, herzförmigen Lippen und den durch zwei schwarze Punkte lediglich angedeuteten »Stupsnasen« folgen einem generalisierenden und repetitiven Kindchen-Schema ohne Interesse an individueller Physiognomie. Mit dieser materialbasierten Feststellung widerspreche ich Mirko Ćurić, der von individualisierten Bildfiguren ausgeht: Die gleiche schematisierte Kinderfigur wird dabei mal als vermeintliche Verkörperung der »Kleinmädchenhaftigkeit« Vjera Billers oder aber als ein Portrait bestimmter Familienmitglieder, etwa des jüngeren Bruders Walter, interpretiert.12 Die eingehende Sichtung des noch erhaltenen Bildmaterials zeigt jedoch schnell, dass Billers Kinderfiguren primär von einer augenscheinlichen Alters- und Geschlechtslosigkeit gekennzeichnet sind. So kann nur an ganz wenigen Stellen tatsächlich zwischen

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Vgl. Micić, »Во Имја Зенитизма. Каталог Прве зенитове међународне изложбе у Београду 1924 г./Vo Imja Zenitizma. Katalog Prve zenitove međunarodne izložbe u Beogradu 1924 g.«. [S. 3]. Vgl. Zenit, Nr. 38 (1926), o. S. [S. 3]: ›Fünf Jahre Zenit‹ wird hier in einer schwarz-weißen Reproduktion und mit der Signatur »Vera [sic!] Biller– Abazzia« veröffentlicht. Vgl. Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 64.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

»männlichen« und »weiblichen« Kinderfiguren unterschieden werden, beispielsweise anhand einiger Blätter der Venedig-Serie: Billers Jungenfiguren, wie sie sich exemplarisch in den Arbeiten ›Gondel‹ (Abb. 1) und ›Osteria‹ (Abb. 4) finden, tragen als ein auf Bekleidungsebene realisiertes Geschlechtsattribut kurze Hosen und Hemden, während die Mädchenfiguren – etwa auf den Blättern ›Markt‹ (Abb. 3) und ›Piazza San Marco‹ (Abb. 5) – mit kittelartigen, halblangen Kleidern präsentiert werden. Fehlen solche Attribute, etwa wenn die Kinderfiguren nur mit Torso und/oder im Halbprofil dargestellt sind, wie beispielsweise in der Arbeit ›Fünf Jahre Zenit‹ (Abb. 8), dann ist eine geschlechtliche Unterscheidung aus dem Bildmaterial heraus unmöglich, und die hier binär gefassten Geschlechtergrenzen zwischen männlich/weiblich verschwimmen. In der Folge erscheinen Billers Kinderfiguren bei genauerem Hinsehen und jenseits der von Curić forcierten biografisch-individualistischen Interpretation, nicht nur besonders alters-, sondern bisweilen eben auch besonders geschlechtslos. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die sich stetig wiederholende Gestaltung der Haare. Alle Kinderfiguren der Künstlerin besitzen schwarzes, mal mehr und mal weniger stark gekraustes Haar: Und sie alle tragen Bubikopf. Dies gilt sowohl für die Kinderfiguren der Venedig-Serie zu Beginn der 1920er als auch für die späteren, dem Zenit zuzuordnenden Arbeiten bis 1926. Der Bubikopf stellt damit über fünf Jahre hinweg die prägnanteste gestalterische Konstante des Biller’schen Kindermotivs dar und trägt erheblich zu dessen Wiedererkennungswert bei. Zugleich ließe sich diese charakteristische Haarmode der Zwischenkriegszeit, wie jüngst Martin Klement herausgearbeitet hat, ebenso in Bezug setzen zu breiteren Diskursfeldern und politisierten Debatten: »Der Streit um den Bubikopf« sei »der Streit um die Rolle der Frau«.13 Klement hat über einen diskursanalytischen Zugang herausgearbeitet, wie diese Frisur bereits Mitte der 1920er Jahre in der deutschsprachigen Presse- und Publikationslandschaft zu einem hochpolitischen Ideologem avanciert war und wie der Bubikopf in rechts-nationalistischen Kreisen (vor allem innerhalb der deutsch-österreichischen Turnverbände) im Sinne eines anti-feministisch und antisemitisch funktionalisierten Stereotyps beansprucht wurde.14 Während Fritz Steins Theaterstück ›Der Bubikopf‹ von 1926, in dem junge Frauen sich gegen die Autorität der Eltern oder etwaiger Ehemänner durchsetzen und sich nach dieser tagesaktuellen Mode frisieren lassen, noch voller Enthusiasmus

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Martin Klement, »Streit um den Bubikopf, Streit um die Rolle der Frau. Antisemitismus und Antifeminismus in den deutschnationalen und völkischen Turnverbänden Mitteleuropas«, in Antisemitismus, Antifeminismus. Ausgrenzungsstrategien im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Liselotte Homering u.a. (Roßdorf, 2019), 187-210. Hier S. 187. Vgl. Ebd. S. 188.

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verkündet hatte, dass »der Bubikopf […] siegreich auf der ganzen Linie« sei,15 so mehren sich – wie Klements Studie aufzeigt – bald jene öffentlichen Stimmen, die mit der Bubikopf-Kürze des Haupthaares eine vermeintliche »Entweiblichung der Frau« fürchten.16 Zudem bedient sich diese »deutsch-nationale«, anti-emanzipatorische Rhetorik, wie Klement weiters anmerkt, nicht selten auch offenkundig antisemitischer und zudem antislawischer Klischees und Diffamierungsstrategien. So hält beispielsweise der Oberfriseur des Berliner Staatstheaters, Franz Zimmermann, der nicht nur als Namensgeber und Pionier des Bubikopfs in der deutschen Hauptstadt gilt, sondern bereits Ende des Jahres 1920 und damit sehr früh einige der hauseigenen Schauspielerinnen entsprechend frisiert haben soll,17 in einem für die ›Deutsche Allgemeine Friseurzeitung‹ von 1921 verfassten Artikel fest: Viele seiner Friseurkollegen seien der Ansicht, kurze Haare »wäre[n] wohl eine Frisur für verlauste Russinnen, nicht aber für eine Dame«.18 In den deutschsprachigen Periodika deutscher, österreichischer sowie tschechoslowakischer Turnverbände, denen Klement im weiteren Verlauf der Studie sein Hauptaugenmerk widmet, lassen sich solche antislawischen, antisemitischen und anti-feministischen Diskursspitzen indes besonders deutlich ablesen. So wird etwa in der ›Bundesturnzeitung‹, dem zentralen Presseorgan des ›Deutschen Turnerbundes 1919‹ der Ersten Republik Österreich, dem zudem auch mehrere bundesdeutsche Turnvereine angehörten, der Bubikopf als eine »fremde, ›undeutsche‹ Erfindung«19 diffamiert. Dem rhetorischen Repertoire antisemitischer Verschwörungstheorien folgend, werden pauschal »die Juden« dieser Erfindung beschuldigt, die als vermeintlich »fundamentale Bedrohung« von »Volkseinheit«, »Geistesfreiheit« und »Rassereinheit«20 heraufbeschworen wird und die letztlich für den Untergang allen »Deutschtums« in Deutschland und Österreich sorgen solle.21 Im selben Zuge wird demgegenüber das bevorzugt lange, blonde und zu Zöpfen ge-

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Fritz Stein, Der Bubikopf (Leipzig, 1926). Zitiert nach Klement, »Streit um den Bubikopf, Streit um die Rolle der Frau. Antisemitismus und Antifeminismus in den deutschnationalen und völkischen Turnverbänden Mitteleuropas«. S. 187. Vgl. Ebd. S. 193. Vgl. Susanne Meyer-Büser, Bubikopf und Gretchenzopf. Die Frau der Zwanziger Jahre (Heidelberg, 1995). S. 14-16. Franz Zimmermann, »Die neueste Mode«, Deutsche Allgemeine Friseur-Zeitung, Nr. 40/11 (1924), S. 250-254. Hier S. 254. Klement, »Streit um den Bubikopf, Streit um die Rolle der Frau. Antisemitismus und Antifeminismus in den deutschnationalen und völkischen Turnverbänden Mitteleuropas«. S. 197. Rudolf Heimo, »Der Bubikopf«, Bundesturnzeitung, Nr. 5/20 (1924), S. 300-305. Zitiert nach Klement, »Streit um den Bubikopf, Streit um die Rolle der Frau. Antisemitismus und Antifeminismus in den deutschnationalen und völkischen Turnverbänden Mitteleuropas«. S. 197. Vgl. Ebd.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

flochtene Haar der »germanischen Frau« als rassifiziertes Weiblichkeitsideal propagiert.22 Ferner war in der ›Bundesturnzeitung‹ bereits 1924 zu lesen, dass der Bubikopf der Haarbeschaffenheit des »semitischen Volkes« und dessen »kurze[m], krause[m], meist schwarze[m]« und »struppigem«23 Haar am dienlichsten und damit zugleich unvereinbar mit dem »Wesen der deutschen Frau« sei, die als Gegenbild in ihrer Mutterrolle essentialisiert, naturalisiert und auf diese beschränkt wird. Diese Rhetorik mit Anklängen antisemitischer und rassistischer Biopolitik knüpft folglich den Topos der vermeintlichen Sorge um die »deutsche Volkserneuerung« auch unmittelbar an Beschaffenheit, Farbe und Länge des weiblichen Haupthaares. Mit dem angstbesetzten und antisemitischen Verschwörungsphantasien folgenden Heraufbeschwören eines durch den Bubikopf angestoßenen vermeintlichen ›Untergangs der Nation‹ werden dessen Trägerinnen entweder selbst als jüdisch markiert oder aber zumindest zu Handlangerinnen einer vermeintlich »jüdischen Weltverschwörung« erklärt.24 Angesichts dessen kann auch kaum verwundern, dass der ›Deutsche Turnerbund 1919‹ anlässlich des Wiener Bundesturnfests im Jahre 1925 alle teilnehmenden Turnerinnen dazu verpflichtete »in deutscher Haartracht«25 , d.h. mit langen und zu Zöpfen geflochtenen Haaren, zu erscheinen. Außerdem war schon im Vorfeld des Fests der Beschluss gefasst worden, dass allen Frauen mit Bubikopf »der Zutritt zum Festplatze und den sonstigen Festveranstaltungen im Turnkleid oder mit dem Bundesabzeichen nicht gestattet«26 sein sollte, es sei denn, die entsprechende Turnerin könne mittels eines ärztlichen Attests vorweisen, dass das Tragen kurzer Haare aus gesundheitlichen Gründen notwendig sei.27 Schon beim Lokalturnfest im ungarischen Eger

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Vgl. Uwe Puschner, »Völkische Diskurse zum Ideologem ›Frau‹«, in Völkische Bewegung, Konservative Revolution, Nationalsozialismus. Aspekte einer politischen Kultur, hg. von Walter Schmitz und Clemens Vollnhals (Dresden, 2005), S. 45-75. Hier S. 65-68. Dass der Bubikopf in den 1940er Jahren wiederum im nationalsozialistischen Modediskurs auf mehr Zustimmung gestoßen ist, als gemeinhin angenommen wird, hat Julia Bertschicks konzise Studie gezeigt: Julia Bertschik, »Zopf mit Bubikopf. Modejournalismus im ›Dritten Reich‹ am Beispiel der Zeitschrift ›Die Mode‹ (1941-1943)«, in Reflexe und Reflexion von Modernität 1933-1945, hg. von Erhard Schütz und Gregor Streim (Bern, 2002), S. 273-292. Heimo, »Der Bubikopf«. S. 303, zitiert nach Klement: »Streit um den Bubikopf, Streit um die Rolle der Frau. Antisemitismus und Antifeminismus in den deutschnationalen und völkischen Turnverbänden Mitteleuropas«, S. 197. Franz Schafferhans, »Zur Bubikopffrage«, Turnzeitung des Deutschen Turnverbandes, Nr. 7/17 (1926), S. 300-303. Hier S. 303. Gottfried Franke, »Mode über Alles«, Bundesturnzeitung, Nr. 6/2 (1925), S. 22-23. Hier S. 22. Gottfried Franke, »Die Haartracht unserer Turnerinnen«, Bundesturnzeitung, Nr. 6/23 (1925), S. 394-396. Hier S. 396. Vgl. Ebd.

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im Sommer desselben Jahres war es Frauen mit Bubikopf untersagt gewesen, am Festzug teilzunehmen.28 Solche Weisungen wurden mit Vehemenz durch vereinseigene, sog. Bundesfrauenwarte, wie etwa Rudolf Zenker, durchgesetzt, dessen kompromisslose Haltung in der Bubikopf-Debatte aus folgendem Zitat, das den Protokollen der Vorstandssitzungen des ›Deutschen Turnverbands 1919‹ entnommen ist, ersichtlich wird: »Der Turnrat befiehlt und wer sich nicht fügt, der fliegt und kann in einen Barkochbar-Verein eintreten, wenn er unter seinesgleichen sein will.«29 Zenker spielt hier auf die seit Anfang der 1920er Jahre in der Weimarer Republik immer populärer werdenden und nach Bar Kochba, einer heroenhaften Schlüsselfigur des jüdischen Widerstands gegen die römische Herrschaft, benannten jüdischen Sportvereine an.30 Zudem war Zenker wie viele seiner Turnkollegen der Ansicht, dass der Bubikopf Frauen nicht nur körperlich, sondern auch geistig in Gänze »entweibliche«.31 Im geradezu reflexartig bemühten Topos der »Entweiblichung« artikuliere sich, so Klement, die Furcht konservativ-nationalistischer und »völkischer« Kreise vor einer umfassenden Infragestellung traditioneller Geschlechterrollen durch zeitgenössische Emanzipationsbestrebungen (Frauenbewegung und jüdische Emanzipation gleichermaßen) sowie ein Verdachtsmoment der Homosexualität gegenüber Bubikopf-Trägerinnen.32 Mit Blick auf solche Untergangsszenarien hat Atina Grossmann auf wichtige diskursive Überschneidungen zwischen dem Bild der »Neuen Frau« und antijüdischen Klischees, darunter der Vorwurf der sexuellen und intellektuellen Freizügigkeit sowie des Konsumismus, aufmerksam gemacht.33 Beiden Autor:innen zustimmend bliebe zu ergänzen, dass dieses Untergangsszenarien heraufbeschwörende heteronormative Verunsicherungsmoment ebenso potenziell homophobe Verdachtsmomente auf den Bubikopf und dessen vermeintlich »entweiblichte« und als jüdisch markierte Trägerinnen proji-

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Vgl. Robert Wilhelm Hiecke, »Die Bubikopf-Seuche«, Turnzeitung des Deutschen Turnverbands, Nr. 7/15 (1926), S. 270-271. Friedrich Rudolf Zenker, »Mehr Charakter! Mitteilungen des Kreises 6 Mitteldeutschland des Deutschen Turnerbundes 1919, (Beilage)«, Bundesturnzeitung, Nr. 8/15 (1927), S. 50-53. Hier S. 53. Vgl. Henry Alexander Wahlig, Sport im Abseits. Die Geschichte der jüdischen Sportbewegung im nationalsozialistischen Deutschland (Göttingen, 2015). S. 27f. Vgl. Zenker, »Mehr Charakter! Mitteilungen des Kreises 6 Mitteldeutschland des Deutschen Turnerbundes 1919, (Beilage)«. S. 53. Vgl. Klement, »Streit um den Bubikopf, Streit um die Rolle der Frau. Antisemitismus und Antifeminismus in den deutschnationalen und völkischen Turnverbänden Mitteleuropas«. S. 199. Vgl. Atina Grossmann, »The New Woman and the Rationalization of Sexuality in Weimar Germany«, in Powers of Desire. The Politics of Sexuality, hg. von Ann Snitow, Christine Stansell und Sharon Thompson (New York, 1983), S. 153-171.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

ziert.34 Aufgrund dieser antisemitischen und sexistischen Argumentationsmuster, die im Verlauf der 1910er und 20er Jahre als anti-emanzipatorische Ausgrenzungsund Diskriminierungsstrategien zunehmend die breitere öffentliche Debattenkultur prägten,35 wandelt sich der Bubikopf schließlich in einer offensiv antisemitischen Wortdrehung zum »Judikopf«36 oder »Judenkopf«.37 Zudem wäre in intersektionaler Perspektive – als eine weitere, überaus relevante Dimension dieses primitivisierenden Alterisierungsmoments – die zeitgleich wirksam werdende rassistische Gleichsetzung von Bubikopf und vermeintlichem »Negerkopf« zu betonen.38 Vor diesem zeithistorisch relevanten Hintergrund erscheint Billers prominente Bezugnahme auf den Bubikopf als künstlerische Konstante ihres Kindermotivs umso spannender und vielschichtiger. Im Sinne eines transnational bedeutsamen Erkennungszeichens39 der »Neuen Frau« – unabhängig, modern und gleichermaßen mit »dem Jüdischen« assoziiert – wurde beispielsweise bereits auf die nicht zuletzt um ihren schwarzen Bubikopf kreisenden Selbstinszenierungen der SturmKünstlerin Else Lasker-Schüler sowie auf ihr Selbstverständnis als Jüdin und ihre (selbst-)orientalisierenden Gender-Performances als ihr männliches Alter Ego Prinz Jussuf von Theben aufmerksam gemacht.40 Überdies hat Lisa Silverman besonders eindrücklich auf die Kodierung der »Neuer Frau« als jüdisch am Beispiel der ursprünglich aus Wien stammenden Schriftstellerin Vicki Baum hingewiesen,41 die ab 1920 in Berlin erfolgreich war und vor Ort durch den Ullstein-Verlag medienund öffentlichkeitswirksam als »prototypical New Woman«42 vermarktet wurde. Ähnliches Identifikationspotenzial mit dem Bubikopf und der »Neuen Frau« könnte folglich auch in Billers Falle – moderne Avantgardistin, kosmopolitische

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Vgl. Gesa Kessemeier, Sportlich, sachlich, männlich. Das Bild der »Neuen Frau« in den Zwanziger Jahren. Zur Konstruktion geschlechtsspezifischer Körperbilder in der Mode der Jahre 1920 bis 1929 (Dortmund, 2000). S. 63-66. Zur intersektionalen Analyse von Antisemitismus und Homophobie am prominenten Beispiel Magnus Hirschfelds vgl. Heike Bauer, The Hirschfeld Archives. Violence, Death, and Modern Queer Culture (Philadelphia, 2017). S. 92ff. Vgl. Klement, »Streit um den Bubikopf, Streit um die Rolle der Frau. Antisemitismus und Antifeminismus in den deutschnationalen und völkischen Turnverbänden Mitteleuropas«. S. 193. Ebd. Ebd. S. 198. Vgl. Ebd. Für den südosteuropäischen Kontext vgl. Marina Vujnović, Forging the Bubikopf Nation. A Feminist Political-Economic Analysis of Ženski List, Interwar Croatia’s Women’s Magazine, for the Construction of an Alternative Vision of Modernity. Dissertation (Iowa, 2008). Vgl. Birgit Körner, Hebräische Avantgarde. Else Lasker-Schülers Poetologie im Kontext des Kulturzionismus (Köln, 2017). S. 154-156, sowie S. 168-170. Vgl. Lisa Silverman, Becoming Austrians. Jews and Culture between the World Wars (New York, 2012). S. 95-97. Ebd. S. 95.

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Vjera Biller und das Kindliche

Künstlerin, Jüdin, Bubikopf-Trägerin (Abb. 45) – unterstellt werden. Ihr vom Bubikopf geprägtes Leitmotiv des Kindlichen wäre überdies auch im Sinne einer kritisch angeeigneten und durchaus interventionistisch lesbaren Referenz zu den soeben skizzierten anti-emanzipatorischen und antisemitischen Bubikopf-Debatten der 1920er Jahre ausdeutbar. Durch das motivische Zusammenziehen von Bubikopf und Kindlichem in Billers charakteristischen Kinderfiguren scheint die Künstlerin zudem ein visuelles Abgrenzungsmoment von jenem »völkischen« Mutterschaftsideal zu schaffen, das zuvor kurz umrissen worden ist. Billers durch den Bubikopf vom deutsch-nationalen Weiblichkeitsideal »ent-bundenes« Kindliches wird vielmehr auf ein marginalisiertes Jüdisches rückprojiziert und für ihre eigenständige Kunstpraxis als primitivistische Kreativinstanz fruchtbar gemacht (Kapitel 3.1 und 3.1.1). Zwar finden sich im Oeuvrefragment und dem spärlich erhaltenen Nachlass der Künstlerin keine expliziten Verweise auf ein jüdisches Selbstverständnis, wie etwa bei Lasker-Schüler, aber dessen ungeachtet scheint eine solche Bedeutungsebene als Hintergrundrauschen Billers künstlerische Praxis dennoch aufs Engste zu begleiten: Ihre Auseinandersetzung mit der Semantik des Jüdischen artikuliert sich dabei vor allem auf ikonografischer Ebene. Denn im weiteren Figurenkosmos der Künstlerin findet sich neben den programmatischen Kindern auch eine wiederholt wiederkehrende und stark an zeitgenössischen jüdischen Identifikationsfiguren43 wie der mit Marc Chagall assoziierten Bildformel des Alten Juden orientierte Altmännerfigur in Billers Arbeiten aus der Berliner Zeit. Auf Billers und Chagalls gemeinsame Ausstellungsaktivitäten in der Sturm-Galerie, auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede im jeweiligen primitivistischen Bezug auf jüdische Bildsprachen sowie die Rückbindung dieses künstlerischen Interesses an den im zeitgenössischen Diskursfeld als »hebräische Avantgarde« rezipierten Berliner Sturm-Expressionismus44 wird das vierte Kapitel dieses Buches in aller Ausführlichkeit eingehen. *** Billers künstlerischer Rekurs auf primitivistische Formsprache und Ästhetik lässt sich grundsätzlich mit der zweidimensionalen und flächigen Umsetzung von Körperlichkeit sowie der expressionistischen Farbgebung, insbesondere ihrer in Pastell ausgeführten Zenit-Arbeiten, in Zusammenhang bringen.45 Hinsichtlich dieser

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Vgl. Lea Weik, Jüdische Künstler und das Bild des Ewigen Juden. Vom antijüdischen Stereotyp zur jüdischen Identifikationsfigur (Heidelberg, 2015). S. 41. Vgl. Körner, Hebräische Avantgarde. Bereits im Rahmen ihrer allerersten Kunstschau 1919 in Budapest war Biller in der von Iván Hevesy veröffentlichten begleitenden Ausstellungsrezension im Kontext des Expressionismus und der »új primitivek« – der »Neuen Primitiven« – verortet worden, vgl. Iván Hevesy, »A MA grafikai kiállításához. Biller Vjera, Bortnyik Sándor, Máttis Teutsch János, Ruttkay György,

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

von Schematisierung, Zweidimensionalität und Repetition geprägten Kompositionen und Figuren Billers ist der Künstlerin wiederholt die vermeintlich stilistische Rezeption südungarischer sog. Bauernmalerei unterstellt worden, so etwa in den Studien Irina Subotićs und Karla Bilangs.46 Die klar konturierte Linienführung der Künstlerin sowie der erzählerische Charakter ihrer Darstellungen, die den »spröde[n] formale[n] Reiz«47 dieser Arbeiten ausmache, hätten folglich ihre Vorbilder in den von Folklore und Naivität geprägten Bauernmalereien, die mit dem südungarischen Kalocsa als lokalem Zentrum in Verbindung stehen. Ein solcher, zumal stilistisch abgeleiteter Konnex, zur von üppigen und überaus ornamentalen Blumen- und Blütendekors geprägten sog. Bauernmalerei dieser Region48 wirkt jedoch angesichts der augenscheinlichen Dekorationslosigkeit von Billers Arbeiten wenig überzeugend.49 Bilang attestiert ferner Bezüge zur »naive[n] Malereien aus […] Jugoslawien«,50 die von der Autorin an dieser Stelle weder eine historische noch eine geografische Differenzierung erfährt. Dieser homogenisierenden Generalisierungstendenz, die eine »Naive Malerei Jugoslawiens« impliziert, wäre mit dem Verweis auf die überaus vielfältigen und unterschiedlichen Ausprägungen, Geografien und Zeitachsen folkloristischer Malpraxis und ihrer Motive im damaligen Staatsgebiet der SHS zu begegnen: Bedeutende lokale Zentren finden sich beispielsweise an so unterschiedlichen Orten wie Ковачица/Kovačica, in der Vojvodina im südlichen Banat, sowie im heutigen Јагодина/Jagodina in Zentralser-

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Schadl János, Uitz Béla«, MA, Nr. 1/VI (1919), o. S. [S. 2]: »érzéstartalmának kifejezése a formákkal és vonalakkal mint eszközökkel (expresszionizmus) az élmény konkrét, szemléleti vagy emlékkép-tartalmának képpé komponálása (futurizmus, új primitívek).«/»der Ausdruck des eigenen emotionalen Inhalts mit Formen und Linien als Werkzeuge (Expressionismus), die den konkreten, konzeptuellen oder Erinnerungsbildinhalt der Erfahrung zu einem Bild zusammensetzen (Futurismus, neue Primitive).« Vgl. Subotić, »Vjera Biller (1903-?)«. S. 89. Sowie Bilang, »Avantgarde vom Balkan. Vjera Biller (Belgrad) und Mascha Jiwkowa-Usunowa (Sofia)«. S. 233. Ebd. Vgl. Edit Fél, Klara Csilléry und Tamás Hofer, Ungarische Bauernkunst (Budapest, 1958). S. 3441. Sowie Attila Selmeczi Kovács und Éva Szacsvay, Folk Culture of the Hungarians, Ausst.Kat. Magyar Néprajzi Múzeum (Budapest, 1997). S. 77f. Und »jüngst«: David Crowley, »Zur Aneignung bäuerlicher Formen in Österreich-Ungarn im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert«, in Vernakulare Modernen. Grenzüberschreitungen in der Architektur um 1900. Das Bauernhaus und seine Aneignung, hg. von Anita Aigner (Bielefeld, 2010), S. 57-84. Auf diesen gewichtigen Unterschied weisen sowohl Subotić als auch Bilang, die sich an dieser Stelle gegenseitig zitieren, selbst explizit hin, ohne jedoch weiter auf den daraus entstandenen Widerspruch einzugehen. Vgl. Subotić, »Vjera Biller. Malerin der urbanen Naiven Kunst«. S. 26. Sowie Bilang, »Avantgarde vom Balkan. Vjera Biller (Belgrad) und Mascha Jiwkowa-Usunowa (Sofia)«. S. 233. Ebd.

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Vjera Biller und das Kindliche

bien.51 Kovačica galt aufgrund ihrer multi-ethnischen Bevölkerungszusammensetzung (Slowak:innen, Serb:innen, Ungar:innen) und der slowakischen Mehrheitsgruppe bereits seit dem späten 18. Jahrhundert als eines der wichtigsten Zentren dezidiert slowakischer Folklore und Kultur in der Banat-Region.52 Beide Orte – Kovačica und Jagodina – haben überdies auch erst nach 1945 überregional an Bedeutung als Zentren der sog. Bauernmalerei gewonnen. Bekannte Vertreter:innen dieser Strömung, wie etwa die Künstlerin Zuzana Chalupová, wurden in der Folge in Deutschland und Österreich verstärkt seit Mitte der 1970er Jahre als sog. »jugoslawische Naive«53 der SFRJ rezipiert. Umso anachronistischer erscheint angesichts dieser zeitlichen sowie geografischen Ausdifferenzierung des Phänomens ›Bauernmalerei‹ Bilangs Attestieren einer vermeintlich geschlossenhomogenen »jugoslawischen« Kunstgattung, die Biller – noch dazu: im Berlin der Zwischenkriegszeit lebend – rezipiere. Überdies haben Billers im Leitmotiv des Kindlichen zentrierte Darstellungen kaum etwas mit den von bukolisch-bäuerlichen Idyllen geprägten Motiven54 der soeben skizzierten, überaus heterogenen Folkloretraditionen der SHS sowie (Süd-)Ungarns gemeinsam. Im Gegenteil: Biller verzichtet gänzlich auf die Darstellung ländlichen Dorf- und Bauernlebens und widmet sich vielmehr dem Städtischen, das als Hintergrundfolie für ihre Kinderfiguren dient, wie sich anhand der noch erhaltenen Arbeiten (hier: der topische Venedigbezug der gleichnamigen Serie) sowie anhand der Titel der nicht mehr erhaltenen Werke in Ausstellungskatalogen der MA, des Zenit und des Sturm55 (hier: die Arbeit ›Budapest‹) nachvollziehen lässt. Überdies hat die Rekonstruktion von Billers transnationaler Biografie gezeigt, dass sich die Künstlerin nie nachweislich in Kalocsa oder im heutigen Serbien – weder in Belgrad, geschweige denn in den sog. Bauernmalerei-Zentren Kovačica oder Jagodina – aufgehalten hat.56 Bilangs jenseits historischer sowie materialbasierter Evidenz formulierter, folklorisierender Interpretation des Biller’schen Oeuvrefragments scheint damit ein (bewusster oder unbewusster) Impetus der Alterisierung zugrunde zu liegen, der Billers Künstlerinnenschaft mit dem unterkomplexen Verweis aufs Jugoslawische und Bäuerliche als vermeintliche »Balkan-Künstlerin« im Partikularen und Peripheren verortet. Im Sinne einer alternativen Deutung, die sich von Bilangs und ähnlichen Interpretationen klar abgrenzt, möchte ich hier den Hinweis auf den überaus comic-

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Vgl. exemplarisch: Oto Bihalji-Merin, Die naive Malerei. Das naive Bild der Welt (Köln 1959). Hier insbesondere S. 110-124. Vgl. Zdenko Matula, Ėtnografičeskij atlas Slovakii (Bratislava, 1990). S. 121. Vgl. exemplarisch: Anton Hell, Naive Kunst aus Jugoslawien (München, 1980). S. 17-20. Vgl. Selmeczi Kovács und Szacsvay, Folk Culture of the Hungarians. S. 18-31. Vgl. Katalog der 98. Sturm-Gesamtschau (Mai 1921). [S. 1-3]. Abb. 12. Vgl. Biografische Karte im Quellenteil II.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

haften Bildeindruck der Biller’schen Arbeiten einbringen. Auf diesen Umstand haben indes auch Subotić und jüngst Ćurić aufmerksam gemacht.57 In Subotićs Studien fehlt allerdings eine dahingehende Konkretisierung. Ćurić wiederum sieht in Billers Kinderfiguren, die um zehn Jahre vorweggenommene Antizipation der größten amerikanischen und internationalen Comic-, und Cartoon-Heldin Betty Boop.58 Dem wäre entgegenzuhalten, dass Billers Leitmotiv des Kindlichen nicht nur an vielen Stellen keine klar definierten binären Geschlechterzuschreibungen (mehr) kennt, sondern dass ihre Kinderfiguren zudem auch konsequent jene hyper-sexualisierten Komponenten entbehren, die die Figur der Betty Boob seit ihrer Erfindung im Jahre 1930 durch Max Fleischer und die in Los Angeles ansässigen Fleischer Studios als »verführerische« Kind-Frau mit »Babystimme«, Minirock und Strumpfband berühmt gemacht haben.59 Auch weisen Billers Figuren keine vergleichbare Verzerrung anatomischer Körperproportionen zugunsten der überbetonten Brustpartie, der »Wespentaille« mit ausladenden Hüften und dem überdimensionalen Kopf mit großen Kulleraugen wie bei einer Betty Boob auf.60 Entsprechend diskutabel wirkt diese, von Ćurić unterstellte »Wahlverwandtschaft« zwischen Billers Kinderfiguren und Betty Boob jenseits des geteilten Attributs des schwarzen Bubikopfs. Vielmehr ließe sich mit Verweis auf andere Darstellungselemente, allen voran das überaus deutlich an eine Sprechblase erinnernde amorphe Gebilde mit der serbisch-kyrillischen Inschrift зенит (»Zenit«) in der gleichnamigen Arbeit von 1924 (Abb. 7), Billers in der Tat sehr frühe Rezeption von Bild- und Gestaltungsstrategien des Mediums Comic und seiner spezifischen Ästhetik konstatieren. Außerhalb der US-amerikanischen Populärkultur wird das Aufkommen der Sprechblase als charakteristisches Gestaltungselement der Comic-Erzählung meist auf die im Jahre 1925 erschienene Serie ›Zig et Puce‹ des französischen Cartoonisten Alain Saint-Ogan datiert.61 Mit ihrer schon ein Jahr zuvor entstandenen und zwischen

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Vgl. Subotić, »Vjera Biller. Malerin der urbanen Naiven Kunst«. S. 26. Sowie Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 64. Ebd.: »Glavna junakinja, tužna Djevojčica, pomalo anticipira jednu najpoznatijih junakinja američkog i svjetskog crtanog filma i stripa – Betty Boop, naravno u dječjem izdanju.« [Hervorhebungen im Original]/»Die Hauptfigur, das traurige Mädchen, nimmt eine der berühmtesten Heldinnen der amerikanischen und internationalen Zeichentrickfilms und Comics vorweg – Betty Boop, natürlich in der Kinderausgabe.« Vgl. Stephan Ditschke, Katerina Kroucheva und Daniel Stein, Hg., Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums (Bielefeld, 2009). S. 82f. Vgl. Alexander Braun und Max Hollein, Hg., Pioniere des Comic. Eine andere Avantgarde. Ausst.Kat. Schirn-Kunstalle Frankfurt (Ostfildern Ruit, 2016). S. 7-10. Julia Abel und Christian Klein, Hg., Comics und Graphic Novels. Eine Einführung (Stuttgart, 2016). S. 15.

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Vjera Biller und das Kindliche

Cartoon und Comic62 oszillierenden Arbeit nähert sich Biller folglich im Kontext der jugoslawischen Zenit-Avantgarde bereits diesem populärkulturellen Medium an und erschließt Cartoon und Comic für ihre avantgardistische Kunstpraxis. Die an beide diese Medien erinnernde Verwendung von Schrift als Bildelement,63 die in Billers Zenit-Arbeiten ebenfalls ins Auge fällt, ist indes bereits mehrfach in ihrem engen Zusammenhang zur Kunst der Moderne sowie – im Falle Marc Chagalls64 und Else Lasker-Schülers – auch in ihrem Konnex zum Selbstverständnis als jüdische Künstler:in betrachtet worden.65 Billers zweidimensionale Bildkompositionen der Venedig-Serie sind zudem durch ein dem Comic überaus deutlich entlehntes Andeuten von Bewegungen durch dynamische Figurenpositionen – beispielsweise durch mitten im Gehen mit erhobenem Fuß gezeigten Schrittabfolgen, wie auf dem Blatt ›Spaziergang durch Venedig‹ (Abb. 2) – gekennzeichnet.66 Auch findet sich bei Biller die ebenso comic‘esque starke Betonung solcher Bewegungsrichtungen von links und/oder von rechts im Sinne eines narrativen Aufeinander-zuBewegens einzelner Bildfiguren.67 Ferner bliebe anzumerken, dass jenseits eines solchen persönlichen künstlerischen Interesses an Comic und Cartoon auch der breitere Kontext von Billers Ausstellungsaktivitäten im Berliner Sturm-Expressionismus von einer Auseinandersetzung mit diesem Medium geprägt ist, obgleich in geringfügig anderer Konfiguration: Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten in der Sturm-Avantgarde vertretene Künstler verstärkt japanische Holzschnitte (Ukiyo-e), die als Vorläufer der

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Ich folge hier Will Eisners Unterscheidung zwischen Comic – einer sequenzierten Folge von Bildern mit einem bestimmten Seitenlayout – und Cartoons, die als Einbildgeschichten definiert werden. Vgl. Will Eisner, Comics and Sequential Art (New York, 1985). S. 22. Vgl. Martin Schüwer, Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur (Trier, 2008). S. 34-47. Vgl. Benjamin Harshav, »The Role of Language in Modern Art. On Texts and Subtexts in Chagall’s Paintings«, Modernism/Modernity, Nr. 1/2 (1994), S. 51-87. Vgl. weiterführend zum Konnex Comic und jüdisches Selbstverständnis: Derek Parker Royal, Hg., Visualizing Jewish Narrative. Jewish Comics and Graphic Novels (New York, 2016). Der Autor weist auch auf die Prävalenz jüdischer Comic- und Cartoon-Zeichner:innen hin, die im US-amerikanischen Kontext maßgeblich an der Etablierung und Popularisierung dieses Mediums beteiligt waren (S. 10). Max Fleischers Figur der Betty Boob lässt sich ebenfalls in diesem Kontext verorten: In der Episode ›Minnie, the Moocher‹ von 1932 wird in der Anfangsszene ein Essen bei Betty Boobs Eltern gezeigt. Beide Elternfiguren werden dabei durch ihren starken »osteuropäischen« Akzent sowie durch weitere Attribute (u.a. die kippa des Vaters) als jüdisch markiert bzw. karikiert. Fleischers Originalcartoon ist verfügbar unter: https://yo utu.be/oJlC7xuppJQ (letzter Aufruf: 15.07.2021). Vgl. Abel und Klein, Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. S. 87-88. Vgl. Ebd.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

Manga-Comics reüssieren,68 rezipiert.69 Und bereits 1914 hatte Herwarth Walden eine Grafik-Kunstschau mit dem Titel Mokuhanga tenrankai mokuroku mitorganisiert, in deren Rahmen Sturm-Künstler:innen zunächst im Hibiya-Kunstmuseum in Tokyo und anschließend in Kyoto gezeigt wurden.70 Ein mit dieser Rezeption verbundenes und von Primitivismen sowie Exotismen gleichermaßen motiviertes Interesse blieb auch nach 1918 bestehen und hat, wie Maaike van Rijn illustriert, die Ästhetik und das Marketing der Sturm-Gruppe nicht unwesentlich mitgeprägt.71 All jene Merkmale der Biller’schen Kunstpraxis wie etwa Schematisierung, Repetition und Zweidimensionalität, die in der bisherigen Forschung als vermeintlicher Ausweis einer impliziten »Balkanität« der Künstlerin und ihrer folkloristisch-naiven Arbeiten (miss-)interpretiert worden sind,72 ließen sich folglich stattdessen in einer solchen alternativen Perspektive unter Hinwendung zu Comic und Cartoon als bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt stattfindende, konzise künstlerische Auseinandersetzung mit diesen Populärmedien und deren Nutzbarmachung als avantgardistische Kunstform deuten. Das nun folgende Unterkapitel wird sich der zentralen Frage widmen, welche Entwürfe von Künstlerinnenschaft Billers bereits in seinen Grundzügen umrissene Leitmotiv des Kindlichen bereitzustellen vermag und inwiefern das Biller’sche Kindliche somit an der Etablierung einer mit Erfolg und Sichtbarkeit verbundenen Künstlerinnenposition innerhalb der Zwischenkriegsavantgarden beteiligt ist. Zur Beantwortung dieser Frage wird meinerseits die These einer Barbarisierung des Kindlichen in Anschlag gebracht werden, die insbesondere im Zenitismus, dessen Programm und Rhetorik um den Schlüsselbegriff des Barbarischen kreist, ihre semantische Wirksamkeit entfalten kann und ein Erklärungsangebot für Billers Erfolg in dieser spezifischen Avantgardebewegung liefert. Unter Zuhilfenahme des Kinderspielkonzepts Walter Benjamins wird dieser Barbarisierungsprozess des Kindlichen als ein produktives In-Bezug-Setzen von Kindlichkeit, Barbarischem

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Vgl. Sabine Schulze, Hg., Hokusai x Manga. Japanische Popkultur seit 1680. Ausst.Kat. Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (München, 2016). S. 7-12. Vgl. Evelyn Benesch, »Der ›moderne Holzschnitt‹ und Edvard Munch«, in Faszination Japan. Monet, Van Gogh, Klimt. Ausst.Kat. Kunstforum Wien, hg. von Evelyn Benesch (Heidelberg/Berlin, 2018), S. 178-183. Sowie Evelyn Benesch, »Die Maler des Blauen Reiter und der japanische Farbholzschnitt«, in Faszination Japan. Monet, Van Gogh, Klimt, hg. von Evelyn Benesch (Heidelberg/Berlin, 2018), S. 218-233. Vgl. Nell Walden, Hg., Der Sturm. Ein Gedenkbuch an Herwarth Walden und die Künstler des Sturmkreises (Baden-Baden, 1954). S. 29. Maaike van Rijn, »Material, Marketing, Medium. Der Holzschnitt beim Sturm«, in Der Sturm. Literatur, Musik, Graphik und die Vernetzung in der Zeit des Expressionismus, hg. von Andrea von Hülsen-Esch und Henriette Herwig (Berlin/Boston, 2015), S. 299-316. Vgl. Bilang, »Avantgarde vom Balkan. Vjera Biller (Belgrad) und Mascha Jiwkowa-Usunowa (Sofia)«. S. 233.

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Vjera Biller und das Kindliche

und Kreativität umrissen, der in dieser Hinsicht aufs Engste mit dem zenitistischen Nachdenken über Kunst und dessen programmatischen Schöpfungstopoi korrespondiert. Diese werden dabei jedoch weniger an die prävalente hyper-maskuline Figur des Barbarogenije – des Künstlergenies vom Balkan –, sondern vielmehr mit primitivistischem Impetus ans Kindliche rückgebunden. In einem zweiten Schritt wird Billers Leitmotiv sodann auf seine über den Zenitismus hinausreichenden inhaltlichen sowie ästhetischen Anschlusspotenziale und Bedeutungsdimensionen befragt und diese im Kontext des von expressionistischer Zivilisationskritik und Primitivismus geprägten Berliner Sturms analysiert.

3.1

Die Barbarisierung des Kindlichen

Bei den im Kontext des Zenitismus entstandenen Arbeiten der Künstlerin handelt es sich um die 1924 datierte Pastell-Zeichnung ›Zenit‹, die bereits mehrfach Erwähnung gefunden hat, sowie um das auf 1926 datierbare Pastell ›Fünf Jahre Zenit‹, das in der Jubiläumsausgabe des Zenit-Magazins Nr. 38 reproduziert wurde. Beide unterscheiden sich aufgrund ihrer expressionistischen Farbigkeit, die in ihrem Auftrag auf das Papier materialdicht wirkt, grundlegend von den früheren Linoleumschnitten der Künstlerin. Die Arbeit von 1924 (Abb. 7) ist dominiert von einem durch den Cloisonismus inspirierten Gesamteindruck, der aus den flächigen und jeweils einfarbigen Farbanordnungen resultiert, die stets mit dunkelschwarzen Umrandungen eingefasst werden. Auf der konsequent zweidimensionalen Bildfläche werden drei von Billers charakteristischen Kinderfiguren gezeigt, die sich motivisch im Kontext expressionistischer Archaismen verorten lassen. Zwei der Kinderfiguren in der linken oberen Bildhälfte sind in Fellkleidung gehüllt und stehen einer gänzlich unbekleideten, anatomisch detailliert wiedergegebenen und geschlechtlich markierten Jungenfigur im rechten unteren Eck gegenüber. Das Inkarnat der Kinderfiguren – der Junge im Vordergrund dunkler, die beiden Kinderfiguren im Hintergrund etwas heller – ruft derweil erneut Assoziationen mit zeitgenössisch avantgardistischen, primitivistischen Sujets auf. Der mittels Bekleidungszustand visualisierte Kontrast zwischen Nacktheit und Verhüllung der Kinderfiguren wird bildimmanent noch verstärkt durch einen weiteren Gegensatz: Die beiden in Fell gehüllten Kinderfiguren »im Norden« (linke, obere Bildhälfte) werden der unbekleideten Jungenfigur »im Süden« (untere, rechte Bildhälfte) gegenübergestellt. Dieser semantische Kontrastgehalt im Geografischen wird von der Künstlerin auch auf der Ebene der Flächengestaltung nochmals aufgerufen, denn die den Bildraum strukturierenden, unregelmäßig sich überschneidenden Kreise, auf denen alle Kinderfiguren zu stehen scheinen, sind »im Norden« in den Farben Weiß und Gletscherblau und »im Süden« in sattem Grün gestaltet. Der nackten Jungenfigur »im Süden« ist zudem ein in fauvistisch-expressionistischer Formgebung sich schlängelnder,

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

brauner Baum mit grünem Palmenkranz zugeordnet, der bis in den Himmel hinaufzuragen scheint und der in seiner Ausgestaltung entfernt an die primitivistischexotisierenden Motive eines Paul Gauguins, wie etwa die geschlängelten Blumenranken der Contes barbares von 1902,73 erinnert (Abb. 25). Im Sinne eines symbolischen Äquivalents für diesen »Himmelsbaum« ist den beiden Kinderfiguren »im Norden« ein Sphynx-artig kauernder Seehund bzw. eine Robbe in Brauntönen zugeordnet, die, begleitet von einem einzelnen dunkelgrauen Punkt (ein Planet? der Polarstern?), auf einem Eisberg hinter den Kinderfiguren positioniert wurde. Der »Himmelsbaum« ließe sich indes als bildliche Referenz zum breiteren Symbolreservoir des Expressionismus und dessen Schlagwort der Eins-Werdung von Natur und Mensch lesen.74 Bezüglich des von Biller hier gewählten Seehund-Motivs kann wiederum mit Blick auf den zenitistischen Entstehungskontext dieser Arbeit an das Gedicht › Пут у Бразилиju/Put u Braziliju‹ (»Fahrt nach Brasilien«) von Branko Ve Poljanski – Ljubomir Micićs jüngerem Bruder und federführendem Zenit-Autor – erinnert werden, in dem diese Tiere ebenfalls auftauchen.75 Weiterführend wäre zudem auf den mit dem Dichter Miloš Crnjanski assoziierten Sumatraismus – einer avantgardistischen literaturwissenschaftlichen Strömung, in der Sumatra als primitivistische Metapher für die gegensätzliche Bilder und Begriffe vereinigende Poetik fungiert – als Referenzpunkt zu verweisen.76 Die linke, untere Bildhälfte des Pastells wird indes dominiert von drei geometrischen Gebilden in Schwarz-Blau, bei denen es sich um zwei ineinandergreifende Zahnräder sowie ein mit Speichen besetztes Wagenrad handelt. Vor allem das Zahnrad-Element findet sich wiederholt in Billers im Zenit entstandenen Arbeiten und könnte als bildhafte Anleihe an die für diese Avantgarde-Gruppe so bedeutsame und gewissermaßen namensgebende Astralsymbolik in Form eines abstrahierten Himmelskörpers (die Sonne? der Sonnenzenit?) gedeutet werden.77 Die bereits erwähnte, prominent im Bild platzierte (Sprech-)Blase mit dem titelgebenden Schriftzug »зенит« in serbisch-kyrillischen Lettern nimmt die gesamte rechte Mitte der Komposition ein und trägt wesentlich zur schon beschriebenen comic-haften

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Paul Gauguin: ›Contes barbares‹ (1902), Öl auf Leinwand, 131,5 x 90,5 cm, Museum Folkwang, Essen. Vgl. Peter Stücheli, Poetisches Pathos. Eine Idee bei Friedrich Nietzsche und im deutschen Expressionismus (Bern, 1999). S. 40f. Enthalten in folgender Gedichtesammlung, vgl. Branko Ve Poljanski, ›Паника под сунцем/Panika pod suncem‹ (»Panik unter der Sonne«) (Belgrad, 1923). Vgl. außerdem Igor Marjanović, »Zenit. Peripatetic Discourses of Ljubomir Micić and Branko Ve Poljanski«, in On the Very Edge. Modernism and Modernity in the Arts and Architecture of Interwar Serbia (1918-1941), hg. von Jelena Bogdanović, Lilien F. Robinson und Igor Marjanović (Leuven, 2014), S. 63-84. Vgl. Marjanović, »Zenit. Peripatetic Discourses«. S. 73-74. Ich danke Prof. Dr. Renate HansenKokoruš für diese beiden wichtigen Hinweise bezüglich Ve Poljanski und Crnjanski. Vgl. Subotić, »Vjera Biller. Malerin der urbanen Naiven Kunst«. S. 26.

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Vjera Biller und das Kindliche

Gesamtwirkung bei.78 Diese in kaminroter Farbe gehaltene amorphe Blase entwächst unmittelbar dem Arm einer Kinderfigur am oberen Bildrand und erstreckt sich in ihrer Breite über den gesamten Bildhorizont, bis sie schließlich die wie zum Gruß ausgestreckte Hand der Jungenfigur am unteren Bildrand erreicht, mit der sie ebenfalls zu verschmelzen scheint. Mit der Verwandlung menschlicher Formen (der Kinderarme) zur Sprechblase, die den programmatischen Namen der ZenitBewegung in sich trägt, und aufgrund ihrer geradezu monumentalen Ausdehnung scheint das umfassende Potenzial des zenitistischen Programms und dessen Ideen von Erneuerung, »Barbarisierung« und »Balkanisierung«79 auf Bildebene verkörpert. Die mit primitivistischem Duktus realisierten Kinderfiguren werden dabei zu den innerbildlichen Träger:innen dieser zenitistischen Vision. Die zweite »Zenit-Arbeit« Billers hat ihren Anlass im fünfjährigen Jubiläum der Bewegung im Jahr 1926 und fällt damit in eine Zeit, in der der Zenitismus den eigenen Zenit bereits überschritten hatte (Abb. 8). Unmittelbar vor dem endgültigen Druckverbot des Zenit-Magazins im selben Jahr findet Billers ›Fünf Jahre Zenit‹ als Reproduktion Eingang in die letzte Druckausgabe (Abb. 9). Das offizielle Verbot der zenitistischen Avantgarde und der dazugehörigen Zeitschrift im Zuge der verstärkt anti-kommunistischen Legislatur in der SHS seit Mitte der 1920er Jahre erfolgt noch im Verlauf des Jahres 1926, als Polizei und Staatsbehörden das Redaktionsbüro der Zenitist:innen in Belgrad durchsuchen und alle verbleibenden Magazine konfiszieren.80 Einige Ausgaben waren indes schon 1922 aufgrund attestierter »staatsgefährdender Umtriebe und bolschewistischer Propaganda«81 zensiert worden u.a. auch die zeitgleich herausgegebenen Gedichtbände Ljubomir Micićs.82 Micić, der seit dem offiziellen Verbot nun als »Chefideologe« des Zenitismus mit landesweitem Haftbefehl gesucht wurde, konnte sich im Dezember 1926 mit gefälschten Reisepapieren über das heute kroatische Rijeka/Fiume nach Italien absetzen und so der Gefangennahme durch die jugoslawischen Polizeibehörden entgehen.83 Auf persönliche Bemühungen Filippo Marinettis hin, zu dem Micić bereits seit Jahren freundschaftliche Beziehung unterhielt, durfte er schließlich nach

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Vgl. Ebd. Zenitistisches Manifest (1921), in der Übersetzung von Holger Siegel. Vgl. Siegel, In unseren Seelen flattern schwarze Flaggen. Serbische Avantgarde 1918-1939. S. 21f. Vgl. Ebd. S. 103. Ebd. Ljubomir Micić, ›Стотину вам богова/Stotinu vam bogova‹ (»Hundert Götter für euch«) (Belgrad, 1922) und ders., ›Кола за спасавање/Kola za spasavanje‹ (»Rettungswagen«), Zenit, Nr. 17-18 (Oktober 1922), o. S. [S. 62]. Sowie die Erstschrift des 1928 im Pariser Exil auf Französisch herausgegebenen Gedichts Hardi! A la Barbarie. Paroles zénitistes d’un barbare européen (Paris, 1928). Vgl. Siegel, In unseren Seelen flattern schwarze Flaggen. Serbische Avantgarde 1918-1939. S. 104.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

Paris ausreisen, wo sich Micić bis zu seiner Rückkehr nach Belgrad 1936 aufhielt.84 Von Paris aus verfolgte Micić den Putsch Königs Alexanders I. im Jahr 1929, kommentierte die damit verbundene Beseitigung des Parlamentarismus in der SHS kritisch in einigen seiner Schriften und begrüßte schließlich die Ausrufung des Zweiten Königreichs Jugoslawien.85 Die nach Micićs Tod in seiner Belgrader Wohnung entdeckte Sammlung zenitistischer Zeitzeugnisse der Zwischenkriegszeit – Zeitschriften, Publikationslisten, Skizzen und Drucke verschiedenster Künstler:innen und Literat:innen, darunter auch seine Korrespondenz mit Biller sowie der Großteil ihrer heute noch erhaltenen Werke – gilt indes als Sensationsfund. Nach Micićs Tod im Juni 1971 wurde dieses Korpus seitens des Serbischen Nationalmuseums umfassend katalogisiert und dokumentiert und bildet bis heute die Grundlage der umfassenden Zenit-Sammlung dieser Institution.86 Billers Arbeit von 1926 ruft, unmittelbar vor dem Verbot der Bewegung und Micićs Flucht aus der SHS, im Kontext des Zenit-Jubiläums erneut das charakteristische Leitmotiv des Kindlichen auf, das hier ihren Beitrag als Zenitistin und als Mitglied der Gruppe markiert. Die Reproduktion in Schwarzweiß dieser Arbeit im Zenit-Magazin wird übertitelt von einem an Micić adressierten Gratulationsschreiben aus der Feder des in Paris ansässigen Henri Barbusse (Abb. 9). Die hier deutlich zu lesende Bildunterschrift – »Vera [sic!] Biller – Abbazia« – belegt indes, dass sich die Künstlerin zu diesem Zeitpunkt bereits in Opatija an der Kvarner Bucht im heutigen Kroatien aufgehalten haben muss (1924-1932), woraufhin 1932 die Übersiedlung nach Wien folgte.87 Dies bestätigt auch der erhaltene Meldezettel der Polizeidirektion im Staatsarchiv Rijeka, zu dessen Einzugsgebiet die Gemeinde Opatija gehörte.88 ›Fünf Jahre Zenit‹ (Abb. 8) zeigt zwei hintereinander angeordnete Kinderfiguren, deren Oberkörper sich im Kreisrund eines tiefblauen Zahnrads befinden, das sich in seiner Farbigkeit wiederum deutlich von den sonst dominierenden Rotund Orangetönen des Pastells abhebt. Ein zweites, kleineres Zahnrad am oberen Bildrand weist das Gründungs- und Jubiläumsdatum der Zenit-Avantgarde aus. Beide erinnern überaus stark an jene ineinander verkanteten Zahnräder, die Biller bereits in das Zenit-Pastell von 1924 als strukturgebende Elemente der Komposition integriert hatte. Sie tauchen hier, zwei Jahre später, im dezidiert zenitistischen Kontext abermals auf, während sie im übrigen Oeuvrefragment der Künstlerin an

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Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. S. 6. Vgl. Golubović, Eksperiment Zenita. ZENIT i avangarde 20ih godina. Sowie Subotić und Golubović, Zenit 1921-1926. Vgl. Biografische Karte im Quellenteil II. Vgl. Scheda individuale foglio familia no. 708/3315 (1931), Abbazia, Državni arhiv u Rijeci (Staatsarchiv Rijeka).

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Vjera Biller und das Kindliche

keiner Stelle zu finden sind. Dementsprechend ließe sich das Aufgreifen dieser spezifischen Zahnradsymbolik als direkte motivische Anleihe an die im Rahmen des Zenit-Magazins als etablierte avantgardistische Chiffre für Modernität, Konstruktionscharakter und Automatisierung fungierenden und häufig abgedruckten Zahnräder lesen, wie sie sich beispielsweise in abstrahierter Form bereits auf dem Linoleumschnitt ›кола за спасавање/Kola za spasavanje‹ (»Rettungwagen«) finden,89 der in der September-Oktoberausgabe 1922 – dem sog. Russischen Sonderheft – die Veröffentlichung der gleichnamigen Schrift von Ljubomir Micić bewirbt (Abb. 26). Billers Kinderfiguren weisen auf der Pastell-Zeichnung von 1926 indes nach wie vor unverändert die bereits in der Venedig-Serie zu Beginn der 1920er Jahre vorzufindenden charakteristischen Attribute dieses Leitmotivs auf: »mandelförmige« Augenpartien, »Herzlippen« und eine lediglich durch zwei schwarze Punkte angedeutete Nase sowie den schwarzen Bubikopf, der bereits Gegenstand eingehenderer Betrachtung war (Kapitel 3). Eine auffällige Lichtmetaphorik – die stark geometrisierte und dadurch fast an ein kristallines Planetengestirn erinnernde Straßenlaterne im Hintergrund sowie die Laterne in der Hand der vorangehenden Kinderfigur – wird hier offenkundig ans Kindliche rückgebunden, das dadurch, so Bilangs Interpretation, zum symbolischen Lichtträger des Zenitismus werde.90 In Erweiterung dieser Deutung ließe sich auf die Bedeutung von Licht und Kristall als Kernelemente des zenitistischen Nachdenkens über Kunst und Kosmos verweisen, die hier ebenfalls eine Rolle spielen mögen und somit als bildhafter Querverweis dienen könnten. Wie Subotić betont, haben unterschiedliche Strömungen des russischen Kosmismus – etwa die gleichnamigen Dichter:innen-, Wissenschaftler:innen- und Künstler:innengruppen aus den 1920er Jahren91 – mit ihren ums Planetarische und Kristalline kreisenden utopistischen Ideen nicht nur den russischen Proletkult, sondern darüber hinaus auch den Zenitismus in Zagreb und später in Belgrad maßgeblich mitgeprägt.92 Der russische Kosmismus, der wiederholt als frühe Inspirationsquelle des Sci-fi-Genres identifiziert worden ist und primär auf die Schriften Konstantin Ciolkovskijs und Nikolai Fedorovs zurückgeht, versuche, so Michael Hagemeister, modellhaft eine meist harmonistische Zukunftsvision für die Menschheit zu entwerfen und folgt dabei so unterschiedlichen Visionen wie der vollständigen Beherrschung und Regulierung des Klimas

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Vgl. Micić, »кола за спасавање/Kola za spasavanje«. Vgl. zur Lichtmetaphorik auch Bilang, »Avantgarde vom Balkan. Vjera Biller (Belgrad) und Mascha Jiwkowa-Usunowa (Sofia)«. S. 234. Vgl. George Young, The Russian Cosmists. The Esoteric Futurism of Nikolai Fedorov and his Followers (New York, 2012). S. 127-150. Sowie jüngst: Boris Groys, Hg., Russian Cosmism (New York, 2018). S. 41-54. und S. 91-112. Subotić, »Zenitism, Futurism. Similarities and Differences«. S. 203.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

durch den Menschen, die Umwandlung des Planeten Erde in ein manövrierfähiges Raumschiff bis hin zur medizinisch-technisch bewerkstelligten Auferweckung aller Toten zwecks Überführung in eine »erneuerte« und nun unsterbliche Menschengemeinschaft.93 Ansätze einer Rezeption kosmistischer und über Lichtmetaphorik organisierter Inhalte lassen sich indes bereits in Micićs 1924 veröffentlichtem programmatischen Gedicht ›Barbarogenije‹ beobachten.94 Dort imaginiert der Erzähler die kosmischen Strahlen einer vom Planeten Mars angeführten Rebellion, sein Blick schweift sehnsüchtig zu neuen Planetensystemen und er beneidet die »ätherischen« und gewissermaßen »ent-erdeten« Körper fremder Weltenbewohner, die nicht – wie er selbst – zu einem Fortleben auf der Erde verdammt seien, sondern in den Weiten des Weltraumes ihre Erlösung und zugleich Bestimmung finden könnten.95 Messianische Implikationen treten an dieser Stelle in aller Deutlichkeit zutage: Der von Micić anhand kosmistisch geprägter Sinngehalte zum »Heilsbringer« stilisierte Barbarogenije dient einer messianischen Vision kultureller und künstlerischer Verwandlung und Vervollkommnung, die im Sinne einer avantgardistischen Notwendigkeit mit der vermeintlich von »Zwangsrationalismus«, »Dekadenz« und Vernunftsdenken gekennzeichneten »Leitkultur« Westeuropas brechen will, die mittels umfassender »Barbarisierung« und »Balkanisierung« durch den Zenitismus ihre »Erneuerung« finden soll. Auf diese messianische Dimension des zenitistischen Programms ist zuletzt von Esther Levinger hingewiesen worden, allerdings hauptsächlich hinsichtlich der Rezeption theosophischer sowie anthroposophischer Ideen.96 In Ergänzung der bereits angerissenen, kosmistisch gefärbten Lichtmetaphorik in Micićs Schriften ließe sich zudem auch auf sein ebenfalls 1924 veröffentlichtes Manifest ›Zenitosofija‹ verweisen, das ganz explizit das Sprachbild des Kristalls, vielmehr des Kristallinen, als Metapher für diese zenitistische Weltvision bemüht: In Analogie zu den naturgesetzmäßigen sieben Flächen eines Kristalls als vollkommene Idealform entwickelt Micić sieben künstlerische Aktionsfelder des

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Vgl. Boris Groys, »Unsterbliche Körper«. Vgl. Ebd. Ljubomir Micić, »Барбарогениje/Barbarogenije«, Zenit, Nr. 26-33 (Oktober 1924), o. S. [S. 4]. Für die englische Übersetzung des Texts vgl. Timothy Benson und Éva Forgács, Hg., Between Worlds. A Sourcebook of Central European Avant-Gardes, 1910-1930 (Cambridge, 2002). S. 511. Eine deutsche Übersetzung von Holger Siegel findet sich bei: Ljubomir Micić und Holger Siegel, »Barbarengenie«, in Das Lied öffnet die Berge. Eine Anthologie der serbischen Poesie des 20. Jahrhunderts, hg. von Manfred Jähnichen (Blieskastel/Novi Sad, 2004), S. 100-102. Vgl. Esther Levinger, »Ljubomir Micić and the Zenitist Utopia«, in Central European AvantGardes. Exchange and Transformation 1910-1930, hg. von Timothy Benson (Cambridge, MA, 2002), S. 260-278.

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Zenitismus – Poesie, Malerei, Skulptur, Musik, Tanz, Theater und Film –, die im Sinne kristalliner Symmetrien gedeutet werden.97 Vor diesem Hintergrund scheinen Billers Bezüge auf Kristall- und Lichtmetaphorik im Rahmen ihres 1926, anlässlich des fünfjährigen Zenit-Jubiläums entstandenen Pastells nicht mehr ganz zufällig, sondern vielmehr bezogen auf einen solchen, bisweilen kosmistisch geprägten Konsens im Programm dieser Kommunikationsgemeinschaft. Im Gegensatz zu der den Zenitismus symbolisch verkörpernden und mit messianischen Qualitäten ausgestatteten hyper-virilen Figur von Micićs Barbarogenije, werden bei Biller jedoch Kinderfiguren zu den Träger:innen dieser in der Semantik des Barbarischen zentrierten, zenitistischen Weltvision. Im Sinne einer alternativen Ikonografie des Barbarischen wird, so meine These, das hier stellvertretend den Zenit repräsentierende Biller’sche Kindliche als Verkörperung von nicht-männlicher Kreativität und Erneuerung eingesetzt. Auf welche Art und Weise solche Bedeutungsgehalte dies- und jenseits des Barbarischen an Billers Kinderfiguren entworfen und gewonnen werden können, wird das folgende Kapitel unter Zuhilfenahme der Ausführungen Walter Benjamins zum Konzept des Kinderspiels klären. Die Position Benjamins scheint dabei als Gedankenprisma für dieses Unterfangen insofern besonders geeignet, als Benjamin im Unterschied zu manchem Zeitgenossen98 ebenfalls die Etablierung eines positiven Verständnisses des Barbarischen forciert, ein Rousseau’sches Verständnis des Kindlichen ablehnt99 und in diesen beiden Punkten somit der zenitistischen Auffassung des Barbarischen eng verbunden ist. Die Etablierung eines positiven Begriffs des Barbarischen wird beispielsweise bereits in Benjamins Essay ›Erfahrung und Armut‹ ganz explizit formuliert: »Ja, gestehen wir es ein: Diese Erfahrungsarmut [durch die Verheerungen des Ersten Weltkriegs, Anm. MW] ist Armut nicht nur an privaten, sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt. Und damit eine Art von neuem Barbarentum./Barbarentum? In der Tat. Wir sagen es, um einen neuen, positiven Begriff des Barba97

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Ljubomir Micić, »Зенитософија/Zenitosofija«, Zenit, Nr. 26-33 (Oktober 1924), o. S. [S. 5-9]. Für die englische Übersetzung des Texts vgl. Benson und Forgács, Between Worlds. A Sourcebook of Central European Avant-Gardes 1910-1930. S. 516. Im Sinne eines prävalenten Diskursmusters wird das Barbarische ansonsten meist als vermeintliche Regression in Primitivität und Gewalt verstanden. Vgl. das SchlüsselbegriffKapitel zum Barbarischen hier Kapitel 2.2.2 sowie Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 393. So wird die deutschsprachige Reformpädagogik von Benjamin beispielsweise als eine Ansammlung »lammfromme[r] Pädagogen« mit »Rousseauschen Träumen« belächelt. Walter Benjamin, »Berichte«, in Gesammelte Schriften, Bd. IV/1 (Frankfurt a.M., 1972), S. 471-605. Hier S. 515. Auch Risto Ratković vertritt, wie die Analyse des Leitartikels ›Barbarstvo kao kultura‹ gezeigt hat, eine grundlegend antirousseau’sche Position. Vgl. das Kapitel 2.2.2.3 der vorliegenden Studie.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

rentums einzuführen. Denn wohin bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken. Unter den großen Schöpfern hat es immer die Unerbittlichen gegeben, die erst einmal reinen Tisch machten.«100 Auch bei Benjamin sind Kreativität und das Barbarische – im Sinne eines »unerbittlich« Schöpferischen – folglich ausnahmslos aufeinander bezogen, insofern Erfahrungsarmut gleichsam zur conditio sine qua non des Künstlerischen wird.101 Wie Nicola Gess in ihrer ausführlichen Studie herausgearbeitet hat, zeichnet eine solche Erfahrungsarmut nach Benjamin jedoch nicht nur die Figur des Barbaren, sondern eben auch die des Kindes aus: Das Kind erschafft im Modus des Spielens eine gänzlich »neue« Welt und deren Werke.102 Billers Kinderfiguren, in denen das Barbarische als Kreativinstanz ans Kindliche rückgebunden wird, ließen sich also, wie im Folgenden zu explizieren sein wird, geradezu benjaminisch ausdeuten.103 Ungeachtet der zenitistischen Engführung des Künstlerstatus‹ auf Hyper-Virilität durch die Ingeniösität, Schöpferpotenz und Männlichkeit verkörpernde Idealfigur des Barbarogenije werden somit über Billers alters- und bisweilen auch geschlechtslos erscheinende, jedoch mit nicht minder »barbarischen« Qualitäten ausgestattete Kinderfiguren Legitimations- und Identifikationsstrategien für

100 Walter Benjamin, »Erfahrung und Armut«, in Gesammelte Schriften, Bd. II (Frankfurt a.M., 1971), S. 213-219. Hier S. 215. 101 Es folgt im weiteren Verlauf des Texts die Aufzählung ausschließlich männlicher »Geniefiguren«, die Benjamin als Schöpfer versteht, die einem solchen positiven »Barbarentum« nahestünden: darunter Paul Klee, Adolf Loos und Le Corbusier. Vgl. Ebd. S. 216. 102 Vgl. Nicola Gess, »Das Kind als Barbar«, in Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin) (Paderborn, 2013), S. 370-376. 103 Benjamins Interesse an kindlicher Kreativität zeigt sich derweil auch an anderer Stelle, etwa in der weniger bekannten Schrift ›Programm eines proletarischen Kindertheaters‹, in der zu lesen ist: »Solch ein Kollektivum ist aber auch das Kind. […] Dieses Kollektivum strahlt nicht nur die gewaltigsten Kräfte aus, sondern die aktuellsten. Unerreicht ist in der Tat die Aktualität kindlichen Formens und Gebarens. (Wir verweisen auf die bekannten Ausstellungen der neuesten Kinderzeichnung.)« Und weiter: »Konrad Fiedler hat in seinen »Schriften über Kunst« als erster bewiesen, daß der Maler kein Mann ist, der naturalistischer, poetischer oder ekstatischer sieht als andere Leute. Vielmehr ein Mann, der mit der Hand da näher zusieht, wo das Auge erlahmt, der die aufnehmende Innervation der Sehmuskeln in die schöpferische Innervation der Hand überführt. Schöpferische Innervation in exaktem Zusammenhang mit der rezeptiven ist jede kindliche Geste.« Walter Benjamin, »Programm eines proletarischen Kindertheaters«, in Gesammelte Schriften, Bd. 2 (Frankfurt a.M., 1971), S. 763-769. Hier S. 766. Vgl. hierzu auch Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne. S. 408ff.

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Vjera Biller und das Kindliche

Künstlerinnenschaft104 bereitgestellt: Die Künstlerin wird selbst zum »barbarisches Genie«.

3.1.1

Biller als »barbarisches Genie«. Identifikations- und Legitimationsstrategien von Künstlerinnenschaft

Das zunächst von Micić entwickelte und propagierte, jedoch schnell im Gesamtkontext des Zenitismus programmatisch werdende Konzept des Barbarogenije – des barbarisch-virilen Genies als Idealfigur zenitistischen Kunstschaffens – ist innerhalb dieser Kommunikationsgemeinschaft als geschlechterlogisch organisierter Ausschlussmechanismus wirksam: Denn ungeachtet der in dieser konzeptuellen Verbindung des Ingeniösen mit einem positiv affirmierten Barbarischen anklingenden Kritik am westeuropäischen Schmähbegriff (Kapitel 2.2.2.1) kann dieses als genuin »balkanisch« apostrophierte Geniekonstrukt vornehmlich nur einem »männlichen« künstlerischen Selbstverständnis dienen. Mit der zenitistischen Beschwörungsformel des Barbarischen zum Zweck der Eigenpositionierung als Balkan-Avantgarde hat sich das westeuropäische, bisweilen antislawisch geprägte Stereotyp »martialischer Balkan-Männlichkeit« (Kapitel 2.2.1.1) ident ins positiv Identitätslogische verkehrt. In den bereits zitierten Schriften Micić aus dem Jahre 1924 – ›Barbarogenije‹ und ›Zenitosofija‹ – wird dieses Geniekonstrukt im Detail ausformuliert und expliziert. Im Anschluss an beide Veröffentlichungen bezieht sich der Zenit-Zirkel fast ausnahmslos auf dieses Konzept, darunter etwa die neben Micić federführenden Künstler und Autoren der Bewegung wie Branko Ve Poljanski, Jo Klek und Risto Ratković, dessen bereits analysierter Leitartikel von 1926 erneut grundlegende Begriffsarbeit für das zenitistische Verständnis des Barbarischen leistet und dabei ebenfalls explizit auf diese, bereits zwei Jahre zuvor von Micić entworfene Denkfigur rekurriert (Kapitel 2.2.2.2 und 2.2.2.3). Das 14 stichwortartige Unterkapitel umfassende ›Zenitosofija‹-Manifest Micićs widmet sich an siebenter Stelle ausführlich dem Barbarogenije: »гениje само открива – гробнице, проналази – мумиje, спознаје – наличje живота. барбарогениje тотализуje све снаге постоjaњa у jeдинствено било новога живота. барбарогениje ствара ново дело и буди колективни осећaj код

104 Auf die biologistisch-medizinische Dimension von Zuschreibungen an Künstlerinnenschaft als »bloße« Reproduktion ohne inhärent »ingeniöse« Qualitäten, die ideengeschichtlich bisweilen analog zur weiblichen Reproduktionsfähigkeit im Sinne der Fortpflanzung diskursiviert worden sind, haben sowohl Barbara Stafford als auch Ludmila Jordanova hingewiesen. Vgl. Barbara Stafford, Body Criticism. Imaging the Unseen in Enlightenment Art and Medicine (Cambridge, MA, 1993). Und Ludmilla Jordanova, Sexual Visions. Images of Gender in Science and Medicine between the Eighteenth and Twentieth Centuries (New York, 1989).

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

људи, коjи je исконски елементаран али убиjeн противчовечним културама и нечовечним религиjама.«105 [Hervorhebungen im Original, Anm. MW] »Das Genie entdeckt lediglich Gräber, es findet Mumien, es erkennt das Äußerliche des Lebens. Das Barbarengenie (aber) totalisiert alle Kräfte der Existenz zu einem einzigartigen Puls neuen Lebens. Das Barbarengenie schafft ein neues Werk und erweckt in den Menschen ein kollektives Gefühl, das ursprünglich elementar ist, jedoch stets abgetötet wird durch Kulturen, die gegen die Menschheit gerichtet sind, und inhumane Religionen.« (eigene Übersetzung) Während das »nicht-barbarische«, soll heißen: westeuropäische Genie lediglich in der Lage sei, tote Materie zum Kunstwerk zu transformieren, könne das Barbarengenie hingegen originäre Kunst schaffen, anstatt sich gewissermaßen mit der ästhetischen Umsetzung von scheintoten Oberflächen zu begnügen, so Micićs oppositionslogisch entworfene Konfrontation zweier Genie-Narrative. »Authentische« Neuschöpfung gelänge dabei ausschließlich dem Barbarogenije, dessen Kunstwerke wiederum in der Lage seien, bei den Rezipient:innen archaische Gefühlsregungen hervorzurufen, die anderweitig durch »gegenmenschliche Kultur«106 und »unmenschliche Religionen«107 unterdrückt würden. Einer derart affektiv, sensorisch sowie vitalistisch konzipierten Idee barbarischer Genialität spricht Micić in der Folge die zentrale Rolle hinsichtlich der durch die zenitistische Bewegung angestrebten »Erneuerung« von Kunst und Kultur zu. Einzig der »wahre«, männliche Zenitist wird dabei für diese Aufgabe qualifiziert: Zenitistischer Künstler und Barbarogenije fallen schließlich in eins. Auffällig ist überdies die reflexartige Betonung des Schöpferstatus‹ dieser ingeniösen Figur des Barbarengenies sowie dessen Bedeutung für den zenitistischen Kreativprozess, die Micić abermals über die essentialisierende Abgrenzung von der westeuropäischen, zumal akademisch geprägten, Ideengeschichte des Geniebegriffs her gewinnt. Als nahezu omnipotenter Schöpfer (sowohl Künstler-Gott als auch Gott-Künstler) reüssiert der Barbarogenije im Sinne einer Verkörperung hyper-virilen Kunstschaffens, der sich neben seiner kreativen Potenz auch durch einen Konnex zum Wahnhaften und Irrationalen auszeichne: »Тако после свега, наjзад je и зенитизам заиграо као луд и фантоман играч, на балканском горућем зраку гениjaлног ванума…. [Hervorhebung im Original, Anm. MW]«.108

105 Micić, »Зенитософија/Zenitosofija«. S. 7. Für die englische Übersetzung des Texts vgl. Benson und Forgács, Between Worlds. A Sourcebook of Central European Avant-Gardes 1910-1930. S. 514518. Hier S. 516. 106 Vgl. Ebd. S. 7. 107 Vgl. Ebd. 108 Ebd. S. 5: »So begann nach allem schließlich auch der Zenitismus wie ein verrückter Phantomtänzer zu tanzen, in der balkanischen brennenden Luft der genialen Leere.«

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Das Barbarengenie, und mit ihm stellvertretend die gesamte zenitistische Bewegung, habe begonnen, einem »verrückten Phantomtänzer« gleich, »in der balkanischen brennenden Luft der genialen Leere«109 zu tanzen. Hier wird das barbarische Genie folglich, zwischen Traumtänzer und »Wahnsinnigem« oszillierend, im Sinne einer anderen, über das leitkulturhafte westeuropäische Geniekonzept sowie der bisweilen mit ihm assoziierten Begrifflichkeiten des (Natur-)Talents und der sinngeleiteten Kunstfertigkeit hinausgehenden Produktivitätskompetenz etabliert. Diese kreist um die vom Zenitismus als selbsternannte Balkan-Avantgarde besetzten Schlagworte des »Ursprünglichen«, »Instinktiven« und »Irrationalen«. Die für das zenitistische Programm auch andernorts charakteristische Hinwendung zum metaphorischen Arsenal des Himmels – nicht zuletzt über den Konnex des namensgebenden (Sonnen-)Zenits – macht zugleich deutlich, dass dieser von Micić an dieser Stelle erneut als eine dezidiert ortsgebundene und spezifisch »balkanische« Primogenitur imaginiert wird: »in der balkanischen brennenden Luft der genialen Leere.«110 Im Barbarengenie scheint Micić folglich nicht nur den potenteren, wenn auch latent »wahnsinnigen« Bruder des westeuropäischen Genies gefunden zu haben, sondern etabliert diesen zugleich als Idealtypus für das Selbstverständnis der zenitistischen Avantgarde, die damit ein von topischen, »balkanisierten« Entwürfen der Ingeniösität sowie der Maskulinität geprägtes Feld bleibt.111 Der Konzeptualisierung und Etablierung des Barbarogenije innerhalb der zenitistischen Textproduktion ist damit sowohl das vermeintlich Ingeniöse, Irrationale und Wahnhafte als auch das »barbarisch« Männliche ausnahmslos miteingeschrieben. In Anbetracht dieser rhetorischen wie inhaltlichen Engführung des zenitistischen Nachdenkens über Kunst(-schaffen) in der programmatischen Figur des virilen Barbarogenije, soll an dieser Stelle die bereits umrissene These einer »Barbarisierung« des Kindlichen im Biller’schen Oeuvre weiterverfolgt und als Moment der Destabilisierung sowie der Desautomatisierung dieses geschlechterlogisch wirksam werdenden Exklusionsmechanismus analysiert werden. Ferner ließe sich eine solche »Barbarisierung« des Kindlichen, wie sie von mir in Anschlag gebracht wird, im Sinne einer Legitimations- und Identifikationsstrategie für »nicht-männliches« Kunstschaffen begreifen: Sie ermöglicht Biller jenseits der zenitistischen Virilitäts- und Ingeniösitätsrhetorik ein (zumindest: temporäres) Sichtbar-Werden als Zenitistin und trägt somit zu ihrer Visibilität und ihrem Erfolg im Zenit-Kreis bei. Welche Semantiken und Ikonografien können visuell für eine derartige »Barbarisierung« des Kindlichen zum Zwecke der Selbstpositionierung als zenitistische Künstlerin funktionalisiert werden? Und wie ließe sich ein solcher »Barbarisierungsprozess« anhand 109 Vgl. Ebd. 110 Vgl. Ebd. 111 Vgl. Ebd.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

der Biller’schen Auseinandersetzung mit dem Kindlichen nachzeichnen, der sich in ihren charakteristischen und leitmotivischen Kinderfiguren manifestiert? Wie wird Künstlerinnenschaft durch die »Barbarisierung« des Kindlichen legitimiert, und welche Identifikationspotenziale für »nicht-männliches« Kunstschaffen können infolgedessen bereitgestellt werden?

3.1.2

›Markt‹: Die Trauben des Zeuxis in Frauenhand

Für eine erste Annäherung an diesen Fragenkomplex scheint ein bestimmtes Blatt der Venedig-Serie von 1921-22 besonders geeignet: ›Markt‹ (Abb. 3). Der Schwarzlinienschnitt in Linoleum zeigt drei Bildfiguren: die erwachsene Frauenfigur, das alte »Großmütterchen« und eine Kinderfigur, die wiederum mittels des charakteristischen Bubikopfs gekennzeichnet ist. Die Szenerie wird dominiert durch einen massiven schwarzen Tisch, der Bildvorder- und Bildhintergrund voneinander trennt. Im Vordergrund angesiedelt sind derweil die schwarzhaarige Frauenfigur in Kostüm und Pumps sowie, unmittelbar vor ihr stehend, die kleine Mädchenfigur. Sie trägt ein nicht näher definiertes schwarzes und ärmelloses Kleidungsstück und wird gänzlich ohne Schuhwerk gezeigt. Etwas unterhalb des Handgelenks der Frauenfigur befindet sich deren Handtasche, aus der Traubenrispen hervorquellen. Der Handgestus dieser Figur ist leicht abgewinkelt und von sich weg gestreckt, während ihr Blick das vor ihr stehende kleine Mädchen fixiert. Diese Figur wiederum scheint soeben den durch die ausgestreckte Hand angedeuteten Gebegestus der Ersteren erwidert zu haben, hält sie doch in der rechten Hand eine jener Trauben, die sich in der durch einen weißen Quader angedeuteten Handtasche am Arm der Frauenfigur wiederfinden lassen. Der deutlich zu erkennende Zeigefinger der Mädchenfigur wird indes von der linken Hand aus an den Mund geführt und liegt an den geschürzten und im Druck eindeutig eingeschwärzten Kinderlippen. Im Mittelgrund des Bildaufbaus findet sich die Figur des »Großmütterchens« wieder, deren weiße Haare und faltiges Gesicht fortgeschrittenes Alter markieren und die hinter dem Verkaufstisch steht. In eine lange, schwarze Robe gehüllt, die keinerlei Rückschlüsse auf die darunterliegende Körperform mehr zulässt, hat sie eine ihrer Hände erhoben, während die andere hinter der Tischplatte verschwindet. Auf dieser Tischplatte sind drei bauchige Gefäße zu erkennen, die sich durch ihre weiße Farbe deutlich vom kontrastierenden Tiefschwarz des Plattenuntergrunds abheben. Im Gefäß am rechten Rand sind erneut jene Trauben zu sehen, die auch in der Handtasche der Frauenfigur sowie in der Hand des kleinen Mädchens wiederkehren. Das mittige Gefäß ist gefüllt mit schwerlich zu identifizierenden, im Vergleich zu den Trauben aber deutlich größer wirkenden Kugelformen, die entfernt an Obstsorten wie etwa Äpfel oder Pfirsiche erinnern. Das Gefäß ganz zur Linken wird teilweise sowohl durch den Oberkörper als auch durch den ausgestreckten Arm der Frauenfigur verdeckt. Gleichzeitig scheint an dieser Bildstelle auch eine

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Beschädigung der originären Druckplatte nicht ausgeschlossen, da der einzige erhaltene Originalabzug genau an dieser Stelle eine verminderte Farbdichte sowie Unregelmäßigkeiten in der Linienführung erkennen lässt, die sich sonst nirgends in Billers übrigen Arbeiten finden. Über den Inhalt des linken Gefäßes kann folglich nur gemutmaßt werden. Gerahmt und nach hinten hin abgeschlossen wird die gesamte Bildszene von einer Dreierreihe gleichförmiger Häuserfassaden, die in ihrer horizontalen Flucht das Bildfeld geradezu hermetisch zur Linken und zur Rechten einfassen. Diese Dreierreihe der Gebäude im Hintergrund wird von der Künstlerin durch die Dreieckskomposition der Figuren im Bildvordergrund gespiegelt und durch den streng von Diagonalen dominierten Bildaufbau zusätzlich verstärkt. Für die Komposition bestimmende Diagonalachsen lassen sich vom Kopf der Frauen- und der Mädchenfigur hin zum Tischbein und wiederum vom rechten Häuserdach beginnend über die Figur des »Großmütterchens« weiter zur Mädchenfigur bis hin zur dadurch betonten Handtasche verlängern. Eine derart von Diagonalen geprägte Komposition findet sich in Billers Oeuvre lediglich auf dem Blatt ›Osteria‹ (Abb. 4) wieder, das zu einem späteren Zeitpunkt eingehendere Besprechung finden wird. Bemerkenswert ist außerdem, dass ›Markt‹ als einzige Arbeit Billers ausschließlich und ausnahmslos »weiblich« markierte Bildfiguren darstellt. Dadurch eignet es sich folglich besonders, um der Frage nach möglichen Identifikations- und Legitimationsstrategien nicht-männlichen Kunstschaffens im Biller’schen Oeuvre nachzugehen. Die Frauenfigur ist mittels eines enganliegenden, taillierten Kostüms mit Rock und schwarzen Pumps sowie durch ihren auffälligen Ohrschmuck, die schwarzen und am Hinterkopf zusammengebundenen Haare sowie durch die Handtasche mit vergeschlechtlichenden Attributen der Femininität versehen. Auch die übrigen Figuren im Bild werden insofern visuell als »weiblich« konstituiert, als beispielsweise die Obstverkäuferin mit einem langen, schwarzen Kleid gezeigt wird, das in seiner hochgeschlossenen Passform und Ornamentlosigkeit durchaus in der Lage ist, Assoziationen von Matronenhaftigkeit zu vermitteln und, damit verbunden, das fortgeschrittene Alter der Dargestellten auf Kleiderebene erneut aufruft.112 Wie Simona Čupić herausgearbeitet hat, kann das Motiv der älteren Frau indes als eine Leerstelle innerhalb der Darstellungstradition von Weiblichkeit, insbesondere im Kontext der Kunstproduktion der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in der SHS, umrissen werden: »Another indicative phenomenon is the strategy of selective narrative connected to female spaces, where older women do not seem to exist. Among the rare paint-

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Vgl. Julia Freytag und Alexandra Tacke, Hg., City Girls. Bubiköpfe und Blaustrümpfe in den 1920er Jahren (Wien, 2011). S. 25.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

ings of old women are Mother (1906) by Nadežda Petrović […] [as well as] The Old Woman with the Dog (1925). As opposed to male maturity as an ideal of wisdom and experience, the life of the woman, after the ending of her reproductive cycle, seems of no significance. The idea of motherhood as the central experience of a woman’s life dates to the Madonna—the Mother of God (in Serbian).«113 Statt älterer Frauenfiguren stünden hier, so Čupić, vielmehr Darstellungen von idealisierter Mutterschaft oder als spezifisch »weiblich« konnotierter Arbeit im Vordergrund, die wiederum als Entwurfsfolio für Konzepte von Künstlerinnenschaft – etwa im Falle Nadežda Petrovićs – dienen würden.114 Entlang von dergestalt zur Anschauung gelangender Geschlechts- sowie unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit würden dabei so prävalente Motive wie das der bourgeoisen Frau sowie der Arbeiterin und/oder der Bäuerin gewonnen. Beispiele hierfür fänden sich etwa in Arbeiten wie ›Die Näherin‹ (1910) von Angela Mačković, in ›Milica und ihre Näharbeit‹ (1921) von Miloš Golubović, aber auch im ›Portrait der Ruža Branovački‹ (1924) von Anđelija Lazarević oder den etwas späteren und bereits von russischen Proletkult-Ikonografien inspirierten Arbeiten wie ›Die Spitzenmacherin‹ (1934) von Bosa Valić oder ›Mutter an der Nähmaschine‹ (1941) von Liza Križanić.115 Das idealisierte Motiv der Bäuerin prägt derweil Gemälde wie beispielsweise ›Die Hausfrau‹ (1920) von Beta Vukanović, ›Mädchen mit Lampe‹ (1923) von Natalija Cvetković und ›Interieur‹ (1929) von Marin Tartalja, die den Innenraum im Sinne des Häuslichen und Privaten als dezidiert »weibliche« Sphäre visualisieren.116 Die Frauenfigur fortgeschrittenen Alters auf Billers Blatt hingegen ist, wie die übrigen Bildfiguren auch, dem mit Öffentlichkeit assoziierten Stadtraum zugeordnet und scheint in Abgrenzung zu der soeben mit Čupić skizzierten Darstellungstradition stattdessen vielmehr als innerbildliche Kontrastfigur zu fungieren: Gemeinsam mit der Frauenfigur wird die alte Obstverkäuferin zum Gegensatzpaar, in dem »Weiblichkeit« als Attraktivität und Femininität mit Greisenhaftigkeit und dem Großmütterlichen konfrontiert scheint. Die diesem Gegensatzpaar am Obststand zugeordnete dritte Figur eines kleinen Mädchens würde folglich als Visualisierung von noch nicht »zur Reife gelangter Weiblichkeit« lesbar und somit zum

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Simona Čupić, »Spaces of Femininity, Gender, and Ideological Boundaries. Serbian Painting 1900-41«, Serbian Studies. Journal of the North American Society for Serbian Studies, Nr. 25/1 (2011), S. 81-100. Hier S. 92. Zu kritisieren bliebe hier Čupićs einseitige Betonung von Mutterschaftsidealen im Zusammenhang mit einer ausschließlich christlich konnotierten Darstellungstradition, die die kulturelle Multi-Konfessionalität des Ersten Jugoslawischen Königreichs (Christentum, Islam, Judentum) an dieser Stelle unbeleuchtet lässt. Vgl. Ebd. S. 82. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. S. 90-91.

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Ausgangspunkt einer geradezu emblematisch wirkenden Figuration dreier Lebensalter mit fast schon allegorisch wirkenden Zügen. Wie bereits durch den Titel angedeutet wird, handelt es sich bei ›Markt‹ um eine Straßenszene, die jedoch entgegen der Erwartung auf die Wiedergabe eines einzigen Markstandes, an dem Früchte feilgeboten werden, reduziert ist. Trotz der im Titel evozierten Darstellung von buntem Markttreiben und Trubel wird seitens der Künstlerin auf ein eben solches Moment konsequent verzichtet. Insofern scheint die Wahl des gleichnamigen deutschen Nottitels nur bedingt gelungen.117 Während die Frauenfigur mittels der Handtasche in ihrer Tätigkeit als Einkaufende gekennzeichnet ist, wird ihrem Gegenüber, dem hinter dem Marktstand positionierten »Großmütterchen«, die Rolle der Verkaufenden zugewiesen. Zwischen diesen beiden Erwachsenenfiguren scheint die kleine Mädchenfigur zu vermitteln, die gleichsam kompositorisch zwischengeschaltet und in der Mitte der Bildszene angeordnet ist. Eine der Traubenrispen hat das Kind scheinbar soeben erhalten, und zwar seitens der Frauenfigur, deren ausgestreckte Hand folglich als Gestus des Gebens ausgedeutet werden könnte. Die kommunikative Handgeste der alten Obstverkäuferin wirkt hingegen deutlich ambivalenter, könnte durch dieses Angehoben-Sein doch einerseits eine bittstellende Erwartungshaltung (möglicherweise von noch ausstehender Bezahlung für den Verkauf?), ein Gestus der Warnung (vor übermäßigem Genuss der Früchte?) oder aber andererseits ein Gestus des anerkennenden Wohlwollens (der Weitergabe der Trauben durch die Frauenfigur zur Mädchenfigur?) angezeigt sein. Einem ähnlichen Bildaufbau und einer vergleichbaren Logik der Bilderzählung folgt auch Billers auf 1921-22 datierte Arbeit ›Alte Kastanienverkäuferin‹ (Abb. 6). Dort wird ein binär vergeschlechtlichtes Kinderpaar (Mädchen und Junge) gezeigt, das, innerhalb dieser als großstädtisch (schematisierte Hochhäuser im Hintergrund) und nächtlich (Mondsichel und Sterne am Himmel) gerahmten Szene, eine Tüte voller Kastanien an einem Straßenstand ersteht. Billers Figur der alten Kastanienverkäuferin wirkt indes fast deckungsgleich mit der Gestalt der alten Obsthändlerin.118

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Da die originären Titel seitens der Künstlerin nicht (mehr) bekannt sind und da die sehr wahrscheinliche Vernichtung persönlicher Dokumente und Aufzeichnungen im Zuge von Billers Klinikaufenthalten sowie ihrer Ermordung in Hartheim das Erstellen eines lückenlosen Werkverzeichnisses verunmöglicht, folge ich der Titelwahl in deutscher Sprache aus dem Frankfurter Schirn-Ausstellungskatalog, aufgrund der dadurch gewährleisteten allgemeinen Referenz- und Einordnungsmöglichkeiten, vgl. Max Hollein und Ingrid Pfeiffer, Hg., Sturmfrauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin. Ausst.Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt a.M. (Frankfurt a.M., 2015). S. 24-31. Da diese Arbeit Billers, heute in der Ungarischen Nationalgalerie in Budapest, im Gegensatz zu den aus Micićs Nachlass in Belgrad stammenden Arbeiten (Abb. 1-5 sowie 7 und 8) nicht im Original von mir in Augenschein genommen werden konnte, klammert meine Bildanalyse ›Alte Kastanienverkäuferin‹ größtenteils aus.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

An dieser Stelle wird die dritte dieser soeben skizzierten Lesarten weiterverfolgt werden, die – informiert durch die auffällige innerbildliche Betonung einer ganz bestimmten Frucht: der Trauben – diese Frucht ikonografisch als einen Verweis auf jene »Trauben des Zeuxis« ausdeuten möchte, die geradezu topischen Status innerhalb der (westeuropäischen) Kunst- und Ideengeschichte erlangt haben.119 Bezugnehmend auf die singuläre Darstellung ausschließlich »weiblicher« Bildfiguren im Aufrufen dieses um Fragen der Künstler:innenschaft kreisenden Topos und dessen programmatischer Traubensymbolik, wird Billers ›Markt‹ folglich nach eben solchen Identifikations- und Legitimationsstrategien für »nicht-männliches« Kunstschaffen befragt. Zur Erinnerung soll allerdings zunächst die Synopsis der antiken Anekdote in aller Kürze wiedergegeben werden, die den ideengeschichtlichen Rekurs auf die »Trauben des Zeuxis« begründet: der Wettstreit der beiden Künstler Zeuxis und Parrhasios um die Frage, wer von beiden den höchsten Rang als Maler innehabe. Den plini’schen Schriften zufolge beginnt die Erzählung mit eben diesem Disput, dem die Etablierung und Idealisierung der Mimesis – die möglichst realitätsnahe und abbildhafte Nachahmung der Natur – als normatives Element der antiken Ästhetik miteingeschrieben ist.120 Im Wettstreit wählt der »Meistermaler« Zeuxis zum Zweck der Unterbeweisstellung der eigenen Kunstkompetenz das Motiv der Trauben, die von ihm so wirklichkeitsgetreu auf dem Trägermaterial der Leinwand abgebildet werden, dass Vögel dagegen fliegen in dem Glauben, an der gemalten Traubenrispe picken zu können. Daraufhin wähnt sich Zeuxis bereits als Sieger des Wettstreits. Der Konkurrent Parrhasios allerdings präsentiert im Anschluss das eigene, scheinbar hinter einem Vorhang verborgene Kunstwerk. In dem Moment aber, in dem Zeuxis versucht, diesen Vorhang wegzuziehen, um das vermeintlich darunter befindliche Gemälde zu betrachten, greift der Künstler ins Leere. Denn das Tuch selbst ist gemalt. Zeuxis wird von der Malkunst des Konkurrenten ebenso getäuscht wie zuvor die Vögel von den gemalten Trauben, und der Ausgang des Wettstreits ist damit besiegelt: Parrhasios geht als Sieger hervor.121 Vor diesem Hintergrund würden die von Biller so prominent ins Bild gesetzten Trauben folglich als eine ikonografische Referenz auf die dem antiken KünstlerWettstreit implizite Konkurrenzdynamik intelligibel. Unter Berufung auf das seit der Antike Tradierte wird dabei eine Schlüsselszene westeuropäischer Ästhetik und Kunstgeschichte referenziert. Gleichzeitig jedoch macht Biller, entgegen der plini’schen Vorbilder, die Erlangung des Künstlerstatus‹ zur »Frauensache«. Keiner

Vgl. Hans Körner und Constanze Peres, Hg., Die Trauben des Zeuxis. Formen künstlerischer Wirklichkeitsaneignung (Hildesheim, 1990). S. 38-41. 120 Vgl. Ebd. S. 13. 121 Vgl. Ebd.

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der antiken Protagonisten – weder Zeuxis noch Parrhasios – steht hier im Vordergrund, sondern ausschließlich »weibliche« Bildfiguren: die Frauenfigur, das »Großmütterchen« sowie die kleine Mädchenfigur. Bildbestimmend und stellvertretend im Motiv der Trauben zur Anschauung gebracht scheint damit die kontinuierliche Weitergabe einer Idee von Künstlerinnenschaft und deren Kreativitätspotenzial entlang einer als dezidiert weiblich imaginierten Geschlechts- und Generationslinie. Der durch die Handgesten der gezeigten Figuren indizierte Transfer der Traubenrispe vom »Großmütterchen« über die Frauenfigur hin zum Kind wäre folglich durchaus als eine Genealogie »weiblicher Meisterinnenschaft« zu deuten, die gleichsam auf deren Kontinuität (sowohl im Sinne einer Zeitlichkeit als auch im Sinne eines Geschlechtsspezifikums sowie im Sinne eines spezifischen Kunstkönnens) hin entworfen ist. Dass solche, allegorisch anmutenden Annäherungen an Ideen dezidiert »weiblichen« Kunstkönnens unter Zuhilfenahme eben dieses Trauben-Motivs bereits seit Mitte der 1890er Jahre medial wirksam kursierten, ist indes von Sally Webster am Beispiel Mary Cassatts herausgearbeitet worden.122 Cassatts großformatiges Wandgemälde mit dem programmatischen Titel ›Modern Woman‹, das als Herzstück des Woman’s Building der 1893 in Chicago veranstalteten World’s Columbian Exposition in Auftrag gegeben worden war, zeigt auf dem zentralen und mittig angeordneten Panel eine Gruppe Frauen unterschiedlichen Alters, die in einem Obstgarten Früchte – in diesem Fall Äpfel – pflücken (Abb. 27):123 »Cassatt’s mural is […] divided into three sections, each with a separate title. The central and largest panel is called Young Women Plucking the Fruits of Knowledge or Science; the left-hand panel is titled Young Girls Pursuing Fame, the right, Arts, Music, and Dancing. In the mural’s central section, women in loose-fitting modern dress are shown picking apples in an orchard, an allusion to the Garden of Eden.«124 [Hervorhebungen im Original, Anm. MW] Zum Zwecke der eigenen Selbstpositionierung als »moderne«, selbstbewusste, emanzipierte Frau und Künstlerin125 setze Cassatt, so Websters Lesart, eine alterVgl. Sally Webster, Eve’s Daughter/Modern Woman. A Mural by Mary Cassatt (Chicago, 2004). Cassatts Wandgemälde ist im Original nicht mehr erhalten, es existieren jedoch fotografische Reproduktionen sowie Bildbeschreibungen, so etwa in Maude Howe Elliotts ›Art and Handicraft in the Woman’s Building‹ sowie in Bancrofts Ausstellungsbegleiter ›Book of the Fair‹, beide aus dem Jahr der World’s Columbian Exposition 1893. Sally Webster hat indes auf Divergenzen, insbesondere aber auf die unterschiedliche Wiedergabe des Bildrahmens, in diesen beiden Zeitzeugnissen aufmerksam gemacht. Vgl. Ebd. S. 7f. 124 Ebd. S. 7-10. 125 »Cassatt was an emancipated woman, with all the bluestocking overtones this epithet implies.« Ebd. S. 13. Zu diesem Thema vgl. ebenfalls John Hutton, »Picking Fruit. Mary Cassatt’s ›Modern Woman‹ and the Woman’s Building of 1893«, Feminist Studies, Nr. 20/2 (1994), S. 318-

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native Deutung der christlichen Erzählung des Sündenfalls ins Bild: »For Cassatt the attainment of knowledge [through Eve, meaning: Woman, Anm. MW] is not a sin but an essential step […] toward equality.«126 Jenseits dieser Umdeutung der Genesis-Legende, die Eva als Identifikationsfigur für die US-amerikanischen Frauenrechtsbewegungen etabliert,127 scheint zudem ein zweiter Aspekt der Darstellung in Hinblick auf die allegorische Auseinandersetzung mit dem eigenen Status als Künstlerin von Bedeutung,128 den Webster an späterer Stelle

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348. Sowie Linda Nochlin, »Issues of Gender in Cassatt and Eakins«, in Nineteenth Century Art. A Critical History, hg. von Stephen Eisenman (London, 1994), S. 255-273. Webster, Eve’s Daughter/Modern Woman. A Mural by Mary Cassatt. S. 10. Vgl. Donna Behnke, Religious Issues in Nineteenth-Century Feminism (Troy, NY, 1982). Sowie Mary D. Pellauer, Toward a Tradition of Feminist Theology. The Religious Social Thought of Elizabeth Cady Stanton, Susan B. Anthony, and Anna Howard Shaw (Brooklyn, NY, 1991). »[…] the mural remains a powerful allegory of the radical transformation that took place in women’s lives during the nineteenth century. It also attests to and symbolizes Cassatt’s experience as a successful woman artist and is her most important work.« Webster, Eve’s Daughter/Modern Woman. A Mural by Mary Cassatt. S. 7. Während die Betonung des Wandgemäldes für Cassatts persönliches Künstlerinnenselbstverständnis auch durch autobiografische Aufzeichnungen ihrerseits belegt ist und an dieser Stelle nochmals unterstrichen werden muss, so bleibt Websters sich an vielen Stellen unreflektiert positivistisch und affirmativ gerierende Auseinandersetzung mit dem Woman’s Building der World’s Columbian Exposition als vermeintliches Schlüsselmoment der Frauenemanzipation (vgl. hierzu exemplarisch: »It [the Woman’s Building, Anm. MW] also celebrated the moment when women fully emerged as a force for civic betterment.« Webster, S. 12) aus einem post-kolonialen sowie queer-feministischen Blickwinkel aus zu kritisieren. Die World’s Columbian Exposition, anlässlich des 400-jährigen Jubiläums der Entdeckung der »Neuen Welt« durch Christopher Columbus, ist zurecht von Autor:innen wie Heike Bauer als ein »spectacular display of colonial power« beschrieben worden, das von vielfältigen Rassismen durchzogen war, die in der zeitgenössischen Debatte von Aktivist:innen wie Frederick Douglass oder Ida B. Wells zur Sprache gebracht wurden und den auf rassistischen Trennungslinien basierenden Kontrast zwischen der »white city« – dem von in klassizistischem Weiß gehaltenen Gebäuden wie dem Woman’s Building geprägten Ausstellungsgelände – einerseits und dem »black village« andererseits anprangerten: einem zur Schau gestellten westafrikanischen Dorf samt Bewohner:innen, deren nicht-Weiße Körperlichkeit zur Perpetuierung kolonialer Stereotype »des Primitiven« seitens der Weißen Ausstellungsbesucher:innen instrumentalisiert wurden. Zudem korrespondierte, wie Bauers Analyse überdies gezeigt hat, diese »white-city« mit einer umfassenden »white-policy« insofern nicht-Weißen Menschen systematisch der Zugang zum Ausstellungskomitee und zu den Ausstellungsräumen und somit zur Sichtbarkeit jenseits kolonialistischer Klischees des Primitiven verwehrt blieb. Vgl. Bauer, The Hirschfeld Archives. Violence, Death and Modern Queer Culture. S. 19-20. Websters Fortschrittsgeschichte der USamerikanischen Frauenemanzipation im 19. Jahrhundert – die de facto vor allen Dingen großbürgerliche, Weiße und christlich sozialisierte Frauen (wie Mary Cassatt) repräsentierte – wäre folglich vor diesem intersektionalen Hintergrund nach den ihr eigenen Blindstellen zu befragen.

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aufgreift und der um das motivbestimmende Konzept von transgenerationalem Wissenstransfer kreist: »The central group, in which a young woman hands down an apple to a girl, announces the panel’s theme: the transference of knowledge from one generation to the next. Their actions are amplified by a third female who supports the ladder while plucking fruit from low branches. […] An older woman, she holds a basket and pensively looks off to her left, creating a visual bridge between the central group and another […]. Without Adam and the serpent, however, here is not the traditional rendering but shows a domesticated Eden in which Eve and her female companions pluck the fruits of knowledge and science for their own benefit and advancement. This reconfiguration of the Temptation story is the most radical aspect of Cassatt’s narrative since it advances a reinterpretation of Eve’s transgressions as a precursor to women’s emancipation.«129 Unter Verzicht auf die Wiedergabe nicht-weiblicher Bildakteure werde, wie auf Billers Blatt ›Markt‹, die Idee eines generationenübergreifenden Wissens- und Kompetenztransfers »von Frau zu Frau« allegorisch wirksam und gleichsam zum bildhaften Ausweis des eigenen Selbstverständnisses als Künstlerin. Das Motiv des Äpfel-Pflückens in Cassatts Zentralpanel, das sich in abgewandelter Form auch in dem im gleichen Jahr 1893 entstandenen Ölgemälde ›Child Picking a Fruit‹ ›130 (Abb. 28) sowie in der bereits 1891 entstandenen Arbeit ›Young Women Picking Fruit‹ wiederfindet (Abb. 29),131 unter Berücksichtigung der US-amerikanisch/protestantischen Sozialisation der Künstlerin an den Topos des Sündenfalls in christlicher Perspektive rückzubinden liegt nahe, und doch scheint Cassatts Interesse an diesem Motiv weit über den Erzählstoff der tradierten Vorlage hinauszugehen. Denn die Weitergabe von Früchten von einer Frauenfigur zur nächsten ist im Cassatt’schen Oeuvre keineswegs auf den in der christlich-protestantischen Symbolik besonders aufgeladenen und mit dem Sündenfall assoziierten Apfel beschränkt: Eine ebenfalls auf 1893 datierte Kaltnadel-Radierung und Aquatinta mit dem Titel ›Gathering Fruit«132 zeigt vielmehr eine Frauentrias, die der Altersverteilung der Biller’schen Figuren nicht ganz unähnlich ist und in deren Bildmitte eine eindeutig

129 Webster, Eve’s Daughter/Modern Woman. A Mural by Mary Cassatt. S. 73-74. 130 Mary Cassatt: ›Child Picking a Fruit‹ (1893), Öl auf Leinwand, 100,3 x 65,4 cm, Virginia Museum of Fine Arts, Richmond, Sig. 75.18. 131 Mary Cassatt: ›Young Women Picking Fruit‹ (1891), Öl auf Leinwand, 130,8 x 90,2 cm, Carnegie Museum of Art, Pittsburgh, Sig. 22.8. 132 Mary Cassatt: ›Gathering Fruit‹ (1893), Kaltnadel-Radierung und Aquatinta, fünfter Abzug, Metropolitan Museum of Art, New York, Sig. 18.33.4.

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zu erkennende Rispe Trauben den allegorisch auszudeutenden transgenerationalen Wissens- und Kompetenztransfer versinnbildlicht (Abb. 30).133 In konsequenter Weiterführung dieses Interpretationsstrangs würde somit auch Billers Kleinmädchenfigur, die die Trauben am Ende dieses Transfers erhält und sich diese im bildhaft angedeuteten Moment des unmittelbar bevorstehenden Verzehrs sogar physisch einverleibt, gleichsam als Legitimations- und Identifikationsfigur eines spezifisch »weiblichen« Kunstkönnen intelligibel. Zeuxis‹ Trauben als Symbole kreativer und künstlerischer Kompetenz wären damit nicht nur sinnbildlich den Männerhänden entrissen, sie befänden sich nun in Frauen-, oder vielmehr noch: in Kleinmädchenhand. Der Verbleib dieser symbolträchtigen und mit Implikationen des Kunstkönnens verquickten Frucht in der Hand der Kleinmädchenfigur scheint somit geradezu programmatischen Charakter anzunehmen. Das zenitistische und von Maskulinisierungstendenzen durchwirkte Engführen des Künstlerstatus‹ auf den Idealtypus eines hyper-virilen »Balkanbarbaren«134 wäre somit an dieser Stelle von Biller mit einem gegenläufigen und um Selbstlegitimierung bemühten Entwurf von Künstlerinnenschaft im figürlichen Kondensat des Kindlichen konfrontiert. Dies gelingt der Künstlerin, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, mittels einer Affirmation von Kreativkraft und Kunstkönnen als Dimensionen des Barbarischen im Kind. Unter Zuhilfenahme des Benjaminischen Verständnisses des Kinderspiels lässt sich ein solches emanzipatives Verständnis des Kindlichen entlang der Denkachsen der bereits im Zeuxis-Topos wirksam werdenden Auseinandersetzung mit Mimesis (hier: die kreative Nachahmungsfähigkeit des Kindes) einerseits sowie der Destruktion (hier: die kreative Zerstörungslust des Kindes) andererseits verfolgen. Beide sind als entgegengesetzte und dennoch stets aufeinander bezogene Pole des Kinderspiels in Benjamins »barbarischdespotischem« Kreativitätsverständnis des Kindlichen unmittelbar verknüpft. Eine solche »Barbarisierung« des Kindlichen in Billers Leitmotiv, die anhand von Benjamins Denken nachvollzogen werden kann, wird Hauptgegenstand der nun folgenden Ausführungen sein.

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Damit widerspreche ich Websters Interpretation, die die Wahl der Traubenrispe an dieser Stelle erneut im Rahmen christlicher Ikonografien ausdeutet und als Symbol der Eucharistie verstanden wissen will. Vgl. Webster, Eve’s Daughter/Modern Woman. A Mural by Mary Cassatt. S. 125. Mit Klaus Theweleit ließe sich die zenitistische Überbetonung des Männlichen als kompensatorischer Reflex angesichts der ›Gefährdung‹ durch das Irrationale und damit Weibliche, Effeminierte (auch: das Nicht-Heterosexuelle) in der eigenen künstlerischen Selbstverortung lesen. Vgl. hierzu Klaus Theweleit, Männerphantasien. Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Bd. 1, erweiterte Neuauflage (Frankfurt a.M., 2000).

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3.1.3

Das Kinderspiel. »Barbarische« Kreativität zwischen Mimesis und Destruktion

Nach Benjamin ist das Kinderspiel geprägt von den beiden aufeinander bezogenen Polen der Mimesis und der Destruktion, die als dessen grundlegende Gesetze gelten können. Beide Pole sind dabei durch den für das Kinderspiel überdies charakteristischen »Noch mal!«-Modus der stetigen Wiederholung des Gleichen, die für Benjamin das archaischste aller Prinzipien verkörpert, aufeinander bezogen und erfahren dadurch – so Nicola Gess – eine geradezu dialektische Wendung.135 Billers schematisierte und auf dem Prinzip der Wiederholung basierende Darstellungspraxis – etwa hinsichtlich des Hintergrundaufbaus durch Abfolgen immer gleicher Häuserreihen sowie den in Wiederholung auftretenden und überaus typisiert erscheinenden Kinderfiguren – wirkt unter diesen Gesichtspunkten geradezu »benjaminisch«, indem sie das Prinzip der Wiederholung als primäres Gestaltungsmittel nutzt. Der archaistische Impetus der Biller’schen Darstellungen ist damit sowohl auf Motivebene (in den Kindergestalten) als auch auf Kompositionsebene (in der ständigen Wiederholung des Immer-Gleichen) sowie auf Technikebene (im »primitiven Medium« des Linoleumschnitts) ganz unmittelbar aufs Kindliche bezogen. In Benjamins Essay ›Lehre vom Ähnlichen‹, der in einer zweiten Fassung auch unter dem Titel ›Über das mimetische Vermögen‹ erschienen ist, wird der Zusammenhang zwischen Kinderspiel und der Mimesis indes wie folgt expliziert: »Zunächst einmal sind Kinderspiele überall durchzogen von mimetischen Verhaltensweisen, und ihr Bereich ist keineswegs auf das beschränkt, was wohl ein Mensch vom andern nachmacht. Das Kind spielt nicht nur Kaufmann oder Lehrer, sondern auch Windmühle und Eisenbahn.«136 Die Nachahmung, ob nun menschlich oder dinghaft, wird folglich als strukturierendes Merkmal des Kinderspiels identifiziert und in der zweiten Fassung des Essays überdies historisiert, wenn Benjamin festhält: »Dabei ist zu bedenken, daß weder die mimetischen Kräfte, noch die mimetischen Objekte, oder Gegenstände, im Laufe der Jahrtausende die gleichen blieben. Vielmehr ist anzunehmen, daß die Gabe, Ähnlichkeiten hervorzubringen – zum Beispiel in den Tänzen, deren älteste Funktion das ist – und daher auch die Gabe, solche zu erkennen, sich im Wandel der Geschichte verändert hat. Die Richtung dieser Änderung scheint durch die wachsende Hinfälligkeit des mimetischen Vermögens bestimmt zu sein. Denn offenbar enthält die Merkwelt

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Vgl. Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 384ff. Walter Benjamin, »Lehre vom Ähnlichen«, in Gesammelte Schriften, Bd. II (Frankfurt a.M., 1971), S. 204-210. Hier S. 205.

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des modernen Menschen von jenen magischen Korrespondenzen und Analogien, welche den alten Völkern geläufig waren, nur noch geringe Rückstände.«137 Mit archaisierendem Impetus wird das mimetische Vermögen hier also als ein Primitivismus im benjaminischen Konzept des Kinderspiels verankert, der – wie Gess betont – auf einem Substantialisierungsmoment beruht: Im magischen Denken glaubt Benjamin die Grundlage dieser Kraft zur Nachahmung erkannt zu haben, die sowohl die kindliche als auch die als archaisch apostrophierte Weltwahrnehmung (»der alten Völker«) prägt und die, gewissermaßen »von sich aus«, in den Dingen wirksam werden kann.138 Benjamins Beschäftigung mit dem Primitiven ließe sich ferner, so Gershom Scholem in seinen Aufzeichnungen,139 bereits bis 1916 zurückverfolgen und setze sich vor allem mit den zu Beginn des 20. Jahrhunderts als avanciert geltenden prä-animistischen Theorien auseinander.140 Diesen zufolge seien die Anfänge menschlicher Religionen nicht auf einen unterdefinierten »Seelenglauben«, wie ihn einige zeitgenössische Autoren wie Tylor, Wundt oder Marett propagierten, zurückzuführen, sondern lägen vielmehr im Glauben an eine unbestimmte, aber allgegenwärtige magische Kraft begründet.141 Daraus entwickelt wird eine Unterscheidung zwischen dem sog. prä-animistischen Zeitalter des Magischen, das sich durch den Glauben an eine allgemeine Zauberkraft auszeichne, und dem Zeitalter des Mythos, das wiederum durch Götterglauben bestimmt sei.142 In Anlehnung an solche prä-animistischen Theorien ist auch Benjamins Konzept des Kinderspiels durch eine allgegenwärtige und als mimetisch zu denkende Kraft geprägt.143 Mimesis wird dabei allerdings nicht nur als die Etablierung einer phänomenologischen Relation zu Anähnelungszwecken verstanden, sondern sie wird – wie das obenstehende Zitat aus ›Über das mimetische Vermögen‹ verdeutlicht hat – substantialisiert, insofern die mimetische Kraft bei Benjamin eine eigene Substanz besitzt, die in den Dingen wirkt und als solche Ähnlichkeiten hervorrufen kann.144 Mit dieser Substantialisierung der mimetischen Kraft übernimmt die benjamini-

Walter Benjamin, »Über das mimetische Vermögen«, in Gesammelte Schriften, Bd. II (Frankfurt a.M., 1971), S. 210-213. Hier S. 211. 138 Vgl. Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 377. 139 Vgl. Gershom Scholem, Walter Benjamin. Die Geschichte einer Freundschaft (Frankfurt a.M., 1975). S. 44-45. 140 Vgl. Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 377. 141 Vgl. Ebd. 142 Vgl. Walter Benjamin, »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert«, in Gesammelte Schriften, Bd. IV/1 (Frankfurt a.M., 1973), S. 235-302. 143 Vgl. Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 373. 144 Vgl. Ebd. S. 374.

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sche Argumentation, wie Gess konstatiert, bisweilen selbst Grundzüge magischanimistischen Denkens.145 Dass die dergestalt entworfene Allgegenwart des im magischen Denken begründeten Vermögens zur Mimesis als Primitivismus-Topos primär anhand des Kinderspiels verhandelt wird, zeigt indes ein Blick in Benjamins wohl bekannteste Schrift zum Thema: die ›Berliner Kindheit um Neunzehnhundert‹.146 Die Bezüge, die hier zwischen magischem Denken, Kinderspiel und »dem Primitiven« hergestellt werden, sind zahlreich. So macht Benjamins Text beispielsweise wiederholt motivischen Gebrauch von Maskenspielen, von »heiligen« Tieren, die entfernt an indigene Totems erinnern, sowie von Dämonen, Geistern und anderen gespensterhaften Gestalten, die die kindlichen Erinnerungsfragmente prägen. Die Berliner Wohnung verwandelt sich so spielerisch in einen Urwald, in dem es für Kinderaugen verborgene Tempel und Geheimnisse zu entdecken gibt und denen sich das Kind spielend anverwandelt.147 Diese Auszüge und Textstellen sind nur einige von vielen, in denen Benjamin direkte inhaltliche Verbindungslinien zwischen Kinderspiel, mimetischem Vermögen und »dem Primitiven« zieht:148 Mimesis als Charakteristikum kindlichen Spielens ist folglich in der benjaminischen Perspektive unmittelbar mit »dem Primitiven« assoziiert. Die Destruktion, als zweites Merkmal des Kinderspiels, wird von Benjamin hingegen explizit anhand des Begriffs des Barbarischen verhandelt. Im Nachdenken über »das Wesen« der Kreativität, und unter Berufung auf die bereits im Essay zu Karl Kraus entwickelten Sprachbilder des Unmenschen sowie des Menschenfressers,149 etabliert Benjamin das Kinderspiel als höchste Ausdrucksform von kindlichem Despotismus und Zerstörungslust im Zeichen des Barbarischen. Diese Zerstörungslust und eine darin begründete Amoral des Kinderspiels – oder vielmehr: dessen Jenseitigkeit von aller Moral – äußern sich, so Benjamin, vor allen Dingen in der kindlichen Begeisterung, mit der spielerisch Morde begangen, Brände gelegt,

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Vgl. Ebd. S. 378. Vgl. Benjamin, »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert«. S. 238ff. Vgl. Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 381. Für weitere Textpassagen beispielsweise aus Benjamins Essay ›Kolonialpädagogik‹ u.a. vgl. ausführlich Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 376, Fußnote 78. 149 Im Essay über Karl Kraus wird der Unmensch von Benjamin als ein »Geschöpf aus Kind und Menschenfresser« (Walter Benjamin, »Karl Kraus«, in Gesammelte Schriften, Bd. II (Frankfurt a.M., 1971), S. 334-367. Hier S. 367.) beschrieben. Dabei steht das Kindliche in Benjamins Lektüre von Kraus für eine Idee von ursprünglicher Reinheit, der Menschenfresser hingegen für die umfassende Zerstörung der mythischen Ordnung, auf die – nach Benjamin – die Moderne zurückgehe. Im in der Auseinandersetzung mit Kraus entwickelten Sprachbild des Unmenschen kommen beide – Kind und Menschenfresser – zusammen. Vgl. hierzu auch Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 371f.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

Bomben gebaut und Diebstähle geplant werden. Die darin sich abzeichnende Offenlegung der umfassenden Brüchigkeit gesellschaftlicher Moralvorstellungen ist Benjamin, laut Nicola Gess, dabei allerdings weniger ein Anliegen als beispielsweise den satirisch-sozialkritischen Zeitgenossen wie Ringelnatz oder Friedländer.150 Vielmehr entwirft Benjamin das »barbarische Kind« im Sinne eines kindlichen Souveräns,151 das das eigene Spielen mit uneingeschränkter Herrschaft lenkt und leitet. In der ›Berliner Kindheit um Neunzehnhundert‹ geschieht dies am Beispiel des »magisch« verwandelten Fingerspiels, das das Kind machtvoll überwacht152 und in ›Das Karussell‹ »thront« das Kind gar als »Herrscher über einer Welt, die ihm gehört.«153 In Benjamins weniger bekanntem ›Programm eines proletarischen Kindertheaters‹ tritt dieser kindliche Souverän schließlich in aller Deutlichkeit – nämlich als »Diktator« – zu Tage: »Der Beobachtung aber – hier fängt Erziehung erst an – wird jede kindliche Aktion und Geste zum Signal. Nicht so sehr, wie dem Psychologen beliebt, Signal des Unbewußten, der Latenzen, Verdrängungen, Zensuren, sondern Signal aus einer Welt, in welcher das Kind lebt und befiehlt. […] das Kind lebt in seiner Welt als Diktator.«154 Benjamins Rede vom Entmenschten, Barbarischen und Despotischen155 an Kindern ist folglich im Sinne dieses präpotenten, »diktatorischen« Verhaltens spielender Kinder zu verstehen, die damit ihre eigene Souveränität unter Beweis stellen. Diese Überlegungen Benjamins lassen sich direkt rückbinden an dessen weiterführendes Nachdenken über Kunst und Kreativität, das bereits mit Blick auf den

150 Vgl. Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 370. 151 Benjamins Souveränitätsbegriff bezieht sich, mit Gess, an dieser Stelle nicht auf dessen politische Dimension eines immer schon über die Gewalt der Setzung verfügenden Souveräns, der das Andere beherrscht. Gemeint ist vielmehr ein Souverän, der/die über die menschliche Grundeigenschaft zur Souveränität, d.h. Eigenständigkeit und Selbstbestimmung im Gegensatz zur Fremdbestimmtheit, verfügt. Dieses Souveränitätsverständnis wird bei Benjamin unmittelbar anhand der Figur des Kindlichen ausgearbeitet. Vgl. Gess, »Das souveräne Kind«, in Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne, S. 391393. Hier S. 391. 152 Vgl. Benjamin, »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert«. S. 271: »Doch immer schwerer wurde meine Lust und auch die Macht, ihr Spiel [das der eigenen Finger, Anm. MW] zu überwachen.« 153 Walter Benjamin, »Das Karussell«, in Gesammelte Schriften, Bd. VII (Frankfurt a.M., 1974), S. 431. 154 Benjamin, »Programm eines proletarischen Kindertheaters«. S. 766. 155 Wenn Benjamin vom Despotischen und Diktatorischen im Kind spricht, so ist damit nicht die in seinem Aufsatz ›Zur Kritik der Gewalt‹ entwickelte mythische Gewalt der Setzung gemeint, sondern – wie beschrieben – eine aus der produktiv-destruktiven Mimesis erwachsende kindliche Souveränität. Vgl. Walter Benjamin, »Zur Kritik der Gewalt«, in Gesammelte Schriften, Bd. II (Frankfurt a.M., 1977), S. 179-203.

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Essay ›Erfahrung und Armut‹ angeklungen ist. Dort war zu lesen, dass den Barbaren nach Benjamin die radikale Armut an Erfahrung auszeichne, die ihn wiederum dazu befähigt »von vorn zu beginnen, von Neuem anzufangen.«156 Voraussetzung hierfür ist die Zerstörung des Alten durch den Barbaren,157 die ihre Entsprechung in der kindlichen Zerstörungslust findet und ebenso dem »archaischen« Prinzip der Wiederholung unterliegt, wie das mimetische Vermögen des spielenden Kindes: Das aus Bauklötzen aufgestapelte und einem Turm angeähnelte Gebilde muss zunächst einmal zum Einsturz gebracht werden, bevor er aufs Neue zusammengesetzt werden kann, muss abermals zerstört werden und so weiter. Dieses benjaminische Konzept eines barbarischen Kindlichen, das über das soeben skizzierte Destruktionsmoment schließlich zur Neuschöpfung anregt, wäre demnach eingebettet in ein umfassenderes Nachdenken über das »Wesen« der Kreativität, das am Motiv des Kinderspiels verhandelt wird. Denn wie Benjamin in ›Spielzeug und Spielen‹ formuliert, sei eben dieses Moment der Produktivität, der Neuschöpfung und des Nochmal-von-vorn-Beginnens herausragendes Merkmal kindlichen Spielverhaltens, das wiederum den sich stets wiederholenden Prinzipien der Mimesis (als primitiver Zwang zur Anähnelung) und der Destruktion (als barbarischer Trieb zur Zerstörung) folge: »Das Kind schafft sich die ganze Sache von neuem, fängt noch einmal von vorn an.«158 Der Gedanke einer Neuschöpfung ermöglichenden Destruktion wird also von Benjamin anhand des Barbarischen verhandelt und in die unmittelbare Nähe des Kindlichen, zumal: des Kinderspiels, gerückt. Der kindliche Souverän erscheint somit mittels seiner vom Prinzip der Wiederholung geprägten Spielverfahren – Mimesis und Destruktion sowie anschließende Neuproduktion – als Kreativinstanz im eigentlichen Sinne und ist in der Lage, als selbstermächtigte Akteur:in die durch mimetische Anähnelung zunächst vertraut gewordenen Dinge souverän zu zerstören, um sie anschließend wieder aufs Neue zusammenzusetzen. Ich folge an dieser Stelle Nicola Gess, die diese benjaminische Auseinandersetzung mit »barbarischer« Kreativität im Motiv des Kinderspiels unter Betonung des Produktivkraftmoments im Sinne eines Emanzipationsprozesses liest, der auf einen Zugewinn an Freiheit hinausläuft.159 Im kindlichen Zwang zur Anähnelung an die Dinge via mimetischen Vermögens ist durch die »barbarische« Destruktion und eine anschließende souveräne Neuschöpfung zugleich auch die Möglich-

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Benjamin, »Erfahrung und Armut«. S. 215. Zu Benjamins Zerstörungsbegriff vgl. Winfried Menninghaus, »Walter Benjamins Diskurs der Destruktion«, Studi Germanici, Nr. 29 (1991), S. 293-312. Walter Benjamin, »Spielzeug und Spielen«, in Gesammelte Schriften, Bd. III (Frankfurt a.M., 1973), S. 127-132. Hier S. 131. Vgl. Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 376f.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

keit von Befreiung mitangelegt: »Spielen [bleibt] immer Befreiung.«160 Im Kinderspiel, das entgegen der romantischen Tradition161 bei Benjamin das Kind eben nicht als den naturhaft vollkommenen Menschen, sondern vielmehr als eine utopische Figur unter Betonung archaischer und barbarischer Tendenzen imaginiert, finden mimetisches und destruktives Potenzial im Sinne entgegengesetzter und sich gleichzeitig bedingender Polaritäten zueinander und laufen auf einen Zugewinn an Freiheit hinaus, der um den Begriff der kindlichen Souveränität kreist. Mit Blick auf eine solche Selbstermächtigung des Kindes, das hier im Modus des Spielens zur/zum Neuschöpfenden der eigenen Welt wird, kann Benjamin dem »barbarischen Despotismus« und der Zerstörungslust dieser Figur ein durchaus emanzipatives Element abgewinnen. Zudem zeigen Benjamins Überlegungen eine deutliche Nähe zur nietzscheanischen und an Heraklit orientierten Idee des Kinderspiels als Sinnbild einer in Zyklen verlaufenden Lebenszeit oder Ewigkeit, die ebenfalls Eingang in das Motivrepertoire der Zwischenkriegsavantgarden – allen voran: des Expressionismus162 – gefunden hat: »Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld – und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich.«163 Im Prisma dieser benjaminischen Überlegungen zum emanzipativen Potential des Kinderspiels, das als ewige und immer gleichbleibende Konstante des Archaischen mimetisches Vermögen, barbarische Destruktion und anschließende kreative Neuschöpfung vereint, ließen sich auch Billers Kinderfiguren als solche motivischen Ins-Bild-Setzungen von Souveränität, Emanzipation und Kreativkraft lesen. Ein Zugewinn an Freiheit im Anähneln, Zerstören und Neuschaffen von Welt wäre somit in den spielerisch Tauben fütternden, Trauben naschenden, Puppen tragenden und dabei stets repetitiv, anti-individualistisch und somit überzeitlich wirkenden Kindergestalten Billers verbürgt, die kindliche wie künstlerische Souveränität gleichermaßen figurieren können. Innerhalb dieser Perspektivierung ist Billers Leitmotiv des Kindlichen folglich als ein dezidiert Barbarisches und somit Kreatives 160 Walter Benjamin, »Altes Spielzeug«, in Gesammelte Schriften, Bd. IV/1 (Frankfurt a.M., 1973), S. 511-515. Hier S. 514. 161 Vgl. Ullrich, Das Kind als schöpferischer Ursprung. S. 28f. 162 Vgl. Andrea Rueth, »Auf der Suche nach der ursprünglichen Einheit von Mensch und Natur«. Eine Untersuchung zum antizivilisatorischen Aspekt im deutschen Expressionismus am Beispiel der Künstlergruppe »Brücke«. Dissertation (München, 2008). S. 119-122. 163 Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, §7 (1873), zitiert nach NietzscheSource (Digital Critical Edition, eKGWB): www.nietzschesource.org/#eKGWB/PHG7 (letzter Aufruf: 22.07.2021).

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umrissen, das sich mit Benjamin zum Souveränen hin entwirft und die Figur des spielenden Kindes letztlich dem Bedeutungsrahmen des Naturhaften, Unschuldigen und zugleich Passiven enthebt und stattdessen aktiv für das eigene Selbstverständnis als Künstlerin nutzbar macht. *** Die meinerseits forcierte Interpretation von Billers Leitmotiv als archaisierte Figuration von »barbarischer« Kreativität und Souveränität im benjaminischen Sinne steht aufgrund der hier offen zutage tretenden Antagonisierungstendenzen jenen Diskursen näher, die – nicht zuletzt: informiert durch die Freud’sche Psychoanalyse – in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das Kind zunehmend als Triebwesen in den Blick nehmen.164 In Gestalt des »bösen Kindes« wird dabei gleichsam der Gegenentwurf zur romantischen Idealisierung des Kindlichen nach Rousseau als Verkörperung vermeintlich ursprünglicher Unschuld konzipiert und stattdessen dessen Alterität betont: Vor dem Hintergrund der Freud’schen Psychoanalyse erscheint das Kind als »wildes«, »seltsames« und manchmal sogar »bedrohliches« Wesen, das in einer eigenen und den Erwachsenen kaum zugänglichen Welt lebt.165 Auf Grundlage solcher bereits etablierter zeitgenössischer Diskursspitzen, die zwischen ca. 1910-1920 das »böse« und bisweilen auch »barbarische« Kind als sexuelle sowie moralische Alteritätsfigur fokussieren,166 gelingt indes die benjaminische sowie die Biller’sche Modifikation kindlicher Barbarität zum Kreativpotenzial und zur Souveränitätsfigur. Auf Freuds Schrift ›Jenseits des Lustprinzips‹, in der das Konzept des Todestriebs entwickelt wird, kommt Benjamin beispielsweise – und dies sei nur am Rande erwähnt – in der Veröffentlichung von ›Spielzeug und Spielen‹ explizit zu sprechen.167 Das solche Überlegungen, die kindliche Zerstörungslust mit kreativem Schaffenspotenzial in Verbindung bringen, auch im avantgardistischen Kontext des Zenitismus an Virulenz gewinnen, zeigt ein exemplarischer Blick in Richtung der zenitistischen Textproduktion, z.B. im Rahmen

164 Vgl. Philippe van Haute und Tomas Geyskens, A Confusion of Tongues. The Primacy of Sexuality in Freud, Ferenczi and Laplanche (New York, 2004). S. 45. 165 Vgl. Gess, »Alterisierung. Das böse Kind«, in Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne, S. 77-83. 166 Vgl. Gess, »Alterisierung. Das böse Kind«. S. 80f. 167 »Der dunkle Drang nach Wiederholung ist hier im Spiel kaum minder gewaltig, kaum minder durchtrieben am Werke als in der Liebe der Geschlechtstrieb. Und nicht umsonst hat Freud ein ›Jenseits des Lustprinzips‹ in ihm zu entdecken geglaubt.« Benjamin, »Spielen und Spielzeug«. S. 131. Vgl. hierzu auch Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 371. Sowie Nadine Werner, Archäologie des Erinnerns. Sigmund Freud in Walter Benjamins Berliner Kindheit (Göttingen, 2015). S. 41-45.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

des 1926 in Belgrad veröffentlichten Romans ›Тумбе/Tumbe‹ (»Durcheinander«) von Branko Ve Poljanski.168 Aus der Perspektive eines zunächst fünfjährigen Ich-Erzählers setzt die Schilderung von kindlicher Erfahrungswelt ein; einer Welt, die den Erwachsenen verschlossen und unverständlich bleibt. Das kindliche Erstaunen angesichts der Sonne, jenes mächtigen Himmelskörpers, dessen Höchststand im Tagesverlauf der zenitistischen Bewegung ihren Namen gibt, bildet hierbei einen wichtigen Topos.169 Nostalgisch wirkt indes die Beschreibung der unmittelbaren Umgebung, in der sich der kindliche Ich-Erzähler befindet: ein einfaches Holzhaus mit Obstgarten, in dem die Bäume voller reifer Früchte stehen.170 Die kindliche Weltwahrnehmung diene Ve Poljanski, so Holger Siegel, im Sinne einer Erzählstrategie dazu, um en miniature den Ursprung ästhetischer Schöpfung im zenitistischen Mikrokosmos zu verankern.171 Dies gelingt erneut über eine dem benjaminischen Verständnis des Kinderspiels nicht unähnliche Konzeption kindlichen Kreativvermögens, das um die Pole der Destruktion und Neuschöpfung kreist. Der mittlerweile um zwei Jahre gealterte, nun siebenjährige Ich-Erzähler wird durch ein Erweckungsmoment zum kindlichen Souverän, dessen »barbarische« Zerstörungslust zwischen reiner Destruktion und anschließender kreativer (Neu-)Produktion oszilliert: »I was seven. […] My barbaric genius suffered for a long time until it entered its own world, until it became a destroyer and a ravager, because the greatest spiritual joy lies in destruction a joy both negative and positive.«172 Auch hier erscheint somit das Kindliche als die »barbarische« Kreativinstanz und stellt ideologische Anknüpfungspunkte für Billers Kinderfiguren im Bedeutungs- und Motivrepertoire der Zenit-Avantgarde bereit, die zugleich ein symptomatisches Interesse an diesem Motiv innerhalb der Bewegung vermuten lassen und damit ein Erklärungsangebot liefern für die verstärkte Rezeption der

168 Branko Ve Poljanski, »Upside Down«, in Between Worlds. A Sourcebook of Central European Avant-Gardes, 1910-1930, hg. von Timothy Benson und Éva Forgács (Cambridge, 2002), 521526. Hier S. 521. An dieser Stelle und im Folgenden zitiert nach der englischen Übersetzung von Marja Starcević. 169 Bemerkenswerterweise ordnet Benjamin die das Kinderspiel prägende Mimesis dem (kindlichen) Staunen zu, das als sog. thaumzein anstelle der kantianisch geprägten Einfühlung seit der Antike ideengeschichtlich mit menschlicher Erkenntnissuche in Verbindung gebracht wird. In dieser Zuordnung, die mutatis mutandis auch bei Branko Ve Poljanski ihre Wirksamkeit entfaltet, zeige sich – so Gess – erneut die ermächtigende Dimension des benjaminischen Kinderspiels: Die durch Staunen angeregte Anähnelung an die Dinge steht im Dienst des Erkenntnisgewinns und damit der Ermächtigung des kindlichen Subjekts. Vgl. Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 386, Fußnote 141. 170 Vgl. Ve Poljanski, »Upside Down«. S. 521. 171 Vgl. Siegel, In unseren Seelen flattern schwarze Flaggen. Serbische Avantgarde 1918-1939. S. 68. 172 Ve Poljanski, »Upside Down«. S. 522.

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Vjera Biller und das Kindliche

Biller’schen Kinderfiguren innerhalb dieser spezifischen Kommunikationsgemeinschaft. Zeitgleich mit der Veröffentlichung von Ve Poljanskis ›Tumbe‹ im Jahr 1926 erscheint anlässlich des fünfjährigen Bestehens des Zenit-Zirkels auch Billers Pastell ›Fünf Jahre Zenit‹, das keineswegs zufällig zwei ihrer charakteristischen Kindergestalten als zenitistische Symbolfiguren präsentiert und im Zenit-Magazin reproduziert wird (Abb. 8). Für das »zenitistische« Kind als »Barbaren« steht, wie das obige Zitat aus Ve Poljanskis Feder verdeutlicht, indes nicht die Einpassung an eine gegebene Außenwelt und deren Realität(en) im Vordergrund, sondern vielmehr deren Zerstörung und anschließende Neugestaltung. Ein nativistischer Topos, der sich mutatis mutandis in dem das Zenit-Programm prägenden Aufruf zur revolutionären Neuschaffung von Kunst und Kultur durch »Barbarisierung« und »Balkanisierung« wiederfindet. Die Betonung einer ihres Wesens nach genauso normsprengenden wie produktiven kindlichen Zerstörungslust mit benjaminischen Anklängen173 führt im Falle Ve Poljanskis jedoch gleichzeitig erneut zu jener semantischen Engführung auf den Begriff des Barbarogenije, des barbarischen Genies, der die zenitistische Textproduktion auch an anderer Stelle dominiert und der meinerseits im Sinne eines geschlechterlogisch wirksam werdenden Exklusionsmechanismus für »nichtmännliches« Kunstschaffen problematisiert worden ist (Kapitel 3.1.1). Anstelle eines der Tendenz nach universellen kindlichen Kreativvermögens, wie bei Benjamin und Biller, findet hier über das Aufrufen des Barbarogenije die Rückbindung von kindlicher Kreativität an eine maskulin konnotierte Schaffenskraft statt. Billers im gleichen Jahr wie Ve Poljanskis Schrift entstandenes Pastell von 1926, auf dem ihre Kinderfiguren besonders geschlechtlos wirken und zu den symbolischen »Lichtträger:innen« der Zenit-Bewegung avancieren, könnte somit als Reaktion und gewissermaßen Gegenentwurf gedeutet werden. Die beiden Kinderfiguren der Künstlerin affirmieren zwar das Kindliche ganz im Sinne des Zenitismus als Kreativinstanz, verkomplizieren durch ihre auffällige Geschlechtslosigkeit aber zugleich die zenitistische Zuordnung zum semantischen Bereich des Virilen, wie sie der zeitgleich publizierte Text Ve Poljanskis vornimmt. Wenn an dieser Stelle bereits von den vielfältigen Anschlusspotenzialen des Biller’schen Leitmotivs hinsichtlich der zenitistischen Zentralsemantik des Barba173

Sowohl in Benjamins als auch in Ve Poljanskis Konzeption wird das barbarische Kindliche in die Nähe des Anarchismus gerückt, insofern es keinerlei Gesetzen gehorcht außer denen des Kindes selbst. Damit ist es weder sozial vermittelt noch individuell erlernt, sondern steht in der Folge also vollständig jenseits von Geschichte und Gesellschaft. Diese Konzeption stellt damit einen eklatanten Widerspruch zu Risto Ratkovićs anti-anarchistischer Position dar, der in ›Barbarstvo kao kultura‹ das Barbarische gerade nicht als Anarchismus verstanden wissen will, und weist somit ungeachtet der gemeinsamen Leitrhetorik auf die bisweilen inhaltliche Heterogenität des Zenit als Avantgardebewegung und Kommunikationsgemeinschaft hin. Vgl. Kapitel 2.2.2.3.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

rischen die Rede war, so soll im Folgenden im Sinne einer perspektivischen Erweiterung der Brennweiteneinstellung meiner Bildanalysen das Kindliche nun stärker als zivilisationskritische, bisweilen (un-)eindeutig politisierte Chiffre in den Fokus der Betrachtung rücken. Denn eine expressionistisch geprägte und durch das Prisma des Primitivistischen sich artikulierende Zivilisationskritik lässt sich als Konstante des Biller’schen Bilderzählens identifizieren. Sie wiederum garantiert, so meine These, im Feld der Zwischenkriegsavantgarden zwischen Berlin und Belgrad auch über die Zenit-Semantik des Barbarischen hinausreichende, inhaltliche sowie ästhetische Anknüpfungspunkte: Billers Kinderfiguren sind demnach in der Lage, sowohl solche Bedeutungsgehalte zu transportieren, als auch jene, die innerhalb der breiteren avantgardistischen Primitivismusrezeption – beispielsweise für die Sturm-Gruppe – tonangebend waren.

3.2

Zivilisationskritik. Eine Konstante Biller’schen Bilderzählens

Das Biller’sche Leitmotiv des Kindlichen trägt jenseits der Sinngehalte des zenitistisch geprägten Barbarischen auch im Weiteren zur erfolgreichen und multidimensionalen Positionierung der Künstlerin in den transnationalen Avantgarden der 1920er Jahre bei. Wie am Beispiel der Kinderfiguren des Linoleumschnitts ›Gondel‹ (Abb. 1), einem weiteren Blatt aus Billers Venedig-Serie von 1921-22, gezeigt werden soll, lässt sich dieses Kindliche ebenso in Bezug setzen zur expressionistischen Ästhetik des Berliner Sturms und korreliert überdies aufs Engste mit der inhaltlichen Ausrichtung dieser Bewegung, der ein überaus zivilisationskritischer Impetus zu eigen ist.174 Dabei wird vor allem auf die Analogisierung zwischen den primitivistischen Repräsentationen des Kindlichen und des »edlen Wilden« einzugehen sein. Im Wiederaufgreifen des bereits behandelten Blattes ›Markt‹ (Abb. 3) wird in einem zweiten Schritt anschließend jenen zivilisationskritischen und im Vergleich zum Sturm-Kontext deutlich politisierten Bedeutungsgehalten nachgegangen, die das Kindliche als zivilisationskritische Chiffre jenseits der Zentralsemantik des Barbarischen im zenitistischen Mikrokosmos erschließt.

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Vgl. Rueth, »Auf der Suche nach der ursprünglichen Einheit von Mensch und Natur.« Eine Untersuchung zum antizivilisatorischen Aspekt im deutschen Expressionismus am Beispiel der Künstlergruppe »Brücke«. S. 153-155.

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Vjera Biller und das Kindliche

3.2.1

Spielarten der Zivilisationskritik im Berliner Sturm-Expressionismus

Billers Blatt ›Gondel‹ (Abb. 1) wird dominiert von einem stringenten und im Vergleich zur Ausführung von ›Markt‹ stärker horizontalisiert wirkenden Bildaufbau, der aufgrund des Verzichts auf seitlich rahmende und in die Vertikale strebende Architektur an den äußersten Blatträndern einen besonders flächigen Eindruck macht. Im Hintergrund zu sehen ist eine Häuserreihe, die in strenger Frontalansicht wiedergegeben ist. Es finden zudem jene schwarzen Gitterstrukturen Verwendung, die in Billers Bildsprache die typisch venezianische Balkonarchitektur apostrophieren und die sich auf diesem Blatt sowohl an den höher gelegenen Geschossen der Häuser als auch – am Kanalufer eine Gondelanlegestelle andeutend – am äußeren rechten Bildrand finden lassen. Zu sehen gegeben ist die Szene einer Kanalfahrt: Die Wasseroberfläche, möglicherweise die des Canal Grande, dominiert den gesamten Mittelgrund des Blattes und ist technisch durch pastose, zackenförmige Hervorhebungen im Schnittmuster gekennzeichnet, die bisweilen in Wellenformen zusammenlaufen und dadurch innerbildlich das Gewässer markieren. Im Vordergrund finden sich zwei der Biller’schen Kinderfiguren, die die Szene kompositorisch strukturieren. Damit handelt es sich bei ›Gondel‹ um eine von insgesamt zwei Darstellungen der Venedig-Serie, in denen gänzlich auf die Ins-Bild-Setzung von Erwachsenenfiguren verzichtet wird.175 Die titelgebende Gondel, in der die beiden Kinderfiguren zu finden sind, wird seitlich dargestellt, ist in schwarzer Farbe gehalten und erinnert in ihrer Form deutlich an die charakteristisch venezianischen Gondolas mit ihrem spitzzulaufenden Bug und Heck sowie ihrem bauchigen, jedoch insgesamt schmalen Gesamtaufbau. Der Bug der Gondel läuft indes nach oben hin stark verjüngt in einem klingenförmigen Ende zusammen. Damit stellt die Künstlerin erneut einen überaus prominenten Lokalbezug zu Venedig her, denn diese Klingenform ist typisch für die Bugbeschläge venezianischer Gondeln, die sog. ferro di prua.176 Ursprünglich als Gegenwicht zum Gondoliere eingesetzt, dienen die bis zu 22 Kilogramm schweren Metallbeschläge am Bug mithin vor allem Dekorationszwecken. In ihrer Form erinnert der Metallschweif an jene Fischermütze, die die venezianischen Dogen in ihrer traditionellen Staatstracht als Kopfbedeckung trugen. Unter diesem Metallschweif sind üblicherweise sechs Zacken angebracht, die in der gängigsten Deutung dieser symbolischen Form die sechs sestieri Venedigs – die Stadtteile San

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Auch auf dem Blatt ›Piazza San Marco‹ verzichtet Biller vollständig auf die Darstellung von Erwachsenenfiguren, vgl. Kapitel 4.1. Vgl. Deborah Howard, Venice and the East. The Impact of the Islamic World on Venetian Architecture 1100-1500 (New Haven CT, 1993). S. 28f.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

Marco, Dorsoduro, San Polo, Cannaregio, Castello und Santa Croce – symbolisieren.177 Biller gibt sowohl diese Zacken als auch die spezifisch geformte Bugspitze der Gondola auf dem Linoleumschnitt wieder. Die beiden Kinderfiguren wiederum sind versetzt zueinander im vorderen und hinteren Teil der Gondel angeordnet. Beide tragen den charakteristischen schwarzen Bubikopf mit scharf konturierten Locken und die für Billers Kinderfiguren im Allgemeinen kennzeichnende Gesichtspartie. Die hintere Figur wird in der Funktion eines Gondolieres gezeigt, aufrechtstehend mit einem langen Stab in der linken Hand das schwimmende Gefährt steuernd. Die Blickrichtung dieser Figur ist nach vorne gerichtet und fokussiert die im Davor der Bildebene sitzende zweite Kinderfigur. Die Bekleidung dieses kindlichen Gondolieres besteht aus an die zeitgenössische Kindermode angelehnten Knickerbockern und einem langärmeligen Oberteil, das entfernt an ein Matrosenhemd erinnert. Gleiches gilt für die zweite Kinderfigur, die in sitzender Position gezeigt wird und deren Hand in der bildhaften Momentaufnahme einer Gondelüberfahrt auf der Bootskante ruht. Die unteren Extremitäten der sitzenden Kinderfigur verschwinden dagegen im Bauch der Gondel. Wie auf allen übrigen Blättern der Venedig-Serie findet sich auch hier der für Billers Kunstpraxis so charakteristische schwarze Rahmen wieder, der das Bildfeld begrenzt. Die Signatur der Künstlerin ist indes deutlich am rechten Rand des Blattes zu lesen. Die von Biller dergestalt figurierte Überfahrt zweier Kinder in einer Gondel ist neben oder vielmehr trotz des atmosphärisch aufgeladenen venezianischen Lokalkolorits jedoch zugleich ebenso in der Lage, Assoziationen von Indigenität, »Primitivität« und Ursprünglichkeit aufzurufen: Durch den archaisierenden Impetus der Darstellung gleicht sich die gezeigte Gondel immer mehr einem Kanu bzw. einer Barke an und das Kindliche erscheint folglich als einer jener primitivistischen Archaismen, die auch das breitere Motiv-Milieu expressionistischer Zivilisations- und Modernitätskritik in den 1920er Jahren geprägt haben.178 Über den Nexus eines Entsprechungsverhältnisses zwischen dem Kindlichen und einem idealisierten »edlen Wilden« wird dieser diskursmächtige Topos179 zwischen ca. 1918 und 1925 vornehmlich seitens der am Expressionismus – mit seinen Schlagworten der Eins-Werdung von Mensch und Natur sowie der Menschheitsverbrüderung – orientierten Strömungen, etwa in Berliner Sturm-Zirkeln, propa-

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Vgl. Ebd. S. 29. Vgl. Rueth, »Auf der Suche nach der ursprünglichen Einheit von Mensch und Natur.« Eine Untersuchung zum antizivilisatorischen Aspekt im deutschen Expressionismus am Beispiel der Künstlergruppe »Brücke«. S. 34-37. Vgl. Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation (Frankfurt a.M., 1986). S. 10-18. Sowie Fludernik, Haslinger und Kaufmann, Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. S. 22f.

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giert.180 Diese Analogisierung von Kindlichem und »edler Wildheit« zum Zwecke der Zivilisationskritik organisiert sich in diesen spezifischen Bild- und Textdiskursen der Moderne dabei vor allem um die Idee einer vermeintlich ursprünglichen Reinheit und Natürlichkeit des Kindlichen, die dieses wiederum mit »den Primitiven« – indigenen Menschen der zeitgenössischen Gegenwart – gemeinsam habe.181 Das Kind, als ein weder durch Kultur noch durch (moderne) Zivilisation »korrumpiertes« Naturwesen, wird im Kontext der Zwischenkriegsavantgarden mittels idealisierender sowie mithin rassifizierender Wahrnehmungsmuster in ein Entsprechungsverhältnis gesetzt zu indigenen Menschen und darüber bisweilen auch das eigene künstlerische Selbstverständnis – als die »neuen Primitiven« – begründet.182 Anstatt aus dieser unterstellten Primitivität – des Kindlichen sowie des »edlen Wilden« – ein fortschrittslogisches »zivilisatorisches Defizit« abzuleiten, wird die vermeintliche Wildheit zum Katalysator einer Kritik an Modernität und Zivilisation der zeitgenössischen Gegenwart.183 In ihr vereinen sich dabei, wie etwa im Falle des Expressionismus, avantgardistische Authentizitäts- und Kreativitätsansprüche, die sich beide auf das Kindliche als »das Primitive« rückprojizieren.184 Spätestens Walter Lurjes programmmachende Schrift ›Mystisches Denken, Geisteskrankheit und Moderne Kunst‹ aus dem Jahre 1923 hatte diesem Konnex von zivilisationskritischem Anti-Modernismus, Primitivmus und Kindlichem im Kontext des deutschsprachigen Expressionismus zu breiterer Salonfähigkeit und Popularität verholfen.185 Darin avanciert der expressionistische Primitivismus als Zivilisationskritik nicht nur zum bestimmenden Kunstprinzip, sondern wird darüber hinaus auch als bevorzugte Rezeptionshaltung gegenüber zeitgenössischavantgardistischer Kunst installiert.186 Zudem vertritt Lurje, in dessen Autorenposition die Expertise des Psychologen und die des Connoisseurs zusammenfallen, die These, dass in der expressionistischen Kunst nicht nur der bildhaft gegebene Inhalt, sondern auch das Wie des Gezeigten in Beziehung zu einer »neuen« Form

180 Insbesondere im Kontext des Fauvismus sowie des Expressionismus wird eine derartige Analogie virulent vgl. Rueth, »Auf der Suche nach der ursprünglichen Einheit von Mensch und Natur.« Eine Untersuchung zum antizivilisatorischen Aspekt im deutschen Expressionismus am Beispiel der Künstlergruppe »Brücke«. S. 204f. 181 Vgl. Schultz, Wild, irre und rein. S. 341f. 182 Vgl. Rueth, »Auf der Suche nach der ursprünglichen Einheit von Mensch und Natur.« Eine Untersuchung zum antizivilisatorischen Aspekt im deutschen Expressionismus am Beispiel der Künstlergruppe »Brücke«. S. 67. 183 Vgl. Heinrichs, Wilde Künstler. Über Primitivismus, Art Brut und die Trugbilder der Identität. S. 84f. 184 Vgl. Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 161ff. 185 Vgl. Walter Lurje, Mystisches Denken, Geisteskrankheit und Moderne Kunst (Stuttgart, 1923). 186 Vgl. Ebd. S. 9-10.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

mystischen Denkens stünden und zwar mittels des Verzichts auf eine symbolische, zugunsten einer ganz in Traumbildern aufgehenden Darstellung.187 Diese wiederum erinnere die Betrachtenden an Fantasien aus der eigenen Kindheit und rufe diese kindliche Fantasietätigkeit im Sinne eines Rezeptionshorizonts wieder wach.188 Nicht logisches Denken sei demnach in der Rezeption expressionistischer Kunst gefragt, sondern vielmehr Fantasie oder das, was Lurje als etwas Instinktives umschreibt.189 Mittels solcher, an dieser Stelle exemplarisch anhand von Lurje illustrierter Argumentationsmuster werden folglich vermeintliche »Stilmerkmale« expressionistischer Avantgardekunst unter Berufung auf das Kindliche und »edle Wilde« auf einen ontologischen Ursprung jenseits von Modernität hin entworfen und dadurch im Sinne einer Verwirklichung von zeitloser Ursprünglichkeit mit zivilisationskritischem Duktus als »wahre« und »unverfälschte« Kunst legitimiert.190 Ein derartiger zivilisationskritischer Impetus ist in den Bild- und Textprogrammen des Berliner Sturm-Expressionismus sowohl für die Künstler:innen vor als auch nach dem Ersten Weltkrieg herausgearbeitet worden und zeigt sich exemplarisch in der Rezeption von Arbeiten Henri Rousseaus, Carl Einsteins oder Maria Uhdens, die zwischen 1913 und 1925 alle im Ausstellungsbetrieb der Sturm-Galerie vertreten waren.191 Vor allem die Arbeiten Uhdens, die wie Billers im Medium der Linoleum- bzw. Holzschnitttechnik entstanden sind, folgen einer dezidiert expressionistischen Ästhetik der Frugalität und der Flächigkeit mit primivitistischem Duktus und eignen sich daher an dieser Stelle besonders für die vergleichende Betrachtung. Hervorzuheben wären diesbezüglich beispielsweise Uhdens auf 1918 datierte Arbeiten ›Insel‹ (Abb. 31).192 Deren an primitivistischen Ikonografien orientierter Anti-Modernismus korreliert hier unmittelbar mit der Ins-Bild-Setzung einer »exotischen« Tierwelt (Zebra und Flamingo). Auch auf der Ebene der technischen Umsetzung lassen sich Ähnlichkeiten zwischen Billers und Uhdens Schnittpraxis herausarbeiten: So weisen Uhdens ›Insel‹ und Billers ›Gondel‹ auffällige Parallelen in der Motivwahl – eine primitivistisch gerahmte Bootsüberfahrt – sowie in der Ausgestaltung der Wasseroberflächen auf, die in beiden Fällen durch kontrastierende Schnittsetzung in der Horizontalen angedeutet wird. 187 Vgl. Ebd. S. 21. 188 Vgl. Ebd. S. 10. 189 »Instinktiv fühlen die Menschen, daß hier Dinge dargestellt sind, die aus dem Urgrund stammen, aus dem Quell alles Wesens herrühren […].« Lurje, Mystisches Denken, Geisteskrankheit und Moderne Kunst. S. 14. 190 Vgl. Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 161. 191 Vgl. Herwig und Hülsen-Esch, Der Sturm. Literatur, Musik, Grafik und die Vernetzung in der Zeit des Expressionismus. S. 10f. 192 Maria Uhden: ›Insel‹ (1918), Holzschnitt auf Reispapier, 31,0 × 22,3 cm, Yale University Art Gallery, New Haven. Sig. 1944.55.

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Vjera Biller und das Kindliche

Bei Uhden wirkt das Wasser jedoch deutlich stilisierter und weniger »naturalistisch« als in Billers auf die Wiedergabe von »natürlichem« Wellengang konzentrierter Darstellung. Einen gewichtigen kompositorischen Unterschied bildet auch die Perspektivwahl der beiden Künstlerinnen: Im Gegensatz zu Billers streng in der Horizontalen komponierten Bootsfahrt wählt Uhden eine Sicht aus Vogelperspektive für ihre Umsetzung. Zugleich arbeiten jedoch beide mit einer auffällig schmalen Raumbühne, den kontrastvoll und »hart« an den Vordergrund gesetzten Bildfiguren sowie mit den für Schnittarbeiten in Holz beziehungsweise Linoleum so eingängigen Schraffuren und Zackenformen, die mal Körperlichkeit oder mal stoffliche Struktur andeuten.193 In Arbeiten wie dem auf 1917 datierten Blatt ›Tanz‹ war die Komposition von Uhden bereits ins kreisförmig Dynamische gesteigert worden (Abb. 32) und lässt dadurch die rhythmisch angeordneten, als »weiblich« vergeschlechtlichten Aktfiguren mit durch Strichziehungen angedeuteten Baströcken in einem stilisierten Bewegungsmoment erscheinen.194 Gerade in solchen Figurationen, die als Verkörperungen des Primitiven in expressionistischer Ästhetik gelesen werden können, wird Uhdens archaisierender Impetus besonders augenscheinlich, der sich zum Zivilisationskritischen und Anti-Modernistischen der Moderne hin entwirft. Der Erfolg der Uhden’schen Arbeiten im Sturm wurde indes gleichermaßen mit deren expressionistischer Formsprache sowie den primitivistischen und zivilisationskritischen Motiven begründet.195 Uhdens Kompositionen mit den gerundeten und teils im Bildraum frei schwebenden Figuren sind überdies auch an die »traumhaft« wirkenden Bildräume Marc Chagalls rückgebunden worden. Ihre Betonung der Tierwelt hat derweil in Verbindung mit Franz Marc Betrachtung gefunden.196 Billers und Uhdens geteilte Bildsprache des Primitivistischen und die geteilte »primitive« Technik des Holz- bzw. Linoleumschnitts, die sowohl der Ästhetik der expressionistischen Druckgrafik als auch einem grundlegenden Interesse am »Kindlich-Naiven« verpflichtet scheint, kongruiert zudem mit der von Herwarth Walden, dem Sturm-Gründer und Hauptakteur der Bewegung, forcierten Ästhetik des (Semi-)Figurativen sowie einer bevorzugten Stellung des Holzschnitts im

193

Vgl. Karla Bilang, »Gabriele Münter, Marie Laurencin, Jacoba van Heemskerck, Maria Uhden. Holzschnitte der Expressionistinnen«, in Sturm-Frauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910-1932, hg. von Max Hollein und Ingrid Pfeiffer (Köln, 2015), S. 156-161. Hier S. 160. 194 Maria Uhden: ›Tanz‹ (1917), Holzschnitt auf Papier, 24,0 × 19,7 cm, Yale University Art Gallery, New Haven. Sig. 1941.730. 195 Vgl. Christmut Präger, »Maria Uhden. Traum und Welt«, in Sturm-Frauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910-1932, hg. von Max Hollein und Ingrid Pfeiffer (Köln, 2015), S. 290311. Hier S. 292. 196 Vgl. Ebd.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

Sturm-Expressionismus, die auch nach 1918 das ästhetische Programm der Bewegung noch maßgeblich mitbestimmt haben.197 Infolgedessen scheinen Billers Kinderfiguren, wie sie auf dem ›Gondel‹Schnitt visualisiert werden, gleich in dreifacher Hinsicht mit dem Mikrokosmos und Programm der Sturm-Kommunikationsgemeinschaft zu konvenieren: auf motivischer, auf technischer sowie auf ästhetischer Ebene. Billers überdurchschnittliche Sichtbarkeit und Präsenz im Berliner Sturm-Ausstellungsbetrieb zwischen 1921 und 1922 lässt sich folglich mit einer solchen, ideologischen wie ikonografischen Anschlussfähigkeit ihrer Kinderfiguren an die dort propagierte und expressionistisch geprägte Welt- und Kunstauffassung hinreichend erklären. Das

197

Vgl. van Rijn, »Material, Marketing, Medium. Der Holzschnitt beim Sturm«. S. 300ff. Im Anschluss an einen Ausstellungskatalog des Von der Heydt-Museums Wuppertal mit dem sprechenden Titel ›Der Sturm. Zentrum der Avantgarde‹ [Hervorhebung MW] vertritt van Rijn hier die diskutable These, dass sich anhand der Titelblätter des Sturm die gesamte grafische Kunst der 1910er und 1920er Jahre nachverfolgen ließe, und will diesen, entlang eines Zentrum-Peripherie-Gefälles verorteten Universalismus noch dazu als allgemeinen Forschungskonsens verstanden wissen. Ähnlich kontrovers wäre die geschichtliche Einordnung des Mediums Holzschnitts zu diskutieren, die van Rijn im Anschluss unternimmt (S. 308309): Eine von nationalen und bisweilen anachronistischen Zuschreibungen (»im 15. Jahrhundert in Deutschland eine erste Blütezeit«, Ebd. S. 308, »das goldene Zeitalter des deutschen Holzschitts«, Ebd. S. 309) sowie von der konfessionellen Engführung auf »das Christliche« (»volkstümliche als auch religiöse Inhalte«, Ebd. S. 308, »aus klösterlichen Kreisen«, Ebd. S. 309) geprägte Idee des Mittelalters dient dabei als Leitfaden. Unter unreflektierter Bemühung eines um Albrecht Dürer kreisenden Meisternarrativs (»Die Holzschnitte Albrecht Dürers gelten nach wie vor als die höchste Entwicklung dieses Mediums, die später kaum mehr überboten wurde.«, ebd. S. 309), kulminiert diese Fortschrittslogik im Sinne einer vermeintlich ungebrochenen Traditionslinie schließlich in der erneut christlich-zentrierten Rückbindung des Mediums Holzschnitt an ein dem vera icon entlehntes Verständnis des Abdrucks und einer damit einhergehenden »Authentizität«, die schließlich mit der Bedeutung dieses Schlagworts im Expressionismus in Verbindung gebracht wird. Diese einseitige Konzeptualisierung bliebe mit Georges Didi-Hubermans diskursereignishafter ›Ähnlichkeit und Berührung‹, die hier keinerlei Erwähnung findet, zu konfrontieren und aus der Perspektive der Visual Culture Studies kritisch zu befragen. Vgl. Georges Didi-Huberman, Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks (Köln, 1999). S. 22-25. Die von van Rijn zusammengetragenen und überaus spannenden Primärtexte aus den 1920er Jahren (Paul Westheim, Curt Glaser und Gottfried Graf), die die Diskursivierung des Holzschnitts als expressionistisches Medium vorantreiben, treten innerhalb dieser Ausführungen leider in den Hintergrund, könnten jedoch im Sinne eines Forschungsdesiderats nach den vor dem Zeithorizont wirksam werdenden Ideologemen und Momenten des (Trans-)Nationalen, des Hybriden, »des Authentischen« sowie »des Primitiven« jenseits einer Verortung im fragwürdigen Konstrukt eines christlichen Mittelalters analysiert werden. Auf der Ebene des Bildkünstlerischen behandelt van Rijn erneut die Arbeiten der Sturm-Künstlerinnen Maria Uhden und Jacoba van Heemskerck ausführlich. Vjera Biller, die zur selben Zeit, im selben Kontext und im selben Medium gearbeitet hat, bleibt abermals eine Blindstelle.

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Kindliche wäre somit nicht nur als persönliches Leitmotiv und Interessensfeld der Künstlerin umrissen, sondern ist vielmehr eingebettet in breitere Diskursfelder der expressionistischen Primitivismusrezeption im Feld der Sturm-Avantgarde in Berlin zu Beginn der 1920er Jahre. Im Anschluss soll nun, den Blick erneut auf Belgrad richtend, jenen Dimensionen der Zivilisationskritik im Zenitismus nachgegangen werden, die sich »durch das Prisma des Marxismus« – wie der gleichnamige Leitartikel aus dem Jahr 1926 insinuiert, der gleichsam als ideologisches Manifest der Bewegung gelesen werden kann198 – verdichten. Diese sind, wie die folgenden Ausführungen darlegen werden, von anti-kapitalistischen, anti-westeuropäischen und anti-imperialistischen Semantiken durchzogen und zudem verwoben mit einer umfassenderen Beschäftigung mit Archaismen und Primitivismen zum Zwecke der eigenen nativistischen Selbstpositionierung als Balkan-Avantgarde. Hierfür wird die Bildanalyse zu Billers Blatt ›Markt‹ (Abb. 3) zurückkehren, das sich durch die prominente Ins-Bild-Setzung einer Verkaufsszene sowie bildhaft vermittelter Ungleichheit besonders zur Auseinandersetzung mit diesem semantischen Komplex – zeitgenössischer Anti-Kapitalismus und Anti-Imperialismus im Zenit – qualifiziert. Mit erneutem Blick ins Zenit-Magazin wird die zenitistische Zivilisationskritik in ihren wichtigsten Grundzügen umrissen und Billers Arbeit vor diesem politisierten Bedeutungshorizont positioniert werden. Zudem wird zu zeigen sein, inwieweit der auf Gestaltungsebene prägende Primitivismus des Biller’schen Kindlichen für eine zenitistische Zivilisationskritik in Dienst genommen werden kann, die solche Kinderfiguren in nostrifizierendem Duktus mit jenen alterisierenden Figurationen bettelnder Kinder konfrontiert, die die ums Pittoreske kreisenden westeuropäischen Reiseliteraturen zum geografischen Raum Italien und »dem Balkan« noch Mitte der 1920er Jahre geprägt haben.

3.2.2

Spielarten der Zivilisationskritik im Belgrader Zenitismus

Zivilisationskritische Semantiken sind im Kontext des Zenitismus primär an die Auseinandersetzung mit dem Schlagwort »Kapitalismus« gekoppelt, die in der Veröffentlichung der unter dem Pseudonym »Dr. M. Rasinov« vermutlich von Micić selbst verfassten Streitschrift ›зенитизам кроз призму марксизма/Zenitizam kroz prizmu Marksizma‹ (»Der Zenitismus durch das Prisma des Marxismus«)199 in der Dezemberausgabe des Zenit-Magazins 1926 kulminieren und kurze Zeit später das Verbot der Bewegung durch die jugoslawischen Behörden nach sich

198 Vgl. Micić, »зенитизам кроз призму марксизма/Zenitizam kroz prizmu Marksizma«. 199 Vgl. Ebd.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

gezogen haben.200 Der Manifest-artige Text lässt, wie das folgende Zitat verdeutlicht, im marxistisch gefärbten Wortjargon der Zeit den anti-kapitalistischen, anti-westeuropäischen und anti-modernistischen Impetus der zenitistischen Zivilisationskritik in aller Deutlichkeit zu Tage treten: »Шта je зенитизам? – зенитизам je син марксизма. У жилама зенитизма тече крв марксизма. Jeр она сазнања и тежње коje проповеда марксизам као наука – као социологиja – те исте, дословно исте проповеда, оживљуje и зенитизам и свojoj сфери уметности. Пароле зенитизма поклапаjу се са паролама марксизма: Доле са данашњом тираниjом Доле подрабљивање човека човеком Доле границе земаља Доле Европа! Поздрав свима пролетерима света Наша je песма револуциja Живело ослобођено ново друштво Живео нови човек Живели Варвари!«201 »Was ist Zenitismus? Der Zenitismus ist ein Sohn des Marxismus. In den Adern des Zenitismus fließt das Blut des Marxismus. Denn die gleichen Erkenntnisse und Bemühungen, die der Marxismus als Wissenschaft als Soziologie predigt, – buchstäblich die gleichen –, predigt und belebt auch der Zenitismus in der Sphäre der Kunst. Die Parolen des Zenitismus sind dieselben wie die Parolen des Marxismus: Nieder mit der heutigen Tyrannei, Nieder mit der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, Nieder mit den Ländergrenzen, Nieder mit Europa! Unser Gruß geht an alle Proletarier der Welt, Unser Lied ist die Revolution, Es lebe die befreite neue Gesellschaft, Es lebe der neue Mensch, Es leben die Barbaren!« 200 In der Zuschreibung der Autorenschaft dieses Artikels an Micić folge ich Siegel, In unseren Seelen flattern schwarze Flaggen. Serbische Avantgarde 1918-1939. S. 76f. 201 Micić, »зенитизам кроз призму марксизма/Zenitizam kroz prizmu Marksizma«. S. 12-13. Für die englische Übersetzung des Texts vgl. Benson und Forgács, Between Worlds. A Sourcebook of Central European Avant-Gardes 1910-1930. S. 529f.

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Micić entwirft hier folglich ein Entsprechungsverhältnis von Marxismus einerseits (im Bereich des Gesellschaftlichen) und Zenitismus andererseits (im Bereich der Kunst), die eine programmatische Zusammenführung auf ideologischer Ebene erfahren. Die daran entwickelten Semantiken des Zivilisationskritischen organisieren sich an dieser Stelle dann auch wenig überraschend über die marxistischen Topoi der Abschaffung von Ausbeutungsverhältnissen und »Tyrannei« sowie der Auflösung aller nationalen Ländergrenzen zugunsten einer (proletarischen) Weltgemeinschaft. Im Aufruf »Nieder mit Europa!« zeigt sich indes die inhaltliche Verknüpfung dieser zenitistischen Ad-hoc-Gesellschaftsanalyse im Sinne einer vermeintlich in Gänze durch Kapitalismus und Ausbeutung geprägten sozialen Realität und Moderneerfahrung auf »dem Balkan« mit einem auch andernorts im Zenit-Programm wirksam werdenden, deutlich anti-westeuropäischen Impetus. Die Allgegenwart westeuropäischer Hegemonie wird schließlich als Zielscheibe dieser zenitistisch-marxistischen Zivilisationskritik identifiziert, die sich einreiht in eine ganze Serie anti-kapitalistischer sowie anti-westeuropäischer Polemiken von Seiten Micićs, die der »Vordenker« und »Chefideologe« des Zenitismus bereits seit Mitte der 1920er Jahre mit zunehmend serbisch-nationalistischem Impetus publiziert hatte.202 Die vor dem Zeithorizont durchaus gerechtfertigte Kritik an der westeuropäischen Balkan-Politik und deren bisweilen imperialistisch-autoritären Gestus203 gleitet hier schließlich ab in eine Perspektive des Chauvinistischen und hat damit Anlass gegeben zu den in Teilen bis in neueste Forschungsdebatten hineinreichenden Kontroversen um die ideologische Verortung der kontrovers diskutierten Figur Micićs.204 Der oben zitierte Abschnitt der kurz vor dem Zenit-Verbot 1926 letztmalig veröffentlichten Streitschrift schließt indes mit einem Appell zur Vereinigung der proletarischen Internationalen und folgt damit erneut dem zeitgenössischen Rhetorikrepertoire marxistischer Weltanschauung: »Hochleben soll die neue befreite Gesellschaft, hochleben soll der neue Mensch, hochleben sollen die Barbaren!«205 Der zenitistische Schlüsselbegriff des Barbarischen im Sinne einer umfassenden Erneuerung von Mensch, Kultur und Kunst wird hier also offenkundig rückgebunden an einen zentralen Befreiungsgedanken und korreliert mit einem gleicherma-

202 Vgl. dazu exemplarisch Ljubomir Micić, »Papiga i monopol ›hrvatska kultura‹«, Zenit, Nr. 24 (1923), o.S. [S. 1-2]. Sowie Ljubomir Micić, ›Антиевропа/Antievropa‹ (»Antieuropa«) (Belgrad, 1926). Zur Kritik an Micićs virulentem Serbo-Nationalismus vgl. Marijeta Božović, »Zenit Rising. Return to a Balkan Avant-Garde«. S. 136-137. Sowie Siegel, In unseren Seelen flattern schwarze Flaggen. Serbische Avantgarde 1918-1939. S. 102. 203 Vgl. Suppanz, »Die Bürde des ›Österreichischen Menschen‹. Der (post-)koloniale Blick des autoritären ›Ständestaates‹ auf die zentraleuropäische Geschichte«. 204 Vgl. Kapitel 1.4. 205 Micić, »зенитизам кроз призму марксизма/Zenitizam kroz prizmu Marksizma«. S. 13.

3. Biller als Künstlerin in der Avantgarde

ßen anti-imperialistischen, avantgardistischen und marxistischen Gesellschaftsentwurf. *** Im Rückgriff auf die bereits im Kapitel 3.1.2 ausführlich behandelte Arbeit Billers, ›Markt‹ (Abb. 3), soll an dieser Stelle nochmals auf deren innerbildliche und überaus kontrastvoll gestaltete visuelle Betonung von Ungleichheit – allen voran auf der Ebene der Kleiderdarstellung – verwiesen und für eine diesbezügliche Anschlussfähigkeit des Motivs zur soeben skizzierten Zivilisationskritik im Zenitismus argumentiert werden. Die Kleidung der Frauenfigur, insbesondere ihr auffälliger Ohrschmuck, evoziert Assoziationen ans zeitgenössisch Modische, Moderne sowie Mondäne. Im starken Kontrast hierzu steht das Kleiderrepertoire des obstverkaufenden »Großmütterchens« sowie der Kleinmädchenfigur. Erstere scheint im »marxistischen Prisma« zenitistischer Zivilisationskritik aufgrund ihrer Schmucklosigkeit durchaus in der Lage, als Verkörperung von Bäuerlichkeit, Ruralität und Proletarischem zu fungieren, während sich die Kinderfigur durch das auffällige Fehlen von Schuhwerk in der modernistischen Bildtradition von Armuts-Ikonografien verorten ließe.206 Fernerhin besitzt auch die hier gezeigte Obstsorte, die Trauben, neben der im Kapitel 3.1.2 bereits explizierten antiken Symbolik die Eigenschaft einer bis in die Bildsprache der Moderne hineinreichenden und nicht zuletzt durch die umfassende Rezeption nietzscheanischer Ideen informierten Suggestion von bacchantischer Exklusivität.207 Die Geste der Kinderfigur, in der einen Hand die Trauben haltend und den Zeigefinger der anderen Hand zum Mund führend, wäre somit als eigentlicher (Bild-)Ort von sensorischer Affiziertheit, Genuss und Körperlichkeit im Sinne eines innerfigürlichen Kontrasts zur Restdarstellung (keine Schuhe, ärmlich wirkender Kittel) umrissen und würde zugleich mittels der Bewegung der Hand zum Mund das physische Einverleiben antizipieren. Ein Evozieren von Hungerempfinden als Metapher umfassender kindlicher Prekarität208 wäre ikonografisch ebenfalls denkbar und würde der um Ungleichheiten kreisenden Darstellung Billers latent zivilisationskritische Züge nach zenitistischem Verständnis verleihen oder aber diese zumindest zugänglich 206 Vgl. Franziska Eißner und Michael Scholz-Hänsel, Hg., Armut in der Kunst der Moderne (Marburg, 2011). S. 34. Und Andrea Zupancic, Hg., Armutszeugnisse. Die Darstellung der Armut in der Kunst des 20. Jahrhunderts (Berlin, 1995). S. 68. Sowie jüngst für die Zeit vor/um die Jahrhundertwende: Linda Nochlin, Misère. The Visual Representation of Misery in the 19th Century (London, 2018). S. 61-81. 207 Vgl. Michael Philipp, Hg., Dionysos. Rausch und Ekstase. Ausst.Kat. Bucerius Kunstforum Hamburg (München, 2013). S. 11. 208 Vgl. Ingrid Sharp, »Käthe Kollwitz’s Witness to War. Gender, Authority and Reception«, Women in German Yearbook: Feminist Studies in German Literature & Culture, Nr. 27 (2011), S. 87107.

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machen für eine solche Deutung seitens der Zenitist:innen. Armut (Kinderfigur und »Großmütterchen«) und Reichtum (Frauenfigur und Trauben) wären damit als sich gegenseitig bedingendes Gegensatzpaar auf Figurenebene unmittelbar an einer solchen Interpretation des Blattes entlang der Dimension des AntiKapitalistischen innerhalb zivilisationskritischer Semantiken des Zenitismus beteiligt. Die ikonografische Nähe der primitivistischen Kleinmädchenfigur Billers aufgrund ihres fehlenden Schuhwerks gewinnt indes vor dem Hintergrund des zenitistischen Anti-Imperialismus und (West-)Europa-Skeptizismus nochmals an besonderer Brisanz: Denn in den noch bis weit in die 1920er Jahre hinein überaus populären (Neu-)Auflagen westeuropäischer Reiseliteraturen wird kindliche Prekarität als süd(-ost-)europäische Alteritätsfigur, vor allem entlang des Topos der auf Marktplätzen bettelnden Kinder kolportiert.209 Mittels dieses Alterisierungsmechanismus und mit quasi-imperialem Blick reüssiert kindliche Prekarität innerhalb dieses Genres bisweilen als Pittoreske, wie sich beispielhaft an den »adriatischen« Reiseberichten Henry James‹ in ›The Italian Hours‹ nachzeichnen lässt, die im Original bereits 1909 publiziert worden waren.210 Innerhalb der Schilderung eines Venedig-Aufenthalts findet sich der Ich-Erzähler frühmorgens auf einem noch fast menschenleeren Markt wieder, wo ihm eine Gruppe bettelnder Kinder begegnet: »A delicious stillness covered the little campo at Torcello; […] There was no life but the visible tremor of the brilliant air and the cries of […] young children who dogged our steps and clamoured for coppers. These children, by the way, were the handsomest little brats in the world, and each was furnished with a pair of eyes that could only have signified the protest of nature against the meanness of fortune. They were very nearly as naked as savages […] like those of infant cannibals in the illustrations of books of travel; but […], grinning like suddenly-translated cherubs and showing their hungry little teeth, they suggested forcibly that the

209 Vgl. Sandra Markewitz, »›Die Bahn kommt wie ein Schiff.‹ Reise- und Ankunftsmotiv in Wolfgang Koeppens Venedigbild«, in Reiseliteratur der Moderne und Postmoderne, hg. von Michaela Holdenried, Alexander Honold und Stefan Hermes (Berlin, 2017), S. 385-398. Sowie Erhard Schütz, »Niemandsland, Zone und Winkel. Reisen in ostmitteleuropäischen Grenzgebieten«, in Reiseliteratur der Moderne und Postmoderne, hg. von Michaela Holdenried, Alexander Honold und Stefan Hermes (Berlin, 2017), S. 349-366. Das Motiv bettelnder Kinder wird ebenso als diskursmächtige Orient-Trope funktionalisiert, die sich bis in die Reiseliteratur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgen lässt. Vgl. dazu exemplarisch Elias Canetti, Die Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise (Zürich, 1967). S. 34. 210 Vgl. Henry James, »Venice. An Early Impression«, in The Italian Hours (Boston/New York, 1909), S. 71-86.

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best assurance of happiness in this world is to be found in the maximum of innocence and the minimum of wealth.«211 Die in morgendliche Stille gehüllte Markt-Szene wird in der James’schen Schilderung bevölkert von bettelnden Kindern, die mit gleichermaßen idealisierendem Duktus (»die hübschesten Gören«) wie alterisierendem Duktus (»fast so unbekleidet wie Wilde«) an »Kannibalen«-Darstellungen illustrierter Reiseberichte vergangener Jahrhunderte herangerückt und dadurch primitivisiert werden. Im weiteren Verlauf des Texts wird, wie das obige Zitat bereits ankündigt, aus existenzieller, materieller Armut und kindlicher Prekarität zunächst ein pittoresker Anblick für das westeuropäische und US-amerikanische Publikum, dann gar ein Glücksversprechen. Agnes Hoffmann hat herausgearbeitet, inwiefern James‹ Marktszene, die wie Billers Serie in Venedig angesiedelt ist, den »quasi-imperialen Blick«212 westeuropäischer Reiseberichte anschaulich werden lässt, die sich dem Thema aus der Erzählposition eines/einer aus der Entfernung amüsierten, aber nicht weiter involvierten Zuschauenden nähern. Dieser westozentrische Impetus wird im James’schen Narrativ durch den entlang einer Süd-/Ost- und Westachse entworfenen Gegensatz zwischen vermeintlicher Kultiviertheit und Zivilisation (westeuropäische Reisende) sowie »Wildheit« und Primitivität (bettelnde, einheimische Kinder) noch amplifiziert. Im Zusammen-Weben solcher klischeehafter Stereotype manifestiere sich, so Hoffmann, ferner auch ein Rekurs auf Inhalt und Rhetorik prominenter Reisebeschreibungen aus dem 19. Jahrhundert, wie sie beispielsweise in Schilderungen der Grand Tour – so etwa bei Goethe oder Ruskin – bestimmend waren.213 In der Tradition solcher durch Pittoresken geprägter Reiseberichte tendieren auch noch »jüngere« Publikationen wie die ›Italian Hours‹ in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts offenkundig dazu, die beobachteten Alltagsszenen auf Reisen als Idealisierung zu begreifen und dadurch eine Blindstelle für die diesen Szenen zugrundeliegenden sozialen Bedingungen und Bedingtheiten zu erzeugen.214 Dieses um quasi-imperialistische Alterisierung und Distanznahme bemühte und zugleich überaus populäre Literaturgenre ließe sich folglich im Sinne eines Kontrapunkts begreifen, an dem sich nicht zuletzt auch die zeitgenössisch zeni-

211 212

Ebd. S. 76-77. Agnes Hoffmann, »›Those Primitive Hours‹. Vom Kind als Künstler bei Henry James«, in Colloquium Helveticum 44, Primitivismus Intermedial, hg. von Nicola Gess, Christian Moser und Markus Winkler (Bielefeld, 2015), S. 43-67. Hier S. 48. 213 Vgl. Ebd. S. 49. 214 Vgl. Andrea Voß, Reisen erzählen. Erzählrhetorik, Intertextualität und Gebrauchsfunktionen des adligen Bildungsreiseberichts in der Neuzeit (Heidelberg, 2016). S. 37. Sowie Eguchi, Ethical Aestheticism in the Early Works of Henry James. S. 16.

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tistische Zivilisationskritik entzündet hat.215 Billers »barbarisierte« und dadurch aus zenitistischer Perspektive deutlich nostrifizierter wirkende Kinderfiguren böten dahingehend eingängige motivische Anknüpfungspunkte für ein solches Programm des Zivilisationskritischen mit anti-westeuropäischem Impetus. Während im James’schen Reisebericht sowohl die Parameter des »kindlich Wilden« als auch des »Venezianischen« als pittoresker Ausweis vermeintlicher Andersartigkeit fungieren, scheint Billers Figuren- und Motivtableau auf dem ›Markt‹-Blatt der Venedig-Serie hingegen durch die Kontrastgehalte der Ungleichheit sowie der an die Zentralsemantik des Barbarischen anknüpfenden Kindlichkeit einer nostrifizierenden, zenitistisch-zivilisationskritischen Lesart grundsätzlich offenzustehen. Billers ›Markt‹ bietet, obschon nicht unmittelbar als explizite Kapitalismuskritik im Bilde lesbar, dennoch einen Vexierpunkt für das zenitistische Verständnis einer Zivilisationskritik mit anti-kapitalistischen, anti-imperialistischen und antiwesteuropäischen Dimensionen, der auch jenseits der dezidierten Zenit-Arbeiten der Künstlerin solche Nostrifizierungsmomente nahelegt. *** Im folgenden Kapitel werden, im Sinne einer Ergänzung der bereits etablierten Bedeutungsdimensionen des Biller’schen Kindlichen und dessen Identifikationsund Legitimationspotenzialen für Künstlerinnenschaft, die bis heute prävalenten Fremd- und Selbstzuschreibungen Billers – als Jugoslawin, als jüdische Künstlerin – verstärkt in den Fokus der Untersuchung rücken und diese wiederum analytisch ans Bildmaterial rückgekoppelt werden.

215

Zum zenitistischen Anti-Imperialismus vgl. exemplarisch Micićs Auseinandersetzung mit der französischen Marokko-Politik der 1920er Jahre in Ljubomir Micić, »Мароко и опет за спас цивилизација. Империјализам je библија Европа и Европejaцa/Maroko i opet za spas civilizacija. Imperijalizam je biblija Evropa i Evropejaca (»Marokko und wieder für die Rettung der Zivilisation. Der Imperialismus ist die Bibel Europas und der Europäer«)«, Zenit, Nr. 37 (1925), o. S. [S. 3-6].

4. Biller als Jugoslawin, Biller als jüdische Künstlerin Selbst- und Fremdzuschreibungen zwischen Balkan und Byzanz

In der einzigen, heute noch erhalten Selbstbeschreibung Billers – ein auf den 16.01.1924 datierbarer und auf Deutsch formulierter Brief an Ljubomir Micić – hält die Künstlerin fest: »Ich bin noch immer den Tatsachen nach eine Jugoslawin. Ich wurde in Kroatien geboren und meine erste Sprache war Kroatisch. Meine Mutter [Malvina Kugel, Anm. MW] ist ebenso Jugoslawin.«1 Informiert durch diese Selbstbeschreibung aus Billers Feder, die angesichts der transnationalen und von Hybridität geprägten Biografie der Künstlerin zunächst einmal verwundert, werden im Folgenden die Implikationen dieser Selbstverortung »im Jugoslawischen« analysiert werden. Die Diskrepanz zwischen Billers Betonung ihrer vermeintlichen Erstsprache Kroatisch und der hier von ihr gewählten Korrespondenzsprache (Deutsch, statt BKS) im Austausch mit Micić – als Ansprechpartner und Repräsentant der jugoslawischen Zenit-Avantgarde in Belgrad2 – fällt dabei ins Auge. Von ihrem Berliner Wohnsitz aus zeigt sich Biller um eine eigene, dezidiert »jugoslawische« Sprecherinnenposition bemüht, die sie argumentativ sowohl von ihrem Geburtsort als auch über eine Mutter-Tochter-Genealogie ableitet. Diese Eigenbeschreibung »im Jugoslawischen«, statt innerhalb einer der »Teilethnien« der SHS (beispielsweise: »im Kroatischen«) ließe sich indes als ein weiteres Beispiel für die von Benjamin Gordiejew in seiner Studie herausgearbeitete erhöhte Bereitschaft jüdischer (und meist transnational orientierter) Bevölkerungsschichten in der SHS

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Vgl. Quellenteil I. Ljubomir Micić sprach nachweislich nur wenig/kaum Deutsch. Die Übersetzungen aus dem Deutschen (und aus dem Französischen) für die Textproduktion im Zenit-Magazin übernahm meist die mit ihm verheiratete Künstlerin Anuška Micić, geb. Kohen, oft unter dem Pseudonym Nina-Naj. Vgl. Subotić und Golubović, Zenit 1921-1926. S. 66-67. Vgl. weiterführend den bislang unpublizierten Vortrag von Žarka Svirčev, The Zenithist Woman am East Central European Center des Harriman Institutes der Columbia University vom 06.04.2021, online einsehbar unter: https://youtu.be/7EhmBJHX-LM (letzter Aufruf: 07.09.2021).

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Vjera Biller und das Kindliche

zur persönlichen Identifizierung mit der Idee des Jugoslavenstvo im Sinne einer (ethnischen, konfessionellen, kulturellen sowie sprachlichen) Vielfalt und Hybridität in der staatlichen Einheit anführen.3 Billers Selbstbeschreibung in Briefform geht überdies ihrer erstmaligen Teilnahme an einer Zenit-Ausstellung, der 1924 von Micić persönlich in Belgrad organisierten Werkschau, unmittelbar voraus. Die augenscheinliche Betonung der eigenen jugoslawischen Herkunft könnte dementsprechend also auch dem ausdrücklichen Teilnahmewunsch der Künstlerin geschuldet sein, die damit aufgrund der eigenen Exilantinnen-Position in Berlin sowie ihrer österreichischen Staatsbürgerinnenschaft um die Formulierung von inhaltlichen Deckungsgleichheiten mit dem Zenitismus als selbsternannte »Balkan-Avantgarde« bemüht wäre. Obschon sich Micićs Antwortschreiben nicht auffinden lässt, so liefert der Ausstellungskatalog der besagten Zenit-Ausstellung von 1924 dennoch einige wichtige Anhaltspunkte für die anschließende Präsentation und Rezeption Billers im Zenit. Diese Indizien allerdings verkomplizieren die eigene Selbstbeschreibung der Künstlerin – »den Tatsachen nach eine Jugoslawin« – noch weiter bzw. unterwandern sie sogar an einigen Stellen.4 Denn der für die Kuration der Schau nach nationalen Schulen verantwortlich zeichnende Micić,5 weist Biller – an der Seite weiterer Zenitisten wie Foretić, Gecan und Klek – die Kategorie »Срб., C.X.C«/»Srb., S.H.S.«6 zu und verortet die Künstlerin damit entgegen ihrer eigenen Selbstbeschreibung des Supranationalen vielmehr innerhalb einer als dezidiert serbisch apostrophierten Kunstproduktion. Ungeachtet der von Biller explizit an Micić kommunizierten Identifikation als Jugoslawin werden ihre Arbeiten hier in eine Kategorie des Nationalen eingepasst: in die »des Serbischen«, das noch dazu in Micićs Verständnis als Hauptkurator stellvertretend für die gesamte Kunstproduktion der SHS zu stehen scheint. Anklänge an ein solches

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Vgl. Paul Benjamin Gordiejew, Voices of Yugoslav Jewry (New York, 1999). S. 143: »Yugoslavia and Yugoslavism were contradictions to most Yugoslav peoples, but not to the Jews. Being without a territory and dispersed throughout the country, and having their own Yugoslav oriented federal organization, many of the Jews of Yugoslavia, especially those in the capital of Belgrade, saw Yugoslavia and Yugoslav unity [Jugoslavenstvo] as a real possibility and pursued it to a much greater extent than did other Yugoslav peoples.« Vgl. Micić, »Воимја Зенитизма. Каталог Прве зенитове међународне изложбе у Београду 1924 г./Vo Imja Zenitizma. Katalog Prve zenitove međunarodne izložbe u Beogradu 1924 g.«. o. S. [S. 3]. Vgl. Ebd. S. 3: »Америка – Amerique, Белгија – Belgique, Бугарска – Bulgarie, Данска – Danemark, Француска – France, Холандија – Hollande, Мађарска – Hongrie, Немачка – Allemagne, Русија – Russie, СРБ., СХС. – Serbie, S.H.S., Италија – Italie.« Vgl. Ebd. S. 3: »Srb[ije]., [Kraljevina] S[rba].H[rvata].S[lovenaca].« (»Serb[ien]., [Königreich der] S[erben]. K[roaten].S[lowenen]«).

4. Biller als Jugoslawin, Biller als jüdische Künstlerin

Hegemonieverständnis werden in der Betonung und Erstnennung »des Serbischen« in der Titelgebung der von Micić entworfenen Landeskategorie des SHS offenkundig, in der als Präfixe weder »das Kroatische« noch »das Slowenische« Erwähnung finden. Billers erstes In-Erscheinung-Treten als Zenitistin ist folglich im Rahmen dieser Ausstellungsteilnahme 1924 in Belgrad unmittelbar an ihre, von Micić forcierte Rezeption als vermeintlich serbische Künstlerin geknüpft. Diese, die eigene Selbstbeschreibung unterwandernde, vermeintlich serbische Künstlerinnenschaft Billers wiederum scheint dann, in unmittelbarer Folge ihres Eintritts in die zenitistische Kommunikationsgemeinschaft, alle weiteren Erfolge und Sichtbarkeiten überhaupt erst ermöglicht zu haben. Welche Erklärungsansätze lassen sich jenseits der erhaltenen Briefkorrespondenz, die Aufschluss über die Multidimensionalität sowie anfängliche Prekarität von Billers Künstlerinnenschaft gibt, für eine solche, von Widersprüchen geprägte Rezeption als »serbische Zenitistin« mit Blick ins noch erhaltene Bildmaterial identifizieren?

4.1

›Piazza San Marco‹, Neo-Byzantinismus und Billers zeitgenössische Rezeption als serbische Zenitistin

Zur Beantwortung dieser Frage wird dieses Kapitel den Begriff des Byzantinischen ins Spiel bringen, dessen Rezeption innerhalb des Zenit-Programms im Rahmen nativistischer, revitalistischer sowie mithin nationalistischer Ursprungsdiskurse dem Schlagwort »Byzanz« eine zentrale Stellung zuweist. Das Byzantinische erfährt innerhalb dieser avantgardistisch-modernistischen (Wieder-)Aufarbeitung im Zenitismus zudem eine Gleichsetzung mit »dem Serbischen«, dessen nationale Kunst- und Architekturtradition – allen voran in den Bereichen des Sakralbaus (insbesondere anhand von Kuppelformen) sowie des Mediums Mosaik – als vermeintlich authentische Ausprägung »des Ur-Balkanischen« reüssiert (Kapitel 4.1.2). Billers primitivistische Kunstpraxis mit ihrer archaisch anmutenden Ästhetik – dazu gehören: die deutliche Schematisierung der Darstellungen, der Verzicht auf zentralperspektivisch »korrekte« und damit als westeuropäisch »modern« gelesene Verkürzungen bzw. Krümmungen sowie eine auffällige Flächigkeit der Bildebene, die ganz ohne die Betonung von Tiefe und Volumen auskommt – lässt sich vor diesem zeitgenössisch relevanten Hintergrund folglich als NeoByzantinismus interpretieren, der – in zenitistischer Lesart – ihre Erstrezeption als vermeintliche Vertreterin einer serbischen Kunsttradition begünstigt und katalysiert haben mag. Zusätzlich verstärkt haben dürfte sich diese Rezeption im Zenitismus jedoch auch durch Billers eigene Motivwahl. Denn über die prominente Ins-Bild-Setzung des Markusdoms in Venedig auf dem Blatt ›Piazza San Marco‹ werden explizite ikonografische Schnittmengen mit zeitgenössischen (westeuropäisch geprägten) Byzanz-Diskursen bereitgestellt, in denen sich, im Anschluss

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Vjera Biller und das Kindliche

an John Ruskins diskursereignishafte Studien The Stones of Venice (1851-53),7 die Basilica di San Marco in den 1910er und frühen 1920er Jahren als baugeschichtliche »Erbin des Byzantinischen« weiter hatte etablieren können.8 In komparatistischer Perspektive und anhand des Vergleichs mit den MosaikAusstattungen im Innern der Basilica di San Marco wird zu zeigen sein, dass sich die charakteristischen Gestaltungsmittel der Biller’schen Kinderfiguren auf diesem Blatt sowohl auf kompositorischer als auch auf ästhetischer Ebene an eben diese als besonders byzantinisch apostrophierte Bebilderungspraxis des Mosaiks rückbinden lassen (Kapitel 4.1.3). Billers Neo-Byzantinismus, der ihre Künstlerinnenschaft im Zenitismus begünstigt, wäre damit im Sinne Roland Betancourts und Maria Taroutinas als ein weiteres sprechendes Exempel für die Funktionalisierung von Byzanz als stilistische bzw. semantische Methode der Moderne zu deuten.9 Im Sinne einer Hinführung soll vor dem Einstieg in die Bildanalysen jedoch zunächst eine schlaglichtartige Skizzierung der diskursiven Leitfäden des nationalistisch aufgeladenen Serbo-Byzantinismus im Belgrad der 1920er Jahre im Allgemeinen sowie im Zenitismus im Besonderen erfolgen, um ein umfassendes Verständnis der sich daraus schließenden Argumentationsführung zu gewährleisten.

4.1.1

Byzanz als Vehikel »serbischer Nationalkultur« in den 1920er Jahren

Der Verweis auf Byzanz als Synonym für eine nationalistisch aufgeladene Kunstund Kulturtradition Serbiens ließe sich in baugeschichtlicher Perspektive schlaglichtartig bereits anhand solch vielbeachteter »Großereignisse« wie der Pariser Weltausstellung (1900)10 sowie der schon mehrfach erwähnten L’Esposizione di Roma (1911) sowie der L’Esposizione di Torino (1911) aufzeigen. Denn in der Baugestalt des Länderpavillons Serbiens in Turin kehren in diesen auf internationale Außenwirkung abzielenden Kontexten des Zu-sehen-Gebens mit archaisierendem Impetus die byzantinisierten architektonischen Merkmale mittelalterlicher Kuppelkirchen

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Vgl. weiterführend: Sarah Quill, Ruskin’s Venice. The Stones Revisited (Farnham, 2015). Vgl. Otto Demus, Die Mosaiken von San Marco in Venedig (1100-1300) (Baden bei Wien, 1935). S. 7. Vgl. Betancourt und Taroutina, Byzantium/Modernism. The Byzantine as Method in Modernity. S. 10-12. Vgl. weiterführend: Ada Hajdu, »The Pavilions of Greece, Serbia, Romania and Bulgaria at the 1900 Exposition Universelle in Paris«, in Balkan Heritages: Negotiating History and Culture, hg. von Maria Couroucli und Tchadvar Marinov (Farnham, 2015), 47-76. Sowie Ada Hajdu, »The Search for National Architectural Styles in Serbia, Romania, and Bulgaria from the MidNineteenth Century to World War I.«, in Entangled Histories of the Balkans, Bd. 4, hg. von Rumen Daskalov, Diana Mishkova, Tchavdar Marinov und Alexander Vezenkov (Leiden/Boston, 2017), S. 394-439.

4. Biller als Jugoslawin, Biller als jüdische Künstlerin

wieder.11 Solche byzantinisierenden Gestaltungsmittel werden beispielsweise nicht nur in der Organisation des zentralen Ausstellungsraumes, sondern auch im Rahmen der Fassadengestaltung aufgegriffen.12 Bereits zuvor waren im Rahmen der sog. »Hansenatica« byzantinisierte und byzantinisierende Bauformen des Historismus von bei Theophil Hansen an der Wiener Akademie studierten Architekt:innen im Belgrader Kontext im Sinne eines kulturellen Re-Imports etabliert worden.13 Auch jenseits des Felds der Architektur ist von Diana Mishkova jüngst auf derart politisierte und sich ab der Mitte der 1920er zunehmend verstärkende Konvergenzlinien zwischen Byzantinisierung, Mediävalisierung und Balkanisierung hinsichtlich der nation building Prozesse auf dem Balkan hingewiesen worden: »The great majority of avowed ›balkanologists‹ in that period, whether linguists, historians or literary scholars, were Middle-Age experts. Next to the exigencies related to the creation of the national (historical and literary) canons, the special interest in the medieval period by the most prominent Balkan scholars had much to do with the upsurge of Byzantine studies in Europe and within the region. Many of the leading Balkan historians were trained as byzantinologists in [sic!] western European or Russian universities. Between 1927 and 1934, international Byzantine studies congresses and conferences were held in Belgrade, Athens, Bucharest and Sofia.«14 Die fachlichen wie ideologischen Überschneidungen in den akademischen Disziplinen der Balkanologie, der Mediävistik sowie der Byzanz-Studien verdichten sich folglich, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des 1927 in Belgrad abgehaltenen und international vielbeachteten Deuxième Congrès international des études byzantines,15 zu einem zentralen Diskursmuster, das die Rekonstruktion oder vielmehr Imagination einer serbischen Vergangenheit – im Sinne eines einheitsstiftenden NationalMythos – zum Ziel habe. An einer solchen Perpetuierung des Serbo-Byzantinismus besitzen ferner auch die Disziplinen der Archäologie und der Kunstgeschichte keinen geringen Anteil: Fachvertreter wie Miloje Vasić, »the sovereign master of Ser-

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Vgl. Zimmermann, »Ausstellungswesen und transnationales nation building im Ersten und Zweiten Jugoslawien«. S. 230. Sowie Aleksandar Ignjatović, Jugoslovenstvo u arhitekturi 19041941 (Belgrad, 2007). S. 82f. Vgl. Makuljević, »Jugoslawien vor Jugoslawien. Südslawische Brüderlichkeit unter Künstlern«. S. 223. Vgl. Miodrag Jovanović, »Teofil Hanzen, ›hanzenatika‹ i Hanzenovi srpski učenici«, Zbornik Za Likovne Umetnosti, Nr. 21 (1985), S. 235-258. Mishkova, Beyond Balkanism. The Scholarly Politics of Region Making. S. 77. Vgl. Lidija Merenik, Vladimir Simić und Igor Borozan, Hg., Imagining the Past. The Reception of the Middle Ages in Serbian Art from the 18th to the 21st Century (Belgrad, 2016). S. 22-25.

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Vjera Biller und das Kindliche

bian archaeology in the first half of the twentieth century«,16 oder Jovan Cvijić propagieren und popularisieren die These eines vermeintlich ursprünglichen und damit unüberwindbaren Kulturbruches auf »dem Balkan« zwischen dem römisch geprägten Westen (dem heutigen Slowenien, Kroatien) und dem byzantinischen Osten (dem heutigen Serbien, Nord-Mazedonien, Montenegro und Kosovo),17 dessen Anfänge mithin bis in die neolithische Periode rückprojiziert werden.18 Der slowenische Anthropologe Niko Županić hatte beispielsweise bereits einige Jahre zuvor seine sog. »ethnogenetische Methode« im Fachkanon der Anthropologie verankert und damit über den inhaltlichen Konnex zwischen Kultur, Ethnizität und anthropologischer Forschungspraxis die Grundlage für eine »serbische National-Anthropologie« gelegt.19 Entsprechende anthropologische sowie archäologische Ausgrabungs- und Forschungsaktivitäten befördern zwischen 1910 und 1930 die Popularisierung des Serbo-Byzantinismus als nationale wie kulturelle Zugehörigkeitsbeschreibung auch im breiteren Gesellschaftsdiskurs über die jeweiligen Fachgrenzen hinaus.20 Die semantische Erschließung und Diskursivierung des Byzantinischen im Sinne einer serbischen Nationalkultur ist dabei ferner, wie Branislav Pantelić herausgearbeitet hat, über einen besonders wirkungsvollen diskursiven Ausschlusskonsens organisiert.21 Denn sowohl die slowenische als auch die kroatische Kulturtradition könnten, nicht zuletzt aufgrund ihrer Assoziation mit West-Rom (Katholizismus) sowie mit der Habsburger Doppelmonarchie, ausschließlich

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Mishkova, Beyond Balkanism. The Scholarly Politics of Region Making. S. 52. Vasić war, sicherlich nicht zufällig, bereits als Chefkurator für die 1904 veranstaltete erste Ausstellung dezidierter »Balkan-Kunst« in Belgrad verantwortlich gewesen. Vgl. Kapitel 2.2.1. Ähnliche und sich in den 1920er Jahren nun zunehmend verstärkende dahingehende Argumentationsmuster waren bereits in Dimitrije Mitrinovićs Ausstellungskritik anlässlich der Esposizione di Roma von 1911 konstatiert worden. Vgl. Kapitel 2.2.1. Vgl. Jovan Cvijić, »The Zones of Civilization of the Balkan Peninsula«, Geographical Review, Nr. 5/6 (1918), S. 470-482. Sowie zur fachlich-historischen Diskursivierung desselben: Aleksandar Palavestra und Monika Milosavljević, »Delo Jovana Cvijića i Vladimira Dvornikovića kroz prizmu srpske arheologije«, Etnoantropološki problemi, Nr. 10/3 (2015), S. 619-649. Vgl. Christian Promitzer, »Vermessene Körper. ›Rassenkundliche‹ Grenzziehungen im südöstlichen Europa«, in Europa und die Grenzen im Kopf, hg. von Karl Kaser, Dagmar GramshammerHohl und Robert Pichler (Ljubljana/Klagenfurt/Wien, 2003), S. 365-393. Vgl. weiterführend Rory Yeomans, »Of ›Yugoslav Barbarians‹ and Croatian Gentlemen Scholars. Nationalist Ideology and Racial Anthropology in Interwar Yugoslavia«, in Blood and Homeland. Eugenics and Racial Nationalism in Central and Southeast Europe 1900-1940, hg. von Marius Turda und Paul J. Weindling (Budapest/New York, 2007), S. 83-122. Vgl. Mishkova, Beyond Balkanism. The Scholarly Politics of Region Making. S. 63f. Vgl. Branislav Pantelić, »Nationalism and Architecture. The Creation of a National Style in Serbian Architecture and its Political Implications«, Journal of the Society of Architectural Historians, Nr. 56 (1997), S. 16-41.

4. Biller als Jugoslawin, Biller als jüdische Künstlerin

als abgrenzende Negativfolien für das serbische nation building funktionalisiert werden.22 Über den nationalistisch aufgeladenen Serbo-Byzantinismus, der im Verlauf der 1920er Jahre zunehmend auch konfessionelle Abgrenzungsargumente stark mache und sich auf die serbisch-orthodoxe Kirche als vermeintliche »Bewahrerin des Byzantinischen« berufe, würden zugleich sowohl die muslimische Kulturtradition als auch die vielfältigen jüdischen Perspektiven auf »dem Balkan« in ihrer Historizität negiert und damit disqualifiziert.23 Mittels solcher, konfessionell begründeter Exklusionsmechanismen wäre in der Folge der Etablierung eines historisch brüchigen »Serbentums« Vorschub geleistet, das sich selbst in kultureller wie religiöser Hinsicht als homogen imaginiert und zunehmend eine Hegemonialstellung im Staatengefüge der SHS beanspruche.24 Der zenitistische Byzanz-Diskurs der 1920er Jahre, dessen begriffliche und inhaltliche Referenzpunkte sich mittels des erneuten Blicks ins Zenit-Magazin eruieren lassen, ist hingegen zunächst von einem deutlich anti-konfessionellen und anti-klerikalen Impetus geprägt, der der marxistischen Weltanschauung und Ausrichtung dieser Avantgardebewegung näher zu stehen scheint.25 Über die architekturgeschichtliche Beschäftigung mit Sakralbauten, insbesondere in Auseinandersetzung mit Kuppelformen auf Pendentifs als Merkmal der byzantinischen und sukzessive als »serbisch« imaginierten Architekturtradition,26 findet der SerboByzantinismus jedoch, wie im Anschluss an Jelena Bogdanovićs Studie im Folgenden gezeigt werden soll, ebenfalls programmatischen Eingang in den Mikrokosmos des Zenitismus.27

4.1.2

Modernistisch-avantgardistische Byzanz-Rezeption im Zenitismus

In dieser Hinsicht hat sich der 1925 von Ljubomir Micić veröffentlichte Essay ›Београд без архитектуре/Beograd bez arhitekture‹ (»Belgrad ohne Architektur«)28 als besonders aufschlussreich erwiesen. Hier finden sich, wie Bogdanović betont,

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Vgl. Ebd. S. 36. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. S. 37-38. Gleichzeitig weisen Micićs von esoterischen und theosophischen Bezügen geprägte Manifeste insofern religiöse Komponenten auf, als hier die Kunst des Zenitismus als »neue« Religion installiert werden soll. Vgl. Jelena Bogdanović, »Evocations of Byzantium in Zenitist AvantGarde Architecture«, Journal of the Society of Architectural Historians, Nr. 75 (2016), S. 299-317. Hier S. 304. Vgl. Aleksandar Kadijević, Jedan vek traženja nacionalnog stila u srpskoj arhitekturi. Sredina XIXsredina XX veka (Belgrad, 2007). S. 91f. Vgl. Bogdanović, »Evocations of Byzantium in Zenitist Avant-Garde Architecture«. S. 303f. Vgl. Ljubomir Micić, »Београд без архитектуре/Beograd bez arhitekture«, Zenit, Nr. 37 (1925), o. S. [S. 18-19].

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nicht nur zahlreiche innertextliche Referenzen zur Kuppelarchitektur der Hagia Sophia, der ehemaligen byzantinischen Hauptkirche und somit der Primärreferenz für byzantinische Sakralbauten in den serbo-nationalistischen Diskursfeldern der Zeit.29 Sondern darüber hinaus zeige sich auch besonders deutlich Micićs Bemühen um eine »Zenitisierung« des Byzantinischen im nationalistischen Register »des Balkanischen«, also des »Serbischen«. Vor allem in den beiden bereits 1924 veröffentlichten Entwürfen für das sog. »Zeniteum« – einem (nie umgesetzten) zenitistischen Symbolbau – lassen sich, wie Bogdanović darlegt, besonders explizite Rekurse aufs Byzantinische nachweisen.30 Denn die von Jo Klek (Josip Seisel), dem einzigen studierten Architekten des Zenit-Zirkels, geplante Bauform und Ausgestaltung des Zeniteums beinhaltet in beiden Entwürfen prominente Byzantinisierungen, die sich in der augenscheinlichen Verwendung von Kuppel-Elementen manifestieren.31 Im Gegensatz zu Kleks Arbeit ›Villa Zenit‹, die, so Bogdanović, insgesamt deutlich konstruktivistischeren Charakter besitzt,32 folgen die Entwürfe ›Zeniteum I‹ (Abb. 33) und ›Zeniteum II‹ (Abb. 34) einer modernistisch-avantgardistischen Re-Interpretation byzantinischer Formsprachen.33 Beide weisen einen kreisrunden Grundriss auf, von dem aus mehrere Geschosse nach oben streben. ›Zeniteum I‹ besteht dabei aus vier aufeinander folgenden Geschossen in Form von Tambouren, die nach oben hin kleiner werden und von einer letzten, fünften Flachkuppel abschließend überwölbt sind. Ein entlang der Mittelachse des Gebäudes zentrierter Treppengang verbindet mittels des einzigen und im 2. sowie 4. Stockwerk von Rundbögen überspannten Eingangs alle Geschosse miteinander und durchbricht jedes davon frontal. Die prominente Positionierung dieser aufstrebenden Treppenkonstruktion hat indes Anlass zu divergierenden kunst- und architekturhistorischen Interpretationen gegeben, nicht zuletzt, da sich abstrahierte Treppensymbole als Piktogramme auch im Allgemeinen überaus häufig in der Typografie des Zenit-Magazins identifizieren lassen. So macht beispielsweise die Gesamtgestaltung der jeweiligen Deckblätter der Ausgaben 11 von Februar 1922 bis 14 von Mai 1922 Gebrauch von stilisierten Treppensymbolen, die, so Bogdanović, in Abbreviatur die in den zenitistischen Manifesten proklamierte Eins-Werdung von Mikro- und Metakosmos im Sinne eines Aufwärtsstrebens hier sinnbildlich im

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Vgl. Pantelić, »Nationalism and Architecture. The Creation of a National Style in Serbian Architecture and its Political Implications«. S. 40. Vgl. Bogdanović, »Evocations of Byzantium in Zenitist Avant-Garde Architecture«. S. 304. Vgl. Ebd. S. 305ff. Vgl. Jo Klek: ›Villa Zenit‹ (1924-25), Zeichnung (Tusche und Wasserfarbe auf Papier), 39,03 cm x 29,04 cm, Serbisches Nationalmuseum Belgrad; siehe auch die Reproduktion in Zenit, Nr. 36 (Oktober 1925), o. S. [S. 2]. Vgl. Jo Klek: ›Zeniteum I‹, in: Zenit, Nr. 35 (Dezember 1924), o. S. [S. 6]. Und Jo Klek: ›Zeniteum II‹, in: Zenit, Nr. 35 (Dezember 1924), o. S. [S. 9].

4. Biller als Jugoslawin, Biller als jüdische Künstlerin

Treppensymbol zur Anschauung bringe.34 Einen weiteren möglichen Interpretationsansatz hinsichtlich der in Kleks Entwurf für das erste Zeniteum so prägnanten Treppenkonstruktion liefert Bogdanović im Anschluss: »As I see it, the pseudo-Byzantine dome of the first Zeniteum is an expression of the ›circle of the whole‹ […]. Its stairs, framed by round Roman-Byzantine arches, may evoke religious intellectual and spiritual quests or the pilgrimage steps on Mount Sinai […]. The Ladder of Divine Ascent, a seminal Byzantine text by John Klimakos, may have been another inspiration.«35 Mit Verweis auf die Bildsprache religiöser Erkenntnissuche, die häufig die Metapher eines mühevollen Treppenaufstiegs bemühe, nennt Bogdanović hier die Pilgerstufen am Berg Sinai als möglichen Inspirationsimpuls für Kleks Konzeption. Daneben – und angesichts der in Belgrad in den 1920er Jahren verstärkt entlang von Konfessionsgrenzen geführten nationalistischen Byzanz-Diskurse naheliegender – könnte dieser Umstand, so die Autorin, auch auf die Rezeption des kanonischen Texts des byzantinischen Heiligen und Schriftgelehrten Johannes Klimakos (genannt: »Johannes von der Leiter«) zurückzuführen sein. Dieser war wiederum im Rahmen von Hugo Balls 1923 erschienener Schrift auch bereits im dezidiert avantgardistischen Kontext des Dada rezipiert worden.36 Auf dem Weg zur Vollkommenheit im christlichen Verständnis beschreibt Klimakos in seinem Hauptwerk ›Klímax tou paradeísou‹ (in der lateinischen Übersetzung: ›Scala paradisi‹) und in Anlehnung an den in Gen 28, 10-19 geschilderten Traum Jakobs von der Himmelsleiter den Aufstieg eines Mönches himmelwärts über 30 Leitersprossen, an dessen Ende die direkte Konfrontation mit G’tt steht.37 Fragmente dieses Traktats wurden, so Tatiana Popova, in die sog. »Kleinen Philokalie« übernommen, einem auch in der serbisch-orthodoxen Kirche weit verbreiteten Andachts- und Gebetsbuch, sowie alljährlich an Klimakos‹ Festtag am 30. März im Rahmen der Liturgie verlesen.38 Die bereits angerissenen Anleihen des zenitistischen Programms bei Esoterik und Theosophie für dessen Verständnis des Byzantinischen sind als ideologische sowie architektonische Querverweise indes sowohl von Esther Levinger als auch von Bogdanović ausführlicher behandelt worden.39 Dahingehend ließe sich insbesondere auf Rudolf Steiners ›Goetheanum I‹ im Schweizerischen Dornach verwei-

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Vgl. Bogdanović, »Evocations of Byzantium in Zenitist Avant-Garde Architecture«. S. 307. Ebd. Vgl. Hugo Ball, Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben (München, 1923). Vgl. Tatiana Popova, Die ›Leiter zum Paradies‹ des Johannes Klimakos. Katalog der slavischen Handschriften (Wien, 2012). S. 801. Vgl. Ebd. S. 796-797. Vgl. Esther Levinger, »Ljubomir Micić and the Zenitist Utopia«.

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sen, das von 1913 bis 1919 Bestand hatte.40 Bereits auf der Ebene der Namensgebung bestünde, so Bogdanović, eine eindeutige Referenz zwischen beiden Bauten, obschon das Klek’sche Zeniteum im Gegensatz zum Goetheanum Steiners weder in der einen noch der anderen Entwurfsform tatsächlich seine bauliche Umsetzung erfahren hat: »Like the Zeniteum, the better-known Goetheanum borrowed from both avantgarde and Byzantine architecture. Both projects used large domes and, in particular, the unusual intersection of several domes. The first Goetheanum (1913-19) appeared as an axial composition of two intersecting domes of unequal size […]. Their form resembled the vaulting system of Hagia Sophia, where the massive central dome is flanked by two smaller semidomes along the east-west axis, or the two unequally sized domes of the Church of Archangel Michael in the 12th-century monastery Pantokrator (today Zeyrek Camii) in Istanbul […]. The first Zeniteum project had a massive single, stepped dome, yet the second iteration revealed an experimentation with domical structures and verticality, with its three attenuated domes stacked on top of one another.«41 Insbesondere die Häufung von sich überschneidenden Kuppelformen in der Ausgestaltung von Goetheanum und Zeniteum I und II würde belastbare Anhaltspunkte für eine modernistisch-avantgardistische Rezeption des Byzantinischen liefern, die einer Re-Aktualisierung der Bauformen der Hagia Sophia – jenem von Micić wiederholt in seinem Leitartikel ›Beograd bez arhitekture‹ referenzierten Prunkbau – sowie der heutigen Zeyrek Camii in Istanbul folgen. Der Entwurf für das Zeniteum II hingegen scheint von einem deutlich experimentelleren Zugang Kleks in der modifizierenden Emanation der zenitistisch-byzantinischen Kuppel geprägt zu sein, denn die Gesamtkomposition wirkt bereits auf den ersten Blick stärker in die Vertikale verlagert. Eine Abfolge dreier durch Arkaden durchbrochener und gebildeter Kuppeln, die durch diese Feingliederung ein geradezu »organisch« wirkendes und an Insektenwaben erinnerndes Aussehen erhalten, bestimmt diesen zweiten Entwurf Kleks. Versehen mit quadratischen Überbauten und Strebebögen, die gleichsam als Dachkonstruktion sowie als Stützelement für die darauffolgenden Kuppeln der jeweils nächsten Ebene dienen, wird der Aufbau in seiner Abfolge rhythmisiert und erinnert in der organisch wirkenden

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Vgl. hierzu grundlegend: Rainer Köllner, Beschreibung und kritische Betrachtung der Anfänge und der Entwicklung anthroposophischer Architektur. Dissertation (Berlin, 1981). Die Rezeptionsgeschichte anthroposophischer Architektur im US-amerikanischen Raum wurde umfassend aufgearbeitet in Roberta Mayer und Mark Sfirri, »Early Expressions of Anthroposophical Design in America: The Influence of Rudolf Steiner and Fritz Westhoff on Wharton Esherick«, The Journal of Modern Craft, Nr. 2/3 (2009), 299-323. Bogdanović, »Evocations of Byzantium in Zenitist Avant-Garde Architecture«. S. 309.

4. Biller als Jugoslawin, Biller als jüdische Künstlerin

Ausgestaltung fast an die vom Art Nouveau geprägten Entwürfe eines Lavirotte, Guimard oder Gaudí. Während Bogdanović die oberste, also dritte Kuppel aufgrund der vermeintlich fehlenden Arkadengliederung als »ohne strukturierende Unterteilungen«42 bezeichnet, zeigt die Reproduktion des Klek’schen Entwurfs in der Zenit-Ausgabe Nr. 35 vom Dezember 1924 bei genauerem Hinsehen ganz deutlich eben jene Rundbögen, die auch die übrigen Kuppeln aufweisen.43 Als zeitgenössisch relevanter Inspirationsfundus für diesen zweiten Entwurf Kleks sind im Kontext der Zwischenkriegsavantgarden derweil die Arbeiten Bruno Tauts, allen voran das ›Glashaus‹ von 1914 sowie dessen Skizzen für die sog. »Stadtkrone« oder das »Haus des Himmels« im ›Frühlicht‹ aus dem Jahre 1920, stark gemacht worden.44 Die Etablierung eines Serbo-Byzantinismus ist im Zenit fernerhin besonders eng an die Person Ljubomir Micićs geknüpft, dem als Hauptakteur und Gründungsfigur der Bewegung mehrfach der Vorwurf einer offenkundig nationalchauvinistischen Agenda gemacht wurde. Die Inhalte von Micić programmatischer Polemik ›Антиевропа/Antievropa‹ (»Anti-Europa«) aus dem Jahre 1925 lassen diesen Schluss durchaus zu.45 Auch längst nach dem Verbot des ZenitMagazins veröffentlichte Micić serbisch-nationalistische Formate, beispielsweise das ›Манифест Србијанства/Manifest Srbijanstva‹ (»Manifest des Serbentums«) 1936 in Dubrovnik46 sowie das 1940 von ihm selbst gegründete nationalistische Journal ›Србијанство/Srbijanstvo‹ (»Serbentum«) in Belgrad. Als ältester und sich überaus stark mit der Nationalkategorie »des Serbischen« identifizierender Sohn einer Familie mit bescheidenen Mitteln wird Micić 1895 im damals noch österreichisch-ungarischen Sošice (heute Kroatien) geboren.47 Die Zagreber Universität verlässt er 1918 mit einem Diplom-Abschluss in Philosophie und widmet sich im Anschluss avantgardistischen Aktivitäten, die gemeinsam mit dem jüngeren Bruder Branislav (Branko Ve Poljanski) zur Gründung des Zenit im Jahre 1921 führen.48 Sowohl Micić Sozialisation, Identifikation und Radikalisierung als Angehöriger der serbischen Minderheit in Sošice und Zagreb als auch sein bereits früh einsetzendes Interesse an nationalistischen und »serbo-byzantinischen« The-

42 43 44 45 46 47 48

Ebd. S. 307. Vgl. Ebd. S. 310. Vgl. Ebd. S. 307. Sowie David Nielsen, Bruno Taut’s Design Inspiration for the Glashaus (London, 2016). Vgl. Micić, Antievropa. S. 1-10. Dieses »Serbische Manifest« findet sich im Original abgedruckt in Nikola Marinković, Daj nam Bože municije. Srpska avangarda na braniku otadžbine (Belgrad, 2013). S. 111-129. Vgl. Siegel, In unseren Seelen flattern schwarze Flaggen. Serbische Avantgarde 1918-1939. S. 16. Vgl. Ebd. S. 88f.

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Vjera Biller und das Kindliche

men, insbesondere im Feld der Architekturgeschichte, sind kontrovers diskutiert worden.49 Wie die oben skizzierte Rekapitulation der modernistisch-avantgardistischen Byzanz-Rezeption im Zenitismus gezeigt hat, ist diese insbesondere um eine architekturhistorische Auseinandersetzung mit dem östlich-christlichen Sakralbau – Hagia Sophia, Zeniteum I und II – und dessen Rundbogen- und Kuppelformen organisiert. Entlang des bereits in den Feldern der Kunstkritik (Mitronović) sowie der akademischen Archäologie und Kunstgeschichte (Vasić)50 verhandelten und in Belgrad zwischen 1920-1925 längst etablierten ethnifizierenden Diskursschemas einer unterstellten Kulturopposition zwischen »dem Westlich-Kroatischen« und »dem Östlich-Serbischen« auf der Landkarte des Balkans, wird »das Byzantinische« von Micić ebenfalls vornehmlich als ein für die eigene Nationalidentität vereinnahmter Balkanismus, Archaismus und Serbo-Byzantinismus argumentativ ins Feld geführt.51 Dabei bleibt die zenitistische Byzanz-Rezeption stets um eine deutliche Abgrenzung zum bisweilen ebenfalls byzantinisierenden, eklektizistischen Architekturrepertoire des Historismus des späten 19. Jahrhunderts bemüht, der besonders mit dem Stadtbild Wiens assoziiert wird.52 *** Ein weiterer, wegweisender Konnex des zenitistischen Serbo-Byzantinismus, der in Bogdanovićs Ausführungen keinerlei Erwähnung findet, aber für die meinerseits forcierte Bildanalyse und Untersuchung der an Billers Rezeption als serbische Zenitistin geknüpften Potenziale von Künstlerinnenschaft zentral wird, ist die Semantik »des Italienischen«. Bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt verlagert sich das architekturhistorische Interesse der Zenit:istinnen am Sakralbau im Sinne einer geografischen Verschiebung vom Balkan in die italienische Sphäre. Dies ließe sich exemplarisch anhand von Boško Tokins Beitrag ›Рим/Купола Светог Петра/Rim/Kupola Svetog Petra‹ (»Rom/Die Kuppel St. Peters«) von 1921 über den

49

50 51 52

Vgl. Vidosava Golubović, »Časopis Zenit. Biografije saradnika zenita«, in Zenit 1921-1926, hg. von Irina Subotić und Vidosava Golubović (Belgrad, 2012), S. 15-44. Sowie Marjanović, »Zenit. Peripatetic Discourses of Ljubomir Micić and Branko Ve Poljanski«. Vgl. Kapitel 2.2.1. Vgl. Micić, »Београд без архитектуре/Beograd bez arhitekture«. S. 18. Sowie exemplarisch auch: Micić, »Papiga i monopol ›hrvatska kultura‹«. S. 6-7. Vgl. Bogdanović, »Evocations of Byzantium in Zenitist Avant-Garde Architecture«, S. 314. Aleksandar Kadijević, »Evokacije i parafraze vizantijskog graditeljstva u srpskoj arhitekturi od 1918. do 1941. godine«, in Niš and Byzantinum II, hg. von Miša Rakocija (Niš, 2004), S. 379394. Hier S. 388. Weiterführend zur architekturhistorischen Byzanz-Rezeption in Westeuropa und den USA vgl. Marie-France Auzépy, Hg., Byzance en Europe (Saint-Denis, 2003). Sowie J.B. Bullen, Byzantium Rediscovered. The Byzantine Revival in Europe and America (London, 2003).

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Petersdom in Rom im Zenit-Magazin belegen.53 Schon vier Jahre vor Micićs programmatischem Essay ›Belgrad ohne Architektur‹ ist hier abermals die architekturgeschichtliche Auseinandersetzung mit der Kuppelform tonangebend.54 Angesichts der kontinuierlichen Um- und Weiterbauten des Gebäudes deutet Tokin den Petersdom im Sinne einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als Paradebeispiel so unterschiedlicher Epochen wie der Römischen, der Byzantinischen sowie der »Renaissance«55 . Neben der Aufweichung tradierter (kunst-)geschichtlicher Kategorien,56 folgt diese zenitistische Auseinandersetzung mit einem primären Referenzbau der westeuropäischen Architekturgeschichte – dem Petersdom in Rom – einem im weitesten Sinne interventionistischen Impetus, der um die Einschreibung des Anderen (»Fremden«, »Eigenen«, Nicht-Westeuropäischen, »Balkanischen«) in den Kunst- und Kulturkanon Westeuropas bemüht bleibt.57 Rom scheint dabei gleich in zweifacher Hinsicht bedeutsam für ein solches Unterfangen der »Balkanisierung« und »Zenitisierung«: Eine der prominentesten Darstellungen der serbischen Ikonenmalerei aus dem späten 13. Jahrhundert zeigt sowohl die beiden Schutzheiligen Roms – den Hl. Peter und den Hl. Paul – als auch das Stifterinnenportrait der serbischen Königinmutter Helena von Anjou, die später ebenfalls die Heiligsprechung in der serbisch-orthodoxen Kirche erlangte.58 Deren Söhne – Dragutin, trotz seiner Abdankung als König Serbiens im Jahre 1282 weiterhin als Schlüsselfigur der mittelalterlichen Nationalgeschichte reüssierend, und Milutin, in der Nachfolge seines Bruders seit 1282 Regent des serbischen Königreichs und zur epischen Heldenfigur verklärt – sind ebenfalls im Fürbittgestus dargestellt: »(…) both (…) are dressed unmistakably as Byzantine emperors with the imperial loros and crown. Royal lineage is here cast in explicit Byzantine visual terms (…).«59 Die von Helena von Anjou in Auftrag gegebene Ikone, die mittels ihrer Inschriften in Altkirchenslawisch die beiden gezeigten Heiligen eindeutig identifiziert, wurde indes aller Wahrscheinlichkeit nach als diplomatisches Geschenk an 53 54

55 56 57 58 59

Vgl. Boško Tokin, »Рим/Купола Светог Петра/Rim/Kupola Svetog Petra«, Zenit, Nr. 5 (1921), S. 3-4. »Tokin emphasized the way the Byzantine dome combines painting, sculpture, relief, architecture, music, poetry, and visual poetry. The dome of Saint Peter’s in Rome became a paradigm for what Byzantine architecture meant to the Zenitists. Micić’s interest in the Byzantine concept of space manifested in his focus on monumental reinterpretations of the dome and the wall. For him, the Byzantine dome is a pure form that should be the ›head‹ of the building.« Bogdanović, »Evocations of Byzantium in Zenitist Avant-Garde Architecture«. S. 304. Tokin, »Рим/Купола Светог Петра/Rim/Kupola Svetog Petra«. S. 4 Vgl. Bogdanović, »Evocations of Byzantium in Zenitist Avant-Garde Architecture«. S. 304. Vgl. Kapitel 2.2.1 Vgl. Helen Evans, Hg., Byzantium. Faith and Power (1261-1557), Ausst.Kat. Metropolitan Museum of Art, New York (New Haven/London, 2004). S. 50. Cecily J. Hilsdale, Byzantine Art and Diplomacy in an Age of Decline (New York, 2014). S. 288.

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Papst Nikolas IV. versandt, befindet sich noch heute in der päpstlichen Sammlung des Vatikans in Rom und »triangulates, in varying ways, Byzantium, Serbia and Rome«.60 Mit Verweis auf diese zentrale und von Momenten der Mediävalisierung sowie der Mythologisierung geprägte Bedeutung Roms für die mittelalterlich-serbische Historie sowie für eine daraus abgeleitete nationale Heldenepik und Kirchengeschichte wird der »zenitistische Blick nach Italien« intelligibel. Dieses bereits im Zenit etablierte und um den Impetus des Einschreibens kreisende Interesse an einer »Zenitisierung des Italienischen« könnte indes auch Vjera Billers Rezeption als vermeintlich serbische Zenitistin ab 1924 begünstigt haben. Billers Venedig-Serie – allen voran das Blatt ›Piazza San Marco‹ (Abb. 5), das die ikonische und als dezidiert byzantinisch gelesene Baugestalt des wohl prominentesten Sakralbaus der Stadt explizit aufruft – erscheint vor diesem Hintergrund geradezu topisch zenitistisch. Nicht ganz zufällig wirkt überdies Billers konzise Betonung ihres Lebensmittelpunkts in Opatija, seit dem 19. Jahrhundert ein mondäner Kurort des (ehemals) Habsburgischen Bildungs- und Großbürgertums an der Adria-Küste, im Kontext ihrer Zenit-Aktivitäten ab 1924. Die Nennung Opatijas mit der italienischen Ortsbezeichnung »Abbazia« wird dabei zum wichtigen Bestandteil von Billers künstlerischer Namenssignatur im Kontext ihrer Zenit-Veröffentlichungen.61 Bereits in einem auf den 8.12.1923 datierten Brief an Micić legt die Künstlerin überdies schriftlich offen, »nach Opatija in Italien«62 reisen zu wollen. Am 03.03.1924 berichtet Biller von den Schwierigkeiten beim Erhalt eines Visums.63 Noch drei Jahre später, in einer auf den 29.01.1927 datierten Korrespondenz mit Micić, der zudem nachweislich im engen Kontakt mit Schlüsselfiguren des italienischen Futurismus stand,64 gibt die Künstlerin ihre Wohnadresse mit »Vjera Biller/Abbazia/Villa Vesna/Italia« an.65 Von dort aus wäre Venedig per Eisenbahn via der schon Mitte des 19. Jahrhunderts eröffneten Direktverbindung zwischen Rijeka/OpatijaTriest in unter fünf Stunden Fahrtzeit zu erreichen gewesen.66 Nach Kriegsende 1918 war zudem der Fährbetrieb zwischen dem italienischen und dem jugoslawischen Festland wieder aufgenommen worden: Von Rijeka, Pula, Rovinj, Poreč und Umag verkehrten täglich mehrere Schiffe Richtung Ancona, Bari, Ravenna und Ve-

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64 65 66

Vgl. Ebd. S. 286. Vgl. Zenit, Nr. 38 (1926), o. S. [S. 3]. Vgl. Vjera Biller an Ljubomir Micić, 8.12.1923. Vgl. Vjera Biller an Ljubomir Micić, 3.03.1924: »Mit nächster Woche Montag wollte ich schon nach Opatija gereist sein, und habe deshalb heute ein Visum für Italien beantragt, das aber nurmehr am 28./III. fertig wird, sodass ich erst Ende dieses Monats werde fahren können.« Vgl. Subotić, »Zenitism, Futurism. Similarities and Differences«. Vgl. Vjera Biller an Ljubomir Micić, 29.01.1927. Vgl. Marina Cattaruzza, Italy and its Eastern Border, 1866-2016 (London, 2018). S. 245.

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nedig.67 Ein Venedig-Aufenthalt der Künstlerin scheint folglich durchaus plausibel und könnte – verstärkt durch den bürgerlichen Habitus von Billers Familie als Teil der assimilierten, deutschsprachigen Aschkenasim in der ehemaligen Doppelmonarchie – möglicherweise auch im Zusammenhang stehen mit dem Influx an touristischen Reisegästen anlässlich der Biennale-Schau 1924, die eine Diskursspitze innerhalb der zeitgenössischen Primitivismusdebatten der Zwischenkriegsavantgarden markiert.68 Denn im Rahmen dieser Ausstellung wurden unter der Leitung von Carlo Anti als »primitiv« apostrophierte Kunstobjekte (vor allem senegalesische und äthiopische Plastiken) – einem größeren Publikum präsentiert.69 Letztlich muss jedoch, in Ermangelung historiografischer Nachweise und Belege, ungeklärt bleiben, ob Biller die Serenissima tatsächlich jemals selbst besucht hat oder ob sie aus der Ferne – noch in Berlin lebend – Venedig-Projektionen bildhaft zur Anschauung bringt.70 Wie lassen sich, dessen ungeachtet, Billers Venedig-Serie als Künstlerinnenschaft ermöglichende bildkünstlerische Arbeiten im Neo-Byzantinismus verorten? An welchen Stellen können mittels Bildanalyse Momente der Ermöglichung und der Überschneidung mit der zenitistisch-avantgardistischen Byzanz-Rezeption extrapoliert werden? Kurz: Wie macht sich Biller das Byzantinische als »Methode in der Moderne«71 zu eigen? Um diese Fragen zu beantworten, wird im Folgenden Billers Arbeit ›Piazza San Marco‹, die die ikonische Gestalt des Markusdoms als Hintergrund für ihre charakteristischen Kinderfiguren visualisiert, im Fokus stehen und in komparatistischer Perspektive mit dem Mosaikprogramm des Markusdoms konfrontiert werden.

4.1.3

›Piazza San Marco‹ und das Mosaikprogramm des Markusdoms

›Piazza San Marco‹ (Abb. 5) gibt in der perspektivischen Flucht zwischen zwei durch die Ränder des Bildfelds beschnittenen Gebäudefragmenten den Blick auf den Markusdom frei, vor dem die zwei Kinderfiguren, in einer sie umringenden Schar Vögel platziert, zu sehen sind. Der den Bildhintergrund dominierende Markusdom zeigt dessen charakteristische Fassade, deren Frontseite aus einer Folge von fünf Rundbögen besteht, von denen der dritte und mittlere sich in Größe und Ausgestaltung von den übrigen unterscheidet: Er ist größer, dominanter und weist einen deutlich ausdifferenzierteren Schmuckgiebel auf, dessen Ränder flammenar67 68 69 70

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Vgl. Ebd. S. 246. Vgl. Re, »›Barbari civilizzatissimi‹. Marinetti and the Futurist Myth of Barbarism«. S. 361-362. Vgl. Ebd. Entlang dieser Zeitachse bestünde somit die Möglichkeit, Billers bislang auf 1921-22 datierte Venedig-Serie an den brieflich dokumentierten Aufenthalt an der Adria ab 1924 rückzubinden und damit entsprechend um zwei/drei Jahre nachzudatieren. Vgl. Betancourt und Taroutina, Byzantium/Modernism. The Byzantine as Method in Modernity.

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tig wirken und der sich zu einem Kielbogen verjüngt. Über der Bogenzone werden die prägnanten Kuppeln der Markusbasilika wiedergegeben, deren Farbdichte im Abzug des Biller’schen Schwarzlinienschnitts variiert. So finden sich zum Kuppelzenit hin hellweiße Farbfelder. Die mit Laternen ausgestatteten Kuppeln San Marcos, die in situ als Schirm- oder Melonenkuppel ausgeformt sind, werden von Biller indes in Form eines Spitzdachs ins Bild gesetzt und weichen somit von der originalen Baugestalt ab. Der offene Teil der Laterne, soll heißen jener Teil, der kein Licht reflektiert, ist zudem dunkel wiedergegeben. Diese Kuppellaternen markieren den Übergang der jeweiligen Kuppel zu den diesen aufgesetzten Spießlanzetten. Die drei dargestellten Lanzetten münden an ihrem oberen Ende in lateinische Kreuzformen, die den gesamten Bildraum des Hintergrunds oberhalb der Kuppeln gliedern und rhythmisieren. Eine auffallende, konsequente Zweiteilung des Bildraums auf Kompositionsebene sticht ins Auge, denn die soeben beschriebene Markuskirche nimmt den gesamten oberen Teil des Bildfeldes ein, während der untere Teil den beiden Kinderfiguren Billers zugeordnet ist. Als dritte Zone fungiert die prominente Rahmung des Bildgeschehens durch Architekturversatzstücke zur Linken und zur Rechten der Komposition. Zu-sehen-Gegeben ist links eine fünfteilige Gebäudefassade, deren unterste Zone eine Arkadengliederung anzudeuten scheint und auf die, nach der Wiedergabe eines durch Schraffuren differenzierten Rundfensters, zwei weitere Fenstergeschosse mit schwarzen Fenstern und Balkonen folgen. Auf der rechten Seite befindet sich eine in die Höhe strebende Turmdarstellung, die mit einem Zeltdach abschließt und mittels ihrer stilisierten Fassadengliederung – fast bis zur Turmspitze reichende Blendbögen auf Pilastern sowie die darin schießschartenartig verteilten Rundbogenfenster sowie die angedeuteten Arkadenöffnungen – überaus deutlich an die ikonische Baugestalt des Campanile auf der Piazza San Marco in Venedig erinnert. Bei dem Gebäudeteil zur Linken handelt es sich, aufgrund der gegenüberliegenden Positionierung zum Campanile sowie der prominenten Arkadengliederung im unteren Bereich und der von Biller als stilisiertes Bullauge wiedergegebenen Sternzeichenuhr um die Torre dell’Orologio, den Uhrturm San Marcos. Billers Kinderfiguren wiederrum, die in dieser Arbeit über die gezeigte Kleidung als ein Mädchen (im Kleid) und als ein Junge (in Hosen) vergeschlechtlicht werden, befinden sich in einer Gruppe Vögel und sind im Begriff, diese sie umringenden Tiere zu füttern. Die linke Mädchenfigur beugt sich mit gekrümmtem Rücken hinunter, um mit der rechten Hand den Vögeln Futter zu geben. Direkt gegenüber ist die Jungenfigur mit kurzen Hosen und Matrosenhemd platziert. Beiden Figuren ist darüber hinaus die innerbildlich vermittelte Blickrichtung gemein, die die zu ihren nackten Füßen sitzende Vogelschar fokussiert. Dieser Bodenbereich bleibt allerdings eine nicht weiter ausdifferenzierte weiße Fläche. Die Tiere wiederum wirken überaus stilisiert, insofern alle 19 Exemplare in Seitenansicht

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sitzend und mit angelegten Flügeln oder aber im Falle zweier »Ausnahmen« in Seitenansicht fliegend dargestellt sind. Diese im Fliegen gezeigten Vögel Billers sind gekennzeichnet durch eine stark horizontalisierte Körperform sowie ausgebreitete Flügel, deren aufgestellte Flugfedern überstilisiert gezackt wirken und damit an dieser Stelle eine gestalterische Verbindung zu den von weiteren Zackenformen dominierten Architekturversatzstücken der Markuskirche im Hintergrund aufzurufen scheinen. Zudem weisen diese Tierdarstellungen im Modus des Fliegens eine augenfällige perspektivische Dopplung der Flügel auf, die dazu führt, dass die dadurch geradezu cherubimartig wirkenden Vögel zwei oder mehr Flügelpaare zu besitzen scheinen. Sitzende Vögel hingegen finden sich in der durch die beiden Kinderfiguren in zwei Hälften geteilten Gruppe von Tieren auf beiden Seiten, teilweise in exakt gespiegelter und dadurch fast schablonenhaft anmutender Form. Ein Vogel allerdings sitzt auf dem gebeugten Rücken der Mädchenfigur zur Linken und besitzt eine vergleichsweise »expressive« Körperhaltung, insofern der Vogel in der besonders für Tauben typischen Haltung den Hals umwendet. Sowohl die soeben beschriebenen Architekturdarstellungen als auch die Figurengestaltung des Blattes ›Piazza San Marco‹ lassen sich angesichts der zeitgenössisch-zenitistischen Rezeption Billers als serbische Zenitistin im Sinne eines NeoByzantinismus interpretieren. Zugleich ist dieser mit Betancourt und Taroutina als eine ästhetische und semantische Methode in der Moderne zu verstehen, die an ein ganz bestimmtes, orts- und zeithistorisch spezifisches Byzanz-Verständnis rückgekoppelt bleibt.72 Auf der Grundlage eines sich bis weit in die 1920er Jahre hinein intensivierenden Interesses am Medium Mosaik in der (deutschsprachigen) Byzantinistik, der Kunstgeschichte, der angewandten Architektur und – wie in Billers Falle – im Feld des Avantgardistischen, ließe sich eine solche diskursive Rückkopplung vornehmen.73 Mit Otto Demus‹ diskursereignishaften und Mitte der 1920er Jahre begonnenen Studien zu den Mosaiken von San Marco74 etabliert sich indes die Gleichsetzung zwischen Byzanz, Mosaik und Markuskirche im Sinne eines wirkmächtigen und nicht zuletzt durch Ruskins Schriften informierten westeuropäischen Forschungsparadigmas.75 Über den Verweis auf die engen architektur- und kulturgeschichtlichen Verbindungen zwischen Venedig und dem 72 73 74

75

Vgl. Betancourt und Taroutina, Byzantium/Modernism. The Byzantine as Method in Modernity. S. 2-3. Vgl. Bullen, Byzantinum Rediscovered. The Byzantine Revival in Europe and America. S. 34-54. Vgl. Demus, Die Mosaiken von San Marco in Venedig. Im Anschluss an diese Dissertation zu den Mosaiken San Marcos aus dem Jahre 1927, die erst 1935 veröffentlicht wird, folgt Otto Demus, Byzantine Mosaic Decoration (London, 1947). Sowie schließlich das vierbändige Kompendium Otto Demus, The Mosaics of San Marco in Venice, Bd. I-IV (Chicago/London, 1984). Letzteres gilt bis heute als Standardreferenz. Vgl. Ian Verstegen, »Otto Demus, Byzantine Art and the Spatial Icon«, Journal of Art Historiography, Nr. 19 (2018), S. 1-24.

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Byzantinischen Reich wird der Markusdom mit seinem Mosaikprogramm als paradigmatisches Baubeispiel »des Byzantinischen« im italienischen Raum herangezogen und argumentativ ins Feld geführt.76 Als ikonografische und gestalterische Relate rücken Billers prominente Ins-Bild-Setzung des Markusdoms sowie ihre als Neo-Byzantinismus lesbar werdende Darstellungspraxis folglich in die Nähe dieses prävalenten Interesses am Mosaik in der Moderne. Auf welche Art und Weise sich solche Schnittmengen zwischen dem Mosaikprogramm des Markusdoms und Billers Blatt ›Piazza San Marco‹ in Bezug auf Architektur- und Figurendarstellung manifestieren, wird im Folgenden analysiert. Das Mosaikprogramm der Basilica di San Marco, das hier im Sinne eines Inspirationsfundus einer modernistisch-avantgardistischen Rekapitulation veranschlagt wird, stellt sich indes als ein überaus heterogener Komplex dar. Als nachgewiesen gilt allenthalben, dass ab dem 11. Jahrhundert im Verlauf der voranschreitenden Innenraumgestaltung San Marcos Mosaik-Werkstätten mit der Ausschmückung des Kircheninnenraums beauftragt wurden.77 Dokumentarisch überliefert ist, dass Mosaiktesserae aus Konstantinopel nach Venedig importiert wurden.78 Es existieren mehrere verstreute Erwähnungen, unter anderem bei Vasari, dass »griechische«79 (soll heißen: byzantinische) Mosaizist:innen in San Marco tätig gewesen sein sollen. Künstlerisch sollen die Ursprünge im gleichen Umfeld wurzeln wie Hosios Loukas – das Lukaskloster, das neben unter anderem Daphni und Nea Moni eine der bedeutendsten Mosaikausstattungen der mittelbyzantinischen Zeit aufweist80 – oder die Sophienkirche in Kiew.81 Das Mosaikprogramm San Marcos könne folglich als Ergebnis der Zusammenarbeit unterschiedlicher und nur schwer zu unterscheidenden Mosaizist:innen aufgefasst werden, die unter der Ägide hochspezialisierter und arrivierter byzantinischer »Meister« byzantinische Darstellungstraditionen in Venedig umsetzten:82 »This leaves the implicit arguments

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Vgl. Ebd. S. 4. Vgl. Demus, The Mosaics of San Marco in Venice. Bd. 1. S. 2. Vgl. Liz James, »Mosaic Matters. Questions of Manufacturing and Mosaicists in the Mosaics of San Marco, Venice«, in San Marco, Byzantium, and the Myths of Venice, hg. von Henry Maguire und Robert Nelson (Washington, D.C., 2010), 227-244. Hier S. 230. Vgl. Ebd. 236-237. Kritisch zu hinterfragen bliebe an dieser Stelle die Nationalzuschreibung »griechisch« seitens der Autoren, in einer Zeit, in der die griechische Nationalstaatsgründung 1821-30 noch in weiter Ferne liegt. Vgl. Ernst Diez und Otto Demus, Byzantine Mosaics in Greece. Hosios Lucas and Daphni (Cambridge, 1931). Vgl. James, »Mosaic Matters. Questions of Manufacturing and Mosaicists in the Mosaics of San Marco, Venice«. S. 228-229 mit einer Auflistung gängiger Vergleichsbeispiele. So das immer noch gängige Argument, das einer stilistischen Analyse nach Demus folgt, vgl. Demus, The Mosaics of San Marco in Venice.

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that because mosaic is a Byzantine art form and because the mosaics ›look Byzantine‹, the mosaicists must have been Byzantine.«83 Die nun folgende Bildanalyse, die unter Zuhilfenahme dieses Mosaikprogramms Billers künstlerische Praxis als Neo-Byzantinismus auslotet, wird sich folglich primär auf eben diese primär aus dem 12.-13. Jahrhundert stammenden und auch in den zeitgenössischen Byzanz-Rekursen der 1920er Jahre als vermeintliche Stilbeweise reüssierenden »ur-byzantinischen« Mosaiken konzentrieren.84 Kritisch anzumerken bliebe an dieser Stelle jedoch, dass im Mosaikprogramm des Markusdoms bereits im 19. Jahrhundert umfangreiche und durchaus kritikwürdige Restaurierungen vorgenommen wurden.85 So lässt sich nachweisen, dass in den 1850er Jahren zahlreiche Bereiche der aus dem Mittelalter stammenden Mosaiken – insbesondere die Köpfe der dargestellten Figuren – durch zeitgenössische Kopien ersetzt und Teile dieser Originalausstattung auf dem Antiquitätenmarkt verkauft wurden.86 Ein zur selben Zeit virulent werdender Mangel an Restaurierungsmaterial, vor allem an Mosaiksteinen, habe zudem Probleme bereitet und zur unsachgemäßen Ausführung beigetragen.87 Die Re-Restaurierung der soeben skizzierten Veränderungen am Mosaikprogramm der Markuskirche aus dem 19. Jahrhundert dauerte indes bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts an88 und verunmöglicht somit streng genommen jeglichen Bezug auf einen vermeintlich »authentischen« Urzustand dieser als »ursprünglich-byzantinisch« diskursivierten Mosaiken. *** Ein augenscheinlicher Nexus zwischen Billers ›Piazza San Marco‹ und den Gestaltungsmerkmalen der Mosaiken San Marcos liegt in der Hinwendung zu Schematisierung, Repetition, Zweidimensionalität und Flächigkeit. Aus der zeitgenös83 84

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Ebd. S. 237. Vgl. Verstegen, »Otto Demus, Byzantine Art and the Spatial Icon«. S. 22. Zur Kritik solcher Stilbeweise vgl. James, »Mosaic Matters. Questions of Manufacturing and Mosaicists in the Mosaics of San Marco, Venice«. S. 228: »It is worth examining how greatly the conclusions drawn by scholars about both the manufacture of the mosaics and their mosaicists have been colored by our ideological – and circular – readings of those mosaics. Where this question is considered at all, most of the literature assumes that the mosaicists and the materials – the tesserae – came from Byzantium. But are such assumptions based on anything more sophisticated than a simple equation of mosaic equals Byzantine art form, therefore mosaicists equal Byzantines?" Vgl. Robert Nelson, »The History of Legends and the Legends of History. The Pilastri Acritani in Venice«, in San Marco, Byzantium, and the Myths of Venice, hg. von Henry Maguire und Robert Nelson (Washington, D.C., 2010), 63-90. Hier S. 87-88. Vgl. Ebd. Vgl. Demus, The Mosaics of San Marco in Venice. Bd. 1. S. 16. Vgl. Ebd. S. 17.

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sischen Sicht einer vornehmlich im Medium des Linoleumschnitts arbeitenden Künstlerin würde »das Byzantinische« damit im Sinne eines Neo-Byzantinismus mit deutlich archaisierenden und primitivistischen Anklängen umrissen und dadurch wiederum an das von solchen nativistischen Tendenzen geprägte Programm des Zenitismus herangerückt. Billers Neo-Byzantinismus kann dabei vor allem als Reduktion und Geometrisation begriffen werden, die sich gestalterisch beispielsweise in der Darstellung der Kinderkörper artikuliert. Diese bestehen bei näherer Betrachtung aus der Zusammensetzung von einzelnen, mehr oder weniger deutlich abgesetzten geometrischen Grundformen: der hell-weiße Kopf (Kreis) mit einem Ring aus schwarzem Bubikopf-Deckhaar (Halbkreis), der Torso (eine Segmentbogenform) sowie zwei stark schematisierte Beinpaare, die ausschließlich in strenger Seiten- oder Halbseitenansicht und unter Verzicht auf jegliche Ausdifferenzierung der menschlichen Anatomie gezeigt werden. Letzteres wird umso augenscheinlicher, da Billers Kinderfiguren hier – wie auf den übrigen Blättern der Venedig-Serie – barfuß in Erscheinung treten und den Füßen jede innerbildliche Andeutung von Zehen fehlt. Mit Blick auf das Mosaikprogramm San Marcos lassen sich diesbezüglich frappierende Ähnlichkeiten auf Kompositionsebene mit der rechten Figurengruppe der Wunderheilung des Stacteus durch den Hl. Johannes in der Nordkuppel konstatieren.89 Die Darstellung menschlicher Extremitäten ist im Falle der der Wunderheilung beiwohnenden Menschengruppe ebenfalls gekennzeichnet durch Flächigkeit, Dopplung, Schematisierung und eine auffällige »Zehenlosigkeit«. Die hier gezeigten und anatomisch nicht weiter ausdifferenzierten Figurenbeine laufen einfach in einem abgeflachten und nach vorne hin sich spitz verjüngenden Fußteil zusammen (Abb. 35). Wie in der Biller’schen Konzeption stehen auch diese Bildfiguren in einer innerbildlich und kompositorisch nicht näher definierten, im Mosaik auf Goldgrund platzierten, unstrukturierten Planfläche. Die durch die strenge Seitenansicht zustande kommende Staffelung der unteren Extremitäten führt indes, wie im Falle der rechts angeordneten Jungenfiguren der Wunderheilungsdarstellung, dazu, dass beide perspektivisch regelrecht zu einem einzigen Standbein zu verschmelzen scheinen. Im Sinne eines allgemeineren Gestaltungsmusters des Mosaikprogramms findet sich eine solche künstlerische Behandlung menschlicher Beinpaare ebenfalls in den Figurengruppen der Josephserzählung in der – nach Demus‹

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Demus, The Mosaics of San Marco in Venice. Bd. 1, Vol. 2 (»Plates«): Abb. 2 (»North dome, view from below«), Abb. 32 (»North dome: Healing of Stacteus«).

4. Biller als Jugoslawin, Biller als jüdische Künstlerin

Zählung – ersten Josephskuppel im Atrium San Marcos90 wieder (Abb. 36).91 In zyklischer Abfolge ist im Kreisrund der Kuppel u.a. die Wiederkehr von Ruben und den Brüdern Josefs zum Brunnen, dem locus delicti, wiedergegeben, an dem sie – der biblischer Erzählung folgend – feststellen müssen, dass der dort von ihnen versenkte Josef nun verschwunden ist. Die daraus resultierenden Emotionen der Verzweiflung und des Schreckens werden im Mosaik sowohl durch die hyperbolisch zum Himmel gestreckten Hände der Bruderfigur zur Rechten performiert92 als auch durch die sich ostentativ über den Brunnenrand lehnende Bruderfigur zur Linken visualisiert. Deren Wiedergabe weist aufgrund der strengen Seitenansicht erneut die gedoppelt wirkende Staffelung der unteren Extremitäten auf, die bereits Erwähnung gefunden hat und die sich hier aber besonders deutlich abzeichnet. Denn das zweite und im unsichtbaren Dahinter des Bildraums verschwindende Bein wird nun visuell durch das vage Anzeichnen einer Umrisslinie nur mehr angedeutet. Eine solche Betonung von Kontur und Umriss in der Linienführung, insbesondere mit Blick auf die Körpergestaltung von Bildfiguren, die sich dadurch umso deutlicher von der Flächigkeit des nicht weiter ausdifferenzierten Hintergrunds abheben, lässt sich folglich als Gemeinsamkeit zwischen einer als »ursprünglich-byzantinisch« apostrophierten Gestaltungspraxis im Mosaik und Billers Neo-Byzantinismus festhalten. Ferner zeigen auch weitere figurative Elemente des Blattes ›Piazza San Marco‹ stilistische Anleihen, die als Resultate eines solchen avantgardistisch-modernistischen Byzanz-Rekurses ausdeutbar sind, so etwa bei den Billers Kinderfiguren umringenden Vögeln. Denn im Mosaik der Moses-Kuppel im nördlichen Atrium San Marcos, am östlichsten Joch in der Konchenkalotte über der nördlichen Türe,93 findet sich innerhalb der Ins-Bild-Setzung von Moses Wundertaten in der Wüste eine Gruppe Vögel, die in ihrer überaus strengen und schablonenhaften Seitenansicht 90 91

92

93

Vgl. Martin Büchsel, Herbert Kessler und Rebecca Müller, Hg., The Atrium of San Marco in Venice. The Genesis and Medieval Reality of the Genesis Mosaics (Berlin, 2014). S. 28-31. Demus, The Mosaics of San Marco in Venice. Bd. 2, Vol. 2 (»Plates«): Abb. 244 (»Atrium, first Joseph cupola, view from below«) und Abb. 255 (»Atrium, first Joseph cupola: Reuben Returning to the Pit«). Henry Maguire hat in einer bereits 1977 erschienenen Studie zur Darstellung von Trauer in der mittelbyzantinischen Zeit die Unterscheidung zwischen »inner feelings« und »hyperbolic public display« als Gestaltungsformel für Emotionen der Sorge und/oder Trauer innerhalb byzantinischer Bebilderungspraxis etabliert. Beide werden von Maguire an die literarischen Genres der Ethopoiia und der Ekphrasis rückgebunden. Entlang rhetorischer Stilmittel, der Prinzipien von Antithesis und Prolepsis, wird diese Praxis im Anschluss verortet. Vgl. Henry Maguire, »The Depiction of Sorrow in Middle Byzantine Art«, Dumbarton Oaks Papers, Nr. 31 (1977), S. 123-174. Demus, The Mosaics of San Marco in Venice. Bd. 2, Vol. 2 (»Plates«): Abb. 73 (»Atrium, Moses cupola, view from below«) und Abb. 74 (»Atrium, Moses cupola, North apse: Desert Miracles of Moses«).

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sowie den schematisiert wirkenden Körperhaltungen deutlich an Billers Taubenschar auf dem Blatt ›Piazza San Marco‹ erinnern (Abb. 37). In Ergänzung dieses Interpretationsstrangs wäre fernerhin auf die geradezu ikonenhafte Wirkung von Billers Kinderfiguren hinzuweisen, die aufgrund ihrer Gleichförmigkeit und Anti-Individualität ganz spezifisches Wiedererkennungspotenzial besitzen94 und deren Ikonenhaftigkeit im Sinne eines Erkennungswerts durchaus als Moment der Byzantinisierung lesbar wäre. Insbesondere die gänzliche Vernachlässigung individueller Physiognomien sowie der augenscheinliche Verzicht auf über die Mimik anschaulich werdende Emotionen95 zugunsten von Repetition und Schematisierung in Billers Figurenkosmos der Figurengestaltung transportiert auf Gestaltungsebene solche Potenziale der Ikonenhaftigkeit mit neobyzantinischen Implikationen. Die stark schematisierten Gesichtszüge von Billers Kinderfiguren – mit mandorlaförmigen Augen, prägnanten Augenbrauen sowie stets geschlossenen, herzförmigen Lippen – entbehren jeglicher individuellen oder situationsbedingten Mimik und folgen damit einem solchen westeuropäischen Verständnis byzantinischer Ikonenhaftigkeit. Auch wird die in der byzantinischen Mosaikpraxis bevorzugte Figurenwiedergabe in Dreiviertelansicht von Biller aufgegriffen.96 Sogar der charakteristische Bubikopf der Biller’schen Kinderfiguren ließe sich, ungeachtet seiner Bedeutung als zeithistorisch politisiertes Ideologem (Kapitel 3), ebenfalls in einen solchen Neo-Byzantinismus eingliedern: Denn diese Haargestaltung mit dem klar konturierten, schwarzen Halbkreis, der sich fast helmartig ums Gesicht legt, ist nicht nur für Billers Figuren konstitutiv, sondern findet sich in auffälliger Ähnlichkeit ebenfalls unter anderem im bereits erwähnten Mosaik der Wunderheilungsszene des Stacteus innerhalb der dem Wunder beiwohnenden Menschenmenge, deren Köpfe ebenfalls auf diese Weise figuriert werden. Zudem erinnert die deutliche Betonung von Handgesten innerhalb von Billers Figurenkosmos – hier sei an das bereits analysierte Blatt ›Markt‹ (Abb. 3) der Venedig-Serie und der dort gezeigten Kleinmädchenfigur mit ausgestrecktem Zeigefinger sowie des »Großmütterchens« mit erhobener Hand erinnert – bisweilen an jene über Handzeichen organisierten Bildformeln des Emotionalen und Kommunikativen, die die byzantinische Bebilderungspraxis kennzeichnen: Emotionsvermittlung, Adressierungen und Bezugnahmen sowohl einzelner Bildfiguren untereinander als auch einzelner Bildfiguren zu den Betrachtenden gelangen dabei lediglich über Blicke und Handzeichen zur Anschauung.97 Die ebenfalls von be-

94 95 96 97

Vgl. Henry Maguire, The Icons of Their Bodies. Saints and Their Images in Byzantium (Princeton NJ, 1996). Kapitel 1 »Likeness and Definition«, S. 15-40. Vgl. Ebd. S. 64-65. Vgl. Ebd. S. 89-99. Vgl. Ebd. S. 169-178.

4. Biller als Jugoslawin, Biller als jüdische Künstlerin

deutungsvollen Handgesten geprägte Bildpraxis Billers rückt damit aufs Neue in die Nähe »des Byzantinischen«. Diese, bislang nur aufs Figürliche fokussierte Bildanalyse wird nun in einem zweiten Schritt aufs Architektonische ausgeweitet und geht anhand der eingangs beschriebenen und das Bildfeld der Arbeit ›Piazza San Marco‹ einrahmenden Architekturversatzstücke auf deren Lesbarkeiten im Sinne eines Neo-Byzantinismus ein. Billers hier gezeigte, teils perspektivisch beschnittenen Gebäudefragmente sind beschränkt auf eine reduzierte und durch die Wiedergabe der »wichtigsten« Bauteile charakterisierte Darstellung, die sich auf jene, die ikonische Wiedererkennbarkeit garantierenden Elemente sowie statisch relevanten Bauteile konzentriert. Ferner wirkt die Anordnung dieser Fragmente in der Planfläche der innerbildlichen Raumbühne überaus vereinzelt und fungiert als Rahmung für das eigentliche Bildfeld. Beide am Bildmaterial eruierten Charakteristika lassen sich im Sinne der von Elena Boeck beschriebenen Praxis der sog. »iconographic shorthand« mit byzantinischen Architekturdarstellungen und deren visueller Übersetzung von Dreidimensionalität in Zweidimensionalität in Verbindung bringen.98 Im Mosaikprogramm San Marcos, das hier als primäre Vergleichsquelle dient, lassen sich fast ident figurierte und als Bildrahmen fungierende Architekturversatzstücke99 an zahlreichen Stellen finden, so etwa in den Mosaiken des nördlichen Querhauses an Gewölbe und Westwand. Dort werden Szenen aus dem Marienleben und der Kindheit Jesu gezeigt.100 In der Visitationsszene zwischen der Hl. Maria und der Hl. Anna sowie der direkt daneben gezeigten Darstellung Marias und Josefs im Mosaik der Westwand (Abb. 38) sind solche, teilweise mit stilisierten Tüchern überhangene Architekturfragmente zu sehen, die Billers Bildelementen nicht unähnlich sind. Vor allem aber in der Gemeinschaftsszene der Hl. Maria und des Hl. Josef findet sich am linken Rand ein Gebäudeaufriss, der in der Wiedergabe eines einzigen langgezogenen Bogens an der Fassade sowie einer mit einem Zeltdach abschließenden Turm-Form überaus stark an die künstlerische Behandlung der reduzierten Campanile-Architektur auf Billers Blatt ›Piazza San Marco‹ erinnert. Fernerhin ließe sich sogar für die Ins-Bild-Setzung der ikonischen Baugestalt der Markuskirche in Billers ›Piazza San Marco‹ ein korrespondierendes

Vgl. Elena Boeck, »Constantinople. Story Spaces or Storied Imperial Places«, in Imagining the Byzantine Past. The Perception of History in the Illustrated Manuscripts of Skylitzes and Manasses (Cambridge, 2015), S. 219-250. 99 Vgl. Slobodan Ćurčić, »Architecture as Icon«, in Architecture as Icon. Perception and Representation of Architecture in Byzantine Art, hg. von Slobodan Ćurčić und Evangelia Hadjitryphonos (New Haven, CT/London, 2010), S. 3-38. Hier S. 18-19. 100 Demus, The Mosaics of San Marco in Venice. Bd. 1, Vol. 2 (»Plates«): Abb. 152 (»North transept: Visitation and Joseph Scolding Mary«). 98

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Mosaikbeispiel aus San Marco selbst anführen: die Porta Sant‹ Alipio.101 Dort, im über dem Türrahmen befindlichen Mosaik, entfaltet sich die Darstellung, wie in Billers Arbeit, vor der im Hintergrund figurierten Baugestalt der Markuskirche und ermöglicht durch das Aufrufen einer solchen architektonischen Lokalreferenz die topografisch eindeutige Zuordnung des Bildgeschehens.102 Abschließend bliebe folglich zu konstatieren, dass sich ganz zentrale, primitivistische Gestaltungspraktiken Billers, die hier exemplarisch anhand des Vergleichs zwischen ›Piazza San Marco‹ und den Mosaiken San Marcos bildanalytisch nachvollzogen wurden, sowohl auf der Ebene der Figuren als auch auf der Ebene des Architektonischen als Neo-Byzantinismus lesen lassen. Dieser wiederum böte wichtige Anknüpfungspunkte für den serbo-byzantinistisch motivierten Rekurs auf eine »Zenitisierung des Italienischen« durch den Zenit-Zirkel, der Biller folglich als vermeintliche Vertreterin einer serbischen Kunsttradition kolportiert und rezipiert. Im Sinne eines Künstlerinnenschaft überhaupt erst ermöglichenden Eintrittsmoments in die Kommunikationsgemeinschaft des Zenitismus hat auch Biller selbst Anteil an einer solchen Deutung, insofern sie sich ab 1924 auch über ihren Lebensmittelpunkt im italienisch-jugoslawischen Abbazia/Opatija als Avantgardistin in dieser Gruppe positioniert. Ein eklatanter Widerspruch zwischen der Nichtbeachtung ihrer explizit an Micić formulierten Selbstbeschreibung als Jugoslawin und der anschließenden Rezeption Billers als serbische Zenitistin bleibt weiterhin bestehen. *** Im Sinne einer Hinführung zum nächsten Kapitel, das Biller als jüdische Künstlerin in den Blick nehmen wird, soll an dieser Stelle auf eine weitere, im zeitgenössischen Kontext nicht weniger relevante Bedeutungsdimension des Schlagwortes Byzanz hingewiesen werden: dessen umfassende Inanspruchnahme als Referenz »des Jüdischen«. In dieser, primär inner-deutschen Perspektivierung korrespondiert »Byzanz« mit Verweis auf den geografischen Raum Palästina und den Vgl. Demus, The Mosaics of San Marco in Venice. Bd. 2, Vol. 2 (»Plates«): Abb. 351 (»Façade, Porta Sant’ Alipio: Mark’s Relics Transferred into Church«). Ich danke Fani Gargova für diesen Hinweis. 102 Mit Elena Boeck und Slobodan Ćurčić wäre weiterführend auf die Bedeutung solcher topografischer »Realia« in der byzantinischen Bebilderungspraxis zu verweisen: »In Byzantine art, as in medieval art in general, visualizations of site-specific urban topography were extremely rare. Representation of an architectural setting was an intentional act, as noted by Slobodan Ćurčić: ›Inclusion of architecture within pictorial representations in Byzantine art … was always a deliberate choice and never an incidental matter.‹ Site-specific iconography was reserved for spaces of special political, spiritual, and emotional importance. Iconographic legibility was associated with symbolically charged places of power.« Boeck, »Constantinople. Story Spaces or Storied Imperial Places«. S. 224. 101

4. Biller als Jugoslawin, Biller als jüdische Künstlerin

dort bereits um die Jahrhundertwende sich intensivierenden archäologischen Grabungsaktivitäten – allen voran: die sog. »Synagogen-Expedition« der Deutschen Orient-Gesellschaft im Jahre 1905, die die mit der byzantinischen Herrschaft über die Region korrespondierenden Synagogenbauten des 3.-6. Jahrhunderts in Galiläa erforschten103 – als prominente Identifikationsfigur für assimilierte Kreise des aschkenasischen Judentums. Korrespondierende und um ein solches, spezifisch deutsch-jüdisches Moment der (Selbst-)Orientalisierung kreisende Diskursmuster sind mit dem Begriff German Jewish (Self-)Orientalising in kulturwissenschaftlichen sowie judaistischen Forschungen gleichermaßen qualifiziert und analysiert worden.104 Dabei ist vor allem zunächst symptomatisch auf die Prävalenz (selbst-)orientalisierender Synagogenbauten im deutschsprachigen Raum im ausgehenden 19. Jahrhundert hingewiesen worden, die ab der Jahrhundertwende dann verstärkt einem byzantinisierenden Duktus mit weniger Ornament, reduzierter Gestaltung, mehr Raumgefüge, vor allem aber der Betonung von mehrfach hintereinander gestaffelten Kuppeln über Pendentifs folgt, etwa die 1912 fertiggestellte Charlottenburger Synagoge in der Fasanenstraße in Berlin.105 Byzanz als räumliche und stilistische Referenz »des Jüdischen« ist damit auf Architekturebene wirksam und steht im Sinne eines (mal mehr und mal weniger orientalisierenden) Primitivismus auch jenen künstlerischen (Selbst-)Artikulationen nahe, die mit dem Begriff des Jewish Primitivism von Samuel Jacob Spinner jüngst für Else Lasker-Schüler und Uri Zvi Greenberg beschrieben worden sind.106 Das Medium (Fußboden-)Mosaik wurde indes, als spezifisches und überdies archäologisch belegbares Medi-

103 Die bereits 1898 in Berlin von bekannten jüdischen Mäzenen wie James Simon gegründete Deutsche Orient-Gesellschaft (DOG) führte zwischen 1903 und 1905 Grabungen in Kapernaum und Megiddo durch. 1905 wurde unter der Leitung von Heinrich Kohl und Carl Watzinger die sog. »Synagogen-Expedition« unternommen, die in der Publikation ›Antike Synagogen in Galilaea‹ (Leipzig, 1916) mündete und ein Diskursereignis im Forschungsfeld darstellt. Vgl. Gabriele Faßbeck, »›The Longer, the More Happiness I Derive from This Undertaking‹. James Simon and Early German Research into Galilee’s Ancient Synagogues«, in Viewing Ancient Jewish Art and Archaeology. Vehinnei Rachel, Essays in Honor of Rachel Hachlili, hg. von Ann E. Killebrew und Gabriele Faßbeck (Leiden, Boston MA, 2015), S. 101-120. 104 Vgl. exemplarisch Kathrin Wittler, »›Good to Think‹. (Re-)Conceptualzing German-Jewish Orientalism«, in Orientalism, Gender, and the Jews. Literary and Artistic Transformations of European National Discourses, hg. von Ulrike Brunotte, Anna-Dorothea Ludewig und Axel Stähler (Berlin, 2015), S. 63-81. 105 Vgl. Harold Hammer-Schenk, Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. und 20. Jahrhundert (1780-1933) (Hamburg, 1981). S. 445-452. Für die Abbildung des Innenraums der Fasanenstraße-Synagoge vgl. Ebd., Abbildungsteil »Tafel III« sowie für die Gesamtanlage Abb. 390 »Berlin, Synagoge in der Fasanenstraße, 1912, Ansicht von Nordwesten, Arch. E. Hessel«. 106 Vgl. Samuel Jacob Spinner, »Else Lasker-Schüler and Uri Zvi Greenberg in ›The Society of Savage Jews‹: Art, Politics, and Primitivism«, Prooftexts, Nr. 38/1 (2020), S. 60-93.

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um der Synagogendekoration, wenig überraschend, ebenfalls im Sinne einer jüdischen architekturgeschichtlichen Tradition diskursiviert: Vor allem Marc Chagall habe, wie Ziva Amishai-Maisels argumentiert, das als byzantinische Kunstform per se reüssierende Mosaik im Sinne einer »ur-jüdischen« und damit primitivistisch ausgedeuteten Gestaltungspraxis approbiert.107 Die Chiffre Byzanz erscheint vor diesem Hintergrund folglich als ein von transnationaler sowie transideologischer Multifokalität geprägter Bedeutungskomplex mit so unterschiedlichen Zuschreibungen wie »byzantinisch-serbisch«, »byzantinisch-primitiv«, »byzantinisch-modern«, »byzantinisch-orientalisch« und, nicht zuletzt, »byzantinisch-jüdisch«. Diesen hier bereits angerissenen Konnex zum Jüdischen wird das Folgekapitel mit Blick auf Billers Kunstpraxis weitervertiefen und die Frage nach den (Un-)Möglichkeiten eines jüdischen Selbstverständnisses der Künstlerin zwischen Eigenund Fremdzuschreibung stellen. An welchen Stellen öffnet sich Billers Oeuvrefragment einer solchen Lesart, wo stößt sie an ihre inhaltlichen Grenzen? Dabei werden zwei, weitere Arbeiten Billers aus der Venedig-Serie – ›Osteria‹ (Abb. 4) und ›Spaziergang durch Venedig‹ (Abb. 2) – im Vordergrund der Bildanalysen stehen. In beiden Darstellungen lassen sich, wie zu zeigen sein wird, ikonografische Querverweise zur Semantik »des Jüdischen« herausarbeiten.

4.2

›Osteria‹ und ›Spaziergang durch Venedig‹. Jüdisches Selbstverständnis im Kontext der Berliner Sturm-Avantgarde

Potenzielle Identifikations- und Positionierungsmomente Billers als jüdische Künstlerin sind im Verlauf der bisherigen Kapitel bereits wiederholt angeklungen: Zunächst über den Nexus von Jüdischem und Neo-Byzantinismus, der Hauptgegenstand der unmittelbar vorangegangenen Argumentation war (Kapitel 4.1.ff.) sowie in Bezug zur charakteristischen Haarmode der Biller’schen Kinderfiguren: dem Bubikopf (Kapitel 3). Als transnationales Symbol der Frauenbewegung ist dieser, vor allem in den deutschsprachigen Diskursfeldern der Zwischenkriegszeit, aufs Engste mit »dem Jüdischen« assoziiert. Die zeitgenössisch antisemitische Rhetorik kolportiert ihn mithin gar als »Judikopf« oder »Judenkopf«.108 Infolgedessen wird diese spezifische Haarmode der Zeit, wie das Beispiel der Sturm-Künstlerin Else Lasker-Schüler in Berlin eindrücklich beweist, auch zu identifikatorischen Zwecken von Künstler:innen, die sich selbst als jüdisch

107 Vgl. Ziva Amishai-Maisels, Tapestries and Mosaics of Marc Chagall at the Knesset (New York, 1973). S. 8-11. 108 Vgl. Klement, »Streit um den Bubikopf, Streit um die Rolle der Frau. Antisemitismus und Antifeminismus in den deutschnationalen und völkischen Turnverbänden Mitteleuropas«. S. 198.

4. Biller als Jugoslawin, Biller als jüdische Künstlerin

identifizieren, angeeignet und performativ bespielt.109 Aufgrund der zahlreichen Künstler:innen des Sturm-Zirkels, die einer solchen Selbstpositionierung im Jüdischen folgten, wurde insbesondere diese Avantgardeströmung (nicht immer wohlwollend) als »hebräische«/jüdische Avantgarde rezipiert.110 Wie die folgende Bildanalysen zeigen werden, verdichten sich jedoch auch im weiteren Figurenkosmos Billers ikonografische Indizien für eine solche Auseinandersetzung der Künstlerin mit einer mehrdeutigen Semantik des Jüdischen, allen voran in der mehrfach wiederkehrenden Figur eines alten Mannes auf den Blättern ›Osteria‹ (Abb. 4) und ›Spaziergang durch Venedig‹ (Abb. 2). Diese Figur Billers lässt sich aufgrund ihrer künstlerischen Ausgestaltung, wie die vergleichende Konfrontation mit Arbeiten Marc Chagalls zeigen wird, ohne Weiteres in Zusammenhang bringen mit der in den Bildtextdiskursen der 1920er Jahre verstärkt als jüdische Identifikationsfigur rezipierten Ikonografie des »Alten Juden« (›Osteria‹) sowie des »Wandernden Juden« (›Spaziergang durch Venedig‹).111 Wie Lea Weik in einer ausführlichen Studie herausgearbeitet hat, gewinnt diese Motivik als Bildformel, die bisweilen zwischen antisemitischem Stereotyp und jüdischer Identifikationsfigur oszilliert, bereits seit der Jahrhundertwende zunehmend an Bedeutung.112 Vor allem im Oeuvre Marc Chagalls, der ab 1921 mehrfach gemeinsam mit Biller in der Berliner Sturm-Galerie ausgestellt wird, kommt dieser Ikonografie schließlich eine Schlüsselrolle zu. Beide Bildformeln werden zentral für Chagalls Selbstpositionierung sowie seine Rezeption als »jüdischen Künstler par excellence«.113 So hat

109 Vgl. Körner, Hebräische Avantgarde. Else Lasker-Schülers Poetologie im Kontext des Kulturzionismus. S. 288 sowie 297. 110 Vgl. Ebd. S. 35. Eine solche Selbstpositionierung im Jüdischen scheint indes noch lange nachzuwirken und zeigt sich beispielhaft in der Wahl einer Chagall-Arbeit für das Deckblatt des Mitte der 1950er Jahre von Nell Walden herausgegebenen Gedenkbuches an Herwarth Walden und den Sturm. Vgl. Walden, Der Sturm. 111 Darin widerspreche ich Mirko Ćurić, der diese Figur auf dem Blatt ›Spaziergang durch Venedig‹ zwar ebenfalls als einen »alten Juden« identifiziert, ihn in der ›Osteria‹-Darstellung hingegen als Seemann, Kapitän oder Hafenarbeiter verstanden wissen will. Vgl. Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 78 sowie S. 80. 112 »Bildliche Darstellungen des Ewigen Juden existieren bis ins 19. Jahrhundert hinein ausschließlich als Illustrationen des Legendentexts […]. Als sich schließlich christliche Künstler wie z.B. Gustav Doré oder Wilhelm Kaulbach mit der Figur auseinandersetzen, trugen sie im 19. Jahrhundert maßgeblich dazu bei, eine negative, antijüdische Wahrnehmung der Ahasver-Figur zu generieren. Ihnen gegenüber steht eine Gruppe namhafter jüdischer Maler, Grafiker und Bildhauer wie Maurycy Gottlieb, Samuel Hirszenberg, Leonid Pasternak, […] Ephraim Moses Lilien, […] Jakob Steinhardt und insbesondere Marc Chagall, die sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Figur des Ewigen Juden auseinandersetzten […].« Weik, Jüdische Künstler und das Bild des Ewigen Juden. Vom antijüdischen Stereotyp zur jüdischen Identifikationsfigur. S. 3. 113 Vgl. Ebd. S. 206.

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Benjamin Harshav darauf hingewiesen, dass wohl kaum ein anderer Künstler das ethnische, konfessionelle sowie kulturelle Zugehörigkeitsmoment zum Jüdischen derart starkgemacht und identitätslogisch besetzt habe wie Chagall mittels dieser immer wiederkehrenden Referenzfiguren.114 Chagalls Rekurs auf diese Bildformeln wird dabei zumeist aus biografischer Perspektive gedeutet und dabei auf die emphatische Auseinandersetzung mit jüdischer Lebenserfahrung im Sinne umfassender Prekarität angesichts von Gewalt- und Vertreibungserfahrungen verwiesen. Zudem wird Chagalls künstlerisches Interesse am »Alten Juden« und »Wandernden Juden« an dessen als »authentisch« jüdisch apostrophierte Sozialisation im Shtetl von Vitebsk – Chagalls Heimatstadt im heutigen Weißrussland – rückgebunden.115 Mittels dieser Ikonografie setze der nun in der Diaspora lebende Künstler folglich eben diese lebensweltlichen Erfahrungen ins Bild und reimaginiere sie, oftmals mit nostalgischem Duktus, in der eigenen Kunstpraxis. Dabei avanciert Chagall bisweilen selbst zum »Wandernden Juden«.116

4.2.1

Biller und Chagall. Ein Vergleich

Der Vergleich zwischen Biller und Chagall bietet sich allerdings nicht nur aufgrund der meinerseits in Stellung gebrachten motivischen Überschneidungen an, sondern ist zudem informiert durch die konvergierenden Kontakt- und Kommunikationsräume beider Künstler:innen im Berliner Sturm-Kontext der frühen 1920er Jahre. Herwarth Walden hatte Chagall bereits vor dem Ersten Weltkrieg protegiert und im Jahr 1914 dessen erste Einzelausstellung in der Sturm-Galerie organisiert, die die Rezeption Chagalls im breiteren Avantgardekontext Berlins und darüber hinaus katalysierte.117 Im Nachgang dieser Ausstellung waren zahlreiche Arbeiten 114 115

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Vgl. Harshav, »The Role of Language in Modern Art. On Texts and Subtexts in Chagall’s Paintings«. S. 52-53. Vgl. Wassili Rakitin, »›Mich werdet Ihr nicht finden. Das kann ich ja selbst nicht. Ich habe mein Leben verlassen, bin fortgegangen …‹. Kommentar zur ›Russischen Biografie‹ Chagalls«, in Chagall. Bilder – Träume – Theater 1908-1920. Ausst.Kat. Jüdisches Museum der Stadt Wien (Wien, 1994), S. 12-21. Sowie Karoline Hille, »›Und vielleicht wird mich Europa lieben und mit ihm mein Russland.‹ Der Grenzgänger Marc Chagall«, in Kursschwankungen. Russische Kunst im Wertesystem der europäischen Moderne, hg. von Ada Raev und Isabel Wünsche (Berlin, 2007), S. 112119. Vgl. Mirjam Rajner, »Chagall’s Jew in Bright Red«, Ars Judaica. The Bar-Ilan Journal of Jewish Art, Nr. 4 (2008), S. 61-80. Hier S. 66. Vgl. Benjamin Harshav, Marc Chagall and the Lost Jewish World (New York, 2006). S. 42f. Im Nachgang dieser Ausstellungsaktivitäten wurden Chagalls Arbeiten in der Zwischenkriegszeit auch verstärkt im Zenitismus rezipiert, so findet sich neben zahlreichen Reproduktionen einzelner Werke, in der Zenit-Ausgabe Nr. 26 aus dem Jahre 1924 beispielsweise auch der vollständige Abdruck von Franz Richard Behrens Gedicht ›Moskau‹ mit persönlicher Widmung an Marc Chagall. Vgl. Franz Richard Behrens, »Moskau«, Zenit, Nr. 26 (1924), [o. S.] S. 18.

4. Biller als Jugoslawin, Biller als jüdische Künstlerin

des Künstlers in Waldens Besitz verblieben, während Chagall nach Kriegsausbruch über Paris wieder nach Vitebsk zurückgekehrt war.118 Auch Jahre später befanden sich diese Werke Chagalls noch in Herwarth und Nell Waldens Privathaushalt in der Potsdamer Straße, wie sich anhand einer auf 1916-1918 datierten Aufnahme des Speisezimmers im Hause Walden belegen lässt, die im Hintergrund zwei großformatige Gemälde Chagalls an der Wand hängend zeigt.119 Zwischen 1921 und 1922 stellten Biller und Chagall unter der Leitung von Walden insgesamt fünf Mal gemeinsam in der Sturm-Galerie aus.120 Während Biller zwischen 1921 und 1924 nachweislich in Berlin wohnhaft war,121 ist Chagalls zweiter Berlinaufenthalt im Sommer 1922 dokumentiert.122 In dieser Zeit wurde der Künstler nicht nur im Sturm aktiv, sondern nahm zudem auch an der zeitgleich vor Ort veranstalteten ›Ersten Russischen Kunstausstellung‹ in der Galerie Diemen & Co. teil.123 Eine gegenseitige Kenntnisnahme Billers und Chagalls, vielleicht sogar im persönlichen und über Walden vermittelten Kontakt, erscheint vor diesem Hintergrund sehr wahrscheinlich, obschon sich keinerlei historiografische Nachweise erhalten haben. Eben diese Wahrscheinlichkeit zum Anlass nehmend, gilt es nun im Folgenden, mittels direkter Werkvergleiche den ikonografischen und gestalterischen Schnittmengen sowie Diskrepanzen zwischen Billers und Chagalls Auseinandersetzung mit dem Motiv des »Alten Juden« bzw. des »Wandernden Juden« nachzugehen.

4.2.1.1

Die Bildformel »Alter Jude«/»Wandernder Jude«/Ahasver als jüdische Identifikationsfigur

Die programmatische Inanspruchnahme der Motive des »Alten Juden« und des »Wandernden Juden« als ikonografische Fokalisationspunkte mit teils verschwimmenden Grenzen läßt sich im Oeuvre Chagalls exemplarisch anhand der zunächst auf 1914 datierten, wohl aber erst während Chagalls Sommeraufenthalt in Berlin 1922 entstandenen Zeichnung mit dem Titel ›Erinnerung‹ skizzieren.124 In primi-

Vgl. Harshav, Marc Chagall and the Lost Jewish World. S. 43-44. Vgl. Herwarth Walden mit seiner zweiten Frau Nell, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte (bpk), Staatsbibliothek zu Berlin, Bild-Nr. 10002673. 120 99. Sturm-Ausstellung (17. Juli bis 26. August 1921), 100. Sturm-Ausstellung (28. August bis September 1921), 103. Sturm-Ausstellung (Dezember 1921), 104. Sturm-Ausstellung (Jänner 1922) und 105. Sturm-Ausstellung (Februar 1922). Vgl. Biografische Karte im Quellenteil II. 121 Vgl. Biografische Karte im Quellenteil II. 122 Vgl. Susan Tumarkin Goodman, »Biographies of the Artists: Marc Chagall«, in Russian Jewish Artists in a Century of Change 1890-1990. Ausst. Kat. The Jewish Museum, New York, hg. von Susan Tumarkin Goodman und Ziva Amishai-Maisels (München, 1995), S. 158-159. 123 Vgl. Ebd. S. 158. 124 Marc Chagall: ›Erinnerung‹ (1914?-1922), Gouache, Tinte und Bleistift auf Papier, 31,7 x 22,3 cm, Solomon R. Guggenheim Museum, New York, Sig. 41.440. 118 119

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tivistisch anmutender Formensprache wird hier ein alter und gebückt gehender Mann mit langem Bart und Schirmmütze figuriert, der ein Haus in Miniaturform auf dem Rücken trägt (Abb. 40). Diese Arbeit Chagalls ist vor dem zeithistorisch bedeutsamen Hintergrund der gegenüber der jüdischen Bevölkerung verübten Pogrome im Russischen Zarenreich bis 1917 und im neuerlichen Rekurs auf die persönliche Vita des Künstlers vor allem als im Motiv des alten, wandernden Juden zur Anschauung gelangendes Sinnbild jüdischer Diaspora interpretiert worden.125 Chagalls Rekurs auf diese Motivik steht dabei in einer bereits um die Jahrhundertwende etablierten Darstellungstradition, die sich bis zu den Arbeiten Leonid Pasternaks zurückverfolgen ließe.126 Dessen hier stellvertretend referenziertes Oeuvre, etwa die auf 1904 datierbare Kreidestudie ›Nach dem Pogrom«127 sowie ein heute verschollenes Ölgemälde mit dem sprechenden Titel ›Alter Jude‹, das bereits 1891 entstanden war,128 zeigt diese Ikonografie mit den sie konstituierenden Attributen: männlich, langer Bart, von Falten zerfurchtes Gesicht, fortgeschrittenes Alter und die mit dem osteuropäischen Shtetl-Bewohner assoziierte Schirmmütze. Auch bei Pasternak dominiert indes das Zu-sehen-Geben jüdischer Prekarität. Vergleichbare Bildgebungsmomente, die ebenfalls bereits um die Jahrhundertwende Teil an der Etablierung dieser Ikonografie hatten, finden sich ferner bei Jehuda Pen. So etwa das Ölgemälde ›Der Schammes‹, dessen Entstehungsdatum ins Jahr 1900 fällt und das die Dimension jüdischer Prekarität zwar weniger stark in den Vordergrund rückt, dafür aber den motivgebenden Bezug zum Shtetl umso mehr betont.129 Gleichzeitig kündigen sich mit Pens motivischer Annäherung der Ikonografie des »Alten Juden« und des »Schammes« – der jiddischen Bezeichnung für den rangniedrigsten Synagogendiener, die bisweilen auch synonym für Laufbursche verwendet wird – bereits Hybridisierungstendenzen an, die das Darstellungsrepertoire dieser jüdischen Identifikationsfigur zunehmend erweitern. Dahingehend ist insbesondere auch auf ihre Verwendung und damit einhergehende weitere motivische Modifikationen im Kontext des deutschsprachigen Zionismus

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Vgl. Harshav, »The Role of Language in Modern Art. On Texts and Subtexts in Chagall’s Paintings«. Hier S. 69. Vgl. Weik, Jüdische Künstler und das Bild des Ewigen Juden. Vom antijüdischen Stereotyp zur jüdischen Identifikationsfigur. S. 140-144. Vgl. dazu auch Rajner, »Chagall’s Jew in Bright Red«. Leonid Pasternak: ›Nach dem Pogrom‹ (1904), Kreidezeichnung auf Papier, 20,0 x 15,0 cm, Israel Museum, Jerusalem. Diese Kreidezeichnung nimmt das 1903-04 im damals zum Russischen Zarenreich gehörenden Kishinjow (heute Chișinău, Hauptstadt der Republik Moldau) als Motivanlass. Leonid Pasternak: ›Alter Jude‹ (1891), Öl auf Leinwand, Maße unbekannt, verschollen. Reproduktion in: Ephraim Moses Lilien und Berthold Feiwel, Hg., Jüdischer Almanach 5663 (Berlin, 1902). S. 281. Jehuda Pen: ›Der Schammes‹ (1900), Öl auf Leinwand, 70,0 x 59,5 cm, Nationales Kunstmuseum Belarus, Minsk.

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verwiesen worden:130 Mit (selbst-)orientaliserendem Duktus wird der »Alte Jude« bzw. der »Wandernde Jude«, wie exemplarisch anhand der auf 1922 datierbaren Radierung Ephraim Moses Liliens mit dem Titel ›Der müde Wanderer‹ zu beobachten ist, zunehmend dem mit Osteuropa assoziierten Shtetl-Kontext enthoben und vor der Kulisse des Heiligen Lands verortet (Abb. 39).131 Denn Liliens müder Wanderer wird hier als alter, gebückter Mann mit langem Bart und Mantel, der typischen Schirmmütze sowie dem metaphorisch aufgeladenen Wanderstock figuriert, während im Hintergrund eine monumentale Sphinx und Pyramide zu erkennen sind. Diese wiederum rücken durch ihren visuellen Rekurs auf das antike Ägypten (Mizraim) die Darstellung symbolisch an die mit Pessach assoziierte und um den Topos der Befreiung kreisende Exodus-Erzählung heran, die hier von Lilien mit dem – in zionistischer Perspektive – Freiheit versprechenden jüdischen Staatsgründungsprojekt zusammengebracht wird. Die Bildformeln »Alter Jude« und »Wandernder Jude« als jüdische Identifikationsfiguren sind folglich bereits seit der Jahrhundertwende von ikonografischer Mehrdimensionalität geprägt. Weitere künstlerische Umarbeitungen unter Beibehaltung einiger weniger tradierter Attribute – männlich, langer Bart, faltiges Gesicht, fortgeschrittenes Alter und mit dem jüdischen Shtetl assoziierte Schirmmütze – folgen schon in den 1910er Jahren und kulminieren in avantgardistischen Auseinandersetzungen mit dem Thema, wie denen Billers und Chagalls, im Verlauf der 1920er Jahre. Nachdem Chagalls Rekurs auf diese Ikonografie bereits skizziert wurde, soll nun die Frage gestellt werden, wie sich Billers Annäherungen an diese Semantik des Jüdischen in der Kommunikationsgemeinschaft des Berliner Sturm fassbar machen lassen. *** Billers ›Osteria‹ (Abb. 4) zeigt die ikonische Bildformel des »Alten Juden« in Gegenüberstellung mit den Kinderfiguren der Künstlerin: zwei Jungenfiguren, eine in kurzen Hosen und beide mit Bubikopf. Die Alt-Männer-Figur vereint die etablierten Attribute dieser jüdischen Identifikationsfigur: männlich, langer Bart, fortge130 Vgl. Lothar Brieger, E.M. Lilien. Eine künstlerische Entwicklung um die Jahrhundertwende (Berlin, 1922). S. 11. Jenseits der prominenten zeitgenössischen Rezeption in Berlin zirkulierten E.M. Liliens Drucke auch nachweislich im Kontext des jugoslawischen Zionismus in der SHS, allen voran in der Jugendzeitschrift Haaviv (1922-1941), in deren Erstausgabe Arbeiten von Lilien (die Juda-Serie von 1900, die für den 4. Zionistenkongress in Basel in Auftrag gegeben worden war) in Reproduktion zu finden sind. Vgl.: Oz Almog und Gerhard Milchram, Hg., E.M. Lilien. Jugendstil, Erotik, Zionismus. Ausst.Kat. Jüdisches Museum Wien (Wien, 1998). S. 15. Sowie Kalmi Baruh, Selected Works on Sephardic and other Jewish Topics, hg. von Krinka Vidaković-Petrov (Jerusalem, 2007). S. 118f. 131 E.M. Lilien: ›Der müde Wanderer‹ (1922), Radierung und Aquatinta, 33,1 x 28,6 cm, Israel Museum, Jerusalem, Geschenk der Lilien-Familie, Rehovot.

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schrittenes Alter, faltiges Gesicht sowie die charakteristische Schirmmütze. Das Blatt – ein Weißlinienschnitt – wird insgesamt dominiert von schwarzen Bildflächen und gibt eine nächtliche Szene mit dem Vollmond am Himmel wieder. Billers Alt-Männer-Figur steht Pfeife rauchend vor dem durch ein längliches Schriftfeld in lateinischen Lettern eindeutig als »Osteria« ausgewiesenen Gebäude. Von dort schaut eine der Kinderfiguren aus dem Fenster des Obergeschosses. Ćurić (miss)deutet diese Jungenfigur, von der lediglich Kopf und Oberkörper zu sehen gegeben sind, aufgrund der von ihm veranschlagten Lesart des Bildgeschehens als nächtliche Hafenszene im Vergnügungsviertel, als eine Prostituierte mit vermeintlich stark geschminktem Gesicht.132 In Abgrenzung zu Ćurićs Interpretation ließe sich, vom Bildmaterial her argumentierend, darauf verweisen, dass sowohl Gesichts- als auch Gesamtgestaltung dieser kindlichen Jungenfigur in allen Elementen (Augenpartie, gelockte Haare, herzförmige Lippen) deckungsgleich bleiben mit Billers übrigen Kinderfiguren der Venedig-Serie, allen voran auf dem Blatt ›Gondel‹ (Abb. 1). Im darunterliegenden, ungleich größeren Fenster, das den Mittelgrund von Billers Osteria-Darstellung dominiert, sind gleich mehrere »sprechende« – soll heißen, für die vertiefende Bildanalyse bedeutsame – Gegenstände zu erkennen: eine mit Fischen gefüllte Schale sowie eine Weinflasche in kubischer Form unter einem von der Decke herabhängenden Lampenschirm. All diese stilisierten Gegenstände wirken stilllebenartig auf dem Tisch arrangiert. Die Blickachsen der gezeigten drei Bildfiguren laufen indes genau hier, im Innenraum der Osteria oder vielmehr in der dort positionierten Schale mit Fischen, zusammen. Ferner sind die drei Bildfiguren abermals in strenger Dreieckskomposition aufeinander bezogen, wodurch der Bildaufbau auf formaler Ebene stark an die Gestaltung des Blattes ›Markt‹ (Abb. 3) erinnert. Während ›Markt‹ sich jedoch auf die programmatische Ins-Bild-Setzung »des Weiblichen« konzentriert hat, gibt Billers ›Osteria‹ ausschließlich als männlich vergeschlechtlichte Figuren wieder. Dadurch ergibt sich in der binären Gegenüberstellung von Geschlecht ein fast pendantartig wirkender Zusammenhang zwischen den Arbeiten ›Markt‹ und ›Osteria‹ in der Venedig-Serie. Während in ›Markt‹ die Weiblichkeitsdarstellungen – so meine These – im Register der kindlichen Kreativität auftreten, scheint ›Osteria‹ jedoch die Bedeutungsdimension »des Männlichen« lediglich im Modus eines »Noch-Nicht« (die kleinen Jungenfiguren) sowie eines »Nicht-Mehr« (die Alt-Männer-Figur) zu verhandeln. Auch dadurch entbehrt Billers ›Osteria‹, die zwar als »männliche« Sphäre imaginiert wird,133 letztlich jeg-

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Vgl. Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 78. Zu diesen geschlechterlogischen Assoziationen von Wirtshaus/Schenke als dezidiert »männliche« Sphäre vgl. Thomas Röske, »Blicke auf Männerkörper bei Michael Sweerts«, in Männlichkeit im Blick. Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit, hg. von Mechthild Fend und Marianne Koos (Köln, 2004), S. 121-136.

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licher genrehaften Schank- und Wirtshausästhetik (Alkohol, Glücksspiel, Prostitution etc.), wie sie etwa Ćurić unterstellt.134 Im Zusammenspiel mit dem Aufrufen der Bildformel »Alter Jude« korrespondieren auch die »sprechenden« Gegenstände des Stilllebens – allen voran die in der Komposition zentral angeordnete Weinflasche sowie die mit Fischen gefüllte Schale – mit tradierter jüdischer Symbolik. Das Fischmotiv, als eines der ältesten Elemente der jüdisch-talmudischen Tradition,135 findet sich in avantgardistischer Re-Aktualisierung an prominenter Stelle wiederum auch bei Chagall: beispielhaft auf dessen 1928 entstandener Radierung ›Die Zeit ist ein Fluss ohne Ufer‹, auf der ein geflügelter Fisch über den Himmel streift.136 Wie Harshav herausgearbeitet hat, orientiert sich diese Darstellung an der dem jiddischen Sprachgebrauch entlehnten Alliteration »fish, fidl, fligl«, die in ironisch-tragischer Brechung als jüdische Selbstbeschreibung dem aschkenasischen Shtetl-Kontext entsprungen sei.137 Vergleichbares Symbolpotenzial weist indes auch die Weinflasche auf, in der die Blickachsen aller Bildfiguren in Billers Osteria zusammenlaufen, denn koscherer Wein findet in nahezu allen jüdischen Ritualkontexten Verwendung.138 In der Folge erscheint Billers Arrangement, in dem überdies nur diese beiden Objekte entgegen des Gesamteindrucks der Schematisierung mimetische Referenzgehalte generieren, nicht (oder nicht nur) allein dem venezianischen Lokalkolorit der VenedigSerie geschuldet, sondern lässt sich angesichts der gleichzeitigen Ins-Bild-Setzung der Bildformel »Alter Jude« als Auseinandersetzung Billers mit der Semantik des Jüdischen lesen. Die für die Venedig-Serie singuläre Wahl einer Vollmond-Nacht in dieser Darstellung verdient indes ebenfalls Aufmerksamkeit und kann, unter Zuhilfenahme der Studie von Avram Andrei Baleanu zur sog. Ahasver-Legende, ebenfalls an den jüdischen Symbolkosmos rückgebunden werden. Der Vollmond, der als kreisrunde Scheibe auf Billers Blatt zu sehen ist, steht gleichermaßen über dem »Alten Juden« sowie über den beiden Kleinjungenfiguren. Baleanu hat darauf hingewiesen, dass in der folkloristischen Tradierung der Ahasver-Legende, die aufs Engste mit dem Topos des »Wandernden Juden« in Verbindung steht, der Mond als wichtiges

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Vgl. Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 78. Vgl. Zwi Werblowsky, Hg., The Oxford Dictionary of the Jewish Religion (New York, 1997). S. 266. Sowie Norman Solomon, Historical Dictionary of Judaism (London, 1998). S. 50-51. Marc Chagall: ›Die Zeit ist ein Fluss ohne Ufer‹ (1928), Radierung, 48,7 x 33,5 cm, Museum of Modern Art, New York, Sig. 2331.1967. Vgl. Harshav, »The Role of Language in Modern Art. On Texts and Subtexts in Chagall’s Paintings«. S. 59. Der Fisch als Zentralelement der aschkenasischen Küche (jiddisch: »gefilte fish«), die Fiedel als bevorzugtes Musikinstrument aschkenasischer klezmorim sowie die Flügel als Sinnbild jüdischer Diaspora und Vertreibung. Vgl. Simon de Vries, Jüdische Riten und Symbole (Wiesbaden, 2005). S. 58.

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Strukturelement der Erzählung dient.139 Dieser lunarische Erzählgehalt wiederum korrespondiere unmittelbar mit der Figur des als »prototypisch jüdisch« imaginierten Ahasver als dem Ewigen Wanderer, den – in der christlichen Deutung des Legendenstoffes – die Strafe G’ttes ereilt und der deswegen bis in alle Ewigkeit zum rastlosen Umherwandern verurteilt ist.140 Der in Zyklen wiederkehrende Mond und das metaphorisch aufgeladene Alter der Ahasver-Figur werden dabei, so Baleanu, der sich hier auf Beispiele aus George Andersons bereits 1965 publizierter Abhandlung stützt, als symbolische Versinnbildlichung einer zeitlosen Konstante des Werdens und Wanderns in ein reziprokes Entsprechungsverhältnis gesetzt: »Wenn der Mond in seinem letzten Viertel steht, wird sein Haar grau und er ist alt, sehr alt; wenn aber der Mond jung ist, ist er wieder jung (…).«141 Billers szenische Verquickung der Bildformel »Alter Jude«, Vollmond und Kleinjungenfiguren auf dem ›Osteria‹-Blatt ließe sich folglich durchaus als Repräsentation dieses Topos deuten. Billers Ahasver wäre zum Bild-Zeitpunkt des Vollmonds in dieser Lesart folglich mit den die eigene Jugendlichkeit zum nächsten Neumond antizipierenden Repräsentationen des Kindlichen konfrontiert. Damit lässt sich ein ikonografisch informiertes Erklärungsangebot machen für die singuläre Wahl der Nachtszene auf diesem einen Blatt der Venedig-Serie. Die künstlerische Akzentuierung der Gestaltungselemente Nacht und Mond als visuelle Evokationen »des Jüdischen« kann indes in avantgardistischen SturmKreisen142 an dieser Stelle erneut in Vergleichsperspektive an Chagalls Arbeiten geschärft werden: Die auf 1914 datierte Skizze ›Vitebsk, Alter Jude über dem Dorf«143 erweist sich in dieser Hinsicht als aufschlussreich, insofern die Bildformel des ahasverisch »Wandernden Juden« mit Stock und Wandersack auf dem Rücken hier ebenfalls explizit mit dem Mond und der Sphäre des Nächtlichen in Beziehung gesetzt wird. Am vom Künstler figurierten Nachthimmel steht die Mondsichel, während der sich dort ebenfalls befindliche Schriftzug »Vitebsk« in hebräischen Lettern das von Chagall Zu-sehen-Gegebene unzweideutig in der Semantik des Jüdischen verortet. Dem Aufrufen der Bildelemente der Nacht und des Mondes in ihrem jeweiligen Rekurs auf die Ikonografie des »Alten Juden« scheint somit sowohl in Billers ›Osteria‹ als auch in Chagalls hier exemplarisch angeführter Skizze 139 Vgl. Avram Andrei Baleanu, Ahasver. Geschichte einer Legende (Berlin, 2011). S. 146. 140 Vgl Ebd. S. 38. 141 George Anderson, The Legend of the Wandering Jew (Providence, 1965). S. 75. Zitiert nach Baleanu, Ahasver. Geschichte einer Legende. S. 146. 142 Vgl. Małgorzata Stolarska-Fronia, »Jewish Expressionism. A Quest for Cultural Space«, in Jewish Artists and Central-Eastern Europe. Arts Centers, Identity, Heritage, from the 19th Century to the Second World War, hg. von Jerzy Malinowski, Renata Piątkowska und Tamara SztymaKnasiecka (Warschau, 2010), S. 313-318. 143 Marc Chagall: ›Vitebsk, Alter Mann über dem Dorf‹ (1919), Gouache, Tinte und Bleistift auf Papier, 24,9 × 19,6 cm, Art Institute Chicago, Sig. 2013.912.

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eine tiefergehende künstlerische Beschäftigung mit »dem Jüdischen« – obschon in unterschiedlichen Abstufungen der Kenntlichmachung – miteingeschrieben. *** Die Bildformel eines ahasverisch wandernden »Alten Juden« taucht in Billers Venedig-Serie zum zweiten Mal auf dem Blatt ›Spaziergang durch Venedig‹ (Abb. 2) auf und wird hier explizit in einem Moment programmatischer Mobilität aufgerufen.144 Denn alle übrigen Darstellungen der Serie zeigen ausschließlich Figuren im Stillstand, wodurch hier dem bildbestimmenden und über die Figur des »Alten Juden« zum Jüdischen hin organisierten Mobilitätsfokus semantische Relevanz zukommt. Der etablierte und auch von mir verwendete deutsche Nottitel dieser Arbeit – »Spaziergang« – kann diese Relevanz indes nur sehr bedingt einholen. Der Gesamteindruck dieses von schwarzen Flächen dominierten Weißlinienschnitts ist durch die kompositorische Verlagerung des Bildgeschehens in die Horizontale sowie die Vedute im Hintergrund besonders kulissenhaft. Diese Vedute ist gekennzeichnet durch eine von Rundbogenarkaden gegliederte und schematisch rhythmisierte Kanalansicht mit aus geometrischen Grundformen zusammengesetzten venezianischen Stadthäusern, die sich in ähnlicher Form auch in Billers Arbeit ›Gondel‹ finden und die deutlich mit Lokalkolorit gefärbt sind: Gondeln, Eingänge mit Spitzbogen auf Wasserniveau, Balkone. Billers Komposition besteht hier aus insgesamt zehn Bildfiguren, die von links und von rechts kommend in

144 Besonders kritisch muss an dieser Stelle auf die unreflektierte und bisweilen von antisemitischen Verdachtsmomenten durchzogene Re-Aktualisierung der Trope jüdischer Mobilität in Ćurićs Ausführungen hingewiesen werden, der die vermeintliche »Rastlosigkeit« der Familie Biller sowie ihre häufigen Umzüge betont. Vgl. Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 33: »Nemamo pravih saznanja kako je Vjera Biller podnijela ovu naglu selidbu, […] nagli raskid s mjestima ranog djetinjstva – Đakovom i Osijekom, ali je bez sumnje znakovita činjenica da na sačuvanim slikama Vjere Biller nema njenoga oca, niti motiva oca uopće.«/»Wir haben keine wirkliche Kenntnis davon, wie Vjera Biller diesen plötzlichen Umzug ertrug, […] den plötzlichen Bruch mit den Orten ihrer frühen Kindheit – Đakovo und Osijek, aber es ist eine zweifelsfreie Tatsache, dass es auf den erhaltenen Bildern von Vjera Biller weder ihren Vater gibt, noch ein Vatermotiv überhaupt.« Ein weiteres Mal ruft Ćurić diese Trope im Zusammenhang mit Billers Arbeit ›Eisenbahn‹ (1922) auf, deren Motivwahl zum Sinnbild der zuvor bereits attestierten Biller’schen Rastlosigkeit wird und schließlich in einer ebenso anachronistischen wie zynischen Deutung mündet, die das Gezeigte mit der organisatorischen Abwicklung der NS-Verbrechen verbindet. Ebd. S. 63: »Njena ›lokomotiva‹ ide ›kamo mora ići‹ […]: od Đakova, preko Osijeka, […], Opatije, Budimpešte, Graza, Beča, Berlina, do neumitne tragične sudbine u Hartheimu, u koji ju je vjerojatno odvezao vlak, kao milijune Židova i Židovki u holokaustu.«/»Ihre [Vjera Billers, Anm. MW] ›Lokomotive‹ fährt ›dorthin, wo sie hin muss‹ […]: von Đakovo über Osijek, […], Opatija, Budapest, Graz, Wien, Berlin, bis zum unvermeidlichen tragischen Schicksal in Hartheim, wohin sie [Vjera Biller, Anm. MW] wahrscheinlich wie Millionen Juden und Jüdinnen im Holocaust mit dem Zug gebracht wurde.«

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der Bildmitte aufeinander zu bewegt werden: auf der rechten Seite sechs hintereinander gestaffelte Kinderfiguren sowie die bereits aus der ›Markt‹-Darstellung bekannten Figuren des »Großmütterchens« und der »Großstadt-Dame«; auf der linken Seite zwei Männerfiguren, von denen die hintere durch das von Biller beigegebene Attribut der Kippa an dieser Stelle unmissverständlich als (religiös?) jüdisch markiert wird. Einer solchen Deutung folgt hier auch Ćurić, der in der zum zweiten Mal auftauchenden Alt-Männer-Figur Billers ebenfalls »wahrscheinlich einen alten Juden mit typischer Kappe und Bart«145 erkennt. Durch die von Biller gewählte Technik des Weißlinienschnitts, die mit der ebenso in dieser Form ausgeführten ›Osteria‹-Darstellung korreliert, ergibt sich ferner auch auf der Ebene der Materialität ein Konnex zwischen diesen beiden, um die Semantik des Jüdischen kreisenden Darstellungen der Serie. Insofern in dieser Szene der gesamte heute noch bekannte Figurenkosmos der Künstlerin auf nur einem Blatt versammelt wird, scheint die Arbeit überdies den motivischen Höhepunkt der Venedig-Serie zu markieren. Dieses umfassende Figurentableau ist von Ćurić erneut biographisch interpretiert und in diesem Zuge bezüglich der Motivfindung auf eine (indes nicht belegbare!) Venedig-Reise der Künstlerin und ihrer Familie verwiesen worden, die anschließend den Anlass liefert, um ›Spaziergang durch Venedig‹ gewissermaßen als Urlaubsaufnahme der Billers zu lesen. In dieser Perspektive fände sich Malvina Biller, die Mutter, in Billers Figuration der »Großstadtdame« wieder, während die dezidiert anti-individualistisch gestalteten Kinderfiguren der Szene erst zur Darstellung des jüngeren Bruders Walter (auf dem Arm der »Großstadtdame«) und dann gar zum Selbstportrait der zu diesem Zeitpunkt bereits 19 Jahre alten Vjera Biller (die den Rockzipfel der »Großstadtdame« in der einen und eine Puppe in der anderen Hand haltende Kleinmädchenfigur am rechten Bildrand) gerieren.146 Mit der Semantik des Jüdischen wäre hingegen ein Bedeutungshorizont umrissen, der jenseits einer solchen unterkomplexen Deutung das Bildprogramm der Arbeit erschließen kann. Das zweite Aufrufen der Bildformel »Alter Jude« macht im Unterschied zu dessen Inanspruchnahme in der ›Osteria‹-Darstellung darüber hinaus auch bereits einige augenscheinliche Modifikationen dieser jüdischen Identifikationsfigur innerhalb der Venedig-Serie deutlich, die sich insbesondere mit Blick auf die von Biller gewählte Kopfbedeckung zeigen. Denn statt der primär mit Shtetl und Aschkenasim assoziierten Schirmmütze, wird nun eine Kopfbedeckung visualisiert, die in ihrer materialdicht anmutenden schwarzen Form zwischen Kippa und Fes zu

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Ebd. S. 80: »[…] dva muškarca prolaznika, od kojih je jedan vjerojatno Židov, s tipičnom kapom i bradom […]«/»[…] zwei männliche Passanten, von denen einer wahrscheinlich ein Jude ist, mit typischer Kappe und Bart […].« 146 Vgl. Ebd.

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oszillieren scheint. In den breiteren, primär deutschsprachigen, jüdischen (Selbst)Orientalisierungskontexten der Zeit sind vergleichbare Figurationen keine Seltenheit:147 Sie lassen sich beispielhaft anhand des auf 1919 datierten Kupferstichs von E.M. Lilien mit dem Titel ›Ahasver‹ illustrieren (Abb. 41), der hier als orientalisierte Bildfigur gezeigt wird148 und dessen Kopfbedeckung und Gewand die traditionelle Männertracht bucharischer Juden (damals: Buchara, Russisches Reich, heute: Buxoro in Usbekistan) referenziert.149 Mit ähnlich (selbst-)orientalisierendem Impetus war um 1900 bereits Liliens ›Passah‹-Lithografie entstanden (Abb. 42), die die Bildformel »Alter Jude« vor der symbolisch aufgeladenen, antikisierenden Kulisse Ägyptens mit Kippa und Kaftan imaginiert. Gemein ist indes beiden Figurationen Billers ihr topischer Venedig-Bezug, dies gilt sowohl für den »Alten Juden« der Osteria- als auch für den »Wandernden Juden« der Spaziergangszene. Diesen motivisch von Biller forcierten Nexus zwischen »Venezianischem« und »Jüdischem« aufgreifend, stellt sich an dieser Stelle die Frage, inwieweit die Darstellungen damit an einer Referentialisierung Venedigs als spezifisch jüdische Topografie interessiert sind. Mit Verweis auf die historische Bedeutung Venedigs als Zentrum jüdischen Lebens im Mittelmeerraum sowie als hybrider Begegnungsraum aschkenasischer und sephardischer Lebenswelten150 ließe sich ein solcher Interpretationsstrang weiter konkretisieren. Denn bereits im späten 13. Jahrhundert war in Venedig nachweislich die erste aschkenasische Gemeinde gegründet worden. In Folge der gewaltvollen Vertreibung der Sephardim von der iberischen Halbinsel im 15. Jahrhundert durch die katholische sog. Reconquista siedelten ferner zahlreiche der ehemals u.a. in Cordoba oder Toledo ansässigen jüdischen Gemeinden nach Venedig über.151 Die der antijüdischen Gesetzgebung folgende und im 16. Jahrhundert einsetzende Ghettoisierung hat indes einen als spezifisch jüdisch gelesenen Raum im Stadtbild geschaffen, der bis heute zentral ist für die »jüdische Identität Venedigs.«152 Die bis heute erhaltenen und auf das Gebiet des Ghettos 147

Vgl. Wittler, »›Good to Think‹. (Re-)Conceptualzing German Jewish Orientalism«. S. 70. Sowie Daniel Wildmann, »Desire, Excess, and Integration. Orientalist Fantasies, Moral Sentiments, and the Place of Jews in German Society as Portrayed in Films of the Weimar Republic«, in Orientalism, Gender, and the Jews. Literary and Artistic Transformations of European National Discourses, hg. von Ulrike Brunotte, Anna-Dorothea Ludewig und Axel Stähler (Berlin, 2015), S. 137-155. 148 E.M. Lilien: ›Ahasver‹ (1919), Kupferstich auf Papier, 32 x 27,5 cm, Privatsammlung, Tel Aviv. 149 Vgl. Michael Hasenclever, E. M. Lilien, unterwegs im alten Orient. Der Radierer und Lichtzeichner Ephraim Moses Lilien (München, 2004). S. 38. 150 Vgl. Benjamin Ravid, Hg., Studies on the Jews of Venice, 1382-1797 (Aldershot, 2003). S. 12-18. 151 Vgl. Marion Steinbach, Juden in Venedig 1516-1797. Zwischen Isolation und Integration (Frankfurt a.M., 1992). S. 44-56. 152 Dana Katz, The Jewish Ghetto and the Visual Imagination of Early Modern Venice (Cambridge, 2017). S. 112-114: »[Propelled by travel-authors such as] John Evelyn, John Raymond, Edmund Warcupp, and Philip Skippon […] Venice’s ghetto thus became a conventional site of Grand

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konzentrierten Synagogenbauten bezeugen eindrücklich die Bedeutung, Dichte, Vielfalt und Präsenz sowohl des aschkenasischen als auch des sephardischen Judentums für Venedig, obschon sie sich aufgrund der bereits erwähnten antijüdischen Gesetzgebung der Stadt von außen nicht als Synagogen zu erkennen geben durften.153 Ortsspezifisch für das Ghetto Venedigs sind zudem, wie Dana Katz herausgearbeitet hat, die an Hochhäuser erinnernden mehrgeschossigen Häuserreihen, die in ihrer Höhe das übrige Stadtbild überrag(t)en.154 Die auffällige Vertikalität der auf dem ›Osteria‹- sowie dem ›Markt‹-Blatt im Hintergrund gezeigten Gebäudearchitektur, die nicht mehr viel mit den als pittoresk-venezianisch markierten und von Balkonen sowie Spitzbogenfenstern geprägten Hausansichten der übrigen Arbeiten der Venedig-Serie gemeinsam hat (z.B. ›Gondel‹), erinnert in ihrem Streben nach Höhe durchaus an die von Katz beschriebene und bisweilen aus eklatantem Platzmangel resultierende charakteristische Baugestalt des Ghetto, die das Stadtbild Venedigs hier – und nur hier! – im Sinne einer spezifischen Örtlichkeit präg(t)e. Das programmatische Auftauchen der Bildformel »Alter Jude« in Billers Venedig-Serie ließe sich somit durchaus zusammenbringen mit einem solchen Verständnis, das auf Grundlage des historisch Verbürgten die Serenissima als jüdische Topografie verhandelt.

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Tour sightseeing through the 18th century./Nineteenth-century writers rarely allude to the ghetto, however. Henry James’s Italian Hours – informed by John Ruskin’s The Stones of Venice – makes reference to Jews working as peddlers along the Grand Canal but does not take note of their ghetto tenancy. It seems the Jews’ enclosure no longer inspired penned response toward the end of the eighteenth century, particularly with the end of ghettoization in 1797. With the fall of the Venetian Republic to Napoleon Bonaparte’s army in that year came the demolition of Venice’s ghetto gates. […] Under the French, Jews enjoyed Venetian citizenship and new civil rights. Months later, the French ceded the city to the Austrians […], and the Austrians summarily restricted the Jews’ civil liberties […]. Nevertheless, Venice’s ghetto gates were never again reinstalled. Under Austrian occupation, Jews could purchase real estate in any part of the city. […] In this post-enclosure context, the architectural attraction of the Jewish quarter waned among travelers. No longer did the ghetto occupy a space in the usual patterns of continental pilgrimage. As a result, observations of the ghetto rarely accompany records of Venetian sightseeing in the nineteenth century. […] Napoleon may have opened Venice’s ghetto spaces, but the Venetian urban form preserved the area of the former enclosure as a Jewish space. […] To this day Venice’s ghetto remains a locus of Jewish identity […]«. Vgl. Ennio Concina, Ugo Camerino und Donatella Calabi, La città degli ebrei. Il ghetto di Venezia: Architettura e urbanistica (Venedig, 1991). S. 53. Vgl. Katz, The Jewish Ghetto and the Visual Imagination of Early Modern Venice. S. 44f. Zudem wäre mit Concina, Camerino und Calabi darauf zu verweisen, dass es jüdischen Stadtbewohner:innen auf Grundlage eines bereits 1516 verkündeten und bis in die Zeit der napoleonischen Herrschaft reichenden Edikts ausschließlich im Ghetto gestattet war, Schenken und Lokale – eigene Osterias – zu betreiben. Vgl. Concina, Camerino und Calabi, La città degli ebrei. Il ghetto di Venezia: Architettura e urbanistica. S. 22f.

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In der Rückbindung ans Venezianische unterscheidet sich der Duktus von Billers subtiler künstlerischer Auseinandersetzung mit einem jüdischen Selbstverständnis dann auch grundlegend vom Zugang ihres Künstlerkollegen Marc Chagall in Sturm-Kreisen, dessen Beschäftigung mit dieser Semantik primär um Momente der Diaspora und Prekarität sowie um die nostalgische Emanation einer verloren gegangenen jüdischen Welt kreist, als deren im Exil lebender Repräsentant sich Chagall bisweilen in Berlin inszeniert.155 Hierfür wäre stellvertretend auf das von Chagall selbst gestaltete Deckblatt seiner Künstler-Vita auf Russisch aus der Feder Boris Aronsons hinzuweisen, die 1923 in Berlin erscheint und deren Deckblatt unter der Namensnennung des Künstlers in russisch-kyrillischen Lettern (»Марк Шагал«) die Ikonografie eines ahasverisch wandernden »Alten Juden« zeigt.156 Exemplarisch für den vom Themenkomplex jüdischer Diaspora und Prekarität geprägten Zugang Chagalls kann zudem dessen 1909 datierte Bleistiftzeichnung ›Exodus‹ (1909) stehen.157 Zu sehen gegeben ist in Rückbindung an zeitgenössische Pogromerfahrungen ein als biblischer Exodus wiedergegebenes jüdisches (Aus-)Wanderungsmoment, das durch eine aus Erwachsenen und Kindern bestehende Figurengruppe – einige davon mit Schirmmütze sowie mit Wanderstab und anderen Habseligkeiten bepackt der ahasverischen Bildformel folgend – zur Anschauung gelangt (Abb. 43). Im Bildraum über dieser Gruppe schwebt eine Engelsfigur, die als Schutzengel im Angesicht jüdischer Lebensund Leidenserfahrung, Diaspora, Prekarität und Vertreibung interpretiert worden ist.158 Trotz aller inhaltlichen und motivischen Unterschiede, lassen sich gerade im Vergleich mit dieser Arbeit jedoch auch einige auffällige Kongruenzen mit Billers ›Spaziergang durch Venedig‹ konstatieren, die insbesondere die Bildkomposition sowie die Figurenplatzierung betreffen. Denn Billers Tableau bemüht in der Dreiteilung ihrer Figurengruppe – am linken Bildrand die beiden Männerfiguren (erste Gruppe), in der Bildmitte das »Großmütterchen« mit vier Kinderfiguren (zweite Gruppe), dahinter zum rechten Bildrand folgend die »Großstadtdame« mit der Kleinjungenfigur auf dem Arm und schließlich der Mädchenfigur mit Puppe, die sich an dem Rockzipfel festhält (dritte Gruppe) – ähnliche Visualisierungsstrategien wie Chagalls Exodus. Gemein ist beiden Szenen ferner das Aufrufen einer Frauenfigur mit Kind auf dem Arm sowie einer der Gesamtgruppe nachfolgenden

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Vgl. Harshav, Marc Chagall and the Lost Jewish World. Marc Chagall: ›Marc Chagall‹ (1923), Druckerzeugnis, 25,3 x 18,5 cm, Museum of Modern Art, New York, Sig. 592.2001. Vgl. Marc Chagall: ›Exodus‹ (1909), Bleistift auf Papier, 23,2 x 35,4 cm, Centre Pompidou, Paris, AM 1988-126. Vgl. Weik, Jüdische Künstler und das Bild des Ewigen Juden. Vom antijüdischen Stereotyp zur jüdischen Identifikationsfigur. S. 175.

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Kinderfigur, die sich am Gewand der/des Vorauslaufenden festhält und in Chagalls Ausführung auf die tragische Dimension der Darstellung verweist. Die umfassendsten ästhetischen sowie gestalterischen Schnittmengen zwischen Billers und Chagalls Bildpraxis liegen jedoch im geteilten primitivistischen Duktus beider Künstler:innen: Ein Phänomen, für das Samuel Jacob Spinner im Forschungsdiskurs zuletzt den Terminus Jewish Primitivism159 stark gemacht hat, der hier aufgegriffen werden soll. Billers von Primitivismen geprägtes Leitmotiv des Kindlichen überschneidet sich mit Chagalls dokumentiertem Interesse an Kinderkunst: So hatte dieser bereits während seiner Ausbildungszeit den eigenen »primitivistischen Malstil«160 entlang der um Archaisierung und »Authentizität« bemühten Ästhetik des Expressionismus sowie »des Jüdisch-Folkloristischen« nachweislich auch in der direkten Auseinandersetzung mit Kinderkunst entwickelt.161 Trotz dieses geteilten Interesses, der zeitgleichen Ausstellungsaktivitäten im Sturm und der motivischen Deckungsgleichheiten wird indes nur Chagall in Berlin in der deutschsprachigen Kunstkritik der 1920er Jahre verstärkt im Folio des Primitiven sowie des Jüdischen rezipiert. Für Biller lässt sich eine solche Rezeption nicht nachweisen. Entlang etablierter maskulinistischer Genie-Narrative, die »nicht-männliches« Kunstschaffen ausblenden, wird – wie die diskursereignishafte Studie des Kunstkritikers und Psychologen Walter Lurje im Folgenden zeigen wird – das Kindliche als Artikulation künstlerischer und spezifisch »jüdischer Ingeniösität« im Sinne eines Differenzgehalts für Chagalls Persona affirmiert und der Topos »des Primitiven« überdies als prävalente Rezeptionshaltung für zeitgenössisch-moderne Kunst forciert.

4.2.1.2

Jüdischer Primitivismus und dessen zeitgenössische Rezeption

In Walter Lurjes 1923 veröffentlichter Studie ›Mystisches Denken, Geisteskrankheit und Moderne Kunst‹,162 auf die bereits in Kapitel 3 verwiesen wurde, erfährt »das Primitive« in Analogisierung mit dem Kindlichen und »Geisteskranken« eine Gleichsetzung mit einer von »mystischem Denken« geprägten Geistesverfassung als vermeintlicher Urgrund der Kunst der Moderne, die dabei namentlich am Bei-

159

Vgl. Spinner, »Else Lasker-Schüler and Uri Zvi Greenberg in ›The Society of Savage Jews‹: Art, Politics, and Primitivism«. S. 62-65. 160 Ziva Amishai-Maisels, »Marc Chagall e la rinascita dell’arte ebraica«, in Marc Chagall e il suo mondo. Tra Vitebsk e Parigi, hg. von Eugenia Petrova und Joseph Kiblitsky (Florenz, 1994), S. 2362. Hier S. 24. 161 Vgl. hierzu ausführlich Mirjam Rajner, »Les sources du néoprimitivisme de Chagall«, in Chagall et l’avant-garde russe, Ausst. Kat. Musée de Grenoble, hg. von Angela Lampe (Paris, 2011), S. 23-45. 162 Vgl. Lurje, Mystisches Denken, Geisteskrankheit und Moderne Kunst.

4. Biller als Jugoslawin, Biller als jüdische Künstlerin

spiel Chagalls verhandelt und dadurch zugleich auch als eine dezidiert »Jüdische Kunst« umrissen wird: »Von den Primitiven und Geisteskranken wissen wir schon, daß dies Erleben bei ihnen vorherrscht; schwerer ist es für einen modernen Kulturmenschen zu fassen, daß auch bei uns Menschen noch ganz von diesem mystisch-prälogischen Erleben beherrscht sind und aus ihm heraus schaffen. […] Von den modernen Künstlern möchte ich hier nur auf drei eingehen: Chagall, Archipenko und Kokoschka… Am reinsten ausgeprägt ist diese Erlebensart wohl bei Chagall. Hier sind wir in einem Wunderlande, das mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat; die Menschen fliegen, die Häuser stehen verkehrt, Tiere haben Menschengesichter: Aber woher kommt es, daß ein ganz undefinierbarer Eindruck von diesen Bildern ausgeht? Irgend etwas rührt an unser Innerstes, in dem auch wir noch mystisch empfinden können, es gehen geheime magische Kräfte von diesen Bildern aus. Es macht dies nicht etwa der eigenartige Inhalt des Dargestellten aus, auch früher sind Menschen gemalt worden, die schweben und fliegen, auch früher sind Tiere gemalt worden, die Menschenantlitz tragen – nicht der Inhalt, sondern das Wie des Dargestellten übt diesen Zauber aus.«163 [Hervorhebungen im Original, Anm. MW] Dieses Wie der Darstellung wird im Anschluss von Lurje als die vermeintlich spezifisch »primitive« Malweise Chagalls identifiziert und an keinem anderen Bildbeispiel als der bereits aus meinen Bildanalysen bekannten Arbeit ›Alter Jude über Vitebsk‹ verhandelt: »Am besten ist dies vielleicht durch einen Vergleich zu zeigen: Denken Sie an die erste Radierung aus dem Zyklus ›Das Zelt‹ von Max Klinger: ›Das Frauenglück und die Autoritäten‹. Auch hier schweben Menschen in der Luft – aber sofort fühlt man, das sind Symbole, hier soll etwas dargestellt werden. Und sehen Sie darauf von Chagall das Bild: ›Über Witebsk‹. Der alte Jude, der durch die Luft schreitet, das ist kein Symbol mehr, das ist etwas ganz anderes, mit Worten unserer Sprache nicht zu Beschreibendes, das nur erfühlt werden kann.«164 [Hervorhebung im Original, Anm. MW] Die magisch-sensorische Rezeption eines der Sprache gänzlich Entzogenen wird hier also als Charakteristikum der Kunstpraxis Chagalls installiert und im Folgenden von Lurje an die Semantik des Jüdischen gekoppelt. Bereits im Verlauf von Lurjes Einführung war im Text indes eine derartige Analogisierung »primitiv/kindlich/jüdisch« angeklungen, die an dieser Stelle konsequent weiterverfolgt wird, denn das von Lurje explizierte »mystisch-prälogische Denken« verbindet alle drei: 163 Ebd. S. 21. 164 Ebd.

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»Nachdem wir nun diese mystisch-prälogische Denkart der Primitiven kennen gelernt haben, fragt es sich: Wann und wo tritt bei den Kulturvölkern, deren Denken ein logisches, unter dem Gesetz des Widerspruchs stehendes ist, diese Denkart auf? […] Das mystisch-prälogische Denken findet sich bei allen Menschen in der Kindheit und ferner im Traume wieder […].«165 Mit Verweis auf die von Lurje in Anlehnung an Lévi-Strauss entwickelte Eigenart mystischen Denkens,166 das dem gesprochenen oder geschriebenen Wort eine magische Kraft zuspricht, wird eine solche »primitive« Perzeption nicht nur innerhalb der frühkindlichen Entwicklung sowie der Pathopsychologie verortet, sondern von Lurje über den Begriff des Israelitischen dezidiert mit »dem Jüdischen« in Verbindung gebracht: »Dies wären die Haupteigenheiten der Denkart der Primitiven. Ich will jetzt nur noch eine Einzelheit erwähnen, die für unsere späteren Betrachtungen von Wichtigkeit ist: die magische Kraft der Worte./Und daß dies nicht nur bei den Naturvölkern der Fall ist, sondern auch bei anderen, dafür ist das bekannteste Beispiel, daß bei den Israeliten das hebräische Wort für Gott nie ausgesprochen wurde und auch heute noch nicht ausgesprochen wird, sondern durch das Wort für Herr ersetzt wird. Der Grund hierfür ist natürlich wieder, daß durch das Aussprechen des Wortes irgendwelche dadurch hervorgerufenen Einflüsse hätten entstehen können.«167 Den Gebrauch des hebräischen Wortes Adonai als G’ttesbezeichnung in der jüdischen Alltagspraxis im Sinne eines mytho-poetischen Primitivismus (miss-)deutend, wird der archaisierende und alterisierende Impetus von Lurjes Analogie augenscheinlich. Das an die Persona und Kunst Chagalls geknüpfte »JüdischPrimitive« ist folglich auch über die Denkfigur des Kindlichen organisiert, die überdies eine ebenso prominente Rolle in der ersten deutschsprachigen ChagallMonografie aus der Feder von Abram Efross und Jakob Tugendhold spielt, die 1921 unter dem Titel ›Die Kunst Marc Chagalls‹ in Berlin erscheint.168 Hier wird nicht nur der »kindlich-primitive« sowie der »jüdische« Duktus der Chagall’schen Bildfindungen affirmiert, sondern überdies auch auf die Bedeutung des Kindlichen im Sinne einer Rezeptionshaltung verwiesen: »deshalb kann man in das Innere seiner [Chagalls, Anm. MW] Kunst eindringen, ohne an der Schale zu zerbrechen, nur, indem man in sich die Reste der Kinderträume wachruft und in der 165 Ebd. S. 10. 166 Vgl. zur Rezeption Lévi-Strauss’scher Ideen in den Primitivismus-Debatten der Zwischenkriegszeit im Sinne einer ethnologischen Denkfigur: Gess, Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige der literarischen Moderne. S. 38f. 167 Lurje, Mystisches Denken, Geisteskrankheit und Moderne Kunst. S. 9-10. 168 Vgl. Abram Efross und Jakob Tugendhold, Die Kunst Marc Chagalls (Berlin, 1921).

4. Biller als Jugoslawin, Biller als jüdische Künstlerin

Seele jene vergessenen Empfindungen auferstehen lässt […].«169 Lediglich mittels einer persönlichen Wiederbelebung der eigenen Kindheitserinnerungen könne demnach ein Verständnis der »jüdischen Kunst« Chagalls seitens des Publikums gelingen. Wenig überraschend zitiert Lurje genau diese Textpassage aus der zwei Jahre zuvor publizierten ›Die Kunst Marc Chagalls‹, um eine solche am Kindlichen orientierte Rezeptionshaltung als »die Möglichkeit des jedem Menschen in der Kindheit eigenen mystischen Empfindens«170 zu etablieren und damit »Kindliches/Primitives/Jüdisches« endgültig als synonyme Denkfiguren für die Rezeption und Diskursivierung expressionistischer Kunst zu erschließen. Wenn bereits von Chagalls Selbstinszenierungsstrategien als Ahasver die Rede war (Kapitel 4.2.1), so kann an dieser Stelle angemerkt werden, dass sich eine solche Gleichsetzung ebenfalls bereits in der frühen Rezeption des Künstlers in den 1920er Jahren nachweisen lässt, in deren Rahmen diese jüdische Identifikationsfigur – wie bei Lurje – entlang tradierter Genie-Narrative (männlich, ingeniös) als Ausweis des Kunst-Könnens Chagalls funktionalisiert wird: »Und noch eines ist es, was den großen Eindruck der Werke Chagalls schafft: Nehmen Sie zum Beispiel den Geigenspieler, den er des öfteren [sic!] dargestellt hat: sitzend, gehend, fliegend. Aber das ist nicht irgendein beliebiger Geigenspieler, der in jedem Dorfe zu treffen ist. Etwas allgemein Gültiges, Zeitloses spricht aus diesen Bildern, das ist ein Wesen, das immer da war und immer da sein wird, wie der Ahasver der Sage. Auch diese Wirkung der Bilder kann man nicht mit dem logischen Verstande erklären und verstehen – es kann nur mit dem Innersten gefühlt werden.«171 Der hier offenkundig werdende essentialisierende Duktus der Überzeitlichkeit erfährt als Moment des Ahasverischen eine Rückbindung an Chagalls Künstlerpersona und Kunstpraxis und bildet die Grundlage für die auf einer Gender-Kongruenz basierende, bisweilen reflexartig wirkende Bemühung solcher Interpretationsmuster in der (fachwissenschaftlichen) Auseinandersetzung bis heute.172 Aufgrund dessen bleiben diese, eine geschlechterlogisch exkludierende 169 170 171 172

Ebd. S. 46. Lurje, Mystisches Denken, Geisteskrankheit und Moderne Kunst. S. 22. Ebd. Vgl. exemplarisch Rakitin, »›Mich werdet Ihr nicht finden. Das kann ich ja selbst nicht. Ich habe mein Leben verlassen, bin fortgegangen …‹. Kommentar zur ›Russischen Biografie‹ Chagalls«. S. 16f. Mit biografistischem Impetus wird die Erfahrung von Prekarität und Diaspora dabei zur Primogenitur »des Jüdischen«, die sich im Lebensgefühl und Zeitgeist der Moderne zwischen den beiden Weltkriegen noch zusätzlich potenziere. Das Wiederaufgreifen und/oder Weiterführen dieser entlang etablierter Genie-Narrative entwickelten Trope, die Jüdisch-Sein und Modernitätserfahrung gleichsetzt, findet sich indes auch in einigen grundlegenden Texten der Kunstkritik wieder und offenbart auch hier die Notwendigkeit einer

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Genie-Erzählung tradierenden Deutungen umso mehr auf den Einspruch queerfeministischer Forschungen angewiesen, die mit Verweis auf die strukturellen Ausschlüsse dieses Paradigmas sowie unter Hinwendung zu gegenläufigen historischen Evidenzen – Vjera Billers zeitgleich mit Chagall stattfindende künstlerische Auseinandersetzung mit dieser Figur und, hier in ergänzender Erwähnung, die programmatischen Bezugnahmen der jüdischen Autorin Nina Meyke in ihrem 1900 in Berlin erschienenen ›Ahasver und andere Novellen«173 – Alternativ- und Korrektivperspektiven böten. Abschließend erscheint folglich im breiteren Kontext der Berliner Avantgardekultur der 1920er Jahre auch Billers im Leitmotiv des Kindlichen zentrierte sowie in Bildformeln des Ahasverischen sich artikulierende künstlerische Auseinandersetzung zum Bedeutungsgewebe des Jüdischen hin entworfen. *** Das soeben skizzierte Spannungsfeld zwischen Jewish Primitivism als künstlerische Selbstpositionierung (Biller, Chagall) und Jewish Primitivism als alterisierende Rezeptionshaltung (Lurje) kommt indes nicht ohne eine Problematisierung des streitbaren Terminus‹ »Jüdische Kunst« im Sinne einer diskutablen Differenzstruktur aus. Dies umso mehr, da er überdies bis heute Eingang in neuere und neueste Forschungsliteratur der kunstwissenschaftlichen Fachdisziplinen findet und dort nicht immer kritisch reflektiert wird.174 Unter Zurückweisung eines solchen, auf ontologisierenden Prämissen basierenden Konzepts der »Jüdischen Kunst«, in dem sowohl Kunst- als auch Bildbegriff im Sinne ethnifizierender Marker eine umfassende Essentialisierung erfahren175 – das Bild, die Kunst selbst sei »jüdisch«, – soll an dieser Stelle erneut die radikale Prozesshaftigkeit, Brüchigkeit sowie das diskursive Verwoben-Sein der Semantik des Jüdischen betont werden. Dessen in Kontextabhängigkeiten des Sozialen und Zeitlichen eingebettete Vermitteltheit wird damit weder auf ein vermeintliches Selbst des Kunstwerks noch an eine zu belegende, spezifisch jüdische Herkunft der Künstler:in zurückprojiziert. Vielmehr kann

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gendersensiblen Rezeptionskritik. Vgl. exemplarisch Clement Greenberg, Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken (Hamburg, 2009). S. 443. Und vgl. ebenso Margaret Olin, »C[lement] Hardesh [Greenberg] and Company: Formal Criticism and Jewish Identity«, in Too Jewish? Challenging Traditional Identities. Ausst.Kat. Jewish Museum New York, hg. von Norman Kleeblatt (New York, 1996), 39-59. Sowie Kaplans sich anschließende dekonstruktivistische Kritik dieser Identitätsdebatte(n): Vgl. Louis Kaplan, »Dybbuks of Derrida: Traces of Deconstruction in Contemporary Jewish Art«, Journal of Canadian Art History, Nr. 33 (2012), S. 170-197. Vgl. Nina Meyke, Ahasver und andere Novellen (Berlin, 1900). Vgl. exemplarisch: Tom Sandqvist, Ahasuerus at the Easel. Jewish Art and Jewish Artists in Central and Eastern European Modernism at the Turn of the Last Century (Frankfurt a.M., 2014). Vgl. exemplarisch Clare Moore, Hg., The Visual Dimension. Aspects of Jewish Art (London, 1993). S. 34ff.

4. Biller als Jugoslawin, Biller als jüdische Künstlerin

unter Berufung auf Lisa Silvermans Begriff der Jewish Difference auf den umfassenden sozialen sowie historischen Konstruktionscharakter der hierarchisierten Differenzstruktur »Jüdisch«/»Nicht-Jüdisch« verwiesen werden, ohne damit entsprechende Semantikpotenziale bestimmter künstlerischer Arbeiten (Billers ›Osteria‹ und ›Spaziergang durch Venedig‹) sowie Selbstidentifizierungsmomente einzelner Künstler:innen (Biller, Chagall) und/oder ganzer Kommunikationsgemeinschaften (Berliner Sturm) als jüdisch in Abrede zu stellen.176 Meine in diesem Kapitel vorgenommenen Bildanalysen haben folglich kontextgebunden solche Bedingungen und Bedingtheiten behandelt, in denen bestimmte Motive im Prisma »des Jüdischen« intelligibel und damit sichtbar werden oder aber unsichtbar bleiben. Da Sichtbarkeits- bzw. Unsichtbarkeitsverhältnisse im Feld der Kunst u.a. eng mit den inhaltlichen Grenzziehungen und Kanonisierungen der kunstwissenschaftlichen Fachdisziplin korrelieren, die an der normativen Diskursivierung dieser Differenzstruktur keinen geringen Anteil hat(te),177 sei an dieser Stelle zum Schluss ein dahingehender kurzer Exkurs unternommen, der damit den Kreis von Bildanalysen (Kapitel 3-4) zum einführenden Methodenteil (Kapitel 2) dieser Studie schließt.

4.2.2

Exkurs: »Jüdische Kunst«. Zur Problematisierung eines streitbaren Terminus

»Von jüdischer K[unst] im gleichen Sinne zu sprechen wie von irgendeiner anderen K[unst], ist nicht ohne weiteres möglich«,178 hatte der Kunsthistoriker und Spinoza-Exeget Kurt Freyer bereits in einem 1927 in Berlin erschienenen und vor dem Zeithintergrund der Zwischenkriegsavantgarden nicht irrelevanten Lexikonbeitrag konstatiert. Denn im Unterschied zur Kunst anderer ›Nationen‹ fehle ihr, so Freyer, der »ausgeprägte spezifisch-j[üdische] Charakter«179 . Freyers Beitrag steht 176

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Vgl. Silverman, Becoming Austrians. Jews and Culture between the World Wars. S. 7: »I use the term ›Jewish Difference‹ to refer to the dialectical, hierarchical framework that encompasses the relationship between the socially constructed categories of ›Jew‹ and ›non-Jew‹. This term, which, like gender, refers to the relationship between two cultural ideals, allows us to avoid essentializing our understanding of what is ›Jewish‹ and automatically implies that its definition is necessarily subject to change. Thus, I neither deny nor ignore the ›Jewish content‹ of a work and the degree of Jewish self-identification of its author, but I use neither as an a priori […].« Vgl. exemplarisch auch Hannelore Künzl, Jüdische Kunst (München, 1992). Und kritisch Ernst Gombrich, Jüdische Identität und jüdisches Schicksal. Eine Diskussionsbemerkung, hg. von Frederick Baker und Emil Brix (Wien, 2011). Sowie Dominique Jarrassé, Existe-t-il un art juif? (Paris, 2006). Kurt Freyer, »Kunst, jüdische«. in: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden. Bd. III, hg. von Georg Herlitz und Bruno Kirschner (Berlin, 1929), S. 934. Ebd.

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hier stellvertretend für eine kunstwissenschaftliche Beschäftigungstradition, innerhalb derer »Jüdische Kunst« seit ihrer terminologischen Einführung in Johann Joachim Winckelmanns ›Geschichte der Kunst des Altertums‹ von 1764, die weiterhin als Gründungsschrift der deutschsprachigen Kunstgeschichte reüssiert,180 stets umfassender Rechtfertigung, theoretischer Begründung und bisweilen gar vermeintlich empirischer Nachweise bedarf.181 Der Terminus »Jüdische Kunst« werde indes noch bis zur Jahrhundertwende vergleichsweise selten bemüht, wie Inka Bertz betont.182 Selbst in der Diskursivierung derjenigen Künstler dieser Zeit, die – wie etwa Moritz Daniel Oppenheimer oder Emil Orlik183 – explizit auf ein eigenes jüdisches Selbstverständnis rekurrieren und dieses öffentlich performieren, findet er kaum Erwähnung. Entsprechende Bedeutungsgehalte bleiben – auch wenn sie beispielsweise auf Motivebene offengelegt und somit zu sehen gegeben werden – verborgen.184 Stattdessen wird diese Kunstproduktion von Kunstgeschichte und Kunstkritik aufgrund der diskursmächtigen Rückbindung an kantianische sowie hegelianische Ideen einer Universalität der Kunst, die in ihrer Betrachtung – idealiter: von der gesamten Menschheit – verstanden werden soll, nicht in einem eigenständigen Register des Jüdischen verhandelt: weder in deren Genese, noch in deren Rezeption. Dort, wo dem kunsthistorischen Usus der Zeit folgend, »nationale Schulen« konzediert werden, finden solche Künstler:innen in aller Regel entlang dieser Kategorisierung Eingang in die Kanonisierungskontexte der Kunstgeschichte, des Ausstellungsbetriebs, der Kunstkritik sowie des Kunstmarktes.185 Ein solches Verborgen-Bleiben der Semantik des Jüdischen sieht Bertz indes vor allem in der Praxis jüdischer Akkulturation und Assimilation (zu präzisieren bliebe: deutschsprachiger, meist aschkenasischer Jüd:innen) an die Mehrheitsgesellschaft im heutigen Deutschland begründet.186 Dort orientierte sich die jüdische Bevölkerung an den Idealen und Normen eines protestantischen und preußisch geprägten Bildungsbürgertums der Zeit. Ähnliche Tendenzen sind für die in meiner Studie überdies relevanten Länderkontexte der ehemaligen Habsburger Monarchie

180 Vgl. Bomski, Seemann, und Valk, Die Erfindung des Klassischen. Winckelmann-Lektüren in Weimar. S. 19. 181 Vgl. Kalman Bland, The Artless Jew. Medieval and Modern Affirmations and Denials of the Visual (Princeton, 2001). S. 32. 182 Vgl. Inka Bertz, »Jüdische Kunst als Theorie und Praxis vom Beginn der Moderne bis 1933«, in Das Recht des Bildes. Jüdische Perspektiven in der modernen Kunst, hg. von Hans Günter Golinski und Sepp Hiekisch-Picard (Heidelberg, 2003), S. 148-185. 183 Vgl. Isabel Gathof und Esther Graf, Moritz Daniel Oppenheim. Maler der Rothschilds und Rothschild der Maler (Berlin/Leipzig, 2019). S. 36f. 184 Vgl. Bertz, »Jüdische Kunst als Theorie und Praxis vom Beginn der Moderne bis 1933«. S. 139. 185 Vgl. Ebd. 186 Vgl. Ebd. S. 140f.

4. Biller als Jugoslawin, Biller als jüdische Künstlerin

in Österreich und Ungarn u.a. von Éva Kovács187 und Walter Pietsch188 beschrieben und analysiert worden. In Budapest, wo Biller einen Teil ihrer Jugend verbracht hatte und ihre frühen künstlerischen Ausstellungsaktivitäten im Rahmen der MAAvantgarde belegt sind,189 lassen sich verstärkt in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts konfessionelle und kulturelle Assimilationsbestrebungen der jüdischen Stadtbevölkerung dokumentieren: In Reaktion auf antisemitische Anfeindungen manifestieren sich diese vor allem in einer wachsenden Zahl von Konversionen zum Katholizismus, der Forcierung des Deutschen als lingua franca sowie der Wahl eingedeutschter oder magyarisierter Nachnamen.190 Der nicht zuletzt durch die Schriften Richard Wagners seit 1850 befeuerte Antisemitismus im Feld des Künstlerischen191 hatte als fester Bestandteil des christlich-bürgerlichen deutschsprachigen Bildungs- und Kunstkanons indes ebenfalls keinen geringen Anteil an der kunsthistorischen Diskursivierung »Jüdischer Kunst«.192 Im diskursiven Spektrum antisemitischer Rhetorik wird dabei häufig auf das naturalisierende Stereotyp einer vermeintlich spezifisch »jüdischen« Ikonophobie rekurriert, die sich aus den Zehn Geboten der Tora ableite: das Bilderverbot.193 »Jüdische Kunst« könne deshalb schon von Gesetzes wegen nicht existieren. Ähnlich antisemitisch motivierte Deutungen wurden vor dem Hintergrund einer verstärkten Rezeption jüdischer Folkloren und kabbalistischer Schriften in Literatur und Film der Weimarer Republik ab Beginn der 1920er Jahre ebenfalls für die Golem-Legende in Anschlag gebracht.194 Dass das mosaische 187

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Vgl. Éva Kovács, »Die Ambivalenz der Assimilation. Postmoderne oder hybride Identitäten des ungarischen Judentums«, in Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis, hg. von Johannes Feichtinger, Moritz Csáky und Ursula Prutsch (Innsbruck, 2003), S. 197-208. Vgl. Walter Pietsch, »Zsidó asszimiláció Magyarországon – illúzió vagy valóság? A magyarországi antiszemitizmus történetéről«, Múlt és Jövő, Nr. 6/3 (2003), S. 123-129. Hier S. 125. Vgl. Biografische Karte im Quellenteil II. Vgl. Kovács, »Die Ambivalenz der Assimilation. Postmoderne und hybride Identitäten des ungarischen Judentums«. S. 200. Vgl. weiterführend zu Wagners gespaltenem Verhältnis zum »Jüdischen« : Andrea Winklbauer, Hg., Euphorie und Unbehagen. Das jüdische Wien und Richard Wagner, Ausst.Kat, Jüdisches Museum Wien (Wien, 2013). Vgl. Jens Malte Fischer, Hg., Richard Wagners »Das Judentum in der Musik«. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus (Frankfurt a.M., 2000). S. 17. Vgl. Ebd. S. 59. Zur diskutablen Problematisierung und Kritik antisemitischer Elemente in Kants Gesamtwerk: Bettina Stangneth, »Antisemitische und Antijudaistische Motive bei Immanuel Kant? Tatsachen, Meinungen, Ursachen«, in Antisemitismus bei Kant und anderen Denkern der Aufklärung, hg. von Horst Gronke, Thomas Meyer und Barbara Neißer (Würzburg, 2001), S. 11-124. Zu Inhalt, Variationen und Interpretationen der Legende vgl. grundlegend Mosheh Idel, Der Golem. Jüdische magische und mystische Traditionen des künstlichen Anthropoiden (Frankfurt a.M., 2007). Sowie Kerry Wallach, Passing Illusions. Jewish Visibility in Weimar Germany (Ann Arbor,

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Bilderverbot im Judentum indes keineswegs zu einem »Ausbleiben« von am Visuellen orientierter Kunst-, Kultur- und Kultpraktik geführt hat, wurde u.a. von Margaret Olins grundlegender Studie ›The Nation without Art. Examining Modern Discourse on Jewish Art‹ expliziert und der Vorwurf der Ikonophobie in (kunst-)historischer Perspektive als antijüdisches Klischee entlarvt.195 Das verstärkte Sichtbar-Werden als dezidiert jüdisch markierter Künstler:innenpositionen sowie die Diskursivierung derselben im Register des Jüdischen ist in der Zwischenkriegszeit indes mit Haskalah und jüdischer Emanzipation gleichermaßen in Verbindung gebracht worden.196 Insbesondere die um Nativismen kreisenden Avantgardeprogramme und deren Schlagworte der »Erneuerung«, der »Wiedergeburt«, des »Authentischen« sowie des »Eigenen« bieten dabei Raum für jüdische Perspektiven und deren Sichtbarwerdung,197 wie – allen voran – im Berliner Sturm-Expressionismus. Wie anhand meiner Ausführungen in Kapitel 4.2.1.2 deutlich geworden ist, zeitigt die im rhetorischen und visuellen Repertoire des Primitivismus verortete Sichtbarwerdung und Diskursivierung des Jüdischen in dialektisch wirkender Wendung zugleich jedoch auch deren essentialisierte Rezeption als »Jüdische Kunst« im Sinne einer Primogenitur der Moderne, die bis weit in jüngere und jüngste Forschungen zum Thema hineinwirkt.

2017). S. 161. Zur populären Rezeption des Golems in Gustav Meyrinks Roman Der Golem (1914) sowie in Paul Wegeners expressionistischer Stummfilm-Reihe Golem (1915-1920) vgl.: Veronika Schmeer, Inszenierung des Unheimlichen. Prag als Topos. Buchillustrationen der deutschsprachigen Prager Moderne (1914-1925) (Göttingen, 2015). S. 78f. 195 Vgl. Margaret Olin, The Nation without Art. Examining Modern Discourses on Jewish Art (Lincoln, 2001). 196 Vgl. Ebd. S. 72-75. 197 Vgl. Bertz, »Jüdische Kunst als Theorie und Praxis vom Beginn der Moderne bis 1933«. S. 150.

5. Abschluss und Ausblick

Am Ende der Bildanalysen angelangt, sollen hier nun die bisherigen Analyseergebnisse, Denkansätze, Ideenstränge sowie offen gebliebenen Fragen nochmals in einigen gleichermaßen abschließenden wie ausblickhaften Überlegungen gebündelt werden. Ausgehend von einer biografischen Skizze zur Vita Vjera Billers, die bereits einige der tradierten Prämissen jüngerer und jüngster Forschungen (Ćurić, Subotić) quellenbasiert korrigieren bzw. erweitern konnte, wurde im ersten Kapitel der zu analysierende Materialfundus vorgestellt, sodann die Materialauswahl inhaltlich und methodisch begründet sowie der Forschungsstand zur Künstlerin, zur Zwischenkriegsavantgarde sowie zur kunstwissenschaftlichen Primitivismusund Archaismus-Forschung dargelegt. Mittels einer am Materialkorpus selbst entwickelten und im Methodenteil des zweiten Kapitels ausführlich qualifizierten Analytik, die mit Bourdieu, Kristeva und Panofsky Anleihen bei einer kritischen Ikonologie sowie beim Habitus- und Feldbegriff macht, wurde das künstlerische Material – das zum Fragment gewordene Oeuvre Billers – zum Ausgangspunkt meiner Betrachtungen. Das die Kunstpraxis Billers prägende Leitmotiv des Kindlichen war dabei primärer Gegenstand des Erkenntnisinteresses, welches sich auf die hieran geknüpften Entwürfe von Künstlerinnenschaft und deren Verwoben-Sein in jenen, sehr unterschiedlichen, transeuropäischen AvantgardeKommunikationsgemeinschaften (MA, Sturm und Zenit), in denen Biller zwischen 1919 und 1926 sichtbar geworden ist, konzentriert hat. Die die spärliche Rezeption der Künstlerin prägenden Alterisierungs- und Balkanisierungstendenzen sind indes auf Grundlage der im Rahmen des Schlüsselbegriffskapitels etablierten Termini »Balkan« und »Barbarisches« einer kritischen Kontextualisierung unterzogen und für die weiteren Untersuchungen etabliert worden. Billers erfolgreiche Positionierung als Künstlerin im Zenitismus, jener von Ljubomir Micić ins Leben gerufenen jugoslawischen Avantgarde-Gruppe in Zagreb und Belgrad, ab 1924 hat Anlass zu einer tiefergehenden Analyse der Bedingungen und Bedingtheiten ihrer Künstlerinnenschaft in diesem spezifischen Kontext gegeben. Das um die Zentralsemantik des Barbarischen kreisende Programm des Zenitismus installiert, wie meine auszughafte Auseinandersetzung mit der zeitgleich im Zenit-Magazin abgedruckten zenitistischen Textproduktion gezeigt hat, in der

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hyper-virilen Denkfigur des Barbarogenije – des ingeniösen männlichen »Künstlerbarbaren vom Balkan« – einen geschlechterlogisch organisierten Exklusionsmechanismus. Mit dieser positiven Affirmation des Barbarischen und Balkanischen innerhalb der nativistischen Eigenbeschreibung des Zenit als selbsternannte, hyper-virile Balkan-Avantgarde galt es in der Folge, Billers erfolgreiche Positionierung als Künstlerin und Zenitistin zu konfrontieren. In diesem Zusammenhang hat sich vor allem die Analyse des Blattes ›Markt‹ aus der Venedig-Serie als aufschlussreich erwiesen (Kapitel 3.1.2). Auf Grundlage der hier gezeigten singulären Darstellung ausschließlich als weiblich markierter Bildfiguren konnte dieses Blatt für die Leitfrage nach Entwürfen von Künstlerinnenschaft im Zenit nutzbar gemacht werden. Denn mit der hier von Billers inszenierten Weitergabe einer Traubenrispe »von Frau zur Frau« hin zur Kleinmädchenfigur findet die topische Ikonografie der Trauben des Zeuxis eine empathische und geschlechterlogisch wirksam werdende Modifikation auf Motivebene: Anstelle der plinischen »Meistermaler« werden hier nun vielmehr Frauen- und Mädchenfiguren gezeigt und diese damit in einer bereits um die Jahrhundertwende etablierten Motivtradition, die um die Semantiken des Kunstschaffens, der Weiblichkeit sowie des Früchte-Pflückens bzw. Weiterreichens im Sinne eines durchaus genealogisch ausdeutbaren Plädoyers für Künstlerinnenschaft jenseits maskulinistischer Tropen kreist, verortet. Billers Ins-Bild-Setzen der Kleinmädchenfigur mit den Trauben als metaphorisches Signum des Künstlerischen und Kreativen wurde in einem zweiten Schritt wiederum zum Anlass genommen, um, dem soeben skizzierten Ideenstrang weiter folgend, die These eines »barbarisierten« Kindlichen in Billers Leitmotiv in Anschlag zu bringen, das auf einen Zugewinn an kreativer Freiheit und Emanzipation hinausläuft und wiederum ein Erklärungsangebot liefert für die Sichtbar-Werdung Billers im hyper-virilen Programm der Zenit-Avantgarde. Diese These wurde im Anschluss argumentativ mittels der Gedanken Walter Benjamins zur kindlichen Souveränität und Kreativität im Kinderspiel weiter konturiert und geschärft (Kapitel 3.1.3). Im Benjamins Textkorpus aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts fallen, wie allen voran die Auseinandersetzung mit der ›Berliner Kindheit‹ und dem ›Entwurf für ein proletarisches Kindertheater‹ illustriert hat, die Denkfiguren des Kindlichen sowie des Barbarischen in eins. Über den vermittelnden Nexus »des Primitiven« kommt der kindlichen Kreativität, die mit Benjamin im Modus des Kinderspiels zwischen den Polen der Mimesis (der Nachahmung) sowie der Destruktion (der Neuschaffung) schwebt, dabei eine Schlüsselfunktion zu. Das benjaminische Verständnis des Kindlichen als Barbarisches, mithin Entmenschlichtes und Despotisches, zielt dabei auf ein Mehr an kreativer Freiheit ab und wird folglich in Verbindung gebracht mit dem präpotenten, »diktatorischen« Verhalten spielender Kinder, die in diesem Modus des Spielens die eigene Souveränität unter

5. Abschluss und Ausblick

Beweis stellen und gänzlich autonom »neue«, den Erwachsenen kaum zugängliche Welten erschaffen. Auf diese Weise kann Benjamin dem barbarischen Despotismus des Kindlichen folglich ein emanzipatives Element abgewinnen. Im analytischen Brennglas dieser mit Benjamin entwickelten Überlegungen zum emanzipativen Potential des Kindlich-Barbarischen konnten Billers Kinderfiguren schließlich als ein solcher ins Bild gesetzter Moment eines Zugewinns an Kreativität gelesen werden. Einer anti-idealistischen Wendung folgend, findet Billers Leitmotiv des Kindlichen als Register des Barbarischen mit Benjamin demnach eine Ausformulierung jenseits des Rousseau’schen Kindlichkeitsverständnisses, das dieses als romantisierte Verkörperung des »Ursprünglichen«, »Unschuldigen« und damit zugleich auch Passiven imaginiert. Ein derart umrissenes Kindliches mit inhärent barbarischen Qualitäten hingegen bietet mit Blick auf Billers erfolgreiche Positionierung als Künstlerin im hyper-virilen Feld des Zenitismus ideologische wie motivische Anschlussmomente innerhalb der dort virulent werdenden avantgardistischen Nativitätsrhetorik. Jenseits der zenitistischen Engführung auf den ingeniösen männlichen »Balkan-Barbaren«, wie ihn Ljubomir Micić und Risto Ratković propagieren, aber diesseits des primitivistischen Topos des Barbarischen scheint somit in Billers figürlichem Kondensat des Kindlich-Barbarischen Anspruch auf Teilhabe an der seitens des Zenitismus so geforderten kreativ-künstlerischen »Neuschaffung von Welt« durch »Balkanisierung« und »Barbarisierung« verbürgt. Fernerhin kann das sich von maskulinistischen Genie-Narrativen abwendende Leitmotiv Billers ebenso als ein Register des Zivilisationskritischen umrissen werden. Dadurch ergeben sich, wie im Rahmen der Kapitel 3.2.1 und 3.2.2 bildanalytisch gezeigt werden konnte, sowohl im Zenit-Kontext als auch in der Berliner Sturm-Avantgarde ästhetische sowie motivische Deckungsgleichheiten und inhaltliche Schnittmengen, die die Rezeption des Kindlichen und der daran geknüpften Sichtbarkeit Billers als Künstlerin in der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaft begleiten und amplifizieren. Informiert durch die bereits mehrfach offenkundig gewordenen Konvergenzen und/oder Paradoxien in den Selbst- und Fremdzuschreibungen an Billers Künstlerinnenposition sowie an ihr Oeuvrefragment, wurde diesem Themenkomplex im Verlauf des Anschlusskapitels (Kapitel 4ff.) erneut mittels Bildanalysen nachgegangen. Zunächst stand dabei, auf Grundlage der archivarisch erhaltenen Eigenbeschreibung Billers als »Jugoslawin« in ihrer Briefkorrespondenz mit Ljubomir Micić, diese Selbstverortung im Fokus, der die darauf unmittelbar folgende widersprüchliche Rezeption ihrer Arbeiten als Teil einer dezidiert serbischen Kunstproduktion der SHS im Rahmen der großangelegten Zenit-Ausstellung von 1924 gegenübergestellt wurde. Billers Ins-Bild-Setzung ihrer Kinderfiguren vor der ikonischen Baugestalt des Markusdoms auf dem Blatt ›Piazza San Marco‹ der Venedig-Serie (Kapitel 4.1) wurde dabei als ein Überschneidungsmoment mit der

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zenitistischen Byzanz-Rezeption im Sinne eines Serbo-Byzantinismus sowie eines Interesses an der Zenitisierung des Italienischen identifiziert (Kapitel 4.1.1 und 4.1.2). Wie von mir in vergleichender Perspektive mit dem Mosaik-Programm des Markusdoms herausgearbeitet werden konnte, lassen sich Billers avantgardistischprimitivistische Gestaltungsmittel – katalysiert durch die zeithistorisch relevante Gleichsetzung von Mosaik, Markuskirche und Byzanz – als ein künstlerischer Neo-Byzantinismus umreißen: Mit ihrer von Schematisierung, Geometrisierung, Zweidimensionalität sowie Ikonizität geprägten Kunstpraxis rezipiert, emaniert und modifiziert Biller folglich ein aus moderner Perspektive reaktualisiertes Byzantinisches. Überdies konnte gezeigt werden, dass aufgrund solcher, sich sowohl auf Figuren- als auch auf Kompositionsebene manifestierender Schnittmengen die zeitgenösisch-zenitistische Rezeption Billers als Vertreterin einer dezidiert serbischen Kunsttradition ihre Wirksamkeit zu entfalten scheint und Biller – verstärkt durch die von der Künstlerin ab 1923-24 selbst forcierte Betonung ihres Lebensmittelpunkts in Abazzia/Opatija – den Eintritt in die maskulinistisch geprägte Kommunikationsgemeinschaft des Zenitismus überhaupt erst ermöglicht (Kapitel 4.1.3). Mit Verweis auf die vor allem im Berliner Sturm-Expressionismus, zu dessen präsentesten und aktivsten Künstler:innen Biller zwischen 1921-22 zählt, relevant werdende Rezeptionsebene des Jüdischen ist im Anschluss der Frage nach den (Un-) Möglichkeiten eines jüdischen Selbstverständnisses Billers nachgegangen worden (Kapitel 4.2). Dabei konnte auf ikonografischer Ebene – zusätzlich zum mit der Frauenemanzipation und »dem Jüdischen« gleichermaßen assoziierten Bubikopf – insbesondere das hier in den Fokus der Analyse rückende, wiederholte Auftauchen der jüdischen Identifikationsfigur »Alter Jude«/»Wandernder Jude«, der in gleich zwei Arbeiten der Venedig-Serie – ›Osteria‹ und ›Spaziergang durch Venedig‹ – Billers Kinderfiguren begleitet, als wichtiges Indiz einer solchen künstlerischen Auseinandersetzung gewertet werden (Kapitel 4.2.1.1). Mittels des exemplarischen Werkvergleichs mit den Arbeiten Marc Chagalls, mit denen diese Bildformel vor allem in Verbindung gebracht wird, konnte dieser Interpretationsstrang weiter konkretisiert und Ähnlichkeits- sowie Differenzgehalte erschlossen werden (Kapitel 4.2.1). Dieser Vergleich zwischen Biller und Chagall war ferner nicht nur aufgrund der sich überschneidenden Ikonografien indiziert, sondern überdies auch begründet in den nachweislich konvergierenden Kontakt- und Kommunikationsräumen Billers und Chagalls in Berliner Sturm-Kreisen zu Beginn der 1920er Jahre, in denen beide gemeinsam von Herwarth Walden ausgestellt wurden. Das von Biller und Chagall geteilte programmatische Interesse am »Primitiven« kann indes entlang des Begriffs des Jewish Primitivism selbst als ein Moment der Selbstpositionierung im Register des Jüdischen begriffen werden (Kapitel 4.2.1.2). Dies wird verstärkt durch die zeithistorisch im Sinne eines Diskursmusters relevant werdende Analogisierung von »Jüdischem-Kindlichem-Primitiven«, die mei-

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nerseits, in Ermangelung verschriftlichter Belege einer zeitgenössischen Rezeption Billers in Berlin, exemplarisch anhand der 1923 veröffentlichten Schrift Walter Lurjes, ›Mystisches Denken, Geisteskrankheit und Moderne Kunst‹, nachvollzogen wurde, die Chagall entlang tradierter maskulinistischer Genie-Narrative als ingeniösen Ahasver und jüdischen Künstler par excellence installiert. Die umfassende Prozesshaftigkeit, Brüchigkeit sowie das diskursive Verwoben-Sein der Semantik des Jüdischen herauszustellen war im Sinne eines Abschlussexkurses das Anliegen dieses Kapitels, das unter Berufung auf Jewish Difference den sozial und historisch bedingten Konstruktionscharakter der hierarchisierten Differenzstruktur »Jüdisch«/»Nicht-Jüdisch« stark gemacht hat, ohne dabei entsprechende semantische Potenziale bestimmter künstlerischer Arbeiten (Billers ›Osteria‹ und ›Spaziergang durch Venedig‹) sowie programmatischer, selbstbewusster Identifizierungsmomente einzelner Künstler:innen (Biller, Chagall) und/oder ganzer Kommunikationsgemeinschaften (Berliner Sturm) als jüdisch zu ignorieren. Meine Analyseergebnisse ergänzend, ergeben sich an dieser Stelle als Forschungsdesiderate weiterhin die detaillierte Aufarbeitung von Billers Ausstellungsaktivitäten in der Casa d’arte Bragaglia in Rom, in der die Künstlerin zu Beginn der 1920er Jahre nachweislich zweimal präsentiert wurde.1 In diesem Zuge wäre ebenfalls die Frage nach möglichen Verbindungslinien zum italienischen Futurismus zu stellen, die damit erneut die transeuropäischen, reziproken Vernetzungen der Zwischenkriegsavantgarden – in Berlin, Belgrad, Rom – jenseits einzelner männlicher Schlüsselpersönlichkeiten (Walden, Micić, Marinetti) vor Augen führen könnte.2 Als Forschungsdesiderat bliebe ebenfalls die ausführliche Auseinandersetzung mit Billers Ausstellungsaktivitäten in Hannover (1921-22?), Hamburg (1921-22?) sowie in Paris (1933) zu konstatieren.3 Die im Rahmen dieser Studie lediglich angerissenen Ideenstränge, die sich um die spezifische Technik der Biller’schen Kunstpraxis – den Linoleumschnitt im Sinne eines besonders deutlich aufs Kindliche rückprojizierbaren Mediums – drehen, wären zudem im Kontext der expressionistischen Ästhetik des Berliner Sturm weiterzuentwickeln. Für ein solches Anliegen scheinen beispielsweise die Holzschnitt-Arbeiten weiterer Sturm-Künstlerinnen wie Maria Uhden und Jacoba van Heemskerck besonders geeignet. Neben der primitivistischen Fruchtbarmachung des Kindlichen als expressionistischer Nativismus im Berliner Sturm wäre 1 2

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Vgl. Antonella Vigliani Bragaglia, »Casa d’arte Bragaglia. Esposizioni allestite nel periodo dal 1918 al 1928«, Maske und Kothurn, Nr. 12/4 (1966), S. 425-426. Hier S. 426. Vgl. Ann-Katrin Günzel, »Kunst+Leben=arte-azione. Von der futuristischen serata zur dadaistischen soirée über die Vermittlung Herwarth Waldens und des Sturm«, in Der Sturm. Literatur, Musik, Grafik und die Vernetzung in der Zeit des Expressionismus, hg. von Andrea von HülsenEsch und Henriette Herwig (Berlin/Boston, 2015), S. 59-82. Vgl. Vidosava Golubović, »Pisma Vjere Biller Ljubomiru Miciću (Književni arhiv Ljubomira Micića 4)«.

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überdies auch die meinerseits bereits skizzierte avantgardistische Rezeption der Populärmedien Cartoon und Comic weiterzuverfolgen,4 für die Billers Kunstpraxis ein besonders frühes Beispiel liefert. Hinsichtlich der Proliferation des Byzantinischen im Feld der Künste in den 1920er Jahren und dessen primitivistischer Inanspruchnahme in ganz verschiedenen avantgardistischen Programmen, für die Billers Oeuvrefragment ebenso exemplarisch steht, bliebe indes ebenfalls weiteren Bedeutungsdimensionen nachzuspüren. Vor allem hinsichtlich des Dadaismus scheint ein solches Unterfangen überaus lohnenswert. Denn mit Hugo Balls 1923 in München veröffentlichten Schrift ›Byzantinisches Christentum‹, die sich u.a. den Schriften des Hl. Klimakos widmet,5 dessen theologische Abhandlungen auf baugestalterischer Ebene die Entwürfe zum nie realisierten zenitistischen Symbolbau – dem Zeniteum – inspiriert und in Belgrad im Sinne eines Serbo-Byzantinismus rezipiert wurden, wird Byzanz hier zeitgleich als Primitivismus des Früh-Christlichen aus katholischer Perspektive diskursiviert und von Ball für die dadaistische Avantgarde beansprucht. *** Billers Leitmotiv des Kindlichen ist eingebettet in die von Primitivismen geprägte Ästhetik, Kultur und Ideologie der transeuropäischen Zwischenkriegsavantgarden der 1920er Jahre und kann entlang unterschiedlich gelagerter Semantiken sowie daran geknüpfter (Un-)Sichtbarkeitspotenziale Künstlerinnenschaft erschließen und diese zur Anschauung bringen: im Register des Barbarisch-Kreativen, des Zivilisationskritischen sowie in Auseinandersetzung mit »dem Jüdischen«. Auf Gestaltungsebene wiederum erlaubt Billers primitivistische Kunstpraxis ebenfalls vielfältige Interpretationshorizonte, die teils von der Künstlerin selbst performativ bespielt werden und die, trotz Momenten der Widersprüchlichkeit, die länderund gruppierungsgrenzenübergreifende Rezeption ihrer Arbeiten – mal als NeoByzantinismus, mal als Jewish Primitivism – begünstigt und Handlungsspielräume eröffnet. Mein innerhalb dieser Studie formuliertes Lektüreangebot teils kongruenter, teils sich bedingender und teils auch dissonant bleibender Analyse- und Gedankenstränge bietet damit letztlich eine Alternative zur bereits mehrfach monierten unterkomplexen und ethnifizierenden Forschungsrezeption Billers als vermeintliche »Balkan-Künstlerin«, »naive Kind-Künstlerin« oder gar als »Geisteskranke«. Vielmehr können die Ergebnisse meiner Analysen nicht nur den Facettenreichtum der Biller’schen Kunstpraxis sowie deren konzise Selbstpositionierungsstrategien im Spannungsfeld von Fremd- und Eigenbeschreibung belegen, sondern überdies 4 5

Vgl. Benesch, »Die Maler des Blauen Reiter und der japanische Farbholzschnitt«. Vgl. Ball, Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben.

5. Abschluss und Ausblick

– in der Kritik der oben genannten Forschungstradition – auf die radikale Kontextgebundenheit des künstlerischen Feldes verweisen. Als Relat dieser kontextbedingten und vom Material her gewonnenen Multidimensionalität wird Billers Oeuvrefragment schließlich in ganz unterschiedlichen, miteinander verwobenen und prismenartig aufgefächerten Bedeutungsebenen intelligibel, in denen sich Zeitgeschichte symptomatisch verdichtet: Biller als transeuropäische Avantgardistin, Biller als Exilkünstlerin, Biller als Jugoslawin, Biller als jüdische Künstlerin, Biller als serbische Zenitistin, Biller als New Woman, Biller als Sturm-Künstlerin, Biller als österreichische Staatsbürgerin, Biller als vermeintliche »Geisteskranke« und Homosexuelle, Biller als im Nationalsozialismus Verfolgte, Biller als Opfer der NS»Euthanasie«. Mit der Wieder-sichtbar-Machung des (Un-)Sichtbar-Werdens dieser Künstlerin und ihres Oeuvrefragments, im Sinne einer zeitgeschichtlich bedeutsamen und unwiederbringlichen Leerstelle, konnte – so meine Hoffnung am Ende dieses Buches – eine Akzentverschiebung hin zur fachinternen Würdigung Vjera Billers auf den Weg gebracht werden, ohne dabei eine ausschließlich viktimisierende Perspektive einzunehmen. Stattdessen tritt Biller als die zeitlebens erfolgreiche »Ausnahmekünstlerin« wieder in Erscheinung, die, um den Entwurf einer eigenständigen Künstlerinnenschaft und einer Vision des Kreativen jenseits avantgardistischer Maskulinismen einzulösen, nicht mehr benötigt als die Figur eines kleinen Kindes.

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Abb. 1 Vjera Biller: ›Gondel‹ (1921-22), Schwarzlinienschnitt in Linoleum, 24,3 x 32,6 cm, Serbisches Nationalmuseum, Belgrad. Sig. 35_2886.

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Abb. 2 Vjera Biller: ›Spaziergang durch Venedig‹ (1921-22), Weißlinienschnitt in Linoleum, 32,9 x 24,1 cm, Serbisches Nationalmuseum, Belgrad. Sig. 35_2888.

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Abb. 3 Vjera Biller: ›Markt‹ (1921-22), Schwarzlinienschnitt in Linoleum, 32,6 x 24,3 cm, Serbisches Nationalmuseum, Belgrad. Sig. 35_2885.

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Abb. 4 Vjera Biller: ›Osteria‹ (1921-22), Weißlinienschnitt in Linoleum, 33,0 x 24,0 cm, Serbisches Nationalmuseum, Belgrad. Sig. 35_2884.

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Abb. 5 Vjera Biller: ›Piazza San Marco‹ (1921-22), Schwarzlinienschnitt in Linoleum, 33,0 x 24,5 cm, Serbisches Nationalmuseum, Belgrad. Sig. 35_2883.

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Abb. 6 Vjera Biller: ›Alte Kastanienverkäuferin‹ (1921-22), Weißlinienschnitt in Linoleum, 33,1 x 24,2 cm, Ungarische Nationalgalerie, Budapest.

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Abb. 7 Vjera Biller: ›зенит/Zenit‹ (1924), Pastell auf Papier, 46,8 x 60,3 cm, Serbisches Nationalmuseum Belgrad. Sig. 32_1639.

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Abb. 8 Vjera Biller: ›пет година зенита/Pet godina Zenita‹ (»Fünf Jahre Zenit«) (1926), Pastell auf Papier, 62,3 x 47,7 cm, Serbisches Nationalmuseum Belgrad. Sig. 32_1638.

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Abb. 9 Vjera Biller: ›пет година зенита/Pet godina Zenita‹, Zenit, Nr. 38 (1926), o. S. [S. 3]; Abb. 10 Vjera Biller: ›Eisenbahn‹, Zenit, Nr. 25 (1924), o. S. [S. 9] .

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Abb. 11 Lajos Kassák, (Hg.), »Katalogus. A Ma grafikai (VII.) kiállitásához«, MA, Nr. 1/IV (1919). o. S. [S. 1].

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Abb. 12 Sturm-Katalog (Mai 1921): 98. Ausstellung (»Rudolf Bauer Vjera Biller, Gesamtschau«), o. S. [S. 1-2].

Abb. 13 Sturm-Katalog (Juli/August 1921): 99. Ausstellung, o. S. [S. 1, 5].

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Abb. 14 Sturm-Katalog (September 1921): 100. Ausstellung (»Zehn Jahre Sturm, Gesamtschau«), S. 1, 4.

Abb. 15 Sturm-Katalog (Dezember 1921): 103. Ausstellung, S. 1, 8.

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Abb. 16 Sturm-Katalog (Januar 1922): 104. Ausstellung, o. S. [S. 1, 5].

Abb. 17 Sturm-Katalog (Februar 1922): 105. Ausstellung, o. S. [S. 1-2].

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Abb. 18 Sturm-Katalog (Mai 1922): 108. Ausstellung, o. S. [S. 1, 4].

Abb. 19 Sturm-Katalog (Juni/Juli 1922): 109. Ausstellung, o. S. [S. 1-2].

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Abb. 20 Sturm-Katalog (August 1922): 110. Ausstellung, o. S. [S. 1-2].

Abb. 21 Sturm-Katalog (September 1922): 111. Ausstellung, o. S. [S. 1-2].

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Abb. 22 Sturm-Katalog (Oktober 1922): 112. Ausstellung, o. S. [S. 1-2].

Abb. 23 Sturm-Katalog (Dezember 1922): 114. Ausstellung, o. S. [S. 1-2].

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Abb. 24 Ljubomir Micić, »Во Имја Зенитизма. Каталог Прве зенитове међународне изложбе у Београду 1924 г./Vo Imja Zenitizma. Katalog prve zenitove međunarodne izložbe u Beogradu 1924 g.«, Zenit, Nr. 25 (1924), o. S. [S. 3]; Abb. 25 Paul Gauguin: ›Contes barbares‹ (1902), Öl auf Leinwand, 131,5 x 90,5 cm, Museum Folkwang, Essen, Sig. G 54.

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Abb. 26 Ljubomir Micić, »кола за спасавање/Kola za spasavanje« (»Rettungswagen«), Zenit 17-18 (Oktober 1922), o. S. [ S. 6 ]).

Abb. 27 Mary Cassatt: ›Young Women Plucking the Fruits of Knowledge or Science‹ (1893), zeitgenössische Reproduktion des nicht mehr erhaltenen Wandgemäldes im Woman’s Building der World’s Columbian Exhibition, Chicago.

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Abb. 28 Mary Cassatt: ›Child Picking a Fruit‹ (1893), Öl auf Leinwand, 100,3 x 65,4 cm, Virginia Museum of Fine Arts, Richmond, Sig. 75.18; Abb. 29 Mary Cassatt: ›Young Women Picking Fruit‹ (1891), Öl auf Leinwand, 130,8 x 90,2 cm, Carnegie Museum of Art, Pittsburgh, Sig. 22.8.

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Abb. 30 Mary Cassatt: ›Gathering Fruit‹ (1893), Kaltnadel-Radierung und Aquatinta, fünfter Abzug, Metropolitan Museum of Art, New York, Sig. 18.33.4.

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Abb. 31 Maria Uhden: ›Insel‹ (1918), Holzschnitt auf Reispapier, 31,0 × 22,3 cm, Yale University Art Gallery, New Haven. Sig. 1944.55; Abb. 32 Maria Uhden: ›Tanz‹ (1917), Holzschnitt auf Papier, 24,0 × 19,7 cm, Yale University Art Gallery, New Haven. Sig. 1941.730.

Abb. 33 Jo Klek: ›Zeniteum I‹, Zenit, Nr. 35 (Dezember 1924): o. S. [S. 6 ].

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Abb. 34 Jo Klek: ›Zeniteum II‹, Zenit, Nr. 35 (Dezember 1924): o. S. [S. 9].

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Abb. 35 Venedig, San Marco, Nordkuppel, Wunderheilung des Stacteus.

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Abb. 36 Venedig, San Marco, Atrium, erste Josephskuppel, Wiederkehr von Ruben und den Brüdern Josefs zum Brunnen.

Abb. 37 Venedig, San Marco, Atrium, Moseskuppel, Moses’ Wundertaten.

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Abb. 38 Venedig, San Marco, Atrium, nördliches Querhaus, Visitationsszene und Josef und Maria.

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Abb. 39 E.M. Lilien: ›Der müde Wanderer‹ (1922), Radierung und Aquatinta, 33,1 x 28,6 cm, Israel Museum, Jerusalem, Geschenk der Lilien-Familie, Rehovot; Abb. 40 Marc Chagall: ›Erinnerung‹ (1914?-1922), Gouache, Tinte und Bleistift auf Papier, 31,7 x 22,3 cm, Solomon R. Guggenheim Museum, New York, Sig. 41.440.

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Abb. 41 E.M. Lilien: ›Ahasver‹ (1919), Kupferstich auf Papier, 32 x 27,5 cm, Privatsammlung, Tel Aviv.

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Abb. 42 E.M. Lilien: ›Passah‹ (1900), Lithografie und Buchillustration auf Papier, 25,1 x 19,5 cm.

Abb. 43 Marc Chagall: ›Exodus‹ (1909), Bleistift auf Papier, 23,2 x 35,4 cm, Centre Pompidou, Paris.

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Abb. 44 Krankenakt – Vjera Biller (1935), MA 8 Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Sig. 1.3.2.209.2.A11/2.

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Abb. 45 Krankenakt – Vjera Biller, Detail: Fotografie (datiert: 22.08.1935), MA 8 Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Sig. 1.3.2.209.2.A11/2.

Quellenteil

I.

Transkription der Briefkorrespondenz Vjera Biller – Ljubomir Micić (1923-1928)

(1.) Brief vom 7.12.1923: Geehrter Herr Mitzitch! Ich schickte heute sieben Bilder nach Belgrad. Da ich den Wert angeben musste und von Ihnen bezüglich des Preises noch keine Antwort erhielt, machte ich selbst den Preis, für ein Bild fünftausend Dinar. Hoffentlich kommen die Bilder gut an. Hochachtungsvoll Vjera Biller *** (2.) Brief vom 8.12.1923: Sehr geehrter Herr Mitzitch! Ich habe soeben ihre geschätzte Karte erhalten. Gestern habe ich Bilder und auch einen Brief geschickt. Hier ein paar Informationen über mich: Ich wurde 1903 in Dakovo geboren. In Kroatien habe ich gelebt bis ich 9 Jahre alt war, in Osijek und Zagreb, dann zog ich um nach Budapest. Immer schon habe ich gemalt. Bereits als kleines Kind. Mit 14 Jahren schickte man mich auf die Malschule, […] aber ich blieb nur 14 Tage dort, weil ich verstanden habe, dass man Kunst nicht lernen kann. Mit 15 Jahren hatte ich meine erste eigene Ausstellung in Budapest mit: Ma. Weitere Ausstellungen hatte ich im Sturm in Berlin und eine in Hannover. Seit über einem Jahr bin ich nun in Berlin, wo es mir überhaupt nicht gefällt, weswegen ich wahrscheinlich nächstes Jahr für ein paar Monate nach Opatija in Italien reisen werde. Was den Verkauf der Bilder betrifft, hatte ich Ihnen schon gestern geschrieben, fünftausend Dinar, und wenn Sie nicht so viel bekommen können, dann können Sie sie auch billiger hergeben. Dann ungefähr dreitausend Dinar pro Stück. Ich liebe meine Bilder sehr und zögere sie überhaupt zu verkaufen, aber da ich gerne einmal alle Teile dieser Welt bereisen würde, versuche ich es nun. Hochachtungsvoll, Vjera Biller

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(3.) Brief vom 16.01.1924: Geehrter Herr Mitzitch! Ich habe Ihre zwei geschätzten Briefe erhalten. Ich habe die österreichische Staatsbürgerschaft, da mein Vater Österreicher ist, aber ich bin den Tatsachen nach noch immer eine Jugoslawin, weil ich in Kroatien geboren wurde und meine erste Sprache Kroatisch war. Meine Mutter ist auch Jugoslawin. Es war nie mein Wunsch in Deutschland zu leben. Ich mag es hier überhaupt nicht und würde Berlin gern verlassen. Wir haben vor nach Opatija zu ziehen, zu meiner Großmutter und meinem Großvater, doch meine Mutter möchte zunächst alle Möbel verkaufen und das ist jetzt schwierig. Ich denke nicht, daß wir diesen Monat übersiedeln werden. Vielleicht verkaufe ich jetzt ein paar Bilder in Hamburg, dann schicke ich Ihnen Geld für die Abwicklung. Schreiben Sie mir bitte genau wie viel es kosten wird. Falls ich in Hamburg viele Bilder verkaufe, komme ich von Opatija aus eine Weile nach Belgrad. Ich lege diesem Brief vier Dollar bei, falls Sie Zoll entrichten müssen. Wird das genug sein für den Zoll? Mit recht herzlichen Grüßen Vjera Biller *** (4.) Brief vom 01.02.1924: Geehrter Herr Mitzitch! Ich habe Ihren geschätzten Brief vom 23./I. erhalten. Vielen Dank für die Organisation der Bilder; ich hatte sie gut eingepackt, aber sie wurden wahrscheinlich an der Grenze ausgepackt. Vor ein paar Tagen habe ich Ihnen noch ein Bild geschickt, dass Sie hoffentlich erhalten haben? Wann wollen Sie die Ausstellung eröffnen? Mit recht herzlichen Grüßen Vjera Biller *** (5.) Brief vom 03.03.1924: Geehrter Herr Mitzitch! Es tut mir leid, dass ich so lange nicht auf Ihre geschätzte Karte geantwortet habe. Sie hatten sich erkundigt, ob ich auch in Öl arbeite. Bisher habe ich nur ein Bild in Öl gemalt, die meisten in Pastellfarben, einige in Tempera. Mit nächster Woche Montag wollte ich schon nach Opatija gereist sein, und habe deshalb heute ein Visum für Italien beantragt, das aber nurmehr am 28./III. fertig wird, sodass ich erst Ende dieses Monats werde fahren können. »Zenit« Nr. 25 habe ich erhalten und danke Ihnen recht herzlich. Schöne Grüße Vjera Biller

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(6.) Brief vom 29.01.1927: Geehrter Herr Mitzitch, Vielen Dank für Ihre liebe Karte. Ich bin froh, dass Ihr Wunsch in Paris zu leben, so schnell in Erfüllung gegangen ist. Es tut mir leid, dass Sie und Ihre liebe Frau mich hier nicht besucht haben. Lassen Sie bald wieder von sich hören. Mit recht herzlichen Grüßen Vjera Biller Meine Mutter und mein Bruder grüßen Sie ebenfalls herzlich. Vjera Biller Abbazia Villa Vesna Italia

*** (7.) Brief vom 07.05(?).1928: Vielen Dank für das Buch und Herzliche Grüße Vjera Biller integral transkribiert nach: »Pisme Vjere Biller Ljubomiru Miciću«, Nachlass Micić, Sig. LM-4 222.7, Serbisches Nationalmuseum, Belgrad.

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Biografische Karte: Vjera Biller (1903-1940)

Datensammlung: Mirjam Wilhelm Design: Fani Gargova, erstellt mit CARTO.

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Bibliografie

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Abbildungsnachweise

Abb. 1: Serbisches Nationalmuseum, Belgrad, Sig. 35_2886. Abb. 2: Serbisches Nationalmuseum, Belgrad, Sig. 35_2888. Abb. 3: Serbisches Nationalmuseum, Belgrad, Sig. 35_2885. Abb. 4: Serbisches Nationalmuseum, Belgrad, Sig. 35_2884. Abb. 5: Serbisches Nationalmuseum, Belgrad, Sig. 35_2883. Abb. 6: Hollein und Pfeiffer, Sturmfrauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin. Ausst.Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main. S. 26. Abb. 7: Serbisches Nationalmuseum Belgrad, Sig. 32_1639. Abb. 8: Serbisches Nationalmuseum Belgrad, Sig. 32_1638. Abb. 9: Public Domain, Serbische Nationalbibliothek, Belgrad, https://digitalna.n b.rs/wb/NBS/Tematske_kolekcije/procvat_pismenosti/NBS6_casopisi_avangarde/ P_4284/1926/b038#page/0/mode/1up (letzter Aufruf: 24.08.2021). Abb. 10: Public Domain, Serbische Nationalbibliothek, Belgrad, https://digitalna.n b.rs/wb/NBS/Tematske_kolekcije/procvat_pismenosti/NBS6_casopisi_avangarde/ P_4284/1924/b025#page/0/mode/1up (letzter Aufruf: 24.08.2021). Abb. 11: Ćurić, Vjera Biller. Umjetnica u Zenitu Oluje. S. 45. Abb. 12-23: Public Domain, Zentralinstitut für Kunstgeschichte (ZIK), München, Abteilung III »Sturm-Kataloge«, https://www.zikg.eu/bibliothek/bestaende/bibl iothek-herzog-franz-von-bayern/digitalisierung/kataloge-sturm (letzter Aufruf: 23.08.2021). Abb. 24: Public Domain, Serbische Nationalbibliothek, Belgrad, https://digitalna. nb.rs/wb/NBS/Tematske_kolekcije/procvat_pismenosti/NBS6_casopisi_avangard e/P_4284/1924/b025#page/0/mode/1up (letzter Aufruf: 24.08.2021). Abb. 25: Charlesworth, Landscape and Vision in Nineteenth-Century Britain and France. Colour plate 14. Abb. 26: Public Domain, Serbische Nationalbibliothek, Belgrad, https://digitalna. nb.rs/wb/NBS/Tematske_kolekcije/procvat_pismenosti/NBS6_casopisi_avangard e/P_4284/1922/b017-18#page/0/mode/1up (letzter Aufruf: 23.08.2021). Abb. 27: Webster, Eve’s Daughter/Modern Woman. A Mural by Mary Cassatt. S. 61. Abb. 28: Webster, Eve’s Daughter/Modern Woman. A Mural by Mary Cassatt. S. 129. Abb. 29: Webster, Eve’s Daughter/Modern Woman. A Mural by Mary Cassatt. S. 127.

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Vjera Biller und das Kindliche

Abb. 30: Webster, Eve’s Daughter/Modern Woman. A Mural by Mary Cassatt. S. 128. Abb. 31: Public Domain, https://artgallery.yale.edu/collections/objects/43756 (letzter Aufruf: 24.08.2021). Abb. 32: Public Domain, https://artgallery.yale.edu/collections/objects/44900 (letzter Aufruf: 24.08.2021). Abb. 33: Public Domain, Serbische Nationalbibliothek, Belgrad, https://digitalna.n b.rs/wb/NBS/Tematske_kolekcije/procvat_pismenosti/NBS6_casopisi_avangarde/ P_4284/1924/b025#page/0/mode/1up (letzter Aufruf: 24.08.2021). Abb. 34: Public Domain, Serbische Nationalbibliothek, Belgrad, https://digitalna. nb.rs/wb/NBS/Tematske_kolekcije/procvat_pismenosti/NBS6_casopisi_avangard e/P_4284/1924/b025#page/0/mode/1up (letzter Aufruf: 24.08.2021). Abb. 35: Ekkehard Ritter: ›Healing of Stacteus‹, Corpus for Wall Mosaics in the North Adriatic Area, c. 1974-1990s, Image Collections and Fieldwork Archives, Dumbarton Oaks, Trustees for Harvard University, Washington, D.C. Abb. 36: Ekkehard Ritter: ›Reuben Returning to the Pit‹, Corpus for Wall Mosaics in the North Adriatic Area, c. 1974-1990s, Image Collections and Fieldwork Archives, Dumbarton Oaks, Trustees for Harvard University, Washington, D.C. Abb. 37: Ekkehard Ritter: ›Desert Miracle of Moses‹, Corpus for Wall Mosaics in the North Adriatic Area, c. 1974-1990s, Image Collections and Fieldwork Archives, Dumbarton Oaks, Trustees for Harvard University, Washington, D.C. Abb. 38: Ekkehard Ritter: ›Life of the Virgin: Joseph Scolding Mary‹, Corpus for Wall Mosaics in the North Adriatic Area, c. 1974-1990s, Image Collections and Fieldwork Archives, Dumbarton Oaks, Trustees for Harvard University, Washington, D.C. Abb. 39: Weik, Jüdische Künstler und das Bild des Ewigen Juden. Vom antijüdischen Stereotyp zur jüdischen Identifikationsfigur. Abb. 52. Abb. 40: Weik, Jüdische Künstler und das Bild des Ewigen Juden. Vom antijüdischen Stereotyp zur jüdischen Identifikationsfigur. Abb. 81. Abb. 41: Weik, Jüdische Künstler und das Bild des Ewigen Juden. Vom antijüdischen Stereotyp zur jüdischen Identifikationsfigur. Abb. 50. Abb. 42: Von Münchhausen, Juda. Gesänge mit Buchschmuck von E.M. Lilien. o. S. [S. 14]. Abb. 43: Weik, Jüdische Künstler und das Bild des Ewigen Juden. Vom antijüdischen Stereotyp zur jüdischen Identifikationsfigur. Abb. 70. Abb. 44-45: MA 8 Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Sig. 1.3.2.209.2.A11/2, eigene fotografische Aufnahmen der Autorin.

Kunst- und Bildwissenschaft Elisa Ganivet

Border Wall Aesthetics Artworks in Border Spaces 2019, 250 p., hardcover, ill. 79,99 € (DE), 978-3-8376-4777-8 E-Book: PDF: 79,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4777-2

Ivana Pilic, Anne Wiederhold-Daryanavard (Hg.)

Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft Transkulturelle Handlungsstrategien der Brunnenpassage Wien März 2021, 244 S., kart. 29,00 € (DE), 978-3-8376-5546-9 E-Book: PDF: 25,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5546-3

Annika Haas, Maximilian Haas, Hanna Magauer, Dennis Pohl (Hg.)

How to Relate Wissen, Künste, Praktiken / Knowledge, Arts, Practices September 2021, 290 S., kart., Dispersionsbindung, 67 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 35,00 € (DE), 978-3-8376-5765-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5765-8

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Kunst- und Bildwissenschaft Heike Kanter, Michael Brandmayr, Nadja Köffler (Hg.)

Bilder, soziale Medien und das Politische Transdisziplinäre Perspektiven auf visuelle Diskursprozesse Juli 2021, 304 S., kart., Dispersionsbindung, 52 SW-Abbildungen, 1 Farbabbildung 30,00 € (DE), 978-3-8376-5040-2 E-Book: PDF: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5040-6

Katharina Eck, Johanna Hartmann, Kathrin Heinz, Christiane Keim (Hg.)

Wohn/Raum/Denken Politiken des Häuslichen in Kunst, Architektur und visueller Kultur April 2021, 376 S., kart., Dispersionsbindung, 90 SW-Abbildungen 35,00 € (DE), 978-3-8376-4517-0 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4517-4

Thomas Gartmann, Christian Pauli (Hg.)

Arts in Context – Kunst, Forschung, Gesellschaft 2020, 232 S., kart. 39,00 € (DE), 978-3-8376-5322-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5322-3

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