Frankreichs Kultur: Tradition und Revolte. Von der Klassik bis zum Surrealismus [Reprint 2013 ed.] 9783110834895, 9783110036541

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Frankreichs Kultur: Tradition und Revolte. Von der Klassik bis zum Surrealismus [Reprint 2013 ed.]
 9783110834895, 9783110036541

Table of contents :
Vorbemerkungen
TEIL I. Le siècle de Louis XIV
Kapitel I. Horizonte
Kapitel II Staat und Gesellschaft im Frankreich des XVII. Jahrhunderts. Von Richelieu zu Ludwig XIV.
Kapitel III Die Welt der Mathematiker Philosophen und Kirchenfürsten
Kapitel IV Die Welt des Theaters
Kapitel V Das Epiphaniasfest der Musen
TEIL II. Im Lichte der Aufklärung
Kapitel I Geist, Kunst, Gesellschaft im Frankreich des XVIII. Jahrhunderts
Kapitel II Die vier Wegbereiter der modernen Zeit
Kapitel III Das Ende des Ancien Régime
TEIL III. Der Torso des XIX. Jahrhunderts
Kapitel I. Auftakt zum neuen Jahrhundert
Kapitel II. Was heißt Romantik, und was ist ein Romantiker?
Kapitel III. Die Künste im Zeitalter der Romantik
Kapitel IV. Die Weltgültigkeit der französischen Lyrik des XIX. Jahrhunderts. Von der Romantik zum Symbolismus
Kapitel V. Die vier großen des französischen Romans. Ein Gesellschaftsbild des XIX. Jahrhunderts
Kapitel VI. Positivistische Philosophie, Experimentalwissenschaft, deterministisches Weltbild. Von Auguste Comte über Claude Bernard zu Hippolyte Taine
TEIL IV. Zu neuen Ufern
Kapitel I. Die französische Gesellschaft im XX. Jahrhundert Daten — Ereignisse — Tendenzen
Kapitel II. Vier klassische Profile am Eingang zum Jahrhundert
Kapitel III. Aspekte der französischen Malerei. Vom Realismus zum Surrealismus
Kapitel IV. Hinter dem Vorhang der Zeitgeschichte. Strömungen, Theorien, Antagonismen der Zeit: Ihr Widerspiel auf dem Theater des XX. Jahrhunderts
Bibliographische Orientierung
Namenverzeichnis

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Walter Möndi · Frankreichs Kultur

w DE

G

Walter Mönch

Frankreichs Kultur Tradition und Revolte Von der Klassik bis zum Surrealismus

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1972

© ISBN 3 11 003654 1 Copyright 1972 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen*sehe Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 — Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der Übersetzung, der photo* medianischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — audi auszugsweise — vor* behalten. Satz und Druck: Firma Saladruck, Berlin

INHALTSVERZEICHNIS Vorbemerkungen

1 TEIL I

Le siecle de Louis XIV Kapitel I

Horizonte

9

Die Veränderung der Weltkarte. Durchbruch der Staatsraison. Das Jahrhundert der religiösen Bewegungen: Port Royal, Gallikanismus, quietistische Mystik, die Jesuiten. Der Einbruch naturwissenschaftlichen Denkens und Forsdiens. Das Jahrhundert Descartes' und Fermats, Galileis und Pascals. Die Literatur: eine Renaissance der Antike. Die Krise des europäischen Bewußtseins. Die Klassik: Verehrung der Antike; Glaube an die Vernunft: Nachahmung der Natur; der Zug zum Grandiosen und Majestätischen: Versailles. — Die Kehrseite der Medaille: Korruption der höfischen Welt und Armut des Volkes. — Das Wirtschaftsleben im Jahrhundert Colberts. Das demographische Bild. Die Widersprüche des Jahrhunderts. Im Zwielidit zweier Epochen.

Kapitel II

Staat und Gesellschaft im Frankreich des XVII. Jahrhunderts. Von Richelieu zu Ludwig XIV. . .

19

Richelieu. Frankreich auf dem Wege zur militärischen, politischen und kulturellen Hegemonie über Europa. Ridielieus „Politisches Testament". Grundsätze der Staatsraison. Die Gründung der „Academie Franfaise". Mazarin. Die Ereignisse der Fronde. Ludwig XIV. Das Schlüsselwort seiner Staatsführung: Reglement. Reglementierung des Lebens, des Staates, der Verwaltung, der Wirtschaft, des Heerwesens, der Kirche, der Kultur. Abstieg des Adels und Aufstieg des Bürgertums. Colbert und der Merkantilismus. Gelenkte Wirtschaft. Die Kirchenpolitik. — Das vielschichtige Phänomen der Preziosität. Die Salons, ihre Interieurs, die kulturelle Rolle der Preziösen.

Kapitel III

Die Welt der Mathematiker Philosophen und Kirchenfürsten

55

Descartes. Ein Weltmann zieht die Bilanz der Wissenschaften. Die 4 provisorischen Verhaltensweisen des Menschen: eine weltmännische Empfehlung und Philosophie. Das cogito ergo sum. Die zwei Lager seiner Gegner.

Inhaltsverzeichnis

VI

Pascal. Ein mathematisches und religiöses Genie. Etappen seines Lebenswegs: vom mathematischen Wunderkind über ein mondänes Leben zur Nachfolge Christi. — Die Konstruktion der Rechenmaschine. — Die Krise und die Nacht der Offenbarung. — Von der Lehre der Herren von Port Royal. Die Verteidigung der Jansenisten. „Lettres provinciales". Die „Pentes": Apologie des Christentums. Pascal bekämpft Descartes. Von dem politischen Problem Christ und Welt. Bossuet. Der gallikanische Kirchenfürst und Kanzelredner. Der Dreiklang seiner Thematik. Ein pädagogisches Geschichtswerk ad usutn Delphtni: der „Discours sur l'Histoire universelle". Bossuets gallikanische Politik: ein Schaukelspiel zwischen Papst und König. Bossuet: „C. Μ. P." — Das Scheitern der Reunionsverhandlungen zwischen Katholiken und Protestanten. — Bossuets Kanzelberedsamkeit. Die Begängnisse der Großen des Königreichs als heilige Parade. Fenelon. Ein mystisches Christentum. „Doktor, Bischof und Grandseigneur". Der „Telemaque", ein Bildungsroman mit politischen und sozialkritischen Tendenzen ad usum Delphtni — des „petit dauphin". — Die Kühnheit des „Briefes an Ludwig XIV.". — Die Affäre des Quietismus. — Fenelons Stellung im „Streit der Alten und Modernen". Die Krise der französischen Kultur am Ausgang des Jahrhunderts: ein dramatischer Vorgang in 2 Akten.

Kapitel IV

Die Welt des Theaters

108

1. Die französische Theaterkultur: ein künstlerisches und soziales Ereignis. Spielhäuser, Spielsäle, Spielzeiten und Inszenierungspraxis. Der Einfluß Vitruvs. Der Bereich der Oper. Die Rolle Mazarins. Vom Wesen der „representation en musique" und die geschichtliche Perspektive der Oper. Camberts Memorandum für den König und Perrins Ideen für ein Musikschauspiel. Die Gründung der „Academie d'Op^ra". Der Aufstieg Lullis am Hofe Ludwigs X I V . Ein Urteil Goethes über die Bedeutung Lullis. — Das Ballett. Gründung der „Academie de Danse" 1661. Der Sonnenkönig tanzt den Jupiter. Bürgerliche Berufstänzer und adlige Amateurtänzer. Der Luxus der Kostüme. Von den Bühnenbildern: eine Wunderwelt der Kulissen. 2. Die andere Hemisphäre der Theaterwelt: die Klassiker des Worttheaters: Corneille, Wegbereiter des klassischen Theaters in Frankreich. Grundfragen der Dramaturgie. — Vom „Cid" und anderen Meisterdramen. Die „theoretische Salbaderei". Corneilles Vorbehalte gegenüber den Alten. Ein Blidc auf Aristoteles. Kartesianismus — Stoizismus — christliche Moral. — Racine, Höhepunkt des klassischen Theaters. Die Berührung mit der griechischen Kultur. Die Bildung seines literarischen Geschmacks und seiner poetischen Sensibilität. Zwieliditigkeit seines Charakters. Frauen um Racine. Der Aufstieg zum Historiographen des Königs. — Versöhnung mit Port Royal. — Racines Bühnenwerk auf den Fundamenten der Corneilleschen Dramaturgie. Ein Urteil Giraudoux'. — Racines Themen. Die Transkrip-

Inhaltsverzeichnis

VII

tion der Vorlagen in die zeitgebundene Empfindsamkeit. Vom Aufbau seiner Tragödien und dem Fundamentalsatz seiner Ästhetik. Die philosophisch-religiöse Schicht seiner Tragödienwelt. Das Wunderwerk der „Phidre". Die drei Antlitze des Racinesdien Fatums. Griechische Schicksalsidee und jansenistische Gnadenwahl. — Moliere, „premier farceur de France". Eine zwölfjährige Theaterpraxis in der Provinz als fahrender Schauspieler, Autor und Schauspieldirektor. Einzug in Paris. Aufstieg am Hofe. — Ein Mime italienischen Stils. Auf dem Grenzpfad zwischen Komödie und Tragödie. Das Ende einer großen Schauspielerkarriere. „Le dieu des ris" und seine „grande regle de toutes les regies". Ein Bekenntnis Louis Jouvets zu Moliire. Die Bedeutung der Farce und die sprachlichen, psychologischen und mimischen Elemente der vis comica. Ist es schwerer, Komödien oder Tragödien zu schreiben? — Das Bild der Zeit und Gesellschaft im Spiegel des Moliereschen Oeuvre. Molieres Kampf um die Befreiung des Mensdien aus sozialen, religiösen und moralischen Zwängen. Der Einspruch der Kirche gegen den Komödianten und sein Werk. 3. Lafontaine: ein Welttheater in Miniaturszenen. Der Fabeldichter. Was ist eine Fabel? Lafontaines Quellen und die Originalität seiner Fabelwelt. Ein „hundertaktiges Drama" von Göttern, Menschen, Tieren. — Der Antikartesianismus: ein Aspekt der libertinistisdien Bewegung um Gassendi. Lafontaines Sympathien für Epikur, Lukrez, Gassendi. Die Fabeln als szenische Guckkastenbildchen der sozialen Hierarchie: König — Geistlichkeit — Adel — Bürgertum — Volk.

Kapitel V

Das Epiphaniasfest der Musen

170

Nicolaus Boileau: Gesetzgeber der Klassik post festum. Sein „Art poitique" als corpus doctrinale des hohen Kunstgeschmacks. Das Studium der antiken Theoretiker von Aristoteles bis Longinos, und der Umgang mit den Zeitgenossen Racine, Moliire, Lafontaine. — Die antihistorische Perspektive. Boileaus Organ für griechischen Kunstverstand. Das „Sublime" als Begnadung des Dichters. Zwei Beispiele. Der entscheidende Einfluß von Horaz. Ein Dialog zweier kongenialer Geister. Simile simili cognoscitur. — „Der wahre Inhalt ist die Form". Berechnung der Werkstrukturen. Gleichgewicht und Ebenmaß. Boileaus Kritik im kritischen Spiegel der heutigen Zeit. Der „homme du juste milieu". Eine neue Zeit bricht an.

TEIL II

Im Lichte der Aufklärung Kapitel I

Geist, Kunst, Gesellschaft im Frankreich des XVIII. Jahrhunderts 185

„Was ist Aufklärung?" Das Ferment der Naturwissenschaften in der Epodie der mathesis universalis. — Das Bild der Gesellschaft im Wandel der

VIII

Inhaltsverzeichnis

Schönen Künste. Vom Barock zum Rokoko. Vom Geist der französischen Musik in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Die Opernkultur im Wandel der Zeit. Von der Rigence zur Revolution.

Kapitel II

Die vier Wegbereiter der modernen Zeit

230

Montesquieu: ein humanistischer Weltbürger und die Weisheit politischen Denkens. Die 3 Etappen seines Weges: die „Lettres persanes" — seine „chers Romains" — sein „De I'Esprit des Lois". Fragen der Regierungsformen; Teilung der Gewalten; von der Wirkung des Buches. Voltaire: die Schlagkraft des befreiten Geistes. Ein Leben des Wortes und der Tat. Der Historiker: Geschichte im Spiegel der Aufklärungsphilosophie. — Der Philosoph als Kritiker von Pascal, Leibniz, Rousseau. Der Theatromane: Theater als Stätte der Erziehung, als soziale Institution und als Kunstgattung. Voltaire und Shakespeare. Ein rückwärtsgewandter moderner Geist. Nietzsche über Voltaire. Rousseau: Bewußtsein und Gewissen einer zukünftigen Zeit und Gesellschaft. Die Universalität eines Originalgenies: Pädagoge, Soziologe, Philosoph, Psychologe, Botaniker, Musiker, Romancier. — Aus seinem Leben. Die beiden „Discours": Ouvertüre eines Lebenswerks. Der „Contract social": die theoretische Ausgleichsrechnung des Gesellschaftsvertrags und die Begründung einer totalen Demokratie. Der „Emile": Probleme einer modernen Erziehung und deren Methoden. Das zentrale Kapitel des religiösen Glaubensbekenntnisses. — „Julie ou la Nouvelle Heloise". Ein Liebesroman der Weltliteratur. Biographische Hintergründe. Eine literaturgeschichtliche Perspektive: Bindeglied zwischen dem alten englischen Romancier Richardson und dem jungen deutschen Verfasser des „Werther". Diderot: tot artes et tantae scientiae: der Enzyklopädist und die Fülle der Welterfahrung. — Vom Wandel seines Weltbildes. Über die Künste. Goethe im Gespräch mit Diderot. Die „Salons" und „Rameaus Neffe". — Der bürgerliche Dramaturg: zwischen Tragödie und Komödie. Verbindung mit Lessing. — Die Encyclopedie. Am Vorabend der „ungeheuren Weltveränderungen".

Kapitel III

Das Ende des Ancien Regime

342

Auf dem Weg zur Revolution. Vorspiel auf dem Theater. Mercier und Beaumarchais. — „Qu'est-ce que le tiers etat?" Von Sieyes, seiner Persönlichkeit, seinen Schriften, seiner Wirkung. Die „Eloquence revolutionnaire". Die Etappen der Revolution auf einer Parabel. — Von Sieyes und Mirabeau über Barnave und Condorcet zu Danton, Robespierre und SaintJust. Nachspiel und Auftakt zu der Tragödie Zweitem Teil: Napoleon.

Inhaltsverzeichnis

IX

TEIL III

Der Torso des X I X . Jahrhunderts Kapitel I

Auftakt zum neuen Jahrhundert

379

Drei Schlüsselfiguren im dramatischen Spannungsfeld zwischen 1789 und 1830: Chateaubriand — Germaine de Stael — Napoleon.

Kapitel II

Was heißt Romantik, und was ist ein Romantiker? 396

Kapitel III

Die Künste im Zeitalter der Romantik

Von einigen Aspekten der romantischen Bewegung in Frankreich. Fünf Kardinalfragen: 1. Die Wege der Romantiker zu Gott. — 2. Die Romantiker vor und in der Gesellschaft und Geschichte. Saint-Simon, Enfantin, Fourier. — 3. Romantische Aspekte der „Natur". — 4. Elemente romantischer Weltbilder: Neuplatonismus, Mystik, Magie. Im Bann des Märchens. — 5. Die Kunst: romantische Aktivität par excellence. — Die Ironie und der Weg zum Surrealismus. — »Was für eine neuartige Wissenschaft!"

411

Eigenständigkeit und Symbiose. Die Architektur: Der Kirchentempel der Madeleine; Warenhäuser von Paris; die Halle au hie. Romantische Baugesinnung. Exotismen. Architektonische Zukunftsphantasien dreier Originale. — Die Bildhauerkunst David d'Angers: „tous les nobles aspects de la figure humaine". — Die Malerei. Vom Klassizismus zur Romantik. Louis David: das politische Engagement eines großen Malers. Ingres: die Zeichnung als „Redlichkeit der Kunst". Drei Grundsätze seiner Ästhetik. — Delacroix: „die schönste Palette Frankreichs". Der Maler in Baudelaires Urteil: „passionnement amoureux de la passion". Die Sprache der Modernität. — Die Musik. Drei musikalische Ereignisse im Frankreich der Restauration. 1. Beethoven und Weber im Pariser Musikleben. — 2. Die „Große Oper". Musik, Gesellschaft und Politik. Aus Wagners „Erinnerungen an Auber". Rossini, Meyerbeer. „Die Religion Mozarts, Glucks, Beethovens." — 3. Das Phänomen Berlioz oder der Einbruch der europäischen Dichtung in die Thematik der symphonischen Musik. Die „Symphonie fantastique" und Schumanns Analyse der Tondichtung. Berlioz-Liszt-Wagner: „Wir drei Kerle."

Kapitel IV

Die Weltgültigkeit der französischen Lyrik des X I X . Jahrhunderts. Von der Romantik zum Symbolismus 440

1. Der Parnaß zwischen Romantik und Symbolismus Die soziale Misere der Dichter und Künstler. Theodore de Banville, ein Lehrmeister der Kompositionstechnik. Was ist Poesie? Geist und Form. Realismus und Supranaturalismus. Der Zirkusclown vor metaphysischem Hintergrund. Auf dem Wege zum Expressionismus: „Der Maler muß nicht den Baum darstellen, sondern ihn sichtbar machen." — Ein Wort über Leconte de Lisle.

Inhaltsverzeichnis

χ

2. Die großen Vier der zweiten Jahrhunderthälfte Baudelaire. Eine poetische Mission. Die Metaphysik des Dandytums. „Le dernier eclat d'heroisme dans les decadences." Das Lob der Schminke. Die Baudelairesdie Spiritualität. Zwischen Philosophie und der Dichtung des Bizarren und Insoliten. Der „Reve Parisien". Romantik und Surrealismus. Mallarme. Poesie in der Höhenluft einer entdinglichten Welt. Die Metaphysik des Sagens und Schweigens. Dunkelheit. Der esoterische Charakter des Dichtens. Das ideelle Nichts. Sprachliche Askese als Geheimnis weltweiter Wirkung. Verlaine. Der „Saturn-Mensch". Größe und Elend eines Dichterlebens. Faszinosum der Musik. Von der Technik der Verskunst. Po£te maudit oder der hl. Franziskus? Rimbaud. „Mehr als eine literarische Angelegenheit." Das trunkene Schiff: Vorentwurf eines Lebens. Von der Phantasie der Rimbaud-Deuter. — Entfesselung der Sinne — Revolte gegen die Tradition — der Argonautenzug zum Goldenen Vlies der Sprache. „Ich erfand die Farbe der Vokale" — „Magische Sophismen" — „Halluzination der Worte". — Die törichte Jungfrau und ihr höllischer Gemahl. Eingeblendet: Le Comte de Lautreamont. Proleptisdier Surrealismus: „Die Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch." Aufruf zur Revolte. — Rimbaud: Heide oder Christ? Der Schatten Nietzsches. — Eine neue sprachliche Architektur ohne Gravitationszentrum. 3. Vom Symbolismus Die Generation der „Decadents". Der „Id^orealisme": ein symbolistisches Phänomen des poetischen Piatonismus. Jean Morias. Das Manifest des Symbolismus. Aus dem „Ermitage" von Mazel. — Die „Ecole romane". — Das geistig-soziale Klima der 90er Jahre. — Ε. A. Poe und Richard Wagner im Kunst- und Geistesleben der Symbolistengeneration. Poe-BaudelaireMaeterlinck. Grand-Guignol. Von der Sdiauernovelle zum Schauertheater. — Poe-Debussy. Eine Transfiguration dichterischer Erlebnisse in eine neue Syntax der Musik. Die Poe-Maeterlinck-Munch-Atmosphäre der französischen Dichtung, Malerei und Musik um die Jahrhundertwende. — Drei Wege zu einer Analyse Debussys.

Kapitel V

Die vier großen des französischen Romans. Ein Gesellschaftsbild des XIX. Jahrhunderts 490

1. Stendhal. Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Das Jugenderlebnis Napoleon. Aristokrat und Plebejer. Der Leser Napoleons und Fouriers. „Rot und Schwarz" — symbolische Farben auf dem gesellschaftlichen Hintergrund von 1830. Julien Sorel: die Fatalität der condition humaine. 2. Balzac. Seine Statue. Ein Koloß unter den Epikern. Potenzierte Willensenergie. Der phänomenale Gedächtnisspeicher. Die visionäre Phantasie. Divina Commedia und Comedie humaine. Von der Überwelt Swedenborgs zur Unterwelt von Paris. Der Buffon der französischen Gesellschaft. Beobachtung und Analyse. Der Tanz ums goldene Kalb. Die kapitalistische

Inhaltsverzeichnis

XI

Tragikomödie: der alte Grandet. Balzac: Historiker und Sekretär der französischen Gesellschaft. Die Geistesfamilie Balzacs im 19. Jahrhundert. 3. Flaubert. Der normannische Redte im härenen Gewand. Nietzsche durchleuchtet Flaubert. Der Wille zur Selbstüberwindung. Sein Künstlerengagement. Zu Flauberts Stil. Die 4 großen Werke: Madame Bovary: Fatalität und Tragik im Schatten Schopenhauers. Salammbo: Problem eines historischen Romans. Zwischen Chateaubriand und Malraux. L'Education sentimentale: Die Illusion einer Generation oder wie man das Leben verfehlt. Roman ohne Helden. La Tentation de Saint-Antoine: Ein metaphysisches Drama zwischen Breughel und Dali. Vom „Wilhelm Meister" zum „Faust". Spuk, Magie, Dämonenwelt und Menschenschicksal. Götterdämmerung und Wissenschaftsgläubigkeit. Christus in der Sonnenscheibe. 4. Zola. Eine neue Generation von Schriftstellern, Malern, Musikern. Das Unternehmen der Rougon-Macquart: eine naturalistische Sozialgeschichte Frankreichs im Zweiten Kaiserreich. Wissenschaft und Literatur. Von der experimentellen Methode. Die Steigerung des naturalistischen Romans ins Mystische. Drei Beispiele: Nana, Au Bonheur des Dames, Germinal, oder: die babylonische Ischtar, Magie des Warenhauses, Zukunftssdiau der „roten Revolution". Von der literarischen Technik des Leitmotivs. Zola und Wagner. — Der Utopist der Vier Evangelien. Die Tetralogie und der Hintergrund der Dreyfusaffaire. Größe und Grenzen seines Werkes. Vom Geist zur Tat.

Kapitel VI

Positivistische Philosophie, Experimentalwissenschaft, deterministisches Weltbild. Von Auguste Comte über Claude Bernard zu Hippolyte Taine 537

1. Auguste Comte. Ursprung der Comteschen Philosophie: „Diese Klasse arbeitender Menschen . . . " — Die 4 bestimmenden Mächte: der Katholizismus des Kleinbürgertums; die Lektüre Condorcets; als Sekretär von SaintSimon; die Ecole polytechnique. — Die Stellung der Mathematik. „Soziale Physik". Antikommunismus. — Die Lehre von den 3 Entwicklungsstadien der Menschheit. Der Sprung in die Transzendenz. Der Soziologe als Pontifex maximus einer neuen Mensdiheitsreligion. — Die Ambiguität der Comteschen Persönlichkeit und ihres Werkes. 2. Claude Bernard. Theoretiker der Experimentalwissensdiaft. Von Bernard zu Planck und Heisenberg. — Auf dem Wege zur wissenschaftlichen Medizin. Die Experimentalmethode. Der dreifache Weg: Die Macht der Phantasie; Experimentator gegen Scholastiker; das Credo des Determinismus. — Die Ablösung der persönlichen Autorität eines Forschers durch die „unpersönliche Form" einer Gemeinschaftsarbeit. Hugo: „Die Kunst ist das Ich, die Wissenschaft das Wir." Der Weg zur Allmacht des Menschen. Erwartung und Grenzen. 3. Hippolyte Taine. Der Klassiker des Determinismus. In der Nachfolge Claude Bernards. Die „einfache Formel" seiner Methode. Ein Brückenschlag zu Robert Mayer: „causa aequat effectum." — Taines „Chemie" als

XII

Inhaltsverzeidinis psychologische und soziologische Analyse. Die Entkräftung theologischer Einwände „zum Nutzen des klugen Insekts". — Ein Brief von Taine an Berthelot. Naturwissenschaft als neue Religion. — Taines „Philosophie de Γ Art". Der positivistische Kulturphilosoph vor dem Phänomen der Kunst. Die methodische Erhellung eines Kunstwerks. Von der Kunst der Imitation zur Kunst der Expression. Die Wachstumsbedingungen aller Kunst: Klima, Temperatur, öffentliche Meinung. — Die großen Epochen abendländischer Zivilisation und ihre Kunsterscheinungen. Von der Antike zum Bild des „modernen" Menschen. Umsdiau und Vorschau.

TEIL IV

Zu neuen Ufern Kapitel I

Die französische Gesellschaft im X X . Jahrhundert Daten — Ereignisse — Tendenzen 569

1. Von der Müdigkeit des Fin de siecle zur Euphorie der Jahrhundertwende. Die „belle epoque". Ein verblühender Traum. — Die Risse im Gefüge des Staatsbaus. Drei Charakterzüge der „Modernität": „Die Anatomie des Seelenlebens" — „das Ballspiel mit dem All" — „die funkelnde Metapher". 2. Das Erwachen. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Wandel des Wirtschaftslebens und des politischen Klimas. Neue Hoffnungen: der Völkerbund. „Le rapprochement franco-allemand". 3. Der Wandel um 1930. Politische Vorspiele im Schatten der Zweiten Katastrophe des „dröle de guerre". Die Spaltung der Geister. 4. Nach dem Zweiten Weltkrieg. Die „Anti"-Tendenzen. Das alpha privativttm der „Aliteratur" und die Literatur des Existenzialismus, der Absurdität und des politischen und philosophischen Ernstes. 5. Die neue französische Gesellschaft. Die Bauernschaft. Die „revolution silencieuse", die „journee des barricades" und die „revolution des tracteurs". Aktion und Reaktion im landwirtschaftlichen Sektor. Austritt aus der „splendid isolation". — Die Arbeiterklasse. Eine „nouvelle classe ouvriere". Vom Industriemuseum zur Automation. Unternehmertum und Arbeiterschaft. Entromantisierung des Streiks. Neue Gegensätze. Reformen oder Revolution? Von der Mentalität des französisdien Arbeiters. — Der Mittelstand. Seine Vielschichtigkeit. Die „cadres superieurs" und die „cadres moyens". Ein neuer Angestelltentyp. Der Manager als Auftragsunternehmer.

Kapitel II

Vier klassische Profile am Eingang zum Jahrhundert 591

1. Andre Gide. Ein „kontradiktatorisches Produkt". Seine Welten. Von der Klassik und Romantik. Der J . S. Bath- und Chopinspieler. Das

Inhaltsverzeichnis

XIII

Diptychon des „Immoraliste" und der „Porte Strohe". Der Jux von den „Verliesen des Vatikans". Auf dem Weg zu einer neuen Romankonzeption: „Die Falschmünzer." — Nach Moskau. „Ein Ritter ohne Furcht und Tadel." Die Enttäuschung. Der chinesische Weise. 2. Paul Valery. „Lascia la poesia e studia la matematica." Seine 3 Masken: Narkissos-Leonardo-M. Teste. — Die folgenreichste Geistestat in der Geschichte der Menschheit: die griechische Mathematik. — „Alle großen Dichter werden am Ende Kritiker." — Der Blitz in seinem Leben: Mallarme. Die Konzeption der Valerysdien Dichtung. Am Kreuzungspunkt von Dichtung und Musik. Der emotionale und intellektuelle Weg zur Musik. Der „Biß des Neides". „Amphion": Vom Bau des Tempels oder das Mysterium der Musik. Für oder gegen Dionysos? Nachklänge Nietzsches. — Valery und die Malerei. Vom „epischen Zeitalter der Malerei" und dem Verhältnis des Dichters zur zeitgenössischen Kunst. Eine Parallele: Thomas Mann und Paul Valery. 3. Marcel Proust. Die soziale Welt Marcel Prousts. Ihre Grenzen. Erinnertes und erinnerndes Ich. Die zerstörende Zeit und die bewahrende Erinnerung. Ein Geheimnis des keltischen Aberglaubens. — Strukturelemente seiner „Ring"-Komposition. Bekenntnis zu John Ruskin und den Leiden eines Künstlerdaseins: „cette famille magnifique et lamentable qui est le sei de la terre". — Die Schöpfung der Welt aus einer Tasse Tee. — Die Thematik. Seine Romankunst als impressionistische Prozedur des Zerlegens und Zusammensetzens. Die platonische Erfahrung der intelligiblen Welt durch die Musik: „la petite phrase de Vinteuil". Die Doppelerfahrung: Desillusion und Weltentfremdung — Glückseligkeit einer mystischen Gewißheit in der wiedergewonnenen Zeit. — „Die wahre Kunst hat nichts mit Proklamationen zu tun; sie erfüllt sich in der Stille." 4. Paul Claudel. Ein poeta sui generis. Im Würgegriff der Zeit. Rebellion und Bekehrung. Eine Konfrontation Gide — Claudel. — Das Ärgernis. Der Doppelsinn des „Katholischen". Claudels Meister. Erlösungsmythen als Themen seiner Dramatik: Verwandtschaft mit Wagners Thematik. — Die Erfüllung Schlegelscher Theorien in Claudels Dramaturgie. — Sein theozentrisches Weltbild. Die dreifache Dimension seiner Dichtung. Sublimes Geschwätz oder tiefsinnige Symbolik? Der interpres deorum. Der „Soulier de Satin" aus dem Geist der spanischen Dramaturgie der Habsburg-Ära. Der katholische Zuschnitt eines faustischen Weltendramas. — Rückblick auf die vier Klassiker des Jahrhunderts: Literatur und Dichtung im Bann der Künste und der Musik.

Kapitel ΠΙ

Aspekte der französischen Malerei. Vom Realismus zum Surrealismus 654

1. Zwischen Romantik und Impressionismus. Der soziale und politische Aspekt der Malerei um 1850. Daumier oder die comedie humaine eines Karikaturisten. — Millet: ein bäuerlicher Realismus und romantischer Sentimentalismus. — Courbet: ein sozialistischer Realist. — Corot: ein roman-

XIV

Inhaltsverzeichnis

tisdier Maler unter den Wegbereitern des Impressionismus. Valery und Corot: Musik der Corotsdien Malerei. 2. Vom Impressionismus. Der Ärger mit der Ecole des Beaux-Arts. Vorläufer der Impressionisten. Von der Höhlenmalerei zur englischen Romantik. — Vom Wesen des Impressionismus. Maler über ihre Kunst. Sisley: „Sie wissen wohl, daß ich lieber male als schreibe." Rodin über die Künstlerpsydie. Kunstkritiker vom Fach über die Maler und die Malweise des Pleinairismus. 3. Vom Fauvismus zum Kubismus. Der „fauvisme" in der Nachbarschaft des deutschen Expressionismus. Nabi-Gruppe und Jugendstil. Die Geburt einer neuen Malerei um 1900. Drei Aussagen von Kirchner, Matisse, Klee. —1 Drei Daten im ersten Dezennium des neuen Jahrhunderts: 1. Datum: Hugo von Hofmannsthals Erlebnis der Retrospektive von 1901. Vincent van Gogh; 2. Datum: das annus mirabilis 1905. Maurice Denis in der „Ermitage" und Matisse: „Wir sind nicht Herr über unser Schaffen. Es ist uns auferlegt." 3. Datum: 1907: Picassos „Demoiselles d'Avignon". Der Kubismus als Anti-Impressionismus. Seine wesentlichen Phasen. Apollinaire: Verkünder der neuen Bewegung. — Ein Blick auf die Ahnenreihe der Kubisten. „Wer Cezanne versteht, fühlt den Kubismus vor." — Vom Wesen kubistischer Malerei und von einigen Theorien. Eine konzeptionelle, intellektuelle, geistbeladene Kunst. „Cubisme analytique" und „cubisme synthetique". Bezüge zur Musik und Mathematik. Braque: „Die Sinne entformen, der Geist formt." Apollinaire: „So gehen wir einer völlig neuen Malerei entgegen." 4. Der Surrealismus. Im Zwischenreich der Dichtung, Malerei und Psychologie. Was wollten die Surrealisten? Eine Frage an Breton, Aragon und Soupault. Das Phänomen des italienischen Futurismus: Der 1. Durchbruch surrealistischer Motive. Die Manifeste Marinettis. „Modernolatria" und das „periculose vivere". Nachklänge Nietzsches und Vorklänge des Surrealismus. — Der 2. Durchbruch auf dem Weg zum Surrealismus: die 2»rc&er Dada-Bewegung von 1916. Was war „Dada"? Ein Künstlerjux mit politischen und metaphysischen Hintergründen. Drei Rückblicke der Gründer: Tristan Tzara, Hans Arp, Richard Huelsenbeck. — Die 3. Etappe: das Ende Dadas und die Geburt des Surrealismus in Paris. — Die surrealistische Zentrale und die Tätigkeit der neuen Gruppe. Das ewige Dilemma: die Unlösbarkeit des Problems Kunst und Politik. Die Faszination durch die russische Revolution. Die entscheidende Frage von Pierre Naville: Engagement der Surrealisten in der KPF oder Unabhängigkeit von der Parteidisziplin? Am Ende: der Ausschluß aus der KPF. — Vom Recht, „nein" zu sagen. — Von der surrealistischen Dichtung und der „ecriture automatique". Der verborgene Piatonismus. Im Bann des Orients. Die Adressen an den Dalai Lama, an die Rektoren der europäischen Universitäten und an den Papst von Rom. — Surrealistische Malerei. Ein Blick zu den Quellen: zurück über den Zöllner Rousseau, Victor Hugos Tuschen, die Romantik mit Füßli und Blake — und weiter zurück über Goya zu Leonardo da Vinci und seinen Geheimnissen „im alten Mauerwerk"; der Gang unter der

Inhaltsverzeichnis

XV

Führung Freuds in die Tiefenschiditen der Seele und die Praehistorie der Menschheit. — Die Philosophie der „coincidentia oppositorum". — Wesenszüge surrealistischer Malerei: Kunst im zerbrochenen Spiegel der Welt. Die „ver-rückten" Gegenstände. Eine Katachrese der Malerei. Das Wunderbare und vom „Geheimnis, daß der Mensch Kunst macht". Vom Surrealismus zur COBRA-Gruppe. — Ausblick.

Kapitel IV

Hinter dem Vorhang der Zeitgeschichte. Strömungen, Theorien, Antagonismen der Zeit: Ihr Widerspiel auf dem Theater des X X . Jahrhunderts 712

1. Vorbemerkungen. Theater im 20. Jahrhundert. Antagonismen und Mehrschichtigkeit. Die Öffnung zu neuen Horizonten. Vor dem Ersten Weltkrieg: die „Moderne" beginnt. „L'Entre-deux-guerres"; eine fruchtbare und erregend-freche Generation. Drei Ereignisse des Theaterlebens: 1. Die Schöpfung der 7. Kunst. Von M^lies zu Cocteau. 2. Das Ballet — auf dem Wege zum totalen Theater. Zusammenarbeit von Dichtern, Malern, Musikern. 3. Die Herrschaft der Regisseure. Das „Kartell der Vier" und die Wirksamkeit der großen ausländischen Theatermänner: Stanislawski, Appia, Craig, Reinhardt. Theater als Interpretation eines literarischen Werkes oder Theater als autonome Kunst? 2. Vier große Exponenten der französischen Dramaturgie. Gemeinsamkeiten und Gegnerschaft: Antonin Artaud. „Le theatre et son double" — „die unbestreitbar bedeutendste Theaterschrift des 20. Jahrhunderts". — Die Sprache der Gestik Wortsprache und Zeichensprache. Der Eindruck des Bali-Theaters. „Thiätre pur" und „Theatre de la Was heißt Grausamkeit? Anklänge an Schopenhauers Metaphysik des Leidens. — Der ideale Spielsaal und die „musikalische Partitur" als Notation einer universellen Theatersprache. — Artauds Theateraufführungen und Strindbergs Traumspiel. Paul Claudel. Die Faszination durch das Musiktheater. Von der Zusammenarbeit Claudel-Milhaud. Kritik an der klassischen Oper Gluck — Mozart und ihre Begründung. Claudels Auseinandersetzung mit dem Musikdrama Wagners. Die Wendung zum japanischen Theater. Claudel und die NöSpiele. Versuch einer Adaptation in einem biblischen Stück. Grundlegende dramatische Gedanken unter dem Einfluß des fernöstlichen Theaters: vom Tanz und vom Chor, vom Orchester und vom Bühnenbild, von der Gestik und von der Bedeutung des Kostüms. — Romantischer Nachschein letzter Orientträume? Der nachclaudelsche Osten. Jean Paul Sartre. Ein Philosoph vom Fach als Theaterdichter und Drehbuchautor. Unterschied zu Artaud, Claudel, Ionesco. Der marxistische Nährboden seiner Stücke. Existenzialismus und Marxismus. „L'existencialisme est un humanisme". Umstülpung der platonisch-christlichen Ordnung der essentia und existentia; der radikale Anti-Idealismus und Atheismus; espoir und des-espoir. „Wir wollen nichts von unserer Zeit verpassen."

XVI

Inhaltsverzeichnis

Wie Sartre zum Marxismus kam. Ein autobiographischer Text. Sartres Kritik am Marxismus und die Hoffnung auf einen neuen Sinn des Existenzialismus als einer Form „verstehender Erkenntnis" in einer sozialen Welt. — Analyse von 3 Stücken: Die „Mouches" oder von der Gideschen Disponi· bilität zum sozialen Engagement; die „Huis clos" oder „der Prozeß der fortschreitenden Aufhebung der Selbsttäuschung"; „Le Diable et le bon Dieu" oder eine Sartresche Fausttragödie. — Sartre im Feuer einer vierfachen Kritik: die Antimarxisten einer bürgerlichen Tradition, die antiatheistischen Existenzialisten christlicher Prägung, die Strukturalisten als Anti-Humanisten, die Anti-Ideologen als Liberalisten. Eugene Ionesco. Erinnerung an Schiller: „Es ist höchste Zeit, daß ich die philosophische Bude schließe." Ionesco: Fort von den Ideologien, zurück zum reinen Theater. Eine Anekdote aus England oder die Klärung der Ionescoschen Position. „Tout n'est pas de la politique". Die Geschichte als kontinuierliche Folge von Verirrungen und die Ideologie als Alibi der Unwahrhaftigkeit. Von der Insuffizienz der Literatur in unserer Zeit. H a t es noch einen Sinn zu schreiben? Das „etonnement primordial". — Die Funktion des Theaters. Faszinosum des Marionettentheaters. Die aktuelle Inaktualität. Ionesco: Glied einer Tradition von Hiob über Sophokles zu Shakespeare und dem Anti-Theater. Von der Struktur seiner Theaterstücke im Bilde eines Bildes. Die coindidentia oppositorum als philosophische Anschauung von Tragödie und Komödie. Der Gegensatz zu Sartre. 3. Rückschau und Blick in die Gegenwart. — Charakteristika der heutigen kulturellen Erscheinungen. — Die „Anti"-Strömungen. —

Bibliographische Orientierung

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Namenverzeichnis

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VORBEMERKUNGEN Fragte jemand: Wozu noch ein Buch über Frankreichs Kultur, da es schon Werke genug darüber gäbe —, würde ich antworten: Die Frage sei berechtigt, insofern Einzeldarstellungen über französische Literatur, Theater, Philosophie, Malerei, Architektur, Musik vorhanden sind. Wünschte sich der Leser indessen eine Gesamtschau der mannigfachen kulturellen Erscheinungen und ihrer mehr oder weniger sichtbaren Verbindungen, wäre ihm vielleicht ein Buch wie das vorliegende willkommen. Die Erfüllung solch eines imaginären Leserwunsches war jedoch nicht der entscheidende Grund für die Abfassung des Buches, vielmehr war der anhaltende Antrieb zu dieser Arbeit die Freude des Verfassers an dem Thema: bekannte Tatbestände neu aus der Sicht unserer Zeit darzustellen, Unbekanntes ans Licht zu fördern und Zusammenhänge aufzudecken, die sich zwischen den Wandlungen der Gesellschaft und den jeweils neuen Formen ihrer Kultur ergeben haben und immer neu ergeben; denn in dem Maße, wie die Zeit fortschreitet, kommt Neues, bislang Verborgenes an den Tag, Altes wird unter den sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen mit andern Augen gesehen. So reizte es den Verfasser, kulturelle Erscheinungen der Vergangenheit zwar aus ihrer geschichtlichen Situation heraus zu begreifen, aber sie auf Grund jeweils jüngerer geschichtlicher Erfahrungen in neue Sinnbezüge zur Gegenwart zu setzen. *

Ich ging bei der Abfassung des Buches von der Annahme aus, der Leser wünsche sich eine sachliche, möglichst objektive, auf wissenschaftlicher Erkenntnis der Tatbestände beruhende Darstellung der französischen Kultur. Es wird ihn vermutlich nicht so sehr interessieren, was der Verfasser über Frankreich denkt, als daß er erfahren möchte, welche Züge sich im Lauf der Entwicklung der französischen Gesellschaft in der von ihr hervorgebrachten und getragenen Kultur als charakteristisch herausgebildet haben; er wird weiter erfahren wollen, durch welche besonderen Leistungen Frankreich das Erbe der zivilisierten Völker vermehrt hat. Darum ist der Verfasser hinter dem Bilde selbst zurückgetreten. Nur in der Auswahl der Daten, Erscheinungen, Gestalten, die er vorführt, ist der unvermeidliche Rest eines subjektiven Urteils erkennbar. 1

Möndi, Franz. Kultur

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Vorbemerkungen

Die Auswahl fiel mir nicht leicht. Ich bekenne, daß midi seit frühen Jahren die Mathematik und die Naturwissenschaften in gleichem Maße wie die Gebiete der Literatur und Geisteswissenschaften interessiert haben. Aus einer Baumeister- und Musikerfamilie stammend, habe ich eine besondere Neigung auch zu den Künsten mit auf die Welt gebracht. Das mag erklären, warum in diesem Buch viel von Kunst und Musik die Rede ist, und warum ich die Naturwissenschaften, wo immer sie f ü r die Geisteskultur Frankreichs evident wurden, in ihrer Bedeutung gewürdigt habe. Mir erscheinen die Leistungen von Physikern und Mathematikern wie etwa einem Descartes und Pascal von solcher Bedeutung f ü r den Gang der Kultur zu sein, daß ich wenigstens die Aufmerksamkeit des Lesers auf Werke wie Descartes' „Le Monde" oder Pascals Konstruktion der „machine arithmithique" lenken möchte. Dasselbe gilt für die folgenden Zeiten, und zwar umso mehr, als mit der Entwicklung der Naturwissenschaften neue Akzente die Interessengebiete der modernen Gesellschaft artikulieren. Es eröffnet sich in den Schriften der Naturwissenschaftler eine kulturelle Domäne, die es zu erschließen lohnt. Ich bekenne gern, daß innerhalb des deutschen Schrifttums die Arbeiten eines Robert Maier, eines Sigmund Freud, eines Max Planck und Werner Heisenberg, oder innerhalb des französischen die eines Buffon, Cuvier, Laplace, Pasteur oder Jean Rostand für mich so faszinierend sind wie es, in gewöhnlichem Sinne, literarische Texte sein können. Die naturwissenschaftliche Literatur ist f ü r denjenigen, der einen Sinn für die wachsende Bedeutung dieses Schrifttums im Rahmen einer weitverstandenen Literatur hat, natürlich von besonderem Reiz. Sie spiegelt den Entwicklungsgang der Zivilisation wider, ja sie gibt unserm Denken und dem gesellschaftlichen Wandlungsprozeß, mindestens seit dem 18. Jahrhundert, eine neue Dimension. Seit ich aber als Kind auf dem Arbeitstisch meines Vaters die dicken Bände Partituren einsah — meine erste Erinnerung daran ist die „Damnation de Faust" von Berlioz — muß ich gestehen, daß diese Hieroglyphen einen eigenartigen Zauber auf mich ausstrahlten; — weswegen ich heute einen Val£ry, der auf die Konstrukteure solcher Linienschrift eifersüchtig war, gut verstehen kann. Mathematik, Musik und Lyrik Val^ryscher Strenge und Sensibilität gehören gewiß zusammen. Die Kultur einer Nation hängt nicht in der Luft, sondern ist in ihrem Wachstum und in ihrer Eigenart an die Gesellschaft und den historischen Moment ihrer Erscheinung in der Geschichte gebunden. Was etwa bei einer Tragödie Racines aus dem Zeitalter Ludwigs X I V . einsichtig ist, nämlich

Vorbemerkungen

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der „höfische" Charakter ihres Gehalts, ihres Stils, ihrer Faktur, gilt ebenso für andere Zeiten, die jeweils den in ihnen entstandenen kulturellen Werken ihren unverkennbaren Stempel aufdrücken. Künstler und Werk erweisen sich als Produkte der Zeit und der jeweiligen Gesellschaftslage, aber die Künste bewahren auch, als Gattungen, eine ihnen gemäße Autonomie der Entwicklung. Es gibt zwar, um nur einige Beispiele zu nennen, eine Hofmalerei (Versailles), eine Revolutionsmusik (die französische Oper um Gretry und M£hul), eine politische und konfessionelle Literatur (etwa Bossuet und Claudel). Sie lassen als Kunstwerke die Signatur ihrer Zeit, auch deren Gegensätze, erkennen, und erschließen sidi einer soziologischen Deutung. Es gibt aber auch autonome Entwicklungslinien: Von Haydns Sonaten verläuft eine nach rein musikalischen Formen sich vollziehende Entwicklung zu Mozart und Beethoven. In ähnlicher Weise, vielleicht mehr im Pendelschlag von Aktion und Reaktion oder im Widerspiel von Tradition und Revolte, wäre solche künstlerische Autonomie in der Entfaltung der französischen Malerei vom Impressionismus über den Fauvismus zum Kubismus, der abstrakten Kunst bis hin zu den Gruppen um „Reflex" und „Cobra" zu beobachten. Man wird also die soziologischen und zeitbedingten wie die autonom-künstlerischen Faktoren im Kulturleben zu berücksichtigen haben. *

Seit je ist Frankreichs Kultur mit der Geschichte anderer Nationen verbunden gewesen. Sie ist französisch u n d europäisch. Schon im 16. Jahrhundert konnte sich Frankreich so wenig wie die andern Länder Europas den Einflüssen Italiens entziehen. Kunst, Philosophie, Dichtung der französischen Renaissance tragen einen italienischen Stempel. Dazu kam der Einfluß Spaniens vornehmlich in der französischen Dramaturgie des Barockzeitalters. Was in einer zweiten Phase der ausländischen Einflüsse England für die Kultur und Zivilisation Frankreichs bedeutet hat, erkennen wir an der Philosophie, Literatur, Soziologie der Aufklärung mit Montesquieu, Voltaire, Diderot und den Enzyklopädisten. Bald danach wird in einer dritten Phase, der Epoche der europäischen Romantik, Deutschland interessant. Die Geschichte Goethes, Beethovens, Hegels und der deutschen literarischen Romantik setzt gerade an d e m Zeitpunkt ein, da Frankreich eine seiner ureigenen Leistungen, die Große Revolution von 1789, vollbracht hat. Der Aufbruch der französischen Romantik steht somit unter dem dreifachen Zeichen der eigenen sozialen Umwälzung (das ist ihr spezifisch politischer Aspekt), der Erschließung neuer philosophi-



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Vorbemerkungen

scher, künstlerischer und literarischer Perspektiven (das ist das Ergebnis einer Blickrichtung auf die terra incognita Deutschland, auf den europäischen Norden und die russische Musik und Literatur) und schließlich der weit über die innereuropäischen Aspekte hinausreichenden Entdeckung des Orients (das ist die Tat einiger Dichter und Orientalisten). Jetzt erst erfuhr die französische Kultur, daß ihr Fundament nicht nur die griechischrömische Antike und die aus ihrer und der alttestamentarischen Welt geborene christliche Religion ist, sondern daß über die Brücke Spaniens hinweg die arabische Kultur ihre Bedeutung für Frankreich und Europa hatte (das wurde bereits dem jungen Victor Hugo um 1822 bewußt), und daß endlich in der Weisheit der Inder und des Fernen Ostens gemeinsame Quellen der Menschheitskultur aufzudecken sind. Auf umgekehrtem Wege konnte nun Frankreichs Kultur als ein Phänomen völkerverbindender Humanitas zu weltweiter Wirkung gelangen: die französische Romankunst, die Lyrik der vier Großen der zweiten Jahrhunderthälfte (Baudelaire, Mallarmä, Verlaine, Rimbaud), die neue Musik des französischen Impressionismus und das impressionistische Wunderwerk der französischen Malerei. All das ist heute W e l t besitz in den Bibliotheken, Konzertsälen und Museen, — und zwar in nicht geringerem Maße, wie es ein Hegel und Beethoven und was sich aus beiden entwickelte: der völkerumspannende Marxismus und die Weltgültigkeit der deutschen Musik, für das 19. Jahrhundert und darüber hinaus für das 20. Jahrhundert geworden sind. In diesem Gewebe wechselseitiger Einflüsse haben sich seit der Epoche der Romantik die Fäden der deutschen und französischen Kultur besonders eng verflochten. sFrankreich und Deutschland gehören wie kaum zwei andere Länder der europäischen Geschichte in ihrem kulturellen Werdegang zusammen. Das ist eine alte Erkenntnis, die ihre Gültigkeit immer neu erweist. Es mag darum verständlich sein, wenn ein deutscher Romanist, der schon die Verwegenheit hatte, ein Buch über die „Deutsche Kultur von der Aufklärung bis zur Gegenwart" zu schreiben, sich alsbald dazu gedrängt fühlte, ein Pendant in einem Frankreichbuch vorzulegen. Aber von dem versiertesten Komponisten würde man nicht erwarten, daß dieses Buch den Regeln kontrapunktischer Komposition, an die der Verfasser ursprünglich gedacht hatte, entspricht. „Point counter point" zu setzen würde die natürlichen Verhältnisse verzeichnen, und so ist das Buch gemäß der unverkennbaren Eigenart der französischen Kultur aufgebaut. Indes-

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sen sind beide Bücher eine Art Diptychon. Da, wo sich Vergleiche, Beziehungen und Parallelen anboten, schien es mir interessant, auf sie hinzuweisen und manches dabei aufzudecken, was die Gemeinsamkeit beider Kulturen sichtbar macht. D a ß der Blick dabei auch Beziehungen mit andern Ländern Europas und der außereuropäischen Welt nicht außer acht läßt, gebietet uns heute, wo die Welt an sich kleiner, aber unsere Welterfahrnng größer geworden ist, die geistige Spannweite unserer eigenen Epoche. Das Denken in nationalen Kategorien ist im Rückzug. Die N o t wendigkeit weltweiter Perspektiven ist ein Gebot des endenden 20. Jahrhunderts. Zwischen einer national begrenzten Schau der Dinge und einer weltumspannenden Sicht liegt ein Mittleres: die europäische Perspektive. Ich bescheide mich gern mit ihr; denn f ü r die Erfassung welthistorischer Erscheinungen würde die Sehkraft eines einzelnen nicht ausreichen. *

Das Buch wendet sich an deutsche Leser. Beherrschung der französischen Spradie, die zum Verständnis der teilweise schweren Texte notwendig wäre, kann nicht vorausgesetzt werden. Ich habe darum die Zitate übersetzt, — wo ich andere Übertragungen aufgenommen habe, sind sie als solche angemerkt. N u r einige leichtere Passagen, die einem Leser audi mit geringeren Sprachkenntnissen zugänglich sein dürften, habe ich in der Originalsprache gelassen. Oft erhöhen solche Originalzitate die Aufmerksamkeit und die Spannung des Lesers und sind geeignet, den Text zu würzen. Die Zitate selbst sollen den Leser an die Quellen führen, und die Quellen sollen nicht spärlich fließen. Kurze Zitate sagen oft mehr als lange Paraphrasen darüber. So mag der Leser die Aussagen der Politiker, Historiker, Soziologen, er mag die Gedanken der Naturwissenschaftler und Mathematiker und die Texte der Dichter und Schriftsteller, der Philosophen und Theologen — alle kommen zu Wort — selbständig durchdenken und sie nach seinem Verständnis deuten. Am Ende wird er sidi ein Bild nach der Überschau machen können und sich vielleicht ermutigt fühlen, mehr Quellen zu lesen und nach weiteren Funden zu graben. Walter Mönch Tübingen/Fomentera 1971

TEIL I

Le siecle de Louis XIV

KAPITEL I

Horizonte Was ist das 17. Jahrhundert? Die Frage ist so leicht gestellt wie schwer beantwortet. Betrachten wir die Erdkarte von 1600 und 1700, scheint sich auf dem Globus nicht viel verändert zu haben: noch immer dieselben unentdeckten Ländermassen des amerikanischen Kontinents in Nord und Süd, in den Steppen Asiens, im Innern Afrikas, in Australien. Einige Randzonen, Inseln und Flußgebiete Amerikas sind in den Händen der Spanier, Portugiesen, Engländer, Niederländer, Franzosen. Und noch immer scheint das erdumgreifende spanische Habsburgerreich, in dem die Sonne nicht untergeht, fest begründet die Erde zu beherrschen. Dennoch ist viel in diesem Jahrhundert geschehen. In der Perspektive des historisch interessierten Betrachters ist es das Jahrhundert, in dem die spanische Herrschaft, ihr „Goldenes Zeitalter", in die erste Phase der Dekadenz tritt, während Frankreich, Habsburgs Gegenspieler, den Weg zur politischen, militärischen und kulturellen Hegemonie beschritten hat. Es ist unter diesem Aspekt gesehen, das Jahrhundert Richelieus, Mazarins, Ludwigs X I V . Aber es ist zugleich das Jahrhundert der wirtschaftlichen Prosperität Hollands und des zur Seemacht aufstrebenden englischen Inselreichs; es ist in seiner Mitte das Zeitalter Cromwells. Der historische Aspekt ist in dieser Epoche zugleich ein religiöser; denn die machtpolitischen Kämpfe, in welche die kontinentalen Mächte verwickelt sind, spielen sich, zufolge der konfessionellen Spaltungen des 16. Jahrhunderts, als Religionskriege ab. Ihr berühmtester ist der Dreißigjährige Krieg. Das erste Jahrhundertdrittel wurde die Epoche Wallensteins und Gustav Adolfs. In diesem wahrhaft barocken Krieg, der sich in offenbar sinnlosem Selbstgenügen langsam durch Europa fraß und Städte und Länder in Asche legte, stellte es sich heraus, daß der konfessionelle Impetus, der 1618 zu seinem Ausbruch geführt hatte, im Laufe der Jahrzehnte seinen religiösen Sinn verlor; am Ende kämpften Protestanten in katholischen, Katholiken in protestantischen Heeren. Ein weltbezogener Wille zur politischen Macht und die Rationalisierung einer politischen Denk-

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weise leiteten eine neue Ära ein. Mit Gustav Adolfs festem Bibelglauben war der Krieg so wenig zu gewinnen wie mit dem Glauben Wallensteins ans Horoskop. Sieger war vielmehr Richelieu, der weder ans Horoskop glaubte noch sich als Politiker an die Moral der Bibel hielt, sondern dem Gesetz des wohlerwogenen Staatsinteresses folgte. Er gewann den Krieg noch vor Ende des Krieges, das er nicht mehr erlebte. Mit ihm setzte sich die das soziale und kulturelle Leben regelnde Staatsraison durch. Machiavelli wird auf lange Zeit der Lehrmeister der Souveräne. Je entrüsteter die Herrscher seine „unmoralische" Lehre ablehnen, umso heimlicher folgen sie ihr. Die Neuzeit ist angebrochen. Wer aber nicht regieren und also beständig auf Mittel sinnen mußte, klüger und rascher als die andern zu sein, konnte sich in der Stille des Denkens religiösen Betrachtungen widmen. Das 17. Jahrhundert war ein religiös geprägtes Zeitalter, die Epoche des Jansenismus und der Herren von Port-Royal, die eine der großartigsten christlichen Erneuerungsbewegungen der Neuzeit aus dem Geiste Augustins im Rahmen der katholischen Kirche heraufgeführt haben. Es war ein wenig später die Zeit Bossuets, der als Haupt des Gallikanismus den politischen Willen des Königs gegenüber den weltlichen Ansprüchen Roms verteidigte und ihn durchsetzte. Herrscherliches Christentum und monarchistische Politik verschmelzen im Denken dieses Kirchenfürsten zu einem religiösen Stil, der ein Kennzeichen der absolutistischen Ära des Sonnenkönigs war und sich nodi mit charakteristischen Zügen in dem orthodoxen Rußland, im protestantischen Preußen und im katholischen Habsburg des 19. Jahrhunderts ausprägte. Eine dritte Form religiösen Denkens bildete sich in Frankreich mit dem Quietismus Finelons und der Madame Guyon aus. Der Quietismus war ebenso weit von den harten ethischen Forderungen des Jansenismus wie dem politischen Spiel der Gallikaner entfernt. Auf dem Boden der gemeineuropäischen Mystik angesiedelt, wollte diese Bewegung die seelischen Kräfte des Individuums ohne die Zwischenstufen kirchlich sanktionierter Heils- und Hilfsmittel unmittelbar zu Gott leiten. Als vierte Macht gewannen die Jesuiten am Hofe Ludwigs XIV. immer stärkeren Einfluß. Aber das 17. Jahrhundert ist in seiner ganzen Länge auch das Jahrhundert von Descartes und Galilei. Wer das übersieht, ahnt nidits von der Bedeutung mathematischen und naturwissenschaftlichen Denkens für die Entwicklung der Menschheit und ihrer Kultur. Aber wie wäre es für einen modernen Menschen, der heute mit den Ideen und Begriffen der Struk-

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turen mathematischer Physik, einer äußerst differenzierten Psychologie, einer modernen Algebra, der Weltraumforschung, der Herzverpflanzungen und biochemischen Humanlaboratorien aufwächst, auch nur denkbar, nicht den Sinn für die fundamentalen Forschungen und Entdeckungen etwa des Blutkreislaufs (Harvey und Descartes), der Raum- und Bewegungsstrukturen des galaktischen Systems (Descartes und Galilei) und der zahlreichen Entdeckungen zu haben, die im 17. Jahrhundert den Untergang des kosmischen Weltbildes der Antike besiegelten? Hier öffnet sich ein Bereich großer Literatur, der von den Philologen wenig beachtet wird und doch von einer erregenden „Poesie" ist. Es ist freilich nicht jedem gegeben, diese mathematische Poesie des naturwissenschaftlichen Schrifttums in ihrer eigenartigen Größe zu erspüren, die in dem oft entsagungsvollen Kampfe des Genies mit dem Unbekannten, in der Odyssee des forschenden Geistes, liegt. Die nüchternsten Denker und Forscher wie Claude Bernard, sprechen von den „joies insurpassables", wenn da eine Wahrheit entdeckt wird, die zuvor noch keiner gesehen hat. Wie Planck, Einstein, Heisenberg in unserem Jahrhundert, so gehören die Astronomia nova (1609) von Kepler, der Nuntius sidereus (1610) von Galilei, der Tratte de la Lumiere (1633, Fragment) von Descartes, die Philosophiae naturalis principia mathematica (1687) von Newton zu der klassischen naturwissenschaftlichen Literatur des 17. Jahrhunderts, um nur wenige grundlegende Bücher zu nennen, auf denen die Forschungen der folgenden drei Jahrhunderte beruhen. Indessen geht die „eigentliche Literatur" andere Wege. Sie ist nach dem 16. Jahrhundert eine zweite Renaissance der Antike: eine Wiedergeburt von Sophokles und Euripides bei Racine, von Plautus und Terenz. bei Moli^re, von Epikur und Lukrez, bei den antikartesianischen Gassendisten, von Aristoteles und Horaz in der Lehre der klassischen Dramaturgie, von Aisopos und Phaedrus bei Lafontaine. Aber auch auf dem schöngeistig-literarischen Gebiet zeichnet sich in der Querelle des Anciens et des Modernes um 1700 eine durch die Fortschritte der Naturwissenschaften hervorgerufene Krise des französischen und europäischen Bewußtseins ab. Während Altes, immer wieder neu geboren, in wechselnden Formen ans Licht tritt, schreitet die Menschheit auf ihrem unendlichen Weg wissenschaftlicher Wahrheitssuche und der Wirklichkeitsfindung, ohne Rücksicht auf Vergangenes unbeirrbar weiter. Descartes und Fermat, die Erfinder der analytischen Geometrie und hundert einzelner mathematischer und naturwissenschaftlicher Fakten, neben ihnen Blaise Pascal, der

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Experimentalphysiker und Konstrukteur der ersten Rechenmaschine, sind auf diesem Gebiet die großartigsten Erscheinungen des 17. Jahrhunderts: der eine, Descartes, ist es auch als philosophischer Begründer unseres menschlichen Selbstbewußtseins in dem modernen Sinne eines von religiösen Zwängen sich emanzipierenden Denkens; der andere, Pascal, ist der christliche Exponent eines modern anmutenden Existenzialismus; und an Fermat schrieb Pascal daß er ihn für „den größten Mathematiker in ganz Europa" halte. Das 17. Jahrhundert ist, auf dem Horizont der französischen Mathematik und Naturwissenschaft gesehen, das Jahrhundert Descartes, Pascals, Fermats. Geht man mit literarischen Interessen an das europäische Schrifttum der Diditer und Dramatiker des 17. Jahrhunderts heran, entdeckt man dessen zweite Hälfte als das „Goldene Zeitalter" der französischen Klassik. Dann ist das Jahrhundert die Epoche der „Moralisten" (La Rochefoucauld), des größten Fabeldichters der Weltliteratur (Lafontaine), eines geistvollen Kritikers (Boileau), das Jahrhundert auch der „Preziösen Frauen" und ihrer einflußreichen Salons, deren Rolle es nicht immer nur war, „lächerlich" zu sein, wie die Moli^resche Karikatur der „Pricieuses ridicules" diese Frauen ins Bild setzt; das 17. ist aber das Jahrhundert M o i r e s , eines genialen Mimen und Komödiendichters. Es ist das Jahrhundert der klassischen Dramaturgie, die in dem Tragödienwerk Racines gipfelt, als audi dasjenige der höfischen Ballettkunst, die der Sonnenkönig, selbst einer der besten Tänzer seines Reiches, aus persönlicher Freude am Ballett, großzügig gefördert hat: eine Kunstgattung, in der die pantomimischen Elemente und ihre poetischen Vorwürfe sich mit ihrer musikalischen Gestaltung durch Lully und den Dekorationen der italienischen Bühnenmeister zu einem theatralischen Gesamtkunstwerk verbunden haben. Was wir unter der französischen Klassik des 17. Jahrhunderts verstehen, begrenzt sich streng genommen auf die ersten Jahrzehnte der Ludovizianischen Regierung. Der Klassizismus entfaltete sich innerhalb der barocken Kunst- und Gesellschaftskultur Europas. Er prägte ihre geistige Physiognomie in einigen Charakterzügen aus, die wir in verschiedener Mischung im Gesellschaftsbild, den künstlerischen Leistungen und der Literatur wiederfinden. Es seien vier hervorgehoben: Einer der wesentlichen Züge war die Verehrung der Antike. Boileau: „Heutzutage handelt es sich nicht mehr um die Frage, ob Homer, Piaton, Cicero, Virgil wunderbare Menschen waren. Die Frage ist seit 2000 Jahren

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unwiderruflich entschieden, da sie in ihrem Urteil übereinstimmen. Es handelt sich darum zu wissen, worin dieses Wunderbare besteht, das so viele Jahrhunderte zur Bewunderung der antiken Werke veranlaßt hat. Und das eben muß man sehen lernen — oder man soll auf Literatur verzichten, wenn Ihr schon glauben müßt, daß Ihr dafür weder Geschmack noch Geist besitzt, da Ihr durchaus nicht fühlt, was alle Menschen fühlen." (Reflexions sur Longin, VII.)

„Alle Menschen" — das bedeutet eben doch nur die honnetes gens, die im Besitz humanistischer Bildung sind. Also war der „Klassizismus", sozial gesehen, an eine Oberschicht gebunden, die, wie wir sehen werden, Teile der Aristokratie und des reichen Bürgertums umfaßte. Diese Schicht war freilich bis ins 18. Jahrhundert hinein eine internationale Gesellschaft in einer Repttblique des Lettres. Der Glaube an die Vernunft war ein zweiter Grundzug und war das Credo Descartes'. Dieser Glaube durchwirkte alle Tätigkeiten in den Bereichen der Politik, der Wirtschaft, der Künste, der Literatur und knüpfte sie zusammen. Sein ganzes Gewicht werden wir bei der Betrachtung Descartes' erfahren. Hier sei ein Wort Pellissons von 1656 übersetzt. Es macht die Universalität des Glaubens an die Raison kenntlich: „Wie der Mensch für die Dinge des Körpers (les choses du corps) ein Universalinstrument, nämlich die Hand, besitzt, mit dem er sich aller andern bedienen kann, so hat er für die Dinge des Geistes (les choses de l'esprit) ebenfalls ein Universalinstrument, nämlich die raison ..(Zit. bei Lebrun, op. cit. 332)

Wenn, so meint Pellisson, ein Mensch nur auf einem Gebiet einmal etwas Hervorragendes zustande bringt, dann mag es Zufall oder bestenfalls eine blinde Fähigkeit (faculte aveugle) sein, nämlich die imagination·, diese aber hätte er mit den Tieren gemein. Was uns indessen volle Bewunderung entlockt, ist, wenn ein denkender Kopf nach dem Universalprinzip der raison etwa im Bereich der literarischen Kunst alle Gattungen mit gleicher Leichtigkeit bewältigt. Ein dritter Charakterzug ist die Forderung an die Künstler, sie müßten wohl die Natur nachahmen, aber deren Mängel durch die Kunst ausgleichen und deren unvollkommenen Zustand in ein vollkommenes Werk umwandeln. Nehmen wir ein Beispiel aus der klassischen Theorie der Malkunst. Felibien schreibt: „Das hauptsächliche Bemühen eines Malers muß sich darauf richten, herauszufinden und zu erkennen, worin das Wahre, Schöne, Einfache eben dieser Natur besteht, die all ihre Schönheit und Anmut aus deren Reinheit und Ein-

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fadiheit b e z i e h t . . . Aber obwohl die N a t u r die Quelle der Schönheit ist, wird sie — sagt man gemeinhin — v o n der Kunst übertreffen. Denn die Natur ist gewöhnlich in den einzelnen Objekten fehlerhaft, weil sie bei deren Bildung durch gewisse Umstände abgelenkt wird, und zwar gegen ihre Absicht, die immer darauf ausgeht, ein vollkommenes Werk hervorzubringen." (Zit. bei Fr. Lebrun op. cit. p. 333)

Auf einen vierten Zug sei hingewiesen, die „barocke" Tendenz des Klassizismus zum Grandiosen und Majestätischen, wofür das Gesamtkunstwerk von Versailles Zeugnis ablegt. Versailles: Seit 1682 Residenz Ludwigs XIV., glanzvoller Mittelpunkt aller Feste, Bälle, höfischen Divertissements, für die Moli^re und Lully die künstlerische Organisation oblag. Am Bau dieses Tempels des Sonnengottes arbeiteten 36 000 Arbeiter und 6000 Pferde. Die Zimmerflucht war von 100 000 Kerzen erhellt. Die Entwürfe sind mit den Namen Le Vau, Hardouin-Mansart, Robert de Cotte verbunden, die in die architektonische Gesamtkonzeption eingeplanten Parkanlagen sind von Le Nötre. An der Innenraumgestaltung des Schlosses war eine Legion qualifiziertester Handwerker, Künstler, Keramiker, Glasschleifer, Bildhauer, Maler, Kunstschreiner, Goldschmiede, Uhrmacher, Teppichwirker beschäftigt, die Porzellanfabrikanten und Modeschöpfer, die Gobelinindustrie und das Schlosserhandwerk standen im Dienst an der Einrichtung dieses weltlichen Heiligtums. Ein anonymer Autor berichtet über den Glanz der Ausgestaltung und der Feste: „Die Halle, der Saal, die Zimmer, die Galerie und das Kabinett am Ende der ganzen Flucht erstrecken sich wie ins Unendliche. Stellen Sie sich vor, welch ein Glanz, v o n hunderttausend Kerzen entzündet, diese Zimmerflucht durchflutet! Mir war's, als stünde alles in Flammen; denn die strahlendste Sonne im Monat Juli scheint weniger blendend. D a z u kommt, daß die vergoldeten und versilberten Möbel noch ihren eigenen Glanz haben. D i e gesamte Ausstattung ist reich und prächtig: da gibt es Gobelins, Statuen, Gemälde, Silberwerk, Vasen, Blumen, Kohlenbecken, Kronleuchter, Armleuchter, Portieren, Teppiche — und alles verschieden und selten." (In: Lemonnier, L'Art franyais au temps de Louis X I V . Paris, Hadiette 1911)

Über dem gesamten Bauunternehmen wachte der Maler und Kunstorganisator Charles Le Brun; sein Auge übersah alles und er bestimmte die geringsten Einzelheiten auch der Innendekoration, daher die Geschlossenheit des Gesamteindrucks dieser irdischen barocken Prachtentfaltung, die von den klassischen Werten des Maßes und der Symmetrie gebändigt ist. Wie die Sonne unseres Planetensystems (eine damals noch junge Entdeckung der Astronomie) im Zentrum der kreisenden Wandelsterne steht, so der König Ludwig XIV., der Roi Soleil. Gebäude und Gärten formieren

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sich um eine Achse, die von der Statue des Königs im Vorhof beginnend, durch das zentralgelegene Königsgemach verläuft und in dem „Tapis vert" und dem „Grand Canal" ausschwingt. Im Spiegelsaal des Schlosses ist der junge König in der schwülstigen Dekoration verherrlicht und verewigt: „Le Roi gouverne par lui-meme" darunter das Datum 1661. Der im antiken Cäsarenkostüm drapierte König mit weitausladender Gebärde auf dem Thron, das rechte Bein über die Stufen gesenkt, den linken Arm in erhabener Geste ausgestreckt; ein Kranz von huldigenden Gestalten umgibt ihn, Frauen, Kinder, Putten, Engel, sie tragen Kränze, Instrumente, Körbe, Masken und allerlei symbolisches Gerät und bilden einen leuchtenden Halbkreis, der sich in das Segment der unteren Rahmenpartie einschmiegt. Rechts und links vom Thronsessel sind monumentale Bauten angedeutet; über ihm wölbt sich eine Draperie und darüber auf Wolken eine leicht gebogene Horizontale von Göttern, Helden, mythischen Gestalten, die in gestikulierender Bewegung in himmlische Höhen zu weisen scheinen. Eine wahrhaft barocke Verherrlichung der absoluten Macht, die der König auszuüben verkündigt hat. So bewundernswert Le Bruns organisatorische Leistung war, so wenig hat er als Maler dem 17. Jahrhundert seinen Namen gegeben. Nicht e r , sondern Poussin (1594—1663) und Claude Geltee (gen. Le Lorrain, 1600—1682) aus der vorangehenden Generation waren die französischen Meister, die, ein jeder in seiner Art, mitten im Zeitalter des italienischen Barocks, und ihrer Geburt nach zwischen Rubens (1577—1640) und Rembrandt (1606—1669) stehend, das Ideal des Klassizismus verwirklicht haben. Der Glanz des Hofes aber darf über zwei Wirklichkeiten des französischen 17. Jahrhunderts nicht hinwegtäuschen: über die moralische Korruption der höfischen Welt, die ihre besten Anlagen und Kräfte, wenn sie sich nicht entfalten konnten, in einem oft tragischen Masken- und Intrigenspiel vergeudete, und zum anderen über die tiefen Schatten, welche auf dem arbeitenden Volke lagen, das die Hauptlasten der Steuern und Abgaben zu tragen hatte. Das Volk darbte und wurde Opfer der Kriegs- und Verschwendungssucht seines Königs. Wie es in Wirklichkeit am Hofe aussah, schildert Saint-Simon in seinem Memoirenwerk über den Hof Ludwigs XIV. Wie es mit dem Volke stand, erfahren wir aus den Vorhaltungen eines Vauban und Boisguillebert, die nicht nur politische Verbesserungen, sondern eine tiefgreifende Sozialreform — gleiches Steuerrecht für alle — forderten, erfahren wir aus dem Kreis um den Herzog

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von Burgund, den Herzog von Chevrettse, aus Beauvillier und vor allem aus Fenelon, also aus Kreisen des hohen Adels und der Geistlichkeit selbst. Das 17. Jahrhundert ist also eine Epoche höchsten Glanzes und Ruhmes, in der sich alle Macht und Herrlichkeit in fast orientalischer Weise auf den einen Herrscher konzentrierte, den Sonnenkönig Frankreichs, während sich tiefe Schatten von Versailles aus über das ganze Land breiteten. Immerhin ist in der Wirtschaftsgeschichte Europas in dieser Zeit das System des Merkantilismus in Frankreich durch die energische Planwirtschaft Colberts durchgeführt worden. Das System hat für eine gewisse Zeit eine Prosperität des Landes und der Entwicklung seiner Manufakturen herbeigeführt. Bedenkt man, wie Frankreich damals ganz Europa mit seinen Waren und Modeartikeln, seinen Möbelerzeugnissen und anderm Kunsthandwerk überschwemmte, und daß die qualifiziertesten ausländischen Arbeiter in Frankreich unter günstigsten Bedingungen arbeiten und Fabriken errichten konnten, dann darf man mit Recht unter diesem Gesichtspunkt das 17. Jahrhundert das Jahrhundert Colberts nennen. Mit seinem Namen sind audi die weltweiten Ost-West-Handelsunternehmungen verbunden. Alte Träume Richelieus von der ozeanischen Handelsmacht Frankreich tauchten wieder auf . . . Aber im Endeffekt überspielten die Seemächte Holland und England die französischen Bestrebungen. Das demographische Bild der französischen Nation hat sich im Laufe des Jahrhunderts nicht merklich verändert. Während allerdings die Bevölkerungszahl der deutschen Staaten zwischen 1600 und 1700 von 18. Millionen auf 10 herabsank, stieg in Frankreich die Zahl von 18 Millionen um 1600 auf 19 Millionen um 1700. Geburten- und Sterblichkeitsziffern hielten sich ungefähr die Waage. Im Durchschnitt kamen auf 1 Ehe 4—5 Kinder. Die Säuglingssterblichkeit lag bei 25 °/o, die Kindersterblichkeit ebenfalls bei 25 °/o. Also erreichten von 100 Kindern 25 nicht die Vollendung des 1. Lebensjahres, und 25 starben zwischen dem 1. und 19. Lebensjahr. Nur 50 erreichten das heiratsfähige Alter. Frauen starben damals — im Gegensatz zu heute — früher als die Männer. Bedenkt man ferner, daß die Empfängnisfähigkeit der Frauen kürzer war als heute, und daß der Beginn des Greisenalters für Mann und Frau ungefähr bei 45—50 Jahren lag, dann ergibt sich aus der Berechnung all dieser Faktoren weder ein merklicher Ausschlag nach oben noch nach unten, sondern ein Stillstand in der Bevölkerungsbewegung. Das ist von Bedeutung, wenn wir die Statistik Frankreichs mit denen von England, Rußland, Schweden vergleichen, die ein schnelleres und größeres Wachstum

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der Bevölkerung in jener Zeit aufzuweisen haben. Da jedoch die statistischen Unterlagen Lücken zeigen, und die Einwanderung der Fremdarbeiter auf Grund der günstigen Arbeitsbedingungen im merkantilistischen System, sowie aber auch die Abwanderung großer Bevölkerungsteile nach der Aufhebung des Edikts von Nantes quantitativ nicht mit voller Sicherheit erfaßbar sind, bleiben die obigen statistischen Angaben nur Annäherungswerte; immerhin vermitteln sie ein Bild der Vorgänge und Zustände. Wie jede andere Epoche ist auch das 17. Jahrhundert voller Widersprüche und Gegensätze: Gassendi widerspricht Descartes; die Jansenisten widerspredien den Jesuiten und Bossuet widerspricht Finelon — und das alles war kein leeres Philosophen- und Theologengezänk, sondern Austrag von Überzeugungen und Glaubensfragen. Die einsetzende Aufklärung der naturwissenschaftlich orientierten „Freigeister" vertrug sich nicht mit der noch weithin nachwirkenden Praxis etwa der Hexenprozesse, die sich in diesem Jahrhundert noch über ganz Europa erstreckten. In der Mitte des 17. Jahrhunderts mußte ein Gabriel N a u d i noch schreiben: „Warum eine arme Frau verbrennen, die, weil sie geistesgestört oder dumm oder sonstwie gezwungen ist, bekennen muß, daß sie in einem N u auf einem Bock, einer Mistgabel oder einem Besenstiel zu einer Versammlung reiten m u ß . . . um dort kindliche, lächerliche, unmögliche Extravaganzen mitzumachen; . . . sie verdiente eher, daß man sie behandle oder ins Irrenhaus schaffe, als sie mit Strick oder Feuer aus dem Leben zu befördern . . ( Z i t . bei A. Adam, Les Libertins au 17* si£cle. Paris (Buchet-Chastel) 1964.

Auch das ist 17. Jahrhundert: Widersprüche zwischen Verstandesklarheit und dunklem Aberglauben, zwischen humaner Bildung (die Richter solcher Prozesse waren zumeist intelligente und kultivierte Menschen) und unmenschlichen Urteilen, Widersprüche zwischen naturwissenschaftlich aufgeklärtem Denken und religiösem Fanatismus. Das sind Spannungen eines Jahrhunderts, das erst langsam, trotz des Wetterleuchtens im 16. Jahrhundert, diese dunklen Phasen des Mittelalters (es gab auch lichtere in dem „finsteren Mittelalter") überwindet, ein Jahrhundert, das noch im Zwielicht zweier Epochen steht — es ist nicht mehr ganz dunkel, aber es ist auch nicht allenthalben hell. In solcher Beleuchtung gesehen, enthüllt das Zeitalter Ludwigs X I I I . und Ludwigs XIV. Widerspruch auf Widerspruch. Bekannt ist die Skepsis des aufgeklärten Moli^re gegenüber der akademischen Medizin; weniger bekannt ist, was dahinter stand. Der Engländer Harvey und Ren£ Descartes hatten um die gleiche Zeit den Blutkreislauf entdeckt, allerdings

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eine verschiedene Erklärung des Phänomens gegeben; die modernere, antischolastische Explikation gab Harvey in seinem Budi De motu cordis et sanguinis in animalibus, anatomica exercitatio (Frankfurt 1628). Descartes las das Werk und legte gegenüber den Thesen Harveys seine eigenen, rein medianischen Erklärungen nieder (im Discours de la Methode, 1637). In der Diskussion über die Funktion der Venen und Arterien sdiloß er sich freilich eher an scholastische Vorstellungen an, als an die neuen Hypothesen Harveys. Doch das zeigt nur, wie sich der Durchbrach durch die Verkrustung mittelalterlicher Medizin erst in langsamen, ruckartigen Bewegung vollzog. Wie es in der Theologie und Philosophie die Autorität eines Aristoteles gab, so in der Medizin die Hippokrates-Galen-Tradition, wo nur gefragt wurde: Stimmt die Ansicht des Arztes mit der Lehre der alten Griechen überein? Diese Situation beleuchtet Molifere, als er im „Malade imaginaire" den lächerlichen Doktor Diafoirus seinen Sohn rühmen läßt, weil dieser in den ausgetretenen Bahnen weitergeht: „Er ist hart im Disputieren, reitet wie ein Türke auf seinen Prinzipien, läßt nie von seiner Meinung ab und verfolgt ein Raisonnement bis in die letzten Winkel der Logik. Aber was mir vor allem an ihm gefällt, und worin er meinem Beispiel folgt, ist, daß er sich blindlings an die Ansichten unserer Alten bindet, und daß er nie die Gründe und Erfahrungen der vermeintlichen Entdeckungen unseres Jahrhunderts einsehen und verstehen wollte hinsichtlich der Blutzirkulation und anderer Meinungen des gleichen Unsinns."

Das Spiel der Widersprüche und Gegensätze ließe sich weiter verfolgen. Es nimmt gegen Ende des Jahrhunderts dramatische Formen in der Querelle des Anciens et des Modernes an. Frankreich und Europa geraten in eine Krise, aus der sich das neue Jahrhundert der abendländischen Aufklärung entwickeln wird. Damit wird der Zweite Teil unserer Darstellung einsetzen.

KAPITEL II

Staat und Gesellschaft im Frankreich des XVII. Jahrhunderts Von Richelieu zu Ludwig XIV. Richelieu An der Schwelle des Grand Siecle stand Frankreichs populärster König Heinrich IV. Er wurde 1610 ermordet. Jenseits der Schwelle stand Richelieu, sein Bewunderer. Er gehört zu den wenigen Staatsmännern, deren Genie eine ganze Nation auf lange Zeit geprägt hat. Im Rahmen der französischen Geschichte hat er seinen Platz zwischen Heinrich IV. und Ludwig X I V . ; innerhalb der europäischen Geschichte wirkte er an jenem Punkt, wo nicht mehr universal-kirchliche Anschauungen, sondern innerweltliche die staatlichen Angelegenheiten bestimmten. Nach der Ermordung Heinrichs IV. sah es in Frankreich böse aus. Seine Gemahlin Maria de Medici, welche die Regentschaft f ü r den minderjährigen König übernahm, lenkte die französischen Interessen in das Fahrwasser der spanienfreundlichen Politik. Der junge Richelieu gehörte dem Ministerium an, das Marias Günstling, der Marschall d'Ancre, gebildet hatte. So bot sich ihm f r ü h Gelegenheit, einige der treibenden Kräfte der französischen Politik durchschauen zu lernen — und ihre Gefahren zu erkennen. Als Ludwig X I I I . die Regierung antrat, kam das Ministerium zu Fall und mit ihm Richelieu. Aber 7 Jahre später war er der Erste Minister. Die europäische Lage hatte sich geändert. Der Dreißigjährige Krieg war ausgebrochen. Das Übergewicht der spanisch-habsburgischen Macht wurde f ü r Frankreich bedrohlich. Spanien besaß Mailand, die Freigrafschaft Burgund und die spanischen Niederlande. In den ersten Jahren des Krieges besetzten die Spanier außerdem die Pfalz. Spanien war nahe daran, sein altes Ziel zu erreichen, nämlidi seine getrennten Gebiete längs des Rheins zu einem Gürtel zu verbinden und Frankreich abzuschnüren. Richelieus Politik war von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende von diesem Gegensatz Habsburg — Frankreich beherrscht: Wollte er Frankreich zur Großmacht erheben, mußte er die Weltmachtbestrebungen Habsburgs eindämmen.

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Als er die Zügel der Regierung in die Hand nahm, enttäuschte er zunächst alle Parteien, vornehmlich die Männer, die auf ihn als den früheren Mann im Ministerium Marias hoffen durften. Aber Richelieu stand über den Parteien. Darum hatte er von Anfang an mit dem Widerstand aller zu rechnen, besonders aber mit dem der ultramontanen Partei. Ein Komplott folgte auf das andere. Aber Richelieu behauptete sich. Er griff rücksichtslos durch, wo es ihm im Interesse des Staates und der politischen Entwicklung geboten schien. Es ist die unbestreitbare Größe Ludwigs XIII., daß er sidi dem politisch überlegenen Geist seines Ministers beugte. Man hat das Verhältnis zwischen dem König und Richelieu oft mit dem zwischen Wilhelm I. und Bismarck verglichen: Richelieu blieb wie Bismarck ein Diener des Souveräns, und Ludwig X I I I . wäre es ein Leichtes gewesen, seinen Minister auszuschalten. Aber er hielt ihn, allen Intrigen zum Trotz, gegen seine Mutter, gegen die Königin, gegen den gefährlichen Bruder Gaston. Richelieu besaß drei Eigenschaften, die in ihrer ausgewogenen Verbindung den großen Staatsmann ausmachen: Er hatte Mut, einen persönlichen Mut, der ihm aus dem Bewußtsein großer Aufgaben kam und der von der Idee der Staatsraison durchseelt und temperiert war. Er besaß einen unbeugsamen Willen, an dem die Widrigkeiten des Schicksals selbst zu zerbrechen schienen. Er war schließlich von einer Klugheit und Verschlagenheit, die ihm bei Verhandlungen eine Überlegenheit über diejenigen Partner sicherten, die das Spiel der Politik nicht so scharfsinnig durchschauten. Er war mit einem Wort Realpolitiker, der die Kunst der unerlaubten Mittel meisterte, aber sie dort einsetzte, wo sie nicht nur der technischen Virtuosität des Regierens dienten, sondern der Idee des Staates schlechthin förderlich waren. Was diese Staatsidee im Konkreten beinhaltete, hat Richelieu freilich nicht gesagt. Das Pathos seiner Politik war nicht die Königsidee, sondern der staatliche Zentralisationswille. Er versuchte auszuräumen, was dieser Idee im Wege stand. Zwar war er Katholik und Kardinal; aber das hinderte ihn nicht, die zentrifugalen Bestrebungen des papistischen Klerus zu unterdrücken, die katalanischen und portugiesischen Insurgenten gegen Madrid zu unterstützen und sich gar mit den protestantischen Schweden gegen den Kaiser zu verbünden. Wenn der Dreißigjährige Krieg nicht mit einem Sieg des Habsburgers endete, so lag solches Ergebnis an dem Einschreiten Richelieus und seinem wohlerwogenen Eintritt in den Krieg.

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Richelieu betrieb eine Politik des Gleichgewichts. Es war sein Ziel, durch Zusammenschluß der übrigen europäischen Mächte der Expansion der spanisch-habsburgischen Weltmacht Einhalt zu gebieten. Er erstrebte zunächst ein Teilgleichgewicht der italienischen Fürsten und der deutschen Stände in ihrer Abwehrstellung gegen den Kaiser an. Das schlagkräftige Wort hieß Freiheit vom Drude der Habsburger Vormacht. Er spielte die beiden konfessionellen Parteien in Deutschland, die Protestanten und die Katholiken, gegen Habsburg aus. Er wollte weiterhin Lothringen unschädlich machen, weil der Herzog Karl der intrigierende Mittelpunkt der französischen Partikularkräfte war und er griff schließlich in das Kurfürstentum Trier und das Elsaß ein, um bei einem Friedensschluß ein Pfand f ü r die Berücksichtigung der französischen Wünsche in der H a n d zu haben. Richelieu aber betrieb keine Angriffspolitik, sondern sein militärisches Eingreifen diente der Durchbrechung des spanischen Gürtels. Nach dem Sieg der kaiserlichen Waffen bei Nördlingen über die Schweden und ihre deutschen Bundesgenossen tauchte die Gefahr der Erdrosselung von neuem auf. Jetzt war die Zeit der rein diplomatischen Verhandlungen vorbei. Richelieu sagte den deutschen Protestanten Unterstützung gegen Habsburg zu, ermutigte Schweden und Schloß 1635 mit Holland ein Angriffsbündnis gegen die spanischen Niederlande. Er zögerte jedoch den Krieg hinaus, und statt seiner erklärte ihn der Kaiser im September 1636 an Frankreich. Die Geschichte dieses seltsamen Krieges, der als ein Religionskrieg in einem östlichen Winkel Europas 1618 begonnen hatte, sich langsam und unaufhaltsam in halb Europa hineinfraß, überall aufzüngelte, Länder und Städte in Asche verwandelte und schließlich, Jahre nach Richelieus Tode, als rein politischer Machtkampf ebenso rätselhaft verlosch wie er begonnen hatte, diese lange Geschichte, deren Peripetien und Protagonisten den Historiker des „Dreißigjährigen Krieges" und den Dichter des „Wallenstein" interessierte, läßt eine Gestalt wie Richelieu in ihren markant-klassischen Umrissen als umso moderner in Erscheinung treten, als der Habitus dieses Krieges wie der Habitus der Zeit und Gesellschaft uns fast „barock" anmutet. Mit seiner Charakterisierung der Protagonisten Gustav Adolf und Wallenstein hat Egon Friedeil sicher nicht unrecht: Zwielichtige Helden als Gottesstreiter; wohl kämpfte der eine aus Uberzeugung f ü r die Sache des Protestantsimus, der andere f ü r den Kaiser und den Gott der Katholiken; aber in beiden zerfraß Ehrgeiz die religiöse Gesinnung, und ihrer kaltherzigen Berechnung fehlte politische Genialität. Beide waren

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große Feldherrn, der Schwede wie der Friedländer; aber ihr Tun war eigentlich umsonst: Die Reformation hat Gustav Adolf nicht zum Sieg über Rom führen können; und Wallenstein wurde nicht der Militärdiktator des Hauses Habsburg, noch weniger erfüllte sich sein Traum vom Dominium maris baltici. In der Geschichte dieses Krieges steht Richelieu im Schatten dieser beiden Protagonisten; dennoch verkörpert er das eigentliche politische Genie der sonst so geistlos-verworrenen Zeit. In der Begrenzung der Ziele lagen seine Meisterschaft und Größe; er hatte klare Ziele und ging mit kühler Berechnung daran, sie zu erreichen. Die Ereignisse nahmen denn auch für seine Interessen einen günstigen Verlauf — oder besser gesagt: er nutzte den Lauf der Ereignisse für die Durchsetzung seiner Ziele. 1640 fiel Portugal von Spanien ab, Katalonien empörte sich; in Italien, das Richelieu immer als den Hauptkriegsschauplatz angesehen hatte, weil dort die spanische Macht zu treffen war, trat ein Umschwung ein; Richelieus Gegner, der Graf von Soissons, der jüngere Bruder des Königs, fiel im Kampf. Nun erst ging der Kardinal von der Defensive in die Offensive. Indessen hoffte jede Seite auf eine entscheidende Wendung des Kriegsglücks. Da nahm ihm am 4. Dezember 1642 der Tod die Geschäfte selbst aus der Hand. Der Krieg zog sich noch 6 Jahre entscheidungslos und widersinnig hin. Im Jahre des Friedens, 1648, brach die Fronde aus. Dieser Aufstand der Großen gegen die Krone und Richelieus Nachfolger im Ministerium, Mazarin, schien das innen- wie außenpolitische Werk des Kardinals zu zerstören. Aber der Aufstand der Frondeurs wurde überwunden; Spanien hätte die innere Schwäche Frankreichs zu einem entscheidenden Schlag gegen seinen alten Feind ausnutzen können; aber es war so geschwächt wie Frankreich selbst. Erst die dritte Macht, England, das jahrzehntelang den Kämpfen ferngestanden hatte, beendete den Krieg. Erst kurz vor dem Regierungsantritt Ludwigs XIV. kam 1659 der Frieden zwischen Frankreich und Spanien zustande. Spanien trat für die nächsten Jahrhunderte von seiner weltpolitischen Rolle, die es im grellen Rampenlicht der Geschichte gespielt hatte, in den Hintergrund zurück. Richelieus Persönlichkeit erscheint zwiespältig, sein Wirken paradox. Seine Anschauungen waren rückwärts gerichtet, bemühte er sich doch, gerade die feudalen Institutionen, deren politische Rechte er im Interesse des Staatsganzen beschnitt, als solche zu erhalten. Sein Wirken hingegen wies in die Zukunft. Wenn er den Kampf zwischen Krone und Feudalgewalten zu Gunsten des Einheitsstaates gegen die Partikularinteressen durchfocht, so lag sein Handeln auf der Linie des kommenden Absolutis-

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mus, in dem die Macht der Krone und der moderne absolutistische Staatsgedanke eins wurden. Die Entwicklung war im Fluß. Die soziale Umbildung, die sich zur Zeit Richelieus, und schon zuvor, vollzog, unterhöhlte die Grundlagen des alten ständischen Staates. Die wirtschaftliche Entwicklung hatte das Lehnswesen überholt. Mit ihr verarmte die Masse des Adels. Richelieu, der selbst aus dem kleinen Adel stammte, wußte es sehr gut. „Gold und Silber sind die Tyrannen der Welt", schrieb er in seinem Politisdoen Testament (Teil II, Kap. 9, Absdin. 7). Es nutzte dem Adelsstand wenig, daß er sein soziales und psychologisches Prestige wohl bewahrte und auch wichtige Stellungen im Heer und in der Verwaltung einnahm. Die eigentlichen Grundlagen seiner Macht waren ihm entzogen. Dennoch wurden einige der großen Herren, Prinzen von Geblüt und nächste Verwandte des Hofes, den Plänen Richelieus gefährlich; denn ihre Partikularpolitik verband sich mit konfessionellem Eifer. Sie machten dem Kardinal den Vorwurf, daß seine antispanische Politik die katholische Sache verrate. Richelieu wollte die Kirche im Staat, aber nicht den Staat in der Kirche. So mußte er die feudale Opposition des Adels bredien, wenn er im Interesse der französischen Nation den Primat der Politik durchsetzen wollte. Liest man indessen sein „Politisches Testament", ist man überrascht, wie sein Verfasser dem Adel Lob spendet. Der Widerspruch löst sich, wenn man, Mommsen folgend, bedenkt, daß es seine Absicht war, zwar die politischen Sonderrechte des Adels zu brechen, die Adelsklasse selbst aber — da er auch ihre Werte kannte — zugleich als Kern einer neuen Beamtenschaft in den Dienst des Monarchen zu ziehen. Damit wollte er zugleich den neuen Beamtenadel in seiner Wirksamkeit einschränken. Diese neue Schicht, die „noblesse de robe", hatte nämlich die alte Hierarchie Klerus — Adel — Dritter Stand, an der Richelieu im Grunde noch festhielt, zerstört. Aus dem Dritten Stand sonderte sich eine soziale Schicht ab, die im Besitz des Geldes war und also den Haupteinfluß im Staate ausüben konnte. Was nützte Landbesitz und Ritterdienst, wenn die neuen Finanzleute alle Ämter kaufen konnten und Politik und Krieg finanzierten? Der neue Beamtenadel wurde sich seiner Macht bewußt und nahm die Ansprüche auf, welche die alte, von ihm verdrängte Adelsklasse immer gegen den Staat und den König erhoben hatte. Sie trat ihrerseits im Interesse der neu errungenen Machtstellung in Opposition gegen den Staat und Richelieus Zentralisationsbestrebungen.

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Die Institution, auf die sich der Beamtenadel stützte, war das Parlament. Die beiden feudalen Körperschaften, die Generalstände mit dem alten Adel und dem adligen Klerus, sowie die Notabelnversammlung mit ihren Vertretern des alten feudalen Staates spielten keine Rolle mehr. Die Macht der Opposition war jetzt bei den Parlamenten, den Vertretungen des neuen bürgerlichen Adels. Die Verknüpfung ihrer gerichtlichen und administrativen Befugnisse mit der wachsenden politischen Einflußnahme war für Richelieu gefährlich. Im großen und ganzen hat er sein weitgespanntes Reformprogramm nur teilweise durchsetzen können. Der Reform des Heerwesens hat er größte Beachtung geschenkt. Die Käuflichkeit der Offiziersstellen, der finanzielle Verschleiß der Söldnerheere, die von Richelieu immer wieder beklagte Unfähigkeit der französischen Streitmacht forderten zu einer grundlegenden Reform heraus. Auch das Programm zur sozialen Erleichterung der niederen Schichten des Volkes fand seine Begrenzung. Richelieu kannte deren Elend gut. Wenn er dem Volke helfen wollte, dann freilich nicht deswegen, weil er es liebte oder weil er gar sozial dachte, sondern weil er sich als Politiker bewußt war, daß bei den erwachenden Nationalstaaten die Stützung auf eine breitere Masse wichtig wurde. Er wollte das „Volk" durch Befriedigung materieller Wünsche gewinnen, um es als politischen Faktor einschalten zu können. Auch hinsichtlich der konfessionellen Dinge handelte er als Realpolitiker und Staatsmann. Gewiß wird man nicht bezweifeln wollen, daß er als Kardinal ein guter Christ war und die christliche Moral in Rechnung stellte. Aber im Grunde war ihm die Religion ein Machtfaktor der Politik. Wenn er die Hugenotten 1628 in La Rochelle niederwarf, so nicht deswegen, weil er ein fanatischer Katholik war, sondern weil er erkannte, daß eine überparteiliche Politik nicht möglich war, solange die Hugenotten als Staat im Staate bestünden. Den Friedensschluß nach der Einnahme von La Rochelle hat er mit staatsmännischer Klugheit ausgenutzt: Er hatte die Hugenotten als Partei niedergerungen, nahm aber Abstand von jeder gewaltsamen Bekehrung der Besiegten zum Katholizismus — wodurch er sich deren aktive Teilnahme an seiner antispanischen Politik sicherte. Schließlich betraf seine besondere Sorge die Handelspolitik. Ausführlich handelt er in seinem Politischen Testament von der „Macht auf dem Meere" (II, IX, 5) und vom „Handel" (II, IX, 6). Es war sein Gedanke, Frankreich zur Seemacht ersten Ranges zu erheben. Er förderte den kaufmännischen Unternehmergeist und hat gelegentlich in seinem Testament den König auf die Bedeutung einer aus-

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zubauenden Flotten- und Handelspolitik hingewiesen. Wäre ihm dieser Flottenplan gelungen, wäre wahrscheinlich England nicht zu jener beherrschenden Seegeltung gekommen. Doch darüber zu phantasieren, ist müßig. Jedenfalls wurde der Flottengedanke von Ludwig X I V . fallengelassen, und Frankreich blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein ein kontinentalpolitisch orientierter Staat. Durch e i n e Idee aber ist Richelieu Vorbild großer Staatsmänner der kommenden Jahrhunderte geworden. Es war der Gedanke der souveränen Macht der Staatsraison. Der einfache Grundsatz lautet: Vor der Macht des Staates haben sich alle Partikukrinteressen zu beugen. Man muß sich vergegenwärtigen, daß Richelieu nicht nur ein Kenner Machiavellis war, sondern die politische Literatur seiner Zeit studiert hat. Da sind vor allem Gabriel Naud£ und Henri de Rohan zu nennen. Naudes „Considerations sur les Coups d'Etat" wurden f ü r das 17. Jahrhundert ein berühmtes Lehrbuch der Staatskunst. Den anderen, Henri de Rohan, einen Calvinisten, beschäftigte Richelieu nach der Unterwerfung der Hugenotten im Dienste seiner antispanischen Politik in Venedig. Dieser interessante Schriftsteller, Soldat und Diplomat, widmete sein „De l'Intiret des Princes et Estats de la Chrestient£" dem Kardinal Richelieu, der seine eigenen Gedanken und Erfahrungen in Sätzen wie diesen gespiegelt sehen mochte: „Es gibt nichts so Schwieriges wie die Kunst zu regieren, und die Erfahrensten in diesem Handwerk haben beim Tode eingestanden, daß sie nur Lehrlinge waren. Der Grund dafür ist, daß man keine unveränderliche Regel für die Regierung der Staaten aufstellen kann. Das, was die Revolution der Dinge dieser Welt verursacht, verursacht auch die Veränderungen der Fundamentalmaximen für gutes Regieren. Deswegen begehen diejenigen, die in diesen Dingen sich mehr durdi die Beispiele der Vergangenheit als durch gegenwärtige Gründe leiten lassen, notwendig beträchtliche Fehler." (Die Ubersetzung dieser und der folgenden Zitate in: Richelieu, Politisches Testament. Berlin (Reimar Hobbing) 1926.)

Es klingt wie ein Echo, darauf, wenn Richelieu schreibt: „Es gibt keine gefährlicheren Leute für den Staat als diejenigen, die die Königreiche nach den Maximen regieren wollen, die sie aus ihren Büchern ziehen. Sie ruinieren sie dadurch oft ganz und gar, weil die Gegenwart sich nicht aus der Vergangenheit ableiten läßt und weil die Verfassung der Zeiten, Orte und Personen verschieden ist."

Alle diese Ideen fließen in den Leitgedanken der ragione di stato, der Staatsraison, zusammen. Der Begriff taucht in der italienischen Renaissance-

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literatur auf und bedeutet nach Meineckes Formulierung: „den wohlverdienten, rationellen, von bloßen Instinkten der Gier gereinigten Vorteil des Staates". Bei Richelieu wird der Begriff „raison d'^tat" nicht verwendet, wohl aber an allen entscheidenden Stellen der einfache Begriff „Raison". Die Raison soll in allem und jedem als souveräne Macht der Leitstern menschlichen Handelns sein. Besser als theoretische Ausführungen lassen uns einige Beispiele erkennen, wie sich der Hauptgedanke verästelt und in die mannigfachen Bereiche politischen Denkens eindringt. Im Teil II des Politischen Testaments stellt Richelieu 9 Generalprinzipien auf, nach denen ein Staat nicht anders als glücklich regiert werden kann. Wir wollen aus nur 7 Kapiteln je einen Kernsatz herauslösen, darin sich das jeweilige Thema verdichtet. Sie seien zugleich Beispiele seines Stils, der sich noch im 17. Jahrhundert zu der hohen Maximenliteratur entwickeln wird. 1. „Die Regierung Gottes ist das Prinzip der Staatsverwaltung; sie ist in der T a t so absolut nötig, daß es ohne diese Grundlage keinen Fürsten gibt, der gut regieren, keinen Staat, der glücklich sein könnte." 2. „Die natürliche Einsicht läßt jeden erkennen, daß, da der Mensch .raisonnable' geschaffen ist, er alles nur aus der Raison heraus tun d a r f ; denn sonst würde er gegen seine Natur handeln und folglich gegen die Grundlage seines eigenen Wesens." 3. „Die öffentlichen Interessen müssen das einzige Ziel des Fürsten und seiner Minister sein, oder sie beide müssen sie sich wenigstens so angelegen sein lassen, daß sie sie allen Sonderinteressen vorziehen." 4. „Nichts ist der Regierung eines Staates nötiger als die Voraussicht, da man durch sie leicht vielen Übeln zuvorkommen kann, die, wenn sie erst eingetreten sind, nur mit großen Schwierigkeiten geheilt werden können." 5. „Wenn die Erfahrung diejenigen, die eine lange Übung im Umgang mit der Welt haben, lehrt, daß die Menschen leicht das Gedächtnis für Wohltaten verlieren, und daß, wenn sie damit überhäuft sind, der Wunsch nach größeren sie oft ehrgeizig und undankbar zugleich macht, so läßt uns eben die E r f a h rung auch erkennen, daß Strafen ein sicheres Mittel sind, jeden in den Grenzen seiner Pflicht zu halten . . . Streng gegen Untertanen sein, die sich etwas daran zugute tun, die Gesetze und Verordnungen des Staates zu verachten, bedeutet, gut gegenüber dem Staate handeln. Und man kann gar kein größeres Übel gegen die öffentlichen Interessen begehen, als wenn man sich gegen die nachsichtig zeigt, die sie verletzen." 6. „Die Staaten haben so viel Vorteil von beständigen Unterhandlungen, wenn sie klug geführt werden, wie man es, wüßten wir's nicht durch E r f a h rung, nicht für möglich hielte. Ich gestehe, daß ich diese Wahrheit erst erkannt habe, nachdem ich 5 oder 6 Jahre bei der Führung der Geschäfte tätig war. Aber sie ist mir jetzt so zur Gewohnheit geworden, daß ich kühn zu behaupten wage: unaufhörlich offen oder geheim an allen Orten unterhandeln, ist

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unbedingt notwendig für das Wohl der Staaten, selbst wenn man nicht gleich eine Frucht daraus zieht, und ein glücklicher Erfolg, den die Zukunft bringen kann, noch nicht sichtbar ist." 7. „Es kommen in den Staaten so viele Obel durch die Unfähigkeit derer vor, die bei den hauptsächlichsten Ämtern und in den wichtigsten Kommissionen beschäftigt sind, daß der Fürst und alle, die an der Verwaltung seiner Geschäfte teilhaben, nicht genug dafür sorgen können, daß ein jeder nur für die Ämter bestimmt wird, für die er geeignet ist."

Die Beispiele genügen, um Richelieus Denkart kennen zu lernen: den Willen zur Zentralisation, der alles, Staat, Kirche, Wirtschaft, Verwaltung — und auch die Kultur unter das e i n e Prinzip der Raison stellt. Das Wort schillert des öfteren in seiner Bedeutung und Anwendung. Es heißt zuweilen „Vernunft", zuweilen „Verstand". Es ist zugleich eine Art göttlichen Prinzips und eine Art realistischer Handlungsweise. Im politischen Bereich wirkt die Raison als eine geistige und voluntaristische Kraft, welche jede Art von Leidenschaft eindämmt und die Politik unter das Gesetz nüchterner Berechnung stellt.

Die Gründung der Academie frangaise Gegen Ende der zwanziger Jahre des 17. Jahrhunderts, als der Salon der Madame de Rambouillet die Aristokraten und Schöngeister an sich zog, lebte in Paris ein junger Schriftsteller, Valentin Conrart. Er versammelte einen Kreis junger Freunde um sich, die alle wohlsituiert waren, gute Stellungen innehatten, und aus bürgerlichen Kreisen stammten. Sie waren insgesamt 9 Personen, die regelmäßig bei Conrart zusammenkamen, um sich zwanglos und gemütlich — „famili^rement comme ils feraient en une visite ordinaire" — über die Neuigkeiten von Paris und vor allem über Literatur zu unterhalten. Hatte einer etwas geschrieben, las er es den Freunden vor. Bei gutem Wetter gingen sie ganz bürgerlich spazieren oder bereiteten sich, wenn es ihnen Spaß machte, ein bescheidenes Mahl. Sie waren die harmloseste Gesellschaft der Welt. Eines Tages erzählte Malleville, einer der 9 Freunde, Nicolas Faret, dem zukünftigen Verfasser des „Honnete homme ou l'art de plaire i la Cour" (1630), von ihren Zusammenkünften. Faret erzählte es seinem Freunde Boisrobert, und Boisrobert, der Vertraute Richelieus, erzählte es dem Kardinal, als sich der vielbeschäftigte Minister, wie er es gern zu tun pflegte, in einer Unterhaltung mit seinem geistvollen Faktotum entspannen wollte: „Ah, voilä le Bois, voila le Bois", begrüßte er ihn und fragte

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wie üblich: „Eh bien, Bois, quelles nouvelles?" Diesmal hatte Boisrobert eine interessante Neuigkeit: seinen Besuch bei Conrart. Der Kardinal horchte auf. Es interessierte ihn, was die Herren dort trieben. Hatte er nicht selbst ein großes Interesse an der Literatur, an allen geistigen Dingen? War er nicht selbst ein emsiger Leser, und wer hätte nicht von seiner Liebe zur französischen Sprache und zum Theater gewußt? Die Idee, eine Akademie zu gründen, lag in der Luft; sie war zumindest nicht neu; denn in allen einigermaßen bedeutenden Städten Italiens gab es solche. Er fragte Boisrobert nach seiner Meinung, ob es den Herren im Hause Conrart wohl gelegen sei, „sich regelmäßig unter einer staatlichen Autorität zu versammeln". — „Ich glaube schon", erwiderte er, „ein solcher Vorschlag würde mit Genugtuung aufgenommen werden." — „Gut", fiel Richelieu ein, „dann bieten Sie den Herren meine Protektion für ihre Gesellschaft an, ich werde ihr eine juristische Form geben, und versichern Sie jedem der Herren meine persönliche Zuneigung!" Boisrobert überbrachte den Fremden die Nachricht, aber es schien, daß alle ein wenig betreten waren. Kaum einer, erzählt Pellisson in seiner Geschichte der Akademie, der nicht ein gewisses Unbehagen bezeugt und bedauert hätte, daß solche Ehre wohl die Annehmlichkeit und Gemütlichkeit ihrer Versammlung trüben würde. Chapelain, „ce rare et fameux icrivain", von dem Frankreich damals eine „Jungfrau von Organs" erwartete, fänd die Formel: „Meine Herren, wir haben es mit einem Manne zu tun, der es nicht gewohnt ist, das, was er will, mittelmäßig zu wollen, und der Widerstand nicht unbestraft läßt. Er wird eine Abweisung seiner Protektion als Beleidigung empfinden . . . Die Gesetze des Königreichs verbieten alle Versammlungen, die nicht unter der Autorität des Fürsten stehen, und wenn es dem Kardinal gefällt, kann er mit einem Strich unsere Zusammenkünfte, die wir für so dauerhaft halten, auslöschen." Jeder stimmte Chapelains Ansicht zu, und Richelieu war über „die demütige Dankbarkeit" der Herren sehr erfreut. Sie schlössen sich also zu einer akademischen Gesellschaft zusammen. Aber wie sollte sie heißen? Verschiedene Bezeichnungen wurden diskutiert: Academie des beaux esprits; Academie Eminente; Academie de l'eloquence; Acadimie des Polis; schließlich wurde sie die Academie frangaise. Ich danke der Akademie", schrieb Richelieu, „daß sie mich um meine Protektion ersucht; ich will sie ihr gewähren." Aus dem ersten Expos6 ersehen wir, weldie Richtung die Herren ihrer Arbeit geben wollten: der französischen Sprache einen solchen Glanz, eine solche Reinheit und Voll-

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kommenheit zu geben, daß „sie schließlich bald die Nachfolge der lateinischen und griechischen antreten kann". So nahmen sie den Hauptgedanken aus der alten „Deffense et Illustration de la Langue franjoyse" von Du Beilay (1549) auf. Das Εχροεέ endet mit der Erklärung: „Diese Gesellschaft hat den Namen Acadämie franjaise angenommen, weil diese Bezeichnung ihr am bescheidensten und ihrer Funktion gemäß erschien." Sie erhielt ihren Patentbrief Ende Januar 1635. Er trägt das Handzeichen Richelieus und die Gegenzeichnung Charpentiers. Mit großzügiger Geste streicht der Kardinal den Artikel 5, wo es heißt: „daß jedes der Mitglieder verspreche, die Tugend und das Gedächtnis des Kardinal-Protektors zu ehren". Da jedermann wußte, daß Richelieu dieses kulturelle Instrument in den Dienst seiner Politik nehmen würde — was bereits mit der Kontrolle über die Aufnahme der neuen Kandidaten begann —, zogen sich die Herren viel böse Kritik aus allen Richelieu feindlichen Kreisen zu. Balzac spottete, und Mathieu de Morgues nannte die Akademiker sogar „cette canaille qui combat la ν έ ώ έ pour du pain" (zit bei Adam, I, 225). Aber d i e politische Institution, der die Gründung der Academie besonderes Ärgernis erregte, war das Parlament. Es befürchtete, daß die Einrichtung unter der Hand des allmächtigen Ministers ein Instrument seiner Politik würde; es war klar, daß Richelieu noch etwas anderes von seiner Academie erwartete als die Abfassung einer Grammatik und eines Wörterbuchs. So erhielt denn auch die Acadέmie Befehl, die militärischen Siege des Königs zu besingen — und tatsächlich erschien der „Parnasse royal" 1635 zum Ruhme der „Immortelles actions du tris chrestien et t^s-victorieux monarque Louis X I I I " . Ein Kollektivlob auf den „Großen Kardinal Richelieu" folgte im gleichen Jahr als „Sacrifice des Muses" Das Parlament bestätigte die Lettres patentes erst 1637. Der vordringliche Aufgabenbereich der Acadέmie war die Arbeit an einem Dictionnaire und an einer Grammatik. Es lag in Richelieus Sinne, die französische Sprache und Literatur zur Weltgültigkeit zu erheben. Die Akademiker, alle mehr oder weniger von Malherbe beeinflußt, waren audi in dieser Richtung wirksam. Alsdann waren eine Rhetorik und eine Poetik vorgesehen, „pour servir de r£gle ä ceux qui voudraient ecrire en vers et en prose". Eine weitere, ständige Aufgabe war die kritische Prüfung aktueller Literatur: Prosa, Verse, Theaterstücke. So redigierten sie 1637 die berühmt gewordenen „Observations sur ,le Cid'", das jugendliche Erfolgsstück des Pierre Corneille. Schließlich gehörte es zu ihren Verpflich-

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tungen, selbst Musterbeispiele französischer Prosa zu liefern. Diese Arbeit erschöpfte sich zunächst in ihren Montags-Vorträgen, die aber keineswegs nur literarischen Themen gewidmet waren. So sprach Chapelain „Contre l'Amour", Gombauld über „Je ne sais quoi", Racan „Contre les sciences", Porch£res d'Arbaud über „L'Amour et l'Amiti£" — ein sehr preziöses Thema —, Des Marests zum Thema der „Amour spirituel" — die Nähe zur Themaik der Preziösen ist nicht zu verkennen. Andere redeten über die „Eloquence", das „Thiatre", die „Poesie". Die Vorträge sollten Ende des Jahres in einem Sammelband erscheinen, erschienen aber nicht. Vielmehr schien es, daß es die Herren mit ihrem Wörterbuch nicht allzu eilig hätten; denn der heitere Abbe Boisrobert bemerkte schon geistvoll: Et tous ensemble ils ne font rien qui vaille. Depuis six ans dessus l'F on travaille, Et le destin m'aurait fort oblige S'il m'avait dit: ,Tu vivras jusqu'au G'.

Manage formulierte Ähnliches: Vous n'en etes qu'ä. l'A. B. C. Depuis plus d'un lustre passe Que Γοη travaille έ cet ouvrage . . .

Seit 1637 begann man ernstlicher am Dictionnaire zu arbeiten. Vaugelas legte der Versammlung seine Beobachtungen über die französische Sprache vor. Sie waren der Grundstock seiner 10 Jahre später erschienenen „Remarques sur la Langue franjaise", die bis heute ein unschätzbares Dokument der französischen Grammatik des 17. Jahrhunderts ist. Die Prinzipien des Vorworts zu diesem Werk wurden zum Schicksal der sprachlichen Entwicklung, an deren Ende die „Klassik" stand. Es handelte sich um ein puristisches Motiv, nämlich um die Perfektionierung der Sprache: „la rendre vraiment maitresse chez eile, et de la nettoyer des ordures qu'elle avait contractus". Das sicherste Kriterium sei „le bon usage". Was aber heißt der gute Gebrauch? „C'est la fajon de parier de la plus saine partie de la cour, conformöment ä. la fajon d'^crire de la plus saine partie des auteurs tu temps". Will man die Frage soziologisch sehen, bedeutet eine solche Abgrenzung Trennung der Klassen in die „honnetes gens" und „le peuple"; die einen allein können gute Autoren sein, die andern, welche das alte, kraftvolle und saftige Französisch eines Rabelais schreiben, liefern nicht das Material zum „bon usage". So viele Vokabeln, technische Ausdrücke, ausdrucksvolle Termini volkstümlicher

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Provenienz wurden abgeschafft, verurteilt. Die Sprache wurde gereinigt, aber sie wurde auch dressiert und abgerichtet, wie es alsbald die Parkanlagen von Versailles werden sollten und der gesamte Mechanismus des Lebens am königlichen Hof. Die Sprache wurde ein Instrument der Vernunft — und nur Meister wie Racine, La Fayette, Bossuet vermochten mit diesem Instrument seelische Schwingungen zu erzeugen, dann freilich in einer Intensität, die ein fülligeres Instrument von breiterer Klaviatur und reicherem Registerwerk kaum erreicht hätte. Der größte Prosameister, der noch im 18. Jahrhundert auf diesem Instrument die erstaunlichsten Wirkungen herausholen konnte, war Voltaire. Mazarin Als Richelieu und der König Ludwig X I I I . im Abstand weniger Monate starben, leitete, wie nach dem Tode Heinrichs IV., eine Ausländerin, Anna von Österreich, die Regentschaft für den minderjährigen Sohn, den erst 4 Jahre alten 14. Ludwig. Das eigentliche Regiment führte wieder ein Kardinal, der Italiener Giulio Mazarini. Aber im Gegensatz zu Richelieu, der es schwer hatte, weil er sich gegen Maria de Medici, die ihn haßte und fürchtete, durchsetzen mußte, genoß Mazarini die Liebe der Regentin und hatte es also leichter, auf der von Richelieu geebneten Bahn der Politik von Erfolg zu Erfolg zu schreiten. Er war kein Richelieu, doch ist es zu billig, ihn nur als eine schwächere „Doublette" des unerreichbaren Vorgängers gewissermaßen als „zweite Besetzung" in dem Schauspiel Frankreich hinzustellen. Er erreichte für sein Land durch den Westfälischen Frieden die Rheingrenze, durch den Pyrenäischen Frieden die Südgrenze; im Norden schob er die Macht Frankreichs nach Belgien vor; er triumphierte in der kritischsten Phase seines Ministeriums über die Fronde, den für die Monarchie so gefährlichen Aufstand des Volkes und der Aristokratie gegen die Krone; er Schloß vorteilhafte Allianzen mit Schweden, Polen, Holland und England. Dieser Meister der diplomatischen Künste hatte eine interessante Lehrzeit und Karriere hinter sich. Ein Mann von höchstem Ehrgeiz, war er dank seiner überragenden Intelligenz und Geschmeidigkeit zur Kardinalswürde emporgestiegen. Bei den Jesuiten erzogen, beendete er sein Studium in Spanien. In Rom, dem damaligen Zentrum des mondänen Lebens und der europäischen Geheimdiplomatie, hatte er im Umgang mit der Welt jene Gewandtheit gelernt, die, in Verbindung mit seinem eleganten Le-

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bensstil und seiner moralischen Vorurteilslosigkeit, den Aufstieg zum politischen Erfolg erleichterte. Es gibt eine Reihe dunkler Punkte in dem Leben dieses außerordentlichen Mannes, die nie ganz aufgeklärt wurden. War er je naturalisierter Franzose? Wie war sein Verhältnis zu Anna von Österreich? Dürfen wir der Königin Glauben schenken: Mazarini habe eine andere Leidenschaft als Frauenliebe; er sei der „italienischen Verwirrung der Sinnlichkeit" ergeben? Mit welchen Mitteln — so fragten sich schon die Zeitgenossen — hat er es zu seinem märchenhaften Vermögen gebracht? Eines ist gewiß: Er war der unbeliebteste Mann des Staates; doch schien er auch noch daraus Kapital zu schlagen; denn als zur Zeit der Fronde die gehässigsten Pamphlete gegen ihn erschienen, und diese „Mazarinaden" reißenden Absatz fanden, soll er sie alle beschlagnahmt haben, um sie unter der Hand zu hohen Preisen zu verkaufen. Er schlug auch politisches Kapital aus der Fronde. Diese Bewegung der Unzufriedenen, des Volkes sowohl wie der Granden, verlief in drei Phasen, der Fronde

parlementaire,

d e r Fronde

des Princes

u n d der

Fronde

condeenne. Verursacht durch die schlechte Finanzpolitik Mazarins redigierte das Parlament eine Charta von 27 Artikeln, deren wichtigste darauf hinausliefen, die alte Richelieusche Zentralisationspolitik zu unterhöhlen und die Monarchie unter die Kontrolle des Parlaments zu bringen. Die Pariser Bevölkerung begrüßte mit Begeisterung die Reformvorschläge zur Finanzpolitik. Die durch Mazarin veranlaßte Verhaftung des angesehenen Ratsmitglieds Broussel, die darauffolgende Errichtung der 1200 Barrikaden von Paris und die Flucht des Hofes nach Saint-Germain waren Etappen dieser Ersten Fronde (August 1648 bis März 1649). Ihr folgte die zweite, ein wahrhafter Feldzug der Grandseigneurs gegen die königlichen Truppen (Januar bis Dezember 1650). Der ehrgeizige Condέ, berauscht von seinen Siegen über die Aufständischen der Ersten Fronde, kann seinen Plan nicht verheimlichen, den verhaßten Mazarin zu beseitigen und die Macht an sich zu reißen. Anna von Österreich läßt ihn verhaften. Die Mächtigen des Reiches unterhalten Beziehungen zu dem mit Frankreich noch im Kriege stehenden Ausland; sie verhandeln mit Madrid und schüren Aufstände in der Normandie, der Guyenne, im Poitou, der Provence und Burgund. Aber die königlichen Truppen zwingen die Rebellen zur Kapitulation an der Nordgrenze, wo sich Turenne der Sache der Grandseigneurs angeschlossen hat. Angesichts des Sieges Mazarins versteift sich die Opposition des Pariser Parlaments. Es kommt

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zur Vereinigung der beiden Frondes (Dezember 1650 — September 1651), Broussel pocht von neuem auf die Freiheits-Charta von 1648, und alle fürstlichen Frondeurs finden sich auf der Linie, die der gemeinsame H a ß auf den Kardinal Mazarin ihrem Handeln vorzeichnet, kampfbereit zusammen: die Partei um Conde, Gondi-Retz, Gaston d'Orlians und seine Tochter Anne-Marie de Montpensier, gen. la Grande Mademoiselle, Anne de Gonzague, die Pfalzgräfin, und die Herzogin von Chevreuse, Bouillon und sein Bruder Turenne. Das Parlament verlangt den Rücktritt Mazarins. Klug wie er ist, verläßt der Minister Paris und begibt sich nach Brühl zu seinem Freund, dem Kurfürsten von Köln. Seine Erwartung erwies sich als richtig: Die Frondeurs zerfielen, sobald das Verschwinden ihres gemeinsamen Gegners ihre Partikularinteressen hervortreten ließ. Gondi erhielt den lang ersehnten Kardinalshut und ging nunmehr auch in die französische Literaturgeschichte als Cardinal de Retz ein; Bouillon und Turenne unterwarfen sich; aber Condi, der sich mit dem Parlament und Retz völlig überworfen hatte, ging zu seinen Anhängern in die Guyenne. Das war in dem Augenblick, da der König Ludwig X I V . f ü r volljährig erklärt wurde. Die letzte Phase des Kampfes dauerte von September 1651 bis August 1653. C o n d i verhandelt mit Madrid und gewinnt f ü r seine Sache das Berry, Anjou, Aunis, die Saintonge, einen Teil des Poitou und später die Provence. Mazarin kehrt an der Spitze von 7000 in Deutschland angeworbenen Soldaten, die er selbst bezahlte, nach Frankreich zurück. Das Parlament stellt sich gegen ihn, C o n d i eilt nach Paris und rechnet mit der Unterstützung einer spanischen Armee der Niederlande und den Truppen der Grande Mademoiselle; Turenne übernimmt den Befehl der königlichen Truppen. Ein wahrer Bürgerkrieg beginnt, aber das Pariser Bürgertum ist des Krieges müde, und das Ende ist die Flucht Condis in die spanischen Niederlande und der triumphale Einzug Mazarins, Annas von Österreich und des jungen Ludwigs X I V . in Paris am 3. Februar 1653. Interessant der eine Satz eines Pariser Korrespondenten der englischen Regierung am Ende eines Berichtes vom 8. Juli 1655: „Das Volk ist überhäuft von Elend und Steuern aller A r t ; aber es nimmt dieses Leid noch eher in Kauf als den Krieg. Der Adel ist in einer Weise ruiniert, daß er keinen Feldzug mehr zu unternehmen vermag, so verlockend der Gewinn auch scheinen mag. Die Parlamente sind unterjocht. Kein Mitglied würde wagen, auch nur das geringste gegen die Regierung zu sagen. Die großen Städte wollen nur Ruhe und verachten die Anstifter der letzten Unruhen. Die Geistlichkeit hängt ganz

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Mönch, Franz. K u l t u r

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vom Hof und seinem Günstling ab, sobald sie ihre Pfründen von ihm bezieht. Die Gouverneure der Provinzen sind an den Hof und den Kardinal gebunden. Alle Grandseigneurs klagen, aber ich kenne keinen, der etwas unternehmen könnte. Und was Paris betrifft, so verabscheut dort jedermann die gegenwärtige Regierung, aber unterwirft sich ihr." (Aus: Franjois Lebrun, Le XVII" βίέοΐβ.) So also sah das Bild in der Mitte des 17. Jahrhunderts aus, wenige Jahre, bevor Ludwig XIV. die Regierung in die Hand nahm. Ludwig

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Sein großer Lehrmeister war Mazarin — und nicht allein in der Bildung seiner politischen Anschauungen, sondern auch in dem mondänen Lebensstil. Mazarins Eleganz faszinierte den jungen Ludwig. Die Familie wohnte im Palais Royal zusammen: Mutter, Sohn, der Kardinal. Das war der eingeschworene Clan. Liebe und Verehrung verbanden den Minister mit der Regentin; Freundschaft und Sympathie des Verstehens den Minister mit dem Zögling. Das lesen wir in dem Bericht eines Venetianischen Gesandten, der sich noch auf die Zeit kurz vor dem Tode des Kardinals bezieht. Die eigentliche Ausbildung des Knaben hat das Durchschnittsmaß nicht überschritten, lag eher unter ihm, so daß Sagrado notieren konnte: „Non έ coltivato da alcuna scienza" (zit. bei L. v. Ranke, Franz. Gesch. Buch XII, Anm. 53). Er lernte zwar bei seinem alten Lehrer ΡέΓέίϊχε so viel Latein, daß er in der Lage war, die päpstlichen Schreiben selbst verstehen zu können; er bildete sich in der elementaren Mathematik, in fremden Sprachen und in der Literatur aus; audi lernte er Zeichnen und Musik und übte sich früh im Reiten und Tanzen. P£r£fixe verfaßte für den Knaben eigens eine „Histoire du Roy Henri le Grand", also seines Großvaters, darinnen der Knabe im Einleitungskapitel den Satz lesen konnte: „La royaut£ consiste presque tout en Paction." Es leuchtete ihm ein, daß es für einen zukünftigen Herrscher wichtiger ist zu handeln als sich in die Wissenschaften zu vertiefen. Er trieb den Gedanken im Laufe der eigenen Entwicklung zu der für ihn charakteristischen Konsequenz: daß die Aktion des Herrschens, nämlich die Zügel des Staates in der Hand zu haben, zum höchsten Genuß des Souveräns werden müsse. „Ein König muß seine Pflicht zum Genuß machen; seine Aufgabe ist zu regieren, und er muß wissen, daß Regieren heißt: die Deichsel seines Staates

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in Händen zu h a l t e n . . . " So lesen wir es in seinen „Reflexions sur le M£tier de R o i " . Der junge Ludwig geriet in die politischen und militärischen Wirren der Fronde, erfuhr den H a ß der Grandseigneurs gegen die Mutter, die Wut des Pariser Volkes gegen Mazarin; so lernte er früh die Wirklichkeit kennen, den Charakter der Menschen und die Last und Gefahren der Königswürde, in einer Welt des Hasses, der Eifersucht, der niedrigsten Partikularinteressen, die Frankreich an den Rand der Auflösung brachten. Die brutale Wirklichkeit war die eigentliche Erzieherin des späteren Herrschers. E r war früh desillusioniert, ebenso früh entschlossen, autoritär zu regieren und die zentralistischen Tendenzen des bewunderten Richelieu auf das gesamte politische, wirtschaftliche, religiöse Leben der Nation auszudehnen. Das Schlüsselwort zum Verständnis der ganzen Zeit heißt: Reglementierung. Das Ergebnis seiner Regierung war grandeur und decadence zugleich. Denkt man an die klassische Kultur, die in ihr zur Entfaltung kam, wird man von Größe sprechen dürfen; denkt man an die Politik und das soziale Leben der Nation, wird den Betrachter ein Schauder über die Mißstände, die Mißwirtschaft, die höfische Kriecherei, den brutalen Egoismus der oberen Klassen überkommen, wie ihn der schärfste Kritiker der Zeit, der Due de Saint-Simon, in seinem Memoirenwerk über den H o f Ludwigs X I V . empfunden hat. Als der dreiundzwanzigjährige König 1661 erklärte, daß er selbst zu regieren entschlossen sei, schlug die Stunde der französischen Klassik. Die Hegemonie des französischen Geistes über Europa wurde Wirklichkeit und dauerte über ein Jahrhundert. Ludwig X I V . hatte das Geschick, nicht nur die bedeutendsten Männer seines Landes als Minister zu haben, sondern auch die Künstler, Musiker, Schriftsteller, Dramatiker, Architekten, Festungsbaumeister an seinen H o f zu ziehen. E r duldete und förderte Persönlichkeiten der verschiedensten geistigen Prägungen: Jansenisten wie Racine und Boileau, orthodoxe Monarchisten wie Bossuet, den Gallikaner, Unabhängige wie Moli^re. Freigeister und Jesuiten, Epikureer und Stoiker, Rationalisten und Mystiker, der König schloß niemanden und keine Partei aus. E r wußte, daß Geist Macht ist, und eine starke Macht, die dem Staate und seinem Ruhm nützlich ist, wenn sie diszipliniert wird. Vielleicht war es nicht umsonst, was ihm der alte Mazarin als Grundsatz der pontifikalen Politik eindringlich vermittelt hatte: daß letzten Endes die politische Größe auf dem Prestige des Geistes beruht — ein Grundsatz, dessen sich später ein Napoleon erinnern sollte, wenn er äußerte,

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daß von den beiden Mächten: Geist und Schwert — l'esprit et Γέρέβ — in letzter Entscheidung der Geist den Sieg davonträgt. Reglement ist das Schlüsselwort. Zunächst wurde das tägliche Leben des Hofes reglementiert. Alles lief von 8 Uhr morgens bis 10 Uhr abends in vorgeschriebenen Formen wie ein Uhrwerk ab. Der Kulturhistoriker Friedeil hat diesen metronomischen Rhythmus hübsch charakterisiert. Aufstehen, Ankleiden, Empfänge, Messe, Essen, Spazierfahrt, Ballett, Theater bis hin zum Auskleiden und dem Nachtstuhl. Für alles gab es Abteilungen, Vorsteher, besondere Chargen. Es gab audi Krieg, und viele Kriege. Auch da war alles reglementiert bis in die Details der Tischprotokolle. Alles das erfahren wir aus Saint-Simons Memoiren. 54 Jahre lang spielte der König mit Anstand und Anmut, mit einer beispiellosen Selbstbeherrschung seine vorgezeichnete Rolle. In dem durchprotokollierten Stundennetz machte sich der autoriäre König zu seinem eigenen Gefangenen. Er wurde im Verlauf der Jahrzehnte noch mehr Sklave seiner Maitressen und — was den aristokratisch selbstbewußten SaintSimon zu tiefst erschütterte — Sklave seiner zahlreichen Bastarde. Er hatte eine Gattin, mehrere Mattresses en titre und zahlreichere „Dames du lit royal"; seine Kinder waren demgemäß nach legitimer, halblegitimer und illegitimer Nachkommenschaft abgestuft. Der Freizügigkeit seines Liebeslebens wirkte im Lauf der Jahre eine immer stärker werdende Neigung zur Devotion entgegen. Seine jesuitischen Beichtväter wußten das zu ihrer und Gottes Ehre auszunutzen. Die Frauen, die ehrgeizigen Bastarde und die Priester warfen den apollinischen Glanz, den sie von dem Sonnenkönig empfingen, auf ihn zurück, aber übten zugleich „jene harte Herrschaft" über ihn aus, die Saint-Simon als die wahrhafte Tragödie dieses in selbstgeschmiedeten Fesseln gefangenen Souveräns empfunden hat. Die Seiten über „Die letzten Jahre Ludwigs XIV." lesen sich wie eine Tragödie der Zeit: In den politischen und häuslichen Katastrophen der endenden Regierungszeit wuchs die Seele des Königs zu tragischer Größe und Einsamkeit. Sein Stern war im Sinken. Sein fataler Hochmut hatte alle seine Minister, seine Generäle, die Geistlichkeit nach seinem Wunsch und seinem Bilde formen wollen. Jetzt verließen sie ihn oder wurden seine Gefängniswärter . . . Europa verbündete sich gegen ihn, die Wirtschaft des Landes ging dem Bankrott entgegen, die Nation haßte ihren Unterdrücker... da hielt ihn inmitten dieser Schicksalsschläge die stoische Kraft des Gleichmuts aufrecht, die constance, die fermete d'ame, die egalite exterieure und der eiserne Wille, „die Deichsel des Wagens,

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so lange er konnte, in der H a n d zu halten" — „cette espärance contre toute esp£rance", an die er sich klammerte, immer noch H e r r seiner selbst, jeder Zoll ein K ö n i g . . . Diese Haltung verdiente den Namen „groß" — und erregte die Bewunderung ganz Europas, das ihn zu vernichten trachtete. Macht und Ohnmacht, Licht und Finsternis in einem: „Quel surprenant alliage de la lumi£re avec les plus 6paisses t£n£bres!" — Als er starb, weinte niemand. Alles, was sich an seinem H o f e nach oben schob, nadi vorwärts drängte und bislang gebändigt war, freute sich, daß die Schranken ihrer Karriere fielen; lang genug hatten sie ein Joch tragen müssen, das ihnen König und Minister auferlegt hatten. Ganz Paris jubelte „dans l'espoir de quelque ΙΛεηέ". „Die Provinzen, verzweifelt über ihren Zerfall und Zusammenbruch, atmeten wieder und jauchzten vor Freude. Die Parlamente und jede Art von Judikatur . . . fühlten sich erlöst. Das ruinierte, ausgesogene, verzweifelte Volk aber dankte Gott mit skandalösem Jubel für die Befreiung, an die ihre leidenschaftlichsten Wünsche kaum zu glauben wagten."

Das Bild wird in den wesentlichen Zügen richtig sein. Im Gegensatz zu kleineren Geistern hat ihn, Saint-Simon, der H a ß gegen den König und das Regime nicht blind, sondern sehend gemacht. Dabei wird kein geschichtlich denkender Mensch die eigentümliche Größe verkennen wollen, welche die französische Kultur des Ludovizianischen Jahrhunderts der schöpferischen Kraft eines regulierenden Verstandes und Willens verdankt. Es war freilich eine Größe eigener Art, der man nur in der Perspektive der angedeuteten Reglementierung alles Lebens, also auch des geistigkünstlerischen, gerecht werden kann. Wie im Salonleben der Zeit, so prägte sich der feierliche Stil — soll man ihn klassisch oder barock nennen — auch in der Architektur etwa der Place Royale mit ihren geometrisch geordneten Nebenstraßen aus; er prägte Versailles und seine Gartenkunst. Bäume, Baumgruppen und Büsche bilden geometrische Figuren, exakt wie die Kurven der Wasserspiele, exakt wie die abgemessenen Verbeugungen der Kavaliere vor ihren Damen, exakt wie die umzirkelten Bewegungen des gepflegtesten Gesellschaftstanzes der Zeit, des Menuetts. Unschwer läßt sich dem Geist des Rέglements in andern Künsten nachspüren: in der Malerei eines Poussin, in der Musik eines Lully, in den Tragödien eines Racine, in den Romanen einer Lafayette, in der Poetik eines Boileau. Die gesamte Kultur erhielt ihre „klassische" Prägung: Maß, Dämpfung, Regelhaftigkeit: Dionysos zu Füßen des Apollon.

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Die Kraft eines solchen organisatorischen Willens wirkte aber auch in den Reformen der Verwaltung, des Heerwesens, der Wirtschaft und der Kirche. Uber das ganze Land spannte sich das Netz einer Beamtenschaft, in dessen Maschen irgendwie geartete Partikularinteressen nicht mehr wirksam werden konnten. Ludwig vollendete, was Richelieu erstrebt und Mazarin weitergeführt hatte: den selbstbewußten Feudaladel in eine Hofaristokratie umzuwandeln. Es war dem Adelsstand endgültig versagt, eine entscheidende Verantwortung als Amtskaste zu tragen. Der König zerstörte durch die Einrichtung seines Verwaltungsapparates, vornehmlich durch die Intendanten, den Rest der provinziellen Macht, die der Adel noch besaß. Er zwang die Adligen, an seinem Hof zu leben, wo er Ansehen und Verwendung fand. Er diente im Heer oder übte einen nicht unerheblichen Einfluß auf die hochkommende bürgerliche Gesellschaft aus. „La cour et la ville" verschmolzen zu einem Begriff, wie er uns ständig in der Literatur der Zeit begegnet. Der Adel stieg nach unten durch bürgerliche Heiraten, der Bürger stieg nach oben durch Erwerb höherer Bildung und unter Aufgabe seiner ursprünglichen Funktion als produktiver Erwerbsstand. Mit Recht sagt Erich Auerbach, daß in der parasitären Funktionslosigkeit und in dem Bildungsideal „Stadt und Hof" zu jener geschlossenen Schicht zusammenwuchsen, welche die Trägerin der damaligen Kultur wurde, und deren Seele unbestreitbar der König selbst war. Dem Heerwesen erwies Ludwig seine ganze Aufmerksamkeit. Wenn Richelieu noch bitter über die Ohnmacht und das Versagen der französischen Armeen geklagt, und wenn sich noch ein Mazarin ein privat bezahltes Heer für seine Rückkehr nach Paris gekauft hatte, so wurde in Ludwigs Zeit die Armee die bestgeführte, schlagkräftigste und geschulteste Streitmacht Europas. Turenne, Conde, Luxembourg waren Meister der Strategie; Louvois ihr großer Organisator und Vauban der größte Kriegsingenieur des Jahrhunderts. Ganz Frankreich war von einem Festungsgürtel umgeben, dessen Überbleibsel noch heute jedem Frankreichreisenden einen Eindruck von der großzügigen Leistung dieses außerordentlichen Baumeisters hinterlassen. Der autoritäre Geist des neuen Regimes war auch im Wirtschaftsleben zu spüren. Zwar hat Ludwig X I V . selbst weder von Industrie noch Handel im einzelnen viel verstanden, aber er hat in Colbert den Mann gehabt, dessen wirtschaftliches Denken der klassischen Theorie des „Merkantilismus" seinen Namen gab — „Colbertisme" —, und dessen praktische Tätigkeit der französischen Manufaktur für einige Jahrzehnte einen

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ungeahnten Aufschwung gab. In den ersten 12 Friedensjahren (1660 bis 1672; — der Devolutionskrieg wurde rasch beendet und kostete nicht viel) konnte Colbert den Staatshaushalt durch eine Reihe einschneidender Maßnahmen ausgleichen. Die Einkünfte des Staates verdoppelten sich während der ersten zehn Jahre seiner Finanzpolitik. Colberts Sorge galt der Entwicklung der Manufakturen. Wir besitzen ein interessantes Dokument, wie dem Holländischen Tuchfabrikanten van Robais die Konzession zu einer Niederlassung in ΑΜ>ένΐ11ε 1665 durch kgl. Privileg erteilt wird: Van Robais solle sich in besagter Stadt mit 50 seiner holländischen Arbeiter niederlassen und eine Manufaktur feiner Tücher, wie sie in Spanien und Holland fabriziert würden, erstellen. Er und seine Mitgesellschafter wie auch seine ausländischen Handwerker sollen die Rechte naturalisierter Franzosen haben. Ferner sind sie befreit von Steuern und den üblichen städtischen Abgaben und sonstigen Diensten wie Einquartierungen in Kriegszeiten u s w . . . „und damit sie in derselben Religionsfreiheit leben können, darin sie aufgewachsen sind, gestatten wir besagtem Unternehmer, seinen Angestellten und Arbeitern, sich weiter zu der sog. reformierten Religion zu bekennen" . . . Außerdem soll besagtem Unternehmer ein Grundkapital von 12 000 P f u n d ausgezahlt werden. Ferner garantiert der Staat einen Rechtsschutz gegen jeden Mißbrauch der Warenartikel durch andere Fabrikanten. — Die Ergebnisse solcher und anderer Maßnahmen übertrafen alle Erwartungen. Um sich ein Bild von dem Aufblühen des Handels und der Manufakturen zu machen, lese man den Colbertsdien Wirtschaftsbericht von 1669. Wie sehr der König dem Rat seines Ministers folgte, bekundet eine Randbemerkung Ludwigs auf ein Schreiben Colberts, der ihm geraten hatte, sich persönlich auf seinen Reisen die Manufakturen von Abbeville und Beauvais anzusehen, mit den Bürgermeistern zu sprechen, die H a n d werker anzuspornen, kurzum sein Interesse an der Wirtschaft und den Produzenten zu zeigen. Ludwig schrieb: „Ich will mir die Manufakturen ansehen und mit den Leuten sprechen, wie ich glaube, es tun zu sollen, und wie Sie es mir nahelegen." (Aus Courtray vom 22. Mai 1670.) Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der französischen Wirtschaft, ihrer geschichtlichen Grundlagen und ihres aktuellen Systems werden in dem „Memoire sur le Commerce", das Colbert f ü r die große Sitzung des Conseil de Commerce vom 3. August 1664 verfaßt hatte, durchsichtig gemacht. Es gehört zu den interessantesten wirtschaftspolitischen Dokumenten aus der Zeit der Klassik. Nach einem historischen Uberblick über

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den antiken und mittelalterlichen Welthandel berichtet Colbert von den erdumspannenden Ereignissen der spanisch-portugiesischen Epoche, von Columbus und Magalhäes, von dem Aufblühen Hollands als Handelsmacht, von der Verflechtung der -wirtschaftlichen und politischen Phänomene mit den religiösen, von dem wirtschaftlichen Rückgang der französischen Nation und er endet mit der Frage: Soll Frankreich den Weg zur überseeischen Handelsmacht betreten und den Kampf mit der holländischen Konkurrenz anfachen, oder soll es darauf verzichten? Colbert erwägt das Für und Wider, ein Anlaß, dem anwesenden König einen Einblick in den Außen- und Binnenhandel zu geben, auf die Möglichkeit einer Hebung des Volkseinkommens hinzuweisen, die sozialen Probleme in die Diskussion zu bringen und die Fragen der Arbeitslosigkeit, Zollund Steuerpolitik und der Kolonien aufzuwerfen. Sein Grundgedanke lautet: Der Reichtum eines Landes besteht im Geld. Der Minister teilt mit seinen Zeitgenossen die Meinung, die Menge de» zirkulierenden Goldes und Silbers sei eine konstante Größe. Der Grundsatz heißt demzufolge: viel Waren ins Ausland absetzen, wenig ausländische Waren einführen. Rohstoffe sollen im Lande bleiben, weil sie ein Kapital darstellen. Auf den Rohmaterialien sollen hohe Zölle liegen, auf den Fertigfabrikaten hohe Einfuhrzölle. Die einheimischen Industrieprodukte sollen die fremden Märkte erobern. Willkommene Absatzmärkte sind die Kolonien, die also zu bloßen Konsumenten herabgedrückt werden, da ihnen selbständiger Handel und eigene Produktionen untersagt werden. Sie haben die Rohstoffe zu liefern und empfangen dafür die französischen Industrieprodukte. Im Mutterland selbst hat die Regierung umgekehrt jede Initiative zu ergreifen, um durch Exportprämien, Monopole, Steuerbegünstigungen, unverzinsliche Staatsdarlehen, liberale Bebauungspolitik, aber auch durch Verleihung von Adelsprädikaten an rührige Unternehmer die Manufakturen zu heben. Colberts weltweiter Blick erkannte, was im Ausland zu lernen war, wo die Standorte der einzelnen Industrien lagen, wie sie arbeiteten, welche Qualität ihre Waren hatten. Und bald überschwemmte Frankreich den halben europäischen Markt mit seinen Seidenstoffen (aus den Pyrenäen, der Auvergne, dem Delphinat und der Provence), mit seinen Spitzen, seinen Tüchern (aus Abb6ville, Dieppe, Rouen, Sedan, Carcassonne), seinen Modeartikeln, Parfüms, Möbeln und Porzellanwaren. Das alles ging nicht ohne die Härten einer Planwirtschaft ab. Die Arbeitslosigkeit wurde bekämpft; gegen Bettler und Vagabunden wurden

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polizeiliche Maßnahmen ergriffen; die Arbeitszeit wurde erhöht; im Verfolg der Familienpolitik wurden Prämien für kinderreiche Haushalte ausgegeben; die Junggesellen wurden höher besteuert, die Auswanderung qualifizierter Arbeiter verboten, aber deren Einwanderung nach Frankreich, wie wir sahen, begünstigt. So wurde Colbert zum theoretischen und praktischen Begründer einer staatlich gelenkten Planwirtschaft, die, in der Perspektive des Gesamtphänomens der französischen „Klassik" gesehen, nichts anderes ist als die Anwendung des reglementierenden Prinzips der Disziplin, der Ordnung, der Klarheit auf das Wirtschaftsleben. Ein krasses Beispiel seines Durchgreifens ist etwa jene Forderung, die wir in dem „Memoire" lesen: die Manufakturen hätten höchste Qualitätsarbeit zu leisten, um den König zu kleiden; der König aber habe dann auch diese Stoffe und Fabrikate zu tragen, und durch polizeiliche Anordnung sei dafür zu sorgen, daß die Bürger in der Stadt keine andern Stoffe kaufen dürften als die der heimischen Manufakturen. Die Freizügigkeit der fremdländischen Niederlassungen auf französischem Boden, wie wir sie in der Konzession für van Robais kennenlernten, erwies sich in der merkantilistischen Perspektive als Glied in der Kette planwirtschaftlicher Maßnahmen. Im Endergebnis war dem Colbertismus nur ein halber Erfolg beschieden. Der erhoffte Aufschwung des Außenhandels, den Colbert durch die Compagnie des Indes orientales, die Compagnie des Indes occidentales, die Compagnie du Nord (Ostseehandel) und die Compagnie du Levant aktivieren wollte, blieb aus. Der private Kapitalmarkt zeigte sich zurückhaltend und ließ sich weder durch Propaganda noch Pressionen beeindrucken. Bürger, Kaufleute wie Fabrikanten, empfanden die staatlichen Eingriffe in ihre Freiheiten als unerträglichen Drude; sie wünschten Ausdehnung ihrer Geschäfte auf das Ausland, zumal sie sahen, daß das Ausland durch die protektionistischen Maßnahmen der französischen Regierung keineswegs in seiner Handelspolitik eingegrenzt wurde. Der aus wirtschaftlichen Erwägungen entbrennende Holländische Krieg enttäuschte die Hoffnung des Königs, daß eine mögliche Annexion der Vereinigten Provinzen endgültig die Konkurrenz der Holländer ausschalten würde. So kam es alsbald zu einer Kritik an dem merkantilistischen und protektionistischen System Colberts, wie sie in einem anonymen Schreiben Ausdruck findet: „Herr Colbert beachtet nicht den Umstand, wenn er die Franzosen in die Lage versetzt, auf die andern Völker zu verzichten, er sie dahin bringt, daß diese ihrerseits das gleiche tun. Es steht fest, daß das Ausland andere Handelswege

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sucht für die Mehrzahl der Waren, die sie bislang in unseren Provinzen eingekauft haben. Einer der Hauptgründe der Geldknappheit, die wir heute trotz der guten Ernten und des Überflusses an Weinen in Frankreich erleben, erklärt sidi daraus, daß die Holländer nicht mehr wie früher bei uns kaufen. Unser Verhalten läßt sie klar erkennen, daß wir zu keinen Gegenleistungen bereit sind."

Die nadi 1672 einsetzende Verschwendungssucht des Königs veranlaßte 1681 Colbert, seinem König die ernstesten Vorhalte zu machen: „ . . . idi flehe Eure Majestät an, ihr sagen zu dürfen, daß sie weder im Frieden noch im Kriege jemals die Finanzlage geprüft hat, um ihre Ausgaben zu regeln, die außergewöhnlich und beispiellos sind . . . In den vergangenen 20 Jahren, da ich Eurer Majestät gedient habe, stiegen die Einnahmen, aber heute überwiegen die Ausgaben bei weitem. Möge Eure Majestät durch Begrenzung der exzessiven (Privat-)ausgaben wieder ein Gleichgewicht im Staatshaushalt herstellen."

So ging der Weg nach kurzem Aufstieg wieder bergab. Zu der persönlichen Verschwendungssucht des Königs kam die wachsende Konkurrenz des Auslands, die Dämpfung des liberalen bürgerlichen Unternehmungsgeistes, das ungünstige Konjunkturklima einer allgemeinen Depression. Die Tendenz zur Zentralisierung, Reglementierung, Uniformierung, die wir in der Verwaltung, im Heerwesen, im Wirtschaftsleben beobachtet haben, ergreift immer mehr auch die Regelung der kirchlichen Angelegenheiten des Reiches. Die erste Etappe auf dem Weg zur reglementierten Glaubenseinheit war die Unterdrückung des Jansenismus (1661); die zweite die Declaration des quatre articles der gallikanischen Geistlichkeit (1682); die dritte das Edit de Fontainebleau, d.i. die berüchtigte Widerrufung des Edikts von Nantes (1685). Die Unterdrückung von Port Royal war der 1. Akt einer großen Tragödie, welche sich in den furchtbarsten Gewissenskonflikten der betroffenen Gläubiger abspielte. Die Vier gallikanischen Artikel waren die juristisch anfechtbaren Formulierungen, denen gemäß Ludwig XIV. seinen autoritären Willen auch in kirchlichen Dingen gegenüber dem Papst eindeutig erklärte. Er ließ eine Kirchenversammlung berufen, die zu erklären hatte, daß Petrus und seine Nachfolger vor Gott nur in geistlichen, nicht aber in weltlichen Dingen zuständig seien und Macht hätten, und daß selbst diese Macht durch die höhere Autorität der Konzilien beschränkt s e i . . . :

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Artikel 1: „Les rois et les souverains ne sont soumis k aucune puissance ecclesiastique, par l'ordre de Dieu, dans les choses temporelles..." Artikel 2: „ . . . Les papes, vicaires de Jisus-Christ, ont pleine puissance en matiere spirituelle, sous la reserve que les decrets rendus dans les sessions IV et V du concile oecumenique de Constance, sur l'autoriti des concils generaux, demeureront dans leur force et vertu."

Der Gallikanismus, eine Art katholischer Staatskirche, die dem König auch gewisse Einnahmen aus seinen Diözesen sicherte — woran sich Colbert sehr interessiert zeigte — hat als ein kirchlich-politischer Körper gewisse Verwandtschaft mit der englischen Hochkirche. So weit mochten alle Schritte der königlichen Kirchenpolitik dem Staate dienen. Aber Ludwig überspannte den Bogen, als er sich zu der Aufhebung des Edikts von Nantes, des bisher größten Pazifikationsedikts der abendländischen Christenheit, entschloß. Damit endet die Tragödie der Religionspolitik. Die 30 folgenden Jahre der Regierung Ludwigs X I V . sind ein Bild des Niedergangs, der f ü r die Monarchie mit der Großen Französischen Revolution besiegelt wird. Um 1660 gab es auf französischem Boden über 1,5 Millionen Reformierte. Sie verteilten sich auf rund 600 Gemeinden im Süden (Languedoc und Delphinat), im Westen (Poitou, Aunis, Normandie), in Paris; nicht gerechnet sind die elsässischen Lutheraner, auf die das Edikt von Nantes nicht angewendet wurde; ihre religiöse Freiheit war durch denVertrag von Münster garantiert. Hugenotten fanden sich in allen Schichten der Bevölkerung, im Adel, im Heer und der Marine, im Bürgertum, unter den Kaufleuten, Industriellen und in der Bauernschicht. Wir erinnern uns, mit welch berechnend-kühler Klugheit Richelieu das Protestantenproblem nach dem Gesetz der Staatsraison behandelt hat. In dem ersten Dezennium seiner Regierung folgte Ludwig X I V . dieser Linie. Noch 1672 diktierte er in den ,,Μέπιοϊκβ au Dauphin": „Ich glaubte, mein Sohn, das beste Mittel, die Hugenotten meines Reiches nach und nach in ihrer Zahl zu reduzieren, wäre, sie keineswegs durch neue strenge Maßnahmen unter Druck zu setzen und ihnen das, was sie unter den früheren Regierungen erlangt haben, zu belassen, aber ihnen audi nichts weiter einzuräumen und alle Zugeständnisse in den engsten Grenzen zu halten, die Anstand und Gerechtigkeit vorschreiben . . . Aber die Gunstbezeugungen, die einzig von mir abhängen, sollen, das ist mein Entschluß, den ich ziemlich genau eingehalten habe, keinem Anhänger dieser Religion zukommen . . . Indessen entschloß ich mich dazu, denjenigen, die sich als fügsam erwiesen, entgegenzukommmen, und die Bischöfe so weit wie möglich zu ermuntern, an ihrer rechten Belehrung zu arbeiten."

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In der maßvollen Abfassung dieser Instruktion vermeinen wir den Geist Colberts zu spüren; denn Colbert wußte die Protestanten als wirtschaftlich wertvolle Staatsbürger zu schätzen — und dann hatten die Reunionsbestrebungen der Kirchen auf der höchsten Gesprächsebene zwischen Bossuet und Leibniz (1670/71) ein versöhnliches Klima geschaffen. Dennoch ist ein gewisser Ton der Gereiztheit und Aggressivität unüberhörbar. Alsbald verschärfen sich auch die anti-hugenottischen Maßnahmen: Zerstörung zahlreicher protestantischer Gotteshäuser, Anordnung der nächtlichen Bestattungen der Gestorbenen, zahlenmäßige Begrenzung der Gäste bei Taufen und Trauungen sowie Berufseinschränkungen, und Aktivität des katholischen Klerus in der Inneren Mission. Von 1679 an verhärten sich die Maßnahmen. Der König bekam die Macht der protestantischen Koalition im Holländischen Krieg zu spüren. Der Kaiser trug den Sieg über die Türken davon und zog das Prestige eines Retters der abendländischen Christenheit auf seine Person. Auch Ludwig wollte nun ein Zeichen seiner Macht vor den Augen des Papstes auf religionspolitischem Sektor errichten. Dazu kam — noch vor dem Tode Colberts 1683 — der Einfluß eines Le Tellier, Louvois, des Pere la Chaise und der devoten Madame de Maintenon. Der Einschränkungspolitik folgte die Etappe der Gewaltmaßnahmen. Die Dragonnaden, das waren Zwangseinquartierungen bei den protestantischen Bürgern der Städte, die Zwangsbekehrungen, Abschwörungen und Torturen verbreiteten Not und Schrecken über Stadt und Land. Ganze Städte bekehrten sich bei der Nachricht, daß die Dragoner, „die gestiefelten Missionare" (missionnaires bottes) nahten. Zahllose Namenslisten von Bekehrten liefen in Versailles ein. Es war ein unheimlicher Sieg, der ein staatspolitisches Verhängnis in sich trug, der Sieg eines Herrschers, der um jeden Preis der Idee eines reglementierten Einheitsstaates zum Triumph verhelfen wollte. Am 18. Oktober 1685 unterzeichnete Ludwig XIV. das Edikt von Fontainebleau: die Widerrufung des Edikts von Nantes: „ . . . Wir sehen gegenwärtig mit der schuldigen Dankbarkeit Gott gegenüber, daß unsere Sorge um die Verwirklichung unserer Pläne einem rechten Ziel gedient hat, da der beste und größte Teil unserer Untertanen, die sich der sogenannten reformierten Religion verschrieben haben, sich nunmehr zur katholischen Religion bekennen."

Die folgenden Artikel enthalten die Bestimmungen und Anordnungen zum Verbot des reformierten Gottesdienstes, zur Landesausweisung aller

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Priester, die sich weigern, zur Religion

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Catholique,

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Apostolique

et

Romaine zurückzukehren — bei Androhung der Galeerenstrafe; die M a ß nahmen für die T a u f e der Kinder, das Verbot für alle Hugenotten, M ä n ner, Frauen und Kinder, außer Landes zu gehen. D i e Durchführung dieser Bestimmungen war noch härter und grausamer wie die Bestimmungen selbst. Seltsam: Religiöse und staatspolitische Erwägungen veranlaßten einst Heinrich I V . zum E r l a ß des Edikts von Nantes, welches das größte Pazifikationsedikt der Christenheit gewesen war. Religiöse und staatspolitische Erwägungen veranlaßten seinen Enkel zur Aufhebung dieses Edikts durch das Edit de Fontainebleau, welches die grausamste Verordnung in den Gesetzesblättern derselben Christenheit gewesen ist. Jedermann kennt die Folgen: T r o t z strengster Bewachung der H ä f e n und Grenzen gelang es mehreren Hunderttausend Hugenotten, das Land zu verlassen. Es waren vor allem Kaufleute, Handwerker,

Industrie-

unternehmer, die Ludwig selbst einst ins Land gezogen hatte, es waren Soldaten, Seeleute, Bankiers, Schriftsteller. Sie emigrierten nach Holland, Brandenburg, der Schweiz und England. Die nicht auswandern konnten und zwangskonvertiert waren, leisteten passiven Widerstand. Das Ausland hatte den Gewinn von dem Einzug dieses tüchtigen Teils der französischen Bevölkerung. Für Frankreich war es ein Aderlaß, der seine schwerwiegenden

Folgen hatte.

Saint-Simon

schrieb als

überzeugter

K a t h o l i k , der er war, aber als Kritiker des Edikts von Fontainebleau die harte Seite: „Die Widerrufung des Edikts von Nantes . . . seine Proskriptionen und Deklarationen waren die Früdite jenes furchtbaren Komplotts, das den vierten Teil des Königreichs entvölkerte. Es ruinierte seinen Handel, schwächte alle Teile desselben, duldete die Plünderung durdi die Dragoner, ermächtigte sie zu Quälereien und Grausamkeiten, wodurch unschuldige Männer und Frauen zu Tausenden umkamen . . . zerriß die Familien, bewaffnete Verwandte gegen Verwandte . . . spielte unsere Manufakturen in die Hände von Ausländern, ließ fremde Staaten und Städte erblühen auf Kosten der unsrigen . . . — das Schauspiel eines Volkes, das verbannt, ohne Hilfsmittel, auf der Flucht heimatlos-schuldlos durch die Lande irrt auf der Suche nach einem fernen Asyl. Adlige, Greise, Leute, die ob ihrer Frömmigkeit, ihres Wissens, ihrer Tugend hodigeaditet waren, kamen auf die Galeeren, gleich ob wohlhabend, ob schwach, ob zart . . . und alles um der Religion willen. Alle Provinzen des Reiches tönten wider von dem Wehgeschrei dieser unglücklichen Opfer des Irrtums; so viele andere opferten ihr Gewissen ihrem Hab und Gut und ihrer Ruhe; sie erkauften sie durch geheuchelte Absdiwörung; man trieb sie ohne Unterlaß zur Anbetung dessen, was sie nicht glaubten; sie mußten in Wirklichkeit den Leib Christi empfangen, und waren doch überzeugt, daß sie

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Le siech de Louis XIV. nur Brot aßen . . . Von der Tortur bis zum Widerruf, und vom Widerruf bis zur Kommunion war der Weg oft nicht länger als 24 Stunden . . . Der König aber empfing von allen Seiten Nachrichten und Einzelheiten über diese Verfolgungen und Bekehrungen . . . 2000 an einem Ort, 6000 an einem andern, gleichzeitig und augenblicklich. Der König beglückwünschte sich zu solcher Macht und Frömmigkeit. Er fühlte sich in die Zeiten der Apostel versetzt. Die Bischöfe priesen ihn in Lobeshymnen, die Jesuiten verkündeten es von den Kanzeln . . . Der Monarch zweifelte nicht an der Ehrlichkeit der bekehrten Massen, dafür sorgten die Bekehrer . . . In langsamen Zügen schlürfte er das Gift hinunter. N i e hatte er sich vor den Menschen so groß gefühlt, nie vor Gott so erhöht in dem Bewußtsein der Wiedergutmachung seiner Sünden und seiner skandalösen Lebensführung . . . Die guten und wahren Katholiken aber weinten bitter über das untilgbare Odium, das verabscheuenswürdige Maßnahmen über die wahre Religion ausbreiteten, während unsere Nachbarn darüber jubilierten, wie wir uns selbst schwächten und zerstörten; so nutzten sie unsern Wahnsinn und schmiedeten Pläne auf der Saat des Hasses, den wir uns von allen protestantischen Mächten zuzogen."

Das lange Ende der Regierungszeit Ludwigs X I V . wurde in kirchenpolitischer Hinsicht nicht nur durch die Folgen des Edikts von Fontainebleau erschüttert, sondern geriet in eine zweite Phase des alten Jansenistenstreits. Er wurde durch das „Nouveau Testament en franjais avec des Reflexions morales sur chaque verset" (vermehrte Aufl. 1693) des Oratorianers Quesnel ausgelöst. Quesnel nahm als neuer Parteichef der Bewegung die Sache der Jansenisten nach dem Tode des „Großen Arnauld" und Nicoles (1694 und 1695) in die H a n d . Er griff wesentliche Punkte der jansenistischen Gnadenlehre von neuem auf, aber verteidigte überdies darin einige gallikanische Thesen und Gedanken von Edmond Richer (1559—1631), die mit ihren Rechtsansprüchen der Priester und einiger Bischöfe eine Art Demokratisierung der Kirche anstrebten. Die Jesuiten und zahlreiche Bischöfe sahen in dieser neuen Entwicklung jansenistisdier Lehren eine Gefahr für die hierarchische Konstitution der Kirche, ja sogar eine Gefahr f ü r das katholische Dogma und die Suprematie des Papstes. Jetzt erst bekam der alte Gedanke Richers eine politische und soziale Bedeutung; denn er wurde von den Bestrebungen des niederen Klerus und von einigen Parlamentsmitgliedern getragen. Der König aber verhärtete sich: Kloster, Kirche und Friedhof von Port-Royal wurden 1709 zerstört: „Das Haus, die Kirche und alle Gebäude", schrieb Saint-Simon, „wurden dem Erdboden gleichgemacht, wie man es mit den Häusern von Königsmördern tut. Kein Stein blieb auf dem andern. Alle Materialien wurden v e r k a u f t . .

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Die weitere Verurteilung von 101 Sätzen der „Reflexions morales" des Pater Richer durch die päpstliche Bulle „Unigenitus" erfolgte am 8. September 1713. Die innerkatholischen Schwierigkeiten verstärkten sich durch die schwerwiegenden Ereignisse des Camisard-Aufstandes. Große Teile der Bevölkerung der Cevennen, Geistliche, Frauen, sogar Kinder und Propheten, Handwerker und Bauern führten vom Juli 1702 bis zum Januar 1705 einen regelrechten Kleinkrieg inmitten des großen europäischen Krieges der spanischen Erbfolge. Sie hielten mehrere königliche Armeen in Schach, bis sie durch ein regelrechtes Heer von 20 000 Mann unter Villars besiegt wurden. Das war der Widerstand der sog. „Camisards". Aber die neuen Unterdrückungsmaßnahmen konnten nicht verhindern, daß der Jansenismus und der Protestantismus überlebten. Ein Teil der katholischen Bischöfe selbst ging in die Opposition gegen die Kirchenpolitik des Königs. Das Konzil, auf das Ludwig in Anbetracht der Spaltung des französischen Episkopats die opponierenden Bisdiöfe zitieren wollte, kam nicht mehr zustande. Der König starb. Die Zeit w a r gekommen, da mit dem neuen Jahrhundert der Kartesianismus, der englische Deismus, das französische Freidenkertum und ein neues naturwissenschaftliches Denken entbunden wurden und zu breiterer Wirkung kamen. Weitere Bastionen der kirchlichen Autorität wurden erschüttert, der Boden für die „Aufklärung" vorbereitet. Das absolutistische Regime vermochte nicht zu halten, was es sich und dem Volke versprochen hatte. Die Lektüre von Ludwigs „ΜέπιοΐΓββ" (im besonderen das Kapitel der Reflexions sur le Metier de Roi) und der Instruction ä Philippe V (1700) zeigt, daß z w a r die allgemeinen Prinzipien seiner Staatsauffassung dem Geiste Richelieus verpflichtet geblieben waren, zeigt aber auch, wie die Wirklichkeit die Prinzipien Lügen strafte. Auch bei Ludwig XIV. stand die Staatsraison als leitendes Prinzip seines Handelns fest: „Wenn es zuweilen so aussieht, als handelten die Könige gegen den Geist der gewöhnlichen Gesetze, so beruht das auf der Staatsraison; dieses ist das erste der allgemein anerkannten Gesetze, und es ist dennoch für alle, die nicht an der Regierung sind, das unbekannteste und dunkelste aller Gesetze."

Die Autorität des Fürsten beruht auch bei Ludwig XIV. auf den zwei Säulen der Gerechtigkeit und der Raison. Nun aber wurde durch sein autokratisches Regiment die Autorität des Fürsten mit der Autorität der Raison identisch. Dieser Rationalisierungsprozeß radikalisierte sich, und die Identität von justice und raison schlug in eine Antithese von Geredi-

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tigkeit und Vernunft um. Der König versicherte zwar, daß die Anordnungen des Fürsten „stets mild und maßvoll" seien (doux et mod£^s), „weil sie auf die raison gegründet sind"; hingegen seien alle Partikulargewalten immer „injustes et violents". Indessen belehrte die Wirklichkeit das Volk und die „gerecht" denkenden Minister eines anderen. Die Spannung zwischen Theorie und Praxis provozierte die Opposition der einen wie der andern. Wir können aus den besagten literarischen Quellen des Königs einige Fundamentalprinzipien zusammenstellen. Aus ihrer Formulierung werden wir den Geist von Richelieus „Politischem Testament" herausspüren. Aber wir werden zugleich erkennen, daß die Ideen und Theorien sich in dem Maße pervertierten, wie Ludwig X I V . seine absolutistische Selbstherrlichkeit in den konkreten Regierungsmaßnahmen verwirklichte: „Ii etait", schrieb Saint-Simon, „ä soi-meme sa fin derni£re" — er war sich selbst sein letztes Ziel. In den „Reflexions sur le Mutier de R o i " lesen wir: „Die Könige sind oft gezwungen, gegen ihre Neigung etwas zu tun, was ihr eigenes gutes Naturell verletzt. Sie möchten gern Freude bereiten, und müssen doch oft züchtigen . . . Das Staatsinteresse geht allen andern voraus . . ." U n d : „Wenn man den Staat im Auge hat, arbeitet man für sich selbst. Das Gedeihen des einen macht den Ruhm des andern a u s . .

Aus der „Instruction k Philippe V " folgende Maximen: 1. Versäumt keine Eurer Pflichten, vor allem keine gegen Gott! 5. Hütet Euch vor jeder Anhänglichkeit an welche Person audi immer! 8. Arbeitet für das Glück Eurer Untertanen. Unternehmt Kriege nur dann, wenn Ihr dazu gezwungen seid, und nachdem Ihr die Gründe im Staatsrat wohl erwogen habt! 10. Wenn Ihr zum Krieg gezwungen werdet, setzt Euch an die Spitze Eurer Armee! 33. Ich schließe mit einem der wichtigsten meiner Ratschläge: Laßt Euch nicht regieren, sondern regiert selbst (soyez le maitre). H a b t keinen Günstling noch Ersten Minister. Hört Euch die Meinungen im Staatsrat an, befragt ihn, aber entscheidet selbst. Gott, der Euch zum König erhoben hat, wird Euch audi die notwendige Erleuchtung zuteil werden lassen, solange Eure Absichten gut sind.

Die Gesellschaft der Preziösen Während des ganzen 17. Jahrhunderts gab es eine Frauenbewegung — nicht nur in Port-Royal, sondern in der mondänen Welt — , die für die

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Kultur Frankreichs bedeutungsvoll wurde. Frankreich war in jener Zeit, und schon in früheren Jahrhunderten und noch im 18., ein Land, in dem die Frauen einen wesentlichen Anteil an den kulturellen Leistungen der Nation hatten. Im 17. Jahrhundert spielten die „Preziösen" eine Rolle. Seit Moliferes grotesker Sittenkomödie der „Pricieuses ridicules" begeht man noch heute den Fehler, in den männlichen und weiblidien Preziösen nur eine lächerliche Gesellschaft zu sehen, während der Begriff der Preziosität alles andere als eindeutig ist. Die Preziosität war eine über Europa verbreitete Bewegung, die im Marinismus Italiens, im Gongorismus Spaniens, im Euphuism Englands sprachlich verwandte Ausdrudesformen aufwies. Aber der sprachliche und literarische Aspekt der Sache war nur einer unter andern. Preziosität war eine Geisteshaltung, eine künstlerische Erscheinung und vor allem ein soziales Phänomen, das wir in den Salons der Zeit von Richelieu bis Ludwig X I V . studieren können. Die Preziösen wurden früh schon „les jansenistes nouvelles" genannt, Jansenistinnen der Liebe, da sie im Rufe standen, „die unschuldigen weltlichen Vergnügungen", alles Banale, das den entleerten Lebensinhalt durchschnittlicher Menschen ausmacht, zu verachten; es wurde ihnen aber auch zugestanden, daß — ähnlich wie die Herren von Port-Royal in religiösen Dingen — s i e es zu einer Meisterschaft in der literarischen Analyse der Liebe und der Gefühle gebracht hätten. Preziös war eine Haltung, die besonders den Frauen eignete, wenn auch Männer im Umkreis der Frauensalons als „preziös" bezeidinet wurden, wie etwa „der presziöse H e r r M£nage". Die preziösen Frauen bildeten eine Gesellschaft, die gegen die konventionellen Formen der Beziehungen zwischen Mann und Frau revoltierten. Sie scheuten sich oft, wie die Tochter der Marquise de Rambouillet, vor der bindenden ehelichen Gemeinschaft, lehnten sich gegen die Knechtschaft auf, in der überlieferte Gesetze die Frauen gefangen hielten, protestierten gegen die banalen Beziehungen zwischen Mann und Frau, wenn diese nur im Schatten des gesetzlichen Schutzes nichts anderes als ein liebeloser Verkehr der Geschlechter war. Darum versuchten sie die Frage zu lösen, ob nidit Freundschaft zwischen Mann und Frau eine praktikable und höhere Form der Liebe sei. Im 17. Jahrhundert war — wohl nicht anders als in andern Zeiten — die Institution der Ehe und Familie in eine Krise geraten. In dem „Dialogue de la Mode et de la Nature" eines unbekannten Verfassers (1662)

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sagt die Mode: „In den besten Ehen habe idi Mittel und Wege gefunden, die Zimmer, die Equipage, die Freunde und die Vergnügungen zu trennen." (Zit. bei Adam II, 29) Wie oft mußten die Ehemänner gute Miene zu bösem Spiel machen, wenn sie nicht der Lächerlichkeit der Eifersucht verfallen wollten — und umgekehrt mußten die Frauen alle Qualen einer scheiternden Ehe erdulden. Solche und ähnliche Gedanken der Preziösen wiesen schon den Weg zu einer Art Frauemanzipation. Die Frauen litten unter der von den Männern instituierten Tyrannis der Sitten und Gesetze. Die Preziösen poditen auf ihr Recht, für ihre persönliche Freiheit in den Grenzen einer unangetasteten Wohlanständigkeit zu kämpfen. Die Ziele wurden jedoch zuweilen weitergesteckt. Schon 1622 veröffentlichte Mademoiselle de Gournay ein Buch, in dem sie die Gleichheit der Geschlechter forderte. Eine Generation später (1656) griff der Abbi de Pure die gewagtesten Probleme auf, mit denen die Frauen bei ihrer Kritik der Ehe konfrontiert wurden: probeartige Ehen — Möglichkeiten der Scheidung — Begrenzung der Geburten. Wenn eine Ehe zur Qual werde, solle sie ungültig sein. Das Recht auf Liebe wird so formuliert: „ . . . etre tousjours en estat de nouer des chaisnes libres . . . " — d. h. also sich verfügbar halten zum Anlegen freiwillig gewählter Fesseln einer wahrhaften Liebe, aber auch „neue Erfahrungen" durchzukosten. (Adam, op. cit. II, p. 3) In solchen Wunschträumen lagen Möglichkeiten zu sexueller Libertinage beschlossen. Der Weg führte zu den gelockerten Sitten der Männer- und Frauenwelt am Hofe Ludwigs XIV. Nichts schien geregelter als der mechanisch ablaufende Stundenplan des Tages. Was aber auf der Nachtseite am Hof des Sonnenkönigs geschah, berichtet nur die Skandalchronik. Zweifellos war Ludwigs Hof neben einigen italienischen Fürstenhöfen und dem Madrider Hof der lasterhafteste Europas. Man macht sich im allgemeinen keine reale Vorstellung von der Gesellschaft, in der ein Racine seine tragischen Helden die vornehmste Sprache sprechen läßt, die je ein französisches Ohr vernommen hat. Und sollte es anders sein in einer Frauengesellschaft, zu der Henriette d'Angleterre, die Colonna, die Gräfin von Soissons, die Herzogin von Bouillon und die Herzogin von Mazarin gehörten? Aber gerade diese, und mit ihnen manch andere, waren abenteuerlustig und liebestoll; sie lebten in einer Atmosphäre abwechslungsreichster Skandale, waren mehr oder weniger in die Liebesaffairen des Königs verwickelt, der seinerseits oft mehrere Partien gleichzeitig spielte. Die Atmosphäre sexuell erregender Abenteuer verlockte die Frauen zu

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Intrigen, sei es aus H a ß gegen eine Rivalin, sei es aus triebhaftem Verlangen oder aus Eifersucht; wie oft aber wurden sie zu ihren Exzessen aus Enttäuschung über die männlidie Praxis des „vice italien" getrieben. Am Hofe lebten die Männer von der Schönheit eines Guiche, von der lasterhaften Genußsucht eines Manicamp, Vardes, Vivonne oder des Chevalier de Lorraine. Der Verfasser des zitierten „Dialogs" läßt erkennen, daß die Preziösen weit über die Grenzen „der Mode und anderer Bagatellen" ihre Wirksamkeit „auf die Sprache, die Sitten und sogar auf die geistigsten Dinge" ausdehnten. Der Doppelaspekt der sprachlichen Wirkung der Preziösen ist schon lange Gegenstand philologischen Interesses: die extirpation des mauvais mots, die recherche des bons mots, d. h. der „edlen, kräftigen, eigenständigen Ausdrücke", die Verurteilung der expressions grotesques et monstrueuses, und dem gegenüber die Reduktion der Sprache auf ihren point de spiritualite, das alles sind Zitate schon der Zeitgenossen, die zustimmend oder ablehnend den Einfluß der Preziösen auf das Vokabular und den Duktus der Konversations- und literarischen Sprache kritisiert haben. Was aber hat es mit den „choses les plus spirituelles" für eine Bewandtnis? Mir scheint der Begriff, der sich zweifellos bei den Preziösen auf die Liebe bezieht, eine Beziehung zur platonischen Erosmetaphysik zu haben. Die Liebe — das ist die Doktrin der Preziösen — regiert souverän über die Menschen aller Zeiten und Länder. Eros ist der Herr der Welt. Die Liebe waltet aber auch als Fatum über den Menschen, worüber der in der Epoche der Preziösen heranwachsende Racine sein Wort sagen wird. Die Zeit von Corneille, der noch an das liberum arbitrium glaubte, ist vorüber. Antik-euripideisch mutet audi der Gedanke der Preziösen an, daß die Liebe und die seelisdie Liebeskrankheit mit all ihren Leiden und Verzweiflungen noch immer jeder Liebelosigkeit vorzuziehen ist. Am Ende ihrer Spekulation steht die Apotheose der reinen Liebe — nicht unähnlich der platonischen des Symposions, sehr ähnlich der später sich kristallisierenden romantischen Liebe. Die preziöse Liebesspekulation ist eine der verschiedenen Variationen ewiger Traumwünsche oder Wunschträume der in die männlichen und weiblichen Formen gespaltenen Menschheit. *

Wie sah es nun in den Salons der Preziösen aus? Die Ausstellung „Au temps des Pr^cieuses" in der Biblioth^que Nationale von 1968 gab uns ein Bild davon. In der 1. Etappe der Preziosität war die Chambre bleue

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d'Arthenice der berühmteste Treffpunkt. Dort empfing die Marquise, schön in ihrer Jugend, geistvoll in ihrem Alter und tugendhaft das ganze Leben, bedeutende Männer ihrer Zeit, unter denen das Triumvirat Chapelain, Conrart, Balzac zusammen mit ihrem Widersacher Voiture und dessen Anhängern die führenden Rollen spielten. Literarische Gesellschaftsspiele waren en vogue: Man flocht schmeichelnde Verse und Strophen zu Blumenkränzen wie die berühmte „Guirlande de Julie" zu Ehren der Tochter Rambouillet. Man ersann Rätsel, dichtete Metamorphosen, entzückte sich an alten Ritterromanen und schrieb Verse in Marots Manier. Es wurde audi musiziert und vorgelesen, es wurden ländliche Feste auf dem Landsitz des Marquis de Rambouillet organisiert, wo Nymphen die Gäste empfingen und Julia mit dem Bogen der Diana erschien. Mit dem Tode Voitures verlosch die 1. Epoche, und mit dem Ausbruch der Fronde begann die Geschichte der „Samedis" des Fräulein von Scudiry und des Salons der politisch interessierten Madame Du Plessis-G^negaud, einer erbitterten Feindin Mazarins. Beschäftigte man sich 1637 im Hotel de Rambouillet noch mit der Frage, ob es muscadins oder muscardins heißen müsse, so las man im Salon der Du Plessis-Guinegaud die 6. und 7. der Pascalschen Lettres provinciales. Über ihren Salon verschafften sich die Jansenisten Zugang zu der Pariser Gesellschaft, während sich die Gastgeberin jeder Bindung an Port-Royal fernhielt. Ihre bedeutendsten Freunde waren La Rochefoucauld, Madame de La Fayette, Madame de Sivigni, und später Racine und Boileau; auch der junge Abbi Bossuet wurde bei ihr eingeführt. Im Unterschied zum Hotel de Rambouillet, wo außer den erwähnten Schöngeistern zumeist nur Adlige verkehrten, waren die „Samstage" der Mademoiselle de Scudiry bürgerlicher Natur und der Adel nur gering vertreten. Sie selbst, italienischer Herkunft wie die Marquise de Rambouillet, hatte in der Chambre bleue verkehrt und hielt nun ihren eigenen Salon, in dem besonders über Literatur gesprochen wurde. Sie selbst schrieb und gab ihren 13 000 Seiten umfassenden Roman über den „Großen Kyros" (Le Grand Cyrus) heraus (1650), in dessen literarischen Portraits sich die Zeitgenossen wiedererkannten. Um diese Zeit verbreitete sich das Wort „Precieuses", jener vieldeutige Begriff, bei dessen Anwendung schon die Zeitgenossen die feinen Abstufungen zwischen den Gattungen der precieuses prudes, der precieuses galantes und der precieuses savantes nicht hinreichend beachtet haben. Die Geschichte der Preziösen kompliziert sich, wenn man bedenkt, wie verschiedenartig die Personen und Salons der

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Mm* de Sabl£, der Mm* des Loges, der Vicomtesse d'Audiy schon in der 1. Etappe des Preziösentums gewesen waren! So viel gelehrte archivalische und literarhistorische Einzelarbeit über die Preziösen geleistet worden ist, wir besitzen noch kein Buch über die Int£rieurs der Salons, also die künstlerische und atmosphäreschaffende Ausgestaltung dieser weiblichen Kulturbereiche des 17. Jahrhunderts. Und doch hat dieser Aspekt, den die erwähnte Ausstellung vermittelte, seine eigene Bedeutung. Da sehen wir das hochentwickelte Tischlerhandwerk an den Kommoden, Stühlen, Schränken; der Geschmack der Zeit an den damastausgeschlagenen Kojen und Blumenarrangements, an Gobelins und Holzschnitten, an den Baldachinbetten und Polstermöbeln tritt uns sinnbildlich entgegen. Dann gab es die Maler der Preziösen, ihre Porträtisten: die Brüder Beaubrun waren bei den Frauen beliebt, der Zeichner Daniel Dumoutier, der Graphiker und Buchillustrator Franfois Chaveau sind ihre Freunde, und vor allem der berühmte Abraham Bosse, dessen Stiche — Hunderte an der Zahl — ein erstaunliches Panorama des 17. Jahrhunderts sind und zugleich ein kritisches Zeitbild der Preziösen darstellen. Bilder, Musikinstrumente und astronomische Instrumente geben einen Eindruck von dem künstlerischen Geschmack, der musikalischen Kultur und dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Interesse dieser Kreise. An der Thematik der Tapisserien, der Bilder und Gravüren erfahren wir, welchen Einfluß der Roman der „Astraea" von Honor£ d'Urf6 aus dem beginnenden Jahrhundert auf die Preziösen ausgeübt hat, welche Freude sie noch oder wieder an den Emblemen und Devisen hatte. Wir erkennen an den Stichen der Zeit die weitverbreitete Mode der Proträts und wie sich diese in der Mode des literarischen Porträts widerspiegelt. Interessant sind die Frauenbildnisse, eine Glorifizierung des vermeintlich schwachen Geschlechts, das sich in den zeitgenössisch kostümierten Figuren der Poesie, der Grammaire, der Rhetorique, der Arithmetique, der Geometrie usw. selbst porträtiert. So feierte auch literarisch Georges de SaK^ry in seinen „Femmes illustres" die „Gloire du Sexe" (1642). Also keineswegs verirrten sich alle Preziösen auf den Wegen oder Abwegen des „Royaume de Tendre", in den Spielereien ihrer pseudogeographischen Land- und Fluß-, See- und Gebirgskarten, wo alle Spielarten der Liebe und Wonne, der Schmerzen und Sehnsüchte, der edlen und häßlichen Eigenschaften als Berge, Flüsse, Seen und Meere verzeichnet wurden. Es gab viele solcher Karten, wie die lie de Purete, die Carte d'un pays imaginaire oü se passe la sc£ne d'un

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r o m a n n o m m ä Athis, die Carte du Royaume

de Coquetterie,

die

Carte

du Royaume de Tendre, ihrer aller berühmteste aus der „Clelie", einem Roman der MIIe de Scud^ry. Die Preziösen und ihre Salons förderten das psychologische Interesse, ohne das die Literatur der großen französischen Moralisten von La Rochefoucauld und La Bruy^re im 17. Jahrhundert nicht denkbar war. Aber die Preziösen hatten eine noch in andere Richtungen weisende Wirkung: Der weibliche Blick, der mehr intuitiv und instinktiv geartet ist und Personen und Dinge ohne die Hilfe konstruierter Regeln messen will, ist eine Sehweise, die der Abb£ de Pure bei allen sonstigen Vorbehalten gegenüber den Preziösen an ihnen lobt: sie könnten besser als die Männer urteilen, „eben weil sie unwissend sind; denn da sie nicht durch fremdartige Begriffe verwirrt werden, und auch ihr Geist nicht durch wissenschaftliche Prinzipien verbraucht wird, handeln sie freier und nach Maßgabe ihrer Begeisterung", (zit. bei Adam II, 37). Indem sie aber die Dinge der Kunst nicht im Lichte konventioneller Regeln, sondern allein aus ihrer individuellen £insicht und Vernünftigkeit beurteilten — wodurch sie zu den Gegnerinnen der „pedants", der Statthalter der „R^publique du Savoir" wurden —, ebneten sie den Weg zu jener neuen Art Kritik, die ihre Basis in einem reinen Glaubensakt an die Untrüglichkeit eines natürlichen Geschmackssinns hat. So nahmen sie die moderne Ästhetik des Abbi Du Bos am Ende des 18. Jahrhunderts voraus.

KAPITEL III

Die Welt der Mathematiker, Philosophen und Kirchenfürsten Rene Descartes Wenn das 17. Jahrhundert Frankreichs in allen seinen Erscheinungsformen den Sieg wissenschaftlichen Geistes, d. h. der Ordnung, Disziplin und Klarheit heraufführte, dann ist die Seele der Zeit in jenem Denker zu suchen, der in der Mathematik den Schlüssel zum rationalen Gott-, Weltund Menschenbild in der Hand hielt. Das war Reni Descartes (1596 bis 1650). Er war Schüler der Jesuitenschule, des College de la Fläche, danach Studiosus der Medizin und erwarb in seiner Heimatuniversität Poitiers die Licence der Rechtswissenschaft. Den Rest seiner Jugend begab er sich auf Reisen, „k voir des cours et des armies", trat in das Heer von Moritz von Nassau, Statthalter der Niederlande, ein, ging nadi der berühmten Winternacht von 1619, wo ihm die Erleuchtung seiner universalwissenschaftlichen Methode kam, auf eine Wallfahrt nach Notre-Dame de Lorette, traf zuvor in Holland mit Isaac Beeckman zusammen und war somit 9 Jahre auf Wanderschaft, um den Rest seines Lebens, mit einigen Unterbrechungen, in Holland zu verbringen, wo er in der Stille des Denkens und aus dem Reichtum seiner Welt- und Lebenserfahrungen, im brieflichen Kontakt mit den besten Mathematikern, Naturwissenschaftlern und Fürstlichkeiten Europas, sein philosophisches Werk ans Licht brachte. Es sind seine Metaphysik, an der er seit 1629 arbeitete, dann das Fragment gebliebene Le Monde ou Tratte de la Lumiere. Als er 1633 das Werk abschließen wollte, erfuhr er, daß Galilei wegen seiner Behauptung, die Erde drehe sich um die Sonne, von der Inquisition verurteilt worden war. Da nun Descartes in seinem physikalischen Weltbild zu denselben Ergebnissen gelangte wie Galilei, nahm er Abstand von der Veröffentlichung, zumal Richelieu aus politischen Gründen — er brauchte im Augenblick die Freundschaft des Hl. Stuhls — die Verurteilung der Galileischen Lehre von der Sorbonne verlangte. Descartes zog es vor, unbe-

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helligt weiterzuarbeiten. Daß gerade dieses Werk Fragment blieb, ist ein unersetzlicher Verlust; er wiegt um zu schwerer, als man sich klar machen muß, daß Descartes' philosophisches Lehrgebäude auf den Fundamenten seines mathematisch-naturwissenschaftlichen Denkens beruht. In Leyden folgte die anonyme Veröffentlichung seines bekanntesten Werkes, dessen exakter Titel lautet: „Discours de la Methode pour bien conduire sa raison et chercher la νέπΐέ dans les Sciences. Plus la Dioptrique, les M£t£ores et la G£om£trie, qui sont des Essais de cette Methode." 1641 erschienen die Meditations metaphysiques, die er der Theologischen Fakultät von Paris widmete, ohne indessen ihre Billigung zu erlangen. Descartes ließ sich nicht entmutigen. Er veröffentlichte 1644 die Prineipia Pbilosopbiae. 1649 brachte er den Tratte des Passions de l'Ame heraus. Im gleichen Jahr erhielt er eine Einladung der Königin Christine von Schweden. Er begab sich nach Stockholm und starb kurz nach seiner Ankunft am 11. Februar 1650 im Alter von 53 Jahren, 10 Monaten und 11 Tagen. Ein seltsamer Mann, ein interessanter Lebenslauf, ein höchst bedeutungsvolles Werk. Frühzeitig läßt er die Vielseitigkeit seiner Interessen erkennen. In seinem fesselnd geschriebenen Lebensbild zu Eingang des Discours de la Methode stellt er sich uns als Freund der Dichtung und Beredsamkeit vor. Seine eigentliche Veranlagung aber zog ihn zur Mathematik, weil „Sicherheit und Evidenz" die hervorstechenden Merkmale dieser exakten Wissenschaft seien. „Immer war ich von äußerstem Verlangen erfüllt, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, um in meinen Handlungen klar zu sehen und sicheren Schrittes durch das Leben zu gehen." Er studiert die Optik, die Akustik, Anatomie und Chemie. Er interessiert sich für den Maschinenbau und ist immer darauf bedacht, die Wissenschaften auf ihre konkrete Verwendbarkeit zu prüfen. So überdenkt er sogar die Möglichkeiten, durch eine angewandte Physiologie das menschliche Leben zu verlängern. Sein Kopf ist voller Träume und Phantasien, und doch beruht sein Denken auf genauer Erfassung der Wirklichkeit und auf schärfster Beobachtung. So entdeckte er gleichzeitig mit dem englischen Arzt Harvey den Mechanismus der Blutzirkulation, kommt aber zu einer ganz andern Erklärung dieses mechanischen Phänomens, worüber er dreimal in dem Traite de l'Homme (1632), im Discours (1637) und in der Description du Corps humain (1648) gehandelt hat. Nicht genug damit beobachtete er das Phänomen der Parhelien, fand das Gesetz der Lichtbrechung, enträtselte das Geheimnis des Regenbogens, erkannte die Funk-

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tion der Kristallinse im Auge, berechnete die Obertöne und begründete die analytische Geometrie. Dabei war er als Philosoph und Forscher alles andere als ein Stubengelehrter. Er betrachtete sich stets als einen „gentilhomme", stammte er doch aus einer Familie des niederen Adels, und blieb immer, was man in seiner Zeit einen „honnete homme", einen Weltmann, nannte. So schrieb er auch für die Welt, nachdem er hatte einsehen müssen, daß die Universitäten und besonders die Theologen, die er gern für sein System gewonnen hätte, rückständig und ablehnend waren. Kein Wunder, daß die Welt seinen Umgang suchte, aber er selbst floh sie zumeist, nicht immer. Seine Erziehung hatte ihn zu einem gewandten Kavalier gemacht. Er beherrschte die Kunst des Reitens, Fechtens, Tanzens; er liebte den Sport und die Frauen und hatte einen großen Sinn für Schönheit. Drei Dinge, so meinte er einmal, seien am schwersten in der Welt zu finden: ein gutes Buch, ein vollkommener Prediger und eine sdiöne Frau. Die Liebe war ihm nicht fremd. Zwar hat ihn sein rastloses Leben nie in den Hafen einer Ehe geführt, aber mit zärtlich-väterlicher Liebe hat er an seinem Töchterchen gehangen, das ihm seine holländische Geliebte geschenkt hatte. Ziemlich am Anfang seines Discours de la Methode zieht er die Bilanz seiner persönlichen Ausbildung und der Wissenschaften im allgemeinen, wobei er niemanden zu seinen Ansichten bekehren will, sondern jedem die Freiheit der eigenen Urteilsbildung läßt. Da ist zunächst die Theologie·. Sie habe es mit den „offenbarten Wahrheiten" zu tun; diese aber liegen, wie er sich vor Kant ausdrückt, jenseits der menschlichen Einsicht und bedürfen zu ihrer Erkenntnis „einer außergewöhnlichen Hilfe des Himmels". Die Theologie gehört also streng genommen nicht zur „Wissenschaft" im eigentlichen Sinne, und Descartes hält sich zunächst von ihr entfernt, obwohl es unbestreitbar ist, daß ihn sein wissenschaftliches und philosophisches Denken, das gegen die Libertins, die religiösen Skeptiker, die philosophischen Pyrrhonisten gerichtet war, mit innerer Logik zur Annahme eines theozentrischen Weltbilds geführt hat. Doch davon ist im Augenblick nicht die Rede. Wie verhält es sich mit der Geschichte} Sein philosophischer Rationalismus betrachtet sie höchstens nach ihrer moralischen Wirkung, sofern er die historischen Studien nicht überhaupt zurückweist. Und mit der Geschichte sind schließlich auch die Geschichten verbunden, die uns Geschichte bekunden. Wehe dem Phantasten, der sein Leben und seine Sitten nach den Fabeln — und seien diese „les histoires les plus fidfeles" — regeln will: er wird bei den „Extravaganzen der

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Paladine unserer Romane" enden. Wer denkt bei solchen Worten nicht an Don Quijote? Aber die Philosophie und mit ihr die Naturkunde müssen erst neu geschaffen werden. Der Aufbau einer universalen Wissenschaft moderner und nicht überalterter scholastischer Prägung kann von der Mathematik her als der einzigen untrüglichen Disziplin erfolgen. Der rationale Charakter der mathematischen Wissenschaft mußte in Descartes' Anschauungen von der „science universelle" vorbildlich wirken. Aber in Descartes steckte, zwar verborgen, audi ein Dichter, ein Träumer. Es ist erstaunlich, wie wenig diese Seite in ihm trotz der aufschlußreichen Hinweise von Goldbeck, Gilson oder Papini gewürdigt wird. Welcher reine „Rationalist" wäre je vital genug wie er, um eine wahrhaft romantisch-abenteuerliche Existenz zu Lande und zur See, mit Kämpfen, Duellen, Liebesaffären zu führen? Wer wüßte je wie er um die schöpferischen Kräfte des Enthusiasmus, der Träume oder aller untergründigen Irrationalitäten? Er bekannte, daß seine Philosophie die Tochter der Begeisterung und des Traumes war. Wenn sein gesunder Verstand die Menschen warnen ließ, eine quijoteske Existenz zu führen, so verkannte er keineswegs, wenn wir seinem ersten Biographen Baillet Glauben schenken wollen, daß die Phantasie — l'imagination — die „Saat der Weisheit, die im Geist aller Menschen ausgestreut ist, aufgehen läßt" und daß sie „Feuerfunken aus dem Kieselstein" schlägt. Die Nacht des 10. November 1619 war die Geburtsstunde seiner Philosophie, „ . . . cum plenus forem enthusiasmo". 1. Wenn man das Fragment seines physikalischen Hauptwerkes liest, „Le Monde", glaubt man zunächst, einen kosmogonischen Roman vor Augen zu haben. Man wird an Piatons „Timaeus" erinnert, an Lukrez oder an Ovids „Metamorphosen". Descartes nennt selbst sein Buch eine „Fable", also einen Mythus. Er denkt sich in imaginären Räumen eine Materie, die frei von allen Modi der Form, der Eigenschaften, der Tätigkeit ist, also „Le Cahos" (sie), das Chaos darstellt. Er definiert sie durch den Begriff der Ausdehnung. Geschaffen ist sie von Gott. Dieser Materie ist die Bewegung beigesellt. Diese ist nicht, wie bei den Scholastikern, aus der Wirkung eines primum mobile hervorgegangen, sondern ist seit Ewigkeit in der Schöpfung einbegriffen. Mit diesen Elementen seines Weltbildes, der Materie und der Bewegung, führt Descartes den Leser in das Innere des von Naturgesetzen umklammerten Universums hinein. Wir sehen Sonnen und Fixsterne entstehen und erleben nach und nach, wie zweckvoll der Bau des Alls

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aufgeführt ist. Das Universum ist ein einheitliches, sich ins Ungemessene erstreckende Kontinuum. In diesem Weltall gibt es keine Wunder. „Und damit es keine Ausnahme gibt, wollen wir noch unserer Annahme hinzufügen, daß Gott in unserer Welt niemals ein Wunder machen wird, und daß die Intelligenzien oder die vernunftbegabten Seelen, die wir darin vermuten können, in keiner Weise den gewöhnlichen Lauf der Natur stören können." (Le Monde, p. 48)

Gott ist Schöpfer der Materie, der Bewegung, der Naturgesetze; aber er greift niemals mehr in die Unveränderlichkeit der Gesetze ein. Die erste Kritik wird schon mit Pascal laut: „Ich kann Descartes nicht verzeihen", heißt es in der 77. der „Pensees", „am liebsten hätte er Gott bei seiner ganzen Philosophie aus dem Spiel gelassen; aber er konnte nicht umhin, ihm wenigstens einen Nasenstüber zu versetzen, damit er die Welt in Bewegung brachte; danach weiß er mit Gott nichts mehr anzufangen."

In dem Maße wie Descartes die Welt mechanisiert und mathematisiert, „entseelt" er sie allerdings im Sinne jedweder Romantik oder Mystik; der individuelle Bezug zu einem persönlichen Gott droht zu verschwinden; er wird sogar als Erhalter der Welt überflüssig, spielt bestenfalls die Rolle eines Ehrenvorsitzenden des Universums. Und wie mit der Welt, so geht es mit den Menschen. In Descartes' Perspektive wird der Mensch ein bewunderswert funktionierender Apparat von Muskeln, Knochen, Sehnen, Arterien und Venen. Das Auge ist nichts als eine camera obscura; das Ohr ein feines Saitenspiel, alle Bewegungen der Glieder gehorchen medianischen Hebelgesetzen. Jeder der zwei Teile des Menschen, die Seele und der Leib, hat seine Rechte und Gesetze; aber sie bleiben unvereinbare Gegensätze: Die Seele ist das Denkende und Nicht-Ausgedehnte, der Körper das Ausgedehnte und NiditDenkende. Im Körper hängt alles von der Struktur und den Bewegungen der Maschine ab. Man lese den „Trait£ de l'Homme" im Zusammenhang mit dem „Monde" und wird erfahren, daß der Mensdi, dieser Mikrokosmos, wie die Große Welt, der Makrokosmos, mechanischen Gesetzen unterworfen ist. Der Weg von hier zu La Mettries „L'Homme machine" und zu den materialistischen Ärzten des 18. Jahrhunderts ist nicht weit. „Ich wünschte, ihr würdet erwägen", heißt es am Ende des Traite de l'Homme, „daß alle diese Funktionen (ζ. B. Verdauung, Pulsschlag, Blutkreislauf, Wachstum der Glieder, Ton-, Geruchs-, Geschmackswahrnehmungen, Sinneseindrücke, Gedächtnis, Appetit, Leidenschaften usw.) ganz natürlich in dieser unserer Maschine allein gemäß der Disposition der Organe funktionieren,

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Le siecle de Louis XIV. nicht anders als es die Bewegungen eines Uhrwerks oder anderer Automaten tun entsprechend den Gewichten und Gegengewichten, so daß es sich erübrigt, irgendeine andere vegetative oder sensitive Seele oder irgendein Lebens- oder Bewegungsprinzip anzunehmen als das Blut und die Lebensgeister . .

2. Das Universum war das Objekt seiner mathematisch-physikalischen Erkenntnisse. Descartes' Ehrgeiz ging aber dahin, auch das Subjekt, den Träger der Erkenntnis, zu erkennen. Der Mensch ist mehr als ein Tier, ein mechanisch ablaufender Apparat seiner rein körperlichen Funktionen. Dem Tier sprach Descartes die Seele ab. Der Mensch ist aber, als ein Kompositum von Seele und Körper, eben auch ein moralisches Wesen, das ein Leben führt, eine Haltung hat, einen Verstand besitzt, seinen Willen und seine Freiheit bekundet. Descartes' Anthropologie sollte die unantastbaren Merkmale einer Wissenschaft haben. Ging er aber mit der mathematischanlytischen Methode vor, mußte seine Ethik eine Art Algebra der Passionen werden. Er war, wenn er konsequent sein wollte, dazu verurteilt, eine so lückenlos deduzierbare Ethik zu finden, wie es für die nach mechanischen Gesetzen aufgebaute Welt möglich war. Daran ist er gescheitert. In diesem Bereich versagte die Methode. Descartes wußte um solche Grenze. Warum sollte er sich sonst entschuldigen, vorerst eine durchaus provisorische Moral gegeben zu haben? Es ist interessant, daß er die vier Maximen des Verhaltens nicht aus abstraktem Denken formulierte, sondern daß er sie der Lebenserfahrung entnahm, man könnte sagen, einer Lebensphilosophie, die jedem honnete komme seit der Antike oder auch nur seit Montaigne bekannt war. In dieser provisorischen Lebenshaltung spürt man kaum noch den Mathematiker, vielmehr den lebenskundigen Weltmann, der, außer seinen persönlichen Erfahrungen, seine Weisheit aus dem Schatz der überlieferten humanistischen Bildung nimmt. Vor allem schimmert da die stoische Philosophie hindurch, und ein Abglanz Montaignescher Lebensweisheit liegt über diesem, dem Dritten Teil seines Discours de la Methode. 1. „Die erste (Maxime) w a r : den Gesetzen und Einrichtungen meines Vaterlandes zu g e h o r c h e n . . . in allen übrigen Dingen aber mich nach den gemäßigten Ansichten zu richten, die allen Extremen fern liegen und von den verständigsten meiner Gefährten geteilt werden." 2. „Die zweite w a r : in meinen Handlungen so fest und beharrlich wie möglich zu sein, und audi die zweifelhafteste, wenn ich midi ihr einmal zugewandt hatte, ebenso sicher und entschlossen festzuhalten, als wäre ich mir ihrer ganz gewiß. Es ist eine unantastbare Wahrheit, daß, wenn wir nicht zu erkennen

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vermögen, was wirklich das beste ist, wir am sichersten gehen, wenn wir das tun, was uns als das beste erscheint." 3. „Die dritte Maxime bestand in dem Versuch, lieber mich selbst als das Schicksal zu besiegen und eher meine Wünsche als die Weltordnung zu ändern; überhaupt mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß nichts als unser Gedanke ganz in unserer Gewalt ist." 4. „Schließlich wog ich zur Vollendung dieser Moral die verschiedenen Beschäftigungen der Menschen in diesem Leben gegeneinander ab, um mir aus diesen die beste auszuwählen. Ich brauche meine Ansichten über die andern hier nicht darzulegen und will nur sagen, daß ich für mich nichts Besseres fand, als die meinige fortzusetzen, d. h. mein ganzes Leben für die Ausbildung meiner Vernunft zu verwenden und gemäß der Methode, die ich für mich festgesetzt hatte, nach der Wahrheit zu forschen."

Descartes ist so sehr Stimme und Autorität seiner Zeit, daß die Prinzessin Elisabeth, die Tochter des Kurfürsten Friedrichs I. von der Pfalz und Nichte des unglücklichen Karls I. von England, unseren Philosophen mit der Bitte angeht, er möge ihr auf der Suche nach einer rechten Lebensform ratend beiseite stehen. Daraus entwickelt sich ein Briefwechsel. Der Philosoph gibt ihr Ratschläge, wie sie zur Zufriedenheit, Heiterkeit, Seelenruhe gelangen könne. E r erläutert der jungen Frau Senecas Schrift „De vita beata", und zwar in den ersten sechs der 12 Briefe (1645). Die Briefe sind eine Etappe auf dem Wege von einer provisorischen zu einer endgültigen Moral. Manches weist schon auf Rousseau und Kant, so der Artikel 148 des Tratte des Passions de l'Ame: „Wer immer dergestalt gelebt hat, daß sein Gewissen ihm nicht vorwerfen kann, je die Dinge unterlassen zu haben, die er für die besten hielt (und das nenne ich der Tugend folgen), dem wird eine Befriedigung zuteil, die so mächtig ist, ihn glücklich zu machen, daß der heftigste Drang der Leidenschaften nie stark genug ist, seine Seelenruhe zu stören."

Alles kommt auf den rechten Gebrauch unseres Willens an. Der Wille ist seiner Natur nach frei. Descartes sieht den Menschen so exklusiv im Lichtkegel der Vernunft, daß alles, was der Mensch an dunklen Trieben, unklaren Empfindungen, Unterbewußtem und Halbbewußtem hat, eigentlich ein Nicht-Seiendes, ein μή δν, die Negation des Seienden ist. Was wir klar und deutlich einsehen, ist wahr, und die aus klarer Einsicht entspringenden Handlungen müssen gut und richtig sein. Böse Handlungen können nur aus unrichtigen Vorstellungen fließen. So sind die Leidenschaften nichts als falsche Urteile, verworrene Vorstellungen, dunkle Regungen; sie sind da, aber nicht existenzwürdig und müssen durch die Vernunft besiegt werden.

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3. Wenn wir Descartes glauben wollen, richtete er seine hödiste Denktätigkeit auf Gott. Der Einblick in den Briefwechsel mit seinem Freunde, dem Mathematiker und Theologen Mersenne, läßt erkennen, wie wenig es ihm gelungen ist, seine christlichen Anschauungen überzeugend vorzutragen. Aber ihn, der dem Kreis der Oratorianer und dem Pater Birulle nahe stand, als unchristlich zu bezeichnen, hieße wiederum, ihn verkennen. Die ganz persönlich abgefaßten Briefe mit Mersenne sind Dokumente, die den Zwiespalt in Descartes' Seele sichtbar machen. Eines Tages, am 15. April 1630 — also zur Zeit, da er intensiv sowohl mit seiner Physik als auch mit seiner Metaphysik beschäftigt war —, schrieb er an den Freund: Die theologischen Fragen seien nicht ganz außerhalb seiner „profession", soweit sie metaphysischer Art wären. Als metaphysische Probleme, nicht als Offenbarungstatsachen, gehörten die Spekulationen um Gott unter das Gesetz der raison humaine. „Ich meine", schreibt er, „daß alle Menschen, denen Gott den Gebrauch der Raison gegeben hat, verpflichtet sind, diese vornehmlich dazu zu verwenden, Gott zu erkennen und sich selbst zu erkennen." Es folgt ein Satz, der für die Chronologie der Kartesianischen Entdeckungen aufschlußreich ist: „Mit diesem Bemühen ( = Gott zu erkennnen) habe ich meine Forschungen anzufangen midi bemüht, und ich möchte Ihnen sagen, daß ich die Fundamente der Physik nicht hätte finden können, wenn ich sie nicht auf diesem Wege gesucht hätte."

Die mathematischen Wahrheiten, heißt es dort weiter, sind nicht autonom, sondern von Gott abhängig. Wir Menschen vermögen sie jedoch zu erkennen, weil sie alle unserm Geiste eingeboren sind: „elles sont toutes mentibus nostris ingenitae". Es ist also nicht so: daß, wenn Gott nicht wäre, trotzdem die Wahrheiten der Mathematik bestünden. Gott ist zuerst. In Gott ist Wollen, Wissen, Schöpfen eins. Aus ihm kommt alles andere. Er ist die Garantie für das Sein und die Wahrheit der Dinge und Gesetze. „Meiner Ansicht nach gäbe es nicht nur keinen Raum mehr, sondern audi die sogenannten Wahrheiten, wie ζ. B. ,das Ganze ist größer als seine Teile', wären keine Wahrheiten, wenn Gott sie nicht also aufgestellt hätte."

Das ist die Antwort Descartes' auf einen Brief Mersennes vom 28. April 1638, in dem dieser ihn um Stellung zu der Behauptung Robervals bittet, daß nämlich auch ohne Gott noch derselbe Raum und dieselben Gesetze der Geometrie bestünden, wenn Gott einmal die Körper vernichten sollte.

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Die Existenz Gottes als Urgrund der Welt und als Garantie der Wahrheit unserer mathematischen Axiome hat Descartes nicht nur nie angezweifelt, sondern sie als vorgängige Ermöglidiung seines eigenen Denkens und Forschens immer wieder betont. Anders steht es mit der Frage, „an Dei bonitati sit conveniens homines in aeternum damnare" — ob es also mit der Güte Gottes vereinbar sei, die Menschen in Ewigkeit zu verdammen. „Cela est de th^ologie", schreibt er im gleichen Brief an Mersenne, „und deswegen wollen Sie mir bitte absolut gestatten, nichts darüber zu sagen . . . " — nicht als hätten die Gründe der Freigeister in diesen Fragen irgendeine Kraft, sondern weil er dafür halte, daß man den Wahrheiten, die allein vom Glauben abhängen und die durch natürliche Demonstrationen nicht bewiesen werden können, unrecht tue, wenn man sie allein durch menschliche Vernunftgründe und Wahrscheinlichkeitsannahmen festlegen wolle. Das sei Sache der Theologen, in die er sich nicht mischen möchte. 4. Was hat es schließlich mit dem berühmten cogito ergo sum auf sich, und inwieweit ist dieser Satz in seine physikalischen, moralischen und religiösen Anschauungen verflochten? Sein oberster Grundsatz lautet: De omnibus dubitandum. Es ist an allem zu zweifeln. Die Sinneseindrücke können uns täuschen, die Vorstellungen unserer Seele unklar sein, das Denken kann falsche Wege gehen. Aber wenn wir an allem zweifeln, so ist doch eines unbezweifelbar, nämlich der Zweifel selbst. Auch wenn ich alles leugne, so muß immer noch das Ich dasein, das leugnet. So folgt zunächst logisch auf das De omnibus dubito das dubito ergo sum. Da aber alles Zweifeln Denken ist, läßt sich sagen: cogito ergo sum, was gleichbedeutend ist mit sum cogitans. Denn: Es ist mir unmöglich, mir vorzustellen, daß das Nichts denken sollte, unmöglich, mir ein Etwas vorzustellen, welches denken und nicht existieren sollte. Das cogito ergo sum ist also eine Intuitionswahrheit, eine gewißermaßen mathematische Evidenz. Umgekehrt kann ich durchaus nicht beweisen, daß jedes Wesen, das ist, auch denkt, kann also nur sagen: je pense = je suis. In dieser einfachen Form hat Emile Faguet die bei Descartes vielfach verschlungenen Gedankengänge expliziert. Dieses cogito ergo sum ist aber nur ein erster Schritt. Descartes hat zunächst die Existenz des Menschen gefunden, insofern der Mensch ein denkendes Wesen ist. Wir braudien aber noch eine andere Intuition als das Cogito. Diese ist der Begriff des Infinitum, des Unendlichen. Es kann uns weder aus der Vorstellung noch aus den Sinnen kommen; denn er überschreitet das Fassungsvermögen beider. Wir erfassen ihn als eine Evi-

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denz und nennen ihn Gott. Gott aber ist unendliche Macht, unendliche Weisheit, unendliche Güte. Daher hat er uns nicht täuschen wollen und können; daher dürfen wir auch unsern Sinnen und unserm Verstand trauen und an die Existenz der physischen Welt glauben. Der Satz „je pense done je suis" könnte solange ein Irrtum und das Kriterium der Evidenz eine Falle sein, wie ich nicht die andere Evidenz besitze, daß nämlich Gott existiert und daß Gott uns Menschen nidit täuschen will. So ergibt sich die Tatsache, daß Descartes zwar chronologisch erst das cogito ergo sum entdeckte, daß dieser Satz aber logisch erst durch die Evidenz der Gottesexistenz und der Gottesgüte gesichert war. 5. Descartes kommt wiederholt darauf zurück, daß man sich Gott nicht wie einen Jupiter oder Saturn vorzustellen habe, also nicht wie ein endliches Wesen. Gott ist überhaupt kein Wesen, sondern das Sein schlechthin. E r ist auch kein „historisches" Wesen, das sich in einem Augenblick der Geschichte in einem historischen Lande offenbart habe. E r ist nicht der Gott Abrahams, Isaacs und Jakobs, der sich einem Pascal enthüllte. E r ist, was Descartes wahrscheinlich garnicht wollte, daß er es sei: absolute, reine Vernunft. Kein Zweifel, daß Descartes Christ sein wollte, aber seine ganze Philosophie steht dem entgegen. D a ß er kein Kronzeuge christlichen Denkens war, ist schon den beiden großen Christen des Jahrhunderts nicht entgangen: Bossuet und Pascal. Es ist interessant, wie Bossuet, der an sich ein großer Bewunderer Descartes' war, mit seinem durchbohrenden Blick genau die Stelle gesehen hat, an der sich die „zersetzenden" Elemente des Kartesianismus in die zukünftige Gesellschaft einschleusen konnten. Es verlohnt sich, die Stelle aus seinem Brief an einen Schüler des Pater Malebranche vom 21. Mai 1687 zu übersetzen: „Nicht nur in diesem Punkte der ,Natur' und der ,Gnade', sondern an vielen andern wichtigen Artikeln sehe ich, wie sich ein großer Kampf gegen die Kirdie unter dem Namen der kartesianischen Philosophie vorbereitet. Ich sehe, wie aus ihrem Schöße und aus ihren meiner Ansidit nach mißverstandenen Prinzipien mehr als eine Häresie entstehen wird. Ich sehe voraus, daß die Konsequenzen, die man aus der kartesianischen Philosophie gegen die Dogmen unserer Väter ableiten wird, eben diese Dogmen hassenswert machen und die Kirche um all ihre Früchte bringen werden . . . Aus diesen mißverstandenen Prinzipien nistet sich ein anderer Ubelstand ganz empfindlich in die Geister ein; denn unter dem Vorwand, daß man nur zulassen darf, was klar verstanden wird . . . , kann sich jeder die Freiheit nehmen zu sagen: ,1dl verstehe dies und verstehe nicht das', und so billigt oder verwirft man allein auf diesem Fundament alles, was man will . . . Auf diesem Wege kommt es zu einer Frei-

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heit des Urteils, die es bewirkt, daß leichtfertig und ohne Rücksicht auf die Tradition alles vorgebracht wird, was sich nur denken läßt." Die Geschichte hat der Befürchtung Bossuets recht gegeben. Descartes steht zwischen Luther und Kant. So unrecht hat Paul Claudel nicht, wenn er Descartes mit Luther vergleicht, und die Linie, die zu Kant führt, ist leicht zu erkennen. Groß war Descartes' Einfluß schon zu seinen Lebzeiten. Einer seiner Schüler, Rineri, lehrte Descartes' Philosophie an der Universität Utrecht. Descartes erhielt eine Einladung nach Schweden, die er annahm, eine andere nach England, die er ablehnte. Nicole, jansenistischer Theologe und Mitarbeiter von Arnauld an der „Logique de Ρort-Royal", schrieb in seinem „Essai de Morale": „Dreitausend Jahre hat man über die verschiedensten Prinzipien philosophiert. Da steht ein Mann in einem Winkel der Erde auf und verändert das Antlitz der Philosophie." Descartes' erster Biograph, Baillet, berichtet mit übertreibender Metaphorik, daß bereits wenige Jahre nach dem Tode des Philosophen die Zahl seiner Anhänger und Schüler größer sei als „die Sterne am Himmel und der Sand am Meer". Von Leibniz wissen wir, daß er nach allen Manuskripten Descartes' Ausschau hielt, daß er ihn unendlich bewunderte: „j'estime Descartes infiniment" —, daß er aber andererseits seine Vorbehalte ihm gegenüber hatte. Descartes wurde auch die große Mode in den Salons der zweiten Jahrhunderthälfte. Madame de Sέvigne, berühmt durch ihre Briefe an ihre Tochter, die Comtesse de Grignan, will sich in der kartesianischen Philosophie unterrichten, um den Diskussionen über ihn in der Pariser Gesellschaft folgen zu können. Wir erfahren aus ihrer Korrespondenz, wie lebhaft über den Philosophen diskutiert wurde. Aber auch Metaphysiker vom Range eines Malebranche, des Verfassers der „Recherches de la Verite" adoptierten die Methode und Philosophie Descartes'. Die Faszination, die von ihm ausging, erstreckte sich in jener Zeit bis in die Reihen der katholischen Schriftsteller: Fänelon schrieb in seinem „Traite de l'Existence et des Attributs de Dien": „Mir scheint, die einzige Art, jeden Irrtum zu vermeiden, ist, ausnahmslos an allen Dingen zu zweifeln, an denen ich keine volle Evidenz finden kann. Ich mißtraue allen Vorurteilen, . . . allen Sinneseindrücken, den überkommenen Prinzipien, den Wahrscheinlichkeiten. N u r dem, was absolut sicher ist, will ich Glauben schenken. Allein die Evidenz und die vollkommene Gewißheit der Dinge kann midi zur Anerkennung zwingen, sonst lasse ich lieber die Dinge unter der Zahl der zweifelhaften."

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Das ist Nachklang kartesianischer Sprache. Das kommende Jahrhundert der Aufklärung zeigte, wie begründet Bossuets Befürchtungen waren: Aus dem metaphysischen Zweifel Descartes' wurde eine antimetaphysische Skepsis; aus der relativen Indifferenz gegenüber den Dogmen wurde eine bis zur Gehässigkeit sich steigernde antichristliche Irreligiosität einiger atheistischer Philosophen; aus dem Mißbehagen an der Unvernünftigkeit der geschichtlichen Welt kam schließlich die Neigung, der Menschheitsgeschichte einen vernünftigen Sinn beizulegen, an den Fortschritt zu glauben, die Göttin Raison auf den Thron zu erheben — Reaktion auf die Erfahrung, daß in der Geschichte kein rechter Sinn waltet. Mit andern Worten: Auf Descartes folgten im Zuge solcher Entwicklungen ein Voltaire, ein Rousseau, ein Diderot; auf das politische Ende bezieht sich Michelets berühmter Satz: „Qui a fait la Revolution franfaise?" — „Descartes". Aber erst das 19. Jahrhundert schuf einen Descartes-Mythus, worüber Hugo Friedrich die letzten Seiten seines Essays über „Descartes und der französische Geist" geschrieben hat. Die Linie geht von Victor Cousin bis Emile Boutroux. Die ersten zwei Drittel unseres Jahrhunderts haben wieder andere Züge in das Antlitz des „ewigen Kartesianismus" eingezeichnet; sie versuchen, seine Bedeutung und Tragweite in modernem Lichte zu sehen, so wenn Andre Bridoux im Vorwort zu der DescartesAusgabe der Pleiade auf 3 Punkte hinweist: Mit Descartes, dessen Leitstern die lumiere naturelle und nicht das Licht religiöser Offenbarung ist, und dessen philosophische Triebfeder die generosite intellectuelle, also eine Art intellektueller Redlichkeit, ist, — mit ihm setzt eine Philosophie des Bewußtseins der Freiheit ein, die für unser Jahrhundert charakteristisch wurde. Zum zweiten wendet sich Descartes' Philosophie an alle Menschen, die denken und ihr Leben bewußt führen wollen. Er unterwarf sich nicht der Autorität der Alten, sondern forschte selbst; er akzeptierte nicht die Moral Senecas, weil es Seneca, ein Gewährsmann der Ethik, war, sondern suchte selbst zu erfahren und zu erkennen, was Moral sei. Jenseits historisch bedingter Formen suchte er nach der Substanz der Dinge. Zum dritten hat er den Blick der Menschen auf die Bedeutung der Mathematik und der Naturwissenschaften gelenkt. Es ist hier nicht die Frage, was von Descartes' eigenen Forschungen geblieben ist, sondern entscheidend ist, daß seine mathematisch-naturwissenschaftliche Denkweise die Loslösung von der Scholastik bewirkt und die Wege zu neuzeitlichem Forschen und Philosophieren geebnet hat. Andererseits ist nicht zu ver-

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kennen, daß die Zeit von ihm fortgerückt ist. Seine eigentlichen und permanenten Feinde werden sich immer aus zwei Lagern zusammenfinden: Dem Lager derjenigen, denen entweder mathematisches Denken verschlossen ist, oder dessen Anwendung auf Methodik und Philosophie ablehnen, und dem Lager der andern, die, wie einst Bossuet und Pascal, als überzeugte Christen, d. h. Anhänger einer Offenbarungsreligion, unter Berufung auf die offenbarten Wahrheiten im kartesianischen Zweifel und Individualismus die gefährlichste Häresie erkennen.

Blaise Pascal Descartes' intelligentester Gegenspieler war Blaise Pascal (1623 bis 1662). Frankreich besaß in ihm neben Descartes und Fermat den größten Mathematiker Europas, den scharfsinnigsten Seelenanalytiker des Jahrhunderts neben Racine und La Rochefoucauld — und zweifellos nach Augustin und Luther das dritte christlich-religiöse Genie des Abendlandes. D a ß er außerdem eine Sprache von exzeptioneller Ausdruckskraft schrieb, machte ihn zugleich zu einem der größten Prosaschriftsteller Frankreichs im 17. Jahrhundert. E r ist eine Generation jünger als Descartes. Seine kurze Lebenszeit verlief in der Epoche Richelieus und Mazarins. Als Richelieu die Leitung der französischen Politik 1624 übernahm, war Pascal 1 J a h r alt; als Ludwig X I V . seinen Ministern erklärte, er werde künftighin die Regierung selbst führen (1661), war Pascal gerade noch 1 Lebensjahr geschenkt. Seine Familie, die dem in den Adel erhobenen Bürgerstand angehörte und aus der Auvergne stammte, hatte sich im Laufe der Ereignisse mit Richelieus autoritärer Regierungsweise abgefunden und galt politisch als zuverlässig, wenn auch Blaise selbst Männern wie La Rochefoucauld und dem Chevalier de M£re und andern Persönlichkeiten aus dem Kreis der Widerstandsbewegungen nahe stand. Die Hellsichtigkeit, mit der er später das Problem von Macht und Recht aufgriff, mochte in seinen frühen Lebenserfahrungen in der Welt der politischen Ereignisse seinen Ursprung haben. Die Familie siedelte nach Rouen über. Die Heimatstadt Corneilles, dessen Familie die Pascals kannten, war damals eine höchst lebendige Stadt, von sozialen Unruhen bewegt, von Streitgesprächen zwischen Theologen und Bürgern erfüllt, und stolz auf ihren alten Handelsgeist. Mit 24 Jahren zog Pascal nach Paris. Dort fand der junge Mann, dessen

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mathematische Entdeckungen ihn schon mit 15 Jahren berühmt gemacht hatten, den dreifachen Umgang, den er mit wechselndem Interesse bis zu seinem Lebensende pflegte: das Gespräch mit den Mathematikern und Physikern, den Verkehr mit den Geistlichen und einer Eliteschicht der christlichen Welt, den Jansenisten, und den Umgang mit der höchsten Gesellschaftsschicht von Paris, welcher etwa der Herzog von Roannes, der Chevalier de Mere, Madame de Sable angehörten. Am Ende seines Lebens, eines mondänen Lebens und eines Gelehrtendaseins, aber auch einer von Leidenschaften durchfurchten Existenz, faßte er den Entschluß, Christum nachzufolgen. Er entledigte sich alles dessen, was er besaß und widmete sich dem Dienst an den Armen und Kranken. Schon ein Totgezeichneter, äußerte er den Wunsch, man möge ihn zu den Unheilbaren legen, um seinen Platz und die ihm angediehene Pflege einem Armen zu überlassen: Ein Leben, das in der Glorie des Weltenruhms als Mathematiker begann, durch alle Etappen einer mondänen Existenz hindurchging und in der Glorie fast eines Heiligen endete. 1. Pascal war ein mathematisches Wunderkind. Es wird ewig unbegreiflich bleiben, wie der Zwölfjährige mit seinen „Stangen und Rädern" bis zur Nachschöpfung des 32. Lehrsatzes von Euklid gelangte. Dem Vater entlockte diese Begabung Tränen der Freude und des Staunens, und als der kleine Blaise gar fortfuhr, eine bestimmte Methode zu entwickeln und mit 16 Jahren seinen Versuch über die Kegelschnitte folgen ließ, wandte sich ihm die Bewunderung der Kenner zu. Der Mathematiker Desargues selbst, dessen Kegelschnittarbeiten dem Versuch Pascals zugrunde lagen, verneigte sich vor dieser Leistung des Jungen und nannte den Hilfssatz, aus dem sich die Lehrsätze ableiten ließen, „La Pascale". Um diese Zeit wurde Pascals Vater als Intendant nach Rouen berufen. Blaise begleitete ihn und stand ihm bei dessen schwierigen Finanzberechnungen zur Seite. Die Zeit war reif, daß ein erfinderischer Kopf das Problem einer Mechanisierung des arithmetischen Kalküls angriff. Es lag in der Luft. Die Entdeckungen im Bereich der Astronomie führten eine Reihe immer komplizierter werdender numerischer Probleme herauf, während die Entwicklung des Handels in der neuen bürgerlichen Gesellschaft nicht weniger zur Erledigung der Bankoperationen und der öffentlichen Finanzverwaltung einer Reform des Rechnungswesens bedurfte. So verwundert es nicht, daß zu gleicher Zeit wie Pascal auch andere das Problem der Mechanisierung der 4 Rechnungsarten aufgriffen: Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division. Zu den Experimentatoren gehörte der Tübinger

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Orientalist Wilhelm Schickard, der in einigen Briefen an Joh. Kepler ( 1 6 2 3 — 2 4 ) eine von ihm erfundene arithmetische Rechenmaschine beschreibt. Schickard hat offenbar an seiner Erfindung nicht weitergearbeitet, während Pascal das Verdienst zukommt, die wahrscheinlich unabhängig von Schickards Modell durchkonstruierte eigene Maschine auch in Umlauf gebracht zu haben. Jeder Interessent kann die von Pascal verfaßte Gebrauchsanweisung lesen; sie beginnt so: „Freundlicher Leser: Diese Gebrauchsanweisung wird dazu dienen, dich mit einer Maschine meiner Erfindung bekannt zu machen, mittels deren du mühelos alle arithmetischen Operationen ausführen und dir die Arbeit sparen kannst, die deinen Geist sonst mit den Rechenmarken und der Feder ermüdet hat."

Man muß sich vorstellen, daß damals alle rechnerischen Aufgaben noch am Rechenbrett mit den Rechenmarken oder als „calcul ä la plume" gelöst werden mußten. Es heißt weiter bei Pascal: „ . . . Zu dieser Erfindung verwandte idi mein ganzes Wissen, das ich mir durch meine Neigung (zur Mathematik) und die Arbeit meiner ersten Jahre erworben hatte. Nach einer vertieften Überlegung begriff ich, daß eine solche (Rechen)-hilfe nicht unmöglich aufzufinden war. Die Einsichten in die Geometrie, die Physik und die Mechanik stärkten mein Vorhaben und gaben mir die Sicherheit, daß die Masdiine bei ihrem Gebrauch unfehlbar sei, wenn nur ein Handwerker das Instrument so ausführen würde, wie idi mir das Modell erdacht habe."

Erst nach den Konstruktionen von 50 Modellen — eine Riesenarbeit, die ihn oft entmutigte — hat er mit Hilfe von Stangen, Walzen und Kegeln und einer Kombination kreisförmiger, konischer und zylindrischer Bewegungen das Resultat erreicht: .„ . . la machine mise en £tat de faire avec eile seule, et sans aucun travail d'esprit, les operations de toutes les parties de l'arithmetique." Pascal dachte auch an den Vertrieb. Es ist kurios, wie er in dem „Avis" zu seiner Masdiine die interessierte Kundschaft auffordert, sich von dem berühmten Mathematiker Roberval das Modell vorführen zu lassen: „Er empfängt alle Tage bis 8 Uhr und sonnabends den ganzen Nachmittag." Pascal erhält das kgl. Patent am 22. Mai 1649 und das ausschließliche Monopol der Herstellung und des Verkaufs. Unter andern Persönlichkeiten hat er auch der Königin Christine von Schweden seine Maschine angeboten. Mit der Erfindung der „ Additionneuse" (oder „machine arithmetique") war der Weg beschritten, auf dem in den folgenden Jahrhunderten die Entwicklung über Leibnizens Multiplikationsmaschine (1672) und die

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Konstruktionen von Morland, Perrault, Thomas von Colmar bis zu den elektronischen Rechenmaschinen unserer Tage sich vollziehen konnte. Auf diese Jahre folgten weitere Perioden seiner mathematischen und naturwissenschaftlichen Tätigkeit. Vieles von dem, was er sich durch eigene Hypothesen und Experimente erarbeitete, lag in der Luft. Aber er hob die vereinzelten, ζ. T. halbwahren Lehrsätze durch strenge Analyse und Beweise in die Geschlossenheit eines größeren Zusammenhangs. So interessant dieser ganze Wirkungsbereich Pascals ist, wir können ihn hier im einzelnen nicht analysieren; aber er sollte einmal als Ganzes im Zusammenhang einer Geistesgeschichte der angewandten Mathematik behandelt werden. Freilich mußte Pascal am Ende seines Lebens erfahren, daß manche seiner Behauptungen neueren Experimenten nicht standhielten. Das führte ihn aber nicht in eine Verzweiflung, geschweige denn in den Zweifel an der Mathematik und der Gesetzmäßigkeit der Naturwissenschaften, sondern nur zu der Erkenntnis, daß die Natur eben reicher ist als die Wissenschaft über sie. Am Ende konnte er auf ein großes Leben — und w a r es auch zeitlich noch so kurz — als Mathematiker und Naturwissenschaftler zurückblicken: Es bleiben seine Arbeiten über die Kegelschnitte, es bleibt der Wert seiner Experimente zur Höhenmessung des Luftdrucks, sein epochemachender Traktat über den horror vacui, seine mathematisch-mechanistische Leistung der Rechenmaschine und die Infinitesimalrechnung. All das bleibt — nicht im Sinne endgültiger Lösungen, die es nicht gibt, sondern als geniale Weiterbildung ältester und neuester Probleme der Mathematik, Physik und Mechanik. 2. Pascal schrieb einige Sätze auf ein Blatt Papier, die zu Mißdeutungen geführt haben, als sei eine neue Periode seines Lebens aufgebrochen, welche die erste für ungültig erklärt hätte. „Idi hatte viel auf das Studium der abstrakten Wissenschaften verwandt, und der geringe Kontakt mit der Welt und den Menschen, den man durch sie erlangt, hatte mich ihrer überdrüssig gemacht. Als ich mich dem Studium des Menschen zuwandte, sah ich, daß diese abstrakten Wissenschaften dem Menschen nicht gemäß sind . . . Ich glaubte durch das Studium des Menschen wenigstens eine Menge neuer Freunde zu finden, und w a r überhaupt der Ansicht, daß erst dieses das dem Menschen gemäße Studium sei."

Hat Pascal die Mathematik an den Nagel gehängt, um ein zweiter Montaigne zu werden, den er so hoch schätzte? Keineswegs. Er blieb bis ans Ende seines Lebens Mathematiker, nur verdrängten in Zeiten psychischer Krisen andere Beschäftigungen die mathematischen Probleme. Pascal war um diese Zeit, da er der Wissenschaften „überdrüssig" wurde,

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in eine Krise geraten. Es war einsam um ihn geworden. E r suchte Zerstreuung in der Gesellschaft und fand sie im Umgang mit dem Herzog von Roannes, dem Chevalier de Μ&έ, mit L a Rochefoucauld, also dem Kreis der „Moralisten", Skeptiker und philosophischen Freigeister, der „libertins" und „esprits forts", denen gelebtes Leben und Welterfahrung interessanter waren als offenbar ergebnislose Spekulationen über den verborgenen und unerkennbaren Gott. Pascal war ihnen als Psychologe und Moralist verwandt. D a lenkten mehrere Ereignisse sein Denken in eine religiöse Richtung: der Tod des Vaters, die Hinwendung seiner Schwester Jacqueline zum Jansenismus, das Gefühl der eigenen Leere . . . Als er nach Paris gekommen war, galt sein erster Besuch Port-Royal. Ein sich vertiefendes religiöses Bedürfnis ließ ihn die Nähe zu dieser religiösen Gemeinschaft suchen, vielleicht, daß er die innere Ruhe fände, die von ihm gewichen war: „Weit davon entfernt, andern genug Erleuchtung gebracht zu haben, habe ich nur Verwirrung und Unruhe über mich selbst gebracht, die Gott allein zu beschwiditigen vermag. Ich betone: die Gott allein zu besdi wichtigen vermag . .

Aber er fand diese Ruhe nicht; vielmehr verstrickte er sich um so unwiderstehlicher in jene „schrecklich-starken Bande", von denen er zu seiner Schwester sprach — Leidenschaften der Liebe, denen bitteres E r wachen folgte. Jacqueline schildert die Krise in einem Brief an die Schwester M m e Parier: „ . . . Blaise gestand mir, daß er inmitten einer sehr ausgedehnten T ä t i g k e i t . . . so sehr danach trachte, all dies aufzugeben — einerseits, weil er von den Torheiten und Freuden dieser Welt eine äußerste Abneigung besäße, und dann, weil ihm sein Gewissen ständig Vorwürfe mache . . . E r gestand aber überdies, daß er sich von Gott verlassen vorkomme, daß er von dorther keine Anziehung verspüre, daß er sich trotz alledem mit seiner ganzen Kraft ihm zuwende, wobei er sehr wohl wisse, daß mehr seine Vernunft und sein eigener Geist ihn zu dem trieben, was er als das Beste erkannt habe, aber nicht etwa ein leiser Ruf G o t t e s . . ( 2 5 . Januar 1655)

Also Enttäuschung der Welt, der R u f des Gewissens, das Schweigen Gottes, und noch immer das herrschaftliche Regiment seines Geistes, jedoch schon der Wille zur Demut, wenn der göttliche Anruf käme . . . In dieser Disposition seelischer und physischer Spannungen brach die Nacht der Offenbarung herein. Das Dokument, das sich auf diese Nacht bezieht, wurde nach seinem Tode in seinen Kleidern gefunden:

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„Das J a h r der Gnade 1654. Montag, den 23. November . . . F E U E R . Der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs. Nicht der Philosophen und Gelehrten. Gewißheit. Gewißheit. Lebendiges Durchdrungensein. Freude. Frieden. Der Gott Jesu Christi. Deum meum et Deum vestrum . . . Vergessen der Welt und alles andern außer Gott. E r ist nicht zu finden, es sei denn auf Wegen, die das Evangelium bezeichnet. G R Ö S S E D E R M E N S C H L I C H E N S E E L E . Gerechter Vater. Die Welt hat Dich nicht erkannt. Aber ich habe Didi erkannt. Freude. Freude. Freude. Tränen der Freude. Ich habe midi von ihm getrennt dereliquerunt me fontem aquae vivae. Mein Gott, Du willst midi verlassen? daß ich doch nidit ewig von ihm getrennt würde! Jesus Christus . . . Jesus Christus . . . V Ö L L I G E R SÜSSER V E R Z I C H T . "

Man sollte meinen, Pascal sei nach dieser Erleuchtung in Port-Royal eingetreten, um den Rest seines Lebens in der Weltabgeschlossenheit den Weg zu Gott zu gehen. Aber Tatsache ist, daß er nicht zu Port-Royal gehörte. E r blieb in der Welt. 3. Was hatte es mit der Lehre der Herren von Port-Royal auf sich? Was verband einen Pascal mit den Jansenisten, und welche Bedeutung gewann diese Berührung für das große Problem, das sich einem Pascal auftat, das Problem Welt und Christ? Diese religiöse Bewegung des französischen 17. Jahrhunderts, die einem Bossuet und Ludwig X I V . so viel Sorge bereitete, leitete ihren Namen von Cornelius Jansen her. Dieser, Bischof von Ypern, hatte 1640 ein Werk „Augustinus" veröffentlicht. Die jansenistische Bewegung ist in der T a t eine Renaissance des hl. Augustinus, in der auch Elemente des lutherischen Protestantismus wirksam waren. Den Jansenisten lag indessen jede Häresie und Heterodoxie fern. Ihre religiöse Erneuerung wollte sich in den vorgeschriebenen Grenzen der katholischen Staatsreligion halten. Dennoch wurde sie der Kirche verdächtig, und einige Grundanschauungen der Jansenisten liefen den Jesuiten zuwider. Die Jansenisten waren überzeugt, daß die menschliche Natur von Grund auf verderbt und daß die Welt grundsätzlich und notwendig böse ist. Der gute Wille allein ist ohnmächtig, den Menschen zum Heil zu führen, wenn die Gnade nicht dazukommt. Des Menschen Kondition ist die radikale Ohnmacht. E r kann die Gnade nicht erlangen, wenn er von Gott nicht dazu prädestiniert ist. So steht diese Anschauung derjenigen kirchlichen Lehre entgegen, gemäß welcher jeder Mensch wenigstens die Chance hat, durch den guten Willen und die guten Werke sich die Gnade zu verdienen. Die absolute Überzeugung von der radikalen Ohnmacht des

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Menschen mußte zur Quelle ständiger Angst um das eigene Seelenheil werden; denn der sündige Mensch sah sich vor der Unmöglichkeit, in der verderbten Welt das Gute im Sinne Gottes zu tun, und war doch nicht weniger für seine schlechten Taten verantwortlich. Was einen Pascal zu den Jansenisten hinzog, war die realistische Schärfe ihres Menschenbildes und die Geradheit ihres religiösen Denkens; es war der Abscheu, den Pascal selbst gegen jede Art Lauheit in Dingen des Absoluten hatte. In der Tat war der Kreis um Saint-Cyran vor allem den Jesuiten abhold, weil deren Morallehre ein menschliches Arrangement mit Gott ermöglichte. Die Jansenisten steuerten einen harten Kurs. Die Jesuiten hatten eine weichere Hand. Beide aber hatten gleichermaßen tiefe Einblicke und Erkenntnisse im Bereich der menschlichen Seele und der condition humaine. Aber die einen überspannten den Bogen ihres kategorischen Imperativs in Angelegenheiten des Glaubens, die andern machten der natürlichen Schwäche des Menschen vielleicht zu bedenkliche Konzessionen im Bereich der religiösen Pflichten. Die Jansenisten hatten kein fixiertes Glaubensbekenntnis. Die Theologen der Sorbonne witterten dennoch Gefahr. Die Fakultät ließ an Hand des „Augustinus" von Jansenius fünf Leitsätze zusammenstellen und überreichte sie dem Papst. Nachdem die Sätze von Rom verurteilt worden waren, gingen die Jansenisten zur Verteidigung über; denn sie konnten innerlich von der Wahrheit dieser Sätze nicht lassen, zumal ihr Inhalt in Übereinstimmung mit den Gedanken der hl. Kirchenväter war — und sie mußten sich dennoch, da sie auf dem Boden des römischen Katholizismus bleiben wollten, der Verurteilung fügen. Um im Strudel der Ereignisse ihren eigenen Lebens- und Glaubensgrund nicht zu verlieren, setzten die Herren von Port-Royal die ganze Kraft ihrer Dialektik ein. D a erschien ihnen Pascal, der zwar nicht zu ihrem Kreis gehörte, den sie aber innerlich zu den besten ihrer Köpfe zählten, der geeignete Mann, ihre Sache zu verfechten. Sie hatten von Papst und Kirche das Schlimmste zu befürchten. Die Gefahr der Verfolgung wuchs. Die Gemeinde wandte sich an Pascal, den weithin berühmten Gelehrten von hohem Ansehen, er möge sich zum Anwalt ihrer Sache machen. Pascal stimmte zu. Aber er war weder ein dialektischer Theologe noch ein theologischer Dialektiker, ja er war nicht einmal mit dem ganzen Umfang der Materie vertraut, mußte sich erst informieren und instruieren. Die Jansenisten verschafften ihm eine Fülle Literatur, in der er die Kasuistik der Jesuiten studieren konnte. Mit der ihm eigenen Hellsichtigkeit für das Wesentliche

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arbeitete er sich intensiv und mit Anteilnahme an der Sache in die Prob l e m e ein. D a s E r g e b n i s w a r e n die „Lettres

escrites par Louis de

Montalte

a tin Provincial de ses Amis", kurz „Lettres Provinciales" genannt. Sie kamen in kurzen Abständen nacheinander heraus. Die 1. erschien Ende Januar 1656, die letzte, 18., Mitte Mai 1657. Obwohl die allgemeinen Thesen dieser „Briefe" nichts Neues in der theologischen Kontroversenliteratur der Zeit waren und die Argumente, deren sich Pascal bedienen konnte, seit 20 Jahren zur Hand waren, so wurde dennoch, dem Urteil Adams zufolge, diese Diatribe gegen die jesuitische Moral wegen der Bedeutung der diskutierten Prinzipien „eines der großen Ereignisse unserer Geschichte" (II, 259). Pascal führt das Theologengezänk der Sorbonne ad absurdum. Das war ein Mittel der Verteidigung des großen Jansenisten Arnauld, dessen Thesen als Häresie verurteilt wurden, obwohl nachweisbar war, daß die beanstandeten Sätze alle, wörtlich oder dem Inhalt nach, im Hl. Augustin und im Hl. Chrysostomos standen. Schon die ersten „Briefe" erregen Aufsehen. Die polizeilichen Verfolgungen beginnen. Pascal kommt in Fahrt. Am Schluß des 3. Briefes kann er resümieren: „Ce sont des disputes de th^ologiens et non pas de thiologie." Er beweist, daß es nicht um die vermeintlichen Häresien Arnaulds geht — was lächerlich ist, da es gar keine sind —, sondern um die Vernichtung seiner Person. „II (Arnauld) n'est pas h^retique pour ce qu'il a dit ou icrit, mais seulement pour ce qu'il est M. Arnauld." Pascal raisonniert als Mathematiker, taktiert mit den ihm an die Hand gegebenen Argumenten, entlarvt die mangelnde Denkfähigkeit der Gegenseite — oder, was auf dasselbe hinausläuft: ihren bösen Willen —, und enthüllt die jesuitischen Spekulationen über die mehrfachen Arten der Gnade — grace süffisante, grace efficace, grace actuelle usw. — als Spitzfindigkeiten und Spiegelfechtereien, deren Sinn kein einfaches Christengemüt begreifen kann. Wie er die Doktoren sich in den Dialogen hoffnungslos verwirren läßt, daß sie in ihren Disputen am Ende gar nicht mehr wissen, worüber sie eigentlich diskutieren, das ist schon beste Komödienkunst, welche die Zeitgenossen eines Moliere auszukosten wußten. Der Zweck der „Briefe" wurde immer mehr erreicht, sagte doch Pascal selbst: „Ich habe geglaubt, in einer Art schreiben zu müssen, die meine .Briefe' auch den Frauen und Weltleuten zugänglich macht, damit diese die Gefahr aller

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jener Maximen und Lehrsätze erkennen könnten, die sich damals verbreiteten und die Gemüter leicht gefangen nahmen." Geben wir ein Beispiel. Es geht um die angeführten Begriffe der Gnade aus der 2. „Lettre". D a erzählt Pascal eine Geschichte von einem Manne, der auszog, eine Reise zu machen. E r wird unterwegs von Räubern überfallen und halb totgeschlagen. D a ruft er 3 Ärzte aus den benachbarten Dörfern herbei: Der erste sondierte die Verletzungen, erachtete sie als tötlich und erklärte ihm, daß nur Gott ihm die verlorenen Kräfte wiedergeben könne. Dann kommt der zweite; der will ihm Gutes tun und meint, der Arme hätte noch genügend Kräfte, um wieder nach Haus zu gelangen. Er wendet sich gegen die Ansicht des ersten Arztes. In diesem Zustand der Ungewißheit bemerkt der Verletzte von fern den dritten Arzt. Er streckt ihm die Arme entgegen wie jemandem, von dem er eine Entscheidung erwarten kann. Der schaut sich die Verletzungen an und stimmt dem zweiten Arzt zu. Beide verbünden sich gegen den ersten und verjagen ihn mit Schimpf und Schande; denn sie waren zahlenmäßig die Überlegenen. Der Verletzte kommt zu dem Schluß, daß der dritte Arzt der Meinung des zweiten ist. Tatsächlich erklärt ihm dieser, daß seine Kräfte zur Heimkehr ausreichen. Aber der Arme fühlt sein Unvermögen zu gehen und fragt den Arzt, wieso er seine Kräfte als hinreichend beurteilen könne. Der antwortet ihm: „weil Ihr noch Eure Beine habt. Die Beine sind die Organe, die natürlicherweise zum Gehen ausreichen." — „Aber habe ich denn die nötige Kraft, midi ihrer zu bedienen, da sie mir doch den Dienst versagen, wo ich gelähmt bin?" — „Gewiß nicht", entgegnet der Arzt, „und Ihr werdet nie gehen können, wenn Gott Euch nicht eine außerordentliche Hilfe zuteil werden läßt." — „Was!", erwiderte der Kranke, „ich habe also nicht die genügende Kraft, nun wirklich wieder laufen zu können?" — „Aber nein", sagt der Arzt, „Ihr seid weit davon entfernt." — „So seid Ihr also", entgegnete der Arme, „nicht der Meinung Eures Kollegen hinsichtlich meines wahren Zustands?" — „Ich gestehe es", antwortete der Arzt. Was glauben Sie wohl, hat der Kranke nun gesagt? Er beklagte sich über die merkwürdige Prozedur und die Zweideutigkeiten des dritten Arztes. Er tadelte ihn, daß er sich mit dem zweiten verbündet habe, dessen Meinung er im Grunde garnidit teilte . . . indessen er in Wirklichkeit der Ansicht des ersten Arztes war, obsdion er diesen verjagt hatte. — Der Unglückliche versuchte noch einmal seine Kräfte, aber überzeugte sich von seiner Ohnmacht. Darauf schickte er die beiden Ärzte fort und rief den ersten wieder herbei. Er folgte dem Rat dieses Arztes und bat Gott, er möge ihm die Kräfte wiederschenken, die er verloren zu haben bekannte. Er fand Erbarmen und gelangte mit Gottes Hilfe in sein Haus zurück. In den Briefen 5 — 8 rechnete Pascal mit der kasuistischen Moral der Jesuiten ab; er empfand sie als skandalös; die Jesuiten erwiesen sich als Meister in der Kunst, die Entscheidungen der Päpste und Konzilien nach ihrem Interesse zu drehen und zu wenden; er zeigte, wie sie die H l . Schrift

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eigenwillig auslegten und sogar alles, was ein honnete homme mit Abscheu von sich wiese wie Wucher, Übertretungen aller Art, j a sogar Mord, gegebenenfalls duldeten, sofern derartige Mittel

die Zwecke

heiligten.

V o r solcher Moral bemächtigte sich Pascals ein wahrhafter Furor. Denn er glaubte an eine allgemein gültige und verbindliche Moral wie er an eine ewig-gültige Wahrheit glaubte. Uberließe man es den Theologen, die Gesetze moralischen Verhaltens zu bestimmen, dann anerkenne man die Suprematie einer intellektuellen Gelehrsamkeit über dem „sentiment" des schlichten, gläubigen Herzens. Pascal ist eine Institution verdächtig, die sich als einzige Gnadenspenderin und als alleinigen Weg zu G o t t auffaßt. Zudem spürt er hinter den Thesen der Kasuisten eine soziale Ungerechtigkeit, die es einigen Menschen dank ihrer Stellung und ihres Vermögens ermöglicht, jenseits der Gesetze zu stehen, während die andern, die Armen, die H ä r t e des Gesetzes trifft. Wenn diese außerreligiösen Erwägungen auch nicht das Wesentliche der „Briefe" waren, so bekamen sie doch ihre eigentümliche soziale und politische Bedeutung. In ihnen sammelte sich Zündstoff an, dessen sich die bürgerlichen K r ä f t e zu gegebener Zeit bedienen konnten, um die solidarischen Mächte der absoluten Monarchie und der machiavellistischen Jesuitenherrschaft zu sprengen. H i e r bereitete sich ein K a m p f vor, der im 18. Jahrhundert zur Vertreibung der Jesuiten aus Frankreich führte. „Es ist ein seltsamer und langer K r i e g " , schreibt Pascal, „in dem die Gewalt versucht, die Wahrheit zu unterdrücken." Heute stehen Pascals „Pensees" höher im Kurs als seine „Lettres provinciales". Nicht so im 17. Jahrhundert. Was hätte Bossuet darum gegeben, sie geschrieben zu haben! Wie beurteilte sie Madame de Sevigni: „Bisweilen lesen w i r " , schreibt sie an ihre Tochter, „die ,Petites Lettres' . . . Mein G o t t ! Was für ein Z a u b e r . . . K a n n man sich einen vollkommeneren Stil vorstellen, einen feineren, natürlicheren taktvolleren Spott, eine würdigere Nachkommenschaft der schönen Dialoge Piatons?" (21. Dez. 1689). U n d ein Kenner wie Racine, der Jansenist war, aber die Theaterfeindlichkeit ihrer Partei natürlich nicht teilte, sieht in den „Lettres" eine tiefsinnige Komödie, worüber „die ganze Welt sich eine zeitlang amüsiert hat, daß audi der strengste Jansenist wohl die Wahrheit verraten würde, wenn er selbst nicht auch einmal (bei der Lektüre) gelacht hätte." Die Gedanken, eine Apologie des Christentums zu schreiben, gehen bei Pascal schon auf das J a h r 1 6 4 7 zurück. E r war 2 4 J a h r e . Bis zu seinem

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Tode arbeitete er an dem Werk. Die „Pensees" sind Fragmente, deren Herausgabe allein eine ganze Geschichte für sich ist; denn es handelte sich bei dem Nachlaß um ein Chaos von Papieren, um einzelne Zettel, oft nur um Stichworte, um kleine Notizen, die schwer zu lesen sind, manchmal auch nur um Hinweise auf Lektüre, dazwischen eingestreute persönliche Mitteilungen; anderes scheint wiederum endgültig redigiert, anderes die „Provinciales" betreffend. Die Editionen reichen von der 1. Ausgabe von Port-Royal 1669 über die von Condorcet (1770) und dem Abbe Bossuet (1779) zu den Editionen des 19. und 20. Jahrhunderts: Cousin, Faugere, Brunschvicg, Tourneur, Lafuma. Fest steht, daß es Pascals Absicht war, die atheistischen Esprits forts, deren Stärke und Schwäche er kannte, mit unwiderlegbaren Argumenten und in ihrer Sprache zur christlichen Religion hinzuführen. E r selbst verkehrte freundschaftlich, auch nach seiner Konversion, mit „Freigeistern" wie Mitton und ΜέΓέ. E r weiß, daß es Ungläubige gibt, daß Atheismus eine zu seiner Zeit verbreitete intellektuelle Haltung ist, und daß sidi ein christlicher Rationalismus aus der Struktur des scholastisierten Aristoteles entwickelt hat. Wer die scheinbar so festgefügte Struktur des kosmischen Weltbildes der aristotelischen Antike kennt und wie dieses bis zum Durchbruch des heliozentrischen Weltbildes mit Copernicus und über ihn hinaus noch Gültigkeit hatte, versteht, wie entscheidend bei Pascal die mathematisch-physikalische Spekulation der beiden Unendlichkeiten für das religiöse Welt- und Menschenbild werden mußte. a) Wo die aristotelische Scholastik dem Menschen einen H a l t in dem physikalisch und geistig sinnvoll aufgeschichteten Universum gab, so daß die Kirchenlehre sich mühelos in dieses rationale Gehäuse einsdimiegen konnte, da löste Pascal die terra firma als Illusionsgebilde auf: „Nous voguons sur un milieu vaste, toujours incertains et flottants." Wir schwimmen zwischen dem Unendlichen und dem Nichts umher, befinden uns wie in einem Schwebezustand zwischen den beiden Polen des unendlich Großen und des unendlich Kleinen. Um diesen kosmischen Gedanken kreisen die farbigsten, poetischsten Bilder der „Pensees". E r ist der Schlüssel zum Verständnis ihrer weitaus größten Anzahl. Aus der berühmten 72. Pens£e über die „Disproportion de l'Homme" seien nur einige Sätze zitiert: „Der Mensch betrachte also die ganze N a t u r in ihrer hohen und vollen Majestät; er wende seinen Blick von den niedrigen Dingen ab, die ihn umgeben . . . Die Erde erscheine ihm wie ein Punkt im Vergleich mit der weiten Bahn, die

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dieses Gestirn (die Sonne) beschreibt, und er staune darüber, daß diese weite Bahn selbst nur ein sehr feiner Punkt ist im Vergleich mit der Bahn, die die Gestirne umschreiben, welche im Firmament kreisen . . . E r soll in dem ihm bekannten Bereich die winzigsten Dinge untersuchen . . . Ich will ihm nicht nur das sichtbare Weltall ausmalen, sondern die Unermeßlichkeit, die man im Innern dieses Bruchteils von einem Atom begreifen kann. E r möge in diesem Atom eine Unendlichkeit von Welten sehen, von denen jede ihr Firmament, ihre Planeten, ihre Erde hat und alles im gleichen Verhältnis wie die sichtbare Welt . . . Er möge sich in diese Wunder versenken; sie sind in ihrer Kleinheit ebenso erstaunlich wie jene andern durch ihre Weite . . . Was ist schließlich der Mensch im Universum? Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein Alles vor dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und Allem. Unendlich weit davon entfernt, die Extreme zu begreifen, sind ihm das Ende der Dinge und ihr Ursprung verborgen in einem undurchdringlichen Geheimnis."

Wer mit der italienischen Renaissancephilosophie, besonders mit ihrem Piatonismus und Neuplatonismus, vertraut ist, weiß, daß nicht nur die Vorstellung von einem Atom als einem eigenen Universum, etwa bei Giordano Bruno, ausgesprochen war, er weiß auch, daß in der catena aurea der Piatonfamilie des Abendlandes die Idee der Unendlichkeit im Symbol des Kreises oder der Kugel immer wieder auftaucht. Deus est sphaera, cujus centrum est ubique, circumferentia nusquam. Wenn eine Kugel entgegen ihrer Definition dergestalt vorgestellt wird, daß ihr Mittelpunkt überall, ihre Oberfläche aber nirgends ist, dann ist in diesem selbst unbegreifbaren Gebilde die Unendlichkeit ausgedrückt. Das unendlich Große aber fällt mit dem unendlich Kleinen zusammen. Die coincidentia oppositorum war schon ein Grundgedanke des Nikolaus von Kues, und Pascal notiert: „Ces exträmites se touchent et se räunissent ä. force d'etre έloignees, et se retrouvent en Dieu, et en Dieu seulement." Der Kreis schließt sich, und im Kreis fallen die Gegensätze zusammen, und Gott ist der Kreis. Der Kreis ist sein Denkmodell. Das hat eine lange Geschichte, die mit der antiken Weisheit Heraklits beginnt und über das Johannes-Evangelium zu den Mystikern des Mittelalters führt; von dort verzweigt sie sich in den Piatonismus der europäischen Renaissancephilosophie, und bildet eine Gegenströmung zu dem kartesianischen Rationalismus des 17. Jahrhunderts. Die Frontstellungen Pascals zeichnen sich ab. Die vernunftbegründete Evidenz, mit der Descartes philosophisch arbeitete, erscheint ihm unsinnig. Was sollen ihm die Gottesbeweise der Rationalisten? „Nous ne connaissons ni l'existence, ni la nature de Dieu." Ja, sagt Pascal, wir sind unfähig zu soldi metaphysischer Erkenntnis. Von der Evidenz Gottes zu sprechen

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wie Descartes, ist nichts anderes als sich die Idee eines Gottes vorzumachen, der bestenfalls der Urheber der mathematischen Wahrheiten und der elementaren Weltordnung ist. Pascal verwundert sich über derartige rationale Spekulationen, wo doch Gott ein verborgener Gott, der deus absconditus, ist. Er bekämpft nicht nur den Rationalismus Descartes', sondern im vornherein jede romantische Gottesspekulation, die etwa in den „Wundern der Natur" die Offenbarung Gottes erspüren möchte. Es gab im 17. Jahrhundert eine ziemlich breite Strömung einer solchen mystischromantischen Theologie, die in der Schönheit der Welt, im Lauf der Gestirne, im Gesang der Nachtigall und in dem Bienenstaat „die Strahlen der Gottheit" erblidkte. „Les Rayons de la Divinite dans les Creatures" eines gewissen Morel erschienen 1656, zwei Jahre bevor Pascal die Provinciales begann. Pascal zerstört solche Illusionen, unter ihnen die größte: die Uberzeugung Descartes', wir könnten die Wahrheit erkennen, was ein Urvertrauen in die Raison voraussetzt. Die Allmacht der Raison aber ist eine Illusion. Wir haben noch ein anderes Organ als den Verstand, nämlich das Gefühl. Vom erkenntnistheoretischen Wert des sentiment waren viele Zeitgenossen Pascals überzeugt. Die berühmte Pascalsche Unterscheidung von esprit de geometrie und esprit de finesse, von raison und coeur ist nichts anderes als die unkartesianische Differenz zweier Erkenntnismethoden: Die eine ist ein rational-mathematisches Urteilsvermögen, die andere ein psychologisches; die eine bezieht sich auf die Welt der Physik, der Mathematik und anderer rational faßbarer Dinge, die andere auf den Menschen und seine Gefühlswelt und seelischen Regungen wie Leidenschaft, Liebe, Haß, die mit der messenden Methode der Mathematik nicht greifbar werden, sich wohl aber einer intuitiven Erkenntnis erschließen. Jedem Gebiet eignet seine spezifische Denkform und Erkenntnismethode. Wo also Descartes in seiner wissenschaftlichen Psychologie gescheitert ist, nämlich in der Beurteilung von Gefühlsentscheidungen, die mathematischer Erfassung entzogen sind, da öffnet Pascal einen zweiten Weg der Erkenntnis, indem er für die „choses de finesse" den „instinct", „coeur", „sentiment" als eine anders strukturierte Erkenntnisweise einführt. Darüber hat KarlAugust Ott in seinem Pascal-Aufsatz interessante Aufschlüsse gegeben. b) Die Kritik an einer exklusiv-rationalistischen Philosophie erstreckte sich auch auf andere Gebiete. In dem Maße wie sich Pascal in die jesuitische Kasuistik einarbeitete, ging ihm das politische Problem Welt und Christ auf. Bei der Analyse dieser bedeutungsvollen Frage, wie

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der Christ sich in der Welt verhalten solle, stoßen w i r wiederum auf eine eigenartig irrationelle Denkform, die in einer spezifisch augustinisch konzipierten Metaphysik wurzelt. Die Jansenisten selbst hatten keine politische Theorie entwickelt, sondern nur von der Haltung gesprochen, die ein Christ gegenüber der Welt einzunehmen habe: den Widerspruch zu ertragen, sich einerseits von der Welt innerlich zu lösen, sich ihr andererseits äußerlich zu unterwerfen. Folgen w i r mit Erich Auerbach der sich aus diesem Zwiespalt entwickelnden politischen Theorie. Der Christ hat kein Recht, die Welt zu verurteilen. Wie sollte er, da er sich im Stand der Sünde befindet, und da das Böse eben die Strafe ist, die Gott dem gefallenen Menschen zuerkennt? Was w i r das Unrecht der Welt nennen, ist Gottes eigene Gerechtigkeit. Wenn nun aber die Kritik an den als böse erkannten Einrichtungen der Welt verstummt, ist die Entstehung einer politischen Theorie eigentlich nicht möglich. D a brachen die Ereignisse herein, die Pascal zu denken gaben. Er erlebte, wie bei den Herren von Port-Royal eine heillose Krise ausbrach, als die Kirche, durch die weltliche Macht unterstützt und selbst weltlich handelnd, das Recht durch die Macht zerstörte, indem sie Gewissensz w a n g ausübte. Pascal ging das Problem unter drei Aspekten a n : Der eine Aspekt enthüllte das irdische Recht als ein nur gesetztes und im Grunde böses Recht; denn aus der fundamentalen Verderbnis des Menschen kann logisch auch nur Verdorbenes entstehen. In der Welt und im irdischen Recht herrschen nicht Vernunft und Gerechtigkeit, sondern Unvernunft und Ungerechtigkeit, oder mit andern Worten: Zufall, Gewalt, Leidenschaften. Davon zeugt die ganze Menschheitsgeschichte. Der zweite Aspekt erweist, daß die Macht des Bösen, also in unserm Zusammenhang das Machtrecht, von Gott so gewollt ist; es herrsdit mithin zu recht. Die Pflicht des Christen ist es, das menschlich empfundene Unrecht in der Welt zu erdulden, so w i e das Opfer Christi in freiwilliger Erduldung des Unrechts bestand. Christus hat sich der Staatsgewalt nicht entzogen, und die Staatsgewalt w a r insofern rechtmäßig, als sie mit irdischer Legalität u n d nach dem Plan der göttlichen Heilsordnung das Opfer vollzog. Wer nun in der Nachfolge Christi das Unrecht der Welt von der Staatsgewalt erleidet, ist dazu erhöht, an Christi Opfer wirklich teilzuhaben. In diesem Sinne hat Pascal vor dem weltlichen Recht einen unverfälschten Respekt.

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Der dritte Aspekt ist die Forderung an den Menschen, Gott über alles zu lieben, nicht eine Idee der Wahrheit, nicht eine Idee der Gerechtigkeit, nicht eine Idee des Guten, sondern den persönlichen, sich in Christus offenbarten Gott. In den beiden ersten Aspekten des Machtproblems erkennen wir Zusammenhänge mit der machiavellisch-hobbeschen Lehre von der Staatsraison. Pascal, der noch Richelieu erlebt hatte, war mit dem Problem aus eigener Anschauung und Erfahrung vertraut. Hobbes war in den Pariser Kreisen um Naudέ, La Mothe le Vayer, Cyrano wohl bekannt. Sie waren, wie der „grand Conde", mißtrauisch gegenüber dem Parlament, gegenüber der Idee eines Naturrechts und fühlten sich vielmehr zu dem realistischen Denken eines Machiavelli und eines Hobbes hingezogen: Die politische Ordnung beruht nicht auf einem vermeintlichen Naturgesetz, das dem Reich der Phantasie zugehört, sondern ist das Resultat der Macht, einer konkreten physischen Macht, oder der Macht der Gewohnheit und der Illusion, von der Pascal in den Pensees gesprochen hat: „Die Gewohnheit ist eine zweite Natur . . . aber was ist Natur? Ich befürchte, sie ist selbst nur eine erste Gewohnheit, wie die Gewohnheit eine zweite Natur geworden ist". Es ist unwahrscheinlich, daß Pascal Hobbes nicht gekannt hat. — Die Menschen bedürfen nach Hobbes' Lehre eines Machtstaates, dessen eigenständigem Recht sie zu gehorchen haben. N u r dann vermag ein solcher Staat den Bürgern Frieden zu gewähren und Revolutionen zu verhindern. Aber an moralische Gesetze ist der Staat an sich nicht gebunden. Der einzige Rechtsgrund seiner Gesetze ist die Macht. Der Idee eines solchen Sicherheitsstaates, in dem das Individuum als Gegengabe seines Gehorsams einen gewissen Schutz seiner persönlichen Freiheit eintauscht, steht Pascal nicht fern. Auch Pascal betont die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit des Machtstaates — er hat sich auch nie zu den Frondeurs bekannt —, nur weiß er darum, daß diese sog. „Rechtmäßigkeit" böse ist, weil Macht und Gerechtigkeit nie eine Einheit bilden werden; denn „da man es nicht fertig brachte, dem Rechten zur Macht zu verhelfen, hat man die Macht als Recht erklärt". „Rien, suivant la seule raison, n'est juste de soi." Der Gehorsam des Christen vor der weltlichen Macht ist indessen nicht aus utilitaristischen Erwägungen oder Erwartungen geboten, sondern wurzelt in der christlichen Forderung, daß der Mensch sich zur Sühne allein Gott hinzugeben habe, der die Macht des bösen Staates als s e i η e Gerechtigkeit eingesetzt hat.

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Möndi, F r a n z . K u l t u r

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Dieser letzte Aspekt, die Forderung der absoluten Liebe Gottes und der bedingungslosen Hingabe an ihn, mündet in dem tragischen Paradox, daß die christliche Religion, in ihrer letzten Konsequenz verstanden, „die einzige Religion gegen die Natur, gegen den gesunden Menschenverstand" ist — „la seule religion contre la nature, contre le bon sens". Mit klarer Einsicht hat Pascal erkannt, daß die irdische Ordnung der Dinge, der ganze staatliche Machtapparat, auf verderbtem, willkürlich gesetzttem Recht basiert. Unsere irdische Ordnung ist „folie", also Torheit und Wahnsinn. Wenn der Christ dieser Torheit und diesem Wahnsinn zu gehorchen hat, so ist das — vielleicht aus höherer Einsicht — Vernunft in religiösem Sinne. Mag sein, daß der Triumph des Bösen, der Triumph der Macht, Gottes Wille ist, und der Gehorsam dem Bösen gegenüber wäre dann Gehorsam Gott gegenüber, der uns mit dem Gehorsam zugleich die Sühne auferlegt. Gut. Wird aber Gott aus der Welt eliminiert, und wird Welt-Staat-Geschichte als Angelegenheit des Menschen allein aufgefaßt, dann wird solcher Gehorsam, wie Pascal ihn fordert, das genaue Gegenteil, nämlich Schuld des Menschen. Mit andern Worten: Zwischen dem Denken eines Pascal einerseits und der marxistisch geprägten Existenzphilosophie eines Sartre und dem Homme revolti eines Camus andererseits ist der Abgrund unüberbrückbar. c) Pascal ist von unserer Zeit weit entfernt. Zu manchen Gedanken seiner Apologie führt kein Weg mehr zurück. Am Bibelwort gibt es für ihn nicht den geringsten Zweifel. Er glaubt an die Wunder und die Prophezeiungen, an die Apostel, die Märtyrer und die Heiligen. Echtheit und Wahrheit des Christentums sind für ihn durch die Geschichte verbürgt. Das Christentum versteht er im Zeichen der Menschheitsgeschichte; das Alte Testament, das Neue Testament und die Kirche sind Manifestationen der Geschichte; ihre Wahrheiten sind historische Wahrheiten. Auch hier sieht man, daß Pascal auf dem Gegenpol von Descartes steht. Der hatte an der Geschichte ein Mißvergnügen; er glaubte gar nicht an die literarisch überlieferten Wunder und hätte es wohl als sonderbar empfunden, wie Pascal wirklich zu glauben, daß Mose den Pentateuch geschrieben habe. Pascal scheint die Errungenschaften der Bibelkritik seiner Zeit nicht gekannt zu haben oder hat sie ignorieren wollen. Er hatte Vor-Urteile. Denn genau um ein Vor-Urteil handelt es sich in Pascals religiösem Geschichts- und Menschenbild. Dieses wird überhaupt erst verständlich, wenn die Idee der Erbsünde als Angelpunkt der Weltgeschichte angenommen wird. Es gibt eine Welt v o r dem Sündenfall und eine n a c h dem

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Sündenfall. Im ersten Stadium herrschen Vernunft und Gerechtigkeit, es ist die reine Natur. Durch Adams Sünde ist aber diese Ordnung zerstört. Die Natur ist nunmehr verderbt. Für die Mehrzahl der Christen waren solche Vorstellungen wohl schon ein Mythus. Ernst mit dieser christlichen Grundtatsache machte nach Pascals Ansicht nur die kleine Gruppe der Jansenisten. d) Wie aber kommt es, daß Pascal trotzdem auch heute noch „modern" erscheint? Wie ist es möglich, daß so grundverschiedene Menschen wie Barrls, Gide, Sartre in unserm Jahrhundert von ihm bewegt werden konnten? Der Grund war die Echtheit seines Christentums und seine „kantige" Moral, die keine Kompromisse schließt, und die doch niemanden zu der eigenen Ansicht bekehren will, sondern nur von dem ewigen Wert der christlichen Religion auch die Verächter unter ihren Gebildeten überzeugen möchte. Ein zweiter Grund mag sein, daß sein psychologischer Blick Tiefenschichten der Seele erreichte und die condition humaine schonungslos enthüllte. Schließlich ist es der Vorgriff auf die moderne Existenzphilosophie, die uns Pascal interessant erscheinen läßt. Pascals Grunderkenntnis besagt ganz im Sinne Sartres: Es gibt keine „menschliche Natur" als „essentia", sondern nur die „coutume", d. h. die durch und in unserer Existenz gewordene und angenommene „Gewohnheit". Es gibt also keine frei über uns schwebende „raison", die das Universum und uns Menschen durchwaltet; wir leben nur in solcher Illusion, weil wir an die Wissenschaft als eine rationale Ermöglichung der Wahrheitserkenntnis glauben, während in Wirklichkeit Verstand und Wissenschaft höchstens Teilerkenntnisse liefern. Eine intellektuelle Philosophie vermeint, die essentia zu erkennen, Pascal aber will den Menschen in seiner existentiellen Konkretheit fassen, den Menschen in seiner „angoisse", dem Schwebezustand zwischen infini und neant. e) Das letzte Wort behält die Religion. Um die von ihm skizzierte unselige Stellung des Menschen in seinem Elend, aber auch in seiner Größe zu verstehen, kann er des Dogmas der Erbsünde nicht entbehren. Es ist die letzte Bestätigung aller seiner wissenschaftstheoretischen und moralphilosophischen Gedanken. „Was könnte man ohne sie (die Erbsünde) über den Menschen aussagen? Alles hängt von diesem winzigen Punkte ab." Diese Doppeltheit des Menschen ist sein Schicksal und seine unabweisbare Situation. Ihnen kann er nicht entgehen — er verfiele sonst dem Wahn einer erträumten Vollkommenheit oder einem tierischen Selbst-

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genügen. „Denn die Natur hat uns so in die Mitte gestellt, daß, sobald wir die eine Seite der Waage verändern, wir auch die andere verändern." Wie Franz Böhm andeutete, hat das Grundgesetz der Verspannung von Größe und Niedrigkeit des Menschen zu einer vertieften und wirklichkeitsnahen Auffassung der Persönlichkeit geführt, die an moderne Schichtungstheorien erinnert. Pascal hat die körperliche Existenz mit ihrer „Natur" und ihren „Instinkten" in deren unleugbarer Grundbedeutung erkannt und gewürdigt. Er hat beobachtet, wie durch Übung, Erziehung, Gewohnheit der „Automat", die „Maschine" Mensch, zum unbewußten Funktionieren kommt und geistige Entscheidungen mitbeeinflußt. So reguliert sich ein Wechselspiel zwischen „nature" und „coutume". Es gibt Vor-Urteile, die das reine Verstandesurteil mitbestimmen. Das ist Pascals berühmte „Logik des Herzens" — ein Titel, den Fritz Paepcke für die Übersetzung einer Auswahl „Pensees" gewählt hat. „Le coeur a ses raisons, que la raison ne connait point". (277); dazu dieses Fragment: „C'est le coeur qui sent Dieu, et non la raison." Darin also besteht der Glaube, daß Gott im Herzen und nicht von der Vernunft erfahren wird. Die Logik des Herzens ist aber der Liebe eingewurzelt. Das Organ des Herzens ist das Gefühl. Dem Sentiment verleiht Pascal seine erkenntnistheoretische Würde. Die Lösung des vielverschlungenen Rätsels Mensch suchte Pascal auf dem Wege eines vertieften Verständnisses der christlichen Religion. „Es ist erstaunlich", schreibt er (434), „daß das Geheimnis, welches unserer Erkenntnis am wenigsten zugänglich ist, nämlich das Geheimnis von der Vererbung der Sünde, etwas ist, ohne das wir überhaupt keine Selbsterkenntnis besitzen können." Eine solche These aber ärgert unsere Vernunft und scheint uns ungerecht... „Und dennoch", fährt Pascal fort, „ohne dieses Geheimnis, das unbegreiflichste von allen, sind wir uns selbst unbegreiflich. Der Knoten unseres Schicksals (le noeud de notre condition) hat seine Verschlingungen und Bindungen in diesem Abgrund. So ist der Mensch ohne dieses Geheimnis unbegreiflicher, als dieses Geheimnis dem Menschen unbegreiflich ist." Gott bleibt der Verborgene Gott, den wir nicht kennen können. Der Mensch bleibt eine „Chimäre", das „Ungeheuer", das „Ding des Widerspruchs", „Richter aller Dinge, einfältiger Erdenwurm, Hüter des Wahren, Kloake der Ungewißheit und des Irrtums; Glanz und Auswurf des Weltalls." (434) Die Welt, die sich in das Unendlich-Große und Weite

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dehnt und sich zugleich in das Unendlidi-Kleine des Atoms zusammenzieht, bleibt das unbegreifliche Wunder der Schöfung. Jacques-Benigne

Bossuet

(1627—1704)

Wer von Pascal kommend den Weg zu Bossuet geht, wird sich des Gefühls nicht erwehren können, daß er aus dem dunklen Abgrund einer gottsuchenden Seele plötzlich auf den leuchtenden Gipfel göttlicher Wahrheit gelangt; aber es ist eine Wahrheit, um die nicht mehr gerungen wird, sondern die demjenigen, der sie zu besitzen glaubt, eine Selbstverständlichkeit ist. Bossuet glaubte sich im Besitz der christlichen Wahrheit, die für ihn die einzige in der Welt und in der Menschheitsgeschichte war. Er hat während seiner Laufbahn als Kirchenfürst nicht einen Augenblick an ihr gezweifelt. Das war seine Stärke als Prediger, Erzieher, Bischof und Historiker und als Haupt der Gallikanischen Kirche. Es läßt sich kein schärferer Gegensatz zu Pascal denken als diese illusorische Sicherheit eines Kopfes, für den das Pascalsche Rätsel Gott-Welt-Mensch ein für allemal im Sinne des kirchlichen Dogmas gelöst war. Für Bossuets religiösen und politischen Einheitswahn fügen sich die vielverschlungenen Irrwege der Menschheitsgeschichte zu einem überschaubaren Wegenetz des göttlichen Heilsplans zusammen. Bossuet stammte aus der gehobenen Schicht der burgundischen Amtsaristokratie. Er blieb immer etwas Bürger und ein Mann der Provinz. Saint-Simon berichtet in seiner Notice sur Bossuet, daß er von einer stupenden Arbeitskraft und -energie war: man sah ihn des nachts am Kaminfeuer, seine Zimmerrobe lag immer bereit, bis in die frühen Morgenstunden saß er am Schreibtisch: „bos suetus aratro", ein Rind, das an den Pflug gewöhnt ist — eine witzig-bedeutungsvoll-symbolisierende Etymologie seines Namens. So früh der tonsurierte Knabe von 10 Jahren seine Berufung zum Geistlichen vorfühlen mochte, als junger Mann verkehrte er in der mondänen Gesellschaft von Paris, wurde in den Gelehrtenkreis der Dupuy eingeführt, zeigte frühzeitig Geschmack an der klassischen Literatur, liebte Homer und vor allem den Vergil der „Georgica" und der „Bucolica", las Horaz, kannte Corneille aus persönlichem Umgang, schrieb selbst preziöse Verse und hielt einmal im Hotel de Rambouillet mit 16 Jahren um 11 Uhr nachts eine improvisierte Predigt über ein ihm aufgegebenes

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Thema. Voiture, der dabei war, rief in seiner Bewunderung aus: „Je n'avais jamais entendu pr^cher ni si tot, ni si tard." Mit 21 Jahren schrieb er eine „Meditation sur la Brievete de la Vie" in der das Leitmotiv seiner Lebenssymphonie, der Tod, angeschlagen war. Und wie zum Satz der Seitensatz gehört, so erklingt im gleichen Jahr in seiner andern Schrift, der „Meditation sur la Felicite des Saints" das Motiv der Vorsehung auf; beide ergeben zusammen mit dem Thema der Gnade den tonalen Dreiklang seines späteren oratorischen Werkes. Mit 25 Jahren wurde er zum Priester geweiht. Die letzten 52 Jahre seines Lebens — er starb 1704 — ist die Geschichte seiner vita activa als Bischof, Kanzelredner und Prinzenerzieher. Der Sohn Ludwigs X I V . , den Bossuet zu erziehen hatte, war gewiß kein würdiges Objekt seiner pädagogischen Bemühungen. „Von Intelligenz keine Spur", schrieb Saint-Simon über ihn; er nennt ihn faul, phantasiearm, saft- und kraftlos... „in seinem Fett und seiner Stumpfheit" (absorbe dans sa graisse et dans ses tenäbres). Da er schon 1711 starb, kam er nie zur Regierung. Bossuet widmete sich der hoffnungslosen Erziehertätigkeit mit Fleiß und Gewissenhaftigkeit; denn es ging bei dem Erben des französischen und spanischen Thrones um die Zukunft Frankreichs. Bossuet stellte eigens eine Sammlung lateinischer Klassiker für die Lektüre zusammen, scharte die besten Gelehrten des Reiches um ihn und ließ ihm in Mathematik, Physik, Anatomie, Geschichte, Recht, Philosophie und natürlich in Religion Unterricht erteilen. Aus einem Brief Bossuets an den Papst Innozenz X I . erfahren wir Einzelheiten der Unterrichtsmethode und der Stoff wähl: Erklärung des Katechismus; kursorische Lektüre von Vergil, Cäsar, Terenz; lebendiger Geschichtsunterricht in Dialogform, auch mit Kartenmaterial und einer kunstvoll mechanisierten Armee von Spielsoldaten aus Silber — wozu dann die philosophischen Maximen aus Salomon, Piaton und Xenophon verabreicht wurden. Bossuet selbst verfaßte ad usum delphini eine Grammatik, eine Logik und die drei berühmten literarischen Werke, die wie ein Triptychon seines christlichen, philosophischen, politischen Erziehungsplanes sind: die „politique tiree de l'Ecrtture sainte", den „Tratte de la Connaissance de Dieu et de soi-meme" und den „Discours sur l'Histoire universelle". Umfangreiches Material für seine unvollendete Weltgeschichte wurde von den gelehrtesten Männern seiner Zeit für ihn zusammengetragen. Sein ständiger Mitarbeiter war Daniel Huet; aber Bossuet konsultierte auch Heinsius, Busman, Etzar — und Leibniz informierte ihn über die Talmud-Literatur

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in Deutschland; Galland et Renaudot waren seine Gewährsmänner für die Orientalistik. Mit der Bibelexegese hatte es für Bossuet keine Not; er war in ständigem Gespräch mit den Patres von Saint-Germain. Einige Grundsätze seiner Erziehung weisen rückwärts auf Montaigne und vorwärts auf Rousseau: Die Praxis gehe der Theorie voran; die Urteilsbildung ist so wichtig wie die Gedächtnisübung; an Beispielen sollen sich die Lehrsätze erhärten. Bossuet verheimlicht dabei seinem Zögling weder die Fehler der Päpste noch die der Könige. Er zieht die Grenzlinie zwischen dem göttlichen Recht der Souveräne und ihren christlichen Pflichten gegenüber Gott. Die Geschichtskonzeption macht Bossuets Fundamentalmaximen deutlich. Er teilt sein welthistorisches Werk in 3 Teile: Premiere Partie: Les Epoques (12 Kapitel); sie sind ein Panorama der Weltgeschichte von den Ursprüngen bis Karl d. Gr. — Deuxieme Partie: La Suite de la Religion (in der 1. Ausgabe 13 Kapitel); das ist die Geschichte des jüdischen Volkes, dokumentarisch durch das Alte Testament belegt; sie kündet Jesus an, handelt von seiner Lehre und berichtet die Einsetzung der Kirche. — Troisi^me Partie: Les Empires (8 Kapitel); das sind die Reiche der Ägypter, Perser, Meder, Griechen und mehrere Kapitel über das Imperium Romanum. Der Kardinalpunkt seiner Geschichtsphilosophie ist die Providern Gottes. Die Welt erscheint ohne diesen archimedischen Punkt wie ein „Gewirr von Farben". Wer aber das verschlungene, scheinbar unsinnige Gewebe der Geschichte von der Höhe dieses Vorsehungsstandpunktes aus betrachtet, dem offenbart die Welt ihre innere und äußere Ordnung und ihren tieferen Sinn: „Halten Sie fest im Gedächtnis, Monseigneur, daß diese lange Verkettung der besonderen Ursachen des Aufstiegs und des Zerfalls der Reiche von den geheimen Ordnungen der göttlichen Vorsehung abhängt. Von der Höhe der Himmel hält Gott die Zügel aller Reiche in seiner H a n d . . . Zuweilen bremst er die Leidenschaften der Menschen, zuweilen läßt er ihnen freien Lauf, wodurch er die Bewegung in die Menschheitsgeschichte bringt . . . E r bereitet die Wirkungen in den entferntesten Ursachen vor . . . Sprechen wir nicht von Zufall oder Glück, oder sprechen wir nur in dem Sinne davon, wie man U n wissenheit durch eine Vokabel verhüllt. Was in unserm unsichern Urteil als Zufall erscheint, ist ein abgestimmter Plan im R a t des Höchsten. Alles läuft auf diese Weise einem Ende zu, und nur weil wir das Ganze nicht verstehen, glauben wir bei den einzelnen Begebenheiten an Zufall und Regellosigkeit."

Es ist aber so, daß Gott nicht alle Tage seinen Willen bekundet. Die Geschichte hat in gewissem Umfang auch ihr Eigenleben, und Gott läßt

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seine H a n d nur in entscheidenden Augenblicken weltgeschichtlicher Ereignisse spüren. Er überläßt das Völkerleben auch einer innerweltlichen K a u salität, die es dem Historiker erst ermöglicht, die Gründe des Aufstiegs und Niedergangs der Nationen und Reiche zu studieren. Es entgeht dabei dem welterfahrenen Bossuet nicht, daß im irdischen Betrieb gewöhnlich den geschicktesten und weitsichtigsten Diplomaten die großen Würfe gelingen, und daß auch die „causes secondes" wie Zeit, Umstände, Volkscharakter in der Weltgeschichte ihre Rolle spielen. Aber im Endeffekt dienen alle Vorgänge dem höchsten Lenker der Weltgeschichte: „Mit einem W o r t gesagt, es gibt keine Macht der Welt, die trotz aller Gegengründe nicht ausschließlich s e i n e n Plänen diente. Gott allein weiß alles auf seinen Willen zurückzuführen. Deswegen ist alles überraschend, wenn man nur die partikularen Ursachen betrachtet; aber es geht alles mit einer geregelten Folgerichtigkeit seinen Weg voran."

Nach Beendigung seiner erzieherischen Tätigkeit wurde Bossuet 1681 zum Bischof von Meaux ernannt. Es ist das J a h r der Assemblee du Clerge. Bossuet hält die feierliche Eröffnungsrede. Als Gallikaner bekämpfte er einige mit den Ansprüchen der französischen Krone unvereinbare Privilegien des Papstes, aber zeigt gleichzeitig, daß die Macht der Kirche in ihrer Einheit liege, und daß die Unterwerfung unter die geistliche Autorität des Papstes der Tradition gemäß und notwendig sei. Wie schwierig für den königstreuen Kirchenfürsten seine politische Aufgabe w a r , erhellt aus einem Brief vom 1. Dez. 1681 an den Kardinal d'Estrees, Botschafter am H l . Stuhl: „ . . . Der König hat selbst den ,Sermon sur l'Unite de l'Eglise' gelesen und zeigte sich sehr befriedigt . . . Die zarten Ohren der Römer sollen respektiert werden . . . Drei Punkte könnten sie verletzen: die Unabhängigkeit der weltlichen Macht der Könige, die episkopale Jurisdiktion und die Autorität der Konzilien. Sie wissen, daß man in diesen Punkten in Frankreich keine Umschweife macht (on ne biaise pas en France), und ich habe midi, denke ich, so ausgedrückt, daß ich die Römische Majestät respektiert habe, ohne die Lehre der gallikanischen Kirche zu verraten. Mehr kann man von einem französischen Bischof nicht erwarten . .

Ein J a h r später redigierte Bossuet die „Declaration des quatre Articles", also die bekannten Grundsätze der „gallikanischen Freiheit", ohne mit der Autorität Roms zu brechen. Bossuets politisches Geschick w a r weder den geistlichen nodi den weltlichen Souveränen unbekannt. Er hatte früh als Agent der Compagnie du Saint-Sacrement seine Geschmeidigkeit bei der Konvertierung der Juden

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und Protestanten in Metz bewiesen. Sein scheinbar eindeutiger Charakter war nicht so geradlinig, wie man es glauben möchte. Er bekämpfte die Jansenisten, aber war ihnen im Grunde nicht abhold; er witterte die kartesianische Gefahr, aber brachte ausgesprochene Kartesianer in hohe Ämter; er wußte dabei genau zu unterscheiden, was an der kartesianisdien Philosophie der Religion dienlich, was der katholischen Konzeption schädlich sein konnte; er hatte eine weiche H a n d in der Bekehrungspolitik gegenüber den Reformierten, aber hinter der Geschmeidigkeit von Worten und Gesten verbarg sich ein unbeugsamer Wille, der zu Ehren Gottes hart durchzugreifen vermochte. Die Jesuiten liebte er wenig, mißtraute ihrem Einfluß am H o f e und verdächtigte sie einer Machtpolitik, aber er selbst stimmte der Widerrufung des Edikts von Nantes zu, feierte Ludwig als den neuen Konstantin und den neuen Karl d. Gr. und beugte seinen Rücken nach oben, während er die Geringeren unter ihm nicht mit der gleichen Verbeugung ehrte. Die Ultramontanen sahen mit Sorge, welche guten, ja freundschaftlichen Beziehungen er zu Arnauld, Nicole, Sacy, einigen führenden Köpfen des Jansenismus, pflegte. In der N u n t i a t u r zu Paris wurde sein N a m e schon um 1670 mit den Buchstaben C.M.P charakterisiert, was bedeutet: catholicus — mollior — politicus, also ein Katholik — eher weich — politisch. C und Ρ blieb er immer, aus dem Μ hätte man später ein D (durus) machen können. Seine Aktivität als Kirchenfürst stand im Zeichen der Verhärtung. Im vorletzten Jahrzehnt seines Lebens trat er mit Leibniz in Verbindung. Der deutsche Protestant wie der französische Katholik waren gleichermaßen um den Ausgleich der Konfessionen, um die Einheit der abendländischen Kirche besorgt und bemüht. Beide kannten das religiöse Leben ihrer Zeit, wußten um die Unterschiede nicht nur der zwei großen westlichen Konfessionen, sondern auch um alle Nuancen der „Variations des Eglises protestantes" — um den Titel von Bossuets Werk über die protestantischen Sekten zu nennen (1688). Aber während Leibniz auf der breiten Basis seines philosophischen Verständnisses und im Geist der Toleranz gegenüber allen berechtigten Strömungen und Gegenströmungen der K a tholiken und Protestanten die Reunionsverhandlungen im Sinne einer echten Universalität und modernen Gestaltung christlichen Lebens beeinflussen wollte, zeigte sich Bossuet härter. Die Uberbrückung der Gegensätze wollte nicht gelingen. Wien und Rom verstanden die Reunion als Rückkehr des Protestantismus in den Schoß der katholischen Kirche; die Protestanten wünschten die Zusammenführung der Konfessionen im

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Sinne einer erneuerten Kirche der Zukunft; die Beschlüsse des Tridentinischen Konzils, von denen Bossuet nicht abrückte, waren für sie unannehmbar. Was da zwischen Leibniz, Bossuet, Arnauld, Spinoza diskutiert wurde, war ein Religionsgespräch auf höchster Ebene. Aber es scheiterte. In die kirchlich-konfessionellen Spekulationen verwoben sich auch weltliche Interessen der beiden Großmächte Habsburg und Frankreich. Welche Aussicht für die eine Seite, wenn der Gedanke einer „indisch-germanisch-spanischen Gesellschaft" realisiert würde und eine neue Hanse als Konkurrent der Colbertschen „Compagnie des Indes" dem Habsburger Wirtschaftsblock einverleibt würde! Das scheiterte am Widerstand Frankreichs, und so scheiterte auch die konfessionelle Reunion. Wie Bossuet um diese Zeit, da er auch den Fehler der Aufhebung des Edikts von Nantes nicht sah, sich im Kampf gegen die Protestanten verhärtete, verurteilte er auch den Quietismus Fenelons und der Madame Guyon. Am Ende wuchs die militante Kraft des alten Mannes sich zu einem diktatorischen Fanatismus aus: Er widersetzte sich mit allen Mitteln jedweder kritischen Prüfung der Hl. Schrift, sofern sie außerhalb der überlieferten Interpretation der Kirche lag. Er konfiszierte die „Histoire critique du Vieux Testament" des Oratorianers Richard Simon. Er attakkierte das Theater in seinen „Maximes et Reflexions sur la Comedie" (1694). Moli^re wurde zur Zielscheibe heftigster Vorwürfe, die Bossuet im Namen der christlichen Moral erhob; er verurteilte den „Misanthrope", den „Tartuffe" den „Dom Juan", die „Ecole des Femmes". Auch Corneille wird nicht geschont. Im Spiegelbild all der theatralischen Helden und Heldinnen würden wir selbst zum „geheimen Schauspieler in der Tragödie". Das Theater sei sogar gefährlicher als die Lektüre von Romanen; denn das leibhafte Auftreten der Schauspieler auf der Bühne erhitzte unsere Sinne; Parterre und Logen werden zu lebhafter Anteilnahme an dem dramatischen Geschehen mitgerissen . . . „le danger est encore accru par l'emotion collective" . . .„l'air meme qu'on y respire y est plus m a l i n . . . " In der kollektiven Erregung des Theaterpublikums sah Bossuet eine soziale Gefahr. An wievielen Fronten stand der alternde Kirchenfürst im Kampf um die geheiligte Tradition der kirchlichen Lehre: gegen den Individualismus der cogito-ergo-sum-Philosophie; gegen den Mystizismus der quietistischen Lehre; gegen die anspruchsvolle christliche Ethik der Jansenisten; gegen jede Form libertinistischer Auflehnung, manifestiere sie sich als philosophische Weltanschauung, auf der Theaterbühne der Zeit mit Moli^re, oder in der wachsenden Korruption der Gesellschaft. Schon wirkten Bayle

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und Fontenelle. Die Aufklärung warf ihre ersten Strahlen über das endende Jahrhundert. Bossuets Ruhm beruht in heutiger Sicht weniger auf seinen literarischen und theologischen Kontroversen, auch nicht auf seiner „Weltgeschichte" oder seinen philosophischen Schriften, sondern er gründet auf dem schmalen Band seiner „Oraisons funebres". Zu ihnen gehören als nahverwandt auch die „Sermons". Das Ganze bildet ein literarisches Corpus, das in der Entwicklung der sog. Kanzelberedsamkeit weltweite Geltung erlangt hat. Mit der Kanzelberedsamkeit hat es eine eigentümliche Bewandtnis. Sie steht von der „Literatur" im eigentlichen Sinne so weit entfernt wie das Theater. Die Wirksamkeit der einen geht von der Kanzel, die des andern von der Bühne aus. Zu beiden gehört die Szenerie: Nicht nur für die Inszenierung der weltlichen Bühne arbeiteten damals die besten Barockdekorateure von Paris, sondern sie arbeiteten auch für die „Pompes funebres". Die Begängnisse der Großen waren eine Heilige Parade, die Jahr um Jahr durch die Kirche wie über eine dekorierte Bühne zog: ein makabres Schauspiel von höchster Eleganz; denn die Gazetten der Zeit wissen zu berichten, von welch attraktiver Eleganz die Frauen sich für ihren Einzug in die Kirche schmückten und wie die großen Herren gar den Altar besetzten, „als wäre dieser eigens wie ein Amphitheater für ein Schauspiel hergerichtet". (Zit. bei Adam, V, 117). Bei beiden Schauspielen, dem Triumphzug des Todes wie einer weltlichen Komödie, ist die Anwesenheit des Publikums Voraussetzung ihrer Aktualisierung. Die Gattung der Oraisons funebres war bereits im 16. Jahrhundert bei den Humanisten in Blüte. Heidnisches und Christliches mischten sich oft seltsam in ihnen, wie uns das Beispiel der berühmten Leichenrede Du Perrons aus Anlaß von Ronsards Tode lehrt. Der Ton änderte sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts mit dem hl. Franz von Sales. Grundsätzlich waren bei den Reden und Predigten alle Stilarten möglich. Je nach der Situation, dem Geschmack, der Mode in feierlich-barocker Hochform oder in vulgär-plumpem Sprachgewand; man predigte für die feinnervigen Ohren oder für die preziös-elegante Welt. Die eigentlichen Begräbnisreden hoben sich durch konstituierende Merkmale ab: die Klage um den Verstorbenen und das Lob, mit dem er als Großer des Reiches zu bedenken war. Als Ludwig X I I I . starb, studierte Bossuet in Paris. Gewiß hörte er einige Reden, andere wird er gelesen haben. Wenig später, und Bossuet hält neben Senault, Mascaron, Fromenti£res seine erste Totenrede auf die Königin-Mutter Anna von Österreich.

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Die Gattung hatte ihre klassische Blütezeit erreicht: Flediier, Bourdaloue, Juillard du Jarry sind in die Literatur eingegangen. Gattung und Theorie waren fest begründet, als Bossuet sie zu jener Vollendung führte, in der wir den dreifachen Ausgleich von Inhalt und Form, von gesellschaftlichem Takt und christlicher Wahrheitsliebe, von lyrisch-emotionalen Elementen und didaktischer Symbolik als die eigentliche Leistung dieses rhetorischen Kopfes bewundern können. Den Oraisons haftete zwangsläufig der Makel der Halbwahrheiten an. Wie, wenn der illustre Tote keinen erbaulichen Lebenswandel im christlichen Tugendsinn geführt hatte? Da wurde Verschweigen zur Notwendigkeit, und eine zweckdienliche Verstellung der biographischen Daten zur eigentlichen Kunst des beauftragten Predigers. Die Leichenrede wurde somit zu einem literarischen Kunstwerk, dessen konstituierendes Element der gesellschaftliche Takt war. Das war — und ist noch heute — ihr Dilemma. Wir verstehen, was der Pater Gisbert sagte: „Ich kann nicht umhin, jeden christlichen Prediger zu bedauern, der auf diesem Wege zu gehen sich verpflichtet sieht." Und wir verstehen, wenn der Abb£ Ledieu, Bossuets Sekretär, von dem großen Kanzelredner sagen konnte: „ . . . il n'aimait pas naturellement ce travail". Wenn er aber fortfährt: „ . . . quoiqu'il y r£pandit beaueoup d'^dification", weist er mit dem Finger darauf, daß Bossuet bemüht war, das, was gewissermaßen an irdischer Wahrhaftigkeit in den Oraisons verloren ging, durch eine symbolische Erfassung des ganzen Todesereignisses als höhere Wahrheit zurückzugewinnen. Mit andern Worten: die Oraisons wurden unter seiner Hand zum Anlaß, vor den versammelten Großen des Reiches eine Lektion aus der Christenlehre zu erteilen, und in die Totenklage das Element der Erbauung einzuschmelzen. So verwandelte er durch geschickte Wendungen die Fehler und Laster der Toten aus Anlaß ihres Hinscheidens in eine erbauliche Doktrin, indem er die Eitelkeit alles menschlichen Tuns, den falschen Ehrgeiz, den jeweilig unaufschiebbaren Triumph des Todes illustrierte. Der kühnste Dialog zwischen irdischem Lebensglück, irdischer Macht, irdischer Ruhmbegierde mit der unwandelbaren Majestät des Todes endet mit dem Sieg des Todes, der in seinem unendlichen Abgrund Könige und Bettler gleich macht. Dieses banale Thema, welches schon das Mittelalter in andern Kunstformen durchvariiert hat, verliert aber bei Bossuet nicht nur nichts von dem Erschütternden, das zu allen Zeiten von ihm ausgeht, sondern wird als das Leitmotiv der Oraisons in einer auch künstlerisch so überzeugenden Weise eingesetzt und orchestriert, daß wir aus ihm alle andern Seitenmotive her-

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vorgehen sehen. Die Masken fallen, eine nach der andern, in dem großen Zug der Lebenden: Der Tod ist eine totale Demaskierung. Er demaskiert die Sonderstellung des Adels; er stürzt auch die Höchstgestellten in „jenen unendlichen Abgrund, wo man keine Könige, Fürsten, Heerführer mehr findet, keine großen, erhabenen Namen mehr, die im Leben die Menschen trennten, sondern nur Verfall, Würmer, Asche, Fäulnis". Der Tod demaskiert den Ehrgeiz, der in Bossuets Urteil eines der fundamentalen Laster ist; er enthüllt es bei den Kirchenmännern, den Militärs, den Beamten, den Höflingen. Der Tod demaskiert Stolz und Hochmut, die den Tugenden der Demut und Frömmigkeit entgegenstehen; er enthüllt sie auf allen Schichten menschlicher Tätigkeit und menschlichen Denkens, hinter der Uniform der Soldaten wie hinter den Ansprüchen und Tendenzen der stolzen, überheblichen Jansenisten, der Reformierten, der Freigeister. Der Tod demaskiert sogar die scheinbaren Tugenden wie Edelmut, Freigebigkeit, Dankbarkeit, Treue, Gerechtigkeit als Motive der Eigenliebe; solcher Tugenden ist die Hölle voll; sie nähren die Sünde und wenden den Menschen von seiner Bußfertigkeit ab. Aber der Tod lehrt nicht nur die Zerstörung alles Körperlichen und was am Vergänglichen hängt, sondern weist in seinem dialektischen Gegenwurf auf die Unsterblichkeit der Seele hin. In dem berühmten „Sermon sur la Mort" zeigt Bossuet die beiden Seiten des Menschen, den „homme n^prisable en tant qu'il passe, et infiniment estimable en tant qu'il aboutit a l'&erniti". Dieser aus altem platonischen Gedankengut stammende Dualismus zieht sich thematisch audi durch die Oraisons hindurch. In der Stunde des Todes erweist sich die Güte Gottes. Im christlichen Sterben, in der „bonne mort", wird der Tod überwunden, die Spiritualität der Seele erwiesen. Die Agonie läßt erkennen, wieweit die Seele des Sterbenden sich Gott ergeben hat, also in der Gnade ist. Da steht der Redner an der Grenze des Aussagbaren; er senkt den Schleier über das Mysterium des Sterbens. Alles Individuelle wird bei Bossuet durch die große Thematik des Todes, der Vorsehung, der Gnade ins Spekulative erhoben, ins Allgemeingültige, ins Lehrhaft-Dogmatische. Jede der Reden ist ein einmaliges Kunstwerk, das Bossuet, unter Verwendung der angeführten Motive, jeweils entsprechend der Vita des Verstorbenen, rhetorisch gestaltet. Ihre eigentümliche Färbung bekommt eine jede durch die Individualität der aus dem Leben geschiedenen Persönlichkeit, also auf Grund ihrer abgeschlossenen Biographie. So erhielten die Oraisons, je nachdem es sich um

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Königinnen, Herzoginnen, erste Frauen des Reiches — Marie-Therese, Anna de Gonzague, Henriette de France, Henriette d'Angleterre, handelt, oder um den Kanzler Le Tellier, um den Prince de Conde usw. ihre menschliche, philosophische, politische Prägung. Es ist schwer, vor. einer Aktualität Bossuets zu sprechen, wie man von einer Aktualität Pascals sprechen kann, — es sei denn, daß man, wie Henri Massis im Vorwort zu der Ausgabe der Bossuetschen Briefe, sich rückhaltlos zu der von der katholischen Kirche aufgestellten Wahrheit des Christentums bekennt. Dann erscheint niemand aktueller als dieser christliche Geschichtsphilosoph und Kanzelredner des klassischen Jahrhunderts: „Dieser antimoderne Geist", heißt es bei Massis, „entspricht den echtesten Bedürfnissen der modernen Welt. Uns obliegt es, wieder die geistige Einheit zu schaffen, die Philosophie der Ordnung auszubreiten, den Begriff des Menschen und Gottes in den Sitten und Ideen manifest zu machen. Jede Seite im Werke Bossuets kündet davon wie wir zum Heil gelangen können. Und von diesem Meister dürfen wir sagen, was er selbst am Abend seines Lebens vom hl. Augustinus sagte: ,Wer in seine festgegründete und erhabene Theologie einzudringen versteht, selbst durchdrungen von den Dingen und der Wahrheit, der kann nur Verachtung oder Mitleid mit den Kritikern von heute haben, die, fremd oder ohne Gefühl für die großen Dinge, oder voreingenommen von mißlichen Prinzipien, es sich zur Ehre machen, ihn zu verachten'."

Frangois de Salignac de La Mothe-Fenelon

(1651—1715)

Im Vergleich mit dem bürgerlichen Bossuet, dessen kernig-harter Charakter wie aus einem Stück Holz geschnitzt ist, erscheint der aristokratische Franjois de Salignac de la Mothe-Fenelon als eine äußerst sensible und komplexe Figur. Er gehört in die Generation von La Bruy£re, Bayle, Fontenelle, die den Strom der Geschichte in das neue Jahrhundert leiteten. Im Bezirk der Religionsgeschichte Frankreichs repräsentiert F£nelon gewisse Tendenzen der Mystik, in der sich der feminine Zug seiner Empfindsamkeit entfalten konnte. In der politischen Opposition gegen das Regime Ludwigs XIV. ist er der Mann der härtesten und klarsten Sprache. Beides hat ihn in seiner Karriere als Hofmann, der er war, zu Fall gebracht. Liest man die Zeugnisse seiner Zeitgenossen über ihn, ist das Erstaunen über die Widersprüche der Urteile groß. Die einen, die sein bezauberndes Wesen und sein kultivierter Geist zu Freunden und Bewunderern gemacht hat, erhoben ihn zu einem Märtyrer und Heiligen; die

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andern, seine religiösen und politischen Gegner, rückten trotz Anerkennung seiner hohen Gaben von ihm ab, weil er ihnen in manchen Verhaltensweisen zwielichtig erschien. Bossuet, sein früher Freund und späterer Feind, wollte in ihm Heuchelei, Schläue, eine „duplicite de son esprit" in Dingen kirchlicher Doktrin entdeckt haben. Von geschlossener Eindeutigkeit ist aber das literarische Porträt Saint-Simons, der ihn zu schätzen wußte und ihn uns als eine der eindrucksvollsten Persönlichkeiten seiner Zeit hingestellt hat: „Dieser Prälat war ein großer, hagerer Mann, gut gebaut, blaß, mit einer großen Nase und mit Augen, aus denen Feuer und Geist hervorleuchteten; eine Physiognomie, wie ich eine ähnliche nie gesehen habe, und die, hätte man sie auch nur einmal gesehen, nie wieder vergessen kann . . . Würde und Leichtigkeit, Ernst und Heiterkeit prägten sich in seinem Gesicht aus. Man spürte in ihm in gleicher Weise den Doktor, den Bischof, den Grandseigneur. Was aber durch alles hindurchschimmerte, und was seine ganze Person ausstrahlte, war die Feinheit, der Geist, die Anmut, der Anstand und vor allem der Adel. E r hatte vollendete Umgangsformen und jenen feinen Geschmack, den man nur in der besten Gesellschaft und im Umgang mit der großen Welt g e w i n n t . . . Seine Höflichkeit hatte etwas Einschmeichelndes, war vornehm und überschritt nie das gesetzte Maß. Seine Sprache war leicht, klar, angenehm, und in den verwickeltsten und härtesten Fragen konnte er sich klar und deutlich ausdrücken. Bei alledem war er ein Mann, der nie geistvoller sein wollte als die, mit denen er sprach; er stellte sich immer auf die Ebene seiner Gesprächspartner und ließ es doch niemanden fühlen, so daß alle ein Wohlbehagen empfanden und von seiner Unterhaltung verzaubert waren . . . Mit diesem Talent hielt er alle seine Freunde das ganze Leben über an sich gebunden, auch noch, nachdem er schon in Ungnade gefallen war . . . "

Nach der Erziehung im väterlichen Schloß Fenelon im Pirigord und an der Universität von Cahors beendete er seine Lehrjahre im Seminaire de Saint-Sulpice, wurde mit 24 Jahren zum Priester ordiniert, begeisterte sich für Missionsaufgaben in der Levante und in Griechenland — das immer ein Land seiner Träume blieb — , aber wurde statt im Ausland in der inneren Mission der „Nouvelles Catholiques" eingesetzt; das waren junge protestantische Mädchen, die zum katholischen Glauben zurückgekehrt waren, und die es nun im rechten Glauben zu erhalten und zu erziehen galt. Seine Erfolge als „directeur de conscience" lenkten die Blicke Bossuets auf ihn, und so wurde er auf Empfehlung Bossuets vom König zur Bekehrung der nach der Aufhebung des Edikts von Nantes gewaltsam konvertierten Protestanten der Saintonge eingesetzt. Dank seinem psychologischen Geschick und seiner überzeugenden Humanität entledigte er sich dieser Aufgaben zum Besten der Religion und seines Königs.

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Finelon stand damals in der höchsten Gunst des Hofes und der Madame de Maintenon. Es wurde ihm die dornenreiche Aufgabe anvertraut, den Enkel Ludwigs X I V . , den sog. Petit Dauphin, zu erziehen. Übereinstimmend wurde der Knabe als ein Ungeheuer an Ungezogenheit, Stolz und Heftigkeit charakterisiert. Saint-Simon schildert ihn als „fürchterlich", „hart", „kolerisch", „aufbrausend bis zur Raserei", „unfähig, auch nur den geringsten Widerstand zu ertragen", so ungestüm in seinen Ausbrüchen, daß man fürchten mußte, „alles würde in seinem Körper zerbrechen", — und er fügt hinzu: „Ich bin oftmals Zeuge solcher Vorgänge gewesen". Im Gegensatz zu dem Grand Dauphin, dem Sorgenkind Bossuets, der, wie wir hörten, „von seinem Fett und seiner Dumpfheit absorbiert" war, — was seine Erziehung illusorisch machte —, war die Zähmung des kleinen Dauphin ein Wunderwerk F6nelonscher Erziehungskunst. Der Großvater war entzückt, und Ρέηείοη wurde Erzbischof von Cambrai. Mit seiner Tätigkeit als Prinzenerzieher sind 3 literarische Werke verbunden: Die „Fables", die „Dialogues des Morts" und der berühmte „T&imaque", ein politischer Roman, den F^nelon eigens zum Gebrauch seines Zöglings verfaßt hat: ein Gegenbild des Bossuetschen Triptychons ad mum delphini. Auf „Fabeln" verstand sich freilich Lafontaine besser. Aber die Totengespräche, aus der verbreiteten Tradition Lukians stammend, sind interessant, die Anspielungen unverkennbar: Sein ungestümer Zögling tritt in der Maske des Achilleus oder des Romulus auf und enthüllt sein wahres Gesicht vor Odysseus oder Numa Pompilius; Finelons rechtspolitische Ansichten schimmern durch das Gespräch zwischen Solon und Justianus hindurch; der Dialog zwischen Coriolanus und Camillus ist im Endergebnis eine regelrechte Refutation der Theorie des Gesellschaftsvertrages; im Dialog zwischen Sokrates und Alkibiades greift der Verfasser die Probleme des Krieges, der Regierung, des Luxus auf und begeisterte mit seinen Thesen die heraufziehende Generation der „Philosophen". Auch berühmte Verstorbene der älteren und jüngeren, ja jüngsten Vergangenheit Frankreichs tauchen auf: Ludwig X I . unterhält sich mit Ludwig X I I . , Richelieu mit Mazarin, Descartes mit Aristoteles, ja sogar Parrhasios mit dem großen Maler Nicolas Poussin. Das dritte dieser Erziehungswerke, den „Τέΐέη^ςυε", redigierte F6nelon um 1695. Es umschließt einen dreifachen Sinn: Auf den ersten Blick ist es ein Bildungsbuch literarischer Art, aus dem der Schüler sich das humanistische Bildungsgut des honnete homme aneignen soll; es ist

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zugleich ein Lehrbuch der Moral und im besonderen ein Handbuch der Politik, das dem künftigen König einer aufgeklärteren Zeit dienlich sein soll. Kurz gesagt geht es in diesem Prosaepos um folgendes: Telemadios, der Sohn des Odysseus, ist auf der Suche nach seinem Vater. Ein Sturm verschlägt ihn auf die Insel der Kalypso. I m Stile Homers gibt Telemadios der Göttin einen Bericht seiner Abenteuer, die ihn von Ithaka zunächst über den Peloponnes nach Sizilien führten. E r erzählt, wie er als G e fangener nach Ägypten kam, wie er den edlen Sesostris kennen lernte und wie er den Weg nach Zypern fand, der Insel der Aphrodite, deren Zauber er zu unterliegen droht. Aber seinem Gefährten Mentor — hinter dem sich die Göttin Athena verbirgt — gelingt es, ihn der Gefahr zu entreißen und ihn auf das glückliche K r e t a zu bringen, das von Minos' weisen Gesetzen regiert wird. Soweit die Erzählung bei Kalypso. — Diese schöne Göttin, noch untröstlich über die Abfahrt des Odysseus, der bei ihr geweilt hatte, fängt Feuer für den Sohn. Aber auch er verläßt sie, und die Gefährten gelangen nach der Betica, wo sie vom König Idomenäus freundlich aufgenommen werden. Die nun folgenden Bücher enthalten die eigentlichen politischen, wirtschaftlichen, sozialen Ideen dieses Abenteuerromans: der Krieg gegen die Mandunianer, wir hören von der Liberalisierung des Seehandels, und von dem Abstieg des Telemachos in die Unterwelt auf der Suche nach dem Vater, und was er dort sieht: die Bestrafung der bösen, die Glückseligkeit der guten Könige. Dann folgt das E n d e : die große Lehre Mentors über die Prinzipien der Regierungskunst, die Liebe zu Idomenäus' Tochter Antiope und die endliche Heimkehr nach Ithaka, wo Telemachos seinen Vater bei dem getreuen Eumäus wiederfindet.

Die sozialpolitische Kritik dieses Romans liegt auf der Linie der sich aufdrängenden Reformen. Sie steht nicht isoliert da. Schon zu Beginn der Regierungszeit Ludwigs X I V . hatte Cordemoy 1668 seine „Lettre sur la Reformation de l'Etat" verfaßt, und der Abb£ Fleury skizzierte bereits wenige Jahre später seine Ansichten über eine Konkordanz der Platonischen „Politeia" mit dem Leben der biblischen Patriarchen. Auch im Sinne von Erasmus und Malebranche war Fenelon von dem Gedanken durchdrungen, daß die Politik — um ein Bild Kants zu gebrauchen — ihre Kniee vor dem Sittengesetz zu beugen habe; es schien ihm an der Zeit, daß der Widerspruch zwischen der allgemein verpflichtenden christlichen Moral und den Ansprüchen einer reinen Staatsraison in der Richtung auf eine christliche Ethik zu lösen sei. Die Pluralität von Morallehren: eine für den Naturmenschen, eine andere für den Christen, eine dritte für den Politiker, ist ein Verhängnis, dem F£nelon entgegenwirken will. Die politischen Leitgedanken seines Telemachos-Romans decken sich mit denen, die Fenelon in der kühnen „Lettre ä Louis XIV", in dem „Examen de conscience d'un Roi" und noch am Ende seines Lebens (1711)

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Möndi, Franz. K u l t u r

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in den „Tables de Chaulnes" niedergelegt hat. Einige Skizzen seiner Reformvorschläge umreißen schon die politisch-soziale Ideenwelt eines Montesquieu, Rousseau und Voltaire. In der weisen Regierung des Minos auf Kreta verwirklicht sich ein Ideal einer Politik, die ebenso der Bossuetschen Vorstellung einer christlich-monarchischen Regierungsform wie dem liberal-monarchischen Regierungsideal eines Montesquieu gerecht wird: „Ich fragte Mentor, worin die Autorität des Königs bestünde, und er antwortete mir: ,Er vermag alles über seine Völker, aber die Gesetze alles über ihn. Er besitzt absolute Macht, das Gute zu tun, aber seine Hände sind gebunden, sobald er das Schlechte tun will.' Die Gesetze überantworten ihm die Völker als die kostbarsten aller Schätze unter der Bedingung, daß er der Vater seiner Untertanen sein will. Die Gesetze wollen, daß ein einziger durch seine Weisheit und Mäßigung dem Glück vieler Menschen diene, nicht aber, daß viele Menschen durch ihr Elend und ihre schändliche Unterworfenheit dem Stolz und der Weichheit eines einzelnen dienstbar werden . . . "

Die Parallele zu der anonymen „Lettre ä Louis XIV" drängen sich auf: „Man spricht wenig vom Staat und den Gesetzen, wohl aber ausschließlich vom König und seinem bon plaisir ... Ihre Völker, die Sie wie Kinder lieben sollten, . . . sterben vor Hunger . . . Sie beziehen alles nur auf sich, wie wenn Sie der Gott der Erde wären und alles übrige nur dazu geschaffen sei, Ihnen geopfert zu werden . . . Wenn ein König, sagt man, wirklich ein väterliches Herz für sein Volk hätte, würde er nicht vielmehr seinen Ehrgeiz darein legen, ihnen Brot zu geben und Luft zum Atmen nach so viel Leid, anstatt einige Grenzbefestigungen zu halten, die nur weitere Kriege verursachen?"

Die Violenz dieses Briefes von 1693 ist noch heute, da wir längst durch die Freiheiten der Demokratie gegangen und geformt sind, von unbegreiflicher Kühnheit. Man konnte sich mit dem Gedanken seiner Echtheit nicht vertraut machen, und dennoch ist er es; wir besitzen das Autograph seines Schreibens, ja wir wissen sogar, daß Madame de Maintenon es gelesen hat! Aber ist der Brief kühner als die Generalkritik Saint-Simons am H o f staat Ludwigs XIV.? Jedenfalls scheint mir die Sympathie, die SaintSimon gerade für den hochadligen Prälaten hatte, sehr begreiflich; beide waren Rebellen gegen den König. Der Raum fehlt, auf Finelons Reformprogramme im einzelnen einzugehen, wiewohl die interessantesten Gedanken über die Agrarpolitik, den Merkantilismus und die Gesetzgebung in den Schlüsselfiguren des Telemachos-Romans aufzuschließen wären. Genug, daß Ludwig XIV., dem durch Indiskretion das Buch unter die Augen kam, sich auf jeder Seite gespiegelt fand, — wie der Abbi H£bert berichtet: „II le lut et s'y

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vit k chaque page." (Zit. bei Adam, V, 170). Aber auch andere Persönlichkeiten der europäischen Politik konnte man bei einiger Phantasie erkennen: Louvois, Madame de Montespan, man entdeckte Anspielungen auf die Rivalität der Henriette d'Angleterre und der Madame de la Valli^re, auf Cromwell, Karl I I . u. a. m. Solche Entschlüsselungen wurden in Frankreich und besonders im frankreichfeindlichen Ausland, wo der Roman größten Erfolg hatte, zu einem beliebten Gesellschaftsspiel, was erklärlich ist, wenn man die Mode der „carac^res" im Zeitalter La Bruy£res in Betracht zieht. Finelons politische Haltung hätte genügt, ihn am Hofe unmöglich zu machen. Es kam die Affaire des Quietismus als gleichbelastend hinzu. *

Der spanische Theologe Molinos hatte eine religiöse Bewegung ins Leben gerufen, die 1687 in Rom verurteilt worden war. Es gibt mannigfache Formen religiöser Mystik. In ihnen allen wirkt als Gemeinsames ein religiöses Verlangen, das die Seele des Menschen nach ihren Irrfahrten durch die Welt zu ihrem Ursprung, zu Gott, aufwärts drängt. Aller echten Mystik liegen christianisierte platonische Motive zugrunde: der stufenweise Aufstieg der Seele bis zur Vereinigung mit Gott. Auch die quietistische Doktrin der Madame Guyon ist mystisch. Jeanne-Marie Bouvier de la Motte (geb. 1648) war eine merkwürdige Erscheinung. Ihre religiösen Erfahrungen mochten ihren Ursprung in dem Umkreis der Spiritualisten vom Geiste des hl. Franjois de Sales haben, auch kannte sie den Marseillaiser Mystiker Malaval und verbreitete die spanische Mystik des Molinos. Nach dem Tode ihres bürgerlich, ungeliebten Mannes Guyon ging sie auf Reisen nach Genua und Turin, schrieb in den Nächten ihre „Moyen court", „den kurzen und leichten Weg zum Gebet, den alle gehen können, um alsbald zu einer hohen Vollkommenheit zu gelangen" (1685), den „Cantique des Cantiques" (Das hohe Lied der Liebe) und die „Torrents spirituels". Ihr großer Erfolg bei den der Mystik zuneigenden Seelen beunruhigte die Geistlichkeit; sie wurde überwacht, aber fand in Madame de Maintenon eine Beschützerin. Bevor sie F£nelons Einfluß unterlag, unterlag er dem ihrigen. In Turin hatte sie einst einen Traum gehabt: Ein schöner, geheimnisvoller Vogel sei gekommen und habe sich ihr hingegeben. Als sie dann Jahre danach F&ielon kennenlernte, wußte sie, wie der Vogel aussah. Eine Gruppe Mystiker scharte sich um sie beide, die Michelins. Dieser Orden fühlte sidi berufen, Bara, d. i. Satan, zu bekämpfen und das Reich



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der Oraison zu errichten. Auf einem zeitgenössischen Stich sehen wir den Due de Bourgogne, den Zögling Ρέηείο^, als Hirten, umgeben von Löwen, Tigern, Bären und Lämmern; Madame Guy on trägt als Amme ein Kind auf dem Arm, den Herzog von Berry; der dritte Prinz, Anjou, hält eine Schlange in den Händen. Die seltsame Gesellschaft sang fromm-kindliche Lieder; Jesus wurde der Petit Prince genannt, und Madame Guyon die Mutter der Petite Eglise. Doch ihre Lebensweise erschöpfte sich nicht in mystischen Spielereien und Kindlichkeiten. Die quietistische Doktrin und Praxis der Frau Guyon zielte auf das Endstadium der unio mystica, die innige Verbindung der Seele mit Gott, einen Zustand, den Guyon den etat d'oraison nannte. Die Methode, dorthin zu gelangen, war absolute Passivität. Der Quietist schafft gleichsam einen leeren Raum um sich, versenkt sich in sich selbst, verzichtet auf alle formalen Aktivitäten der Seele und des Geistes, wie etwa das Gebet, das Nachdenken über Gott und seine Attribute, über die Mittlerrolle JesuChristi. Die Seele verhält sich in vollkommener Indifferenz gegenüber allem, was der mystischen Seligkeit der liebenden Seele, die „unmittelbar" zu Gott will, nicht direkt förderlich ist. Sie denkt nicht an das Seelenheil, sondern an die Seligkeit; sie kennt keine Furcht vor der Hölle, sondern nur die unendliche, reine, alles Irdischen entkleidete Liebe zu Gott; sie sucht nicht die moralische Vollkommenheit, wertet die Praxis der Beichte gering und entwertet die Idee der guten Werke. Die katholische Kirche sah in der Theorie und Praxis der Quietisten eine Gefahr. Der Quietismus war so etwas wie eine französische katholische Variante des deutschen protestantischen Pietismus. Madame Guyon wurde interniert. Ihre Ideen verbreiteten sich jedoch und verzauberten zahlreiche Damen der höchsten Gesellschaft, unter ihnen Madame de Maintenon. F^nelon lernte Madame Guyon in der Zeit kennen, da er Erzieher des Petit Dauphin war. Er führte Frau Guyon in die religiösen Kreise der Herzoginnen von Chevreuse und Beauvilliers ein. Sein Bemühen richtete sich darauf, die quietistische Lehre mit der katholischen Orthodoxie in Übereinstimmung zu halten. Die Kirche hat gewiß einen weiten Rahmen für die Entfaltung religiöser Impulse, aber Bossuet, das Oberhaupt der gallikanischen Kirche und Wahrer der traditionellen katholischen Lehre, war ein wachsamer, gestrenger, unduldsamer Herr. Er sah die Gefahr, die der allein gnadenspendenden Institution der Kirche durch die quietistische Praxis erwachsen würde. Diese Art Mystik lief in allen Punkten seinem Lehramt entgegen: Wo blieb der Angelpunkt des ganzen

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Christentums: die Lehre vom Sündenfall und der Erlösung des Menschen durch den Mittler Gottes? Ebnete der mystische Quietismus nicht einen Weg zum Pantheismus? Hatten die Jansenisten — und in Bossuet war immer eine gewisse Sympathie f ü r sie in Reserve — vergeblich solche Naturmystik abgelehnt? Was f ü r eine verschwommene Poesie (den Begriff „Poesie" gebrauchte Bossuet audi tadelnd in Hinblick auf den „Τέΐέmaque") war dieser Rausch des Sich-Auflösens im göttlichen Ozean der Unendlichkeit! — und welche Verwegenheit des Individuums, ohne die instituierten Heilsmittel der Kirche zu Gott zu gelangen! Bossuet führte den Kampf gegen F^nelon, der einst sein großer Freund und Vertrauter war, mit aller H ä r t e durch. Der Eindruck der sich entladenden Kontroversenliteratur hinterläßt einen peinlichen Nachgeschmack. Es wurde mit falschen Äußerungen, mit Denunziationen, Drohungen nicht gespart. Die Sache kam vor den König und den Hl. Stuhl. Wer Woche um Woche, Monat um Monat diesen unerbittlichen Kampf in den Dokumenten je verfolgt hat bis zu dem Punkt, wo der an sich unentschlossene Papst dem an Drohung grenzenden Druck des von Bossuet aufgebrachten Königs endlich nachgab und — wenn auch in milder Form — die Verdammung des Quietismus und Finelons aussprach, den ergreift ein Mißbehagen über die Vorgänge, in denen sich ernste religiöse Besorgnisse mit niedrigen persönlichen Intrigen zu einem unsauberen Gemisch verbinden konnten. Mit der so glänzend begonnenen Karriere F^nelons am H o f e ist es aus. Er wird nach Cambrai verbannt. Aber dort entfaltet der Bischof inmitten der Kriegswirren eine so segensreich-charitative Tätigkeit, daß sich ihm die Sympathie des Volkes, das alles Leid und Elend der Kriegszeit zu tragen hatte, in steigendem Maße zuwandte. H a t aber Ρέηείοη endgültig seinem Ehrgeiz entsagt, wieder eine politisch einflußreiche Rolle in Versailles zu spielen? War nach dem Tode des Grand Dauphin nicht sein ihm ergebener Zögling, der Petit Dauphin, der kommende König? Aber auch dieser starb, und mit dem Tode dieses Enkels Ludwigs X I V . geriet die Frage der Nachfolge des Sonnenkönigs in eine brennende Aktualität. Aber auch der Herzog von Orlians, der spätere Regent, gehörte zu den Bewunderern Ρέηείοηβ. Und mußte es dem König nicht gefallen, mit welch Energie der verbannte F£nelon die Jansenisten bekämpfte? Finelons Rat in kirchlichen Dingen wird wieder geschätzt. Sein „come bade", wie wir heute sagen, stand bevor. Aber das Schicksal wollte es anders. Ein Unfall warf ihn nieder. Nach 6 Tagen starb er. Es war im gleichen Jahr 1715, als auch der König starb.

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F^nelon war seit 1693 Mitglied der Academie Frangaise. Auf Grund eines Rundschreibens an ihre auswärtigen Mitglieder, in welchem diese zu der Frage Stellung nehmen sollten: „Queis sont les travaux qui doivent occuper la Compagnie apr£s l'impression de son Dictionnaire?", ging eine Arbeit des Bischofs von Cambrai ein: Es ist die berühmte „Lettre sur les Occupations de l'Academie Frangaise" (1714). F£nelon war ein Mann von feinster literarischer Bildung: Er kannte die antike Dichtung wie die zeitgenössische. Griechenland war das Land seiner Sehnsucht, ohne die er wohl kaum den homerischen „T&£maque" geschrieben hätte. Seine ästhetische Neigung ging auf die „schlichte Natur". Er schien Boileau nahe zu stehen, doch war seine lyrische Vorstellung der simple nature etwas anderes als das simplex des Horaz und seines Sprachrohrs Boileau. In dem naiv-rührenden Seelenton seiner eigenen quietistischen Lyrik trifft er mehr den Ton des Volksliedhaften oder auch den sentimentalen eines Romantikers wie Lamartine. Im 10. Abschnitt seines „Briefes" nimmt er in der sog. Querelle des Andern et des Modernes Stellung. Dieser Streit der Geister gehört weit über die Grenzen des rein Literarischen hinaus in die Geschichte der französischen Kulturkrise, die sich ihrer selbst beim Anbruch des neuen Jahrhunderts bewußt wird. Das der Auseinandersetzung zugrunde liegende Problem ist die Frage, ob es eine Evolution des Geschmacks, der Künste, des Denkens gibt. In den widerspruchsvollen Antworten enthüllt sich eine Bewußtseinskrise des französischen Menschen in einer Zeit, die gerade den Höhenzug der „Klassik" überschritten hatte. Vielleicht war es sogar eine Krise des europäischen Menschen, wie wir es an manchen Parallelen etwa mit deutschen Vorgängen zu erkennen meinen. Der Verlauf des Streites spielte sich wie ein Drama in 2 Akten ab mit einem Vorspiel, einer Pause zwischen den beiden Akten und einem Nachspiel. Um 1680 wagten einige kühne Geister, die Vorliebe so vieler Dichter, Dramatiker und Künstler für die Antike als ein Vorurteil zu kritisieren. Sie sahen die Aufgabe ihrer Zeit darin, sich von den überlieferten Vorstellungen und der Autoritätsgläubigkeit zu befreien und eigene Wege zu suchen. Die Zeit war reif, das Vorgeplänkel zu der großen Auseinandersetzung auszulösen. Seit dem Beginn des Jahrhunderts waren Zeichen einer neuen Ära aufgetaucht. Dichter wie l y o p h i l e de Viau oder SaintAmant, Romanciers wie Charles Sorel oder Honore d'Urf£ hatten schon auf das Recht gepocht, einer von traditionell-humanistischen Vorurteilen befreiten Inspiration zu folgen. In der zweiten Jahrhunderthälfte setzte

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die Wirkung Descartes' und Pascals als fortschrittlicher, von der aristotelisch-naturwissenschaftlichen Autorität sich lösender Kräfte ein. Die Krise griff auf andere Gebiete über: Das Christentum wurde von den „Modernen" als ein Fortschritt gegenüber den antiken Religionen bezeichnet. F^nelon spricht des längeren davon: die „Alten hätten einen großen Nachteil durch ihre mangelhafte Religion", die „zu Zeiten Homers . . . nur ein monströses Gewebe lächerlicher Fabeln und Märchen" sei. In der Literatur bekundet sich diese „Fortschritts"tendenz darin, daß entgegen der humanistisch-mythologischen Lyrik, Epik, Dramatik nunmehr die christliche Thematik — freilich ohne Berufung auf die mittelalterliche Literatur — in das Schrifttum gedrungen ist. Da entspann sich der Kampf um den Vorrang des „merveilleux chrötien" und des „merveilleux paien". Auf weitere, unerwartete Gebiete dehnte sich die Krise aus: Um 1680 redigierte der Gelehrte Francois Charpentier die Legenden zu den Bildern Lebruns in der Galerie von Versailles in französischer Sprache. Das war ein Affront gegenüber dem Latein, das bislang für Monumente dieser Art allein gebräuchlich war. Zu seiner Verteidigung verfaßte Charpentier einen Traktat „De l'Excellence de la Langue franqaise". Das erinnert an den Skandal, den um diese Zeit, 1687, unser Christian Thomasius mit der Einführung der deutschen Sprache im akademischen Unterricht an den deutschen Universitäten hervorrief. Nadi diesem Vorspiel öffnet sich die Szene zum 1. Akt. Am 27. Januar 1687 läßt Charles Perrault, der zukünftige Verfasser der „Contes de ma Mere l'Oye", anläßlich einer feierlichen Sitzung der Academie zur Genesung des Königs ein Gedicht verlesen: „Le Siecle de Louis le Grand". Darin kritisiert er Homer, unterstreicht Mängel und Fehler der Alten und lobt auf deren Kosten die Philosophen, Künstler, Schriftsteller der eigenen Zeit; er vergleicht das Jahrhundert Ludwigs XIV. mit dem des Kaisers Augustus. Den ersten Ausbruch aus der Umklammerung durch die geweihte Autorität des Aristoteles hätten die Naturwissenschaftler gewagt; denn sie erforschten die Wahrheit nicht mittels der überalteten Bücher eines Aristoteles, eines Hippokrates, eines Ptolemäus, sondern forschten mit den modernen Instrumenten des Teleskops und Mikroskops und gelangten zu neuen Wahrheiten in der Physik, der Medizin, der Astronomie. So wollen sich heute auch die Künstler von der Autorität der Antike befreien und modernen Inspirationen folgen, während — eine interessante Einschränkung — die Autorität in Fragen der Religion und Politik unangetastet bleiben soll! Der erste Ansturm auf die Bastionen der Tradition

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bleibt also noch auf halbem Wege stecken — jedenfalls im offiziellen Rahmen der Academie — oder, so könnte man auch sagen, er erobert sich nach kartesianischer Methode die Terrains in der Folge der Schwierigkeiten, und überläßt der folgenden Generation die ihr zufallende Weiterarbeit an der Aufklärung. Die Versammlung zollte Beifall; aber Perraults alter Gegner Boileau ist anderer Ansicht, und die besten Dichter und Schriftsteller der Zeit, die heute den Ehrennamen „Klassiker" tragen, schließen sich ihm an: Racine, Lafontaine, La Bruy£re und auch Bossuet. Ein jeder spricht von seiner Welt, von seiner Sicht aus: Racine als moderner Euripides, Lafontaine als zweiter Äsop, La Bruy^re als französischer Theophrast und Bossuet als Hüter der katholischen Tradition. Aber die Positionen der „Modernen" konnten allein von der Literatur her nicht erschüttert werden. Die Modernen verfügen über so etwas wie ein Parteiorgan, den „Μercure galant" und haben einen großen Teil der Frauen auf ihrer Seite. Im Jahre 1688 veröffentlicht Fontenelle seine „Digression sur les Anciens et les Modernes". Heben wir 3 Punkte daraus hervor: „Nichts hält den Fortschritt der Dinge so auf, nichts begrenzt den Geist so sehr w i e eine exzessive Bewunderung der Alten . . . Wollte man eines Tages ebenso starrsinnig mit Descartes verfahren, so würde das genau so nachteilig sein." „Das allgemeine Problem des Vorrangs der Alten oder der Modernen reduziert sich auf die Frage, ob die Bäume, die früher bei uns wuchsen, größer

waren als die heutigen. Falls sie es waren, würden unsere letzten Jahrhunderte nicht an Homer, Piaton und Demosthenes heranreichen können . . . D i e N a t u r v e r f ü g t . . . über einen gewissen Teig, der immer der gleiche bleibt, den sie aber unaufhörlich auf tausend Arten knetet und wendet, und aus dem sie dann Menschen, Tiere und Pflanzen bildet; und zweifellos hat sie einen Piaton, Demosthenes oder H o m e r aus keinem feineren oder besser zubereiteten Stoff gebildet als unsere Philosophen, unsere Redner und unsere Dichter v o n heute." „Die Alten hätten alles erfunden, das führen ihre Parteigänger triumphierend an; also hätten sie audi mehr Geist gehabt als wir; keineswegs; sie sind nur vor uns auf die Welt gekommen . . . Hätte man uns an ihren Platz gestellt, dann hätten wir die Erfindungen gemacht."

An Fontenelles Seite steht Perrault. Im gleichen Jahr wie Fontenelle seine „Digression", hat Perrault seine ersten „Paralleles des Anciens et des Modernes" publiziert. Vieles erinnert darin an die eben zitierten Gedanken Fontenelles. Aber Perrault verschärft sie zu der Vorstellung einer unfehlbar sich in den Zeitläufen vollziehenden Perfektionierung der Menschenwerke. Der Gedanke überschlägt sich, wenn Perrault sich in seiner

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Begeisterung zu der Behauptung versteigt, daß „alle Modernen" in „allen Gattungen" nur aus dem Grunde den Vorrang verdienten, d a ß „es nidits gibt, was die Zeit nicht perfektioniert". Die Überlegenheit der Modernen über die Alten bekunde sich auch auf dem Gebiet der Künste, die in einer funktionellen Abhängigkeit von der Perfektionierung der technischen Mittel sowie der vertieften Kenntnis der Kunstgesetze und einer verfeinerten Psychologie stehen: „Die Malerei ist heute in sich selbst vollendeter als in dem Jahrhundert Raphaels, weil unsere Zeit von den Problemen des Halbdunkels, der Abtönung des Lichtes und der Gefälligkeit der Komposition mehr weiß und eine feinere Empfindsamkeit hat als je zuvor."

Perrault und Fontenelle führten ihre Ideen zu einem ersten Sieg. Ihre Schriften wurden günstig aufgenommen. Fontenelle zog 1691 in die Academie Frangaise ein. Aber schon 1693 erfolgte die Wahl La Bruy&res in die Α ί ^ έ η π β . Jedermann kannte den Leitgedanken am Anfang seiner „Les Caracteres", die bereits 1692 in der 7. Auflage erschienen waren: „Alles ist gesagt, und man kommt über 7000 Jahre zu spät, seit es Menschen gibt, die denken . . . Man hält nur Nachlese nach den Alten und den Guten unter den Modernen."

La Bruy£res Discours de Reception wurde zum Skandal, weil er nur die Anhänger der Gegenpartei kritisierte. Der Mercure galant schlug zurück, aber da trat Boileau auf den Plan. Er gab zu, daß die Alten nidit immer die Bewunderung verdienten; einige aber seien unvergleichlich; die Nachwelt habe das Urteil gesprochen, und was die modernen Schriftsteller betreffe, so sei abzuwarten, welcher Preis ihnen von der Zukunft zuerkannt werde: „Das Alter eines Schriftstellers ist kein sicherer Titel seines Verdienstes; aber die alte und beständige Bewunderung für seine Werke ist ein Beweis dafür, daß man sie bewundern muß . . . Das Gros der Menschen täuscht sich auf die Länge nicht über die geistigen Werke. Es handelt sich heute nicht mehr darum festzustellen, ob Homer, Piaton, Cicero, Vergil wunderbare Autoren waren; das ist heute unbestritten, da 20 Jahrhunderte darin übereinstimmen. Es handelt sich darum herauszufinden, worin dieses Wunderbare, das ihnen die Bewunderung so vieler Jahrhunderte eintrug, eigentlich besteht. Das allein muß aufgefunden werden, oder man muß auf die schöngeistige Literatur (belies lettres) verzichten . . ( R e f l e x i o n s sur Longin, VII)

Auf diesen Ersten Akt, in dem man fast die Geburtsstunde der modernen Literatur- und Kunstwissenschaft erblicken könnte, folgte eine

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Waffenruhe von etwa 20 Jahren. Perrault und Boileau schienen ausgesöhnt, aber der tiefere Gegensatz der Motive war nicht aufgehoben. Die Feindseligkeiten brachen von neuem auf. Der Kampf entzündete sich an Homer. 1699 legte die Hellenistin Madame Dacier eine Prosaübersetzung der „Ilias" vor. F^nelon schloß seinen homerischen „Telemaque" ab, und Houdart de la Motte, ein Schüler Fontenelles, komponierte eine auf 12 Gesänge zusammengedrängte französische „Ilias", für die er, da er kein Griechisch konnte, die Übersetzung Daciers zu Grunde gelegt hatte. Frau Dacier protestierte, und schon griffen die Parteien wieder zu den Waffen. Die „Ilias" und kein Ende — so könnte man die Streitschriften des ΑΜ}έ de Pons, des Abbέ Terrasson, des Abbi d'Aubignac um Homer und sein Werk bezeichnen. Die Academie wandte sich an F£nelon, und Finelon gelang es, mit dem 10. Kapitel seiner „Lettre α l'Academie" einen vorläufigen Ausgleich herbeizuführen. Die 10 Punkte dieses 10. Kapitels „Sur les Anciens et les Modernes" sind im Geiste des Verständnisses für beide Parteien redigiert und verraten den feinen, humanistischen Kenner der Antike und den versöhnlichen Charakter des Verfassers. Es seien nur 3 Punkte als Beispiele angeführt: „Ich möchte gleich zu Eingang den Wunsch ausdrücken, daß die Modernen die Alten überträfen . . . Die Alten würden dabei so vortrefflich bleiben, wie sie es eh und je waren, und die Modernen wären eine neue Zierde des Menschengeschlechts . . „Ich gebe zu, daß der Wettstreit der Modernen gefährlich wäre, wenn er damit endete, die Alten zu verachten und ihr Studium zu vernachlässigen. Der richtige Weg, sie zu besiegen, ist der, daß die Modernen aus allem, was die Alten an Auserlesenem darbieten, Nutzen ziehen, und daß sie deren Idee von der Nachahmung der schönen Natur noch stärker zur ihrigen machten . . „Ich stehe nicht an zu sagen, daß selbst die vollkommensten Alten ihre Unvollkommenheiten haben. Uns Menschen war es zu keiner Zeit gestattet, eine absolute Vollkommenheit zu erreichen . .

Zusammenfassend bemerkt F^nelon, er wolle die Alten nicht als vollkommene Muster rühmen; er wolle niemandem die Hoffnung nehmen, über sie hinauszukommen; er wünsche im Gegenteil, daß die Modernen eben durch das Studium der Alten die Alten hinter sich ließen. Des öfteren war im Laufe der „Querelle" von der Malerei, der Plastik, der Architektur die Rede. Auch Finelon sprach von den Künsten, von den griechischen, arabischen, gotischen Bauwerken, und lenkte den Blick der Zeitgenossen auf die Gesamtheit der Kulturphänomene. So erwachte um 1700 ein kritisches Kulturbewußtsein. Es entfaltete sidi in Du Bos'

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Arbeiten zur Dichtung und Malerei und in einer späteren Phase philosophischer Orientierung in Rousseaus Kulturanalyse. Als die Zeit der Romantik gekommen war, brach der Streit der „Anciens et Modernes" unter den Vorzeichen einer andern Kultursituation von neuem auf. In diesem Sinne war Victor Hugos „Preface de Cromwell" eine zweite Phase der ewigen „Querelle": eine Auseinandersetzung der modernen Romantiker mit den alten Klassikern nunmehr des 17. Jahrhunderts. Wieder eine Generation später, und eine dritte Phase wird erkennbar in dem Kampf der Naturalisten gegen die nunmehr „veralteten" Romantiker. Und so geht es fort und fort ad saecula seaculorum. Was wir an der Querelle des Anciens et des Modernes also erfahren können, ist offenbar die Unauflösbarkeit der Antinomien von Alt und Jung, von Tradition und Fortschritt, von Autorität und Freiheit, von einem geschichtsbelasteten Bewußtsein und einem auf die jeweilige Gegenwart bezogenen Denken und vorurteilslosen Urteilen. So hat die „Querelle" ein ewiges Nachspiel, und jedes Nachspiel wird wieder zu einem eigenen Akt, wo unter veränderten Bedingungen und Formen dasselbe Spiel der Antinomien von neuem anhebt.

KAPITEL IV

Die Welt des Theaters Frankreichs „17. Jahrhundert" hat in dem kurzen Augenblick der 60er Jahre die Blüte seines „klassischen Theaters" entfaltet. Sehen wir von der weltgültigen Bühnendichtung der attischen Tragödie ab, erscheint uns, aus der Distanz betrachtet, das französische Theater im Zeitalter Ludwigs X I V . als einer der vier Gipfel der europäischen Theaterkultur. Er taucht am spätesten in der Landschaft des damaligen Welttheaters auf. Vor ihm liegen die Gipfel der italienischen, spanischen, englischen Theaterkunst. Die Leistungen Italiens waren die Commedia dell'Arte und die Oper des Barocks. Die Leistungen Spaniens waren das Schauspiel Tirsos, Lopes, Calderöns und das religiöse Weltdrama der „autos sacramentales", der Fronleichnamsspiele. Die Leistung Englands heißt Shakespeare — oder die Synthese von nationaler Volksbühne und Menschheitsdrama. Die Leistung Frankreichs verdichtete sich zu der „klassischen" Kunst der drei Meister des gesprochenen Theaters: Corneille — Racine — Moli£re, dem ebenbürtig die Ballettkunst und die Oper als die „barocken" Leistungen der französischen Bühne an die Seite treten. Das französische Theater jener Zeit ist ein künstlerisches und soziales Ereignis. Eine Aufführung in Versailles ist eine Zeremonie wie ein Hofballett, eine Messe oder ein Botschafterempfang. Sie ist ein sozialer Ritus, in dem die honnetes gens kommunizieren; sie verbindet Hof und Staat, la cour et la ville; und sie ist sogar, wie in einigen Balletten, das gesellschaftlich so kuriose Ereignis, wo der König selbst, einer der besten Tänzer des Reiches, mit bürgerlichen Damen tanzt. Selten ist sich der Theaterbesucher im klaren, wieviele Elemente sich in dem Phänomen „Theater" wechselseitig durchdringen. Den Dichter, Schattspieler, Theaterdirektor kennen wir aus ihrem Gespräch im Vorspiel zum „Faust". Heute ist der Regisseur in die vorderste Reihe getreten und macht seine Rechte selbst gegenüber dem Autor eines Stückes geltend. Früher waren, wie zuweilen auch noch heute, die größten Dramatiker auch ihre eigenen Regisseure: Aischylos, Shakespeare, Moli£re, Goethe, Schiller, Wagner, Brecht. Seit je spielte die Musik auf dem Theater

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eine große Rolle, sei es in der Oper, in der Operette, im Singspiel, im Ballett, in der Revue oder als Song im Bühnenstück. Aber auch das Auge will sehen, und die Arbeit des Bühnenbildners und Kostümschneiders ist f ü r das Gesamtkunstwerk einer Theateraufführung von Wichtigkeit. Seit je hatten die Techniker und Maschinisten ihre Bedeutung; die Italiener erwiesen audi in dieser Sparte des barocken Theaterlebens ihre Virtuosität, die ganz Europa bewunderte. Schließlich bestimmt der Theaterraum·, die freie Bühne im Park von Versailles, oder der geschlossene Spielsaal in der Stadt, Struktur und Aufführungsstil der großen und kleinen Gattungen. So sehr aber das Theater eine Welt für sich bedeutet, eine Welt mit eigenen Gesetzen, eigener Moral, eigener Ästhetik, so lebt es nie allein aus sich heraus, sondern steht immer in funktioneller Verbindung mit dem Publikum, für das es spielt, gleich ob dieses Publikum der König und sein Hof war, oder ob das gebildete Bürgertum im Parkett und den Logen saß, oder ob ein Moliere in der Provinz, in Paris, in Versailles seine Farcen, Ballett-Komödien oder seine großen Charakterstücke aufführte. Es gab zu Beginn des Jahrhunderts zwei Spielhäuser: das Hotel de Bourgogne, das die Confreres de la Passion 1599 der Truppe von Valleron-Lecomte überlassen hatte. Das andere war das Theatre du Marais. Gespielt wurde insgesamt auf vier Bühnen. Zwei davon waren armselige, unbequeme Säle. Der Saal der Rue Vieille du Temple, in dem Corneilles große Werke gespielt wurden, war ganze 18 m lang. Die andere Bühne, das Hotel de Bourgogne war gleichfalls erbärmlich ausgestattet. Dagegen war die Salle du Marais moderner. Der Spielraum, die Szene, wurde erhöht und bekam eine Tiefe von 14 m. Die größten Säle waren die Salle du Louvre und die Salle du Petit Bourbon. Der Louvre-Saal hatte 40 m Länge auf 1 8 m Breite. Er war der große Ballsaal und Schauplatz der Hofballette. In der Salle du Petit Bourbon spielten auch die Italiener seit 1653. Als Moli£re 1658 aus der Provinz nach Paris zurückkam, teilte er sich die Wochentage f ü r seine Aufführungen mit den Italienern. Um 1660 fanden im allgemeinen wöchentlich 3 Aufführungen statt: Es wurde am Sonntag und Dienstag gespielt, der Freitag war den Premieren vorbehalten. Die Spielzeit war zumeist der Spätnachmittag. Abendaufführungen kamen erst später in Mode. Der Zuschauerraum, in Form eines Ballspielsaals, war schmal und lang, die meisten Logen zu weit von der Bühne entfernt, und das Parterre hatte keine Erhöhungen. Wir wissen von all den Einzelheiten außer manchen andern Dokumenten vornehmlich aus des Abbe d'Aubignac „Pratique du Theatre" (1657),

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die also die Zustände kurz vor der Regierungszeit Ludwigs X I V . darstellt. Die Disposition in Parterre, Logen, Galerien entsprach in groben Umrissen den heutigen Verhältnissen. Die Logen waren für die Frauen reserviert; über das Parterre sind wir aus verschiedenen Quellen gut unterrichtet. Nach englischem Vorbild wurden für das elegante und aristokratische Publikum audi einige Sitze, „banquettes", auf der Bühne selbst aufgestellt, was eine nicht unbeträchtliche Behinderung des Spiels bedeutete. Die Bühne selbst hatte die Form eines Trichters. Eine Rampe, welche die Schauspieler vom Publikum trennte, gab es noch nicht. Der Vorhang wurde zum Ereignis. Die Bühnenbilder im klassischen Sprechtheater waren denkbar einfach. Die Bühnendichtung eines Corneille, Racine, Moliere bedurfte keines prunkhaften Dekors. Das „Memoire de Mahelot", das sich auf die Stücke zwischen 1622 und 1635 im Hotel de Bourgogne bezieht, gibt uns Auskunft über die damaligen Bühnenbilder. Neuere Forschung hat eruieren können, daß die Inszenierungspraxis damals eine eigenartige Mischung aus antiken und mittelalterlichen Theorien und Praktiken gewesen ist. Aus dem Mittelalter stammte die Simultanbühne der Mysterienspiele, die verschiedene Teile des Kirchenraums für den Wechsel der Bühnenbilder benutzte; als das Spiel später v o r die Kirche gezogen wurde, entstanden die „mansions" , die Himmel, Hölle, Jerusalem, Nazareth, Bethlehem usw. repräsentierten. Solche Simultanszenerien wurden später sogar in die geschlossenen Theaterräume übernommen. Das Charakteristische war also nicht die zeitliche Abfolge der Bilder, sondern ihre gleichzeitige Präsenz. Die andere Tradition kam aus der Antike. Das Werk des römischen Baumeisters und Ingenieurs Vitruvius Pollio „De Architectural das dem Kaiser Augustus gewidmet ist, wurde 1547 von Jean Martin ins Französische übersetzt. Darin handelt Vitruv außer über die Anlage von Städten, den Bau von Tempeln und Privathäusern auch über die Baupläne von Theatern. Er unterscheidet — mit den Begriffen der französischen Übersetzung ausgedrückt — drei Szenen, die sc£ne tragique, die sc£ne comique und die scfene satirique. Jede hat ihren besonderen Charakter. Das Bühnenbild der Tragödie stellt Säulen, Paläste, Statuen „und andere zur Hofhaltung gehörige Kulissen" dar. Die Dekoration in den Komödien besteht aus „Häusern mit Balkons und zahlreichen Fenstern". Die scene satirique (was nichts mit der römischen „Satire", sondern mit dem griechischen Satyrspiel zu tun hat) hat als Bühnenbilder „Bäume, Grotten, Berge und andere zu einem Landschaftsbild gehörige Dinge". Wenn also

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der berühmte Laurent Mahelot im 17. Jahrhundert (er begann sein „Memoire" — an dem vermutlich 3 Verfasser gearbeitet haben — um 1633) Paläste, Kolonnaden, Statuen für die Tragödie; Straßen und Häuser für die Komödie, und „d£cors de pastorale" für die Schäferspiele verwendet wissen will, ist die Herkunft von Vitruv unverkennbar. Nicht weniger deutlich ist aber der Einfluß des Italieners Serlio, dessen Anweisungen dem barocken Geschmack Eingang in die Bühnenbilder der scene satirique verschaffen. Sie sollen geschmückt werden mit „Bäumen, Früchten, Kräutern und Blumen an den Bächen, und Felsen sollen da stehen in Muschel- und Schneckenformen aller Art, und andere seltsame Tiere auf Korallenzweigen... nacres de perles et casserons marins ins£r£s parmi les pierres avec une grande diversite de belies choses". (Zit. bei Deierkauf-Holsboer, Histoire de la Mise en βΰέηβ, p. 48.)

Wir treten in den Bereich der Oper, einer Schöpfung aus ganz anderm Geiste als dem des klassischen Worttheaters. Die Oper war ein Kind des italienischen Barockgenius. Sie wurde in dem Humanistenkreis der Florentiner Camerata, zu der Künstler, Dichter, Musiker und Philosophen gehörten, im Jahre 1600 unter dem Einfluß des altgriechischen Dramas, das man fälschlicherweise als lyrisches Theater auffaßte, im Hause des Grafen Bardi konzipiert. Schon J.-J. Rousseau hat in seinem Artikel „Op^ra" des „Dictionnaire de Musique" darauf hingewiesen, daß die attische Tragödie kein „genre lyrique" war und in gar keiner Beziehung der modernen Gattung eines theatre lyrique ähnelte. Vielmehr entwikkelte sich die neuartige Kunstform aus den mittelalterlichen Mysterienspielen, den humanistischen Schuldramen und den Madrigalkomödien der frühen Renaissancezeit. Daß sie im Frankreich des Ludovizianischen Zeitalters solchen Aufschwung nehmen konnte, lag an drei Umständen: der Beliebtheit des echt französischen air de cour, dem persönlichen Einfluß Mazarins und Ludwigs XIV., und der Genialität und Initiative des französierten italienischen Komponisten Lully. In der ganzen ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts war die Monodie des air de cour in hohem Ansehen. In dieser und allen verwandten Gattungen der monodischen Kantate war das Problem die Verbindung von Rezitativ, also dem Wort, mit der geschlossenen musikalischen Phrase. Schon in Italien waren solche monodischen Sätze so beliebt, daß wir allein in dem Zeitraum von 1600—1625 nicht weniger als 136 Sammlungen italienischer Monodien kennen. Von

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der Beliebtheit in Frankreich zeugen die zahlreichen „Airs de cour de differents autheurs mis en tablature de luth", die zwischen 1602 und 1628 veröffentlicht wurden. Pierre Guesdron, einer der berühmtesten Komponisten solcher Monodien, ist in dem Roman des „Grand Cyrus" von M" e de Scudery erwähnt. Er figuriert auch in der Sammlung der „French Court Ayres", die Edward Filmer 1629 in London veröffentlichte. Der Herzog von Mantua, Vincent Gonzague, Schwager Heinrichs IV., ließ sich alle Airs de cour Guesdrons zusenden. Guesdrons Schwiegersohn, Antoine Boesset, setzt das Werk fort. Diese „höfischen Melodien" sind gewiß keine große Musik, aber sie bilden, wie J . Combarieu sagt, „un ensemble de qualites que, sans crainte de parti pris, on peut appeler frangaises". (Histoire de la Musique II.) Ihr geistvoller, sentimentaler, elegischer Charakter, durch den die Preziosität der Zeit hindurchzutönen scheint, bereitet den Weg zur Opernarie. Die Bekanntschaft mit der Oper verdanken die Pariser der Vorliebe ihres unbeliebten Kardinals Mazarin. Er holte italienische Sänger, Musiker, Theatertechniker aus Italien und ließ in einigem zeitlichen Abstand den Orpheus und die Nozze di Peleo e di Tetide sowie den Xerxes mit einem unerhörten Aufwand an Kosten aufführen. Wenn wir Voltaire, der in dem Artikel „Art dramatique" seines Dictionnaire philosophique sich sarkastisch über dieses Kulturgeschenk geäußert hat, Glauben schenken wollen, dann hätten sich die Pariser bei diesen Darbietungen zu Tode gelangweilt: Nur wenige hätten überhaupt italienisch verstanden, fast niemand die Musik, einig wären sich alle nur in der Abneigung gegen den Kardinal gewesen, der ihnen dieses ungewohnte Spektakel geboten habe. Der Geschmack an der italienischen Musik sollte sich erst hundert Jahre später in der französischen Nation verbreiten, als Pergolesi und die italienischen Buffonisten mit der „Serva Padrona" in Paris siegten, und Rousseaus Singspiel „Le Devin du Village" (Der Dorfwahrsager) die Pariser und den König Ludwig X V . in Entzücken setzen. Im übrigen war es J . - J . Rousseau, der das Problem der „Oper" sah und die fachlichen Kenntnisse sowie die kompositorische Praxis hatte, um darüber urteilen zu können. Es ist seltsam, wie wenig die Kulturhistoriker diesen Rousseau, den Musiker und Theoretiker, kennen und würdigen. Er sagte, daß die Oper „une troisi£me εερέεε de drame" sei und ihre Eigengesetzlichkeit habe. Er sah genau, wo die Eigenart der Oper lag: in einer Art totalen Bühnenkunstwerks, durch welches Geist und Sinne gleichermaßen angesprochen werden sollten.

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„Durch das Diditerwort spricht die Oper zum Geist; durdi die Musik zum Ohr; durch das Bühnenbild zu den Augen; und das Ganze soll vereinigt werden, damit das Gemüt bewegt und derselbe Eindruck auf dem Wege der verschiedenen Organe hervorgebracht werde."

So beginnt der Artikel „Opera" seines Dictionnaire de Musique. Er sah als erster das Problem der Synästhesie: „ L ' a r t . . . sait exciter par un sens des Amotions semblables ä Celles qu'on peut exciter par un autre . . . " (ib.). Er sah das Ideal, aber zugleich auch den Mangel in der Praxis. Der Opern text wird f ü r die Musik zurechtgeschnitten; die Musik wird dann umgekehrt f ü r den Text präpariert. Ergebnis: „ . . . avec beaucoup de bruit on nous donne peu demotion." Es ist hier nicht der Ort, die äußerst interessanten Theorien Rousseaus weiterzuverfolgen. Man müßte die Linie über Grimm, Mozart, G r i t r y zu der französischen Revolutionsoper und in einer andern Richtung zu Weber und Wagner weiterziehen. „ O p e r und Drama" Wagners sind der letzte großangelegte Versuch einer bei Rousseau angedeuteten Rechtfertigung der Idee eines Gesamtkunstwerks. H e r nach ist die Operntheorie die Gesdiichte einer großen Rebellion gegen das „tl^ätre lyrique". Als Rousseau seinen grundlegenden Artikel schrieb, war die französische Oper hundert Jahre alt. Die Anfänge sind kurios. Der Komponist Cambert schrieb in einem Memorandum an den König: „Es war immer mein Gedanke, die Musikschauspiele (comedies en musique), wie man sie in Italien macht, (in Frankreich) einzuführen. Also begann ich 1658 mit einer dreistimmigen Elegie in Dialogform . . . Das war die „Muette ingratte". Herr Perrin hörte das Stück . . . (das großen Erfolg hatte und niemanden langweilte, obschon es eine Dreiviertel Stunde dauerte) . . . und es kam ihn die Lust an, eine kleine Pastorale zu komponieren . .

Das ist der Ursprung jener berühmten „Pastorale", die so 1659 auf dem Landsitz des klg. Goldschmieds De La H a y e vor einer zahlreichen, vornehmen Hörerschaft aufgeführt wurde. Wir besitzen das Libretto, aber die Partitur ist bisher nicht gefunden worden. Hören wir Perrin selbst: „Ich habe meine Pastorale ganz und gar in pathetischer Weise komponiert und darin die Liebe, die Freude, die Traurigkeit, die Eifersucht, die Verzweiflung ausgedrückt; und ich habe aus ihr alles verstandesmäßig Schwere verbannt und sogar jegliche Handlung fortgelassen, so daß tatsächlich alle Szenen für den Gesang geeignet sind; aus einer jeden kann man ein Lied oder einen Dialog machen, wenn auch dem Komponisten anzuraten ist, den Szenen keinen ausschließlichen Liedcharakter zu geben, sie vielmehr dem Stil des Theaters und einer entsprechenden Aufführung anzupassen." Und weiter: „Es

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war die Absicht des Verfassers dieses Stückes, einmal den Versuch zu unternehmen, ob ein solches Musikschauspiel nicht einen Erfolg auf der französischen Bühne haben könnte, wenn es den Gesetzen der guten Musik gehorcht und dem Geschmack der Nation entgegenkommt."

Der Erfolg war gewaltig; alle freuten sich über diese neuartige Gattung, und Saint-Evremond berichtet, daß die schönste Wirkung von dem Flötenspiel ausging, „was man seit den Griechen und Römern noch auf keinem Theater wieder vernommen hatte". Perrin ging auf dem erfolgreich eingeschlagenen Wege weiter. Im Vorwort zu seinem Recueil de Paroles de Musique (darin stehen Lieder, Dialoge, Erzählungen, Trinklieder, Serenaden, Maskeraden, Ballette, kleine Komödien usw.) ruft er zu einer Gründung einer Academie de Poesie et de Musique auf. Solch eine nationale Institution sei ein Ruhm für den König, und der König solle nicht dulden, daß „eine Nation, die überall siegreich ist, von den Ausländern auf dem Gebiet dieser beiden schönen Künste besiegt werde, der Dichtung und der Musik . . . Es wäre wünschenswert, daß Ihre Majestät eine .Akademie für Dichtung und Musik' errichte, damit die Gesetze dieser Kunst, welche für die Versöhnung der Dichtung und der Musik so nützlich ist, untersucht und fixiert werden. Mitglieder dieser Akademie sollen Dichter und Musiker sein oder womöglich Dichterkomponisten; ihre Aufgabe wäre es, sich dieser Arbeit hinzugeben, was dem Publikum zum Vorteil, der Nation zum Ruhme gereichen würde."

Colbert erwärmte sich für den Gedanken. Sein Name war schon 1663 mit der Gründung der „Petite Academie" verbunden, aus der später die „Academie des Inscriptions et Beiles Lettres" wurde; nun erhält Perrin am 28. Juni 1669 das klg. Privileg für die Gründung der „Academies d'Opera ou Representations en Musique et en Langue franjaise, sur le Pied de Celles d'Italie". Darin heißt es: „Unser sehr geliebter und getreuer Pierre Perrin (folgen alle Titel und Ämter) . . . haben uns demütig remonstriert, daß die Italiener seit einigen Jahren verschiedene Akademien errichtet haben, in denen Musiksdiauspiele aufgeführt werden, die man,Opern' n e n n t . . . "

Folgt weiter ein Exkurs, wie in Rom, in Venedig, an andern italienischen Höfen, aber auch an den Höfen in Deutschland und England derartige Akademien in Nachahmung der italienischen entstanden seien und blühten, wie eine solche Einrichtung auch in Frankreich dem Könige zum Vergnügen und dem Publikum zum Nutzen gereiche, und wie dieses sich musikalisch schulen könne im Dienst an der vornehmsten der Freien Künste, der Musik. Und so wurde die Akademie gegründet, „pour y

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representer et chanter en Public des Opiras et Representations en Musique et en Vers franjais pareilles et semblables a celle d'ltalie". Perrin erhielt das Privileg. Er arbeitete zusammen mit dem Komponisten Cambert. Beide verbanden sich mit Champeron, einem Abenteurer, der sidi als Edelmann ausgab, und mit einem Edelmann, Sourd^ac, der ein Abenteurer war. Von diesem Sourdeac, über den die Dokumente leider nur spärliche Auskunft geben, wissen wir, daß er auf eigene Kosten in seinem Schloß Neubourg das „Goldene Vlies" (La Toison d'Or) von Corneille aufführen ließ. Er war mit der modernen Theatermaschinerie der Italiener vertraut, wurde der zukünftige Maschinentechniker der oben genannten Musikakademie und muß eine geniale, an den Grenzen der Verrücktheit operierende technische Phantasie gehabt haben, welche vielleicht die der Italiener noch übertraf. Pierre Bayle schrieb am 24. Juni 1675 anläßlich einer Aufführung der „Kirke" an seinen Bruder: „Die Maschinerie (in diesem Stück) ist eine Erfindung von Sourdeac, der in all diesen Dingen unvergleichbar ist, n'en d^plaise £t Baptiste et h. Vigarani" (zit. bei Christout, op. cit. p. 184). Das ganze Opernunternehmen endete zunächst mit einer Pleite. Als Perrin ins Schuldgefängnis kam, trennten sich Sourdέac und Champeron auch von Cambert, entzweiten sich hernach untereinander, und aus dem Konkurs und der ganzen unklaren Sache ging schließlich Lully als eigentlicher Gewinner hervor. Über die geringe Herkunft des Italieners Lulli und seinen Aufstieg als Lully am Hofe Ludwigs X I V . ist viel geschrieben worden. Seine vierfache Leistung wird in der Geschichte der französischen Musik ihren unbestreitbaren Platz behalten. Er war der vom König bevorzugte Ballettmeister und stand auf fast vertrautem Fuße mit dem jungen tanzfreudigen Souverän; er führte die französische Violinistenschule auf die Höhe; er eröffnete den Weg für die moderne Symphonie; und er schuf die Große Französische Oper. Seine Wirkung reichte bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Es ist ein Wunder an künstlerischer und geistiger Beweglichkeit, wie Lully sein italienisches Musikerblut in der streng geregelten französischen Hofatmosphäre gebändigt hat. Er erkannte die Tendenz der Zeit. Er französierte sich und seine Musik. So schuf er die „Tranzösisdie Ouvertüre", ein Instrumentalstück, das in der Satzfolge langsam-schnell-langsam eine Umkehrung der vorgängigen Form der italienischen Ouvertüre mit der Satzfolge schnell-langsam-schnell war. Er schuf die „Französische Suite", ein Bündel unterhaltsamer, abwechslungsreicher Tanzsätze, die er



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einer solchen Ouvertüre folgen ließ. Für seine Comedie-Ballets fand er in Moli^re einen kongenialen Mitarbeiter: Der eine schuf durch Wort und Text das logische Gerippe der Handlung; der andere belebte es durch den Zauber seiner Musik. „Monsieur de Pourceaugnac" und der „Bourgeois Gentilhomme" sind solche aus Handlung, Tanz, Musik gemischten Theaterstücke. Lully trat selbst in M o i r e s Stücken als Tänzer, Sänger und Komiker auf, bis sich diese beiden Theatromanen verzankten und Lully in Quinault den Librettisten fand, kraft dessen literarischer Mitarbeit er die künstlerische Tat der „Tragedie lyrique" — der großen französischen Oper — vollbringen konnte: den Ausgleich von Dichtung und Musik in einem Theaterwerk, in dem Handlung, Wort, Musik von gleichem Range waren, und das nie der Logik und der Raison entbehrte. Als die oben erwähnte Acad^mie d'Op^ra 3 Jahre später 1672 „Academie Roy ale de Musique" wurde, brachte es Lully fertig, sich dank der Protektion Ludwigs XIV. und einiger Intrigen das Privileg aller zukünftigen Opernaufführungen übertragen zu lassen. Weder einem Moli£re noch andern Theaterdirektoren von Paris gelang es, sich der Diktatur dieses Italieners zu erwehren. Es wurde ihnen bei Strafe verboten, ohne Lullys Einwilligung eine Oper aufzuführen. Es wird immer erstaunlich bleiben, wie dieser Wahlfranzose mit Feingefühl erkannt hat, worauf es bei der französischen Oper ankam: Sie war auf dem Sprechgesang aufzubauen. Der Komponist mußte die Gesangspartien in die vom Text getragene Handlung so einbauen, daß ihr logischer Ablauf nicht gestört wurde. Die Ton- und Stimmungsmalerei wurde vom Orchester übernommen. Die Musik trat in den Dienst am Drama. Lully machte Schule über die Grenzen Frankreichs hinaus. Es führten Wege von ihm zu Gluck, Weber und Wagner. Aber schon Rousseau sah die Gefahr, die der Oper drohte, wenn das Gleichgewicht zwischen Dichtung und Musik gestört würde: Wie, wenn die Musik sich selbständig machte und die Dichtung verachtete? „Alors le musicien, s'il a plus d'art que le po£te, l'efface et le fait oublier." Das sollte sich schon mit Mozart und seinen Librettisten ereignen. Lully hatte noch das Glück, in Quinault den idealen Textdichter zu finden, der seinen musikdramatischen Intentionen entgegenkam. Dieser schrieb für ihn 11 tragische Operndichtungen mit Stoffen aus der griechischen Mythologie (Theseus, Persephone, Perseus), der spanischen und italienischen Epik (Amadis, Armida) oder freie Ballettschöpfungen (wie den Triomphe de 1'Amour).

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Audi Corneille hat gelegentlich, so im „Bellirophone", das Libretto geliefert, während Racine sich von Lully distanzierte. Treffend hat Goethe in seinen Anmerkungen zu „Rameaus Neffen" die Bedeutung Lullys zusammengefaßt: „Von diesem Zeitpunkt fing die französische theatralische Musik an, durch mannigfache Verschiedenheiten sowohl in der poetischen Einrichtung der Dramen und der musikalischen Beschaffenheit ihrer Bestandteile, der Arien, Chöre, des mehr singenden oder eigentlich psalmodischen Rezitativs, der Ballette . . . sich zu trennen und zu einer Nationalmusik zu werden . . . So konnte es geschehen, daß seine Musik eine Art Epoche von so langer Dauer in den Annalen der französischen Kunstgeschichte bildete. A n dem schönen Talente Quinault fand Lully eine große Unterstützung. E r war für diese Dichtungsart geboren, deklamierte selbst vortrefflich und arbeitete so dem Komponisten in doppeltem Sinne vor."

Lullys Oper wurde ein integrierender Bestandteil des französischen Theaters, in einem gewissen Sinne zukunftsträchtiger als das Wortdrama; denn Racine war Abschluß, weil er Vollendung war. Das 18. Jahrhundert, Voltaires Tragödiendichtung, kam über ihn nicht hinaus, sondern blieb hinter ihm zurück. Lully aber war ein Anfang, aus dem sich die erstaunliche Geschichte der europäischen Oper bis zu Verdi, Bizet, Wagner und Strauß erst entwickeln sollte. Bestandteil der Oper ist das Ballett. Wieder war es Rousseau, der die Bedeutung des Balletts und der Pantomime als „einer dritten Sprache" — „la danse £tant un langage" — neben der Funktion des Wortes und der Musik kritisch geprüft hat. Am Hofe der Bourbonen wie audi schon im 16. Jahrhundert an dem der Valois, erfreute sich das Ballett besonderer Pflege. Lehrmeister waren die Italiener: Pompeo Diabono, Virgilio Bracesco, Fabrizio Caroso. Der Letztgenannte veröffentlichte 1581 in Venedig „II Ballerino diviso in due trattati", worin die verschiedenen Arten der „Balli e Balletti" „sowohl zum Gebrauch in Italien wie auch in Frankreich und Spanien" beschrieben sind. Bracesco war der Tanzmeister Franz' II., Karls I X . und Heinrichs I I I . Welche gesellschaftliche, aber audi tiefere fast schicksalhafte Bedeutung der Tanz haben konnte, erfährt der Leser aus der Lektüre des berühmten klassischen Romans der „Princesse de Cteves" von Madame de Lafayette, der am Hofe der Valois spielt. Das Ballett bewegte sich früh schon zwischen einer allgemeinen Symbolik der Tanzfiguren, der Kostüme, der Szenerien — und einer thematischen Bedeutsamkeit von zeitpolitischem Charakter. So erhielt manches Ballett in der Epoche Richelieus, der ja auch die Bühnendichtung seiner Zeit und die Arbeit der Acad^mie Franjaise in seinen staats-

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männischen Interessenbereich gezogen hatte, eine eklatante politische Bedeutung. Die Jesuiten spielten mit. Sie führten 1628 in Reims die „Conquete du Char de la Gloire" auf, wo die Giganten des „Schwarzen Turms" (das sind die Hugenotten von La Rochelle) einige Ritter gefangen halten. Kommt der kluge Hirt Caspis (das ist Richelieu) und befreit sie, nachdem der große Theander (das ist Ludwig XIII.) den Drachen, welcher den Turm bewacht, getötet hat. Das ganze wurde als Ballett getanzt und gemimt. Das zeitbezogene politische Ballett blieb bis zum heutigen Tag Bestandteil großer Pantomimenkunst. Aber in der Regel ging es bei dem Ballett, einer Kunstform vornehmlich geselligen Vergnügens, thematisch um ganz anderes. Vergegenwärtigen wir uns nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Titelkreis der Ballette der ersten Jahrhunderthälfte: Ballet de la Folie des Folles (1605); Ballet du Courtisan et des Matrones (1612); Ballet des Argonautes (1614); Grand Ballet du Roy. Ballet de la Reyne (1619); L'Aurore et Cephale (1622); Ballet des Bacchanales (1623); Ballet des Voleurs (1624); L'Entree en France de Don Quijote de la Manche (1626); Ballet de la Tour Babel (1627); Ballet de l'Harmonie. Ballet des cinq Sens de la Nature (1632); Ballet de la Nuit (1634); Ballet de la Marine. Ballet des quatre Monarchies. Ballet des Mousquetaires (1635); Ballet des Rejouissances pour la Naissance du Dauphin (1639); Ballet de la ΡΓΟβρεπιέ des Armes de la France (1642); Ballet des Rues de Paris (1644); Ballet des Nations (1649). Und so geht es weiter. Mythologische, historische, politische, militärische Themen, gesellschaftliche Ereignisse, Ballette der Bauern, Musketiere, Seeleute, der Höflinge, Ritter, Adligen, selbst Don Quijote fehlt nicht, es fehlen nicht die Diebe, nicht die Straßen von Paris — alles wurde zum Thema des Balletts. Eine Generation weiter, und wir können bereits den Opernaufführungen Mazarins beiwohnen. Das Ballett zieht in die Oper ein — und wieder eine Generation später, und der Geschmack am Ballett u n d an der Oper veranlaßte Ludwig XIV. im Jahre seines Regierungsantritts, also noch vor der Einrichtung der Academie de Musique, zur Gründung der „Academie de Danse" (1661). In dem Gründungsschreiben lesen wir: „Obwohl die Kunst des Tanzes immer als eine der nobelsten Künste für die Durdibildung des Körpers und für alle ersten und natürlichen Vorübungen zur Leibeserziehung betrachtet wurde — neben anderen auch des Waffenhandwerks, weswegen sie eine der vorteilhaftesten und nützlichsten Künste für unsern Adel ist, . . . so haben sidi dodi audi in die Tanzkunst wie in alle andern Künste während der verwilderten Zeit der letzten Kriege allerhand

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Mißbräuche eingeschlichen, die leidit zu einem unreparierbaren Schaden führen können . . . Von dem Wunsche beseelt, besagte Kunst in ihrer ursprünglichen Vollkommenheit wiederherzustellen und sie so weit wie möglich weiterzubilden, haben wir es für recht befunden, in unserer guten Stadt Paris eine königliche Tanz-Akademie zu errichten (Acadimie de Danse) nach dem Muster der Akademie der Malerei und Bildhauerkunst."

Des weiteren enthält das Schreiben die Namen der 13 Akademie-Mitglieder, den Hinweis auf die Statuten und die rechtlichen Grundlagen der durchzuführenden Arbeiten; dahin gehört vor allem die Nachwuchsfrage der Tänzer. Man versteht die Sorge des Königs um die Hebung des Balletts besser, wenn man bedenkt, daß Ludwig XIV. selbst einer der besten Tänzer seines Reiches war und in vielen Balletten als Tänzer auftrat. Die beliebtesten Ballett-Themen des Hofes wurden der griechischen Mythologie entnommen: Jupiter (oft vom König selbst getanzt, wie auch Apollon — was mit dem Sonnenkult des Roi Soleil zusammenhängen mag) — neben ihm Venus, Vulkan, Mars, Ceres, Proserpina, Pluto; ganze Schwärme und Scharen von Nymphen, Faunen, Silenen, Dryaden, Najaden, Tritonen spielten und tanzten in den Anlagen von Versailles, Bacchanten und Bacchantinnen zogen vorüber, Momos und Komos und Pan. Die Helden oder Titelhelden der Ballette entstammten audi der antiken Heroenwelt, aber auch dem ritterlichen Mittelalter und den zeitgenössischen Romanen und Epen der Italiener, Spanier und Franzosen: Antonius und Kleopatra, Rinaldo und Armida, die Sdiäfer und Sdiäferinnen des Hirtenromans der Astraea — und es fehlten nicht die Volkstypen aus den realistischen Romanen der Zeit wie dem „Roman comique" und aus den Farcen: eine ganze Welt von Göttern, Halbgöttern, Heroen und Romanfiguren. Die belustigte Neugier der Pariser an fremden und exotischen Völkern schlug sich in den Balletten nieder. Da tanzten nicht nur Ägypter, Perser, Griechen und Römer, da traten auch Italiener, Spanier und manchmal auch Deutsche auf, so wie der Franzose sie als typisch empfand — Engländer fehlten, wohl aus politischen Gründen, und für die Skandinavier und Russen erwachte das Interesse erst später. Aber statt dessen interessierten exotische Amerikaner, Mauren und Türken — wer kann je den Mamamouchi des „Bourgeois Gentilhomme" aus Moli£res und Lullys Ballett-Komödie vergessen! Aber audi spanisch-exotische Thematik kam herüber wie die Gestalt des Atabalipa, Königs von Peru, umgeben von Indianern und Spaniern, und aus dem Orient kam Ibrahim, Bassa von Anatolien, im Kreise seiner Frauen, Janissaren und Eunuchen, und selbst ein Aga Asiens trat auf, nachdem die Berichte der franzö-

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sisdien Missionare die Neugier der Pariser für den Fernen Osten angestachelt hatten. Die Musik zu den Balletten folgte eigenen Gesetzen: Sie hatte den Plänen und Anforderungen der Choreographen zu dienen. Die französische Ballettmusik war bei Hofe so beliebt, daß selbst italienische Komponisten, wenn sie in Paris arbeiteten, sich die Entrees von französischen Komponisten setzen ließen. Die Geschichte verzeichnet berühmte Choreographen, Komponisten, Sänger, Tänzer und Violinisten. Lully war alles das zusammen, aber neben ihm machte sich Pierre Beauchamp, seit 1666 Surintendant des Ballets du Rot und Choreograph der Academie Royale de Musique seit 1671, einen Namen. Er arbeitete mit Lully für das Ballett der „Galanterie du Temps'1 (1656), schrieb allein die musikalischen Intermezzi für die „Facheux" Moliäres und spielte in einem der prächtigsten Ballette, den „Nopces de Pelee et de Thetis", die wir schon erwähnten. Man muß das „Argument" (d. h. die Inhaltsangabe und Szenenbeschreibung von 1654) lesen, um eine Idee von der sagenhaften Prachtentfaltung der Bühnenbilder zu bekommen. Beauchamp war ein ausgezeichneter Pantomime, was ihm Moli^re in den „Amants magnifiques" bestätigt; selbst der kritische Lecerf de la Viiville sagte von ihm: „Personne n'a mieux dans£ en tourbillon"; seine tänzerische Phantasie hat schließlich kein Geringerer als Pierre Rameau in seinem „Le Maitre ä danser" hervorgehoben. (Das „Argument" des Balletts abgedruckt in den Appendices von Christouts „Ballet de Cour.) In der ersten Jahrhunderthälfte wurde nach dem Vorbild der Italiener nodi viel improvisiert. Allmählich reguliert sich, wie im klassischen Schauspiel, die Evolutionskunst der Tänzer. Eine jede Tanzgruppe steht nunmehr unter dem Gesetz ihrer Bewegungssymbolik: Dämonen, Magier, Zauberinnen sind schon an ihren Gesten erkennbar, so auch die allegorischen Figuren der Freude, des Lachens, des Spiels usw., nicht anders ist es mit den Kriegern, Rittern, den Wilden usf. — eine jede Kategorie hat ihre „Schritte" (pas). Aber die Kunst des Tanzens wird auch schwieriger. Immer mehr Berufstänzer drängen die Adligen als Amateurtänzer zurück. Bürgerliche Namen stehen auf den Personen- und Inhaltsangaben. Man sieht auf der Bühne die Kavaliere und Damen des Hofes mit ihren bürgerlichen Partnern — das sind wohl einige der wenigen Momente ihres aristokratisch selbstgefälligen Lebens, wo die soziale Hierarchie aufgehoben ist. Selbst der König tanzte mit Berufstänzerinnen: Die süße V e r t p ^ (la mignonne Vertpri) genoß die Ehre, mit dem König selbst

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im „Ballet de l'Impatience" aufzutreten — und manch andere beliebte Namen hat die neueste Forschung in den Archiven als Tambourin- und Kastagnettenspielerinnen ans Licht gezogen. Von der Pracht und dem Luxus der Kostüme — einer sehr französischen Schöpfung — kann man sidi heute kaum noch eine Vorstellung machen. Sie taten das ihrige in der verschwendungssüchtigen Zeit, um die Staatskasse und das Privatvermögen der Adligen zu erschöpfen. Aber auch die Kostümfragen wurden reglementiert. Es gab eine eigene Charge für die Harmonisierung der Stoffe, Farben, Schmuckstücke; Maskenfabrikanten, Schneider, Goldschmiede, Perückenmacher, sie dienten alle dem Einheitsideal des theatralischen Gesamtkunstwerks. Triumphierten die Italiener im Bühnenbild und den technischen Apparaturen, so herrschte in allen Kostümfragen der französische Geschmack. Um archeologische und geographische Treue war die Ballettkunst unbekümmert. Sie war eine geschlossene Welt für sich, eine Welt der Phantasie, einer konventionellen Märchenwirklichkeit — das großartige Pendant des durchrationalisierten klassischen Tragödienhandwerks, das auf dem Boden eines psychologischen Realismus gedieh. Die Kostüme der Ballett- und Opernwelt waren das Sinnig-Unsinnigste, das je barocke Phantasie ausgedacht hat: eine Orgie von Farben, von Stoffen wie Samt, Seide, Mousseline, Seidengaze, Silber- und Goldbrokat, von leuchtenden Steinen, glitzernden echten und unechten Perlen. Für den Kopfschmuck erschöpfte sich die Phantasie in Turbanen, Federbüschen, Blumengewinden: Die Musik (eine Ballettperson) trägt in den „Fetes de Bachus" als Rock eine Viola, als Kopfschmuck eine Laute; eine Viola da gamba schmückt ihre Brust und zwei Violinen ihre Arme. Die Maske vollendet die Stilisierung der Tänzer; sie erhebt ihren Träger über die reale Welt und stellt ihn in die andere Wirklichkeit, die des Theaters, hinein; sie verwandelt ihn, gibt ihm eine Rolle. Eine entscheidende Rolle aber im Gesamtkunstwerk der Oper und des Balletts spielt das Bühnenbild. Ihre genialsten Schöpfer waren die italienischen Theaterbaumeister. Der große Ingenieur Giacomo Torelli faszinierte die Pariser. Er zog das Publikum in die Oper und die „Ρΐέΰβ h. machine". Er erbaute die Wunderwelt der Perspektive, der mechanischen Tricks, der Illusionsbühne. Auch die Zeit des großen Vorhangs war gekommen. Sein Funktionieren entzückte das Publikum, das im Jahre 1610 das Ballet du Due de Vendome sah. „Als der Vorhang zur Erde fiel", sah es einen Zauberwald und ein verwunschenes Schloß. Zeugnisse der Be-

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wunderung für diese junge Erfindung, die der erwartungsvollen Spannung des Publikums noch bis heute dient, gab es auch für das Ballet des Effets de la Nature, das 1632 im Jeu de Paume du Petit Louvre getanzt wurde. Das technische Lehrbuch des Niccola Sabbattini „Pratica di fabricar machine di teatro" (1618) war audi in Frankreich Gegenstand eifrigen Studiums. War die Dekoration des klassischen Theaters von Racine nüchtern, hier schwelgten Phantasie und Publikum im Zauberreich der Maschine: Der Mond fuhr auf Schienen über das Firmament. Blitze zuckten durch die Nacht. Wolken jagten darüber hin. Das entfesselte Meer peitschte die Wellen über ein System von rollenden Zylindern hinter einem Gazeschleier, bis an die Rampe. Medea fuhr nach ihrer grauenhaften Tat des Kindermordes in die Lüfte, und Pallas Athene schwebte auf einer Eulenkutsche herbei. Aus dem roten Rachen der Unterwelt dampften Ungeheuer empor. Am Himmel wurden die seligen Götter auf Wolken getragen. Grotten und Höhlen, Urformen tellurisdier Elemente, wurden zu Medien von Träumen und höllischen Spukgestalten. Weite, unterirdische Galerien liefen bis an die Gestade des Meeres oder mündeten in einer Totenstadt. Seltsame Lichteffekte drangen von der Oberwelt in das Dunkel. Das Wunderreich der Poesie, hier wurde es zum Wunderreich der staunenerregenden Technik, in deren Erfindungen sich Torelli und Vigarani abwechselnd überboten.

Die

„Klassiker"

Es läßt sich im Bühnenbild des klassischen französischen Zeitalters kein größerer Gegensatz denken als die Theorie und Praxis der Opern und Ballette einerseits und der hohen Komödien- und Tragödiendichtung nebst den Tragikomödien andererseits. Man muß einmal des Abbi d'Aubignac berühmte „La Pratique du TWätre" (in der veränderten Auflage von 1657) parallel etwa mit den kaum bekannten, gleichzeitigen „Remarques pour la Conduite des Ballets" des Jesuitenpaters ClaudeF r a n c i s Menestrier (1658) studieren, um der fundamentalen Unterschiede all dieser theatralischen und dramatischen Gattungen inne zu werden. Was für eine ästhetische und moralische Kraft mußte einer im Geistigen wurzelnden Bühnendichtung innewohnen, wenn sie mit der Beliebtheit der rein sinnenhaft genossenen Musik und Tanzkunst der Opern- und Ballett-Produkte konkurrieren konnte! Die gesamte praktische Leistung

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der klassischen Dramaturgie ist an die Namen Corneille, Racine und Moliere gebunden; auch wenn es viele andere Autoren neben ihnen gibt und Theoretiker wie Chapelain, Heinsius, Vossius, den Abbe de Pure und den Abbe d'Aubignac, wobei wir die Vorläufer im Zeitalter des Humanismus nicht vergessen wollen: Jacques Peletier de Mans, Julius Cäsar Scaliger, Jean de la Taille, Vauquelin de la Fresnaye und Montchrestien. Ein jeder hatte seine Bedeutung. Theoretiker und Bühnendichter des 17. Jahrhunderts waren sich aber nicht nur der Unterschiede der Musik-, Tanz- und Wortdramen bewußt, sie sahen auch das Verbindende. Ein ΜέηββιπεΓ kannte die Fundamentalregeln der „Drei Einheiten" so gut wie d'Aubignac und konnte deswegen über ihre Anwendung oder ihre Ablehnung in den Balletten und Opern theoretisch begründete Urteile fällen. Er und andere Zeitgenossen waren klug genug, die Besonderheiten jedes der beiden Theaterphänomene, nämlich der „dramatischen Repräsentationen" und der dramatischen Dichtung, zu würdigen. Es genügt, seine „Representations en Musique" und seine Abhandlung über die „Ballets anciens et modernes selon les Regies du Theatre" zu lesen. Merkwürdig ist nur, daß 3 Jahrhunderte lang niemand Notiz davon genommen hat. Wenn wir uns jetzt dem „klassischen Dreigestirn" zuwenden, dann in dem Bewußtsein, daß es nur die eine Hemisphäre der gesamten Theatersphäre repräsentiert.

Corneille Pierre Corneille, 1606 in Rouen geboren, war sechs Jahre alt, als Calderon de la Barca zur Welt kam, und zehn Jahre, als Shakespeare starb. Er stand im „Goldenen Zeitalter" der europäischen Theaterkunst, genoß schon zu Lebzeiten Weltruhm, wurde bereits im 17. Jahrhundert in die Literatursprachen Europas (mit Ausnahme der slawischen) übersetzt, und seine Meisterwerke wurden kurz nach ihrer Aufführung diskutiert, bewundert oder verurteilt. Sie entfalteten lebendigstes Leben um sich, gaben der dramatischen Dichtung Frankreichs hohes Niveau, erzogen das bürgerliche wie auch das aristokratische Theaterpublikum zu einem verfeinerten Geschmack in Dingen der dramatischen Poesie. An die geistig-religiösen-politischen Strömungen der Zeit gebunden, waren sie ein Spiegelbild der Größe, aber audi der Wirrnisse seiner Epoche, die in Corneilles künstlerisch entscheidenden Jahren die Epodie der Fronde war. Und wie es mit den Werken der Großen geht, so auch mit den seinen: Ein größerer

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Teil ist vergangen, von der Zeit zerrieben, im Klima der folgenden Generationen verkümmert; ein anderer steht noch da, vier, fünf Bühnenwerke, die noch heute aufgeführt werden und als „klassisches Theater" die Jahrhunderte überdauert haben — obwohl wir Ionesco ehrlicherweise nicht unrecht geben wollen, wenn er in seiner „Εχρέπεηΰε du Theatre" sagt: „Corneille, sinc^rement, m'ennuie. Nous ne l'aimons peut-etre (sans y croire) que par l'habitude. Nous y sommes forces. II nous a έΐέ impose en classe" (In: Notes et Contre-Notes). Früh begeisterte sich Corneille an den römischen Stoikern Seneca und Lucanus. Stoizismus und christliche Moral sollten die Lebensluft seiner späteren tragischen Helden werden. Von Bedeutung aber war auch seine kurze juristische Ausbildung — nicht in dem Sinne, daß er als Advokat wirklich mehreremals plaidiert hat, sondern deswegen, weil sich der Geschmack an der richterlichen Eloquenz in seiner Freude an den oratorischen Debatten seiner Stücke niederschlug. Er selbst war, ähnlich wie sein Geistesverwandter Schiller — immer der Anwalt einer großen Sache. In fünf Etappen verlief dieses ruhmgekrönte, aber in Armut und Traurigkeit endende Leben. Als er 23 Jahre alt war, wurde sein erstes Stück „Milite" aufgeführt. Vier Jahre später wurde er Richelieu vorgestellt und gehörte zusammen mit Boisrobert, Colletet, L'Estoile und Rotrou zu der Societe des cinq Auteurs, deren heikle Aufgabe darin bestand, nach Angaben und Ideen Richelieus Theaterstücke zu fertigen. Corneille fand kein Gefallen daran und zog sich nach Rouen zurück. Die erste Etappe seines dramatischen Schaffens ist die Zeit seiner Komödien und Tragikomödien. Die zweite beginnt mit dem durchschlagenden Erfolg des „Cid" 1637. Mit diesem Werk wurde er berühmt. Das folgende Jahrzehnt ist die Periode seiner Meisterwerke: Auf den „Cid" folgten 1640 „Horace" und „Cinna", 1643 „Polyeucte". Das sind die vier Stüdse, die schon Boileau unter die Meisterwerke der „acht oder neun Theaterstücke" geredinet hat und, so fährt er fort, „gewissermaßen der Mittag seiner Dichtung sind, während das östliche und westliche Gelände nichts Wertvolles gezeitigt hat." (R£flexions sur Longin, VII, 1693.) In die Hohe Zeit der Mittagwende gehört auch die Komödie des „Menteur", aus der Goethe mit 16 Jahren übersetzt hat, und die „Suite du Menteur" (1643/1644). Am Ende der Periode wird er in die Academie Frangaise aufgenommen. Nach dem Durchfall des „Pertharite" (1651) scheint er vom Theater abzurücken. Die dritte Etappe, eine Periode der Einkehr und Besinnung,

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hebt an. Er arbeitet an einer Versübersetzung der „Imitatio Christi". Das Widmungsschreiben an Papst Alexander VII. gewährt uns Einblick in seine seelische und geistige Verfassung. Gedanken an den Tod beunruhigen ihn: „Sie tauchten mich in ernsthafte Reflexionen, daß ich vor Gott zu erscheinen und ihm Rechenschaft über das mir zuteil gewordene Talent abzulegen hätte. Es dünkte mich, daß es nicht damit getan war, wenn ich es darauf eingeschränkt hätte, unsere Bühnen von dem Schmutz und der Zuchtlosigkeit der vergangenen Jahrhunderte zu säubern; daß es mir nicht genügen sollte, an ihrer Stelle moralische und politische Tugenden, ja sogar einige christliche, der Bühne einverleibt zu haben. Ich dachte, meine Dankbarkeit höher erheben zu sollen, und daß ich die Glut meines Genius zu einem Versuch hinlenken müßte, (mit der Ubersetzung) dem Nächsten nützlich zu sein."

Neben der Arbeit an der erbaulichen Literatur des abendländischen Mystikers Thomas a Kempis widmet sich der Dichter der Besinnung auf die Gesetze der dramatischen Kunst. Er redigiert die 3 berühmten Discours: „Über die Nützlichkeit und die Teile des dramatischen Gedichts"; „Uber die Tragödie"; „Über die drei Einheiten". Er schreibt ferner die „Examens", kritische Vorworte zu jedem der Stücke, die später die Erste Gesamtausgabe seiner Werke (1660) bilden. Corneille wurde von Fouquet ermutigt, auf die Bühne zurückzukehren. Die vierte Etappe beginnt: eine Periode des Niedergangs. Corneille ist über 50 alt. Eine neue Generation war im Aufbruch. Zu ihr gehörte ein genialer, junger Diditerkomödiant, vor dessen vis cornica die Lustspieldichtung des Alten zu versinken drohte: Moli^re. Zu ihr gehörte, noch jüngeren Datums, audi ein Tragödiendichter, der, von einem neuen Zeitgeist und einem neuen Kunstbewußtsein getragen, den alternden Kollegen plötzlidi wie im Dämmerlicht einer vergehenden Epoche erscheinen läßt: Racine. N u r mühsam verhüllt Corneille die Bitterkeit gegenüber seinem glücklicheren, jungen Rivalen. Trotz aller Bemühungen um einen Wandel und trotz mancher Konzessionen, die er dem Geschmack einer neuen Zeit macht, kann er sich die Gunst des Publikums nicht mehr zurückerobern. Die letzte Etappe heißt Trauer des Alters und Uberlebens. Es wird einsam um ihn. Gewiß lag noch etwas vom Sdiimmer einstiger Weltberühmtheit auf ihm, bevor nach seinem Tode, als das klassische Theater der Franzosen über die zivilisierte Welt auszustrahlen begann, sein Auf · stieg von neuem einsetzte. Er starb 1684 in Paris. Dangeau schrieb in

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sein Journal·, „man erfuhr in Chambord (wo der Hof sich aufhielt) das Ableben des ,bonhomme Corneille'." „Le Cid". Im Kontakt mit dem spanischen Schauspiel hat Corneille sich den Weg als Dramatiker gebahnt. Initiator der spanischen Mode auf dem Theater war Antoine Le Metel, sieur d'Ouville, ein Bruder Boisroberts und hervorragender Kenner des Theaters von Lope de Vega, Tirso de Molina, Calder0n de la Barca. Die spanischen „comedias" hatten um 1650 großen Erfolg auf den französischen Bühnen. Der Romancier Scarron und Pierre Corneilles Bruder Thomas Corneille, von dem wir viel bei Lessing lesen, waren Verehrer der spanischen Bühnendichtung. Es gab also eine spanische „ambiente" der Bühnendichtung. Der „Cid" ist ein Meisterwerk voller dramatischer Spannungen und szenischer Schönheiten. „Der ,Cid'", schreibt Corneille viele Jahrzehnte später im Rückblick auf dieses im jugendlichen Elan konzipierte Schauspiel, „gilt noch als das schönste meiner Werke im Urteil derjenigen, die sich nicht gerade an die äußerste Strenge der Regeln halten, und seit 50 Jahren behauptet das Stück seinen Platz auf unsern Theatern." Das Thema war in den „Mocedades del Cid" (Die Jugendtaten des Cid) von Guillen de Castro y Belvis (1567—1631) vorgebildet. Auch in Corneilles Bearbeitung weht der ritterliche Geist mittelalterlichen Spaniertums. Der Franzose liebte sein Spanien: „Trotz des Krieges zwischen beiden Kronen", schrieb er 1644, „glaubte ich doch, in Spanien meinen Handel treiben zu dürfen. Wenn diese Art Handel ein Verbrechen wäre, dann hätte idi midi schon lange schuldig gemacht, und nicht allein für den ,Cid', audi für die ,Medee', den . P o m p e i u s ' . . . "

Denn er rechnete zu seinen Spaniern auch Seneca und Lucanus aus Cördoba. Es handelt sich im „Cid" um die Liebe zwischen Rodrigo und Jimena, zwei jungen Menschen, die in das dramatische Spannungsfeld von Ehre, Pflicht und Liebe geraten: Die Ehre gebietet, daß der alte, von Jimenas Vater Don Gomez beleidigte Don Diego, Rodrigos Vater, gerächt wird; Don Diego aber ist alt, er kann sich nicht mehr schlagen; die Pflicht gebietet, daß Rodrigo an seiner statt im Duell mit dem Vater der Geliebten die angetastete Ehre des eigenen Vaters rein wäscht; die Liebe gebietet, daß ihr Gesetz erfüllt wird, und das ist die Vereinigung der Liebenden, obwohl er, Rodrigo, zum Mörder ihres Vaters wird. Das Stück, eine „tra-

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gicomedie" endet nicht tragisch; sondern der König, der oberste Gerichtsherr, schickt Rodrigo noch einmal in den Kampf gegen die Mauren, die Feinde des Landes. Erst nach siegreicher Heimkehr soll die Hochzeit vollzogen werden. Das Stück wurde zu einem der größten Erfolge, welche die Annalen der französischen Theatergeschichte verzeichnen. Ganz Paris, Hof und Stadt, überfüllt die Spielsäle. Die Frauen brachen in Schreie des Entzückens aus; die Kinder lernten Verse auswendig, und in ganz Frankreich lief das zum Sprichwort gewordene Urteil um: „Das ist schön wie der .Cid'." Aber die Opposition erhob alsbald ihr Haupt. Der Kardinal Richelieu schien alarmiert, „als hätte er die Spanier schon vor Paris gesehen", schrieb Fontenelle. Der Streit um den „Cid" entbrannte — eine lange und verworrene Geschichte, in der sich persönliche Feindschaften, Neid und Eifersucht, politische Zwänge und ästhetische Betrachtungen ineinander verwickelten. Schließlich hatte die Academie das entscheidende Wort zu sprechen. Sie mußte den Kardinal beruhigen, die heftigen Angriffe Scudirys mildern, und Corneille selbst Gerechtigkeit widerfahren lassen. Chapelain redigierte den definitiven Text der „Sentiments de Γ Academie sur ,Le Cid'" (1638). Wunderbar erscheint uns Heutigen noch der Brief, den der berühmte Guez de Balzac, Corneilles Verteidiger, an dessen Ankläger Scudiry geschrieben hat: Scudery solle bedenken, daß, selbst wenn seine Argumente unwiderlegbar wären, der Dichter selbst sich über den verlorenen Prozeß trösten könne, nämlich in dem Gedanken: das ganze Königreich mit seinem Schauspiel beglückt zu haben, sei doch etwas Größeres und Schöneres als ein dem Regelwerk gemäßes Stück zu verfassen; . . . denn nie könne Erlerntes (wie die Kunstregeln) höher stehen als das von der Natur Gegebene, die Gaben des Himmels; . . . Corneille sei ans Ziel (des dramatischen Gedichtes) gelangt, auch wenn es nicht auf dem Weg, über Aristoteles w a r ; . . . wie das geschehen konnte, sei sein Geheimnis; . . . „Sie mögen den Sieg im Studierzimmer davontragen; e r hat auf der Bühne gesiegt." Corneille zieht sich verärgert nach Rouen zurück. Drei Jahre hat er über die Kritiken der Academie nachgedacht. Die 3 folgenden „klassischen" Meisterwerke sind die Früchte dieser ästhetischen Besinnung: der „Horace", der „Cinna", der „Polyeucte". Mit dem Horace wollte Corneille seine Gegner entwaffnen: Die drei Einheiten sind aufs genaueste beobachtet. Das Werk scheint jenen Schauer des jugendlich dahinstürmenden Genies verloren zu haben, das vor Jahren in Jimena und Don Rodrigo

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die alles fordernde Liebe verherrlicht hat. Ein anderer Enthusiasmus, ein politischer, bewegt jetzt den Dramatiker. Gleichzeitig muß Corneille am „Cinna" gearbeitet haben; denn beide Werke erschienen 1640. In beiden wandte er sich der römischen Geschichte zu. „Cinna" ist eine ins Dramatische erhobene Analyse eines Willensaktes: Augustus befreit sich durch einen heroischen Akt seiner voluntas von den ihn beherrschenden schlechten Instinkten. Mit kräftigen Strichen führt der Dichter von Akt zu Akt die moralische Entwicklung zu ihrem Höhepunkt und ihrem Ende. Wie er die Sympathie des Zuschauers, die sich anfänglich den Verschwörern zuneigt, allmählich auf den Kaiser Augustus übergehen läßt, und wie er diese kontrastierenden Bewegungen am Leitfaden der Motive glaubhaft macht und dramatisch verwickelt, verrät die Meisterschaft des bewußt nach allen Regeln der Kunst arbeitenden Dichters. Wie den „Cinna" haben wir auch den „Horace", um ihn nicht nur in seiner künstlerischen Vollendung, sondern in seiner vollen Bedeutung recht beurteilen zu können, auf einen politischen Hintergrund zu projizieren. Das Stück wurde in der Zeit der militärischen und politischen Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und Spanien geschrieben, da Richelieus Außenpolitik auf die Brechung der Habsburgischen Macht und die Prädominanz der französischen Krone gerichtet war. Wir erinnern uns der Richelieuschen Devise: Die Staatsraison stehe über den Partikularinteressen, die politische Gemeinschaft über dem Glück und Vorteil des Einzelnen. Das ist das Thema des „Horace", wo das Glück des Individuums dem amor patriae zu opfern sei. Man muß wissen, daß durch Richelieus Staatsgedanken und seine praktischen Konsequenzen viele Konflikte in den Familien hervorgerufen wurden — genau wie in den Familien der Horatier und Küriatier des Corneilleschen Stückes, — wo private Bande und Bindungen herüber- und hinübergesponnen waren. Den Dichter erfüllte kein Gelehrten-Enthusiasmus für Alte Geschichte, sondern er dachte an Frankreich und verdichtete, um mit Antoine Adam zu sprechen, in Versen stärkster Einprägsamkeit den politischen Elan, der die Jugend an die Grenzen des Reiches drängte, wo es die Machtstellung Frankreichs zu sichern galt (Adam, op. cit. I, 525). Corneille inspirierte sich also an der aktuellen Wirklichkeit und nicht an einer abstrakten Idee etwa des Heroismus, nicht an Theorien, die immer etwas von staubigem Gelehrtentum an sich haben. Die Fragen der Form, die Probleme der drei Einheiten, sind auch im Spiel, aber nicht allein. Die Tiefenschicht des politischen Engagements nicht zu sehen, hieße: die eigentümlichen Impulse auch seiner

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künstlerischen Originalität verkennen. Vor soldier Kraft, die das Zeitgeschichtliche im Bilde des Alten darstellen und die moralischen Konflikte einer politischen Tragödie in einer vollendeten dramatischen Struktur bändigen konnte, verstummte die Kritik. Den vierten Erfolg erzielte Corneille mit der dramatisierten Märtyrergeschichte Polyeuctes (1642). Der eine Kern des Stückes ist eine melancholische Liebesromanze, ein Nachhall der Rodrigo-Jimena-Szenen mit lyrischen Stimmungsbildern, wie sie dem Dichter eigentümlich sind. Der andere ist der religiös-mystische Kern, aus dem sich das Geschehen entwickelt: Polyeucte, ein armenischer Seigneur, hatte sich zum Christentum bekehrt und mußte das Martyrium erleiden. Sein Martyrium zieht die Bekehrung seiner jungen Gattin Pauline nach sich; Paulines Bekehrung wiederum die ihres Vaters Felix, — und der Zuschauer ahnt, daß auch Severus, der Pauline einst zur Frau begehrt hatte, und für den auch Paulines Gefühle nicht erstorben sind, den Weg zu dem Gott der Christen finden wird — ein Stück, das später Claudels beißenden, religiösen Spott hervorrufen sollte. Corneille gehört zu den Dramatikern der Weltliteratur, die, wie ein Aischylos, ein Moli^re, ein Gluck, ein Lessing, Schiller oder Wagner, in gewissen Krisenzeiten ihres schöpferischen Lebens über die Probleme der Dramaturgie nachgedacht haben. Erst um 1660 fixierte er seine Ideen. Er war alt und hatte Enttäuschungen hinter sich. Wieder galt es, seine Kritiker zu entkräften und sich gegenüber seinen Rivalen zu behaupten: „Es ist für die spekulativen Kritiker leicht, streng zu sein. Aber wollten sie einmal 10 oder 12 Stücke selbst schreiben und dem Publikum vorlegen, dann würden sie die Regeln vielleicht noch mehr dehnen, als ich es schon tue; denn sie würden sehr bald erkennen, und zwar aus Erfahrung, welchem Zwang sie ihre Exaktheit unterwirft, und wieviel schöne Dinge dadurch von unsern Theatern verbannt würden. Das also sind meine Ansichten, oder, wenn Sie wollen, meine Häresien . . ( A u s : Discours des trois Unites d'action, de jour et de lieu, 1660)

So weit die Plage mit der Einheit des Ortes. Weniger hat den Dichter die Einheit der Zeit zu schaffen gemacht; er fand das Vier-und-ZwanzigStunden-Gesetz ganz natürlich — nicht weil es auf die Autorität des Aristoteles zurückgeht, sondern weil die „raison naturelle" es gebietet. D a nach der Theorie seines Jahrhunderts „das dramatische Gedicht eine Nachahmung" ist, das „Porträt einer Handlung", so wäre es sogar am natürlichsten, daß die Zeit der Bühnenaufführung mit der Zeitspanne des

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porträtierten Handlungsmodells zusammenfällt. Er will aber um die Stundenzahl nicht feilschen: „Wenn wir (die Handlung) nicht in 2 Stunden einschließen können, dann nehmen wir eben 4, 6, 10 Stunden, aber überschreiten wir nicht um vieles die 24; wir könnten sonst ins Unangemessene geraten, und das Porträt derartig zu einem Miniaturbild reduzieren, daß die Größenverhältnisse verloren gehen und Unvollkommenheit das Ergebnis ist." (ib.)

Das Gesetz über die Einheit der Handlung will Corneille so verstanden wissen, wie Aristoteles es in den Kapiteln 7 und 8 seiner „Poetik" formuliert hat. Dort spricht Aristoteles von σύστασις των πραγμάτων, dem Aufbau der Handlungen. Die Tragödie muß „Nachahmung einer vollständigen und ganzen Handlung" sein, „und zwar von einer bestimmten Länge" . . . „Ganz ist, was Anfang, Mitte und Ende besitzt" — όλον δέ έστιν τό εχον αρχήν καΐ μέσον καί τελευτήν, also ein dreigliedriges Gebilde, das auch für Corneille das konstituierende Merkmal einer Tragödie ist: „ . . . celle que le po£te choisit pour son sujet doit avoir un commencement, un milieu et une fin." Jeder Teil hat wieder seine Nebenhandlungen, die den Zuschauer in Spannung halten sollen, bis sich alle zur Lösung der Haupthandlung verbunden haben. Das alles sind nur Andeutungen der komplexen dramatischen Probleme. Corneille selbst hat keinen Anspruch darauf erhoben, sie gründlich durchforscht zu haben: denn „Dieses Unternehmen verdiente ein langes und sehr genaues Studium aller dramatischen Gedichte, die uns aus der Antike überliefert sind, und aller Autoren, welche die Abhandlungen des Aristoteles und des Horaz über die Dichtkunst kommentiert haben, oder auch derjenigen, die im besonderen sonst darüber gehandelt haben. Ich konnte mich nicht entschließen, die Muße dafür aufzubringen, und ich bin sicher, daß viele meiner Leser mir diese Faulheit verzeihen werden und garnicht darüber verärgert sind, daß ich die Zeit, welche ich für die Betrachtung der vergangenen Jahrhunderte hätte anwenden müssen, für neue, eigene Schöpfungen verwendet habe."

Das erinnert an Schillers Bekenntnis, wenn er an Humboldt schreibt, daß er nach so viel ästhetischen und metaphysischen Studien über die Alten und über Kant, endlich „die philosophische Bude" schließen wolle. Der Drang zu eigener Schöpfung war bei beiden Dramatikern der stärkste. Das Unerquickliche all der Theorien, mit denen sich Corneille herumquälte, erfuhr auch Goethe, als er sich in jungen Jahren seinerseits mit Corneille beschäftigte. Die Parallele ist interessant: „Ich las zunächst Corneilles Abhandlung über die drei Einheiten, und ersah

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wohl daraus, wie man es haben wollte; warum man es aber so verlangte, ward mir keineswegs deutlich, und was das Schlimmste war, idi geriet sogleich in noch größere Verwirrung, indem ich midi mit den Händeln über den ,Cid' bekannt machte und die Vorreden las, in welchen Corneille und Racine sich gegen Kritiker und Publikum zu verteidigen genötigt sind. Hier sah ich wenigstens auf das deutlichste, daß kein Mensch wußte, was er wollte; daß ein Stück wie ,Cid', das die herrlichste Wirkung hervorgebracht, auf Befehl eines allmächtigen Kardinals absolut sollte für schlecht erklärt werden . . . Durch alles dieses ward ich verworrener als jemals, und nachdem ich midi lange mit diesem Hin- und Herreden, mit dieser theoretischen Salbaderei des vorigen Jahrhunderts gequält hatte, schüttete ich das Kind mit dem Bade aus und warf den Plunder desto entschiedener von mir . . ( D i c h t u n g und Wahrheit, Teil I, Buch III)

Wieviel mehr Berechtigung haben wir nach 300 Jahren als Goethe nach 150, die „theoretischen Salbadereien" auf sich beruhen zu lassen. Was aber hat es mit dem ernsten Problem der aristotelischen „Katharsis" auf sich? und mit den diese Reinigung bewirkenden Begriffen der „Furcht" und des „Mitleids"?, oder besser übersetzt: des Furchtbaren und Mitleiderregenden. Das Furchtbare ist nicht einfach das Gräßliche, sondern das, was in Erstaunen setzt; und das Mitleiderregende nicht etwa ein Erbarmen, das sich im christlichen Sinne von Gott zum Menschen neigt, wenn seinem Gebet Erhörung wird, sondern ist „die Trauer, die angesichts von großem, aussichtslosem Leiden entsteht" (Olof Gigon). N u n gibt es in Aristoteles' Text (der Poetik) ein weißes Blatt, das allen Gelehrten, die sagen wollen, was nun die Katharsis sei, die mit Hilfe von Eleos und Phobos den Zuschauer im Theater von den Leidenschaften „reinigen" soll, ein Schnippchen schlägt. Denn ausgerechnet wird der kurze Hinweis: δι' έλέου και φόβου περαίνουσα την τών τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν in der „Poetik" nicht ausgeführt, indessen an der einzigen Stelle, wo Aristoteles von der Reinigung durch die Kunst spricht (Politik V I I I , 6 und 7), er die Bemerkung macht, was unter „Reinigung" zu verstehen sei, werde in der Untersuchung über die Dichtkunst genauer erklärt werden . . . Was wir mithin nicht wissen können, und worüber jahrhundertelang diskutiert worden ist, das konnten Corneille und die Theoretiker vor ihm auch nicht wissen. Es scheint mir darum verständlich, daß Corneille dem in seinen eigenen Theorien nicht weiter nachging, sondern es sich in seinen künstlerischen und moralischen Absichten genügen ließ, wenn das Erlebnis einer Tragödie im Theater den Zuschauer dahin führe, daß dieser im Theater einen heilsamen Schauer spüre. Corneille erstrebte mit seinen Bühnendichtungen



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nicht so sehr „Furcht und Mitleid", sondern das Pathos der Bewunderung. Bewundern sollen wir einen Polyeucte, nicht Mitleid mit ihm oder Trauer um ihn haben, und auch keine Furcht, die sein Martyrium in uns erregen könnte. Diesem admirari dienen seine „Dramatischen Dichtungen". Im ersten der „Discours" heißt es: „(La tragedie) veut pour sujet une action illustre, extraordinaire, serieuse": also das Hochberühmte, das Außergewöhnliche, das Ernste. Hochberühmt sind Gestalten wie die Horatier, wie Cinna, Pompeius, mythische Figuren wie Andromeda, ödipus. Außergewöhnlich sind die Handlungen und Begebenheiten seiner Tragödien, außergewöhnlich oft bis zur Unwahrscheinlichkeit, — wäre in mancher Unwahrscheinlichkeit nicht eine Wahrheit verborgen, oder gründete die Unwahrscheinlichkeit nicht auf den Zeugnissen der Geschichte oder des religiösen Glaubens. „Der Dichter muß seinen Gegenstand gemäß dem Wahrscheinlichen und Notwendigen (le vraisemblable et le necessaire) behandeln", schreibt Corneille in dem „Discours sur l'Utiliti et des Parties du Ροέηιε dramatique" und fährt fort: „Aristoteles sagt es, und alle Interpreten wiederholen dieselben Worte, die ihnen so klar und einsiditig erscheinen, daß niemand von ihnen geruht hat, uns zu sagen, auch Aristoteles selbst nicht, was denn eigentlich das Wahrscheinliche und Notwendige sei."

Schon 20 Jahre zuvor hatte Corneille, der Dichter der „unwahrscheinlichen" „Medea", die unklaren Regeln der Alten attackiert und sich die Freiheit genommen, „de choquer les Anciens", und das umso leichter, als sie „nicht in der Lage sind, mir zu antworten" . . . „Es ist mir doch gestattet zu glauben, daß sie (die Alten) nicht alles gewußt haben und daß man aus ihren Lehren Erkenntnisse schöpfen kann, die sie nicht hatten. Ich bringe ihnen gewiß Achtung entgegen, insofern sie Wegbereiter sind, die den rauhen Boden gerodet haben und denselben uns dann zum Kultivieren überlassen . . . Ich ehre die Modernen (j'honore les Modernes) . . . und werde es nimmermehr dem Zufall zuschreiben, was sie aus eigenem Verstand gemacht haben, oder mit Hilfe besonderer Regeln, die sie sich selbst vorgeschrieben haben." (Preface de Clitandre, 1632)

Die Problematik des „Unwahrscheinlichen" — das bei Corneille oft das „Außergewöhnliche" wird, ist freilich bei Aristoteles auch in einem Sinne behandelt, der Corneille eingängig sein mußte: εικός γαρ γίνεσθαι πολλά και παρά τό εικός (Kap. 18). (Es ist wahrscheinlich, daß vieles gerade auch gegen die Wahrscheinlichkeit geschieht.) Hier wird auch der bei Aristoteles durchdachte Unterschied zwischen dem Historiker und dem Dichter angesprochen. „ . . . der eine erzählt, was geschehen ist, der

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andere, was geschehen könnte" (Aristoteles, Poetik, Kap. 9). Das Problem von Dichtung und historischer „Wahrheit", ihr ewiges Spannungsverhältnis, das auch der Dramatiker Corneille kannte, liegt hier beschlossen. Schließlich setzte Corneille auf die „Dignität" der Handlungen den entscheidenden Akzent. In ihr liegt das „Seriöse", und das Seriöse ist die Würde des Stückes. Da fand der Dichter einen geeigneten Stoff in den Staatsaktionen: „Die Würde (einer tragischen Aktion) erfordert irgendein großes Staatsinteresse, irgendeine Leidenschaft, die denkwürdiger und männlicher ist als die Liebe, wie ζ. B. Ehrgeiz oder Rache, und sie will, daß größeres Unheil auf dem Spiele steht als der Verlust einer geliebten Frau."

In der Tat nehmen die Staatsaffairen einen hervorragenden Platz in Corneilles Dramenwerk ein. Im „Horace" geht es um Sein oder NichtSein des römischen Staates; im „Cinna" um die Idee der kaiserlichen Macht; der „Nicom^de" beleuchtet die römischen Machtverhältnisse im Orient; sogar der „Polyeucte" hat noch einen weltpolitischen Hintergrund: den römischen Staat und das Wachstum der Christengemeinde. Es ist verständlich, daß ein Napoleon diese so gearteten politischen Stücke Corneilles bewunderte und in ihnen das geistig wirkungsvollste und schönste Mittel staatspolitischer Erziehung sah. Es ließe sich aus Corneilles Tragödien ein ganzes Lehrbuch politischer Maximen zum Gebrauch der Souveräne herstellen — ein Buch, aus dem sie Einblicke in das Ränkespiel und den zynischen Realismus machiavellistischer Politik gewönnen, aber in welchem sie auch Maxime herrscherlicher Größe, Adel der Gesinnung und die Tugend der Gerechtigkeit lernen könnten. Denn in Corneilles Stücken überrascht uns ähnlich wie bei Schiller und Shakespeare ebenso seine offenkundige Lust an großem Verbrechertum, an Mord und Totschlag, an tollen Theatercoups, wie andererseits die moralische Kraft, mit der seine Helden das Schicksal überwinden. Corneille läßt uns an jene dem Menschen anvertraute Kraft glauben, durch die er Herr des Schicksals werden kann, wenn er den edlen Leidenschaften zum Siege verhilft. Und das vermag er. Im Grunde ist Corneilles Haltung optimistisch. Ihn beseelt der unzerstörbare Glaube an das liberum arbitrium. Wollte man diese Moral in seinen Helden analysieren, würde man immer wieder auf drei Elemente stoßen: Zunächst ist die innere Übereinstimmung mit der Psychologie Descartes' auffällig. Das hat Lanson mit Deutlichkeit gesehen. Nicht, daß Corneille den „ Τ ^ ϊ ί έ des Passions de l'Ame" (1649) gelesen oder gar

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benutzt hätte; wohl aber sind die Ansichten des Philosophen wie des Dichters in einer bestimmten Auffassung der raisonierenden Kraft des Menschen sehr ähnlich. Die Corneilleschen Helden handeln mit Verstand. Ihre Raison hat Macht über die Leidenschaften. In voller Klarheit des Bewußtseins vermögen sie unbeirrbar den Weg zur Größe und zum Ruhme zu gehen. Die Leidenschaften selbst sind entweder gut oder böse, je nach dem sie der Raison konform sind oder nicht. U m aber die schlechten bekämpfen zu können, verfügt die Seele des Menschen über die Kraft des Willens. Der Wille ist frei. Nach Descartes' Ansicht kann der Wille die von den Leidenschaften diktierten Handlungen aufheben. E r kann indirekt diese Leidenschaften nicht nur bekämpfen, sondern unter Berufung auf die Raison sogar gegenteilige hervorrufen. Erinnern wir uns des Wortes, das, wäre es nicht von Descartes, von Corneille sein könnte: „Es gibt keine so schwache Seele, daß sie nicht bei guter Führung eine absolute Macht über ihre Leidenschaften gewönne." Wären die vier klassischen Meisterwerke Corneilles nicht um einige Jahre älter als Descartes' „Traite", man könnte glauben, daß die berühmten Artikel 152/153 des „ T r a i t i " von Corneille wären: „Ich bemerke in uns nur eine einzige Sache, die uns Recht und Grund gibt, uns selbst zu schätzen, nämlich den Gebrauch unseres freien Willens und die Herrschaft, die wir über unsere Willensakte haben. Allein um dieser Handlungen willen, die von unserm freien Willen abhängen, dürfen wir mit Grund gelobt oder getadelt werden, und er macht uns in gewissem Sinne gottähnlich, insofern er uns zu Herren unserer selbst macht . . . Also glaube ich, daß die wahre Großmut, die bewirkt, daß ein Mensch sich rechtens überhaupt so hodi schätzen kann, allein darin besteht, daß er erstens erkennt: nur diese freie Disposition seiner Willensakte gehöre ihm ganz und nur der gute oder schlechte Gebrauch derselben verdiene Lob oder Tadel; und daß er zweitens sich beständig sich fest dazu entschlossen fühlt, nur einen guten Gebrauch davon zu machen, d. h. es niemals am Willen fehlen zu lassen, eben die Dinge, die nach seinem Urteil die besten sind, auch zu unternehmen und durchzuführen: das heißt, der Tugend in vollkommener Weise folgen."

Mit seinem Kartesianismus hängt Corneilles Neigung zum Stoizismus zusammen: Herrschaft über die Leidenschaften, Hellsichtigkeit für das, was moralische Pflicht des Menschen ist, Unbeugsamkeit des Willens, wenn der Entschluß in Übereinstimmung mit der Vernunft und dem moralischen Gebot einmal gefaßt ist, das sind einige wesentliche Elemente stoischen Verhaltens. Seneca, unter dessen Eindruck schon der junge Schüler des Jesuitenkollegs von Rouen gestanden hat, wurde für Corneilles Heldenethik mitbestimmend. Der Stoizismus war auch, wenn wir dem Urteil

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Ganivets folgen wollen, die eigentliche philosophische Grundhaltung der echten Spanier Kastiliens, deren Bild einem Corneille aus der spanischen Dramaturgie vertraut war. Der Stoizismus war aber auch in Frankreich selbst, vornehmlich seit der Renaissance eine fast nie unterbrochene Richtung des Denkens und Verhaltens, und er spielte gerade in dem politischmilitärischen Zeitabschnitt der Fronde, also zu Corneilles Zeiten, eine erkennbare Rolle. Schließlich stoßen wir auf Grundanschauungen der christlichen Moral, die mit der stoischen Philosophie zusammenhängen, aber auch im besonderen von den Jesuiten bekundet wurden: Uns Menschen werde so viel an Gnade zuteil, daß wir trotz der Erbsünde, in der wir stehen, an der Erlangung unseres persönlichen Heils nicht zu verzagen brauchen —, wofern wir die christlichen, von der Kirche ausgelegten Moralgesetze verwirklichen. Wir werden sehen, wie bei Racine der durchgängige Optimismus der kartesianisch-stoischen, jesuitischen Philosophie in sein Gegenteil umschlägt.

Racine

(1639—1699)

Um 1650 wird ein Wandel im geistigen Leben Frankreichs bemerkbar. Im Roman, in der dramatischen Dichtung, in der jansenistischen Anthropologie bildet sich eine neue Auffassung vom Menschen heraus: Er ist nicht mehr so sehr beherrschendes Vernunftwesen, das klar und frei in die Welt blickt und sich im Gefühl seiner Rangstellung die Natur untertänig macht, sondern er spürt die fatalen Mächte, die ihn beherrschen, über sich oder in sich, und er weiß um die Hilflosigkeit seiner condition humaine. Das ist der Weg von Descartes und Corneille zu Pascal und Racine. Racine. Er und sein Werk haben viele Gesichter; also sind sie schwer in eins zu zeichnen. Er ist überhaupt einer der „schwersten" Dichter Frankreichs, der Dichter der „Ph^dre", in der die Kenner der französischen Literatur das Meisterwerk französischer Tragödiendichtung zu erkennen berechtigten Grund haben. Jede Generation entdeckt ihn neu und macht sich von ihm ein Bild nach ihrem eigenen Ebenbild. Immer anderes wird als „wesentlich" aus ihm herausgezogen. Für die einen ist er der Höfling par excellence, für die anderen der strenge Jansenist; manche entdecken, daß er eigentlich ein großer Lyriker ist, andere, daß er die Tiefenpsychologie vorausgenommen hat; wieder andere sehen in ihm den großen

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Realisten, andere halten sein dramatisches Werk für poesie pure — eine Praefiguration von Valerys Lyrik, und wieder andere sehen ihn unter dem Aspekt antik-griechischer Metaphysik; schließlich ist er für die einen ein Neuerer der klassischen Tragödiendichtung, für die andern nichts als der Erbe längst bekannter und vollendet angewandter dramaturgischer Technik. Jeder sieht sich berufen, Neues zu sagen — und je abstruser die „Entdeckungen" sind, je interessanter macht sich der Entdecker selbst. Das geht bis in die Durdiforschung seines verworrenen Liebeslebens und seiner schließlichen Bekehrung. So geht es in der Interpretationsgeschichte der Kunst und der Künstler. Sie ist oft eine Quelle köstlicher Komik, beweist aber nur, daß, wie im Falle Racines, der Reichtum der Künstlerwelt, und auch ihre Widersprüchlichkeiten, unerschöpflich sind. Jean Racine ist 33 Jahre jünger als Corneille. Er wurde 1639 in La Fert£-Milon (in der Champagne) geboren. Mit 13 Monaten verlor er die Mutter, mit 3 Jahren den Vater. Er wurde als Waise bei den Großeltern aufgenommen; dann nahmen sich die Jansenisten seiner an. Wer Leid und Traurigkeit seiner Kindheitserfahrungen außer acht läßt, wird den Urgrund seines späteren Ehrgeizes leicht mißverstehen. Aus der seelischen und materiellen Not der Kindheit: hilfloses Waisenkind zu sein und von der Barmherzigkeit frommer Schwestern zu leben, konnte eine Existenzangst heraufbeschwören, die der äußerst sensible Knabe und Jüngling, der, unsicher noch, sein Genie vorausfühlte, mit berechnendem Ehrgeiz parierte. Dazu kam die strenge religiöse Erziehung, die ihm frühzeitig die Angst vor den Frauen in die Seele pflanzte, woraus ihm, dessen starke Triebkraft ein großes Liebesbedürfnis war, Ängste und Konflikte erwuchsen. Mit 16 Jahren las er fließend Homer und Piaton. Er kannte sich bald auch in der Literatur der Kirchenväter aus. Er schwankte zwischen dem Beruf des Priesters, an den er ernstlidi und ehrlich dachte, und dem Ehrgeiz, sich in der literarischen Welt von Paris einen Namen zu machen. Es ist etwas vom Julien Sorel in ihm, — wie er überhaupt Stendhal insofern ähnelt, als er im Umkreis der Solitaires von Port-Royal den Geschmack an einem psychologischen Realismus entwickelt hat. Er denkt daran, Priester zu werden, aber denkt noch stärker an die Frauen. Es macht ihm Freude, an andern die Leidenschaften zu beobachten, sich selbst aber von ihnen frei zu halten. Das konnte nicht glücken. Die sog. „Petites Ecoles" von Port-Royal, wo er 4 Jahre lang Schüler war, galten als ausgezeichnete Lehranstalten. Wir kennen ihr Unter-

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richtsprogramm und ihre Lehrmethoden ziemlich genau. Die Schüler konnten dort außer den alten Sprachen auch Spanisdi und Italienisch lernen. Racine hat dort die Fundamente seiner künftigen dramatischen Kunst gelegt; denn er las neben Homer und Piaton, den unerläßlichen Bildnern des literarischen Geschmacks und philosophischer Denkweise, auch Sophokles und Euripides, versah später einige Texte mit Randbemerkungen, lernte die schönsten Stellen auswendig, schärfte an ihrer Lektüre seinen kunstkritischen Verstand und seine poetische Sensibilität. Es ist dabei nicht entscheidend, daß, wie neuere Forschung gezeigt hat, diese Anmerkungen erst aus der Zeit seiner künstlerischen Reife stammten, und daß er die attischen Tragiker erst in einem Brief an Nicole vom Jahre 1662 erwähnt. Die künstlerische Reifezeit, da er, wie die Zeitgenossen sagten, zwischen Sophokles und Euripides steht, ist nur ein Durchbruch dessen, was in der Jugend angelegt war. In Paris wurden der Hof, das Theater, die Gesellschaft zur großen Lebenserfahrung des Dichters. Noch bevor er dort Fuß gefaßt hatte, beging er zwei Handlungen, die ein trübes Licht auf seinen Charakter werfen und ihn auf Jahre hin in der Gesellschaft disqualifizierten. Die eine beging er gegen Moli£re, die andere gegen seine Lehrer von Port-Royal. Beidemal war sein Verhalten taktlos und undankbar — wenn wir sie nicht damit beschönigen wollen, daß ihn der Dämon des Ehrgeizes trieb, nach einigen halben Erfolgen — Μοίίέτβ hatte sich für den jungen Dichter interessiert — ganze zu erringen, und daß der lang angestaute innere Widerstand gegen die jansenistische Moralstrenge sich in einem Ausbruch gegen die Theaterverächter dieser religiösen Gruppe Luft machen mußte. Während ΜοΙίέΓβ den „Alexandre" von Racine noch mit seiner Truppe aufführte, übergab Racine den Text den Schauspielern des Hotel de Bourgogne. Ein so ungewöhnlicher Schritt verletzte nicht nur Moli^re und seine Truppe, sondern rief einen Skandal in ganz Paris hervor. Seit dieser Zeit hielt man den jungen Dichter, der sich gegen den älteren Kollegen einen solchen Affront erlaubte, nicht nur für undankbar, sondern für einen berechnenden, vom Ehrgeiz besessenen Menschen, dem man alles zutrauen müsse — „capable de tout". Einen Monat später, im Januar 1666, verwickelte er sich in die skandalöse Polemik gegen seine früheren Lehrer und die Nonnen von Port-Royal, die einst den Knaben auf ihre Kosten erzogen hatten. Die anti-jansenistische Partei machte sich Racines aufbrechende Abneigung gegen Port-Royal zunutze, und Racine hatte die Schwäche, seine Feder dem Erzbischof von Paris, der ihn zu dieser

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undankbaren Geste ermutigte, in der Aussicht auf das verlockende Angebot einer guten Pfründe zu verkaufen. Es vergingen zwei Jahre, bis ein wenig Gras darüber wuchs. Wie Dichter. Es vergingen zwei Jahre, bis ein wenig Gras darüber wuchs. Wie er inzwischen das Vertrauen und die Neigung der Henriette d'Angleterre und der Madame de Montespan, der Maitresse des Königs, erlangte, wissen wir nicht; aber über diese einflußreichen Frauen kam er an den Hof, während er gleichzeitig die Schauspielerin ΉιέΓέββ Du Pare zu seiner Geliebten machte. Sie hatte seinetwegen M o i r e s Truppe verlassen und war zu den „Grands Com^diens" des Hotel de Bourgogne gegangen. Was heute feststeht, ist, daß jenes in den Akten immer wieder auftauchende geheimnisvolle Kind, Jeanne-Tl^^se Olivier, das mit 8 Jahren starb, die Frucht ihrer Liebe war. Was ebenfalls feststeht, ist, daß Th6r£se eine fatale Frau war, um deren flüchtige oder dauerhafte Gunst die Männer warben, und die den um 7 Jahre jüngeren Racine in alle Qualen der Eifersucht stürzte. Racine kam durch sie in eine Gesellschaft zwielichtiger Existenzen, von denen die Giftmischerin Voisin Ther£ses intime Freundin war. Schwarzkunst, Giftmischerei, Herstellung von Liebestränken und Abtreibungsmitteln, in all diese dunklen, auf der Naditseite der glänzenden Hofgesellschaft betriebenen Geschäfte, gewann Racine Einblicke. Am 11. Dezember 1668 starb Th£r£se Du Pare. Racine wurde verdächtigt, sie vergiftet zu haben. Die Aussagen waren belastend. Racine stand vor der Verhaftung. Der Einfluß seiner Freunde muß groß gewesen sein, wenn er davor bewahrt wurde. Die Mordtat an Th£r£se Du Pare, die einen Teil der Gesamtuntersuchungen über die damaligen Giftmisdieraffairen einnimmt, ist nie ganz geklärt worden. Sechzehn Monate nach dem Verlust Thereses liierte sich Racine mit der berühmtesten Schauspielerin des Hotel de Bourgogne, der Champmeslä. Sie spielte die Hermione in Racines „Andromaque". Der Dichter war verzaubert. Sie wurde seine zweite leidenschaftliche Liebe. Noch verworrener als bei der Du Pare erscheinen die menschlichen Verhältnisse im Umkreis dieser großen Racine-Interpretin: Der Dichter erscheint in der Menge ihrer Liebhaber ein wenig verloren. Ihr Gatte duldete seine Gegenwart, und während sie von einem ihrer Geliebten schwanger wird, entschädigt sidi dieser Ehrenmann mit dem Kammermädchen. In dieser Atmosphäre dichtete Racine für sie die strengste und keuscheste aller seiner Tragödien, die „B^ränice", wie er einst für Therese Du Pare die „Andromaque" geschrieben hatte. Auf welchen Untergründen triebkräf-

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tigen Lebens erwachsen nicht nur „Blumen des Bösen", sondern auch die reinsten und schönsten Blüten einer Dichtung, wie es die „Berenice" ist, — auf welchen sonderbaren Wegen gehen oft die dunklen Geburten von Kunstwerken ihrer Vollkommenheit entgegen! Jedes Jahr bot Racine dem Publikum ein neues Meisterwerk dar. So wie er über die Schauspielerinnen triumphierte, so brachten sie seine Stücke zum Triumph. Die Champmesle spielte B£r£nice, Atalide, Monime, Iphigenie, Ph^dre — fünf der größten Frauenrollen, die je geschrieben wurden. Noch die leidenschaftlichste Phädra-Interpretin neben der Dummesnil und der Lecouvreur im Zeitalter Voltaires, die L^ris Clairon de la Tude, widmete in ihren Memoiren der „Pl^dre" einen eigenen Abschnitt: „Je jouerai Pl^dre ou je ne jouerai rien." Nach der „Andromaque" (1667), „die ungefähr ein solches Aufsehen erregte wie seinerzeit der .Cid'", schrieb Perrault in seinen „Hommes illustres" (1696), und den „Plaideurs" (1668) (ein Lustspiel um Prozesse mit happy end) folgten „Britannicus" (1669), „Berenice" (1670), „Bajazet" (1672) (eine Haremstragödie), „Mithridate" (1673), „Iphigenie" (1674), dann kam „Phedre" (1677). Racine wird geadelt, in die Acadέmie berufen, ist ein Schützling Condes, des Herzogs von Chevreuse, der Madame de Montespan, und von Colbert. Die Hofkabale vermag nichts gegen ihn auszurichten. Moliere, Komödiendichter, stört nicht die Kreise des Tragikers; Corneille ist alt und lange schon in seinem Schatten. Aber im Hotel de Nevers, das ihn in seinen Anfängen begünstigt hat, spinnen seine Feinde ihre Intrigen: Sie werden die „Ph£dre" ihres Günstlings Pradon, der mit seinem „Pyramus und Tisbe" und seinem „Tamerlan ou la Mort de Bajazet" großen Erfolg gehabt hat, gegen die „Phedre" Racines ausspielen. Racine hatte alles daran gesetzt, Pradons Talent — er war übrigens ein großer Verehrer Corneilles — nicht aufkommen zu lassen. Der Kabale gelingt es, daß Pradons „Hippolyte", der 2 Tage nach der Premiere der Racineschen „Ph£dre" (1. Januar 1677) aufgeführt wurde, den Spielplan vorerst behauptete. Racine ist gedemütigt. Eine ernste Krise folgte auf diese Niederlage. Sollte wirklich seine schöpferische Kraft am Versiegen sein? War er müde geworden nach so vielen Stürmen seines Lebens? Quälten ihn religiöse Skrupel? Wie dem auch sei, mit 37 Jahren, auf der Höhe seines Ruhms, versöhnt er sich mit Port-Royal und entsagt dem Theater, nicht aber dem gesellschaftlichen Leben am Hof. Dank der einflußreichen Protektion hoher Militärs, kirchlicher Kreise und der mächtigen Minister Louvois und Colbert ebnet er

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sich den Weg zum König: Er wird zusammen mit Boileau sein Historiograph. Seit 1678 arbeitet er an den Vorstudien zu seiner „Histoire de Louis XIV." Er rangiert unter seinen Vorlesern, er begleitet ihn auf seine Feldzüge. Im gleichen Jahr heiratet er. Er wird ein vollendeter Ehemann und Vater, ein frommer Christ, der des allzu weltlichen Treibens müde ward, und hält sich auf dem hochgespannten Artistenseil des Hoflebens von Versailles. Auf Wunsch der Madame de Maintenon, die in Saint-Cyr ein Töditerinstitut verarmter adliger Mädchen leitete, schreibt er noch zwei Tragödien biblischen Inhalts: „Esther" (1689) und „Athalie" (1691). Diese seine biblischen Tragödien, welche durch die Einführung von Chören mit Musik etwas Neues, Antikes, waren, blieben seine letzten dramatischen Arbeiten. Er dichtete noch Hymnen und die „Cantiques spirituels" (1694), und redigierte seit 1693 einen Abriß der „Geschichte von Port-Royal". Der Kreis seines Lebens begann sich zu schließen. Er starb am 21. April 1699. Racine konnte sein dramatisches Werk auf den Fundamenten aufbauen, die Corneille gelegt hatte. Er steht zu ihm etwa in dem Verhältnis wie Schiller zu Lessing. Was Racine in seiner Akademie-Rede anläßlich der Aufnahme von Thomas Corneille, Pierres Bruder, über den Zustand der französischen Bühne von Pierres Zeiten sagte, könnte auch die Verhältnisse der deutschen Bühne vor Lessings Wirksamkeit charakterisieren: Unordnung, Regellosigkeit, Mangel jeglichen guten Geschmacks, die Unbildung der Schauspieler, ihre schlechte Diktion . . . „alle Regeln der Kunst, sogar die der Anständigkeit, waren verletzt" (2. Januar 1685). Auf diesem Hintergrund, der freilich zu einfarbig-düster präpariert ist, läßt Racine Größe und Bedeutung des Corneilleschen Werkes aufleuchten : L'art, la force, le jugement, l'esprit — auch die noblesse und die έΰοηοηιίε des ganzen Werkes und ihrer Elemente: den Ernst, die Würde der Corneilleschen Tragödien; die Einmaligkeit einer jeden seiner Schöpfungen. Es scheint, als spiegele sich Racine selbst in dem Bilde seines Vorgängers. Er wußte, daß sein eigenes Werk auf den Grundlagen der Corneilleschen Theorie und Theaterpraxis stand. Er hatte nur weiterzubauen und das Theater zur Vollendung zu führen. Jean Giraudoux sagt es in seiner Sprache: „So tritt Racine, gelehrig der Mode und den Gesetzen der Gattung unterworfen, auf die Bühne . . . Ihn trieb sein stürmisches Temperament und sein poetischer Stolz zwangsläufig zu jener einzigen Gattung, die einen Autor aus der Masse heraushebt: zur dramatischen Kunst . . . Er stürzt sich auf sie. Er

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denkt ebensowenig daran, die Organe des Theaters zu vervollkommnen, wie ein Mörder daran denkt, den Doldi, welchen ehrenwerte Handwerker ihm geschmiedet haben, perfekt zu machen. Der Mörder geht ohne Umschweife auf sein Opfer los; er will sein Blut, und so der junge Racine . . . Nirgends eine Neuerung, nirgends eine neue Tedinik, eine neue Formel. E r spielt das Spiel gemäß den etablierten Regeln."

1 . D i e Stoffe zu seinen Tragödien hat Racine, mit Ausnahme des „ B a j a z e t " und seines Lustspiels, der Antike entnommen. E r war aufs beste ausgerüstet, in ihre drei Kulturkreise mit gleich sicherem Instinkt für das Charakteristische und Mannigfaltige ihrer Erscheinungen einzudringen: in das Judentum, das Griechentum, das Römertum. E r w a r dank seiner Bildung mit der Geschichte, den Mythen, den Religionen der antiken W e l t vertraut; er hatte die biblischen Geschichten im K o p f ; er war ein Verehrer der griechischen Philosophie und der attischen T r a gödie. Vergessen wir nicht, daß er noch um 1680 Piatons „Symposion" übersetzte. Als Dichter fühlte er sich in die Stoffe ein; er ergriff ihre Schönheit und erkannte ihre überzeitliche Bedeutung. Als guter Philologe verlangte er Treue zum T e x t . E r hat sich rühmen dürfen, das Original, dessen er sich jeweils bediente, nie verraten zu haben, und ist doch nicht bei seinen Bearbeitungen alter Stoffe zum Sklaven des Textes geworden. Freilich haben die Gestalten der antiken Mythen und Dramenwelt ihren feststehenden Charakter, ihre besondere Prägung, die ihnen Homer, Vergil, Euripides, Seneca, Tacitus, Sueton und aus wem er noch schöpfte, gegeben haben. D a w a r nicht viel zu ändern. Sie mußten nur neu erfahren, nur aus dem Griechischen oder Lateinischen ins Französische transponiert werden. Racine machte die antiken Gestalten mit ihren überzeitlich-gültigen Werten dem Verständnis der Zeitgenossen zugänglich. So schuf er z . B . seine Andromache, von der er sagte: „ J ' a i cru en cela me conformer ä l'idee que nous avons main tenant de cette princesse." Warum zog es ihn zu den Alten, zu den Griechen im besonderen? Weil die Griechen, und gerade sie, das Ewig-Menschliche in ihren tragischen Dichtungen erfaßt hätten; es habe sich nichts verändert, der Mensch von heute sei der Mensch von gestern, und das Gestern sei im H e u t e : „Ich habe mit Vergnügen erkannt, daß der bon sens und die raison in allen Jahrhunderten die gleichen waren. Der Geschmack der Pariser ist der gleiche wie der der Athener. Unser Theaterpublikum wird von eben den Dingen ergriffen, die ehemals das weiseste Volk Griechenlands zu Tränen rührte." (Vorwort zur „Iphigenie")

2. Es kommt nicht auf die Regeln an, sondern auf den Wahrheits-

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gehalt. Er greift Corneille an. Der habe zuviel Unnatürliches, Außergewöhnliches, audi zuviel Akzidentelles, zuviel Deklamation und Theatercoups; sein Theater sei überbelastet; die Aktionen seiner Stücke drängten über die Grenzen, sprengten die Einheiten, zerstreuten das Interesse des Publikums. Demgegenüber fordert Racine „eine einfädle Handlung, die mit nur wenig Stoff belastet und die innerhalb eines einzigen Tages ablaufen kann und die, v o n ihrem Ende entgegeneilend, nur v o n den Interessen, den Leidenschaften der Personen getragen wird." (1. Vorwort zum

eine solche sei, Stufe zu Stufe Gefühlen und „Britannicus")

Die dramatische Technik Racines feiert im Aufbau seiner Stücke ihre Triumphe. Die Exposition führt die Hauptpersonen vor, ihre Vergangenheit, ihre Umwelt, die Umrisse ihrer Persönlichkeit. Es genügen ihm nur wenige Striche, und wir sind „im Bilde". Alsdann entfaltet sich die Handlung nach dem Gesetz, wonach jede Person gemäß ihrem Charakter, ihren Interessen und ihren Leidenschaften in das Getriebe der Welt geraten ist. Alles läuft an der Kette psychischer Reaktionen ab. Eine innere Logik und Notwendigkeit treibt das Geschehen — unterbrochen von trügerischen Hoffnungen und Atempausen — einem erbarmungslosen Ende entgegen. Der Mechanismus der Leidenschaften ist ein so fein funktionierendes Spiel innerer Kräfte, daß es äußerer Eingriffe in das Geschehen selten bedarf. Im 4. Akt kommt es zumeist zu einem Haltepunkt, wo mehrere Lösungen der Konflikte noch möglich erscheinen: Nero zögert noch, bevor er Britannicus vergiftet. Iphigenie kann noch der Opferung entgehen. Ph£dre könnte Hippolytos noch retten. Dann aber nimmt das Schicksal seinen Lauf. Der Zuschauer erlebt die Ohnmacht des Menschen, und es überkommt ihn jener tragische Schauer, für den Racine die tiefsinnige Formulierung fand: „cette tristesse majestueuse qui fait tout le plaisir de la trag^die." (Vorwort zur „Berinice".) Der Fundamentalsatz seiner Ästhetik lautet: „La principale r£gle est de plaire et de toucher: toutes les autres ne sont faites que pour parvenir ä cette premiere." (Berenice.) Man hat in dieser Forderung: zu gefallen und zu ergreifen, etwas spezifisch Französisches, der Klassik Eigenes gesehen. Mag sein. Mir scheint sie indessen ebenso griechisch wie französisch zu sein. Was hat das aristotelische „Erfreuen", die „Lust", das „Vergnügen", mit dem der Zuschauer einer Tragödie das Erkennen genießt, für einen andern Sinn als den, welchen Racine der Wirkung einer Tragödie beimißt? Denn für Aristoteles wie für die französischen Klassiker ist die dramatische Kunst Nachahmung (Mimesis), Bild, Abbild von Men-

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sehen, Dingen, Handlungen, von einer gegebenen Realität. Der Tragödiendichter und der Zuschauer sollen beide im Bilde der Dichtung das Stück Realität erkennen, auf das sich die Tragödie bezieht. Nur in der höchsten Lust des Erkennens und Betrofienseins (toucher) kann man vom „plaire" und der Hedone der Griechen reden. Die hauptsächlichsten „Regeln" dienen solcher hohen Forderung. So kann Racine behaupten: „Ein Stück, das ergreift und gefällt, kann nicht gegen die Regeln sein" (ib.). Mit welchen Mitteln der Technik der Dichter das erreicht, ist freilich sein Geheimnis. Wenn wir durch die Schicht des Künstlerischen hindurch in die geistigen Tiefen seines Werkes dringen wollen, wo sich die religiös-metaphysischen Motive verbergen, werden wir immer wieder auf die „Ph£dre" stoßen. Sie ist von allen meisterlichen Tragödien sein Meisterwerk. Zudem ermöglicht uns, wie kaum eine andere, gerade diese Tragödie, einen Blick in die Werkstatt des Dichters, wo wir ihn bei der künstlerischen Arbeit, der Gestaltung des Stoffes nach den Vorlagen der französischen Stücke von Garnier, La Pineli^re, von Gilbert und Bidar, von Quinaults „Bellerophone" und Thomas Corneilles „Ariane" beobachten können; er kannte alle diese Phädra-Hippolytos-Stücke, was ihn nur dazu veranlassen konnte, eine eigene zu schreiben und gleich zu den Quellen: Euripides und Seneca, zurückzugehen. Nur wer den euripideischen „Hippolytos" und die senecasche „Phaedra" mit Aufmerksamkeit gelesen hat, wird Geist und Kunst der Racineschen Version ermessen können. Rufen wir uns den Inhalt ins Gedächtnis: Phädra, die Gattin des Theseus, liebt ihren Stiefsohn Hippolytos. Da sie glaubt, daß Theseus auf seiner Fahrt in den Hades umgekommen ist, wagt sie, ihre Leidenschaft dem stolzen Jüngling zu bekennen. Hippolytos ist über das Geständnis seiner Mutter entsetzt. Theseus kehrt unerwartet zurück. Aus Angst und Sdiam läßt sidi Phädra durch ihre Amme Oenone dazu bestimmen, gegen den Geliebten den Vorwurf zu erheben, er selbst, der Sohn, habe sie verführen wollen. Theseus, der Verblendete, verjagt Hippolytos und beschwört den Meeresgott Poseidon, ihn zu vernichten. In letzter Stunde will Phädra das Verhängnis abwenden. Es ist zu spät. Sie erfährt, daß Hippolytos die junge Aricia liebt. Da reißt die Eifersucht sie fort. Das Fatum erfüllt sich. Theseus' Beschwörung wird erhört. Hippolytos kommt um. Oenone wirft sich ins Meer. Phädra bekennt ihre Schuld und vergiftet sich.

Ein erregendes Spiel, doppelbödig, rätselhaft, zwielichtig. Bei Euripides verläuft die Handlung auf zwei Ebenen, einer oberen, göttlichen, und einer unteren, menschlichen. Oben ist es der Kampf zwischen Artemis

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und Aphrodite; unten das menschliche D r a m a , das sich aus den C h a r a k teren des Hippolytos, der sich dem K u l t der Artemis weiht, und der Phädra, die der Aphrodite hörig ist, mit psychologischer Notwendigkeit entwickelt. Es handelt sich aber bei dem aufgeklärten Euripides nicht um ein religiöses D r a m a , sondern um eine menschliche Tragödie, deren Personen durch die Verknüpfung mit der Götterwelt sich ins Mythische steigern. Bei Seneca verschwindet die Ebene des Göttlichen aus dem Spiel. D i a n a und Venus treten nicht mehr auf. Wohl folgt Racine in großen Zügen und in vielen Einzelheiten dem Ablauf der lateinischen Tragödie Senecas, die ihrerseits einige Änderungen gegenüber dem griechischen O r i ginal aufweist. Aber Racine bleibt im Bann der poetisch bedeutsameren Hippolytos-Tragödie, die von Kennern als Euripides' Meisterwerk angesprochen wird. Was für eine lockende Aufgabe für Racine, aus diesem Stoff eine gesellschaftsfähige Tragödie für den zivilisiertesten H o f seines Jahrhunderts zu dichten. Allerdings war die Gesellschaft, die auf dem Personenzettel des antiken Dichters stand, psychologisch gesehen, ein Kuriosum. D a ist ein Jüngling, dessen Keuschheit angesichts seiner kräftigen N a t u r unnatürlich erscheinen muß. D a ist Phädra, seine Gegenspielerin, eine königliche Selbstmörderin im kritischen Alter einer reifen Frau, Sproß einer Mutter, die eine geschlechtliche Ungeheuerlichkeit begangen hatte, als sie sich mit einem Stier paarte. D a ist ihre Amme, devot und teuflisch zugleich, ein Zwitterding aus treu ergebener Dienerin und einer Kupplerin von raffinierter Amoralität. U n d da ist Theseus, ein notorischer Frauenräuber, Glücksritter, nebenbei Begründer der Freiheit und Bürgerverfassung von Athen, ein alternder König, der mit seinem Freund Peirithoos die reizende, blutjunge Helena aus dem Tempel raubt, durchs Los für sich behält, sie aber bei der Mutter Äthra absetzt, — und den hernach die Lust anwandelt, mit demselben Gefährten in die Unterwelt zu steigen, um den Freund für den Verlust der schönen Helena zu entschädigen, indem er für ihn die Gemahlin des Unterweltgottes, Persephone, zu entführen versucht! D a m i t war Theseus gerade beschäftigt, als die Tragödie anhebt. Wie konnte Racine die Wette gewinnen, aus einer Ansammlung solch zwielichtiger und krimineller Gestalten ein hoffähiges Stück zu komponieren, das zugleich den frommen Herren von P o r t - R o y a l gefallen sollte? Es ist das Ergebnis einiger Auslassungen, geringfügiger Änderungen. Bekannt ist, wie er dem keuschen Hippolytos, damit er in den Augen der liebesfreudigen Zeitgenossen weniger lächerlich wirke, eine vollbusige

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Aricia zur Seite stellen mußte, wodurch wiederum Phädras Eifersucht, die das tragische Ende herbeiführt, verständlich wird. Doch das sind negligeable Einzelheiten. Es kommt auf etwas anderes an: Die eigentümliche Wucht des Gesamteindrucks, die von dieser Tragödie ausgeht, liegt in seiner religiös-metaphysischen Schicht: Das Fatum bricht wie eine Naturgewalt über die unglücklichen Opfer herein. Der Kampf des Menschen gegen sein Schicksal ist unnütz. Stoischer Heldensinn zerbricht wie schwaches Rohr. Das Medusenhaupt des Racineschen Fatums hat drei Antlitze: die Feindseligkeit der Götterwelt; der Fluch des Erbes; der unwiderstehliche Trieb der Leidenschaften. Das feindliche Schicksal, das den Menschen von den Göttern geschickt wird, die Antike hat es entdeckt und am eindrucksvollsten im Mythos des Orest enthüllt. Die Juden wußten darum, als sie ihren Gott schufen. Der Fluch des Erbes war gleichfalls eine Idee, die Racine in der attischen Tragödie und im Alten Testament fand: Bestrafung bis ins dritte und vierte Glied. Die ganze Orestie gründet auf der Erfahrung der Erbsünde. Sohn des Agamemnon, gehört Orest zu der verfluchten Rasse der Atriden. Hermione ist durch ihren Vater Menelaus eine Atridin, und ihre Mutter ist Helena, deren schuldige Liebe zu Paris den Trojanischen Krieg entzündet hat. Nero ist der Sohn der verbrecherischen Agrippina — und Phädra ist das kontradiktorische Geschöpf des edlen Minos und der mit einem geschlechtlichen Fluch beladenen Pasip h a e . . . Fatalität der Leidenschaften. Das ist das dritte Antlitz. Ohnmacht ist das Zeichen des Menschen. Was vermag der Wille, was ist Freiheit? Auch die Racineschen Helden haben einen Willen, aber er ist gelähmt; auch sie fühlen Verantwortung, aber sie können das Gute nicht tun. Wir hören Euripides: Τά χρήστ' έπιστάμεσθα και γιγνώσκομεν ούκ έκπονοΰμεν δέ und das Echo bei Seneca: Et ipsa nostrae fata cognosco domus Fugienda petimus — sed mei non sum potens.

Unwiderstehlich zieht es die Menschen zu dem, was sie fliehen sollten und doch nicht fliehen können. Ins Christliche gewandt bedeutet es: Gott ist alles. Der Mensch ist nichts. Ein unendlicher Abstand zwischen Gott und Mensch wird aufgerissen. In dem einen Adam hat die ganze Menschheit gesündigt. Die Erbsünde ist unsere Strafe. Kein Mensch ist der Gnade würdiger als ein anderer. Nach unerforschlichem Ratschluß erlöst Gott, wen e r will. Wen er aber nicht auserwählt, der kann auf keine Weise erlöst werden; der muß zugrunde gehen; dem bricht der vom Willen mühsam erbaute Damm zusammen, und die gestaute Flut rasender Lei-

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densdiaften, brutaler Lüste, blinder Unvernunft reißt ihn in den Abgrund. Das sind die grausigen Bilder Racinescher Tragödien. In keine aber ist der jansenistische Geist der Gnadenmystik so innig mit der heidnischen Vorstellung des Fatums verwoben wie in der ,,ΡΙιέdre". Das Gefühl für die innere Verwandtschaft der griechischen Erfahrung des Schicksals und der augustinisch-jansenistischen Erkenntnis der göttlichen Gnadenwahl muß schon den fünfzehnjährigen Schüler von PortRoyal angerührt haben; denn er versah damals seinen Plutarch mit Anmerkungen, die in diese Richtung weisen. In der „Ph£dre" vollbrachte er die Tat, die keinem der früheren Bearbeiter des Stoffes gelungen war: nidit etwa lateinische Rhetorik, sondern griechische Dichtung mit moderner französischer Empfindsamkeit zu verschmelzen; ferner den Gesetzen der Drei Einheiten gerecht zu werden und gleichzeitig jansenistische Grundanschauungen mit altgriechischer Religiosität so zu verbinden, daß nicht einmal die strengen Herren von Port-Royal Anstoß an der Tragödie nehmen. Er schuf in der „PhJdre" eine „christliche Tragödie", ein Spiel, in dem antike Fragen eine christliche Antwort erfahren, — und er verschmolz beide Komponenten dieses Kompositums „christlich" und „Tragödie" zu einer vollendeten künstlerischen Einheit, daß ein großer Kenner des Racineschen Theaters wie Rudolf Alexander Schröder eben dieses Ereignis in die knappe Formel fassen konnte: „Das Alte steht im Bilde des Neuen, das Neue im Bilde des Alten vor uns; aus dem Nebeneinander ist das Ineinander geworden. Wahrlich eine gewaltige Geistestat, diese Tat des Dichters der Phädra." Das französische Sprachgewand, in das der Dichter den griechischen Mythos gekleidet hat, ist eines der schönsten, edelsten, das je ein Dramatiker geschaffen hat. Schiller hat es gewagt, noch auf dem Totenbett die Racinesche „Ph£dre" ins Deutsche zu übertragen. Es war sein letztes vollendetes Werk. Aber seine Übersetzung, so schön sie ist, vermag in ihrer jambischen Rhythmik keine Vorstellung von der Eigentümlichkeit der originalen Alexandriner-Dichtung zu geben. Es hilft nichts: man muß Racines Verse französisch hören. Da löst sich die dramatische Sprache in reine Lyrik auf, und bleibt dennoch dramatisch, wo es das Gesetz des dramatischen Ablaufs will. Wie der Dichter die Rhythmen behandelt, wie er den Klang moduliert, wie er einzelne Verse artikuliert und ganze Gruppenbildungen gegeneinanderstellt, wie er alle Möglichkeiten dramatischer Spannungen und lyrischer Entspannungen aus der Sprache herausholt und die dynamischen Wirkungen des Crescendo und Diminuendo, des

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Accelerando und Ritardando ausschöpft und alles dem Ausdruck der Leidenschaften und dem Fortgang der Handlungen dienstbar macht, das zeigt den Dichter auf der höchsten Stufe eines strengen Kunstverstandes und einer sprachmusikalischen Sensibilität. Wenn man das feine Organ eines an Bach und Chopin geschulten Ohres wie A n d ^ Gide hat, wird man dessen bewundernden Ausruf verstehen: „Was für Verse! Was für eine Folge von Versen! H a t es je, in irgendeiner menschlichen Sprache, Schöneres gegeben?"

Moliere

(1622—1673)

„Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten." Das ist Moliere zwischen Corneille und Racine, 16 Jahre jünger als der erste, 17 Jahre älter als der zweite. Aber er ist nicht nur zeitlich der Mann der Mitte im Raum des französischen Theaters; er steht auch in gleichem Abstand von der stoisch-christlichen Willensmetaphysik des einen und der griechisch-jansenistischen Schicksalsidee des andern. Seine Weltanschauung und sein Menschenbild haben weder die ideale Färbung eines heroischen Optimismus, wie sie Corneille seinen Gemälden auftrug, noch die düsteren Farbtöne eines Pessimismus, mit denen Racine seine tragischen Bilder sättigte. E r ist das Weltkind, dem Natur und Gesellschaft den rechten Weg zu weisen scheinen, wenn es das bißchen Glück sucht, auf das wir Menschen, die wir im allgemeinen höchst ridiküle Geschöpfe sind, unsern epikureischen Anspruch erheben. Moli£re, mit seinem eigentlichen Namen Jean-Baptiste Poquelin seine bürgerliche Herkunft verratend, wurde 1622 in Paris geboren. Über seine Kindheit wissen wir sehr wenig Genaues. Sein Vater war kgl. marchand-tapissier und kaufte das Amt eines valet de chambre du Roi. Er schickte den Jungen aufs Coltege de Clermont, das heutige Coltege Louisle-Grand. Jean Baptiste genoß die durchschnittliche Erziehung der honnetes gens, lernte Mathematik und Physik, Philosophie und Literatur, konnte die Komödien des Plautus und Terenz aus dem Lateinischen übersetzen und fand, als Geistesverwandter von Gassendi, seinen Gefallen an Lukrez, dem großen Aufklärer der römischen Antike. Nach der Schulzeit studiert er Jura, doch übt er den Advokatenberuf kaum ein halbes J a h r aus, wohingegen er eine Berufung zum Theater in sich fühlt: E r wirft die religiösen Vorurteile, welche die Geistlichkeit gegen den Schauspielerberuf wach hielt, über Bord und riskiert die Exkommunikation. Er wird Komö-

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diant, verläßt das väterliche Haus und findet ein neues Heim bei den I^jarts, Theaterleuten von boh£mehafter Lebensführung. Fortan nennt er sich Moli^re. Er kehrt der bürgerlichen Welt den Rücken, um sein LebensschifF den stürmischeren Winden und Wettern der Schauspielerwelt anzuvertrauen. Zunächst gründet er mit der Schauspielerin Madeleine Bejart das „Illustre Theatre" (1643), kann sich aber gegenüber der Konkurrenz des Hotel de Bourgogne und des Theatre du Marais nicht behaupten. So muß er mehreremals auf kurze Zeit das Schuldgefängnis im Chätelet besuchen. Wird ihm nach dem endgültigen Zusammenbruch des Illustren Theaters sein Glück in der Provinz lächeln? Er ist 23 Jahre, als er und die Bijarts sich mit der Schauspielertruppe des Charles Du Fresne verbinden. Die Odyssee seiner Wanderjahre beginnt. Agen, Toulouse, Albi, Carcassonne, Nantes, Narbonne sind die Etappen der Tournee von 1645—50. Moli^re übernimmt die Direktion des Theaters. Sein Standort ist Lyon. Diese wohlhabende Handelsstadt war ob ihrer günstigen Lage schon im 16. Jahrhundert eine Brücke zwischen Italien und Frankreich, und die Italiener hatten mit ihrem Spiel die Bürger dieser Stadt zu einem theaterfreudigen Publikum gemacht. ΜοΙίέΓβ durchquert mit seiner Truppe die Languedoc, spielt in Montpellier, Narbonne, Βέζϊεκ, Avignon, Grenoble und Pezenas. Die Truppe ist inzwischen unter seiner Leitung berühmt geworden; sie erhält den Titel „Troupe de M. le Prince de Conty". Conty war ein alter Mitschüler Moliires, von der Intelligenz und Kultur Moli^res verzaubert, und er wird so lange dessen Beschützer sein, bis er sich, unter dem Einfluß des theaterfeindlichen Jansenismus, mit seinem Freunde entzweit. 1658 steht ΜοΙίέΓβ in Rouen — ante portas. Er erlangt die Protektion von Monsieur, dem Bruder des Königs, und hält im Oktober desselben Jahres seinen Einzug in Paris. Am 24. Oktober 1658 spielt seine Truppe vor dem jungen zwanzigjährigen König den „NicomSde", eine politische Tragödie Corneilles (1651) und im Anschluß daran sein eigenes „petit divertissement", den „Docteur amoureux": ΜοΙίέΓβ darf fürderhin im Petit Bourbon spielen. Der Aufstieg in Paris beginnt. Zwölf Jahre Erfahrung als Theaterdirektor und Provinzschauspieler lagen hinter ihm. Er hatte gelernt, was Kämpfen heißt, wie man sich klug beugen müsse und doch dem Schicksal zu gebieten habe. Früh hatte er die unerbittliche Feindschaft der Geistlichkeit erfahren und den rivalisierenden Truppen zuvorkommen müssen. Zwölf Jahre Erfahrung als Schauspieler und Schauspieldirektor, Jahre, in denen sein

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theatralisches Genie reifte . . . eine lange Zeit, die ihm jene weite und tiefe Menschenkenntnis vermittelte, von denen seine Komödien prall gefüllt sind. Ein Mann der Praxis, der sein Metier beherrschte. Es sind ihm nadi dem ersten Pariser Erfolg noch knapp 15 Jahre gezählt. Seine Gesundheit ist von so viel Strapazen angeschlagen. Der Wettlauf mit den Jahren setzt ein. Im Durchschnitt berechnet, ringt er jedem Jahr etwa 2 Stücke ab.— Mit dem „Etourdi" und den „Pricieuses ridicules" vom 18. November 1659, zwei Erfolgsstücken, in denen sein Schauspielertalent einen säkularen Sieg davontrug, ist sein weiterer Aufstieg in Paris gesichert. Er gilt als der „premier farceur de France". Er hatte von den Italienern gelernt. Diese waren ja genötigt, sich mimisch-expressiv auszuspielen, da die französischen Gäste, vor denen sie auftraten, italienisch garnidit verstanden. Moli^re lernte vor allem bei dem Schauspieler Tiberio Fiurelli, mit dem er befreundet war. Die Virtuosität der Italiener äußerte sich in der mimischen Umsetzung entweder vorgegebener Motive oder zeitgenössischer Vorgänge, wobei sie sich häufig auf das gefährliche Gebiet aktueller politischer Satire wagten. Das Publikum lachte, aber wir hören auch Stimmen, wie die der Brüder Villiers, daß ihre Tricks, die immer die gleichen blieben, nach 5 oder 6 Stücken zu langweilen begannen. So verschieden auch M o i r e s „petits divertissements" von der „commedia dell'arte" der Italiener waren, so zeigten sich die Zuschauer doch von der mimischen Ähnlichkeit beider beeindruckt. Somaize, von dem die Charakteristik Moli£res als des premier farceur de France stammt, schrieb in seinem Pamphlet gegen ihn: „(Moliere) hat den ,Medecin volant' (Medico volante) in lächerlicher Weise nachgeäfft, und auch mehrere andere Stücke derselben Italiener . . . er übernimmt von ihrem Theater auch das Spiel und überträgt es wie die Figuren des Trivelino und des Scaramuccia auf seine Bühne . .

Aber Moliere erschöpfte sein Schauspielertalent und seine szenischen Einfälle nicht in der Imitation der commedia dell'arte, so sehr audi seine Farcen reines, mimisches Spiel sind, und gerade deswegen echtes Theater. Konnte er nicht beweisen, daß er zu „Höherem" befähigt war, als die italienische Komödiantenkunst französisch zu frisieren? Der Spott der Rivalen reizte ihn. Er eröffnete seinen neuen Theatersaal des PalaisRoyal (Januar 1661) mit einer Comedie-h£roique „Dom Garde de Navarre". Sie fiel durch. Es mußte ihn traurig stimmen; denn ein gewisser Zug seines Temperaments zog ihn zu den tragisch-romanesken Rollen. Er

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zog die Konsequenzen: Wenn es sein Schicksal sein sollte, nicht als T r a giker und in tragischen Rollen, sondern als Komödiendichter und in komischen Rollen berühmt zu werden, nun gut, dann wollte er wenigstens die Komödie auf die Rangstufe der tragischen Muse erheben — und außerdem beweisen, daß es eigentlich schwieriger sei, Komödien als Tragödien zu schreiben — , große Komödien, Schauspiele, die das Publikum zum Lachen bringen und es gleichzeitig zum Nachdenken zwingen. I n die F a r cen würde er Körndien Ernst streuen, aber vermochte er nicht durch seine Kunst jeden Ernst, der unserm Leben zugrunde liegt, in Heiterkeit aufzuheben? . . . Komödien, welche Intrigenstücke, Charakterspiele, Sittengemälde sind, Stücke, die darüber hinaus ein ganzes Zeitalter beleuchten und menschliche Wahrheiten von dauernder Gültigkeit ans Licht ziehen? I m August 1661 trägt Moliere einen neuen Sieg davon: Die „Fächeux", ein Comedie-Ballet, das als Szenenreihung satirischer Porträts eine neue Form der Komödienstruktur in ihrer Verbindung mit den tänzerischen und musikalischen Elementen aufweist. L a Fontaine wohnte der Aufführung bei und war beeindruckt. Ludwig X I V . begann sich stärker für Moliere zu interessieren. E r nimmt ihn gegen die Clique der Neider, der Devoten und Rivalen unter seinen persönlichen Schutz. Das Glück scheint dem aufstrebenden Günstling zu lächeln, auch das Glück der Liebe: E r heiratet Armande, die Schwester der Madeleine Bejart. Die Periode der Meisterwerke setzt ein. Es seien nur einige genannt: Die „Ecole des Femmes" (1662), der „Tartuffe I " (1664), der „ D o m J u a n " (1665), der „Misanthrope" (1666) der „Tartuffe I I " (1667) — dazwischen liegen die „Critique de l'Ecole des Femmes" (1663) und das „Impromptu de Versailles", wo der Verfasser sich selbst als Moli£re bei der Regiearbeit auf die Bühne bringt, und andere Stücke, Ballett-Komödien, Pastoral-Komödien und der köstliche „Sicilien ou l'Amour Peintre". Aber während er also König, H o f und Stadt amüsiert, wird es traurig in ihm selbst. E r ist ein kranker Mann, muß des öfteren seine Tätigkeit als Schauspieler unterbrechen, wird schonungslos von seinen Feinden verfolgt und erlebt die unfaire Handlungsweise des jungen Racine. D e r Erzbischof von Paris exkommuniziert die Schauspieler des „ T a r t u f f e " . D e r König beugt sich aus Rücksichtnahme gegen den devoten Teil des Hofes und verbietet die öffentliche Aufführung, der Pfarrer Roull0 fordert den Scheiterhaufen für den Autor. Das alles hat ΜοΙίέΓε nicht auf die K n i e zwingen können. In solchen Momenten fallen die Masken. E r sieht in das haßerfüllte, von Neid verzerrte Gesicht der Heuchler und der Fanatiker. Eine schredk-

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liehe Vision, aber sie verdoppelte seine Schöpferkraft und seinen Mut. Die Komödien dieser Periode grenzen fast alle an tiefe, menschliche Tragik. Sie sind, wie die meisten andern, in der Tradition der Sitten- und Charakterbilder; aber ihre eigentümliche Größe, ihre Kühnheit und Genialität wurden manchmal, wie im Falle des „Dom Juan", erst später nach Moli£res Tode erkannt, als ihr sozialkritischer Gehalt den Zuschauern bewußt wurde. Molifere war kein Kathederphilosoph oder Schulmeister, der belehren wollte, er blieb das Weltkind in der Mitten und ein Aufklärer noch vor Anbruch des „si^cle de lumi£res", — der erste, der es wagte, im Rampenlicht der Öffentlichkeit, von der Bühne her, die Gesellschaft anzugreifen, den Dunstschleier der Devotion zu zerreißen, Heuchelei und Intrigentum zu entlarven (der Fall Tartuffe), die Menschen, die Frauen und Mädchen zumal, ihrer natürlichen Bestimmung zurückzuführen und der Despotie der Väterherrschaft die Maske vom Gesicht zu nehmen (der Fall der Ecole des Femmes), uns das Odium der Misanthropie vor Augen zu führen (der Fall des Misanthrope); und war sein „Dom Juan" nicht ein Schauspiel, das den Zeitgenossen ein dunkles Vorgefühl der zukünftigen Katastrophe einzuflößen vermochte? War nicht die Kaste der privilegierten Granden reif dafür, daß sie einmal von dem Blutstrom der Revolution fortgeschwemmt wurde? Mit eben diesem „Don Juan" griff Moli^re ein Thema der Weltliteratur auf, das zum ersten Mal in Spanien durch Tirso de Molina dramatisch inkarniert wurde, und zwar aus dem Geiste des kontrareformatorischen Katholizismus —, ein Thema, das durch Vermittlung italienischer Bearbeitungen mehr theatralischer Natur von Moli£re übernommen, aber von ihm zu einem Schauspiel von härtester sozialkritischer Vehemenz umgestaltet wurde, bevor es, nach ihm, in einer dritten Inkarnation, in der „Oper aller Opern", dem „Don Giovanni" Mozarts, sich noch einmal die Bühnen weit eroberte. Um dem Thema des Don Juan in seiner Vielschichtigkeit und seiner Variationsbreite gerecht zu werden, muß man es in Spanien (Tirso) in der Perspektive der christlich-katholischen Glaubensüberzeugungen, in Frankreich (Moli^re) in gesellschaftskritischer Sicht, in Deutschland (Mozart) aus dem Geiste der Musik (in der übrigens, wie ich es anderenorts versucht habe, alle religiösen, revolutionären und psychologischen Motive analysierbar sind) verstehen. Auf eine Periode solcher Spannungen konnte es nur eine Entspannung geben. Der „Amphitrion" ist ein solches Stück der geistigen, künstlerischen Entspannung (1668). Aus dem gleichen, erstaunlich produktiven

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Jahr haben wir 2 andere weltberühmte Komödien: „Georges Dandin" und „L'Avare", denen unmittelbar der „Bourgeois Gentilhomme" folgt, eine Ballett-Komödie, die, wie wir hörten, in Zusammenarbeit mit Lully entstand. Die letzte große Verskomödie waren die „Femmes savantes" (1672). An ihr hat er mehrere Jahre gearbeitet, und doch gehört sie nicht zu seinen größten Werken, vielleicht, weil er in ihr zuallererst seine persönlichen Haßgefühle gegen den Abbe Cotin abreagieren wollte. — Die Zeit lief ab. Es wurde dunkel: Sein Sohn, für den der König selbst die Patenschaft übernommen hatte, fiel im Kriege; Madeleine B^jart, seine alte Freundin, starb; Lully lief ihm in der Gunst des Königs den Rang ab — und verhinderte, daß die Aufführung des „Malade imaginaire" vor dem König stattfand, eine Ballett-Komödie, für die nicht Lully, sondern Charpentier die Musik geschrieben hat. Jedermann weiß, wie skeptisch Moliere gegenüber den Ärzten war, und daß die Komödie des „Eingebildeten Kranken" die Medizinische Fakultät karikieren wollte; aber indirekt richtete sich sein Angriff gegen die Theologische Fakultät, weil diese der Hort eines überalterten Aristotelismus scholastischer Prägung und der Feind modernen, naturwissenschaftlichen Fortschrittsgeistes war. Das Wort der prächtigen Angelique konnte alle fortschrittlich denkenden Menschen entzücken: „Les anciens sont les anciens et nous sommes les gens de maintenant". Interessant ist das Bekenntnis des Schauspielers Michel Bouquet, der 1971 den Argan spielte, zu diesem Vermächtnis Moli^res: „Es ist ein großes Stück, vielleicht das größte Moli^res, das geheimnisvollste, poetischste, eins jener Werke, das ein Dichter erst am Ende eines Lebens schaffen kann, auf dem höchsten Grat einer Meisterschaft . . . wo man endlich die geheimsten Dinge aussprechen kann und auszusprechen wagt, fast nur wie im Vorübergehen, mit einer souveränen Freiheit und mit höchster E l e g a n z . . . " (In: Nouv. litt. 1. April 1971). Die Ballett-Komödie wurde im Palais-Royal am 10. Februar 1673 uraufgeführt. Bei der 4. Aufführung brach Moli£re zusammen. Obwohl schon vom Tod gezeichnet, ließ er sich nicht abhalten, persönlich aufzutreten, da er die Besucher von Rang wie den Prince de Condέ und andere große Herren nicht enttäuschen wollte, dachte aber, wie uns berichtet wird, vor allem an seine 50 armen Bühnenarbeiter, die nur ihren Tageslohn zum Leben h a b e n . . . „ Was sollen sie machen, wenn nicht gespielt wird? Ich würde es mir vorwerfen, wenn ich ihnen nicht ihr täglich Brot verschaffte, da ich es durchaus noch tun kann." . . . Man trug ihn nach Haus; die beiden Priester seiner Gemeinde, Lenfant und Lechat, nach denen man

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schickte, hielten es wohl mit ihrer christlichen Würde nicht vereinbar, dem Autor des „Tartuffe" auf seinem Sterbebett Beistand zu leisten; ein dritter kam — aber er kam zu spät. Nur der persönlichen Intervention seiner Gattin bei Ludwig X I V . war es zu verdanken, daß Moli£re christlich bestattet wurde, was ihm auf Grund der kirchlichen Gesetze bezüglich der Behandlung der Komödianten verweigert worden wäre. Ludwig X I V . wollte einen öffentlichen Skandal vermeiden und ordnete das Begräbnis an: Vier Priester trugen den Sarg und sechs Chorknaben folgten. Eine große Menge Menschen, die den beliebten Schauspieler beweinten, gab ihm die letzten Ehren.

In den Vorworten zu den Precieuses ridicules und dem Tartuffe, im Avertissement der Facheux und in den Dialogen der Critique de l'Ecole des Femmes sowie des Impromptu de Versailles hat Moli£re auf verschiedene Angriffe seiner Feinde reagiert und schlicht und einfach seine Ideen über die Komödie formuliert. Wir erinnern uns, daß Racine im Vorwort zur Berenice sagte: „La principale r£gk est de plaire et de toucher." Vier Jahre später schrieb Boileau über die Tragödie im 3. Gesang der „Art Ροέΐίςυε": „Le secret est d'abord de plaire et de toucher." Selbst Corneille stimmte in den Chor ein, und nun hören wir in der Critique de l'Ecole des Femmes Dorantes Meinung: „Je voudrais bien savoir si la grande rägle de toutes les regies n'est pas de plaire", und Uranie: „Pour moi, quand je vois une con^die, je regarde seulement si les choses me touchent." Genug der Zeugnisse. Niemand im Parterre oder in den Logen fragte danach, ob das Lachen und die Rührung nur mit Erlaubnis der aristotelischen Regeln gestattet ist. Danach fragten nur die ewigen Pedanten. Zeitgenossen nannten ΜοΙϊέΓε „le dieu des ris" den Gott des Lachens, den alle, die lachen können, auch verehren werden. Wer aber nicht lachen kann, wie J . - J . Rousseau, wird auch keinen Gefallen an Molare finden können, auch wenn er es beteuerte. Ein Theaterpraktiker, gleich, in welcher Zeit er lebt, wird hingegen bestätigen, was ein Louis Jouvet heute noch von Moliere sagen konnte: „Die Zustimmung des Publikums, der Beifall sind letztlich das einzige Ziel jener Kunst, die Moliere die große Kunst nannte, nämlich die Kunst des Gefallens." Vergessen wir doch nicht, daß ΜοΙϊέΓε Bühnenautor, Komödiant, Regisseur war, und zud8m εΐη Mann, der die Erfahrung des Publikums hatte und zu unterscheiden wußte, was dem König und dem Hof, was der

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großen und der breiten mittleren und kleineren Bourgeoisie, und was dem „Volke" gefiel. Bis ans Ende seines Lebens blieb er der Farce verhaftet. Wer sie und den Mimos gering achtet, wird Moli^re und seinem Theater nicht gerecht. Es gibt da keine hierarchischen Werte, in dem Gesamt seiner Komödienproduktion, sondern nur eine bewundernswerte Mannigfaltigkeit der Formen, Inhalte, Absichten seiner Komödienspiele. Die einaktige „farce" wiegt die hohe Verskomödie von 5 Akten auf, die „petite comedie" die „grande comedie". Die Farce dringt in die „höheren" Komödiengattungen ein. Wir finden ihre Elemente in den Precieuses ridicules, den Fourberies de Scapin sogar im Avare, in der Ecole des Maris und im Bourgeois Gentil-homme, ja audi in den „hautes comedies" wie dem Dom Juan, dem Tartuffe, den Femmes savantes. Moli£re kennt den antiken Mimos, die mittelalterlichen französischen Fabliaux, den berühmten Maitre Pathelin, der 1656 neu herausgegeben wurde; er kennt, was man weniger weiß, das spanische Theater, und natürlich die italienische Commedia dell'Arte. Wenn es gilt, das Publikum zu kitzeln, benutzt er auf seine Weise ihrer aller Technik und handhabt im besonderen wie seine italienischen Rivalen die Mittel, den Lachreiz auszulösen. Da scheut er vor keiner Plumpheit, vor keiner sprachlichen oder mimischen Frechheit zurück. Der Erfolg heiligt die Mittel. Sein Publikum aber merkte bald, daß noch etwas anderes im Spiel war, und daß, von einigen Stücken abgesehen, die Farce als mimisches und dramatisches Element auch in der „grande comedie" besonderen künstlerischen Zwecken diente. Wo immer Molares Komödie an die Grenzen des Tragischen geriet und das Lachen ins Weinen umzuschlagen drohte, setzte er die Farce ein und führte sein Publikum in die Heiterkeit, die Gefilde des Lachens, zurück. Fragten wir, durch welche sprachlichen, psychologischen, mimischen Mittel es ausgelöst wird, ließe sich wohl zusammenfassend sagen, daß Moliere Rezepte besaß, den starren Typen der Farcen und Komödien neues Leben einzuhauchen: Er karikiert sprachlich wie mimisch die scharf beobachteten Typen seiner Zeit, und nicht nur einzelne Typen, sondern das ganze Ambiente eines Hauses, einer Familie, einer Gruppe von Menschen. Er mischt Bouffonnerie und Wirklichkeit, d. h. er meistert die karikierende Verzerrung. Alle Formen und Mittel des Komischen sind ihm recht: Grimassen, Ohrfeigen, Prügelszenen, Kalembours, burleske Aufzüge, jede Art Situationskomik und Wortspiele, die gesamte Skala der komischen Effekte, die sich aus Kontrastwirkungen, Wiederholungen, Verwechslungen ergeben . . . unerschöpflich ist seine vis comica,

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seine Bühnenphantasie, die mit hundert szenischen Einfallen den Zuschauer in Atem hält und ihn immer wieder zum Lachen bringt. Wir wollen hier nicht die endlos diskutierte Frage von neuem aufwerfen, ob Moli£res Stücke die Sitten korrigieren können und wollen. Tatsache ist, daß die Zeitgenossen sich in seinen Stücken gespiegelt sahen, und daß auch wir noch in manchen seiner Komödien uns wiedererkennen — und wissen doch: Was sich da abspielt, ist keine „Wirklichkeit"; es ist doch nur ein Theaterstück, vielleicht ein Traum, über den wir lachen oder lächeln können? Erkenne die Komik und das Lächerliche in den vorgehaltenen Spiegeln; bist du nicht wie diese da, auf der Bühne, die dir so ridikül erscheinen? Dann lache über dich selbst — das ist heilsam —, oder werde anders — und wenn du's willst, bessere dich! Es liegt an dir. Moli^re hat mit Recht die Frage aufgeworfen, ob es nicht vielleicht schwieriger sei, eine Komödie zu schreiben, und das heißt: „gehörig in das Lächerliche der Menschen einzudringen und auf dem Theater die Fehler aller Menschen in liebenswerter Weise darzustellen", als „sich an großen Gefühlen hochzuschrauben, dem Schicksal in Versen zu trotzen und es anzuklagen und Beleidigungen gegen die Götter auszustoßen". (In der Critique de l'Ecole des Femmes.) Den Streit um diese Frage hätte er mit Racine ausfechten müssen. Er dürfte kaum zu schlichten sein. Wie dem audi sei, MoWre ist es gelungen, von der Farce ausgehend und immer bei ihr bleibend, das Lustspiel, das keinen „Rang" in der großen Literatur hatte, auf die „Höhe" des Trauerspiels zu erheben. So verlieh er dem Farceur das Heimatrecht in der komödiantischen Kunst, wo Komödie und Tragödie nur zwei verschiedene Aspekte des menschlichen Spiels überhaupt sind. ΜοΙίέΓβ ist mit den Aufgaben, die er sich immer neu stellte, gewachsen. „Wenn Ihr die Menschen malt", sagt Dorante in der „Critique de l'Ecole des Femmes", „müßt Ihr sie nach der Natur malen. Man will, daß die Porträts Ähnlichkeit haben; und Ihr habt nichts zustande gebracht, wenn Ihr in ihnen nicht die Menschen Eurer Zeit erkennen laßt."

Das war Molieres Ehrgeiz und wurde sein künstlerischer Erfolg. Er erstrebte, was seine Freunde Lafontaine und Boileau, ein jeder in seiner Art, mit Fabeln und Satiren machten. Aus seiner Umwelt und seiner Gegenwart nahm er die Personen und stellte sie, karikiert und zeitgemäß kostümiert, in das gesellschaftliche Milieu wieder hinein. Jede Figur trägt das Zeichen ihres Standes und ihres Metiers. Das Gesamt seiner Komödien

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ist ein fast vollständiges Bild der französischen Gesellschaft der Jahrhundertmitte. Er führt den König in Person auf die Bühne, wenn er mit ihm und Lully in den Balletten und Divertissements tanzt, die er für ihn und den Hof zusammenstellte. Er porträtiert die Höflinge, etwa in der Gesellschaft des Salons der Οέΐίπιέηε, die eitlen Marquis in den „Fächeux", und im „Misanthrope"; er portraitiert die Grandseigneurs frech, und zynisch, provozierend und atheistisch wie seinen Dom Juan: „grandseigneur m^chant homme", oder skrupellos, wie es der Dorante im „Bourgeois Gentilhomme" ist. Er portraitiert auch die sympathischen unter ihnen wie Alceste oder Dom Louis. Er steigt zur Bürgerklasse herab, die er, da er ihr entstammt, auch gut kennt, zur grande bourgeoisie, petite bourgeoisie, moyenne bourgeoisie. Da wimmelt es von Menschen und Typen aller Art: grand bourgeois wie Harpagon, Ärzte, Professoren, Notare und Apotheker, die Welt der Kaufleute, der anständig-bürgerlichen, aber auch die der zweifelhaften Sorte, Betrüger, Wucherer, Erpresser. Alle spielen ihre Rollen im bunten Durcheinander des Lebens und der Interessen. Schließlich war dem fahrenden Schauspieler auch das Provinzleben vertraut. Er kennt das dürftige Leben der Kleinstadt wie der Großstadt. Er kennt auch die Sprache der Bauern und Mägde. M o i r e s Werk ist die Comedie humaine des 17. Jahrhunderts. Nicht nur einzelne Typen, ganze Gesellschaftsgruppen und kollektive Zeiterscheinungen werden ins Bühnenbild gebannt. So schrieb er die späten „Femmes savantes", als die Frauensalons charakteristische Erscheinungen der Zeit waren. Dort zeigte man sich geistvoll, dsikutierte über Descartes und den Kartesianismus, interessierte sich für Mathematik, Astronomie und Naturwissenschaften. Man lief in die zahlreichen Vorträge, in denen die Redner aktuelle Probleme in gemeinverständlicher Form explizierten. Im „Tartuffe" riechen wir geradezu die Muffigkeit eines devoten Interieurs. Moliere war, wie Balzac 150 Jahre nach ihm, ein so unbestechlicher und scharfblickender Beobachter und Schilderer der Zeit und Gesellschaft, daß beide noch heute eine Quelle für historisch-soziologische Untersuchungen sind. Man muß nicht der Versuchung verfallen, große Literatur oder Kunst für außerhalb ihrer selbst liegende wissenschaftliche Zwecke dienstbar zu machen; aber in manchen Fällen ist es nicht nur statthaft, sondern wir fühlen uns aufgefordert, gesellsdiaftskritisch zu interpretieren. So ging es Erich Auerbach, als er für seine Studie zum französischen Publikum des 17. Jahrhunderts die vier großen Komödien L'Avare, Le Bourgeois Gentilhomme, Les Femmes savantes, Le Malade imaginaire als Quelle seiner Forschung benutzte.

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In der T a t geben uns diese Lustspiele eine Vorstellung des sogenannten gehobenen Bürgertums, das damals, schon zu Richelieus Zeiten, nach „oben" drängte, sich mit dem nach „unten" sinkenden Adel verband und, mit diesem verschmelzend, zum Träger der „klassisdien" Kultur Frankreichs wurde. Es ist merkwürdig: Alle diese Bürger, die da in den Komödien auftreten, haben eigentlich keinen „festen Beruf". Das charakteristische wirtschaftliche Denken und Handeln des Bürgers verschwindet in der karikierenden Darstellung der moli£reschen Bourgeois hinter deren lächerlichem Bestreben, selbst in den Adelsstand aufzurücken, es ihm gleich zu tun oder wenigstens die Töchter entsprechend zu verheiraten. Wer aber die groteske Seite des Menschen und seines Strebens so scharf sieht und herausstreicht wie Moli^re, verfehlt die mittlere Linie. Insofern ist Vorsicht geboten, den Dichter als soziologische Quelle zu benutzen. Andererseits ist es sicher, daß der Mangel an wirtschaftlicher Gesinnung und Tätigkeit, wie er in Moli£res reichen Bürgerhäusern auffällig ist, einer realen Lebenshaltung entspricht. Über Geld wird nicht gesprochen. Es ist vorhanden. Was dem Bürger vielmehr interessant erscheint, ist, was wir heute schon wieder ein wenig abschätzend, Bildung nennen. Monsieur Jourdain, der bourgeois-gentilhomme, strebt nach soldier Kultur; er will das alte humanistische Bildungsideal erreichen, das eben früher entweder den „Humanisten" oder dem hohen Adelsstand vorbehalten war, das aber jetzt einer breiteren, wirtschaftlich gehobenen Schicht von Gebildeten oder Bildungseifrigen zuteil werden kann. Wo aber bleibt das „Volk" — le peuple? Es existiert, aber es schweigt und wird verschwiegen. Indessen lebt von seiner produktiven Arbeit die ganze Nation; spricht man einmal von ihm, dann in einem Ton, der es, selbst bei Moli£re, lächerlich erscheinen läßt. Doch sind auch hier Retouchen anzubringen. Lafontaine hat die Ärmsten der Armen gesehen und ihnen in dem „Bücheron" seiner Fabeln ein bescheidenes Denkmal gesetzt. Fenelon und die Kritiker der Kriegspolitik Ludwigs und Louvois' kennen das Elend aus eigener Sicht und beschuldigen den Hof. La Bruy^res Empörung ist bekannt: Während manch feiner Herr, frisch und unbekümmert, seine Pfründen genießt, darbt das „Volk", Hunderte von Familien . . . sie haben nichts zu essen, nichts zu heizen . . . Cela ne prouve-t-il pas un avenir? Gewiß, das Volk hat keinen „esprit", die Großen aber auch keine Seele: „ J e ne balance pas. J e veux etre peuple". (In: Les Caract^res) Und hat ein Louis Le Nain nicht schon 1643 seine Sympathie für die Bauern in das ernste, würdige Bild seines „Repas des Pay-

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sans" gelegt? Der Alte und seine Frau, die Kinder, alle sind ernst, ruhig; da ist nichts Komisches oder gar poetisch Erhobenes und Erhabenes. In stumpfen Farben, braun und grau, sind sie gekleidet, wie der Laib Brot oder die Kannen. Alle Gegenstände scheinen hart der Erde abgerungen zu sein. Auf diesem Bauernhof aus der Umgebung von Paris, in dieser Bauernstube sieht es nicht so lustig aus wie bei den Trinkgelagen oder auf der Kirchweih der flämischen Bilder. Durch das Grau des bäuerlichen Alltags schimmert auf dem Gemälde Le Nains nur etwas Weiß und der rote Fleck, das halbgefüllte Glas Wein, als lebendiger Punkt hindurch. Man hätte sich gefreut, wenn Moli^re, umgekehrt, in das lustig-komödiantische Bild seiner Gesellschaften, vielleicht nur mit leichtem Pinselstrich, das Tragisch-Traurige des „Volkes" angedeutet und seinen Zorn über die Unechtheit und Lächerlichkeit des ländlichen Hochgefühls der auf dem Lande sich langweilenden oder amüsierenden Junker und Hofaristokraten satirischen Ausdrude gegeben hätte. Doch das ist unhistorisch gedacht. Moi r e s Aufgabe war es, den König und den H o f zu belustigen. E r hat schon genug getan, wenn er als „Philosoph" das nach ihm anbrechende Zeitalter der Aufklärung mit einigen andern Gesinnungsgenossen heraufgeführt hat. Wenn Descartes gewissermaßen auf Grund eines unwiderlegbaren Denkprozesses die Erlaubnis erwirkte, frei zu denken, dann erwirkte ein Moli^re auf Grund natürlicher Einsicht in die Existenzbedingungen des Menschen die Erlaubnis, frei zu leben. Frei denken und frei leben, das mußte die Kirche alarmieren. Der Kampf der Kirchen (der katholischen wie der reformierten) gegen das Theater wurde durch Moli£res Bühnenwirksamkeit auf einen Höhepunkt getrieben und zeitigte die unerquickliche Streitliteratur eines Bossuet, Bourdaloue, Massillon gegen den verhaßten Komödianten und gegen alle die, welche wie der Pfere Caffaro so freimütig waren, in Molieres Komödien nicht den Pakt des Dichters und seiner Schauspieler mit Satan selbst zu sehen. Die Partie war freilich schon zu Zeiten Molieres für die Kirche verloren. Denn das Publikum, das in den Salons Descartes diskutierte und zu ΜοΙϊέΓε ins Theater strömte, war eben schon weit von der Zeit, da das europäische Leben wirklich „christlich" bestimmt war, entfernt. Der Einbruch des naturwissenschaftlichen Denkens, ferner die auf innerweltliche Disziplin und Machtpolitik gerichtete Idee der Staatsraison eines Richelieu, dann die Umschichtung der Gesellschaft, die Heraufkunft einer eroberungslustigen weltlichen Finanzmacht, schließlich die weite Streuung bürgerlich-humanistischer Bil-

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dung auf der breiten gemeinsamen Basis von Adel und Bürgertum, all das führte in der Zeit Moli£res zu einer Entchristlichung des Lebens und der Kultur. Noch eine Generation später, und wir stehen mit Fontenelle, Bayle, La Bruy^re an der Schwelle zur „Aufklärung", die einen weiteren Schritt der Entchristlichung auf unserm europäischen Kontinent bedeutet. Descartes' ganze Gedankenarbeit an einer planvollen Lebensgestaltung vollzog sich ohne den Blick auf Christus. Moli£re eroberte sich eine Bühne, von der aus er, als der geistvollste Spaßmacher seiner Zeit, den reaktionären Kräften Wahrheiten sagen konnte. Jede seiner Komödien großen Stils ist, wie Ramon Fernandez sagt, eine neue Schlacht, deren Taktik gemäß den Umständen, d. h. den Aufträgen und Polemiken, und deren Strategie gemäß dem Terrain, d. h. der Qualität des Publikums und dem Ort der Inszenierung, variierte. Das Parterre war jedes Mal neu zu erobern, wurde dann sein bester Bundesgenosse und stützte ihn wieder, bewußt oder unbewußt, im Kampf um die Ideale einer neuen, kommenden Gesellschaft, einer von religiösen und moralischen Zwängen befreiten Welt. In diesem Sinne zeigt sich, was wir eingangs sagten: Das Publikum selbst spielte im Theater mit. In M o i r e s theatralischer Sendung wird es deutlich, wie Dichter, Regisseur, Publikum, Schauspieler in funktioneller Abhängigkeit stehen, d. h. wie im Theater, dem Spiegelbild der Lebensbühne selbst, sich Gesellschaftskrisen bilden und lösen. Jede große Mo^resche Komödie hat also einen literarischen u n d gesellschaftskritischen Aspekt. Nie aber werden wir bei Moli^re zu unserer Freude den rein komödiantisch-theatralischen Zauber in seinen Stücken vermissen: Theater bleibt Theater. Es ist gelebte Kunst, zur Kunst geronnenes Leben.

Lafontaine

(1621—1695)

Es ist vielleicht gewagt, als Anhang eines Kapitels über das klassische Theater Frankreichs einen Fabeldichter sprechen zu lassen. Jedoch fordert Lafontaine selbst uns auf, seine Fabeln als „eine große Komödie mit hundert verschiedenen Akten" zu betrachten. Ich möchte ihn den Dichter der Miniaturkomödien nennen. Sie sind Theater, denn da sprechen Götter, Helden, Menschen aller Kategorien und sogar Tiere und Pflanzen und Bäume. Sein Komödienspiel ist Welttheater. Das Erstaunliche ist, daß diese Guckkastenbildchen, deren jedes eine kleine Welt für sich ist, inmitten des rationalistischen, immer wieder auf den Menschen sich beziehenden Denkens, etwas wie ein pantheistisches Weltgefühl vermitteln, wo alles

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mit jedem zusammenhängt. Dennoch sind seine Fabeln nicht „romantisch", sondern wurzeln in einer intellektuellen Anschauung der Welt und des Menschen, aber sie lassen als Dichtung etwas vom Hauch einer Naturbeseelung spüren. Ihre Intellektualität verbirgt, was an Gefühlvollem zugrunde liegt, das Gefühlvolle verdichtet sich zu intellektueller Anschauung. So entsprechen sie zwei Urbedürfnissen des Menschen, und das mag der Grund sein, warum sie so wenig veralten. Ihr scheinbar kindliches Sprachgewand, das die Dinge schlicht und einfach, aber mit unendlich zarter Poesie auszudrücken weiß, tut das seine, den kleinen Lafontaineschen Komödien einen besonderen Platz in der französischen Geisteskultur anzuweisen. Wir bewundern wohl einen Corneille, wir preisen einen Racine, wir lieben und verehren Moli^re, aber der Esprit des Lafontaineschen Fabelwerks ist unser ganzes Entzücken — oder man müßte im Geiste Rousseaus einen „Emile" zu erziehen haben, den der Pädagoge vor der „Unmoral" der Fabeln zu schützen hätte; dann werden wir ihren Autor verurteilen wie Rousseau auch Lafontaines Freund Moliere wegen seines „Misanthrope" und anderer Dinge am Zeuge flickte. Lafontaine ist, den Franzosen bewußt oder unbewußt, in ihren Sprachreichtum eingegangen. Viele alltäglich gebrauchte Wendungen sind von ihm geprägt. Wie wahrhaft populär er ist, erfuhr ich auf Reisen durch Frankreich, wo in manchen einsamen Wirtschaften an wenig befahrenen Strecken Bilder, ja ganze Bildserien seiner Tierfabeln in schönen, bunten Farben, kindlich dem Text getreu dargestellt, die Wände der Gaststätten schmückten. Aber vielleicht erfreut sich der reife Mensch, natürlich mehr noch als das unschuldige Kind, an der Welterfahrenheit, der feinen Ironie und der hohen Sprachkunst seines dichterischen Werkes. Nicht im Sinne eines „acte gratuit" hat Andr6 Gide die Fabeln im Gepäck auf seine Kongoreise mitgenommen. Lassen wir die andern Werke wie seine „Contes", seinen Roman „Les Amours de Psychi et de Cupidon", seine Gedichte beiseite. Aber das Theater? Er hatte einen Faible für diese Gattung. So verfaßte er ein Libretto „Daphn^" für Lully. Er dachte immer ans Theater, aber weder die Opernbühne noch das literarische Theater wollten sich ihm öffnen. In frühen Jahren hatte er den „Eunuchus" von Terenz bearbeitet, dann schrieb er eine „Comedie de chanson" — also ein lyrisches Theaterstück, wie sie damals zwischen 1658 und 1671 beliebt waren. Sogar mit einer Tragödie „Achille" versuchte er sich; aber das größte seiner Theatermißgeschicke erlebte er mit seiner „Astree" (1691) gegen Ende seines Lebens. Davor

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liegen einige Komödiendichtungen, Versuche des Schauspielers Champmesl£, an denen Lafontaine mitgearbeitet hat. So war er zeit seines Lebens mit dem Theaterleben verbunden, aber er wurde kein Moli£re, kein Racine, nicht einmal ein Quinault. Sein Talent lag in der Kleinform dramatischer Sketche, der fabula. Lafontaine hat die Fabel als Gedichtgattung nicht entdeckt. Er fand sie bei den alten Indern, den Griechen, den Römern, im Mittelalter, in der italienischen Renaissanceliteratur, bei den eigenen Zeitgenossen. Er las sie und gab ihnen neue Formen und Bedeutungen. Im ganzen hat er 12 Bücher mit insgesamt 244 Fabeln nachgedichtet oder neu gedichtet. Einige sind nicht als „eigentliche" Fabeln anzusprechen, sondern sind Sittenbilder, Allegorien, Hirtengedichte, Epigramme oder kleine Erzählungen politischen oder andern Inhalts. Am meisten hat er aus Aisopos gesdiöpft. Wir wissen heute nicht einmal, wie weit die Person des Aisopos historisch gewesen ist. Seiner romanhaft anmutenden Lebensgeschichte, die schon dem alten Herodot bekannt war, waren Fabeln angeschlossen, die später unter dem Namen des vermeintlichen Dichters nacherzählt wurden. Sokrates, so wir berichtet, habe im Gefängnis vor seiner Hinrichtung einige dieser volkstümlichen Fabeln in Verse gebracht. Lafontaine hat sie in der damals beliebten „Mythologia Aesopica Isaaci Nicolai Neveleti", Frankfurt 1610, gelesen. Dort fand er die Fabeln in lateinischer Übersetzung, reich geschmückt mit Stichen, und neben Aesop einige andere Fabeldichter. Wenn wir den von Lafontaine selbst zitierten Gabrias (in dem wir wohl den um 180 n. Chr. lebenden Babrios zu erkennen haben) übergehen, stoßen wir zunächst auf Phaedrus, einen Sklaven des Kaisers Augustus. Er schrieb um 40 n. Chr. seine Tierfabeln, in die er allerlei Anekdoten und Schwänke mischte und sie mit satirischen Anspielungen auf die Zeitverhältnisse würzte. Sein Nachlaß umfaßte etwa 150 Fabeln, die im Mittelalter gern gehört und auch in Prosabearbeitungen vorgetragen wurden. Im 2. Buch der Lafontaineschen Fabeln begegnen wir dem Inder Pilpay (es handelt sich um das zur Weltliteratur gehörige Fabelwerk Bidpais); ferner schöpft Lafontaine aus Aphtonius von Antiochus, aus der italienischen Humanistenliteratur des Quattro- und Ciquecento (Faerne, Verdizotti, Bevilacqua), nimmt, was ihm gefällt, aus Rabelais, Abstemius, Bonaventure des Piriers, aber kennt weder die mittelalterliche Dichtung der Marie de France noch die „Bestiaires" noch den „Reineke Fuchs" (Roman de Renart) — außer was ihm durch mündliche Überlieferung davon zugekommen ist. Es ließen sich

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Mönch, Franz. Kultur

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weitere Namen und Werke anführen und auf die Forschungen unseres Fabeldichters Lessing verweisen. Interessanter ist, wie Lafontaine durch den Weltreisenden Bernier, der 1669 von einer Indienfahrt zurückgekommen war, mit der fernöstlichen Fabelwelt in Berührung kam. Manche seiner Fabeln atmen Duft und Würze des „Gulistan ou l'Empire des Roses", des Kaiilabuches, in dem sich zwei Schakale über die Pflichten der Fürsten unterhalten, der „Paraboles de Sendabar" und anderes mehr. Was ist eigentlich eine Fabel, und aus welchen Elementen besteht sie? Ihrer Definition nach ist sie ein Gedicht, das aus einer Erzählung und einer Moral besteht. Was aber von den Tieren erzählt wird, läßt sich auf die Gesellschaft der Menschen anwenden. Die Fabel ist ein Spiegelbild menschlicher Eigenschaften und gesellschaftlicher Konditionen. Lafontaines Kunst bestand darin, einerseits die Trockenheit der antiken Erzählung farbiger und lebendiger zu gestalten und deren Moral, die bei den Alten wichtiger genommen wurde, kurz und bündig an den Anfang oder das Ende zu stellen (oder sie ganz wegzulassen), andererseits den breiten, sich verlierenden Raum der Erzählung, den die mittelalterlichen Nachdichter in Anspruch nahmen, zu begrenzen und also aus beiden Veränderungen ein Gleichgewicht herzustellen, das uns das Gefühl einer harmonischen Verteilung beider Fabelteile vermittelt. Dabei gelingt es ihm, durch den Aufbau der Verse, die wechselnden Rhythmen, die strophischen Gliederungen, die Dialogisierung der Vorgänge aus den meisten seiner Fabeln eine jeweils in sich geschlossene „con^die" zu machen. Der besondere Charme dieser kleinen Einakter liegt dabei nicht nur in dem psychologischen Realismus der ins Spiel geführten, als Tiere verkleideten Personen, sondern darin, daß der Dichter selbst hier und da in der Komödie interveniert; dann lugt sein Gesicht, das sich vom Schmunzeln bis zum Feixen verziehen kann, schalkhaft aus der Kulisse hervor. Der Dichter ist der ständig gegenwärtige Regisseur seiner eigenen Fabeln. Niemand hatte in seinem Jahrhundert eine sprachlich so umfassende Palette. Er koloriert seine Komödien mit allen Farben einer vulgären, ländlichen, volkstümlichen, preziösen, höfischen Sprechweise. Dabei gleitet er über alle Töne: von der Behaglichkeit des epischen Tones über einige lyrische Schattierungen bis zu den dramatischen Akzenten. Wer an sprachlichen Analysen Freude hat, den entzückt auf Schritt und Tritt die unvergleichliche Meisterschaft des Dichtens, der hohe Kunstverstand des Dichters; wer ein Ohr zu lauschen und zu vernehmen hat, dem erschließt sich das klingende Spielwerk dieser musikalischen Miniaturen, er versteht, wie

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etwa und zu welchem Zweck der Künstler den Alexandriner gebraucht, wann und warum er das Metrum ändert, das Enjambement verändert, onomatopoetische Wirkungen und harmonische Effekte erzielt, warum er rhetorisch wird oder von lakonischer Knappheit ist, wie er in alles Humor und Ironie mischt und also durch die Fülle seiner sprachlichen Kunstgriffe das lebendige Leben selbst zum raisonnierenden und klingenden Kunstwerk gestaltet: Eine Dichtung von höchster Intelligenz, die ebenso einen Val^ry wie einen Gide in unserem Jahrhundert ansprechen und mit Bewunderung erfüllen konnte. Val^ry sagte: „ . . . la nonchalance, ici, est savante; la mollesse, έακίίέβ; la facility le comble de l ' a r t . . . " — und Gide schrieb: „IA wüßte keine Eigenschaft zu nennen, für die uns Lafontaine einen Beweis schuldig bliebe. Wer ein gutes Auge hat, kann allenthalben deren Spuren entdecken. Aber man muß schon ein verständiges Auge haben, so leicht hingehaucht ist oft sein Pinselstrich . . . Lafontaine . . . c'est un miracle de culture."

In dem „hundertaktigen Drama", dessen wechselnde Szene das „Universum" ist, spielen die Tiere die Hauptrollen. Lafontaine liebte sie; er beobachtete sie belustigt und mit Ironie, nachdenklich auch und mit einem bedeutsamen Seitenblick auf ihren großen Stammverwandten, den homo sapiens. Das Bühnenbild ihrer Auftritte ist die Natur. Man spürt, wie der Dichter in diesen oder jenen Versen die Landschaftsbilder der Champagne oder der lie de France wie stumme Zeugen der dramatisdien Aktionen ins Spiel einbezieht. Mit wenigen Strichen schafft er Atmosphäre: Frühlingserwachen, leuchtende Sommertage, Zwielicht der Dämmerungen . . . . . . et que, n'itant plus nuit, il n'est pas encor jour . . . Er sympathisiert mit der Natur, Pflanzen und Tieren: Eiche und Schilfrohr sprechen wie die Tiere, ein jedes seine Sprache, alles ist belebt von hundert Stimmen, die zusammen das weite Organ des Menschen selbst sind. Es war gewiß ein belustigendes Spiel von Pedanten, dem armen Dichter nachzuweisen, daß er die „ρΓορπέΐέ des animaux" und ihre „verschiedenen Charakterzüge", die Lafontaine nach eigenem Zeugnis schildern wollte, gründlich verzeichnet oder überhaupt verkannt hat. Freilich verspeist die Zikade weder Mücken noch Würmer und „singt" durchaus nicht länger als den Sommer, da sie vor dem Winter stirbt; — und Rabe und Fuchs, die bekanntlich Fleischfresser sind, lieben durchaus keinen Käse. Aber schließlich war Lafontaine kein Zoologe, sondern ein Fabeldichter, der in seinen poetischen Schöpfungen nicht an die Naturgesetze

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der Tierwelt gebunden war. Wird man es — seit Franz Marc — einem Maler übelnehmen, wenn er eine Pyramide von Pferden blau malt, obschon das Blau nicht die „reale" Farbe eines Pferdes ist? Die poetischen Wirklichkeiten sind nicht die naturwissenschaftlichen, und ein Fabelwerk ist etwas anderes als ein botanisches oder zoologisches Lehrbuch. Lafontaine liebte die Tiere. Es war ihm unbegreiflich, daß ein so großer Philosoph wie Descartes ihnen eine „Seele" absprach. Als Anhänger Gassendis verwirft er die kartesianisdie Theorie der „animaux-machines". Was hatte Descartes von den Tieren behauptet? 1. Sie hätten keine artikulierte Sprache. „Das bekundet nicht nur, daß die Tiere weniger Vernunft als die Menschen haben, sondern daß sie überhaupt keine haben." 2. Ihre Anpassungsfähigkeit erkläre sidi aus rein physischen Gründen: „Was sie besser machen als wir, beweist nicht, daß sie mehr Geist haben; denn sonst hätten sie mehr als irgend jemand von uns . . . Vielmehr ist es die Natur, die in ihnen wirksam ist gemäß der Disposition ihrer Organe. So sieht man, wie eine Uhr, die nur aus Rädern und Federn besteht, die Stunden besser zählen und die Zeit richtiger messen kann als wir mit all unserer Klugheit." 3. Die Tiere hätten also keine Seele: „Nichts führt uns weiter vom Weg der Tugend ab als die Vorstellung, daß die Seele der Tiere von der gleichen Natur sei wie die unsrige, und daß wir infolgedessen nach unserm Leben nidit mehr und nicht weniger zu befürchten hätten als die Fliegen oder die Ameisen."

Das klang einem Lafontaine nicht gut im Ohr. Er sah die Tierwelt anders: fand in dem Waldkauz vorsorgliches Denken; er schrieb die reizende Fabel von den Gefährten des Odysseus, die, von Kirke in Tiere verwandelt, herzlich gern lieber Tiere bleiben wollten, als sidi in ihre frühere Mensdienkondition zurückverwandeln zu lassen. Und dieses: „Wenn ich ein Mensch wäre", sagte der Wolf, „würde idi das Gemetzel weniger lieben?" Pour un mot quelquefois vous vous etranglez tous: N e vous etes-vous pas l'un k l'autre des loups? Tout bien consideri, je te soutiens en somme Que, sc£lerat pour sc^lerat, Ii vaut mieux etre un loup qu'un homme.

Er schrieb die Fabel vom Menschen und der Schlange, aus der die Wahrheitsliebe der Tiere, aber die Grausamkeit, Anmaßung, Undankbarkeit des Menschen hervorleuchten. Es ist nichts mit der Selbstherrlichkeit des Menschen. Wie jammervoll entpuppt sie sich dem psychologischen Blick des Tierfreundes! La Rochefoucauld, der Moralist, der hat richtig gesehen, und so bekennt sidi Lafontaine zu ihm. Ja, er benutzt sogar ein

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nachgelassenes Fragment des Psychologen: „Du rapport des hommes et des animaux" für die Fabel 14 des 10. Buches. Sie beginnt mit der Bemerkung, er habe tausendfach beobachtet, wie die Menschen gleich den Tieren (im schlechten Sinne) sich benähmen. In dem berühmten „Discours ä Madame de La Sabli£re" (1679) geht Lafontaine zu einem direkten Angriff gegen Descartes über. Wie, wenn es zwei verschiedene Seelen gäbe? Eine materielle und also sterbliche Seele, nämlich die der Tiere, und eine spirituelle, also unsterbliche Seele, nämlich die der Menschen. Am Ende steht das ignoramus. Aber ein kräftiger Sensualismus und eine Neigung zu materialistischer Betrachtung der Lebewesen sind spürbar. Er konnte zwar von der modernen Biologie nichts wissen — und so hat diese Frage nur historischen Wert; interessant ist nur, daß Lafontaine die Türen zu moderner, von der Christenlehre unabhängiger Betrachtung biologischer Phänomene offen gehalten hat. Der Lafontainesche Antikartesianismus ist nur einer der Aspekte der „libertinistischen" Bewegung der Gruppe um Gassendi, Naud^, La Mothe le Vayer und Diodati. Sie sind zusammen mit den Dichtern wie Τΐιέοphile de Viau, Saint-Amant, Racan eine Generation von Philosophen und gens de lettres, die wir in Ermangelung eines besseren Wortes als „Freigeister" bezeichnen. Sie sind Zeitgenossen Richelieus, den sie hassen, und Fortsetzer der liberalen Renaissancetradition eines Montaigne und Rabelais, die sie lieben. Als Gegner der autoritären Politik des Kardinals blicken sie nach dem freien Venedig und dem freien Holland, „die einzigen Stätten Europas", wie Saumaise schreibt, „wo es noch einen Rest von Freiheit gibt". (Zit. bei Adam I, 292) Sonst herrsche in der Welt nur Tyrannei und Mönchsunwesen — so denken auch Balzac und Chapelain und später Saint-Evremond. Durst nach Freiheit überall. Diese Generation erinnert sich nodi der einstigen Tyrannis der Guisen, der katholischen Liga, der spanisch orientierten Ultramontanen. Ein Guy Patin versteigt sich bis zum Fanatismus, wenn er wie Brutus den Dolch in Cäsars Brust bohren möchte. Ihr Rebellentum müssen sie verbergen und tragen eine Maske vor dem Gesicht, denn ihre politische und atheistische Haltung — nicht alle freilich waren in gleichem Maße Atheisten wie Naudi — konnte sie den Kopf kosten. Wenn audi der eine oder andere seine Feder und seine Intelligenz in den Dienst des Kardinals stellt und wie La Mothe Le Vayer einen „Petit Discours ch^tien de l'immortalü^ de Päme" (1637) auf Veranlassung Richelieus verfaßt, dann ist das ein schlechter Witz, im Grunde eine Geschmacklosigkeit; denn kaum starb der Kardinal, wurde der Ver-

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fasser, der unter dem Druck des allmächtigen Kardinals an die Unsterblichkeit der Seele glaubte, wieder ein Skeptiker und Ungläubiger. Das ist nur einer unter derartig kuriosen Fällen. Manche Züge ihrer Revolte sind bei diesen Späthumanisten literarische Reminiszenzen. Sie lieben Lucanus und dessen W e r k „ D e bello civili", wo sie die berühmte Schilderung der Schlacht von Pharsalos lesen, ein Werk, das in der T a t symptomatisch für das Wiedererwachen des republikanischen Gedankens in der römischen Kaiserzeit war. Wie Lucanus für P o m peius Partei ergriff und die stoische Opposition gegen die Monarchie vertrat, so standen die französischen Rebellen in Opposition gegen die T y r a n nei Richelieus und Mazarins. Sie liebten vorzüglich auch Lucretius Carus. G u y Pantin nennt ihn „le plus savant de tous les ροέιεβ". Sie lasen sein „De rerum natura", wo sie die ihren Ansdiauungen entsprechenden Ideen einer mechanischen Gesetzmäßigkeit des Weltalls, die Negierung eines ewigen Lebens nach dem Tode, und die Erlösung von Gottesfurcht und Todesgrauen in feierlidier Sprache ausgedrückt fanden. Wie später Moliäre, der aus Lucrez übersetzt hat, befreundete sich Lafontaine mit diesem antiken Aufklärer und knüpfte zudem in seiner Lebensphilosphie an Lukrezens Vorgänger, den Griechen Epikuros, an. Von größtem Interesse in der Entwicklung dieser geistesgeschichtlichen Linie der frühen französischen Aufklärer ist die Acad£mie der Brüder Dupuy (Acadimie Puteane). Ihr zweifaches Ziel war die philologische Forschung und die Förderung der Mathematik und der naturwissenschaftlichen Denkrichtung. Seltsamerweise verschloß sie sich Descartes, obwohl er von dem Kreis der Brüder Dupuy bewundert wurde. Aber Descartes' Versuch, den reinen Rationalismus neu zu begründen, entfremdete sie dem Philosophen; denn sie glaubten nicht an die eine, überall gleidi unter die Menschen verteilte, göttliche Raison. M i t ihren Beobachtungen der Pluralität und Mannigfaltigkeit der Denkformen und Verhaltensweisen der Menschen war das kartesianische Einheitsbestreben nicht in Ubereinstimmung zu bringen. Ihre Freude an der Beobachtung der sachlich gegebenen Weltfülle und der bunten Erscheinungsweise der menschlichen Konditionen ist auch die Freude Lafontaines. Bei den einen äußerte sich dieses Interesse in ihrer Reiselust, bei dem andern in der Beobachtung der mannigfaltigen Formen der tierischen Lebewesen. So begegnen wir den einen in Italien, Spanien, Deutschland, England, in der Türkei und in Palestina; den andern sehen wir auf seinen Wegen in W a l d und Feld, in Stadt und Land. Bei beiden bedeutet diese Haltung Abneigung gegenüber rationalen

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Konstruktionen und Hinneigung zu den objektiven Wirklichkeiten. Eine Frühform existenzialistischer Betrachtung ist nicht zu verkennen. Die späteren Libertins, zu denen wir auch Moliäre und Lafontaine rechnen können, waren Verehrer des alten Gassendi, der als Gegenspieler Descartes' Berühmtheit hatte. Es heißt, ΜοΙίέΓβ habe seinen Unterricht genossen, was neuere Forschung als unmöglich herausgestellt hat. Vielmehr gab es eine Gruppe junger Leute, zu denen Chapelle, Cyrano, La Mothe Le Vayer-Sohn, d'Assoucy, Tristan u. a. gehörten, und mit denen Moliire aus der Zeit seines „Illustre Thiätre" befreundet war. Gassendi gewann in der Gunst der jüngeren Libertins gegenüber Descartes an Einfluß. Die Gruppe um Madame de La Sabliire, eine Freundin und Gönnerin Lafontaines, waren antikartesianische Gassendisten. 1674 veröffentlichte Bernier einen „Abrέgέ de la Philosophie de Gassendi", ein leicht faßliches Werk in mehreren Bänden über den berühmten Antikartesianer, der sidi im übrigen in die tollsten Widersprüche gegen sich selbst in der Abfolge seiner Bücher verwickelte. Aber das macht ihn bis heute interessant. Es gab so etwas wie eine Gassendibewegung, die am Collige de France durch den Oratorianer Du Hamel zur Wirkung kam. Ein Echo des Gassendismus der 70er Jahre hören wir in Lafontaines Fabeln. Das ist der geistesgeschichtliche Hintergrund des Gassendisten Lafontaine. Lafontaines Guckkastenbildchen haben sich nach und nach zu einer Gesamtschau der französischen Gesellschaft seiner Zeit zusammengefügt. Sein Fabelwerk läßt sich wie das dramatische Werk Moliires soziologisch beleuchten und interpretieren. In der hieratischen Gliederung der Nation steht der König obenan. Wie sollte er nicht im Bilde des Löwen gezeichnet sein? Stolz auf seine fast göttergleiche Autorität kann er bei Gelegenheit väterliche Anwandlungen haben, sich edelmütig zeigen wie ein Held aus den Corneilleschen Tragödien; aber im allgemeinen zeigt er sein despotisches Antlitz, mißbraucht seine Stärke, wenn Appetit und Egoismus ihn treiben; zeigt sich im Rate der Großen, als wolle er ernstlich die rechte Lösung in schwierigen Fällen finden, und spielt doch selbst nur Komödie mit den andern Komödianten des Hofes, die, wie der Fuchs, oft noch um einiges schlauer sind . . . Flattez-les, payez-les d'agriables mensonges... Aufs Schmeicheln verstehen sich die Parasiten des Hofes wunderbar. Dort herrschen Servilität und Heuchelei — Rivalitäten, Verleumdung, unerbittliche Rache. Der Fuchs ist der Meister unter den Höflingen. Die Prinzen von Geblüt sind oft nur Affen, und in der Maske des Bären er-

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kennen wir den Junker, während das lästige Volk der Fliegen häufig die Marquis vertritt. Ein merkwürdiger Typ dieser Schicht ist der „Premier Gentilhomme de la Chambre", der „Huissier des Entries", der „Chevalier de l'Etiquette"; es ist gemeinhin ein Hund. Der ganze Provinzadel zieht an uns vorüber. Wir sehen ihn auf seinen Gütern, gelangweilt und nur mit seinen Gedanken an Jagd, Frauen und Hunden beschäftigt; er verschlingt die Hühner und Schinken seiner armen Untertanen, zerstört auf den Jagden ihre Felder und Gärten und maßt sich mit Selbstverständlichkeit ein Recht auf die jungen Mädchen an. In der Stadt dagegen wimmelt es von Ratten, Fröschen, Ameisen, den verschiedensten Repräsentanten des „esprit bourgeois". Da begegnet uns der kleine Mann mit all seinen Lächerlichkeiten. Er philosophiert über Menschenrechte wie Rousseau, wahrscheinlich weil er kein Geld hat, also nicht mächtig ist und sich deswegen stets ungerecht behandelt glaubt. Den praktischen Sinn, wirtschaftliches Denken, Neigung zum Sparen finden wir in der geschäftigen Ameise — sie ist geradezu der Typ des homme de tiers. In die bürgerliche Klasse, die höhere, mittlere, niedere gehören alle Berufstätigen: Richter, Anwälte, Ärzte, Finanzleute, Lehrer, Kaufleute — eine wimmelnde Tierwelt von Enten, Austern, Schildkröten, Pferden, Ratten, Elephanten usw. Eine besondere Klasse aber sind darin die Kirchenleute und die Geistlichen: Pfarrer, Mönche, Nonnen, Eremiten und — die Tartuffes. Lafontaine liebte dieses Volk nicht, diese „concitoyens, les deputes du peuple rat". Nun, es war kein Grund zum Alarm: Es leben ja nicht alle Geistlichen in einem fetten, runden holländischen Käse wie jene „Ratte, die sich von der Welt zurückgezogen hat" (VII, 3) und dort dick und fett — gros et gras — wurde, weil Gott den seinigen in überreichem Maße alles schenkt. Als sie von ihresgleichen in der Not um Hilfe angegangen wurden, zeigten sie sich ein wenig bestürzt und leider keineswegs bereit, Subsidien für das belagerte Ratopolis zu zahlen, vielmehr begnügten sie sich mit Gebeten, der Himmel möge ihren guten Landsleuten helfen. Meinte Lafontaine etwa mit dieser Ratte einen Mönch? Oh, nein; er meinte nur einen Derwisch; denn ein Mönch sei doch wohl immer hilfsbereit . . . Un moine? Non, mais un dervis: Je suppose qu'un moine est toujours secourable.

Diese Fabel ist sicher eine Erfindung des Dichters und Satirikers. Sie zeigt, daß Lafontaine sich auch an Tagesereignissen inspirieren konnte. Die kleine Fabel stammt vom Jahre 1675. Der reguläre Klerus protestierte

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damals gegen eine von der Assemble du Clerg£ erhobene Steuer von 300 000 Pfund, die als Subsidien für den Holländischen Krieg gedacht waren. Die Geistlichkeit stützte sich auf die These, daß, wenn der Adel dem Landesherrn sein Blut schulde, sie, die Geistlichkeit dem König nur mit Gebeten zu dienen verpflichtet sei. Lafontaines Fabeln sind voll von aktuellen Bezügen, ob er auf die abenteuerlichen Unternehmungen der Compagnie des Indes anspielt, oder auf die philanthropischen Gründungen der Compagnie du Saint-Sacrement, die schon die Satire Moli£res im „Tartuffe" herausgefordert haben, oder ob er sich in den Dienst der königlichen Politik stellt wie zur Zeit der Tripelallianz gegen Ludwig X I V . anläßlich der Besetzung der Freigrafschaft; — es eröffnet sich hier ein weniger bekannter Aspekt gewisser Fabeln, die zu ihrem Verständnis die Kenntnis zeitgeschichtlicher Vorgänge voraussetzen. Unten in der Hierarchie aber steht das „Volk" — le peuple: Arbeiter, Handwerker, Bauern, Köhler. Sein Blick hat vor ihrer Schicht sich nicht verhüllt; er hat sie durchdrungen, unsentimental, realistisch. Wer in seinem Jahrhundert hat wirklich den Bauern und Landarbeiter bei der Arbeit gesehen? Wer die Ärmsten der Armen, die Holzfäller, so unromantisch mit wenigen Strichen in ihrer trostlosen Armut evoziert? Wer hat auf den Karren geachtet, der im Dreck stecken blieb, es sei denn ein Schriftsteller realistischer Romane der Zeit, die aber eben nicht zur „großen Literatur" gezählt wurden? Aber ist die scheinbar so unproduktive Tätigkeit eines armen Hirten nicht gleichwertig der Aktivität eines Kaufmanns, eines Edelmanns, eines Königssohns? Lafontaine hat in das durch harte Frohn gezeichnete Gesicht des Volkes geschaut und in dessen Physiognomie die Härte, Grausamkeit und die listigen Züge eingezeichnet, ohne sie zu verschönen, — ein stiller Anwalt dieser belächelten Untertanenschicht, deren Herz er schlagen hörte. Hippolyte Taine hat in seinem LafontaineBuch diese Sympathie seines Autors als einen der schönsten Züge des Dichters hervorgehoben: „Aber, wenn die Gelegenheit sich einstellt, findet Lafontaine jene eindringlichen Züge und jenes sich auf den Leser übertragende Mitleiden, das davon kündet, wie ein geistvoller Mensch auch ein fühlendes Herz haben kann."

KAPITEL V

Das Epiphaniasfest der Musen Nicolas Boileau

(1636—1711)

Wenn die drei Klassiker des französischen Theaters, ein jeder in seiner Art und seinem Künstlertemperament entsprechend, ihre Gedanken zur Dramaturgie in theoretischen Erörterungen niederlegten, so resümierte ihr bester Kenner, Nicolas Boileau, in seinem kritischen Werk jene ästhetischen Tendenzen, die, zusammengenommen, ein Bild dessen, was Klassizismus ist, vermitteln. Um 1660, zur Zeit, da der junge Ludwig, der Altersgenosse der Klassiker, selbstherrlich zu regieren begann, herrschte nach den spannungsreichen Jahrzehnten der ersten Jahrhunderthälfte im großen und ganzen Einmütigkeit der literarischen Welt über die ästhetischen und moralischen Grundlagen der Literatur. Die „Grotesken", die „barocken Dichter" — wir können sie auch „romantisch" oder „surrealistisch" nennen, what's in the name? — haben ihre große Zeit unter Ludwig XIII. gehabt. Nun aber setzte sich Malherbe durch; zwar gehörte er noch der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts an, aber die beiden Begriffe, welche die Elementarbegriffe der Klassik wurden, la nature und la raison, sind die Prinzipien, aus denen sich die klassischen Anschauungen von Kunst und Literatur entwickelt haben. Le Laboureur schreibt 1664 im Vorwort zum „Charlemagne": „ . . . la Poesie n'est autre chose qu'une imitation de la N a t u r e . . . " Nachahmung der Natur, gewiß, aber mit Auswahl. „Schön ist Dichtung nur, wenn sie, was schön ist in der Natur, nachbildet, oder wenn sie die Natur durch Kunst verschönt." Le Laboureur verlangt weiter, daß der Dichter „den wahrhaften Charakter einer jeden Sache" in geeigneten, wohlgesetzten Ausdrücken sichtbar machte und nur sage, was dem Geist auf natürliche Weise eingängig sei. Aufgabe der Kunst ist also lediglich nachbildende Wiedergabe der Natur. Das steht im Gegensatz zu Tendenzen des italienischen, spanischen, auch französischen Barocks, Tendenzen, die formschöpferisch und nicht imitierend, phantasiereich und

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nicht wirklichkeitsgebunden waren. In den Augen des nunmehr zur Herrschaft kommenden Klassikers sind das Häresien. Bei der Raison wird das Problem schwieriger. Gewiß war und ist die Raison immer des Menschen herrscherliche Vernunft. Sie soll auch durdi seine Kunstwerke hindurchschimmern. Aber die Raison kann in der Kunst die Stimme des Enthusiasmus nicht zum Schweigen bringen. Ohne die „Begeisterung" stünde der Dichter nur in der niedrigeren Ordnung eines „polierten Versmachers, eines richtigen Reimeschmieds, eines glättenden Grammatikers" (Marolies in seinem „Trait£ du Po^me epique", 1662). Ähnlich äußern sich Charpentier, der Abb£ Cotin, der sogar von der „divine Phr&iisie" — was etwa an die „fine frenzy" Shakespeares gemahnt —, und Boileau am Beginn seines „Art poetique". Aber mit der Begeisterung allein ist es nicht gemacht. Das wußten vor Mallarm£ und Val^ry schon längst die Dichter aller Zeiten. Der „lucidus ordo" muß seine Wirkung tun. Sachkunde, Gabe der Spradie, Klarheit des Aufbaus sind die Garanten eines qualifizierten Werkes: . . . cui lecta potenter erit res nec facundia deseret hunc, nec lucidus ordo. (Horaz, Epistula ad Pisones, v. 40 f.)

. . . Wer den Kräften gemäß seinen Stoff wählt, dem wird die Gabe der Spradie nicht fehlen noch Klarheit des Aufbaus.

(Horst Rüdiger)

Die Raison bändigt den Kräfteüberschuß des genialen Individuums und bindet das Genie an feste Regeln. Es gibt allgemeine Regeln der Kunst und besondere Regeln für eine jede Gattung auch innerhalb der Literatur. Daran hat niemand mehr um 1660 gezweifelt. Doch wie es im sozialen und politischen Leben Frankreichs unter Ludwig XIV. geheime Widerstände gab, so auch im Kunstleben gegen die Reglementierung der Kunstdiktatoren. Die Widerstände kamen von innen, waren tief in den Wesensverschiedenheiten der Menschen begründet. Es gab damals, wie in allen folgenden Zeiten Kartesianer und Gassendisten, d. h. zwei Haltungen vor dem Leben und der Kunst: die einen suchten nach dem Einheitsgrund des Seins und nach dem Allgemeinen; die andern verlockte die Mannigfaltigkeit, das Individuelle zog sie an. Um 1660 überwog der esprit de geometrie auch in der Dichtung. Der esprit de finesse war darum nicht ausgeschaltet, nicht einmal bei den Klassikern selbst. Sind die Fabeln des antikartesianischen Gassendisten Lafontaine nicht eine Verlockung für den Leser, ihm in das labyrinthische Gewirr der verstreuten Szenen zu folgen, ohne daß er sich gedrängt fühlt, eine Ein-

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heitsphilosophie herauszudestillieren? Es ist aber interessant, daß Boileau die „Fabeln" im 2. Gesang seiner „Poetik", wo er von den literarischen Gattungen spricht, einer Behandlung offenbar nicht für würdig befindet, obwohl er Lafontaine und sein Talent schätzte. Noch bevor Boileaus „Art poitique" (1674) erschien, lesen wir in dem Vorwort zu einem „Recueil de poisies", an dem Racine und Lafontaine beteiligt waren, daß nicht Regelwerk über die Qualität eines Kunstwerks entscheiden kann, sondern daß seine eigentümliche Schönheit durch die Organe des Gefühls und des Geschmadks erspürt werden müssen. Und in seinem Alter bekannte Boileau selbst, daß es eine eigentümliche Bewandtnis mit der Gabe des Stils habe: „Wenn man mich fragte, was das Schmackhafte, das Körnchen Salz in einem guten Werke eigentlich sei, so würde ich antworten, das ist ein gewisses Etwas (un je ne sais quoi), das man eher fühlen als sagen kann." (Vorwort zum Art ροέί. von 1701)

Die berühmte „Poetik" Boileaus („l'Art po£tique", erschienen 1674) hat im Gang der europäischen Literatur seinen festen Platz. Sie ist das corpus doctrinale des Klassizismus, eine Zusammenfassung der in einigen Satiren und Prosaschriften Boileaus verstreuten Ideen über die Literatur und den guten Geschmack. Der Kodex des guten literarischen Geschmacks ist ein Ergebnis seiner Bemühungen, aus den Meisterwerken der antiken und zeitgenössischen Literatur einige gültige Gesetze abzulesen. Das vierteilige, in Versen geschriebene Lehrgedicht enthält keine Gedanken, die in den theoretischen Schriften der Zeitgenossen nicht diskutiert wären. Boileau bekennt sich zu Malherbe, aus dessen sprachlichem Instrumentarium und rigorosen Forderungen an den Dichter sich im Laufe langer Jahrzehnte das klassische Ideal entwickelt hat. Er ist des Vorgängers später Bundesgenosse im Kampf gegen die Formen barocker und manieristischer Dichtungen. Wir Heutigen verzeihen ihm schwerlich, daß er die antiklassischen, phantasiebegabten frühromantischen oder frühsurrealistischen Dichter wie Racan, Theophile de Viau, Maynard, Desmarests de Saint-Sorlin, Saint-Amant, Maleville, Br£beuf und so viele andere mit inadäquaten Waffen angreift oder überhaupt unerwähnt läßt. Aber wir sollten Boileau aus seiner Zeit — und das war die große Reaktion gegen die Genialität der Freiheit — verstehen und ihm gerecht werden. Seine humanistische Bildung gestattete ihm Einsichten in die Lehre des Aristoteles, in die „Ars poetica" des Horaz, in die „Institutio ora-

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toria" des Quintilian und audi in die kleine Schrift „Vom Erhabenen", die dem griechischen Neuplatoniker Kassios Longinos aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. zugeschrieben wurde. Sein persönlicher Umgang mit den großen Zeitgenossen wie Moli^re und Racine und Lafontaine eröffnete ihm aber auch das Verständnis für die originelle französische Literatur der Gegenwart. Wenn man sich klar macht, daß Boileau den Bogen von der griechisch-römischen Antike zur modern-französischen Literatur schlug, ist es nicht angängig, ihn einer humanistischen Einseitigkeit zu zeihen. Seine Stellungnahme als Parteigänger der Antike im Streit der Anciens et Modernes zeugt nicht von Engigkeit, sondern von seinem Bemühen, Gesetze aufzufinden, die im Bereich des literarischen Geschmacks Gültigkeit jenseits der Mode haben. Dabei schrumpfen freilich für Boileau die Epochen zwischen Sophokles und Racine zusammen. Das ist nicht anders, wie wenn es heute Musikkritiker gibt, die alles, was zwischen Bach und Schönberg liegt, zu ignorieren scheinen. So eliminierte Boileau das Mittelalter, die spanische, italienische, französische Renaissance; er scheint sie nicht einmal zu kennen und hätte doch, bei gründlicherer Lektüre eines Ronsard und Du Beilay erkennen müssen, wie nahe ihm diese Renaissancedichter und -kritiker mit ihrer Forderung der Imitation der Griechen und Römer standen. Boileaus Perspektive ist antihistorisch. Träger der Kultur ist immer der „honnete homme", der feine, gebildete Mann von Welt, dessen Geschmack im Umgang mit der Gesellschaft geformt wird. Honnetes hommes aber waren auch Sophokles und Euripides, Horaz und Vergil. Es gibt auf der Ebene des Geschmacks und der Ästhetik keinen wesenhaften Unterschied zwischen der Antike und der Moderne. Es gibt keinen Gegensatz zwischen Racine und Euripides, wohl aber einen Gegensatz zwischen Racine und Pradon (erinnern wir uns, daß beide zur gleichen Zeit mit ihrer Phädra-Tragödie in Konkurrenz traten), also einen Gegensatz der poetischen Qualität, einen Gegensatz von gut und schlecht. Hundertfünfzig Jahre später wird Victor Hugo nicht anders denken. Immer wieder haben die Kulturhistoriker auf das lateinisd>e Element des französischen Klassizismus hingewiesen und auch einen Boileau zum Römer gestempelt. Aber der Freund und Verehrer Racines, dieses französischen „Griechen", war zumindest nicht weniger Hellenist als etwa Lessing nach ihm oder Du Beilay vor ihm. Das zeigt Boileaus praktische und theoretische Beschäftigung mit dem Neuplatoniker Longinos, oder wer der Verfasser des περί ΰψους sein mag. Es handelte sich für Boileau

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darum, über das Problem des „Sublimen", und das heißt der unberechenbaren poetischen Genialität, Klarheit zu bekommen. Mit der Raison — so zeigt es das poetische Erlebnis — ist das Eigentliche poetischer Gabe nicht zu fassen: „Man muß wissen", schrieb Boileau, „daß Longinos unter .sublim' nicht das versteht, was die Redner den .erhabenen Stil' nennen, vielmehr jenes Außergewöhnliche und Wunderbare, das uns in einer Rede entgegentritt und bewirkt, daß ein Werk uns emporhebt, entzückt, hinreißt. Der .erhabene Stil' will große Worte; aber das Erhabene kann sich in einem einzigen Gedanken, in einer einzigen Figur, in einer einzigen Redewendung befinden."

Zur Veranschaulichung führt Boileau zwei Beispiele an: In der Schöpfungsgeschichte lesen wir: „Es werde Licht, und es ward Licht" (Que la ΙυηΰέΓβ se fasse, et la lumi£re se fit). Dieses Beispiel, das schon Longinos selbst angeführt habe, zeige das Sublime jenes berühmten Wortes aus dem l.Buch Mose. Man hätte ja den Gedanken auch so formulieren können: „Der souveräne Richter der N a t u r schuf mit einem einzigen Wort das Licht." (Le souverain arbitre de la nature d'une seule parole forma la lumi^re.) Solche Ausdrucksweise aber wäre nicht mehr „sublim", sondern nur „style sublime". Das erste trage „etwas Göttliches" in sich, das zweite sei rein rhetorisch. — Das andere Beispiel entnimmt Boileau dem Corneilleschen „Horace", dessen erste drei Akte er als das Meisterwerk Corneilles anspricht. Erinnern wir uns der Vorgänge: Die drei Horatier stehen im Kampf mit den drei Curiatiern. Zwei der Horatier sind schon gefallen. Der dritte ergreift die Flucht, aber sie ist nur vorgetäuscht. Die Schwester, deren Verlobten der Horatier erschlagen hat, kündigt es dem Vater; dieser versinkt in Kummer über die schändliche Flucht des Sohnes und antwortet auf die Frage der Schwester: „Que vouliez-vous qu'il fit contre trois?" —

— „Qu'il mourut!" Das also ist sublim: „Niemand, der nicht die heroische Größe eines solchen Wortes empfände . . . ,Qu'il mourüt!' (Soll er fallen!). Dieses Wort ist um so erhabener, als es einfach und natürlich ist."

Das Wort hätte an Kraft der Aussage verloren, wenn Corneille etwa geschrieben hätte: „,Daß er doch dem Beispiel seiner Brüder folgte!' — oder: ,Daß er sein Leben dem Interesse oder dem Ruhm seines Vaterlandes opfere!'".

Das eben ist das „gewisse Etwas", das „Körndien Salz", die Genialität des Dichters, dem das sublime Wort zufällt. Es entzieht sich dem, der es

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sucht, wenn ihn der Genius selbst nicht leitet. Es fällt aber dem zu, der zur Dichtung berufen ist. So sehr wir die Berührung Boileaus mit griechischem Denken würdigen können, den entscheidenden Einfluß hat er, nach eigenem Bekenntnis, der frühen Lektüre von Horaz zu verdanken. Seine literarische Doktrin ist Horazischen Geistes voll: Vous me verrez pourtant, dans ce diamp glorieux Vous offrir ces lefons que ma Muse au Parnasse Rapporte jeune encor du commerce d'Horace. (Art poet. IV, 226)

Die „klassischen" Werte, d. h. die Werte von zeitenüberdauernder Wirksamkeit, sind keine Erfindung der „Modernen", sondern der Antike, und Horaz ist ihr klassischer Verkünder. Boileau sagt im „Avis au Lecteur" seiner „Art poitique", daß von den 1100 Versen zwar nicht mehr als 50—60 der Horazischen „Ars poetica" nachbildend übersetzt seien — das sind rd. 5 % —, aber diese genügen, die in ihnen enthaltenen Lehren zu den Grundsätzen audi der französischen Klassik zu erheben. Ein großer Teil der übrigen Verse erweist sich als Paraphrase oder als Transformation Horazischer Gedanken. 1. Da ist zunächst die Lehre von der Einheit des Kunstwerkes. Denique sit quod vis, simplex dumtaxat et unum (v. 23)

„Was es auch sei: nur sei es aus einem Gusse und einfach." (Übersetzung von Horst Rüdiger) Horaz: „War' idi nicht fähig, den inhaltbestimmten Wechsel des Tones Deutlich zu treffen, verdiente ich dann den N a m e n des Dichters."

Nicht nur Ton und Stil sollen einheitlich sein; zur Einheit gehört vor allem die hierarchische Organisation des sprachlichen Kunstwerks. So verlangte Le Laboureur, „daß jeder der Teile seine richtige Proportion in dem Gesamtorganismus (corps de l'ouvrage) des Werkes habe". (Zit. bei Adam III, 51) Es ließen sich viele andere Zeugnisse der Zeit für diesen Gedanken beibringen. Boileau resümiert sie in den Versen des Ersten Gesangs seiner „Poetik": Ii faut que diaque chose y soit mise en son lieu, Que le dibut, la fin, r^pondent au milieu; Que d'un art dilicat les pieces assorties N ' y forment qu'un seul tout de diverses parties.

2. Zur Vollendung eines Werkes gehört außer der Inspiration, deren Notwendigkeit Boileau gleich zu Beginn der „Poetik" betont, die harte

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Arbeit. Der Gedanke ist ein Nachklang der Renaissancepoetiken, welche von dem Dichter unermüdliches Arbeiten forderten. Du Beilay zitierte schon das Horazische vos exemplaria Graeca nocturna versate manu, versate diurna. (v. 269 f.) . . . Ihr Dichter, die griechischen Muster legt nicht am Tag aus der Hand noch legt sie des Abends beiseite.

Dichtung wird „gemacht" — daher der Name „Poiesis". Ein Buch schreiben ist ein Metier wie ein anderes Handwerk auch. Die Arbeit des Geistes bändigt die Anarchie der Gefühle, legt der Phantasie Zaum und Zügel an. Hätez-vous lentement, et, sans perdre courage, Vingt fois sur le metier remettez votre ouvrage: Polissez-le sans cesse et le repolissez; Ajoutez quelquefois, et souvent effacez.

Ein Nachklang der Horazisdien Forderung: carmen reprendite quod non multa dies et multa litura coercuit atque praesectum deciens non castigavit ad unguem. (v. 292 ff.) . . . verwerft eine Dichtung, die keine glättende Arbeit vieler Tage gestrafft und zur letzten Reife gebracht in zehnfacher Prüfung auf Herz und auf Nieren.

3. Horazisch-klassisch ist die Verkündigung Boileaus, daß gutes Schreiben nur die Frucht klaren Denkens sein kann: Avant done que d'ecrire apprenez ä penser. Selon que votre idee est plus ou moins obscure, L'expression la suit, ou moins nette, ou plus pure. Ce que l'on confoit bien s'inonce clairement, Et les mots pour le dire arrivent aisement. (1,150 ff.)

Horaz hat den Gedanken in e i η e m Vers zusammengefaßt: Scribendi recte sapere est et prineipium et fons. (v. 309)

An solcher Poetik gemessen, wäre freilich die Dichtung eines Mallarn^ Zeugnis eines verworrenen Kopfes — garnicht zu sprechen von surrealistischer Dichtung. Boileau, Mallarme, Andr£ Breton wurzeln in Bereichen der Poesie, die offenbar keine gemeinsamen Grenzen mehr haben, sondern zentrifugal auseinanderstreben und sich im Gesamtkosmos der Dichtung isoliert haben. Mindestens ließe sich sagen, daß es seit Boileau keine verpflichtenden Gesetze der Dichtung und keine allgemeingültigen Kriterien ihrer Beurteilung mehr gibt.

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Aber Boileau und Horaz sind von gleicher Gesinnung. Sie sind Geistesverwandte, die sich über Zeit und Raum hinweg verstehen. Boileau spiegelt sich in ihm, entdeckte sich und die ihm angemessene Doktrin in der Doktrin des andern. Der Genius zog den verwandten Genius an. Es gibt zu bedenken, was das Journal de Trevoux, das Organ der Jesuiten, über dieses Phänomen gesagt hat, wobei der Verfasser die auffällige Identität der doktrinären Äußerungen eher als Plagiat verstanden hat: „ ( . . . les vers d'Horace) ^taient devenus insensiblement ses propres pensies (Boileaus Gedanken) et sans qu'il s'en aper^üt lui-mSme." (Zit. in Boileau, Art poet. Ausg. 10/18, p. 11) Das also war der Vorgang einer unbewußten Assimilation. In dem Dialog der abendländischen Philosophen und Dichter verdiente das Gespräch Horaz—Boileau unsere Aufmerksamkeit. Es begegnet ein Genius dem andern, erkennt sich in ihm wie in einem Spiegel und erlangt durch diesen Akt sein Selbstbewußtsein. So erfaßte sich in der Renaissance ein Ficino in Piaton, in der Epoche der Klassik ein Boileau in Horaz, so in der späteren Romantik ein Baudelaire in Ε. A. Poe. Es sind merkwürdige, periodisch auftretende Begegnungen. Sie legen den Gedanken nahe, daß die alte mystische Grunderfahrung des simile simili cognoscitur (Wesensähnliches wird von Wesensähnlichen erkannt) nicht zu unrecht besteht. Im Fall Horaz-Boileau bedeutet dies, daß ihr spezifischer Sinn f ü r Dichtung eine gleiche Richtung hat, und daß sich ihre ästhetischen Forderungen an den Dichter decken, so entfernt beide Poeten zeitlich, räumlich und in ihrer gesellschaftlichen Kondition sich auch befinden mögen. Wir haben oben 3 greifbare Lehrformeln angeführt. Sie lassen sich beliebig vermehren. Versuchen wir nunmehr zu umreißen, was der Geist des Klassizismus ist. Klassizismus ist jeweils dann gegeben, wenn von dem Künstler der Wille zur sauberen Arbeit und zum geduldigen Vollbringen des Werkes ü b e r die ungeduldig sich ins Werk setzenden Inspirationen gestellt und betätigt wird. Wo aber die Inspiration als Ursprung der poetischen Tat fehlt und nur der Arbeitswille sich auswirkt, gleitet die Dichtung in eine bestenfalls technisch bewältigte akademische Leistung ab. Das Äquilibrium beider Komponenten zeichnet den klassischen Künstler aus. Das gilt für den Dichter, den Musiker und den Maler. Die Inspiration ist göttlichen Ursprungs; sie entzieht sich unserm Willensbereich, ist Gnade. Der Wille hingegen ist des Künstlers Sache; er hat zuerst zu prüfen, ob „seine Schultern die Last des Werkes" tragen können:

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Sumite materiam vestris, qui screbitis, aequam Viribus et versate diu quid ferre recusent, Quid valeant u m e r i . . . (Horaz, Poetik v. 38 fi.) (Wählt einen Stoff, ihr, die ihr schreibt, der euren Kräften gemäß ist, und bedenkt lange Zeit, was eure Schultern zu tragen verweigern und was sie bewältigen können.) Die Klassiker charakterisieren sich also sowohl in der kritisch-prüfenden Wahl des Stoffes als audi in der meisterlichen Bearbeitung des Materials. Das „talentum" des Handwerkers hat das „ingenium" des Künstlers ins Licht zu setzen. Den Gedanken, daß die F o r m den Inhalt aufsaugt, hat H o r a z sowohl den europäischen Klassikern als auch den europäischen Romantikern Übermacht. Schiller hat dieser Idee deutlichen Nachdruck verliehen, und der Romantiker Victor Hugo wiederholt ihn: „ . . . seltsamer und unerwarteter Beweis, daß die Form der Inhalt ist (la forme, e'est le fond). Form mit Oberfläche verwechseln ist absurd. Die Form ist wesentlich absolut; sie kommt aus dem Innersten der Idee selbst. Sie ist das Schöne, und alles, was das Schöne ist, manifestiert audi das Wahre . . . Bei der Lektüre des Horaz bemächtigt sich unser eine wundersame Erregung. Es ist eine rein literarische, seltsam tiefe Freude . . . der Sieg des Stils über den Leser . . . Man kann behaupten, daß bei Horaz die Ideen — was man gemeinhin den Inhalt nennt — nur die Oberfläche sind, und daß der wahre Inhalt die Form ist (le vrai fond, c'est la forme). (V. Hugo in: Choses vues, zit. Boileau, Ed. 10/18 p. 13 f.) Klassizismus ist zum zweiten sorgfältige Berechnung der Werkstruktur. Ebenmaß und Gleichgewicht werden gefordert. Ein Werk muß, das sagte schon Aristoteles von der Tragödie als einer das Ganze widerspiegelnden Schöpfung, Anfang, Mitte, Ende haben, mit andern Worten eine klare Linienführung. Bekannt ist die Definition Andre Gides. E r hat die Frage nach der klassischen Vollendung in „klassischem'' Sinne beantwortet. „Klassische Vollendung impliziert keineswegs Unterdrückung des Individuums (fast möchte ich das Gegenteil behaupten), sondern die Unterordnung des Individuums (unter das Gesetz) und die Einordnung des Wortes ins Satzgefüge, des Satzes in die Seite, der Seite ins ganze Werk. Das ist Sichtbarmachung einer Hierarchie." (Gide: Incidences. Remarques k une enquete sur le classicisme) Das Ergebnis klassischer Kompositionskunst — das gilt für das Wort-, Ton- und Linien/Farbkunstwerk und natürlich die Architektur in gleichem Sinne, — hat Gide in einem Satz zusammengefaßt: „Le classicisme . . . c'est l'art d'exprimer le plus en disant le moins." (ib.)

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Unser 20. Jahrhundert wird vielleicht in späterer Sicht als das Jahrhundert der Kritik bewertet werden. Das kann im Zusammenhang mit der äußerst wachen Bewußtseinslage unserer Zeit verstanden werden. Gide und Valery, Bachelard und Blanchot, Picon und Boisdeffre, Poulet und Barthes — und andere wären zu nennen und nicht nur im französischen Kulturbereich, — haben, das kann man schon heute sagen, wesentliche Züge unserer geistigen Physiognomie bestimmt. Wie wäre es möglich, daß sich dieses Jahrhundert nicht für Boileau interessierte — ich meine nicht für den Inhalt des „Lutrin" oder dieser oder jener Epistel oder Satire, ich meine die Struktur seiner Kritik. Natürlich ahnte Boileau noch nichts von der Mannigfaltigkeit einer modernen Anthropologie, welche die Wissenschaft vom Menschen in die weiten Kreise soziologischer, psychoanalytischer, metaphysischer, religiöser, struktureller Betrachtung einschließt. Unsere Zeit hat neue Dimensionen für die Erforschung eines Kunstwerks als eines Produkts des komplexen Menschen eröffnet. Interessiert da überhaupt noch ein Mensch wie Boileau, der so fern von uns Modernen steht? Nun, er interessiert genau so viel oder so wenig wie uns ein Aristoteles oder Horaz interessieren können. Was alle drei „modern" erscheinen läßt, ist, daß bei ihnen die künstlerische Leistung unmittelbar, und ohne sie soziologisch, psychologisch, metaphysisch ergründen zu wollen, Objekt ihrer kritischen Analyse ist. Aus dem (sprachlichen) Kunstwerk allein werden die Normen und Regeln für ihre Beurteilung abgeleitet. Was nun freilich für die Zeiten des Aristoteles, des Horaz und Boileaus gültig war, ist es nicht mehr in allem und jedem für heute, aber der strenge Bezug zur Sache, d. h. im Falle der literarischen Klassik zur Sprache, zum Stil, zum Vokabular, zur Diktion, diese Eingrenzung der Analyse eines literarischen Werkes auf seine literarischen Qualitäten und seine technisch faßbaren Strukturen, ist doch wieder — oder war es bis vor kurzem — aktuell. Das „philosophische" 18. Jahrhundert, das psychologische 19. und das soziologisch und existentialistisch interessierte 20. Jahrhundert dachten anders. Nicht alle denken und urteilen heute in den Kategorien einer „poäsie pure", wo es aber geschieht, ist Boileau gegenwärtig. Mit Recht zitiert Mizrachi in der neuen Ausgabe des Boileauschen Art poetique von 1966 ein Wort von Manuel de Dieguez: „Boileau inaugurierte eine Kritik vom Standpunkt des Schriftstellers aus. Das ist das Moderne an ihm. E r betrachtet seinen Autor nicht in Hinblick auf die historischen oder religiösen Inhalte seiner Werke, sondern prüft seine schriftstellerische Eigenart, d. h. er analysiert seine Sprache, wie man bei einem Maler

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Zeidinung und Farbgebung untersucht und nidit seine politischen, historischen oder religiösen Vorwürfe . .

Umgekehrt wird man sagen müssen, der Zugang zu Boileau ist schwerer, als man denkt. Er ist uns, die wir durch die Ästhetiken des 19. und 20. Jahrhunderts geformt sind und Dichtung gern an Maßstäben und Gestalten wie Baudelaire und Rimbaud, Mallarm£ und Val£ry, Apollinaire und Breton messen, vielleicht zu bürgerlich als Künstler und homme du juste milieu. Seine Poesie ist höfische Versailles-Poesie und städtische Bürgerdichtung, wie denn Boileau überhaupt ein gentilhomme und bourgeois war, der seiner Dichtung den Ton eines populären Realismus und den esprit einer distanziert-aristokratischen Diktion verleihen konnte. Seine Handbewegungen, mit denen er lobt oder abweist, sind freilich ein wenig zu diktatorisch; sein Zeigefinger ist zu oft erhoben; aber er ist ein verständlicher Lehrer, immer ehrlich und von intellektueller Redlichkeit. Er „kann nicht täuschen, heucheln, lügen" sagt er von sich selbst durch den Mund des Dichters Damon in der 1. Satire, und ebendort: „J'appelle un chat un chat, et Rolet un fripon."

Der Respekt vor den Alten hinderte ihn nidit, seine eigene Generation, und das sind die „Klassiker", als den Gipfel der Dichtung zu betrachten und die französische Literatur als ein wahres Epiphaniasfest der Musen auf Erden zu erleben, über welcher Selbstgefälligkeit er vergaß, daß Italien, Spanien, England schon ein goldenes Zeitalter der Literatur heraufgeführt hatten. *

Es scheint, daß Boileau gegen Ende seines Lebens noch ein wenig seine Richtung geändert oder wenigstens den Horizont seines Urteils geweitet hat. Vielleicht überkam diesen kunstverständigen und klugen Richter des guten Geschmacks hin und wieder das Gefühl, daß seine Forderungen und Formulierungen, gemessen an der lebendigen Wirklichkeit alles Poetischen, zu eng wären. Eine neue Generation war im Kommen. Er sah sie wachsen und schon wirken: Bayle, Fontenelle . . . das Morgenlidit einer neuen Zeit lag auf ihnen, während die Mittagshöhe des Sonnenkönigs lange überschritten war, und seine Altersgenossen, die großen Klassiker, im Abendlicht einer vergehenden Zeit standen. Allein in den 90er Jahren des Jahrhunderts starben Lafayette, Lafontaine, La Bruy£re, Racine; Marivaux, Montesquieu, Voltaire wurden um diese Zeit geboren. Als Boileau 1711 starb, wurde Jean-Joseph C a s s a v a de Mondonville geboren, der spätere

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Direktor des Concert spirituel, Jean-Philippe Rameau und Watteau sind fast schon 30 Jahre alt. Neue Männer, neue Werke der Dichtung, Musik, Malerei kamen empor. Die Gesellschaf): fand, wie wir sahen, das Ableben Ludwigs XIV. als Erlösung. Das 18. Jahrhundert sollte zeigen, wie durch und für die Literatur die Rolle des Publikums an Bedeutung gewann. Boileau mochte eine Ahnung davon haben. Mag sein, daß er im Alter mürrisch wurde. Dennoch liegt etwas wie Optimismus ästhetischer Uberzeugungen auch über seinem späteren Werk: „Es ist nicht möglich, daß etwas Gutes auf die Dauer dem Publikum nidit gefällt; und ich fordere alle Schriftsteller, die mit dem Publikum ganz und gar unzufrieden sind, heraus, mir ein gutes Buch zu nennen, welches das Publikum für immer zurückgewiesen hätte . . . — sofern sie auf den Rang der Anerkennung nicht ihre eigenen Werke erheben; freilich sind sie gemeinhin als einzige von deren Qualität überzeugt." (Preface zum A r t poit. von 1701)

TEIL II

Im Lichte der Aufklärung

KAPITEL I

Geist, Kunst, Gesellschaft im Frankreich des 18. Jahrhunderts Das 18. Jahrhundert galt als klassisches Jahrhundert des Rationalismus. Was heißt das anderes, als daß es aus sich heraus die Folgen kartesianischen Denkens entfaltet hat? In der Tat ist Descartes der Vater dieses Jahrhunderts der Kritik. Von ihm verläuft eine Linie zu Bayle, Malebranche, Fontenelle, deren Werke über die Schwelle des 17. Jahrhunderts führen. Die „raison" des Zeitalters ist praktisch gesprochen Kritik: Das 18. Jahrhundert charakterisiert sich in e i n e m seiner wesentlichen Züge als ein Zeitalter hohen kritischen Verstandes. Am Anfang stehen die Schriften Bayles, La Bruy^res, Fontenelles, in der Mitte das kritische Kollektivwerk der Encyclopedic, am Ende ist die monumentale Architektur der drei kritischen Traktate der Kantischen Philosophie aufgeführt: die Kritik der reinen Vernunft, die Kritik der praktischen Vernunft, die Kritik der Urteilskraft. Rufen wir uns die Kantisdie Definition dieser Bewegung ins Gedächtnis zurück: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen ist also der Wahlspruch der Aufklärung."

In dieser Definition ist knapp und treffend das Wesentliche zur Aufklärung gesagt: Ermutigung des einzelnen und der Gesellschaft zum selbständigen Gebrauch ihrer Vernunft. Vorbedingungen zu solcher Leistung sind Reife des Verstandes und Entschlußkraft. Die beabsichtigten Folgen sind Lösung von Vormundschaften aller Art, die sich aus mancherlei Gründen zwecks Unterbindung einer Evolution des Menschengeschlechts zur Unabhängigkeit instituiert haben. (Kants Gesam. Schriften, hrsg. v. der Preuß. Ak. d. Wissensch. VIII, 35)

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Drei Leitmotive der französischen Aufklärung treten hervor; sie verbinden sich miteinander, bedingen sich wechselseitig und knüpfen die mannigfachen Erscheinungen der religiösen, politischen, sozialen Kritik zusammen. 1. Der Aufruf zum geistigen Wagnis: Schüttle die Unmündigkeit ab! — die Ermunterung zum ,sapere aude!' richtet sich an die Menschen, „qui ont trouv£ mieux leur compte, pour leur paresse naturelle, ä. croire tout d'un coup ce qu'on leur disait qu'ä. l'examiner soigneusement" (Bayle, Pensees sur la Com£te, 7), die also lieber aus natürlicher Bequemlichkeit sich einer Autorität unterwerfen als ihren Geist zum selbständigen Denken anspannen. Gegen die Faulheit, die Feigheit, den Herdeninstinkt, die 3 Feinde der Aufklärung, kämpften Bayle und mit ihm und nach ihm die aufgewecktesten und mutigsten Großen der Zeit einen verbissenen K a m p f : den klassischen Kampf gegen Tradition und Vorurteile. 2. Gegen Tradition und Vorurteile kämpfen hieß damals gegen die dreifache Autorität scholastischen Denkens, eines politischen Systems und einer Tradition religiöser Bevormundung angehen. a) Die Aufklärung brachte in Fortsetzung der kopernikanisdien Revolution und auf den Spuren Galileis und Descartes' neues Licht in die Erscheinungen des modernen Weltbildes. Naturwissenschaftliches Denken und Forschen dämmte immer stärker die Verbreitung pseudowissenschaftlichen Aberglaubens ein und wies der experimentell forschenden Tätigkeit neue Richtungen an. In seiner geistvollen, witzigen Art, mit der Fontenelle auf seinen abendlichen Spaziergängen im Park der schönen Marquise de G * * * die Gesetze der Astronomie beibringt, vergleicht dieser Popularisator der modernen Naturwissenschaft das „Universum" einer Aufführung im Opernhaus. D a sieht das Publikum bei einer Oper von Quinault und Lully den Phaeton über die Bretter laufen. Wären nun als Gäste etwa Pythagoras, Piaton, Aristoteles und andere Große des Altertums gesessen, würden die einen, wenn sie auf der Bühne den Phaeton hätten in die Lüfte steigen sehen, wohl ausgerufen haben: Das ist eben jene geheime Kraft — une certaine vertu secr£te —, die den Sänger emporführt (Aristoteles); oder das ist eben die Wirkung gewisser Zahlen — certains nombres — (Pythagoras); oder das ist gewiß die Sehnsucht der aufstrebenden Seele für das Theaterplafond — une certaine amiti£ pour le haut du thiatre — (Piaton) usw. usw. „et cent autres reveries . . Aber da kam Descartes und noch andere und sagten: „Phaeton monte parcequ'il est tir£ par des cordes, et qu'un poids plus pesant que lui

Geist, Kunst, Gesellschaft

im Frankreich des 18. Jahrhunderts

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descend." (Phaeton steigt hoch, weil er von Drähten gezogen wird und das Gewicht, welches sinkt, sdiwerer ist als er.) Die Naturwissenschaftler zeigten also „le derri£re du theatre", und daß nicht mystische Vorstellungen, sondern berechenbare mechanische Gesetze das Weltall durchwirken. So lernte man endlich, hinter die Kulissen der Opernbühne zu sehen. Die Entmythologisierung und Entmystifizierung hatte begonnen. b) Das zweite war die politische Autorität. Das absolutistische System Ludwigs XIV. wurde zur selben Zeit und von den Wegbereitern der eigentlichen Aufklärung, von Fenelon und seinem Kreis, von Fontenelle und Bayle angegriffen. Wir können auch Spinoza nennen, der auf die Denker des 18. Jahrhunderts nicht ohne Einfluß gewesen ist. An gegebener Stelle werden wir das Motivbündel der kritisch-politischen Literatur bei Montesquieu und Rousseau aufknoten. Hier sei nur bemerkt, daß die zähe Erarbeitung eines demokratischen Regierungs- und Gesellschaftsprinzips sich unter der Wirkung englischer Vorbilder, aber audi deutscher Theoretiker wie Grotius und Pufendorff vollzog, und vielleicht Frankreichs bedeutendste literarische und soziale Leistung im Aufklärungszeitalter war. Die Literatur trat damals wiederum in eine Phase sozialen und politischen Engagements, wie es zuvor schon einmal in der 3. Generation des 16. Jahrhunderts, als die Not in den Religionskriegen eine äußerste Grenze erreicht hatte, der Fall gewesen war. c) Die dritte Front war der Kampf gegen die religiöse Bevormundung. Auf keinem andern Gebiet war die Sprache so hart, so innerlidi erregt wie gerade auf diesem. Man muß, um es nachzuempfinden, Bayles polemische Schrift „Ce que c'est que la France toute catholique sous le r£gne de Louis le Grand", die er unter dem Eindruck der Revocation de l'Edit de Nantes geschrieben hat, nachlesen: „Ich bin im Begriff, eine andere Sprache zu führen, die ihr wahrscheinlich etwas rauh finden werdet . . . Ihr glaubt so ohnehin und aus einem schmählidien Vorurteil heraus, daß alles, was man uns angetan, gerecht sei, da es von einem für die wahre Religion so glorreichen Erfolg war . . . Gott ist wesentlich zu gut, um Urheber eines so verderblichen Dinges zu sein, wie die positiven Religionen . . . gewisser besonderer Gottesverehrungen, von denen sie wohl wußten, daß sie ein ewiger Samen von Kriegen, Metzeleien und Ungerechtigkeiten sein würden . . . Rohe Gewalt und Unredlichkeit, das sind die beiden hervorstechenden Kennzeichen eurer Kirche . . . W ä r e es Gottes würdig . . . , hätte er's geschehen lassen, daß eine so verdorbene Kirche, die durch die Ungerechtigkeiten ihrer Grundsätze und durch die Niederträchtigkeit einiger ihrer Satzungen den Abscheu und die Verachtung der ganzen Erde verdient hat, in dem Grad sich ausbreitete und durch eine lange Reihe von Betrügereien

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mit Hilfe von Dragonern und Soldaten, die am Ende die Hauptrolle bei dem schönen Unternehmen gespielt haben, eine reformierte Partei, ein Häuflein Unschuldiger, die Gott in der Einfalt des Evangeliums dienten, unterdrückte? ...Nein!"

Die Schrift ist, wie Ludwig Feuerbach in seinem Buch über „Pierre Bayle" (1838 und 1848) bemerkte, einzig in ihrer Art. Sie ist gewissermaßen der terminus tecbnicus, das epitheton ornans, das spezifische „nota bene" dieser ebenso törichten wie verwerflichen Entscheidung des Sonnenkönigs, eine Tat, die nicht allein die Indignation des protestantischen Häretikers, des rekonvertierten Bayle, hervorgerufen hatte, sondern auch von Katholiken selbst gebrandmarkt worden war. Wir erinnern uns des Bildes, mit dem Saint-Simon in seiner Cour de Louis XIV. in der ihm eigentümlichen Schreibweise, wo sich Haß, Verachtung und Ironie in expressivster Farbgebung mischen, das Grauen des Lesers erregt hat (p. ). Solche Akzente der Indignation werden wir bei Voltaire in unverminderter Intensität wiederhören. Der Kampf der Zeit gegen die Perversion des Religiösen wurde um so erbitterter geführt, je eindrucksvoller die Bilder religiöser Greuel, etwa die Albigenserkriege, die Hugenottenkriege, die Bartholomäusnacht, die Aufhebung des Pazifikationsedikt von Nantes in das Bewußtsein der gesdiichtskundigen „Philosophen" sich zu schreckhaften Vorstellungen verdichteten. 3. Alle drei: Saint-Simon, der die Manuskripte seiner Memoiren mit größter Vorsicht verstecken mußte; Pierre Bayle, der ebenso unter den Katholiken wie den orthodoxen Protestanten zu leiden hatte; Voltaire, der sich in seinem „Fuchsbau" an der französisch-schweizerischen Grenze sicherte, haben das periculose vivere am eigenen Leib erfahren. Sie konnten sich nicht konformieren. Als nachdenkende Menschen haben sie ein Problem angerührt, das die damalige Zeit zutiefst beschäftigt hat: den Widerspruch zwischen Glauben und Vernunft, einen charakteristischen Widerspruch der christlichen Welt überhaupt. Er zieht sich durch lange Zeitläufe der christlichen Geschichte hindurch, aber brach mit besonderer Gewalt im Zeitalter der erwachenden Naturwissenschaften auf. Auch damals geschah es, daß wie je und eh der Glaube die Vernunft, aber auch die Vernunft den Glauben überspielte. Jedenfalls kulminierte wieder einmal der klassische Zwiespalt in der Aufklärung. Drei wesentliche Tendenzen entwickelten sich daraus oder führten umgekehrt zu diesem Zwiespalt: Der Skeptizismus, ein Relativitätsbewußtsein und die Toleranzidee, welche eigentlich nur das Produkt aus der Multiplikation der beiden andern ist.

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a) Der Skeptizismus gegenüber der OfFenbarungsreligion hatte schon im 17. Jahrhundert ein philologisches Vorspiel, nämlich die vorurteilsfreie P r ü f u n g der geheiligten Texte. 1678 w a r die „Histoire critique du Vieux Testament" von dem Oratorianer Richard Simon erschienen. Die Kritik an den heiligen Schriften des Juden- und Christentums stützte sich auf die Philologie. Simon war Kritiker und Philologe. Gewiß gab es vor ihm Kritiker wie Grotius oder Spinoza, von denen der eine die hl. Schriften mit Anmerkungen versah, während der andere seine Exegese gemäß seiner Metaphysik konstruierte. Aber bei Grotius war die parteiische Anteilnahme an der arminianisdien Theologie, bei Spinoza seine Metaphysik nicht zu verkennen. Richard Simon hingegen forderte eine von allen dogmatischen, philosophischen, metaphysischen Elementen und Spekulationen freie, autonome, rein sachgebundene Textinterpretation. Er studierte zu diesem Zweck vor allem Hebräisch. Die auf seiner Gelehrsamkeit beruhende Analyse des Alten Testaments zeitigte das Ergebnis, daß der „Pentateuch", die fünf Bücher Moses, nicht alle von Moses sein können. Die Schöpfungsgeschichte wird als unzusammenhängend erwiesen. Wie aber kann sie dann im Zustand der Inkohärenz und Deformation noch als Gotteswort gelten? Welch gefährliche Suggestionen eines katholischen Priesters! Sie enthielten Zündstoff, an den ein Voltaire, ein Lessing und andere, zumeist Sektierer, die Lunte legten. Die Tür zu weiteren Kritiken w a r aufgetan. Überdies schrieb Richard Simon nicht lateinisch, sondern in einem jedermann verständlichen klaren und schlichten Französisch. Die D a r legung seiner philologischen Forschungsergebnisse w a r so überzeugend, und von so zwingender Logik, d a ß sie wie ein Widerspruch zu seinem eigenen orthodoxen Bekennertum erscheint. Denn er blieb, — wenigstens in seinen Worten — überzeugt, daß nicht nur Moses von Gott inspiriert war, sondern auch alle Propheten, Chronisten, Schreiber, die von Generation zu Generation den mosaischen Text umgearbeitet haben. Auch hinsichtlich des Neuen Testaments ist Simon weit davon entfernt, die Autorität der Konzilien, die sich auf die Überlieferung der kirchenväterlichen Interpretation bezieht, auszuschalten. „ O n peut appeler ces traditions un a b r i g i de la Religion c h r e t i e n n e " . . . Diese zunächst ungeschriebenen Traditionen kämen von unserm „ H e r r n Jesus Christus, der sie seinen Aposteln mitteilte", und dann seien sie bis zu uns gelangt als w a h r h a f t e Traditionen, wie sie die Autorität des Tridentiner Konzils festgelegt habe. So also liegen bei Simon vorurteilsfreie philologische Wissenschaft und

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traditionsgebundene Glaubensartikel nodi unausgeglichen in ihm. Dennoch vermittelt die Lektüre seiner Bücher den Eindruck, daß hier etwas unerhört Kühnes aufgebrochen ist. Auf die Kritik des Alten Testaments folgt 1689 die „Histoire critique du Texte du Nouveau Testament", ein Jahr später die „Histoire critique des Versions du Nouveau Testament" und 1693 die „Histoire critique des Commentaires du Nouveau Testament". In jedem der Titel erscheint das Wort „Kritik". Man ahnt die Erschütterung, die von diesem unerbittlich nach rein philologischen Kriterien arbeitenden Gelehrten ausging. Seine Forschungen erschienen den Theologen seiner Zeit so gefährlich, daß sich ihrerseits sowohl die katholischen wie protestantischen Ketzergerichte seiner Werke kritisch annahmen. Der Gipfel der Kühnheit war seine Übersetzung des Neuen Testaments von 1702. Ohne Rücksicht auf die traditionellen Interpretationen, die nach seiner Meinung eine Häufung von Mißdeutungen, Irrtümern, Widersinnigkeiten darstellten, zielt er in der Absicht einer kritischen Übersetzung allein auf den Text und dessen wörtlichen Sinn. Richard Simons Bedeutung liegt darin, daß seine philologischen Forschungen das Bewußtsein der religiösen Krise des Abendlandes stärkten. Das geht schon aus der Fülle der Widerlegungen seines ersten Buches, der „Kritischen Geschichte des Alten Testaments", hervor; es sind über vierzig. Simons kritische Arbeiten waren Wasser auf die Mühle der Ungläubigen, die eine Genugtuung darin fanden, daß unanfechtbare Gelehrsamkeit die ihnen verhaßte Autorität der rechtgläubigen Theologen unterwühlte: „Comment veux-tu", schrieb der Baron de Lahontan, „que je croie la βϊηΰέπΐέ de ces Bibles Perkes depuis tant de si^cles, traduites de plusieurs langues par des ignorants qui n'en auront pas confu le veritable sens, ou par des menteurs qui en auront changi, augmente ou diminue les paroles qui s'y trouvent aujourd'hui?" (Wie soll ich an die Echtheit jener Bibeln glauben, die vor so vielen Jahrhunderten geschrieben und aus mehreren Sprachen übersetzt wurden, und zwar von Ignoranten, die ihren wahrhaften Sinn nicht erfaßt haben, oder von Fälschern, welche die Worte geändert, vermehrt oder vermindert haben?) (Dialogues curieux, 1703. zit. bei Hazard, op. cit. p. 181.) Wir sehen alsbald die Folgen dieses philologischen Vorspiels: Der Skeptizismus, eine uralte Form menschlichen Denkens und Verhaltens, breitet sich, durch das Klima der kritikfreudigen Zeit begünstigt, über einen großen Teil der europäischen Gesellschaft aus. Pierre Bayle schreibt in seinem „Commentaire philosophique" (II. Kap. 10):

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„II est impossible, dans l'etat oü nous nous trouvons, de connaitre certainement que la verite qui nous parait (je parle des verites particulieres de la Religion, et non pas des proprietes des nombres ou des premiers principes de metaphysique, ou des demonstrations de geometrie) est la verite absolue." (Im gegenwärtigen Zustand der Dinge ist es unmöglich, mit Sicherheit zu erkennen, daß die Wahrheit [ich spreche von den besonderen Wahrheiten der Religion und nicht von den Eigenschaften der Zahlen oder von den Prinzipien der Metaphysik oder von den mathematischen Beweisen] die absolute Wahrheit ist.)

b) Mit dem Bewußtsein, die absolute Wahrheit nicht finden zu können, stärkte sich das Gefühl, alles sei nur relativ. Zu dieser neuen Erfahrung trugen vor allem die Reiseberichte des 18. Jahrhunderts bei. Man hat den Eindruck, daß seit den Handelsunternehmungen Colberts, der Holländer und Englands ganz Europa am Ende des 17. Jahrhunderts auf weltweiten Reisen ist: Könige, Philosophen, Missionare, Wissenschaftler, Schriftsteller, Kaufleute und Weltenbummler aller Art ziehen über Länder und Meere bis in die fernsten Erdteile. Reiseführer entstehen und werben für den Besuch Italiens, Spaniens, Frankreichs, Deutschlands, der Schweiz oder Dänemarks. Sie tragen die wirksamsten T i t e l . . . „les merveilles de l'Europe" (Vgl. P. Hazard, op. cit. p. 7). Zu dieser Literatur gesellen sich Reiseerzählungen, Länderbeschreibungen, Kulturberichte, die alle zusammen den Horizont audi derjenigen, denen solche Reisen nicht vergönnt waren, erweiterten. Die Türkei, Persien, Indien wurden dem Leser in den Berichten Taverniers und Chardins nahegebracht. Bernier und der Pater Le Comte bereisten China, Ziel jesuitischer Missionare. Christine von Schweden reiste nach Italien, der Zar Peter der Gr. nach Westeuropa; die Philosophen wie schon früher Descartes, später Locke und Leibniz, waren dauernd unterwegs; die Wissenschaftler besuchten sich, und lernten voneinander; neben ihnen zogen Glücksritter und Abenteurer wie Casanova quer durch Europa, und die Theaterleute, Bühnenarchitekten, Ballettmeister wie Noverre zogen von Hof zu Hof, von Land zu Land, und trugen auf ihre Weise zur Entwicklung des kosmopolitischen Stils des 18. Jahrhunderts bei. Aber am meisten lockte die Ferne. Der Baron de Lahontan veröffentlichte 1703 seine Reiseberichte, Memoiren und Gespräche; er popularisierte die Auffassung des Jahrhunderts, daß gegenüber dem verderbten Europäer der sdilichte, edle Wilde, „der Europens übertünchte Höflichkeit nicht kannte", doch ein besserer Mensch sei; er sei gut, weil er der Natur folge und der „religion naturelle". Es mußte die Kuriosität der Franzosen reizen, so interessante, infor-

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matorische Reisebilder zu studieren, wie sie Tavernier in seinen „Six v o y a g e s . . . qu'il a faits en Turquie, en Perse et aux Indes pendant l'espace de 40 ans et par toutes les routes que l'on peut tenir, accompagn^s d'observations particuli£res sur la qualit£, la religion, le gouvernement, les coutumes et le commerce de chaque pays, avec les figures, le poids et la valeur des monnaies qui y ont cours", niedergelegt hat. Die Franzosen erfuhren, daß es auch auf der andern Hemisphäre Zivilisationen, Kulturen, Religionen, Politik und Handel gab, und daß ein Mensch, nur weil er ein Perser ist oder einen Turban trägt, noch nicht absurd sein muß — ein Irrtum, dem gerade die weltstädtischen Pariser leidit verfielen, wenn wir an Montesquieus „Lettres Persanes" denken: „Comment peut-on £tre Persan?" Eine Theorie der Rassen, des Klimas, des Milieus konnte sich entwickeln. Aber zunächst verbreitete sich das Gefühl der Relativität der Dinge und Menschen, ihrer Ideen über Freiheit, Gesellschaft, Sitten, Religionen: „Un Papiste est aussi satisfait de sa religion, un Türe de la sienne, un Juif de la sienne, que nous de la notre", lesen wir in Bayle (Comm. philos. II, 10). Das ist bereits Lessings Nathankonzeption und die sich aus ihr ergebende Folgerung der Toleranz. c) Die Toleranzidee ist dem Jahrhundert eigentümlidi. Bayle gilt als ihr Vater, Voltaire und der Roi de Prusse betätigten sie auf ihre besondere Weise, und Lessing ist ihr schönstes, wärmstes Licht. Die Wurzeln der Toleranzidee liegen aber tiefer in der Zeit. Seit dem 16. Jahrhundert gewinnt die Forderung der Toleranz mit der Reformation, mit der politisch-demokratischen Bewegung des englischen Independentismus und dem humanistischen £rziehungsideal etwa eines Rabelais oder Montaigne an religiöser, politischer und weltanschaulicher Bedeutung. Wegbereitend hatte schon Nicolaus von Kues mit seinem „De pace fidei" (1453) gewirkt. Dann verfaßte im 16. Jahrhundert Jean Bodin das „Colloquium Heptaplomeres", Erasmus hatte seine Wirkung, Spinoza schrieb seinen „Tractatus theologico-politicus" (1676), ein Grundbuch der Denkfreiheit und Toleranzidee. Bald danach entsandte John Locke seine „Toleranzbriefe" (1689 ff.). Die Idee der Toleranz erscheint in mehrfacher Brechung: Zunächst in dem Gedanken, daß nidit Rechthaberei, sondern Tat und Gesinnung und sittliches Verhalten den Wert eines Menschen, mag er gläubig oder ungläubig sein — bestimmen. Bayle wagte sogar die Behauptung: „L'atl^isme n'est pas un plus grand mal que l'idolätrie" (CEuvres diverses III, 75). Nicht Bekenntnis zu dieser oder jener Religion, sondern die Liebe

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zur Wahrheit und die aus ihr sich ergebende Lebensführung und Betätigung der Toleranz sind das Entscheidende. Das predigt freilich jede Religion. Leider, so mußte Bayle feststellen, betätigen die Gläubigen nur selten diese Tugenden. Er gab einen neuen Anstoß zur Toleranz in den „Commentaires philosophiques sur ces paroles de Jäsus-Christ: ,Contrains-les d'entrer'" — darin er beweisen will, daß es nichts Schrecklicheres gäbe als Zwangsbekehrungen, womit er zugleich die Apologie der religiösen Verfolgungen durch den hl. Augustin widerlegen will. Was hat es mit diesem „contrainsles d'entrer!" f ü r eine Bewandtnis? Wir lesen im Lukas-Evangelium K a p . 14: „Es war ein Mensdi, der machte ein großes Abendmahl und lud viele dazu. Und sandte seinen Knecht aus zur Stunde des Abendmahls, zu sagen den Geladenen: Kommt, denn es ist alles bereit! Und sie fingen an, alle nacheinander sich zu entschuldigen . . . (Folgen die Gründe) . . . Und der Knecht kam und sagte das seinem Herrn wider. D a ward der Hausherr zornig und sprach zu seinem Knedite: Gehe aus schnell auf die Straßen und Gassen der Stadt und führe die Armen und Krüppel und Lahmen und Blinden herein. Und der Knedit sprach: Herr, es ist geschehen, was du befohlen hast; es ist aber noch Raum da. Und der Herr sprach zu dem Knechte: Gehe aus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen, auf daß mein Haus voll werde."

Der hl. Augustin hat nun das Wort „impelle intrare, ut impleatur domus mea" als Aufforderung zur zwanghaften Zurückführung der U n gläubigen gedeutet. Das machte Schule, und die Christenheit begann, sich zu zerfleischen. Für Bayle bekommt die so gedeutete Parabel einen unmittelbar aktuellen Sinn, nämlich die Zwangsbekehrungen der Protestanten nach der Aufhebung des Edikts von Nantes. Bayle forderte die Rechte der „conscience errante" (das irrende Bewußtsein) und prägte den an Lessing gemahnenden Satz: „ . . . nous sommes obliges d'avoir les memes egards pour la verite putative que pour la ν έ η ΐ έ reelle." (Comm. philos. II, 10)

Wir erinnern uns des Richters aus dem „ N a t h a n der Weise", wie er in der Parabel der drei Ringe die streitenden Söhne frei läßt in dem Glauben eines jeden, d a ß er im Besitz der rechten Religion sei, aber wie er sie gleichzeitig zur Duldsamkeit ermahnt. Müssen wir nun glauben, d a ß dieses Humanitätsideal der Aufklärung sich mit jenem Optimismus verband, der im 18. Jahrhundert durch die fortschreitenden naturwissenschaftlichen Errungenschaften bedingt war?

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Münch, Franz. K u l t u r

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Auf den ersten Blick mag es so sdieinen: Voltaire glaubte ernstlich an das erreichbare Ideal einer „Ripublique des Lettres"; die Enzyklopädisten waren von dem Glauben an den Fortschritt erfüllt und freuten sich, in einem Zeitalter des „progr^s de l'esprit humain" zu leben; Lessing versenkte sich am Ende seines Lebens in den Traum, daß die Menschheit die endlose Straße ihrer Geschichte zu immer höherer sittlicher Vollkommenheit ziehen werde; Kant selbst gab diesem Gedanken nicht einmal unrecht, wenn er die „Naturabsichten", wie sie sich im Gange der Menschheit zeigten, im Sinne eines sozialen Fortschritts entdeckte. Geduld, es gäbe Hoffnung, meint er, daß ein allgemeiner „weltbürgerlicher Zustand" als höchste Absicht der vernünftigen Natur erreicht werde! Betrachten wir indessen die Dinge genauer, so sehen wir, daß auf der Kehrseite der Medaille ein ebenso tiefer Zug zum Pessimismus den Januskopf des Jahrhunderts sichtbar macht. Und wieder war es Bayle, der schon an der Schwelle des Säkulums 1695/1697 in seinem „Dictionnaire historique et critique" den Eindruck vermittelte, daß die Geschichte der Menschheit nichts anderes sei als eine Anhäufung von Greueln und Verbrechen. Das Wörterbuch besteht aus Eigennamen der Geschichte und Geographie. Ein jeder steht für ein Verbrechen, ein Greuel, eine Illusion — eine gnadenlose Anklageschrift eines Mannes, der trotz allem ihr Anwalt zum Guten sein wollte. D a stehen sie von Α bis Z, die Könige, Geißel ihrer Untertanen; einige der Päpste, welche schon ein Dante ob ihrer Leidenschaften und Verbrechen zum Höllendasein bestraft hat; da sind sie, all die Philosophen, weldie die Menschen mit ihren absurden Systemen abgespeist haben; und da lesen wir die Namen der Städte, der Ortschaften, der Länder: Zeugen unentwegter Kriege und Massaker. Voltaire hat dann auf den Spuren Bayles nicht viel anderes hinzugefügt, als daß er die Greuel etwa der Religionskriege noch stärker auf das Konto der Theologen setzte. Aber den letzten düsteren Farbton des Pessimismus trug Voltaires Freund, Friedrich d. Gr., auf das Menschheitsgemälde auf: „Es ist gut", schreibt ihm der König, „daß Sie gegen den Irrtum kämpfen. Aber glauben Sie, daß die Welt sich ändern wird? Der menschliche Geist ist schwach; mehr als drei Viertel der Menschheit sind dafür geschaffen, als Sklaven des dümmsten Fanatismus zu leben . . . Die Mehrzahl unseres Geschlechts ist dumm und böse. Ich suche vergebens das Ebenbild Gottes in ihnen . . . Der Mensch wird trotz aller philosophischen Lehren das bösartigste Tier der Welt bleiben. Aberglaube, Eigennutz, Rachsucht, Verrat, Undankbar-

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keit werden bis ans Ende der Tage zu den blutigsten und tragischsten Ereignissen führen..." So also mischen sich optimistische Farbtöne, wie sie ein Voltaire, ein Lessing, ein Kant, ein Condorcet aufgetragen haben, mit den pessimistischen eines philosophischen und politischen Kopfes wie es der Preußenkönig Friedrich I I . war, dessen existenzielle Erfahrungen ihn von seinem idealistischen Anti-Machiavellismus der Jugendzeit zu dem abgründigen Pessimismus der reifen und späten Jahre geführt haben.

Die Bedeutung der

Naturwissenschaften

An Anfang steht Isaac Newton. Voltaire stellte ihn über den „göttlichen Piaton", und die Nachwelt errichtete ihm, was wir später sehen werden, im Zeitalter der Romantik ein Denkmal, das seiner Bedeutung würdig war. Newton bedeutete nach der kopernikanischen eine zweite Revolution, deren Datum die „Philosophiae naturalis principia mathematica" (1687) sind. In der Mitte des Jahrhunderts wirkte Benjamin Franklin, ebenso genial in seinen praktischen Erfindungen wie erfolgreich als amerikanisdier Unterhändler in Paris: ein moderner Mann, dessen bürgerlichdemokratisches Auftreten in der französischen Hauptstadt Mode machte, und dessen Motto „time is money" ein Markstein zu einem neuen Lebensstil der abendländischen Gesellschaft wurde. Überdies zog er aus Begeisterung für die Toleranzidee auf eine Pilgerfahrt zu Voltaire. Am Ende des Jahrhunderts funktionierte James Watts verbesserte Dampfmaschine. Der Satz vom Parallelogramm der Kräfte, eine Folgerung aus Newtons zweitem Bewegungsgesetz, und die Übertragung der Kolbenkraft auf eine rotierende Welle, das war die ebenso einfache wie geniale Idee, mit der Watt seine Dampfmaschine konstruierte. Als die Maschine erstmals 1776 für ein Hüttenwerk in Betrieb genommen wurde, war die Entwicklung zur Industriegesellschaft in Europa und Amerika eingeleitet. All das waren Ergebnisse der Auswertung mathematischer Erkenntnisse und Resultate technischer Begabung. Die Bedeutung Englands für die zivilisatorische Entwicklung der neuen Gesellschaft zeigt sich in den vielen Erfindernamen. Niemand hat das fortschrittliche Land freudiger und optimistischer begrüßt als die französischen Aufklärer. Sie blickten alle auf England: Montesquieu und Voltaire, Rousseau und Diderot, der A b b i Privost und alle Förderer des Toleranzgedankens, einer aufgeklärten Monarchie und einer modernen,

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von Vorurteilen freien naturwissenschaftlichen Forschung. Die Franzosen selbst waren wie die Deutschen, die Schweden, die Russen, die Italiener an der fortschrittlichen Bildung des 18. Jahrhunderts beteiligt. Ich nenne nur einige Namenpaare, welche der Epoche die Zeichen ihres Erfindertums aufgedrückt haben: die Schweden Linn£ und Scheele, die Italiener Galvani und Volta, die Deutschen Herschel und Euler, die Russen Bering und Tscheljuskin, die Franzosen Lagrange und Laplace, Monge und Fourier, Buffon und Lavoisier. Die Namen könnten beliebig vermehrt werden, je weiter wir uns dem Ende des Jahrhunderts nähern. Sie sind nicht zufällig gewählt; denn sie bedeuten, daß dem 18. Jahrhundert nicht nur mathematische, astronomische, geographische Entdeckungen gelungen sind als Vorstöße in das Weltall und auf der Oberfläche der Erde, sondern auch Vorstöße in das Innere der Erscheinungen, in das Reich der Chemie. Am Ende dieses Zeitlaufs stehen 3 Werke von epochaler Bedeutung: Die „Description gέographique de la France" (1784) von Cassini de Thury, das Ergebnis einer großen trigonometrischen Vermessung Frankreichs; Lavoisiers „ T r a ^ de Chimie" (1789), der die fruchtbarste Umwälzung der chemischen Wissenschaft vor ihrer modernen Auffassung im 19. und 20. Jahrhundert ist; und der „Trait£ de Micanique c61este" (1799 bis 1825) von Laplace. Diese Himmelsmedianik ist eine der großartigsten Leistungen der mathematischen Astronomie: aus dem Newtonschen Gesetz „die gemeinsamen Auswirkungen der Perturbationen — aller gegenseitig wirkenden Anziehungskräfte der Familienmitglieder des Sonnensystems — herauszuarbeiten" und die Stabilität des Sonnensystems — ein Problem, das uns heute wieder offen erscheint — zu beweisen (Ε. T. Bell, Die großen Mathematiker, Op. cit. p. 179). Wir haben noch eines großen Naturforschers zu gedenken, dessen Werk freilich im Gegensatz zu dem des Laplace, in den Bereich der „eigentlichen" Literatur eingegangen ist: Georges-Louis Leclerc, comte de Buffon (1707 bis 1788). Auch seine Arbeiten waren, wie die von Laplace, von einer umgreifenden Idee getragen, nämlich die Naturreiche der Mineralien, Pflanzen und Tiere zu erforschen und darzustellen. Das gesamte Unternehmen war auf 15 Bände berechnet: 3 für das r£gne mineral, 3 für das r£gne vegetal, 9 für das r£gne animal. Solchem Unternehmen von wahrhaft epischen Ausmaßen waren natürliche Grenzen gesetzt. Trotzdem sprengt das Endergebnis der 36 Bände den ursprünglich festgesetzten Rahmen. Auch wenn seine Forschungen zu Einzelproblemen der Botanik, Zoologie und Erdgeschichte lange überholt sind, werden 3 Eigenschaften

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seiner Persönlichkeit und seines Werkes interessant bleiben: Seine klar umrissene Methode, die theoretisch einwandfrei, aber nicht immer in seiner eigenen wissenschaftlichen Forschung von ihm selbst angewendet wurde, zum zweiten seine spradiliche Ausdruckskraft, die ihm noch im 19. Jahrhundert ein breites Lesepublikum sicherte, u n d endlich seine organisatorische Fähigkeit, mit der er ein weitgespanntes System von Informationen, wissenschaftlicher Korrespondenz und persönlichen Mitarbeitern aufbaute. Als oberstes Ziel seiner Tätigkeit mag sein Wort verstanden werden: „La seule vraie science est la connaissance des faits." Er mikroskopierte, trieb Pflanzenphysiologie, untersuchte die Erwärmung und Abkühlung der Metalle, durchforschte die Probleme zur Geschichte der Erde, schrieb die Monographien von Tieren, erweiterte die Erkenntnisse der Geologie, Paläontologie und Erdgeschichte u n d studierte die Veränderungen der Lebewesen unter dem Einfluß klimatischer Verhältnisse und der Nahrung. Von hier verläuft eine Linie über seinen Schüler Lamarck zu Darwin. Zweierlei erscheint ihm f ü r einen Forscher nötig: ein das Ganze umfassender Blick — les grandes vues d'un ginie ardent qui embrasse tout d'un coup d'ceil — und die auf das Detail gespannte Aufmerksamkeit — les petites attentions d'un instinct laborieux qui ne s'attache qu'ä. un seul point. (Anfang der Histoire Naturelle, Premier Discours, 1749.) Vor allem muß das Auge viel und vorurteilslos sehen. Jede Voreingenommenheit, jede Bindung an ein vorgefaßtes System grenzt ein und leitet die Beobachtung in vorgezeichnete Bahnen. „C'est pour cela que j'ai dit qu'il fallait commencer par voir beaucoup" (ib.). Die Durchführung eines solchen Unternehmens mit einer rein naturwissenschaftlichen Methode vertiefte die Kluft zwischen Theologie und Naturwissenschaft. Buffon glaubte, auf Grund seiner Untersuchungen das Alter der Erde auf etwa 3 Millionen Jahre schätzen zu müssen. Die Zahl skandalisierte die Gläubigen, die gemäß biblischer Aussage nicht über 6000—7000 Jahre hinausgehen wollten. Buffon unterwarf sich der Zensur der Sorbonne und ging auf 100 000 Jahre zurück. Heute berechnet man das Alter des Planeten auf etwa 3,4 Milliarden. Unumstritten ist die Qualität seines Stils. Die Kunst des Schreibens passioniert ihn wie die Wissenschaft, die er treibt. Er hat eine hohe Meinung von der Bedeutung des Stils gerade audi in einem wissenschaftlichen Werk. Von ihm stammt das vielzitierte W o r t : „Le style, c'est l'homme.'' Die Mühe, die er aufs Schreiben selbst verwendet, erinnert schon an Flau-

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bert: Er schreibt oder diktiert einen ersten Entwurf, verbesserte ihn mit eigener Hand, läßt das Verbesserte kopieren, korrigiert von neuem und läßt den so verbesserten Text kalligraphisch noch einmal abschreiben. Manche Passagen sind 4 bis 5 mal umgearbeitet. Jeder Satz wird laut gelesen, und zu wiederholten Malen, bevor ihn Buffon frei gibt. Mit nicht geringerer Sorgfalt wurden die Illustrationen zu der 1. Ausgabe der „Histoire naturelle gέnέrale et p a r t i c u ^ r e " (1749—1788 in 36 Bänden) bedacht. Wegen der Schönheit der Kupfer ist dieses Werk unschätzbar. Sein Organisationstalent brach sich frühzeitig Bahn. Auf seinen frühen Reisen mit dem jungen Herzog von Kingston lernte er Europa kennen, Frankreich, Italien, England, übersetzte die berühmte Arbeit des englischen Pflanzenphysiologen Stephen Hales „Vegetable statics, or an account of some statical experiments on the sap in vegetables" (London 1727) („Statik der Gewächse") und Newtons „Theorie der Fluxionen". Im gleichen Jahre 1739 wurde er Intendant des Jardin du Roi, des heutigen Jardin des Plantes, brachte die Naturerzeugnisse aller Weltgegenden zusammen, errichtete ein Naturalienkabinett, Galerien, Treibhäuser und arbeitete vor allem mit dem Arzt und Mineralogen Louis Daubenton zusammen. Dieser bedeutende Gelehrte lieferte zu den ersten 5 Bänden der Buffonschen Naturgeschichte anatomische Beiträge und schuf die Grundlagen der vergleichenden Anatomie. Freilich trennte er sich schon 1753 von Buffon, aber beide Forscher blieben in Verbindung, wenn auch ein jeder seine eigenen Wege ging. Goethe, der sich als Osteologe für die Untersuchungen und Methoden der französischen Gelehrten interessierte, hat Buffon und Daubenton zu den „Stiftern und Beförderern der französischen Naturgeschichte" gerechnet und sie in ihrer Methode charakterisiert als Repräsentanten einer synthetischen und analytischen Behandlungsweise der Wissenschaft. „Buffon nimmt die Außenwelt, wie er sie findet, in ihrer Mannigfaltigkeit als ein zusammengehörendes, bestehendes, in wechselseitigen Bezügen sidi begegnendes Ganzes. Daubenton, als Anatom, fortwährend im Trennen und Sondern begriffen, hütet sich, irgend das, was er einzeln gefunden, mit einem andern zusammenzufügen; sorgfältig stellt er alles nebeneinander hin, mißt und beschreibt ein jedes für sich." (Goethe, anläßlich der Sitzung der Academie Royale des Sciences, März 1830, 2. Abschnitt)

Man muß die Seiten Goethes über Buffon nachlesen, um einen Eindruck von der Genialität dieses Mannes, der auf Goethes anatomische Interessen eine große Wirkung hatte, zu bekommen, wie er seine Persönlichkeit schildert, seine Methode, den Wandel seiner Anschauungen.

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Goethe sieht genau den Punkt, w o die poetische Phantasie den Wissenschaftler Buffon „von dem eigentlichen Element, woraus die Wissenschaft gebildet werden soll, einigermaßen entfernte und diese Angelegenheit in das Feld der Rhetorik und Dialektik hinüberzuführen schien" (ib.). Es ist interessant, was Goethe aus den grundsätzlich divergierenden Anschauungen und Methoden Buffons und Daubentons, die später auf einer höheren Ebene bei Geoffroy de Saint-Hilaire und Cuvier wiederkehren, für Folgerungen zieht: „Möge doch jeder von uns bei dieser Gelegenheit sagen, daß SONDERN und VERKNÜPFEN zwei unzertrennliche Lebensakte sind. Vielleicht ist es besser gesagt, daß es unerläßlich ist, man möge wollen oder nicht, aus dem Ganzen ins Einzelne, aus dem Einzelnen ins Ganze zu gehen, und je lebendiger diese Funktionen des Geistes, wie Aus- und Einatmen, sich zusammen verhalten, desto besser wird für die Wissenschaften und ihre Freunde gesorgt sein." (ib.) Vielleicht interessiert sich die heutige Zeit nicht mehr so sehr für den „immer fortwährenden Streit zwischen den zwei Denkweisen" (Goethe, ib.); sie interessiert sich gewiß nicht mehr im besonderen für Buffon und Daubenton, wohl aber dürfte Buffons Anschauung von der sozialen Bedeutung wissenschaftlichen Denkens von aktuellem Interesse sein: „Wer kann sagen, bis zu welchem Punkte der Mensch seine Natur vervollkommnen kann, sei es im Geistigen oder Physischen? Gibt es eine Nation, die sich rühmen könnte, zu der bestmöglichen Regierung gelangt zu sein, die nämlidi darin bestehen müßte, alle Menschen zwar nicht gleich glücklich, aber weniger ungleich unglücklich zu machen, indem eine solche Regierung über die Erhaltung der Menschen wacht, sparsam mit ihrem Schweiß und Blut umgeht durch Erhaltung des Friedens, durch Sicherung der Nahrungssubstanz, durch die Sorge um die Annehmlichkeiten des Lebens und die Fortpflanzung des Geschlechts? . . . (Leider) scheint es, daß der Mensch zu allen Zeiten weniger über das Gute nachgesonnen als Forschungen zur Anwendung des Bösen angestellt h a t . . . (Erst später hat der Mensch) erkannt, daß sein wahrer Ruhm die Wissenschaft ist, und der Friede sein wahres Glück." (Conclusion der Epoques de la Nature)

Das Zeitalter der

Physiokraten

Das 18. Jahrhundert ist, in der Perspektive der volkswirtschaftlichen Theorien gesehen, das Zeitalter von Adam Smith (1723—1790). Seine „Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations" (1776) ist das Standardwerk einer Wirtschaftstheorie, in der sowohl empirisch das Funktionieren der Wirtschaft als auch historisch die Entwicklung der öko-

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nomischen Verhältnisse vom Altertum bis in die Gegenwart hinein kritisch betrachtet werden. Die Kapitel 1—9 des vierten Buches enthalten eine „Gesamtbeurteilung des Merkantilismus" und eine Analyse des zeitgenössischen physiokratischen Systems der französischen Theoretiker. Was es mit dem Merkantilismus auf sich hatte, haben wir im Teil I unseres Buches beschrieben. Jetzt war Colberts Zeit vorüber. Das merkantilistische System wurde von dem physiokratischen abgelöst. Adam Smith hat auf seiner Frankreichreise die führenden Männer dieser Richtung kennen gelernt. So wie für ihn die Bekanntschaft mit der neuen volkswirtschaftlichen Theorie wichtig wurde, so war für den künftigen Minister Turgot die Bekanntschaft mit Adam Smith von ebensolcher Bedeutung wie sein Umgang mit den französischen Theoretikern Gournay und Quesnay. In dem weiten Komplex der Gesellschaftsgeschichte Frankreichs spielt die volkswirtschaftliche Theorie des 18. Jahrhunderts und der Streit um sie eine maßgebende Rolle. Dabei dürfen wir die Wirkung der Salons nicht außer acht lassen. Ein Blick in die kulturgeschichtlich interessanten Dokumente wie das Tagebuch des Pariser Bürgers zur Zeit Ludwigs XV. E. J. F. Barbier (neu in Auszügen hrsg. von Phil. Bernard, 1964 in den Ed. 10/18) oder die Correspondance litteraire von Melchior Grimm vermittelt uns einen Eindruck von der Bedeutung, welche die damalige Gesellschaft der volkswirtschaftlichen Literatur zuerkannte. Was Grimm in seinen Bulletins an Büchern, Buchtiteln, Broschüren, Traktaten usw. beibringt, weist darauf hin, daß es im Staatsgebäude Frankreichs brannte und daß die verantwortungsbewußte Schicht der Nation sich angesichts der Sozial- und Finanzmisere des Landes auf die Wichtigkeit der wirtschaftlichen Fragen besann. Die Analysen der Grimmschen Artikel lassen erkennen, wie gebrochen die wirtschaftspolitische Linie der alten Monarchie war, und wie sich alte und neue Konzeptionen einander durchkreuzten und zu der vorrevolutionären Unruhe und Ratlosigkeit führten. Wir finden in Grimms Correspondance die interessantesten Kopien wie die 12 volkswirtschaftlichen Prinzipien Benjamin Franklins oder Berichte über die Grundlagen und Fortschritte der Nationalwirtschaft in Rußland nebst dem vorbildlichen Stand einiger Agrarwirtschaften in Deutschland verzeichnet. Es ist die Zeit, da Condorcet das Signal gab, das politische und volkswirtschaftliche Leben mit der Methode einer exakten Finanzmathematik und mit Hilfe der Statistik zu meistern. Wir beginnen heute erst zaghaft, das lange vernachlässigte Schrifttum zwischen Adam Smith und dem bedeuten-

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den französischen Nationalökonomen Jean Baptiste Say (1767—1832), dem Verfasser des „Trait6 d'Economie politique" (Paris 1803) einer sachlichen und fachlichen Betrachtung zu unterwerfen und zu erfassen, woran vor allem W. G. Waffenschmidt mit der Herausgabe des französischen Textes von N . F. Canard, „Principes d'Economie politique" (1801) und ihrer deutschen Ubersetzung von 1814 beteiligt ist. Merkwürdig genug erscheint es freilich, d a ß die Diskussionen um die ernsten Probleme in den Salons der zweiten Jahrhunderthälfte oft genug in Zonen geistreicher Plaisanterie abglitten. „On n'a jamais si plaisant ä propos de famine", schrieb Voltaire an Germaine de Staels Mutter, M a d a m Necker. Dabei ging es um Sein oder Nichtsein der N a t i o n . Worin bestand der Wandel, der sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts vom Merkantilismus Colberts zur Physiokratie Quesnays, Gournays und Turgots vollzog? Die Grundzüge des Systems finden wir in den ökonomischen Tafeln (1756) von Quesnay. Der N a m e „Physiokratie" k a m aber erst durch D u p o n t de Nemours in Umlauf. Er redigierte das „Journal de 1'Agriculture" (1765/66) die „ E p t ^ n ^ r i d e s du Citoyen" (1768—72) und schrieb die „Physiocratie, ou Constitution naturelle du Gouvernement le plus avantageux au Genre humain" (1768). Der Titel gab der Schule den Namen. Nemours wurde von Turgot im Jahre 1774, da dieser mit dem 20-jährigen König Ludwig X V I . während der Audienz im Schloß zu Compi^gne seine wirtschaftlichen Ideen entwickelte, zurückgerufen, erhielt eine Vertrauensstellung, wurde aber mit Turgots Sturz wieder entfernt, jedoch von neuem zurückberufen und 1786 anläßlich des Abschlusses des französisch-englischen Handelsvertrags zum Staatsrat ernannt. Sein weiteres Schicksal war höchst bewegt. In der Revolution entging er dem Schafott, flüchtete nach Amerika, kehrte nach dem napoleonischen Staatsstreich vom 18.Brumaire nach Frankreich zurück und verließ es wieder in den kritischen H u n d e r t Tagen, um sich noch einmal in den Vereinigten Staates diesmal mit seinen Söhnen der Leitung großer industrieller Unternehmungen zu widmen. 1809 gab er Turgots Werke in 9 Bänden heraus. Der Begriff Physiokratie will besagen, daß allein die N a t u r (φύσις) herrschen (κρατεΐν) soll. Die Erde verbirgt und entbirgt die Reichtümer. Der G r u n d und Boden ist deren alleinige Quelle, „la terre est l'unique source des richesses". Bei Turgot steht der Satz: „II est done l'unique source des richesses" (Rdflexions sur la Formation et la Distribution des Richesses, 1774). „II" steht f ü r le laboureur, den Landarbeiter. Hier

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herrscht also Unklarheit. Ist die Natur, wie es die Physiokraten meinen, oder ist der Bauer, dessen Arbeit nach der Lehre Turgots noch einen Uberschuß über den Arbeitslohn abwerfe, Quelle des Reichtums? Nach den Physiokraten sind jedenfalls Handel und Industrie nur „d6pendances de l'agriculture". Aus ihren theoretischen Grundanschauungen vom Primat des Bodens ergibt sich folgende physiokratische Gesellschaftsstruktur: Die Gesellschaft (societ£) gliedert sich in eine classe productrice (Klasse der Landarbeiter) und eine classe stipendiee (Lohnempfänger). Bei der weiteren Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Ökonomie bildet sich eine dritte Schicht, nämlich die classe disponible, heraus (die Grundbesitzer = propri£taires), während die classe productrice sich in entrepreneurs, das sind die Pächter (fermiers) und die Tagelöhner, das sind die simples salariis, spaltet. classe stipendiee classe disponible classe productrice classe stipendiee (proprietaires) (cultivateurs) (artisans, commerfants) entrepreneurs simples salaries entrepreneurs simples ouvriers (fermiers) (journaliers) (capitalistes) Wir haben also, modern gesprochen, Kapitalisten, Unternehmer, Arbeiter, welch letztere ihre Arbeit verkaufen und gerade so viel Lohn erhalten, daß sie und ihre Familien ihr Leben fristen können. Turgot streift an das Problem des „ehernen Lohngesetzes" (loi d'airain), das Malthus und Ricardo später in England begründet haben. Hören wir Turgot: „Le simple ouvrier, qui n'a que ses bras et son Industrie, n'a rien qu'autant qu'il parvient έ vendre k d'autres sa peine. II la vend plus ou moins eher, mais ce prix plus ou moins haut ne depend pas de lui seul: il risulte de l'accord qu'il fait avec celui qui paye son travail. Celui-ci le paye le moins eher qu'il peut . . . En tout genre de travail il doit arriver et il arrive en effet que le salaire de l'ouvrier se borne «l ce qui lui est necessaire pour lui procurer sa substance." (Form, et distribution des richesses. Ed. Rieh. Arndt. Heidelberg 1913, p. 40 f.) (Der einfache Arbeiter, der nur seine Arme und seinen Fleiß hat, verfügt gerade nur über soviel, wie er seine Arbeit an andere verkaufen kann. Er verkauft sie mehr oder weniger teuer, aber dieser mehr oder weniger hohe Preis hängt nicht von ihm allein ab: er resultiert aus einer Vereinbarung, die er mit seinem Arbeitgeber trifft. Dieser bezahlt ihn so gering wie möglich... Bei jeder Arbeit begrenzt sich der Lohn des Arbeiters auf ein notwendiges Minimum, das zu seinem Lebensunterhalt gerade notwendig ist.)

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Der Arbeiter kann sich also durch den zumeist ungünstigen Verkauf seiner Arbeitskraft bestenfalls sein Existenzminimum sichern. Das ist die Wirklichkeit, wie Turgot sie sieht. Sein soziales Denken diktiert ihm jenen Brief an David H u m e vom 25. März 1767, in dem er rückhaltlos zwecks Verbesserung dieser sozialen Zustände fordert, daß „der Arbeiter einen Profit zu erlangen hat, der ihm im N o t f a l l die Existenz seiner Familie und die eigene sichern m u ß " . Eine entscheidende Rolle in der Physiokratie spielte Jacques Claude Vincent Gournay (1712—1759). Er gehörte der gemäßigten Richtung der Bewegung an und war mit Turgot befreundet. Man nannte ihn nicht ohne Grund den Handelsphysiokraten, weil er noch in der Tradition des Merkantilismus stand und die Bedeutung von Industrie und Handel positiver sah als die Physiokraten. Seine schriftstellerische Agitation zielte darauf ab, die öffentliche Meinung f ü r wirtschaftliche Angelegenheiten zu interessieren und zu aktivieren. Seine Verdienste hat Turgot nach dessen Tode in der Eloge de Gournay gewürdigt. Gournays energisch vertretene Ansicht ist, d a ß das vernünftige Privatinteresse mit dem Gesamtinteresse verknüpft sei, und d a ß sich demgemäß eine Liberalisierung von Handel und Industrie, der Grundzug des laissez faire, laissez passer, als Garantie eines ökonomischen Gleichgewichts anbietet: Man überlasse den wirtschaftlichen Verkehr sich selbst, und es wird der beste, allen Interessen genügende wirtschaftliche Zustand erreicht. Eine Strömung, welche in jener Zeit den Grund und Boden als die Quelle des Reichtums bezeichnete, führte notwendig das Problem der Kolonisierung, und dieses wiederum dasjenige des Sklavenhandels mit sich. Denn die Sklavenheere dienten der Urbarmachung der kolonialen Gebiete. „Des hommes violents ont alors imaging de contraindre par force d'autres hommes έ travailler pour eux et ils ont eu des esclaves" (Turgot, ib.). Turgot greift, wie die Aufklärer des 18. Jahrhunderts „cette abominable coutume de l'esclavage" im N a m e n der Menschheitsrechte an. In den französischen Kolonien wurde die Sklaverei im 16. Jahrhundert eingeführt. An Gegnern dieses Geschäftes fehlte es nicht, aber die Krise wurde erst mit Rousseaus Freiheitsbegriff, der eng mit der Vorstellung der „droits de l'humaniti" verbunden ist, in wirksamer Weise ausgelöst. Turgot steht auf der Linie Rousseaus. Er hatte starke Kampfgenossen, und am 4. Februar 1794 wurde die Sklaverei vom Konvent durch ein Dekret auf dem Papier abgeschafft. Endgültig hatte das Geschäft erst 1848 ein Ende.

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Das Bild der Gesellschaft im Wandel der Schönen Künste Der Wandel zum neuen Lebensstil der adligen und reichen Gesellschaft vom Barode Ludwigs X I V . zum Rokoko der R£gence und Ludwigs X V . spiegelt sich sinnfällig im Bilde der Zeit. Etikette und Zeremoniell am Hofe des Sonnenkönigs waren nicht nur streng-konventionelles Regelwerk, sondern Spiegelung kultischer Ordnungen und überpersonaler Formen, wie sie das Zeitalter der mathesis universalis hervorgebracht hat. So malte Poussin die Bäume als geometrische Silhouetten, die Felsen als klar konturierte, harmonisch gegliederte Massen, kreisrund oder oval sind die Seen, die Bergzüge gewinkelt, die Wolken sind ebenmäßig wie die Linien des menschlichen Körpers; — und dennoch beeindruckt den Betrachter eine Stimmungsdichte, wie sie nur ein großer Landschaftsmaler hervorzaubern kann. Das Charakteristische bleibt gewiß der Eindruck des Typologisierens: Auf Poussins Staffelei, sagt Friedeil, stehen „Gattungsexemplare " von Bäumen und Felsen und Wolken, wie auf der Bühne Corneilles und Racines die Gattungsexemplare Römer, Griechen, Juden nach dem vorgeschriebenen Regelwerk der klassischen Dramaturgie bühnengerecht komponiert sind, aber von dem Atem großer Dichtung beseelt. Der König selbst war überpersonal. Vierundfünfzig Jahre lang war er die Hauptfigur in dem Theaterstück, das er der Welt vorspielte, sich selbst allen Regeln unterwerfend, der erste Gefangene dieses Koordinatensystems, das alles lebendige Leben ordnete. Das alles änderte sich nach dem Tode des Königs 1715. Die freiheitlichen Impulse, lange Zeit gestaut, durchbrachen die Formeln der Vergangenheit. Die neue Generation trat mit dem Regenten Philipp von Orleans aus einer überwachten Ordnung in das offene Feld einer Freiheit, die sich als Loslösung von den Konvenienzen der Moral, der Politik und der Religion verstand. Sie hatte einen unstillbaren Lebenshunger und eine unersättliche Genußfreudigkeit. Der Zwang der Konvenienzen löste sich auf. Die Sitten, zwar schon längst gelockert, aber doch nur unter der Decke eines zur Schau getragenen Anstands, zeigten nunmehr auch nach außen hin die frechen, zynischen, atheistischen Züge eines Gesichtes, das die Maske abgenommen hat. In der Kunst beobachten wir, wie sich der schwerflüssige Stil mythologischer Malerei ins Zierliche und Leichte auflöst. Das ernste symmetrische Ornament verwandelt sich in die Verspieltheit einer asymmetrischen Rocailledekoration. Die derbe malerische Aussage der weiblichen Schönheit formt sich in eine mehr andeutende als direkte Sprache um. Das Galante wird Trumpf. Die Frau beginnt ihren Herrschaflsbe-

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reich durch die Salons auszudehnen. D a war die Cour de Sceaux (1700 bis 1753) der Duchesse du Maine; das Bureau d'esprit der Madame de Tencin (1726—1749); das Royaume der Madame Geoffrin (1749 bis 1777); und dazwischen blühten die Salons der Madame de Lambert (1710 bis 1733), der Madame D u D e f f a n d (1740—1780), der Mademoiselle de Lespinasse (1764—1776), und vergessen wir nicht Madame d'Epinay, deren Erinnerungen an die Großen ihrer Zeit dem Kulturhistoriker unschätzbar sind. Die Kultur- und Sittengeschichte kennt die Bedeutung der Salons; sie ermißt sidi an den Namen, die in diesen Salons verkehrten, angefangen bei Fontenelle und F£nelon, über die Generation von Montesquieu und Voltaire hinaus zu Diderot, Grimm, d'Alembert und den späteren Enzyklopädisten und Männern des öffentlichen Lebens wie Turgot. Schönheit, Anmut und Geist der Frauen und Männer wurden allmählich höher geachtet als der Adel der Geburt, so viele Ausnahmen es auch vordem gegeben haben mochte. Gewiß wußte Ludwig XIV., d a ß Geist Macht ist; aber dieser Geist w a r mehr der Ruhm seines eigenen Hofes, dessen Glanz er zu erhöhen hatte. Jetzt wurde der Geist sogar eine gefährliche politische Macht. Die neuen Ideen zentrierten sich nicht etwa in der Gestalt Ludwigs XV., sondern verdichteten sich in der geistigen Strahlungskraft eines Montesquieu, eines Voltaire, eines Rousseau. Audi der goüt und der esprit der Epoche wurde nicht mehr vom König und seinem H o f bestimmt. Das Koordinatensystem der ästhetischen und moralischen Konvenienzen wurde zerstört, die Langeweile als erste verbannt; der esprit, das bon mot, der trait, das geistreiche apergu, alles das war schon im 17. Jahrhundert geschätzt, aber eine neue Grazie der Aussage, die um der Aussage willen da zu sein schien, bekundete nun erst das neue Ideal heiterer Schwerelosigkeit in Kunst und Lebensführung. „Alles Göttliche läuft auf zarten Füßen", dieser ästhetische Grundgedanke Nietzsches (so formuliert in Nietzsches „Nietzsche contra Wagner") scheint wie kein anderer auf den Stil der Rέgence und des Rokoko zu passen. Die Zeit der philosophischen Traktate, die so häufig Pedanterie ausschwitzten, ist vorüber; die neue Zeit, leicht und lässig, schreitet, von andern Idealen bewegt, über die unhöflich tiefsinnige Existenzangst religiös-Pascalscher Prägung. In der Malerei hat keine Epoche so das Leichtfüßige geliebt, keine mit solcher Erfindungslust das Verschwiegene und Verhüllte ins Bild gesetzt wie dieses Jahrhundert eines Boucher und Fragonard, eines La Tour und Lancret. Es war eine Kunst raffinierter Schau-

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Stellung galanter Boudoirszenen. Das Flüchtige, Momentane wurde zur Skizze, zum Bild; das Würdevolle ihrer Erscheinung haben die Frauen selbst abgestreift; zierlich und grazil treten sie nun ins Bild; die olympische Hoheit weiblicher Dignität weicht dem Ausdruck irdischen Verlangens und Verlockens. Auf dem Bilde der „Dame mit dem Schleier" von A. Roslin scheint sich das Rokoko selbst darzustellen: Ein schwarzseidener Schleier verhüllt das halbe Gesicht und die eine Schulter; er wird von der rotbehandschuhten Hand, deren Finger spielerisch einen geschlossenen Fächer an die Lippen legen, lose in dieser Position gehalten, so daß der lächelnde Mund, das dunkle Auge und die entblößte linke Schulter den Blick auf sich ziehen. Alles atmet Verheißung, spielerische Hingabe an ein flüchtiges Glück. Aber es gab auch die andern, die Neben- und Gegenströmungen in der Malerei des 18. Jahrhunderts. Da ist vor allem Jean-Baptiste Grenze (1725—1805), der von Diderot in den Himmel der Moral und Wohlanständigkeit erhobene Maler der Bourgeoisie und ländlichen Unschuld. Als er 25 Jahre alt war, und Boucher bereits seinen Höhepunkt zu überschreiten begann, setzte die Wende zu einer neuen Naturmystik ein. Die Gesellschaft wurde der Überfeinerung müde; eine neue Generation sehnte sich nach Natur und Natürlichkeit. Rousseau kam. Sein „Emile" machte Geschichte. Die Familie wurde aufgewertet. Es wurde sogar Mode, daß die Frauen nicht nur Kinder bekamen, sondern daß sie als Mütter dieselben audi stillten. Das zuvor belächelte Ideal der tugendhaften Ehe wurde von neuem bildfähig. Je korrupter die hohe Gesellschaft war, um so mehr scheint die Sehnsucht nach der unverdorbenen Natur sich im Kunstwerk umzusetzen. Diderot, der ewig unruhvoll-umgetriebene Mensch, forderte Ehrbarkeit und Unschuld als Seelengrund der Malerei. Das sentiment hielt dem esprit die Waage. Das Jahrhundert der raison wurde auch das Jahrhundert der sensibility. Von der Sensibilität zum Sentiment und zur Sentimentalität ist der Weg nicht weit. Die Wiege des Kindes, die sorgende Mutter, der Hausvater im Kreis der Familie, das traute Heim, die Unschuld spielender Kinder, das alles wurde ins Bild gezogen und ist eine Parallele zu Diderots bürgerlich-rührseliger Dramenwelt vom „P£re de Familie" und dem „Fils naturel". Das alles ist 18. Jahrhundert: galant, spirituel, erotisch und verspielt, aber auch traulich, sentimental, moralisch und philosophisch. In den moralischen Klang der malerischen und theatralischen Themen eines Greuze und Diderot mischten sich Töne und Motive des Landlebens.

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Die Physiokraten machten um die Jahrhundertmitte das Landleben salonfähig. Das war eine ihrer Nebenwirkungen. Agrikultur wurde zum Snobismus hoher Adelskreise, die sich im allgemeinen keiner nützlichen Arbeit hingaben, aber nunmehr in einem „gouvernement iconomique d'un royaume agricole" (Titel eines Werkes von Quesnay) der Landarbeit huldigen durften. Auf den Gemälden erscheinen ländliche Requisiten: Schaufeln, Redien, Schubkarren, Pflüge. Auf geflissentlich verbreiteten Gravüren sieht man den späteren Thronfolger, Ludwig XVI., wie er „unter dem zärtlichen Blick der Landbewohner eine Furche in die angenehm beschattete Erde zieht" (Agnes Humbert, op. cit. p. 46). Die Musik steht nicht nach: Hirtenflöten und Schalmeienklang ergötzen die H ö r e r mit ländlichen Melodien, während fashionable Sängerinnen gern in Holzschuhen auf die Bühne kommen, wo Schäfer und Schäferinnen, zum Tanze geputzt, sich schmachtend ansingen und noch jede Gärtnerin aus Liebe ihren Gärtner fand. Das Traumland Arkadien ist ein Landschaflsbild des 18. Jahrhunderts. Ein Blick in das Interieur der Schlösser, der reichen Privathäuser und Villen in der Umgebung von Paris, oft rasch gebaut und „Folies" genannt — Auteuil, Passy, Chaillot, Issy, Vanves und viele andere — zeigt den Geschmack einer Gesellschaft, in der sich ein reich gewordenes Bürgertum mit dem Adel und der Künstlerwelt vermischt. Barbier beschreibt einmal in seinem Journal vom April 1760 die Wohnungseinrichtung einer großen Kurtisane, der berühmten Tänzerin M l l e Deschamps, „fille de l'Opera" und Maitresse des Herzogs von Orleans: die Anordnung der Gemächer und ihre Ausstattung an Möbeln, Spiegeln, Porzellanen, Damastbetten und Kaminen „de la dernίέre magnificence". Wir wissen noch von andern Requisiten: weißlackierte Miniaturtische, Polsterstühle mit Seidenkissen, Sekretäre und Damentische, „boites ä surprises" oder „bonheur du jour" genannt, alles aus dem neuen, feinen Material wie Rosen-, Veilchen- und Tulpenholz gearbeitet. Ganz Paris bewunderte in solchen Häusern, die, wie uns Barbier berichtet, oft nur „le fruit de la d^bauche et de la prostitution" waren, den Luxus und die Pracht der Gegenstände, aber auch den hohen Kunstverstand mit dem die Dekorateure Vasen, Blumen, Leuchter, Teppiche, Bilder, Uhren, Spiegel, Kamine und Möbel zu einem Gesamteindruck abzustimmen wußten. U n d das ist wiederum kein Wunder, bedenkt man, daß Maler vom Range eines Boucher oder Watteau sich nicht scheuten, Entwürfe f ü r Tischkarten, Geschäftspapiere, Stickereien oder Malereien f ü r Reifröcke und Kleider zu skizzieren.

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Charakteristisch f ü r das 18. Jahrhundert war sein Porzellanfieber. Von der Nippesfigur bis zu übergroßen Denkmälern verschwendeten die Porzellankünstler ihre Phantasie an Formen und Gegenstände, mit denen sie die Räume zierten. Das Phänomen tauchte auf, als im 17. Jahrhundert der Handel zwischen Europa und den Ländern des Fernen Ostens an Bedeutung gewann. Die East-India-Company Englands, die Ost-Indische Compagnie der Niederlande, die Compagnie des Indes et D u Levant Frankreichs brachten nicht nur Gewürze, Stoffe und Lackarbeiten, sondern audi das Porzellan in die europäischen Länder. Warum sollte man aber nicht audi im eigenen Lande Gleiches herstellen können? Eine Frage, die im Jahrhundert des Merkantilismus und seiner Tendenz zur aktiven Handelsbilanz verständlich ist. Porzellanerde fand sidi in Sachsen, bei Limoges in Frankreich, bei Halle und an vielen andern Gebieten von Granit und Gneisen. Alsbald wetteiferten die Porzellanmanufakturen von Meißen, Wien, Berlin, Sankt-Petersburg und Sevres. Das Interesse am Fernen Osten war geweckt. Die Künstler sahen ihn durch die Brille des Europäers: eine Welt von Mandarinen, Odalisken, türkischen Bädern, Derwischen und Pagoden, Teehäuschen, Glockenpavillons und schwebenden Bambusbrücken; und ging nicht der Zopf auf chinesischen Einfluß zurück, und auch der Pfau, der sich selbstgenießerisch und rokokohaft gebärdete; und auch der Affe wurde interessant und — vermenschlicht, als wüßte man schon von der Deszendenz unseres Menschengeschlechts, — man mag dabei an das merkwürdige Bild denken, auf dem Watteau einen Affen als Bildhauer an einer weiblichen Büste dargestellt hat. Audi die Literatur kennt den Exotismus. In China sah man ein Paradies, in der Lehre des Confucius den Gipfel einer Moralphilosophie, in der märchenhaften Schönheit der orientalischen Paläste die Überlegenheit eines kunstsinnigen Volkes über die Herrlichkeiten selbst des Vatikans. Es bildete sich eine Kunst als Evokation zauberhafter Märchenwelten, in denen das Gesetz der Schwerkraft aufgehoben scheint und alles Dargestellte die verspielte Anmut rokokohafter Schwerelosigkeit hat. In den Träumen, die manchmal Wirklichkeit wurden, konnten audi die Grenzen der sozialen Schichten fallen. War nicht einst der troisdie Prinz Paris als Schiedsrichter der Schönheit berufen, da er in dem Schönheitsstreit zwischen Hera, Athena und Aphrodite zu entscheiden hatte? Und hatte nicht Aphrodite selbst in Gestalt einer Hirtin auf dem Berge Ida den dardanischen König Anchises verführt und den Aeneas empfangen? Was bedeuteten die beiden Mythen anderes als das arkadische Ge-

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setz, dem zufolge im paradiesischen Reich der Liebe die getrennten Welten der Götter und Menschen, des königlich-aristokratischen Standes und der Hirteneinfachheit sich unter dem Zauber des Eros verschmelzen? Paris, als H i r t , gewinnt die Gattin des Königs Menelaos, und Aphrodite, die Göttin p a a r t sich mit dem König Anchises: Nicht nur der Tod macht Könige und Bettler gleich, auch die Liebe, des Todes stärkster Widerpart, zerbricht die Schranken zwischen Hoch und Nieder. Es ist interessant zu beobachten, wie gerade in Zeiten überfeinerter Spätkulturen der akadische Mythus lebendig wird. Troja verklärte die Gestalten von Paris und Anchises. Theokrit schrieb seine Idyllen f ü r die Hofgesellschaft von Syrakus und Alexandria. Vergil dichtete seine Eklogen in der städtischen Kultur des augustäischen Rom. Die italienische, spanische, portugiesische Renaissancezeit trieb die romanischen Literaturen zur Hochblüte der pastoralen Dichtung empor, und der Traum Arkadiens entfaltete sich in der Klangwelt von Lullys Opern, wie der „Acis et Galathee" bis hin zu Händeis, Rameaus, Glucks und Mozarts Opern und Singspielen; er gestaltete sich in den pastoralen Bildkompositionen bis weit über Watteau hinaus. Der arkadische Traum senkte sich in die Thematik des Balletts, inspirierte die „ s o c i ^ s d'amour" wie die „mouches ä miel", die „Calotte", die „Aphrodites" und die Watteauschen Fetes galantes. In den Liebeskomödien Marivaux* wird wie in Watteaus Bildern die Vermählung von anmutiger Erotik mit verstandgesättigter Wohlanständigkeit künstlerisches Ereignis. Er muß ein merkwürdiger Mensch gewesen sein, dieser Jean-Antoine Watteau (1684—1721). Aus einfachen Verhältnissen stammend, zu hoher Berühmtheit schon zu seinen Lebzeiten gelangt, kannte er die Gesellschaft seiner Epoche, skizzierte und malte sie und schuf mit seiner Beobachtungsgabe ein graphisches Zeitdokument, indessen er einen idyllischen Traum von Farben und Formen, den arkadischen Traum von glückseliger Liebe träumte. Ein romantischer Maler arkadischer Traumlandschaften, ein realistischer Zeichner der modischen Erscheinungen seiner Zeit, ein von der Bühnenwelt faszinierter Maler der „Italienischen Komödianten" und der „Französischen Komödianten" — das alles in einem zu sein ist der dreifache Ruhmestitel eines der größten Maler Frankreichs. Seine Größe und Seltsamkeit ist den Zeitgenossen nicht verborgen geblieben. Bei seinem zweiten Pariser Aufenthalt zieht der schon von der Tuberkulose gezeichnete junge Künstler zu dem Kunsthändler Sirois, von dem ein Zeitgenosse versicherte: „er war ein tüchtiger Kunsthändler und trotzdem ein

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rechtschaffener Mensch". (Zit. bei Maximilien Gauthier, Watteau. München, Goldmann-Verlag 1959). W i r erfahren von diesem Sirois aus dessen Brief an die Pariser Buchhändlerin Madame Josset einiges über den Maler: „. . . dieses Original, das Bilder fabriziert wie Herr Lesage Komödien und Romane, nur mit dem Unterschied, daß Herr Lesage manchmal mit seinen Büchern und Komödien zufrieden ist, während sich der arme Watteau niemals mit seinen Bildern zufrieden gibt, was nichts daran ändert, daß er einer der Malerkönige unserer Zeit ist . . . Herr Lesage hat ihm den Auftrag für zwei Pendants mit dem „Diable boiteux" gegeben, das Stück für 130 Pfund. Er hat die Hoffnung aufgegeben, sie jemals zu bekommen, denn Watteau malt nach der Phantasie und liebt Aufträge nicht. . . " (ib.)

Aber sein großer Mäzen wurde Pierre Crozat, einer der reichsten Männer der Zeit. E r und seine Freunde kauften Watteaus ganze Produktion auf. D e r Märdientraum eines Künstlers von der Unabhängigkeit eines der Malerei gewidmeten Lebens war Wirklichkeit geworden. U n d Watteau bezog das Märchenschloß des Mäzens. D a stand ihm die bedeutendste Privatsammlung zur Verfügung: alles in allem 20 0 0 0 Handzeichnungen von Botticelli und Raphael, von Michelangelo und Veronese, von Jordaens und van Dyck, von Rubens und Rembrandt, die Franzosen nicht zu zählen. Ein anderer, schwächerer, hätte vielleicht vor solcher Fülle stetiger Eindrücke für sein eigenes Werk kapituliert. Watteau, schon seit früher Zeit im Besitz des technischen Handwerks, bildete sich im Umgang mit diesen Meistern weiter aus und fand seinen Stil. Es widerfuhr ihm ein zweites Wunder: daß J e a n de Julienne, ebenfalls ein reicher Kunstsammler, Direktor einer Manufaktur und Kunstmäzen, die Summe von 4 0 0 0 0 0 Pfund stiftete, damit nach dem Tode Watteaus gesamtes W e r k in Kupfer gestochen würde. Das also begegnete einem Menschen, der früh vom Tode gezeichnet war und mit 37 Jahren sein Leben vollendete. Bei den Festen auf Crozats Schloß konnte Watteau die Gesellschaft beobachten. Ihre Bewegung lebt in den Skizzenbüchern; er malte die Kostüme, die Gesten der Schauspieler, die Arme und Handbewegungen der Flötisten und Guitarrespieler, Formen und Farben der Saiteninstrumente. D a ß er der Mode seine Aufmerksamkeit zuwandte, hat einen großen Teil seiner Bildwelt zu einem Zeitdokument gemacht: M i t der Abschaffung der hochgesteckten Fontangefrisur, die künstlich aus Drähten und Bändern einen phantastischen Turmbau über dem H a u p t errichtet hatte — das war zur Zeit Ludwigs X I V . — trat nun die natürliche F o r m des Kopfes hervor. Watteaus Bilder zeigen die neuen Frisuren: Das H a a r war in Locken gekräuselt; stellenweise aufgehellte Haarsträhnen erleuch-

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teten die Landschaft des weiblichen Kopfes. Die Frisuren erhielten, ähnlich wie die Musikstücke eines Couperin, symbolische N a m e n mit psychologischer Bedeutung wie die Melancholische, die Eigenwillige, die Zweideutige, die Verzweifelte usw. Bei den Männern überwog der fliegende Rockschoß, die helle Weste und der mit Gold und Silber bestickte Satin, welcher der beliebteste Herrenstoff war. Das Pudern gehörte zur Toilette des Mannes. Das war auch in Deutschland so. Der Graf Brühl besaß 1500 Perücken, die dauernd unter Puder gehalten wurden. „Viel f ü r einen Mann ohne Kopf", spottete Friedrich d. Gr., dem derlei femininer Tand nicht behagte. Bei der Diskussion um Watteau taucht der N a m e Mozart wie selbstverständlich auf. Es ist nicht zu leugnen, daß Blick und O h r der beiden Frühgezeichneten allem Anmutigen weit geöffnet waren. Watteau leitet das Zeitalter des Rokoko ein, Mozart schließt es ab. Den Blick eines Watteau fesselten die Eleganz einer Kopfbewegung, die expressive H a l tung eines Körpers, das Gebärdenspiel des Mimen und Tänzers. Aber es scheint, als errate er hinter den Masken und Maskenzügen der theaterfrohen und lebenshungrigen Zeit, was in der geselligen Fröhlichkeit auch an Leid und Wehmut aufklingt. Im Anblick dieser Parks, da Watteau seine Liebespaare dahinschreiten läßt, drängt sich allerdings die Erinnerung an diese oder jene Partiturseite aus Mozarts „Figaro" oder denj „Don Giovanni" auf. Mag sein, daß es nur zwei so frühgezeichneten Künstlern von höchster Sensibilität und Empfänglichkeit f ü r das Schöne des Lebens gelingen konnte, Leid und Trauer durch den beglückenden Schein des Leichten und des sich an den Augenblick verschwendenden Glücks hindurchschimmern zu lassen. Watteau und Mozart waren stetig Sterbende; Watteau ist mit 37 Jahren der Schwindsucht erlegen, Mozart mit 35; — Sinnbilder jener Epoche, die sich in ihrer beider Werk ihr eigenes Denkmal gesetzt hat. Als Gipfel von Watteaus Kunst gelten die beiden Fassungen der „Ein~ schiffung nach K y t h e r a " (1717). Die Anregung zum Thema kam dem Maler wieder aus der Theaterwelt, dem Singspiel der „Trois cousines". Wenn man von „Poesie" eines Bildes zu sprechen wagt, dann sei es hier erlaubt, wo Poesie Form und Farbe geworden ist. Die Insel der meerentstiegenen Venus zieht die Liebenden an: sie schiffen sich wie zu einem Traumland ein: der Insel der Göttin Kythereia, wie die Griechen,dem Inselnamen folgend, Aphrodite benannten . . . Insel eines verheißenen Glücks . . . Träume eines Tuberkulosekranken . . . in einem Bilde, das zu-

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gleich die Wirklichkeit des gelebten Lebens der Rigence im Zeitkostüm der Personen und den Mythos von der das Weltall durchwaltenden Kraft des Eros zum Bewußtsein bringt. Das 18. Jahrhundert hat Watteau bewundert. In der Ausstellung „Watteau et sa Generation" (Galerie Cailleux, Paris 1968) wurde die Wirkung dieses Malers sichtbar und von Marianne Roland Michel in der Einführung zum Katalog eindrucksvoll dargestellt. Ein ganzer Zeitstil, ein komplexes Zeitgefühl wurden von Watteau geprägt. Es kommen nicht nur die Maler von ihm her wie Nattier, Oudry, Lancret, Chardin, Greuze, Fragonard und so viele andere, audi in den Arbeiten der Oranamentzeichner, der Porzellanbildner, der Kunstsdireiner lebt sein Geist weiter. Mit dem Einbruch der Revolution, die dem Rokoko und dem Ancien Regime ein Ende bereitete, ging auch der Wertmaßstab für Watteaus Kunst, die nur in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts denkbar war, verloren. Erst Delacroix bekannte wieder: „Ich war überwältigt von der bewundernswerten Kunstfähigkeit dieser Malerei." (Tagebuch 3. April 1847). Dann huldigten Baudelaire und Gautier dem Maler, die Brüder Goncourt, Kenner und Bewunderer des 18. Jahrhunderts, verehrten ihn, indessen Verlaines „ Fetes Galantes" das Erlebnis der Watteauschen Ausstellung in Paris widerspiegeln. In unserm Jahrhundert haben wohl Marcel Proust und Paul Claudel unter den Schriftstellern die tiefsten Eindrücke von Watteau empfangen und die schönsten Seiten über ihn geschrieben.

Vom Geist der französischen Musik 1. Seit der Schriftsteller Romain Rolland, der Komponist Debussy und die Musikhistoriker der Gegenwart Wert und Bedeutung der französischen Musik des 18. Jahrhunderts uns Menschen des 20. bewußt gemacht haben, darf diese Kunst so wenig aus dem Gesamtbild der französischen Kultur der Aufklärungszeit ausgeklammert werden wie ihre Malerei oder Theaterkultur. Es ist verständlich, daß im Bewußtsein der Deutschen die französische Musik des 18. Jahrhunderts nicht die Bedeutung erlangte, welche die musikalische Welt den drei Großen: Bach — Gluck — Mozart und den mit ihnen und um sie wirkenden Musikern zuerkennt. Gewiß: Was diese drei für die deutsche Kultur, die eine eminent musikalische war, bedeuten, das wäre für Frankreich, eine eminent literarische Nation, die Parallele Voltaire — Rousseau — Diderot. Das sind

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vergleichbare Größenordnungen. Dennoch darf nicht verkannt werden, daß die Linie Lully — Couperin — Rameau, mit einem Wort die „klassische Musik" im Zeitraum der drei Ludwige, eine hervorragende kulturelle Leistung darstellt, wobei wir auch an die symphonische Musik, die sakrale Musik von Dumont bis Lalande, an die Ballett- und Hofmusik, die Lautisten, Organisten und Violinisten zu denken haben. Von Lully haben wir gesprochen. Er galt lange als unantastbar. Aber die neue Zeit verwandelte schließlich auch den von ihm geprägten Stil. Wie auf Ludwig X I V . und das Barock ein Philipp von O r g a n s und das Rokoko folgten, so auf Lully ein C a m p r a und Couperin. An der Schwelle des neuen Jahrhunderts erschien Campras „L'Europe galante" (1697). Dieser Halbitaliener aus Aix-en-Provence, Organist in Toulouse, Toulon, Arles und an N o t r e D a m e in Paris, komponierte mit der „Galanten Europa" ein f ü r einen Organisten ungewöhnlich kirchenfremdes Werk, weswegen er es auch vorzog, dieses Opus lieber unter dem N a m e n seines Bruders Joseph über die Bretter gehen zu lassen. Was würde sonst der H e r r Erzbischof sagen oder gar tun! Darauf die boshafte A n t w o r t eines geistvollen Neiders: Quand notre archeveque saura L'auteur du nouvel opera, Alors Campra decampera. Alleluia!

Aber der Erzbischof sagte garnichts, und die „Europe galante" wurde eine der beliebtesten Opern des 18. Jahrhunderts. Anstelle von Quinault, dem „garfon-poete" Lullys (so nannte ihn Voltaire, der Quinault sehr verehrte und mit diesem Ausdruck die Tyrannei Lullys, der den Dichter nur zu poetischen Zubringerdiensten erniedrigt hätte, charakterisieren wollte), trat H o u d a r d de la Motte und schrieb das Textbuch, ohne sich um die klassischen Regeln der Szenenverknüpfung zu kümmern. Die neue, aufgelockerte Form aber gefiel. Ein neuer Weg war beschritten, und schon die Operntitel der folgenden Werke weisen auf den Geist einer neuen Zeit: ,,νέηΜ", „Le Carnaval de V^nus", „Arethuse ou la Vengeance de l'Amour" . . . alles große Erfolge. Die „Fetes Venitiennes" (1710) erlebten sogar 70 Aufführungen hintereinander. Die Sensualität des italienischen bei canto und der Instrumentalklänge t r a t in ihre Rechte. Das Orchester diente nicht mehr nur als Begleiter, sondern eroberte sich seine Selbständigkeit. 2. Musikalischer H ö h e p u n k t der französischen Rokokokultur

war

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Francois Couperin (1668—1733). Aus der weitverzweigten Musikerfamilie der Couperins stammend, bekleidete Franjois die Stellung eines Hofcembalisten und wurde von Ludwigs XIV. auf Grund seines Vorspiels persönlich zum Organisten der kgl. Privatkapelle ausgewählt. Er war 12 Jahre lang Lehrer des Dauphin und Maitre de clavecin der Enfants de France. Die Enfants de France sind die legitimen Kinder und Enkel des regierenden Königs. Zwar verleugnete auch Couperin den großen Lully nicht, aber wer ihn faszinierte, war Corelli (1653—1713). Die Anhängerschaft der Italiener wagte sich nach dem Tode Lullys (1687) stärker hervor. Es ist kulturgeschichtlich interessant, daß sich der junge Couperin, um die Anerkennung des Pariser Publikums zu erlangen, zunächst als Italiener ausgegeben hat. Darüber berichtet er in amüsanter Weise: „Die erste Sonate vorliegender Sammlung war audi die erste, die ich komponiert habe und die überhaupt in Frankreich komponiert worden ist. Ich war verzaubert von den Sonaten des Signor Corelli, dessen Werke ich mein ganzes Leben lang lieben werde so wie die französischen Werke des Monsieur Lully, und ich wagte mich nun daran, selbst eine Sonate zu komponieren . . . Mittels einer kleinen Lüge tat ich mir nun einen großen Dienst. Ich gab nämlidi vor, ein Verwandter von mir, der tatsächlich in der Umgebung des Königs von Sardinien lebte, habe mir eine Sonate eines neuen italienischen Autors zugeschickt: Ich ordnete nun die Buchstaben meines Namens dergestalt an, daß das Ganze einen italienischen Namen bildete . . . Mein italienischer Name verhalf mir in dieser Verkleidung zu einem großen Applaus . . ( P r e f a c e des CEuvres de Jeunesse, 1726)

Couperins charakteristische Leistung war die Synthese Lullyscher und Corellischer Musik, also die Vereinigung des italienischen mit dem französischen Geschmack. Daraus entstand der neue, unverkennbare Stil Couperins. Das Stelzenhafte der punktierten Rhythmik des feierlichen LullyStils wich einer schwebenden Leichtigkeit. Die Steifheit lockerte sich ins Zierliche, Spielerische auf. Die Musik spiegelte in ihrer Formensprache wider, was wir in der Malerei und dem Lebensstil der damaligen Aristokratie beobachtet haben. Mit Couperin vollzieht sich der Umwandlungsprozeß zum musikalischen „style rocaille", d. h. zu einer federnd-leichten, spirituellen Schreibart. Charakteristisch ist die Wiederholungstechnik. Mit ihrer Hilfe gliedert Couperin die barocke Ausspinnungsmelodik in kleine Unterteile, die in Gruppensymmetrien zusammengefaßt sind (La Nanette, Les Canaries). Oder er zwingt die lineare Bewegung in akkordliche Bindungen. Wir be-

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gegnen ihnen häufig in der Form homophoner Begleitung mit gebrochenen Akkorden (La Pateline). Häufig umschmeichelt die melodische Phase den strengen Kontrapunkt. Das alles ist mit großer Geschicklichkeit gemacht. Die Stücke laufen wie Uhrwerke ab, ein wenig trocken und mechanisch. Dennoch liegt ein Zauber über dieser intellektuellen Musik. Sie strahlt ein funkelndes Licht aus — vielleicht eine Wirkung der neuartigen und kühnen Akkorde, die Couperin in seiner „Rigle d'accompagnement" die „dissonances chromatiques" nennt. Mit all dem entwickelte er einen preziösen Stil, der uns vielleicht weniger ansprechen würde, wären in ihm nicht auch einige volkstümliche Elemente alter französischer Tanzformen wie des rondeau, der gigue, der pavane, der sarabande oder der chaconne eingeschmolzen. Wir sind mit Couperin aber auch im Lande der Märchen und in den Parks der königlichen Feste. Er weiß die Musik in jene zarte Melancholie zu tauchen, mit der Watteau seine „Fetes galantes" zu tönen wußte. Wer Watteau liebt, wird audi Couperin gern lauschen. Eignet indessen dem Hörer mehr der Sinn für das Geistvoll-Karikaturale, wird er die Clownerien der „Μέnestrandie" genießen. Liebt er die „Bilder" jener Zeit, mag er sich den „Satyre d^vre-pied", die „Vergers fleuris", die „Guirlandes" anhören: rokokohaft verschnörkelte musikalische Naturbilder französischer Parks, aus deren Blumen, Büschen, Bäumen eine Musik der Schmetterlinge, Bienen, Nachtigallen und Kuckucks erklingt. Das sind musikalische Miniaturen von realistisch-pittoreskem Charakter. Im Zusammenhang aber mit der beliebten literarischen Porträtkunst der Franzosen stehen die „psychologischen" Porträts: „La Diligente", „La Τέηέ^ευββ", „La Voluptueuse", „L'Evapor£e" und andere „Temperamente" — musikalische Spielereien, die durchaus nichts mit Psychologie oder psychologisierender Musik zu tun haben, sondern einfach Musik sind, auswechselbare Titel stets geistvoller Kompositionen, über deren Oberfläche ein Hauch galanter Poesie dahinhuscht. Wie sich Couperin am Anfang zu Lully und Corelli bekannte, so setzte er beiden am Ende seines Lebens das Denkmal seiner Triosonate und das Instrumentalkonzert „Le Parnasse ou Γ Apotheose de Corelli". Das ist die berühmte „Grande Sonate en trio et Concert instrumental sous le titre d'Apotl^ose compose ä la memoire immortelle de l'incomparable Monsieur de Lully". Dem Komponisten selbst wurde der Ehrentitel „Couperin le Grand" zuteil. Er war der größte Musiker der kleinen Formen, der Meister der dekorativ-pittoresken Clavecin-Musik, einer eminent

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aristokratischen Kunst von intellektueller Klarheit und rokokohafter Eleganz. Seit Brahms, der eine Gesamtausgabe der Couperinschen K l a vierstücke besorgte (hrsg. in den „Denkmälern der Tonkunst") und seit den Impressionisten der Malerei und Musik des 19. Jahrhunderts ist sein Ruhm wieder gestiegen. Maurice Ravel hat ihm das Denkmal unserer Zeit in seiner Suite „Le Tombeau de Couperin" (1917) gesetzt. 3. Als Frankreichs größter Musiker im 18. Jahrhundert galt und gilt der 15 Jahre jüngere Jean Philippe Rameau (1683—1764), der Altersgenosse Bachs, Händeis und Scarlattis. Sein Leben war von Erfolgen begleitet, aber im Grunde ein einziger Opfergang. E r wurde Opfer seiner Gegner, die einst seine Freunde waren: Grimm, Diderot, Rousseau. Sein Stern sank, als der Glucks in den Zenith stieg. E r war unfähig, in der Atmosphäre der Feindschaft und im Intrigenspiel der Welt seine Musik und seine Harmonielehre beim Publikum gegenüber der italienischen Opera buffa und der sentimentalen Opera comique durchzusetzen. Als lullystisdier Reaktionär verschrieen, noch bevor die Zeitgenossen merkten, welch kühner Neuerer er war, wurde seine Musik später von den politischen Revolutionären von 1789 wegen ihres aristokratischen Habitus zum Schweigen gebracht. So wurde er dreifach geopfert: ein Opfer der Seichtheit des Publikumsgeschmacks, ein Opfer der Intrigen einiger Enzyklopädisten, und ein Opfer des Fanatismus politischer Revolutionäre. E r war ein genialer, tragischer Mensch und Künstler, dessen Reizbarkeit und Agressionslust freilich das ihrige taten, damit er sich mit der Welt überwarf. So stellt man ihn gern hin. Bedenkt man aber, daß auf seiner Seite der König und die Gegner der italienischen Oper standen, und daß er zuweilen erstaunliche Erfolge beim Publikum erzielte, erscheint seine Tragik in milderem Lichte. Voltaire nannte ihn „notre Euclide-Orpl^e", womit er sagen wollte, daß Rameau ein mathematisch orientierter Musiker und ein musikalisch gebildeter Mathematiker war. Das trifft genau die Sachlage, wie der andere Ehrentitel, den man ihm gab: „le Newton des sons". Will man ihm gerecht werden, muß man beide Seiten beleuchten. Die Brennpunkte seiner Lebens- und Schaffensellipse sind das mathematische und künstlerische Interesse. 1722 schrieb er, fast 40jährig, seinen „ T r a i t i de l'Harmonie reduite a ses principes naturels". Erst als 50jähriger komponierte er seine erste Oper. Zuvor saß er auf den Orgelbänken von Avignon, Clermond-Ferrand, Paris und Dijon, wo er geboren ward. Die Musik war für ihn „une

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science physique-matl^matique dont le son est l'objet et dont les rapports existant entre les differents sons font l'objet de la science mathematique". In der „Demonstration des Principes de l'Harmonie" zeigt er die Funktionsbedeutung der Akkorde auf und begründete eine Harmonielehre, deren Ausbau bis zu H u g o Riemann fortgeführt wurde. Im Anschluß an Rameau ließ sich eine Funktionslehre entwickeln, die den Bestand an Harmonien auf die 3 Grundformen der Tonika, Dominante und Subdominante zurückführt. In jedem Musiker lebt der N a m e Rameau fort; denn jeder Klavierspieler kennt dessen „sixte ajoutee" den Subdominant-Quint-Sextakkord (also in C - d u r : f a c d ) . Rameau war von der Idee der Harmonie und dem Willen, ihre wissenschaftlichen Gesetze aufzuspüren, so besessen, daß er die Melodie der Harmonie opferte: „C'est l'harmonie qui nous guide, et non la m^lodie." Für ihn war also nicht das horizontale, sondern das vertikale H ö r e n entscheidend. Sein Leben über wird er an der Durcharbeitung und Erläuterung seiner Harmonielehre arbeiten. Das eigene kompositorische Oeuvre galt ihm mehr oder weniger als Illustration seiner Theorien. Wir finden sie außer dem T r a k t a t über die Harmonie in dem „Nouveau Systeme de Musique theorique", in der „Dissertation sur les differentes Methodes d'accompagnement pour le clavecin ou pour l'orgue" und in den „Observations sur notre instinct pour la Musique et son Principe". Also hatte seine Musik — soviel sie auch zum Divertissement des Königs oder der Gesellschaft mit ihren „Naturbildern": Gewitterszenen, Seestürmen, Waldszenen, seinen Balletten und Ballettopern beitragen mochte — grundsätzlich keine Tendenz zum Spielerischen und Genüßlichen, sondern dieser Anatom der Musik richtete gewissermaßen sein wissenschaftliches Interesse auf das innere Getriebe der Tonkunst. Er durchröntgte sozusagen ihr Knochengerüst, f ü h r t uns ihr Nervensystem vor Augen, erklärt das Funktionieren des Klangkörpers („corps sonore") der Akkorde und Intervalle, worüber die „Philosophen" dann 20 Jahre lang diskutierten und weswegen d'Alembert schreiben konnte: „Cette Λέβε est du ressort des philosophes. Peut-etre meme sont-ils les seuls qui la possedent." ^ έ ί ΐ β χ ϊ ο η β sur la musique en general et la musique franjaise en pamculier). Dieser Satz ist der Schlüssel zu dem traurigen Kapitel des Zwistes zwischen Rameau und den Enzyklopädisten und dem tragi-komischen Zwischenakt des Buffonistenstreites, der sich in Paris zu einem wahrhaften Bürgerkrieg entfadite. Rousseau und die Enzyklopädisten selbst waren

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zunächst Bewunderer Rameaus und der französischen Musik. Wie kam es, daß innerhalb weniger Jahre von Rousseau selbst und seiner Anhängerschaft erklärt wurde, daß die Nation Rameaus keinen Musiker hervorbringen und keine gute Musik machen könne? — daß sich die Gesellschaft von Paris in die Anhänger der italienischen und die der französischen Musik spaltete? Rameau hatte Rousseau beleidigt, indem er ihm die musikalische Befähigung absprach . . . „il ne savait meme pas la musique"; er hatte sich geweigert, die Partitur des Opira-Ballet der „Muses galantes" Rousseaus zu lesen. Diese Brüskierung zog verhängnisvolle Folgen nach sich: Als die Aufführung der „Serva Padrona" Pergolesis den Aufstand der Parteien entfesselte, bildete sich die der italienischen Musik huldigende Gemeinschaft der Enzyklopädisten; gegen sie kam der ungeschickte, im Grunde immer ehrliche Rameau nicht an. Rousseau war die Mode des Tages; er war der Verfasser des Musikbeitrages in der Enzyklopädie, griff Rameau in seiner „Lettre sur la Musique franjaise" an und komponierte selbst in dem gefällig-schmeichelnden Stil der Italiener. Die Saat Campras ging jetzt auf. Schon 1702 war der Streit um den französischen und italienischen Musikstil ausgebrochen. Raquenet hatte gerade „Parallele des Italiens et des Franjais" geschrieben, worauf Le Cerf de la νίένίΐΐε mit mit seiner „Comparaison de la musique italienne et de la musique franjaise" antwortete. Vierzig Jahre später schrieb Saint-Mard in den „Reflexions sur l'Opira" 1741: „Nur die annehmlichen Stoffe finde ich für die Oper gut; sie erregen in uns ein zärtliches Mitleid, versetzen uns in süße Wehmut und hauchen der Seele Anmut ein." Das war aber garnicht Rameaus Sache, und der nun auflebenden Süßlichkeit sentimentaler Musik und dem Geschmack an der italienischen Buffonerie setzte er den rationalen Ernst seiner Tragedies lyriqu.es entgegen. Seine Opern waren seine „Unzeitgemäßen", so sehr man die eine oder andere zeitweilig bewunderte. Voltaire, der Theaterenthusiast, arbeitete sogar mit ihm an dem Textbuch zu einem „Samson" zusammen, der aber nie zur Aufführung gelangte. Köstlich übrigens, wie Voltaire, den man eines Tages nach seiner Meinung im französisch-italienischen Musikstreit fragte: £tes-vous pour la France ou pour l'Italie?, die schlagfertig-überlegene Antwort gab: Je suis pour mon plaisir, Messieurs. Wenn die Musik dem Ohr schmeicheln sollte, dann wollte Rameau lieber keine mehr schreiben. Dennoch tat er es bis an sein Lebensende. Sein erstes Bühnenstück, die Tragedie-Ballet „Hippolyte et Aricie" (1733) — ein euripideisch-racinesches Thema — befremdete das Publikum. Wie sollte

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es, geschult und eingenommen f ü r Racines Meisterwerk, einem Musikdrama Verständnis entgegenbringen, das seinen eigenen, autonomen Gesetzen folgte? — 1735 ging eines der berühmtesten Bühnenwerke Rameaus: das Ballet-heroique „Les Indes galantes" über die Bühne. Das in vier „Entr£es" gegliederte Ballett ist von einer dramatischen H a n d l u n g umschlossen, deren Eigenart es gemäß der Gattung des Ballettes ist, die Aktionen sich jeweils in Tanzszenen und in Pantomimik entfalten zu lassen. Der tragische Inhalt entwickelt sich in klassischer Linienführung: Die Peruanerin Phani wird von dem Inka-Chef Huascar (der wirkliche historische N a m e des letzten Inka) geliebt, aber liebt selbst den schönen Conquistador Carlos. Sie planen, anläßlich des Sonnenfestes, da sich alles Volk zur religiösen Feier zusammenfindet, die Feinde des Eroberers zu vernichten, damit ihrer Vermählung nichts mehr im Wege stehe. Chöre, Arien, Rezitative, symphonische Passagen, Erdbeben und Vulkanausbrüche, alles steht in der musikalischen und pantomimischen Struktur der Tragödie an seinem Platz und erzeugt lebendigstes Leben. In unserm J a h r hundert hat das Werk seine Auferstehung in der Op£ra de Paris gefeiert. Wieder 2 Jahre später, und Rameaus „Castor und Pollux", das Meisterwerk seiner trag^dies-lyriques, wird aufgeführt. Die Oper hat den vereinfachten Mythus der Dioskuren zum Inhalt. Als Kastor im K a m p f e fiel, bat sein Zwillingsbruder Pollux aus Liebe zu seinem Bruder den Vater Zeus, er möge den Gefallenen wieder ins Leben zurückrufen. Beide aber begehren Tela'fre, die Tochter der Sonne. In der rivalisierenden Liebe liegt die tragische Spannung. Zeus gewährt Pollux die Bitte, aber unter der Bedingung, daß er seine Stelle in den Champs Elys^es, den eleusinischen Gefilden, einnehmen würde. Pollux durchbricht den Feuerkreis der höllischen Geister und findet seinen Bruder Kastor. Kastor aber weist das brüderliche O p f e r von sich und spricht nur die eine Bitte aus, die geliebte Tela'ire noch einmal zu sehen. Von soviel Liebe und Selbstverzicht bewegt, gewährt Zeus beiden die Unsterblichkeit — und versetzt sie an den Himmel, wo wir sie heute als Sternbild des Kastor und Pollux sehen. Das Finale der Oper — la fete de l'univers — gehört sicher zu den großartigsten Seiten, die Rameau je f ü r die Bühne geschrieben hat. 254 Aufführungen in den fast 50 Jahren von 1737—1785 künden von der Beliebtheit dieses Werkes. — Wiederum 2 Jahre später folgte „Dardanus" (1739), eine tragέdie lyrique, dessen 1744 umgearbeitete Partiturseiten des Aktes I I I , IV, V ein Kenner Rameaus wie Paul-Marie Masson als die menschlich tiefsten Akzente der gesamten Rameau-Produktion bezeich-

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nete. Zehn Jahre später erschien der „Zoroastre" (1749), in dem d'Alembert zu hören meinte „ce que Rameau a fait de plus beau". Wenn Rameau seine eigene Musik im wesentlichen als Illustration seiner Thesen deutete, so hat er doch selbst die Grenzen gesehen, wo, wenn ich so sagen darf, die Grammatik der Musik aufhört und die Poesie der Musik beginnt. Zwei Begriffe treten in seinen Äußerungen hervor: Genie und Geschmack. Ohne sie wird kein Musiker Vollkommenes hervorbringen: „II y a certaines perfections qui dependent du genie et du goüt, auxquels l'experience est encore plus avantageuse que la science meme."

So ist es logisch, wenn er erklärt, daß man „als praktischer Musiker Ausgezeichnetes leisten kann, ohne die Theorie zu kennen" — und: „Ohne eine gewisse uns eingeborene Empfindsamkeit für Harmonie wird man niemals ein vollkommener Musiker sein." Zusammengefaßt: „La connaissance ne suffit pas pour la perfection, si le bon gout ne vient a son secours." Richter des musikalischen Geschmacks ist aber nicht die Raison, sondern das Gehör: „Nur das Ohr kann hier entscheiden . . . und der Verstand hat hier nur insofern Autorität, als er sich mit dem Ohr verbindet." Der Geschmack selbst aber wird „mehr durch das Lesen und Hören musikalischer Werke: Opern und anderer guter Kompositionen, gebildet als durch die Regeln". So bekannte sich dieser komponierende Euklid zur Suprematie des schöpferischen Genies über die raison der Tabulatur: „Während des Komponierens ist nicht die Zeit gekommen, sich der Regeln zu erinnern, die unsern Genius in Fesseln schlagen könnten." Rameau ist ein tragisches Paradox des 18. Jahrhunderts. Denn diese seine Zeit, die so raisonnabel wie sensibel war, hätte ihn wie keine andere verstehen müssen. Aber sie ist einem ihrer besten Söhne zwar nicht die Anerkennung, wohl aber die Liebe schuldig geblieben. Es bewegt uns, wenn wir Rameaus „Erreurs sur la Musique dans l'Encyclopedie" lesen: .„ . . en m'honorant des titres ά'Artiste ce lehre et de Musicien, vous voulez me ravir celui qui n'est dü qu'ä moi seul dans mon Art, puisque j'en ai forme le premier une science demontree..." (Wenn ihr mich mit Titeln wie „berühmter Künstler" und „Musiker" ehrt, wollt ihr mir just den Titel vorenthalten, der in meiner Kunst einzig mir zukommt, da ich als erster [aus der Musik] eine beweisbare Wissenschaft gemacht habe.) Der Newton der Töne, seinerseits eitel und verletzbar, fühlte sich nicht genug und nicht an richtiger Stelle geehrt. Ein ganzes Jahrhundert lasteten die Schmähungen der Enzyklopädisten auf seinem Werk. Er hat für

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alle, die „gelehrte" Musik schreiben, bezahlen müssen. Seine Rehabilitierung begann erst mit Vincent d ' I n d y u n d Saint-Saens. Debussy, D u k a s u n d R a v e l haben sie beendet. Darius M i l h a u d evoziert in der Reihe der großen französischen Musiker die T r a d i t i o n R a m e a u , Berlioz, Bizet, C h a brier, Debussy, denen allen er sich selbst verpflichtet f ü h l t . Die Musikwelt des 20. J a h r h u n d e r t s l ä ß t ihm Gerechtigkeit w i d e r f a h r e n . D a v o n zeugen die A u f f ü h r u n g e n der „Indes galantes" in Versailles u n d der „ P l a t t e ou J u n o n jalouse" auf dem Musikfest in Aix 1957. H a t t e R a m e a u seine eigene Bedeutung f ü r die Z u k u n f t geahnt? W i r sprachen schon v o n H u g o R i e m a n n ; hören wir R a m e a u selbst: „ J ' a i f r a y ä en u n m o t bien des routes qui p o u r r o n t mener loin ceux qui v o u d r o n t les suivre." Einer seiner besten Kenner, Paul-Marie Masson f a ß t seine Bedeutung in dem Urteil zusammen: „Rameaus Werk ist eine der gewaltigsten Leistungen, die je vollbracht wurden: Intelligenz mit Musik zu vereinigen, ohne daß je die Emotion geopfert wurde, principe et fin de toute creation musicale . . . Er ist unbestreitbar eins der größten musikalischen Genies unserer abendländischen Kultur." (L'Opera de Rameau, Paris 1930)

4. D a s sensationelle Ereignis der französischen Musikwelt des 18. J a h r h u n d e r t s w a r die Eroberung von Paris durch den deutschen Musiker Christoph Willibald Gluck im J a h r e 1774. Auf den Brettern der O p e r zu siegen mit einem durchaus nicht folgsamen Ensemble von Sängern, Sängerinnen u n d Orchesterspielern w a r schwieriger als in der intimen Sphäre eines Salons zu brillieren. D a s Pariser P u b l i k u m des 18. J a h r h u n derts geriet in leidenschaftliche Erregung, sobald es sich u m eine O p e r h a n delte. D a v o n w u ß t e R a m e a u u n d der ihm folgte. Jedes neue Stück w u r d e zur Beute der Diskutierwut, w u r d e zerrissen oder in den H i m m e l gehoben. D e r H o f u n d die Aristokratie, ein Teil des Bürgertums, die Schriftsteller, die „Philosophen", die Intellektuellen aller A r t u n d natürlich die Künstler selbst w a r e n von der O p e r n w u t gepackt u n d diskutierten, zumeist von Sachkenntnis unbelastet, über jede neue A u f f ü h r u n g , als handele es sich um ein weltpolitisches Ereignis. N u n aber w a r in den 10 J a h r e n , die Glucks Erscheinen in Paris (1774) von dem Todesjahr des letzten großen französischen Meisters der Oper, R a m e a u (1764), trennten, auf der Bühne nichts Nennenswertes geschehen, es sei denn, d a ß w i r Monsignys „Aline" (1766) oder Philidors „Ermelinde" (1767) oder Floquets „ L ' U n i o n de 1'Amour et des A r t s " (1773) erwähnen wollen. Wie stand es mit der Oper, als Gluck nach Paris kam? D e r Geschmack

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des Publikums war nicht einheitlich. Schon in Lecerf de la Vievilles „Comparaison de la Musique italienne et de la Musique franjaise" (1704) wird der Gegensatz deutlich: Die einen beklagen den neuen, italienischen Geschmack als zu raffiniert und sehen in der Entwicklung ein Zeichen der Dekadenz; die andern kritisieren das ewige Streben nach simplicite und begrüßen „das Prinzip der angenehmen Abwechslung wie das eines differenzierten Ausdrucks der großen Leidenschaften nach dem Vorbild der Italiener". Vierzig Jahre danach war der Höhepunkt des style rocaille auch in der Musik erreicht. Campra und sein Mitarbeiter Andri-Cardinal Destouches (1662—1749) hatten die französische Oper „italianisiert", und ihre Pastoral-Opern hatten das Pathos der Lullysdien Oper aufgeweicht. Der „Italianismus" war der Sammelbegriff für alles, was den „neuen Geschmack" charakterisierte: gaukelnde Bilder einer imaginären Naturseligkeit; Musik von schleichelnder Sinnenfreudigkeit; Schäfermaskeraden, in deren Schutz man getrost dem Rousseauschen Gedanken der Gleichheit aller Menschen nachträumen konnte . . . Schon in Titeln wie „Les Plaisirs de 1'Amour et de lΈgalitέ" (Opernballet von 1748) scheinen Watteausche Farbtöne sich in den wohlklingenden Terzen der Schäferchöre aufzulösen, und Couperins Naturbilder zieren im Verlauf der weiteren Entwicklung ganze Passagen der Rokoko-Opern mit ihren Vogelstimmen, ihrem Quellenrauschen, ihren Echospielen. Dann schuf Rameau sein Opernwerk. Der „Hippolyte et Aricie" von 1733 erschütterte die Lullyanhänger durch seine neue, eigenartige Tonsprache, die audi schon über Campra hinauswies. Nach dem „Dardanus" zog sich Rameau von der Bühne zurück, um Jahre danach mit dem Gelegenheitsstück der „Princesse de Navarre" (1745), die er in Zusammenarbeit mit Voltaire schrieb, in die Oper zurückzukehren. So dramatische Musik aber Rameau in einzelnen Szenen geschrieben hatte, ihm fehlte die literarische Kultur des großen Dramatikers, der die Szenenfolge zu einem geschlossenen musikdramatischen Gebilde hätte formen können. Aber der Boden war vorbereitet. Wollte die Oper auf ihre Weise die Höhe Racinescher Tragödienkunst erreichen, dann konnte es in Frankreich, wo die Werte des „Theatre lyrique" zumeist literarisch gemessen wurden, nur durch einen Musikdramatiker geschehen, der Ton und Text gleichermaßen dem Drama dienstbar machte. Gluck kam und sah und siegte. Er besaß eine klare Vorstellung von dem, was er in Paris wollte und was das Publikum erwartete. Er war ein genialer Theatermann mit großen Erfolgen und weltweiter Praxis. Er

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kam im rechten Augenblick. Seine italienische Periode hatte er hinter sich. In London konnte er freilich nicht reüssieren. Wien, wo er einst MariaTheresia unterrichtet und später zusammen mit Calzabigi seine Reformen durchdacht hatte, war das Sprungbrett nach Paris. Er hatte e i η Ziel vor Augen, f ü r seine musikdramatischen Werke die französischen „Philosophen" zu gewinnen; denn diese waren die Avant-garde Europas. Über sie würde er auch das Pariser Publikum erreichen, ein zwar kapriziöses und diffiziles, aber audi ein kritisches und anspruchsvolles Publikum, das literarisch gebildet war und schon oft über Erfolg oder Mißerfolg einer Oper entschieden hatte. Er mußte sich ferner den Zutritt zur Academie royale de Musique verschaffen und Zeugnis davon ablegen, daß er, ein Deutscher, in der Lage war, eine „tragedie lyrique" in französischer Sprache zu komponieren, ein Werk, das so beschaffen sein mußte, daß es den Erfordernissen der klassisch-französischen Dramaturgie gerecht wurde und gleichzeitig das Publikum durch die Empfindungsart der schon praeromantisch affizierten Zeit einnehmen sollte. Gluck ließ das Terrain sondieren. Alle Hebel der Diplomatie und Propaganda setzte er in Bewegung. Man sprach bereits in den Gazetten, Broschüren, Briefen von diesem berühmten Deutschen. Schon in Wien k n ü p f t e er Beziehungen mit dem französischen Botschaftssekretär D u Roullet an und ließ sich von ihm ein Textbuch zur „Iphigenie en Aulide" dichten. Er komponierte Stücke auf Texte von Favart, Lesage, Sedaine, Dancourt. Du Roullet verwandte sich um so lieber f ü r seinen Komponisten; er schrieb einen Brief an die Academie royale, in dem er Glucks europäische Berühmtheit pries und durchblicken ließ, wie interessant es f ü r die Franzosen sein müßte, in ihm einen Musikdramatiker zu gewinnen, der mit allen Feinheiten der französischen Prosodie vertraut wäre und also der N a t i o n zum Ruhme französische Opern komponieren werde. Mußte es dem Nationalgefühl der Franzosen nicht schmeicheln, daß Gluck zu der Erkenntnis gelangt sei „que les Italiens s'etaient ^cartes de la veritable route dans leurs compositions theatrales, que le genre f r a n j a i s itait le ν έ π table genre dramatique m u s i c a l e . . . " Zu dieser Erkenntnis sei Gluck „durch eine reflektierende Lektüre der Alten und der Modernen und durch ein tiefes Nachdenken über seine Kunst" gelangt. Es mußte den Franzosen imponieren, d a ß Gluck — wie wir es aus Corancez' Brief im Journal de Paris (1788) erfahren — ein Kenner Corneilles, Racines, Lafontaines, Montaignes war und lange Tiraden aus deren Werken auswendig wußte. 1774 war das J a h r seines Einzugs in Paris und

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der Aufführung der „Iphigenie en Aulide". Ein bedeutsames Jahr. Am 1. April fand in Wien die Premiere des „Orfano della China" von Gluck und Angiolini statt; am 19. April die Premiere der aulischen Iphigenie in Paris von Gluck und Du Roullet; am 10. Mai starb Ludwig XV.; am 21. Juli führt Gluck vor der kgl. Familie in Marly den „ Orpine et Eurydice" auf, am 2. August fand die erste Aufführung dieser Oper in Paris statt; am 18. Oktober wird Gluck zum Komponisten des kaiserlichen Hofes in Wien ernannt, er reist nach Wien und kehrt im Dezember nach Paris zurück. Glucks gründliche Regiearbeit, die großartige Besetzung der Rollen mit Sophie Arnould als Iphigenie, Larrivee als Agamemnon, Le Gros als Achill, M me Duplan als Klytemnästra und der Tänzerin Vestris führte das Werk bei der zweiten Aufführung zu einem Riesenerfolg. Schon während der Proben spürte man die Erregung: Was verlangte dieser Deutsche nicht alles von seinen Sängern und Sängerinnen, dem Chor, dem Orchester! Das war unerhört. Aber jeder auf der Bühne beugte sich der souveränen Regie dieses ungewöhnlichen Mannes und dem harten Zugriff seiner dramaturgischen Intelligenz. Man lese, was die Goncourt darüber zu berichten wissen. Lange vor der Premiere war die Oper belagert; der Zwischenhandel mit den Eintrittskarten erzielte Höchstpreise. In den Salons, in den Caf£s, in den literarischen Zirkeln stieg der Meinungsstreit auf den Siedepunkt. „On se divise, on s'attaque comme s'il s'agissait d'une affaire de religion", berichtet Marie-Antoinette ihrer Schwester Christine nach Wien. Und man muß Grimms Correspondance litteraire lesen, das Journal de Framery, die Briefe der Madame de Lespinase und die Memoiren der Madame de Genlis, und vor allem des Abbe Leblond „Memoires pour servir ä l'histoire de la revolution oper^e dans la musique par Μ. le Chevalier Gluck" (Neapel und Paris 1781) . . . man muß das alles einsehen, um sich ein Bild davon zu machen, welchen Wirbel Gluck heraufbeschworen hat: den Kampf der Gluckisten und Piccinisten — ein neuer Bürgerkrieg nach dem vorgängigen um die Buffonisten. Denn Glucks Gegner erhoben sich auf einer neuen Welle des „Italianismus" in dem noch immer unausgetragenen Kampf innerhalb der Oper zwischen einer Musik, die sensualistischer Genuß sein will, und einer Musik, die von dramatischem Gestaltungswillen getragen ist. Glucks Reformgedanken sind leicht verständlich. Er hat sie des öfteren in Schriften und Unterhaltungen dargelegt. Viel zitiert ist die Zueignung

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seiner „Alceste" an den Großherzog der Toscana, den späteren Kaiser Leopold II. Dort heißt es: „ . . . es war meine Absicht, alle jene Mißbräudie, welche die falsch angebrachte Eitelkeit der Sänger und die allzu große Gefälligkeit der Komponisten in die italienische Oper eingeführt hatten, sorgfältig zu vermeiden . . . Ich suchte die Musik zu ihrer wahren Bestimmung zurückzuführen, das ist: die Dichtung zu unterstützen, um den Ausdruck der Gefühle und das Interesse der Situationen zu verstärken . . . Ich glaubte, die Musik müsse für die Poesie das sein, was die Lebhaftigkeit der Farben und eine glückliche Mischung von Licht und Schatten für eine fehlerfreie und wohlgeordnete Zeichnung sind (Es folgt die Kritik gegen die einzelnen Mißstände) . . . Genug, ich wollte alle jene Mißbräudie verdammen, gegen welche der gesunde Menschenverstand und der wahre Geschmack schon lange vergebens kämpfen. Ich bin der Meinung, daß die Ouvertüre den Zuhörer auf den Charakter der Handlung . . . vorbereiten und ihm den Inhalt derselben andeuten soll . . . Ferner glaube ich, einen großen Teil meiner Bemühungen auf die Erzielung einer edlen Einfachheit verwenden zu müssen . . . Der Erfolg rechtfertigte meine Ansichten, und der allgemeine Beifall in einer Stadt wie Wien führte mich zu der Uberzeugung, daß Einfalt und Wahrheit die einzigen richtigen Grundlagen des Schönen in den Werken der Künste sind . . ( 1 7 6 9 )

Gluck gesteht seinem Freunde Corancez, daß er es den Griechen abgesehen und bei den französischen Klassikern gelernt habe. In diesem Sinne läßt sich sagen, d a ß Glucks Musikdramen, der „Orpheus" (1762), die „Alkestis" (1767), die „Iphigenie" I (1774), die „Armida" (1777), die „Iphigenie" I I (1779) dem Geiste der euripideisch-racineschen Tragödienwelt verpflichtet sind. Sie gehören in die Wirkungsgeschichte der Winckelmannschen Konzeptionen von der vollendeten Schönheit, und ihre Beziehungen zur französischen Klassik hat Richard Wagner formuliert: „ . . . die französische Tragödie ging mit Notwendigkeit in die Oper über: Gluck sprach den wirklichen Inhalt dieses Tragödienwesens aus." („Oper und D r a m a " ) . Wie Racine hat Gluck mit seiner klassischen Sprache die Herzen bezwungen. Mademoiselle de Lespinasse gestand, daß Glucks Musik sie überwältige — la rendait folle — und Corancez erzählt, wie sein junger Sohn beim Anhören der „Alceste" den Tränen freien Lauf ließ — il ne cessa de pleurer. O b Glucks Kenner Landormy recht hat, wenn er anläßlidi der aulischen Iphigenie schreibt: „Gluck β'έΐένβ ici peut-etre plus haut que Racine; ou du moins il nous trouble plus profondement", möchte ich nicht entscheiden. Ein Debussy dachte anders, eiferte in seinem fiktiven Brief an den Ritter Gluck und f a n d dessen Einfluß verhängnis-

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Aufklärung

voll. Und Gluck selbst? Da er, wie Rameau, glaubte, die Prinzipien des Schönen nach dem Muster der Alten und Racines gefunden zu haben, war er überzeugt, daß — er spricht von seiner „Alceste" zu Corancez — die Oper noch in gleicher Weise in 200 Jahren gefallen werde", aber fügt den bedeutungsvollen Konditionalsatz hinzu: „si la langue franjaise ne change point." Er ist sich des Weiterlebens seiner musikdramätischen Werke sicher; denn: „ . . . j'en ai pose tous les fondements sur la nature qui n'est point soumise ä la mode." 5. Eine Generation nach Gluck zog A n d ^ Erneste Modeste Gr^try (1742—1813) aus Lüttich über Italien und die Schweiz, wo er Voltaire aufsuchte, auf dessen Rat nach Paris ein. Man nannte ihn den „Pergoläse franjais" und den „Greuze de la musique". Das eine ist richtig, wenn man bedenkt, daß Pergolesi den Anstoß zur Entwicklung der op£ra comique gab, das andere, weil G ^ t r y in seinen komischen Opern die bürgerliche Mittellage zwischen Tragödie und Komödie hält. Er war ein Bewunderer Glucks: — „il fallait etre philosophe comme lui, possέder l'art de faire un grand tout bien ordonni" — und war zugleich sein Kritiker. Zunächst stand er vor denselben Problemem wir sein Vorgänger in Wien und Paris: „Wie kommt's", schrieb er, daß die Italiener keine gute opera seria haben?" Während seines zehnjährigen Aufenthaltes in Rom sei er enttäuscht worden; das Publikum ströme zwar ins Theater, wenn ein guter Sänger auftrete, aber sobald dieser nicht mehr auf der Bühne gestanden hätte, wäre alles in die Logen gelaufen, um Eis zu essen, und der Opernsänger selber würde nach Absingen seiner Arie den Partner auf der Bühne stehen lassen, „um an einer Orange zu saugen". Die Abneigung gegen solche absonderlich erscheinenden Verhältnisse trieben G ^ t r y in die gleiche Opposition, die wir in Glucks Schreiben an den Großherzog von Toscana lesen können. Gritrys Reformideen haben darum ähnlichen Klang wie die Glucks: Straffung der Szenen, Erziehung der Sänger und Sängerinnen, organischere Verbindung von Musik, Rollen, Handlung: „Dann wird das Interesse aus dem Innersten des Gedichts hervorgehen, und der Sänger wird Schauspieler werden." Gritry will nicht ungerecht sein. Er weiß: „L'Italie a donn£ naissance ä. la milodie", aber Frankreich „a vu naitre l'art dramatico-musical" — und, so fährt er fort, „seien wir gerecht: dieser Ruhm kommt eher den französischen Dichtern zu als den Musikern". „Wie soll sich das französische Volk, das von Natur aus wenig musikalisch ist, wohl aber seine Sprache anbetet, derlei Absurditäten in der Musik

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erlauben können?" — „Ich antworte darauf, daß der Franzose gerecht ist: er gestattet dem Komponisten alles, falls der (Opern)text schlecht ist; aber er duldet keine Absurditäten, falls das (dramatische) Gedicht als solches interessant und gut ist. Er weiß um den Preis eines Werkes, das in allen seinen Teilen vernünftig durchdacht ist; davon wird er nicht mehr abgehen."

Opernmusik wird dem Franzosen allemal „Unsinn erscheinen, wenn sie sich nicht mit dem D r a m a v e r m ä h l t . . d a ß man sozusagen den Dichter vom Musiker nicht unterscheiden k a n n " (Memoiren II, 56). Das sind Nachklänge der Opernkritik, die mit Saint-Evremond einsetzte, von Voltaire verstärkt wurde, und die G ^ t r y bei Gluck finden konnte. Neu ist die kräftig akzentuierte psydiologisierende Tendenz seiner Musik. Gr^trys „Essais sur la Musique" enthalten umfangreiche Darstellungen, in denen er die menschlichen Leidenschaften, Neigungen, Gefühle, Typen in nicht weniger als 67 Kapiteln untersucht. Ein Musikdramatiker, der auf der Bühne Menschen darstelle, müsse nicht weniger tiefe psychologische Erkenntnisse haben als ein Dichter. Der Vorteil des Musikers gegenüber dem Dichter werde an seinen reicheren Hilfs- und Ausdrucksmitteln deutlich: Eine Tochter will z . B . ihrer Mutter weismachen, d a ß sie von Liebe nichts wisse und täuscht mit ihrem eintönigen Gesang Unbefangenheit vor; . . . aber hört man nicht, „wie das Orchester die Unruhe eines verliebten Herzens ausdrückt?" U n d so umgekehrt: Die vermeintlich leidenschaftliche Begeisterung eines hochtönenden, aber im Grunde einfältigen und liebeleeren Anbeters wird zunichte und lächerlich, wenn das begleitende Orchester die vorgetäuschte Forschheit des Werbenden Lügen straft; Das ist fast schon Wagnerisches musikpsychologisches Raffinement. Gretrys Fragen erstrecken sich auf die damals vieldiskutierten Probleme der Analogie von Klängen und Farben, wobei wir auch an Stellen aus Rousseaus „Essai sur l'Origine des Langues" zu denken hätten; sie erstrecken sich auf Probleme therapeutischer Anwendung der Musik im Bereich der Medizin. Es sind im Grunde uralte Fragen, aber sie sind im Lichte neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und psychologischer Experimente neu gestellt. Das vielleicht schönste Beispiel der psychologisierenden Rolle des Orchesters ist Blondels Romanze „Une fi£vre brülante" aus „Richard cosur-de-lion" (1784); dort kehrt sie wie ein Leitmotiv 9mal wieder, vollständig oder gebrochen immer in anderer Tönung und Tonart, entweder gespielt oder gesungen, je nach dem es die Situation erheischte. Aber das interessanteste N o v u m des französischen Musiklebens am Ende des 18. Jahrhunderts war die Politisierung der Musik und des Musiktheaters. G r i t r y hat den T y p der sog. „politischen Freiheitsoper" ge-

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Aufklärung

schaffen. War es Gluck erspart geblieben, die Hinrichtung seiner einstigen Schülerin und Beschützerin Marie-Antoinette zu erleben, so wurde Gr£try an seinem Fenster, genau wie der Maler Louis David, Zeuge des militärischen Zuges, der Ludwig X V I . zum Schafott führte. Verdanken wir David, der im übrigen für die Hinrichtung der Königin gestimmt hatte, die erschütternde Skizze der im Karren sitzenden, zum Schafott geschleiften Königin, so lesen wir bei Grätry die Sätze: „ . . . der Marsch im Sechsachteltakt, bei dem im Gegensatz zum Grausigen des Ereignisses die Trommeln einen hüpfenden Rhythmus markierten, ergriff mich durch den Kontrast und ließ midi erbeben . . . " Tempora mutantur. Vorbei die Schäferspiele, welche die Königin so geliebt hatte, vorbei das Rokoko, vorbei die königlichen Feste mit ihren Balletten, Opern, Redouten. Statt dessen Trommelwirbel, Revolutionsarmeen, und bald auch die Schlachtenorgien des Empereur. U n d wie David, ergriffen vom Revolutionsfieber, die Revolution verherrlichte, so tat es Gr^try in einigen seiner Opern. Wir denken dabei an Rousseaus Apologie eines Volkstheaters. Dessen Zweck sollte in der staatspolitischen Erziehung einer freien, demokratischen Bürgernation gipfeln. Wir erinnern uns, wie diese Seiten seiner „Lettre sur les Spectacles" zu den Versuchen der Convention Nationale führten, welche am 2. August 1793 unter der Präsidentschaft Dantons dekretierte: „Citoyens . . . Vous blesseriez, vous outrageriez les republicains, si vous souffriez qu'on continuät de jouer en leur presence une infiniti de pieces . . . qui n'ont d'autre but que de depraver l'esprit et les mceurs publiques . . . Le Comiti de Salut publique . . . propose une loi de reglement sur les spectacles . . . Article I: La Convention Nationale decrete que . . . seront representees troi fois la semaine, les tragedies r^publicaines, telles que „Brutus", „Guillaume Tell", „Gaius Gracchus" et autres pieces dramatiques qui retracent les glorieux evenements de la Revolution et les vertus des defenseurs de la liberti... (Bürger . . . ihr würdet die Republikaner verletzen und verhöhnen, wenn ihr zuließet, daß man in ihrer Gegenwart eine Unmenge Stücke spielte, . . . die kein anderes Ziel haben, als den Geist und die öffentlichen Sitten zu verderben . . . Der Wohlfahrtsaussdiuß bringt ein Gesetz über die Schauspiele ein. Artikel I: Der Nationalkonvent dekretiert, daß 3mal wöchentlich republikanische Stücke wie „Brutus", „Wilhelm Teil", „Gaius Gracchus" und andere dramatische Werke gespielt werden sollen, Dramen, welche die glorreichen Ereignisse der Revolution und die Tugenden der Verteidiger der Freiheit vorführen.)

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Das J a h r 1789 war auch das Erscheinungsjahr des 1. Bandes der G r i tryschen Memoiren, der „Essais sur la Musique". 1795 erschien der 3. Band. Interessant, wie auf Empfehlung von M & u l , Cherubini u n d Lesueur — alle drei: neue Namen, die uns über die Schwelle des Jahrhunderts f ü h ren — die Convention Nationale das Werk zum Druck freigab, weil es an der „grande amilioration sociale" mitzuhelfen geeignet schien. T a t sächlich enthalten die 3 Bände 5 Kapitel über die L i b e ^ ; De l'Influence des Gouvernements libres relativement aux Arts; De l'Instruction publique relativement έ la Musique; Projet d'un Th£atre nouveau; De la N£cesβίΐέ de la Sc£ne comique. Sie enthalten ferner eine Soziologie und Metaphysik der Musik (Buch V), dazu einen musiktechnischen Teil (Buch VI) und eine kuriose Charakteristik der nationalen Wesenszüge der musikschöpferischen Völker Europas seit der Antike (Buch VII). Nirgends können wir besser als in diesen Büchern den Übergang der Zeit vom Stil des weltbürgerlichen Denkens des 18. Jahrhunderts (noch ein Gluck sprach mit Rousseau von kosmopolitischer Musik) zum nationalen Stil und Denken des 19. Jahrhunderts audi auf dem Gebiet der Musik erkennen.

KAPITEL II

Die vier Wegbereiter der modernen Zeit Charles-Louis

de Secondat, Baron de La Brede et de

Montesquieu

Von den politischen Schriftstellern des französischen 18. Jahrhunderts ist Montesquieu als der Verfasser des „De l'Esprit des Lois", ohne daß er heute viel gelesen wird, in das Bewußtsein einer Zeit eingegangen, die, wie die unsrige, die Heraufkunft der politischen und sozialen Wissenschaft erlebt. Charles-Louis de Secondat wurde am 18. Januar 1689 im Chateau de La Br^de geboren. Herkunft und geistiges Erbe sind nicht ohne Bedeutung für seine Persönlichkeit und ihr politisches Weltbild. Er entstammt dem gaskognischen Landadel und wächst in der Atmosphäre einer Juristenfamilie auf, da schon der Großvater das Amt des Gerichtspräsidenten am Parlament in Bordeaux gekauft hatte. Charles-Louis wird das Amt von seinem Onkel erben. Seine Studien begann er bei den Oratorianern, einer Kongregation von Weltpriestern, auf einer ihrer Schulen in der Nähe von Paris. Dort legte er die Fundamente einer umfassenden Bildung, die sich auf Latein und Geschichte, aber auch auf Geographie und Mathematik erstreckte. Unter seinen philosophischen Lehrern hat sicher Malebranche, der panentheistische Metaphysiker der „Recherche de la einen tiefen Einfluß ausgeübt. Danach studierte er wahrscheinlich drei Jahre lang die Rechtswissenschaft. Nach Beendigung des Studiums ging er auf weitere drei Jahre nach Paris und kehrte nach Bordeaux zurück, wo er mehrere Jahre am Parlament, dem Gerichtshof der Provinz Guyenne, tätig wurde. Diese seine Tätigkeit war für die Richtung seines politischen und juristischen Denkens von Bedeutung; denn die Parlamente, die ehemals nur Gerichtshöfe waren, wuchsen allmählich in die Rolle einer politischen Opposition hinein und stemmten sich gegen die Machtansprüche des absolutistischen Königtums, indem sie sich ζ. B. weigerten, königliche Erlasse zu registrieren, wenn solche einmal der zentralisierenden Tendenz der Monarchie zu viel Vorschub leisteten. Die Tätigkeit am Parlament läßt ihm Zeit, sich literarischen und naturwissenschaftlichen Arbeiten zu widmen. Er verfaßt eine Lobrede auf

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Cicero und eine „Dissertation sur la Politique des Romains dans la Religion" (1716). In beiden Schriften ist die aufklärerische Tendenz des neuen Jahrhunderts unverkennbar. E r behauptet, daß „weder Furcht noch Frömmigkeit" die Religion bei den Römern eingeführt hätten, „wohl aber die Notwendigkeit für alle Gesellschaften, eine zu haben". In Sätzen wie den folgenden wird die Tendenz unüberhörbar: „Die Weissager waren bei ihren Urteilen über die Staatsangelegenheiten an die Genehmigung durch die Magistrate gebunden; die Ausübung ihrer Kunst unterstand dem Willen des Senats." „Die Augurn und Haruspices waren eigentlich die Groteskfiguren des Heidentums . . . J e vernunftwidriger eine Sadie war, um so göttlicher erschien sie ihnen . . „Die Weissager folgten immer den Armeen und waren vielmehr die Interpreten des Generals als diejenigen der Götter."

Das Volk also lebte im Aberglauben; es brauchte den Magier und die Magie; es brauchte die Priester und eine Religion des Credo quia absurdum est. Der despektierliche Spott des jungen Aufklärers findet hier schon seinen ironischen Ausdruck. Er steht in gleicher Entfernung von der autoritär-intoleranten Rechtgläubigkeit des gallikanischen Kirchenfürsten Bossuet wie von der christlich-metaphysischen Gnadenlehre des Jansenisten Pascal und dem ethischen Glaubensbekenntnis des naturfrommen savoyischen Vikars aus Rousseaus „Emile". Einen Montesquieu interessiert die Religion als ein soziales Phänomen. Der Ausdruck „Religionbrauchen" verweist das Problem in die Bereiche politischer Zweckmäßigkeit. Die Rede über die Religionspolitik der alten Römer bezeichnet die eine Richtung seiner illusionsfreien Anschauungen der weltlichen und sakralen Dinge, eine Richtung, die bereits auf sein erstes berühmtes Buch, die „Lettres Persanes", weist. Aber noch bevor er es veröffentlicht, sehen wir den vielseitig interessierten Mann mit einigen naturwissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt, wie sie damals „Mode" waren. E r gründet einen Prix d'Anatomie, arbeitet über die Funktion der Nebendrüsen, trägt seine Ansichten über das Echo, die Eigenschaften der festen Körper und das Phänomen der Ebbe und Flut in der Akademie vor und plant sogar eine Geschichte der „Terre ancienne et moderne" auf physikalischer Grundlage. Es sind dilettantische Arbeiten, wie sie damals in den Laboratorien der hommes du monde oder am Schreibtisch ohne fachlidie Vorbelastung entstanden. Montesquieu waren nicht einmal die Forschungsergebnisse Newtons bekannt. Aber interessant ist, welch tiefen Eindruck Montes-

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Im Lichte der Aufklärung

quieu von der Denkweise und Arbeitsmethode des Mathematikers und Naturwissenschaftlers Descartes empfangen hat. Sein Bekenntnis zu Descartes spricht aus seinen „Observations sur l'histoire naturelle" (um 1720). Er sieht die materielle Welt als einen großen Mechanismus, dessen gut funktionierendes Triebwerk f ü r einen rational denkenden Forscher einen Kausalzusammenhang als evident erscheinen läßt. Montesquieus „Esprit des Lois" wird sich als Übertragung des Kausalitätsbegriffes, wie ihn Descartes und sein Schüler Malebranche im Bereich des physikalischen Weltbildes verstanden, auf die Relationen der Kräfte im Gesellschaftsbild erweisen. Hinter allem steht die souveräne Macht der Vernunft, der sich alles Forschen, sei es in der physischen, sei es in der moralischen Welt, zu beugen hat. Die „Lettres Persanes" erschienen 1721 und wurden ein Datum in der Geschichte der französischen Literatur. Es war die Zeit der Regentschaft, die von 1715—1723 währte. Da alle direkten Thronerben des Sonnenkönigs bis auf einen unmündigen Urenkel gestorben waren, gelangte Ludwigs Neffe, der Herzog Philipp von Organs, zur Regentschaft. Er war der Sohn der Liselotte von der Pfalz, ein vollendeter „Wüstling", wie er „klassischer" nicht ersonnen werden kann: frivol, zynisch, verderbt, aber begabt und von bestechender Liebenswürdigkeit — ein „fanfaron de vice", wie ihn der Onkel nannte. Einzige Richtschnur seines Lebens war das Vergnügen. Es ging nicht zimperlich bei seinen Orgien zu, die er mit seinen Festgenossen, den von allen Lastern „Geräderten", den „rou£s", veranstaltete. An seinen „Adamsfesten" teilzunehmen, war der Ehrgeiz mancher Damen der Gesellschaft. Die Auflockerung der Sitten war nidit aufzuhalten. Daß ein Vater seine Tochter liebte, daß ein Bruder mit der Schwester in Leidenschaft vereinigt waren, empörte die Kreise um den Regenten wenig. Als der jugendliche Voltaire seine erste Tragödie, den „Oedipe", vor ihm aufführte und jedermann in der blutschänderischen Beziehung zwischen ö d i p u s und seiner Mutter Jokaste eine Anspielung auf die Liebe des Regenten zu seiner Tochter verstand, klatschte der H e r zog Beifall und zeichnete den jungen Autor aus. Die Sittenskandale spielten sich in kleinem Kreise ab. Größere Kreise zog der Finanzskandal des schottischen Bankiers John Law in Paris. Als Montesquieu seine „Persischen Briefe" schrieb, war John Law gerade „contröleur general des finances". Die Auswirkungen seines genialen, aber verunglückten Finanzcoups schwingen noch in den „Lettres Persanes" nach. Law war von dem Gedanken ausgegangen, daß nicht nur das

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Edelmetall, sondern auch die Naturwerte und Arbeitskräfte ein Kapital darstellen, und daß die Banken demzufolge berechtigt seien, an die Kreditfreudigkeit des Publikums zu appellieren und Noten auszustellen, f ü r die vorerst keine völlige Deckung vorhanden war. Unermüdlich arbeitete John Law an seiner Theorie über das Kreditwesen. Er veröffentlichte einige Schriften, von denen „Money and Trade" (Edinburgh 1705) die bedeutendste ist. Die vorhandenen metallenen Umsatzmittel — so argumentierte er — würden nicht mehr genügen, weswegen er im Papiergeld die wichtigsten Zahlungsmittel der Zukunft erblickte. Außerdem würde die Verschmelzung der kleinen Kapitalien zu einer erhöhten wirtschaftlichen Kapazität führen und dem Staat nützlich sein können. Der Regent schenkte ihm Gehör. Im Mai 1716 erzielt er von Philippe d'Orl^ans die Genehmigung, eine Privatbank auf Aktien zu errichten. Law gründete daraufhin eine Privatnotenbank und rief die Compagnie d'Occident ins Leben, eine Handelsgesellschaft, welche alsbald mit andern privilegierten Handelsgesellschaften fusionierte und nun unter dem Namen Compagnie des Indes die Ausbeutung und Kolonisierung der Länder am Mississippi betrieb. Bald stiegen die Mississippi-Aktien von 500 Livres Nominalwert auf 5000 und schließlich auf 20 000, also das Vierzigfache ihres Nennwerts. Die Bank genoß einen hervorragenden Kredit; Laws Generalbank wurde in eine Staatsbank verwandelt. Diese setzte nun so viele Scheine in Umlauf, daß sie das Achtzigfache des gesamten in der Nation vorhandenen Geldes repräsentierten. Es brach ein Spekulationsfieber aus, wie es in der Geschichte der Banken und Börsen einmalig war. Die Erfolge überstiegen jede Vorstellung. Märdienhafte Vermögen wurden erworben. Law selbst kaufte einen riesigen Grundbesitz, trat zum Katholizismus über und wurde am 5. Januar 1720 zum Finanzminister ernannt. Aber Mißtrauen und Verdacht begannen alsbald, sich bei den Besitzern der Banknoten einzuschleichen. Die Katastrophe setzte ein. Die Kolonien brachten nichts. Die Zeit war noch nicht reif, mit den realen N a t u r - und Sachwerten zu arbeiten. Das Publikum wurde ungeduldig, der Andrang zur Einlösung der Bankscheine wuchs ständig. Selbst gewaltsame Maßnahmen vermochten den Run auf die Banken nicht zu verhindern. Im Juli mußte die Barauszahlung fast ganz eingestellt werden. Am 10. Oktober 1721 wurden die Banknoten außer Kurs gesetzt. — Law war schon vorher geflüchtet. Wir lesen bei E. J. F. Barbier: „Hier (14 dec. 1720) Μ. Law sortit de Paris . . . Tous les seigneurs ont ete lui dire adieu, car il est toujours en faveur . . . On a arrete la nuit de samedi der-

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Im Liebte der

Aufklärung

nier, 21 decembre: folgen die Namen der Bankdirektoren, Vorstandsmitglieder der Compagnie, alles Freunde von Law . . . Tous ses gens ont des millions, et on leur demande de l ' a r g e n t . . . Seine Frau und Tochter seien noch in Paris, aber „son fils s'est eclips0 comme lui, c'est-ä-dire perdu aux yeux du public." (Barbier, op. cit. p. 36 f.) „Gestern (14. Dezember 1720) verließ Herr Law P a r i s . . . Alle großen Herren des Landes kamen und verabschiedeten sich von ihm; denn er steht noch immer in G u n s t . . . In der Nacht zum letzten Samstag, am 21. Dezember, wurden verhaftet" . . . (es folgen die Namen der Bankdirektoren, der Vorstandsmitglieder der Compagnie, Freunde von Law) . . . „alle diese Leute besitzen Millionen und man fordert von ihnen Geld" (Laws Frau und Tochter seien noch in Paris) . . . „aber sein Sohn hat sich wie er selbst verflüchtet, d. h. er ist aus den Augen des Publikums verschwunden."

Law gelangte schließlich nach Venedig, wo er in bedrängten Verhältnissen starb. In jener Zeit erschienen die „Lettres Persanes". Montesquieus Blick war in diesem Briefroman auf die Aktualität gerichtet. So mußten diese uns Heutigen fast märchenhaft erscheinenden Ereignisse von Paris wohl einen Eindruck in dem Buch hinterlassen haben. Es umfaßt 160 Briefe, eine Korrespondenz, die von Usbek, einem in Ungnade gefallenen Grandseigneur, und seinem Freund Rica mit ihren Korrespondenten Mirza, Rustan, Nessib in Ispahan, Ibben in Smyrna und Rh£die in Venedig geführt wird. Die beiden Freunde sind auf einer Reise in das westliche Europa und erreichen über Tauris, Smyrna, Livorno schließlich Paris, schreiben von dort aus und erhalten ihrerseits Nachrichten aus der persischen Heimat. Usbeks Frauen senden ihm aus dem Harem leidenschaftliche Briefe und beklagen sich über die exzessive Strenge des schwarzen Eunuchen, während der Große Eunuch über das elende Leben in der Heimat jammert. Die Nachrichten aus Ispahan sind schlecht: Eifersucht der Frauen, Treulosigkeiten aller Art, der Tod des Großen Eunuchen, die Revolte der Frauen und das Geständnis Roxanes, die an der ganzen Haremstragödie schuld war und schließlich Selbstmord begeht. Das ist der düstere Hintergrund dieses orientalischen Briefromans, von dessen drei Teilen: der Reise nach Paris (1—23), den Berichten aus Paris (24—147) und der Haremstragödie (148—160), der mittlere sehr bald als der eigentlich Interessante galt. Die orientalische Gewandung solcher Geschichten war damals Mode. In Addisons „Spectator" beschreibt ein Javaner seinen Landsleuten die Welt- und Handelsstadt London. In Dufresnys „Amüsements sirieux et comiques" besucht ein Siamese Paris und reflektiert über seine dortigen

Die vier Wegbereiter

der modernen

Zeit

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Eindrücke. U n d umgekehrt wurde das Interesse der französischen Leser am Orient durch die Übersetzungen der „Märchen von Tausendundeiner N a c h t " (Antoine Galland zu Beginn

des Jahrhunderts)

gesteigert. Es

nährte einen ganzen Zweig der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts. D e r Orient: das war ein Wunderreich märchenhafter Poesie; er entband eine üppige Thematik erotischer Phantasie; in orientalischer Verkleidung konnten Erzähler und Philosophen ungestraft die eigene Gegenwart satirisch enthüllen. Die Maskierung wurde Dekouvrierung. Das alles erstreckte sich weit ins 18. Jahrhundert hinein. Illustratoren, Maler, dekorative Künstler, Märchenerzähler und Novellisten sättigten ihr Publikum mit Orient, und die Leser selbst scheinen unersättlich. Jede Erzählung machte sie nach andern begehrlich. Auch Kritiker, Pamphletisten, Satiriker bemächtigten sich der Fiktionen, und Montesquieu war einer ihrer Genialsten. Das Interesse, das wir heutigen Leser noch an dem Buche nehmen, liegt in der Mannigfaltigkeit der Thematik, die weit über die E r o t i k der Haremsgeschichten hinausweist; es liegt in

der Beobachtungsgabe

des

Schriftstellers für die Menschen und Verhältnisse seiner Zeit; es liegt im besonderen auch im Stil, der das Buch als Eigenes zwischen den „Charakteren" des L a Bruy£re und den philosophischen Erzählungen

und

Romanen von Voltaire erkennen läßt. An L a Bruy^res Charakterisierungskunst erinnern manche literarischen Porträts der „Briefe". D a sind die beiden Perser in Paris, den neugierigen Blicken seiner Bewohner ausgesetzt. „Comment peut-on etre Persan!" U n d was für Typen lernt Usbek in der Gesellschaft kennen! Finanzleute, Dichter, ausgediente Krieger, Glücksritter aller Art, Hasardeure, Parasiten, Gelehrte, Pedanten, Frauen verschiedener Konditionen, junge, alte und alternde. U n d wer ist der da, „ce gros homme vetu de noir", und dabei sieht er so rosig und heiter aus und lächelt immer, wenn man zu ihm spricht? Das ist ein Prediger „und — was schlimmer ist — ein Beichtv a t e r " . E r vermag mittels kleiner Gaben, die ihm die sündigen Schäflein spenden, den armen Seelen den Weg zum Heil zu erleichtern. „Er kennt die Schwächen der Frauen, wie sie die seinigen kennen . . . Wie? fragte ich meinen Begleiter: er spricht immer von etwas, was man Gnade nennt? Oh, nein, nicht immer. In das Ohr einer schönen Frau flüstert er lieber noch etwas vom Sündenfall. Im Anblick der Gemeinde donnert er, aber privat ist er sanft wie ein Lamm." (49) So übergießt Montesquieu mit liebenswürdigem Spott, aber respektlos, die Stände, Typen, Charaktere und alle gesellschaftlichen Laster der

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Im Lichte der

Aufklärung

Pariser seiner Zeit, und was er an Einrichtungen, alten und neuen, lächerlich findet. Ernster wird bei ihm der Spaß, wenn es um Dinge der Politik und des sozialen Lebens geht: die Langsamkeit der Justiz, die verhängnisvolle Rolle der Minister und Höflinge, die Gewaltherrschaft und Verschwendungssucht Ludwigs X I V . , den Ubermut des Adels, die Misere der Finanzwirtschaft. Die Briefe sind zwischen 1711 und 1720 datiert. Usbek und Rica kennen also das Paris der letzten Regierungsjahre Ludwigs X I V . und der ersten des Regenten Philippe d'Orl^ans. Vom 100. Brief an wird der Ton ernster und kündet den Montesquieu der „Consid£rations" und des „Esprit des Lois" an. Ein Beispiel: „Die Mehrzahl der europäischen Regierungen ist monarchisch; oder besser gesagt, sie nennen sich Monarchien; denn ich weiß nicht, ob es jemals in W a h r heit solche gegeben hat. Jedenfalls ist es schwierig, daß sie lange in ihrer Reinheit bestehen. Es ist ein gewaltsamer Zustand, welcher immer in Despotismus oder Republik umschlägt. Die Macht kann niemals gleichmäßig zwischen Volk und Fürst geteilt sein. Das Gleichgewicht ist allzu schwer zu halten. Auf der einen Seite muß sich die Macht vermindern, während sie auf der andern Seite steigt. Aber der Vorteil ist gewöhnlich für den Fürsten; denn er ist an der Spitze der Armeen." (102)

Montesquieu ist auf der Suche nach den Gründen der politischen und sozialen Mißstände. Sie beruhen zum großen Teil auf dem System der französischen Rechtsprechung: Die Legislative gründet nicht in einer Verfassung, deren Leitmotive die Vernunft und das natürliche Rechtsempfinden sein sollen, sondern Frankreichs Justiz bewegt sich in den Fesseln von Gesetzen, die dem römischen Recht und dem pontifikalen Recht entlehnt sind. Aber derlei Gedanken sind hier nur erst Vorklänge auf Montesquieus spätere Arbeiten. Vorerst überwiegt die Satire und ihr Ton in den staats- und religionsphilosophischen Reflexionen der beiden Perser. Die sozialen, wirtschaftlichen, politischen Krisen boten genügend Stoff. Es gibt nichts Ernsteres unter dem heiteren Gewand der Satire, als die Seiten über die beiden Magier der Zeit (Ludwig X I V . und den Papst), in die noch Aktuellstes aus der Finanzmanipulation von Law einfließt: „Der König von Frankreich ist alt . . . E r besitzt in hohem Grade das Talent, seine Untertanen zum Gehorsam zu zwingen. In gleichem Geiste regiert er über seine Familie, seinen Hof, seinen Staat. Von allen Regierungen der Welt, so hört man, gefällt ihm die türkische oder die unseres erlauchten Sultans am besten; so hoch steht ihm die orientalische Politik. Ich habe seinen Charakter studiert und finde unlösbare Widersprüche in ihm. E r hat einen Minister von 18 Jahren (einen Sohn von Louvois und eine Maitresse von 80 (Madame de

Die vier Wegbereiter der modernen Zeit

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Maintenon). Er liebt die Religion und kann doch die Leute nicht leiden, die sagen, man solle sie, die Religion, streng beobachten (die Jansenisten) . . . Der König von Frankreich ist der mächtigste Fürst Europas. Zwar hat er keine Goldminen wie der König von Spanien, sein Nachbar. Aber er verfügt über mehr Reichtümer als dieser, weil er sie aus der Eitelkeit seiner Untertanen herauszieht, die unerschöpflicher ist als die Minen . . . Übrigens ist dieser König ein großer Magier und übt seine Herrschaft selbst über den Geist seiner Untertanen aus. Er bestimmt ihr Denken wie er will. Hat er nur 1 Millionen Taler in seinem Tresor und benötigt er deren 2, dann braucht er sie nur davon zu überzeugen, daß 1 Taler = 2 Taler sind, und sie glauben es. Wenn er einen schwierigen Krieg durchstehen muß und er kein Geld mehr hat, braucht er ihnen nur klar zu machen, daß ein Stück Papier Geld ist, und sie sind alsbald davon überzeugt."

In ähnlichem Ton spricht Montesquieu von dem andern Souverän, demjenigen, der über die Seelen regiert: „Da ist ein anderer Magier, der noch stärker ist als der Fürst. Dieser Magier nennt sidi Papst. Er herrscht über das Denken der Fürsten, wie der Fürst über die Gedanken der anderen. Er versichert ihm, daß 3 = 1 ist; daß das Brot, das wir essen, eigentlich kein Brot ist, und der Wein, den wir trinken, eigentlich kein Wein ist, und tausend andere Dinge dieser A r t . . . "

Im 29. Brief aber erfahren wir, daß der Papst, „dieses alte Idol, das man aus Gewohnheit beweihräuchert", jetzt nicht mehr in seiner weltlichen Macht zu fürchten sei. Dieses und vieles andere mehr, wie etwa die Satire der theologischen Zänkereien, der Kasuisten, die Verurteilung der Intoleranz, im besonderen der Widerrufung des Pazifikationsedikts von Nantes, gehören dem Thema nach zur Tradition im antiklerikalen Schrifttum Frankreichs. Aber die witzigen Formulierungen stammen nidit von Bayle oder Saint-Simon, sondern von Montesquieu. Manche seiner Sätze gingen wie Sprichwörter von Mund zu Mund und schufen eine Atmosphäre, in welcher der Esprit Voltaires alsbald zu seiner Entfaltung und Wirksamkeit kommen konnte. Der Kampf um die Gewissensfreiheit, das Vertrauen in die menschliche Vernunft und der Glaube an die Naturgesetze brachten Montesquieu in die Nähe der Enzyklopädisten. 2. Unter dem Eindruck von Pufendorf (1632—1694) — hat Montesquieu dessen „De Officio Hominis et Civis juxta Legem Naturalem" (Lund 1673) gelesen? — ist wohl sein „Traitö des Devoirs" konzipiert. Vielleicht war das der Beginn einer systematischen Beschäftigung Montesquieus mit den staatsphilosophischen Problemen. Jedenfalls entstanden in jenen Jahren nach den „Lettres persanes" mehrere Arbeiten zur Politik und Soziologie: Der „Dialogue de Sylla et d'Eucrate" (1722), „De la

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Politique" (1723), die „Reflexions sur la Monarchie universelle" (1724), — aber auch weitere Proben seiner mondän-galanten Schreibfreudigkeit wie der „Temple de Gnide" (1725) und der „Voyage k Paphos" (1727). Damals verkaufte er sein Amt als Präsident, wurde Mitglied der Academie Frangaise und begab sich auf eine Europareise, die ihn 1728 nach Wien, Ungarn, Italien, in die Schweiz, die Niederlande und auf zwei Jahre nach England führte (1729—31), wo er Gast bei Lord Chesterfield war und Mitglied der Royal Society von London wurde. Man kann sich vorstellen, daß ihn sein Interesse nach Neapel trieb. Dort hatten eine Generation vor ihm Gravina, Giannone, Vico gewirkt. Gian Vincenzo Gravina (1664—1718), der in der kartesianischen Philosophie versierte Rechtsgelehrte, Verfasser des in Leipzig 1708 erschienenen „Originum juris civilis libri tres", war audi der Autor des „De romano imperio" (Neapel 1713), worin er die Romanität, Quelle der italienischen Zivilisation, in hymnischer Weise feierte. Die Theaterwissenschaft hat seine zwei Abhandlungen „Deila Tragedia" nicht vergessen. Pietro Giannone (1676—1748) brachte 1723 seine umfangreiche „Istoria civile del regno di Napoli" heraus. Sie ist eine scharfe Kritik an der Politik der römischen Kurie und der Geistlichkeit im allgemeinen. Für seine Kühnheit mußte er büßen: Verfolgt, verschleppt, von falschen Freunden überlistet, verhaftet, eingesperrt gelangte er nach Wien, Venedig, Genf und starb in dem Jahre, als Montesquieus „De l'Esprit des Lois", 1748, erschien. Giannone verteidigte die Unabhängigkeit der staatlichen Gewalt gegenüber den Eingriffen der päpstlichen Macht. Religion sei eine Sache des Individuums und habe weder politische noch dogmatische Ansprüche auf die Suprematie im Staatsleben. Er diskutierte die Dogmen der Kirche, vindizierte die Rechte der Wissenschaft und vorurteilsfreien Prüfung der Probleme und propagierte die rechtliche Unterwerfung der Kirche unter den Staat. Die radikale Orientierung seines politischen Denkens brachte ihn auf die Linie von Dante, Machiavelli, Sarpi. Der Name des dritten, Giambattista Vico (Neapel 1668—1744), hat sich als Verfasser der „Principi di una scienza nuova intorno alia natura delle Nazioni, per la quale si ritruovano i principi di altro sistema di diritto naturale delle genti" (1725) tief in das politische und völkerrechtliche Bewußtsein Europas eingegraben. In diesem fundamentalen Werk, an dem er 30 Jahre gearbeitet hat, suchte Vico die Gesetze der Weltgeschichte aufzudecken. Bevor Montesquieu sein opus maximum veröffentlichte, wurde Vicos Werk noch zweimal (1730 und 1744) erweitert und verändert herausgegeben. Vico be-

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obachtete alle Erscheinungen der menschlichen Energie, wie sich diese in den Sprachen, Traditionen, Künsten, sozialen Einrichtungen und Gesetzen äußert und in den drei Stufen des periodo teocratico, eroico und umano evoluiert und in den entsprechenden drei Idiomen „geroglifico", „metaforico", „analitico" manifestiert. Er studiert den Durchgang der Nationen durch die drei Stufen, ihre Entfaltungen, ihre Umkehrungen, ihre Umwandlungen. Was konnte einen Montesquieu mehr interessieren als die geschichtsphilosophische und völkerpsychologische Konzeption seines italienischen Zeitgenossen. Was Italien f ü r die theoretische Erarbeitung der politischen Literatur bedeutete, das wurde England, genauer gesagt: das idealisierte Englandbild, als Symbol wirklich erreichter politischer Freiheit. Nach seinem Englandaufenthalt trug sich Montesquieu mit dem Plan, ein größeres Werk über das Inselreich zu schreiben. Die Idee erweiterte sich zur Konzeption einer vergleichenden Staats- und Verfassungsgeschichte. Das Ergebnis war aber nicht ein Englandbuch (an einem solchen schrieb gerade Voltaire), sondern die „Considerations sur les causes de la Grandeur des Romains et de leur Dicadence" (1734). Das Buch kam also im gleichen Jahr heraus wie Voltaires „Lettres sur les Anglais". Montesquieu war ein Kenner der römischen Geschichte. Grundlagen seiner Dokumentation waren die griechischen und lateinischen Historiker: Polybius und Tacitus, Sallust und Titus Livius. Er kannte die Italiener der Renaissance: Flavio Biondo (1392—1463), Niccol6 Machiavelli (1469 bis 1527) und Paolo Paruta (1540—1598). Parutas „Discorsi politici" (1599) handeln von den Ursachen des Aufstiegs und Niedergangs des alten römischen Reiches — also dem Thema der Montesquieuschen Arbeit. In der „Perfezione della vita politica" (abgefaßt zwischen 1572 und 1579) wertet Paruta die politische Aktivität gegenüber der vita comtemplativa auf, der im Urteil der Philosophen innerhalb der moralischen Sphäre des Menschen allgemein ein höherer Rang angewiesen wird. Montesquieu hat Paruta gut gekannt, ihn aber nicht als Quelle seiner „Considerations" genannt. Englische Arbeiten wie die von Walter Moyle: „Essay on the Constitution of the roman government" (1726) waren ihm vertraut — und die 50 Seiten Römische Geschichte aus Bossuets „Discours sur l'Histoire universelle" hatte er im Kopf. Gemäß dem Titel des Buches fragte Montesquieu nach den Ursachen des Aufstiegs Roms zur Weltmacht und nach den Ursachen seines Niedergangs. In seiner Analyse der „Considerations" resümierte schon d'Alem-

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bert (in der Εηογςίορέάίβ Band 5) die Ursachen beider Entwicklungslinien, an denen Montesquieu die Bewegung seines Bildes orientierte: Die Ursachen, die zu Roms Größe führten, lagen in der Liebe des Römers zur Freiheit, zur Arbeit, zum Vaterland; sie lagen in der Strenge ihrer militärischen Disziplin, in den inneren politischen Spannungen, die nicht etwa verhängnisvoll, sondern f ü r die Entwicklung fruchtbar waren: die Einigkeit vor der gemeinsamen Gefahr. Sie lagen aber nicht nur in der militärischen Zucht und der Dynamik des Parteigetriebes, sondern gleichfalls in einigen Kardinaltugenden wie den stoischen Werten der constantia und perseverantia, ferner in der politischen Maxime des divide et impera — „mais surtout leur maxime constante f u t de diviser" (Kap. 6) — und schließlich in der „excellente politique de laisser aux vaineus leurs dieux et leurs coutumes" (d'Alembert in seiner Analyse der Considerations), also in der Betätigung der Toleranz. Die Gründe des Verfalls waren die maßlose Vergrößerung des Staates, wodurch die Volksaufstände Dimensionen von Bürgerkriegen annahmen; waren die entfernten Kriege, welche eine zu lange Abwesenheit der Bürger zur Folge hatten; war der damit verbundene Verlust des republikanischen Bürgersinns; war die Gewährung des allgemeinen Bürgerrechts an die verschiedenartigen Völkerschaften; das römische Volk wurde schließlich ein „monstre έ plusieurs tetes". Mit der Wandlung der Regierungsformen änderten sich auch die Maximen. Die Sittenverderbnis tat das ihrige, und die fast ununterbrochene Folge jener Ungeheuer von Cäsaren, die sich von Tiberius bis Nerva und von Commodus bis Constantin erstrecken, vollendete sich der Untergang. Man spürt auf jeder Seite des Buches, daß Montesquieu seine „chers Romains" liebte und vor allem bewunderte. Er schreibt nicht als Historiker, sondern als Jurist, der den Sinn f ü r das institutionelle Leben einer Nation und die Verwaltungstechnik hat; er schreibt auch als „Philosoph", der nach den Gesetzen des Geschehens fragt, und er schreibt als Künstler, den das dynamische Bild vom Aufstieg und Untergang eines großen Reiches bewegt. Die entscheidende, viel zitierte Formel seines historischen Determinismus lautet: „Ce n'est pas la fortune qui domine le monde: on peut le demander aux Romains, qui eurent une suite continuelle de prosperites quand ils se gouvernerent sur un certain plan, et une suite non interrompue de revers lorsqu'ils se conduisirent sur un autre. II y a des causes generales, soit morales, soit physiques, qui agissent dans chaque monarchie, l'elevent, la maintiennent ou

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la pr^cipitent; tous les accidents sont soumis έ ces causes; et si le hasard d'une bataille, c'est-ä-dire une cause particuli^re, a ruin£ un Etat, il y avait une cause generale qui faisait que cet Etat devait p^rir par une seule bataille. En un mot, l'allure principale entraine avec eile tous les accidents particuliers." (Kap. 18) „Nicht der Zufall regiert die Welt . . . Es gibt allgemeine Ursachen: geistige und physische, die in jeder Monarchie wirksam sind; sie tragen sie empor, erhalten sie oder stürzen sie hinab. Alles Zufällige ist diesen Ursachen unterworfen; und wenn der Zufall einer Schlacht, d . h . eine besondere Ursache, einen Staat zugrunde gerichtet hat, dann lag das an einer allgemeinen Ursache, die bewirkte, daß dieser Staat durch eine einzige Schlacht untergehen mußte. Der prinzipiell bestimmte Gang der Dinge zieht alle besonderen Wechselfälle nach sich."

Die Methode ist nicht ungefährlich. Aus den und den gegebenen Ursachen, die mit- und gegeneinander spielen, ergeben sich zwangsläufig die und die Folgen. Die Geschichte eines Volkes oder einer Epoche wird zu einem mechanistisch funktionierenden Kräftespiel von Aktionen und Reaktionen. Entgeht aber dem Beobachter ein Element, oder deutet er es falsch, dann ist ein Fehler in der Rechnung und das Bild verfälsdit sich. Montesquieu überblickt eine Epoche und den Charakter einer Nation; er hat die Maximen und Leitmotive ihrer Entfaltung in der H a n d ; er läßt nunmehr die Geschichte sich aufspulen, dann läßt er sie umkippen und sich abwickeln: Die politischen und militärischen Institutionen und die in ihnen und durch sie sich realisierenden moralischen Kräfte und Maximen sind die Gründe, die Rom zur Weltmacht geführt haben, aber auch zu seinem Ruin. Die Grundsätze der Republik, die alle auf die innere Freiheit und die äußere Macht zielten, dienten diesem kleinen, energischen, stolzen Volk zur Ausübung ihrer zivilen Tugenden und zur Erreichung ihrer Machtziele: ein Wille über Jahrhunderte. Als aber das Reich zu groß wurde, kehrten sich mit der Wandlung der Regierungen die Maximen ihrer Moral und Politik ins Gegenteil um: „Das ist mit einem Wort die Geschichte der Römer: Sie besiegten alle Völker durch ihre Maximen. Aber als sie dahin gelangt waren, konnte sich ihre Republik nicht mehr halten. Zwangsläufig änderte sich ihre Regierungsform, und die den früheren entgegengesetzten Maximen der neuen Regierung brachte den Zusammenbruch ihrer ehemaligen Größe." (Kap. 18)

Es sind Angriffe genug gegen den historischen Determinismus und seine Methode vorgetragen worden. Montesquieu selbst wird wohl gewußt haben, daß der Weg der Römer zu ihrem Weltreich nicht ganz so einfach nach den hier aufgezeigten Mechanismen verlaufen ist. So hat er auch nicht 16

Münch, Franz. Kultur

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in allen Kapiteln die Methode streng formuliert; denn er sah, daß tausend verborgene und offene Gründe bei einer Entwicklung, die oft mehr einem Tasten und Experimentieren als einer errechenbaren Geläufigkeit glich, mit im Spiele waren. Zudem wußten die Historiker im 18. Jahrhundert noch weniger von der wirklichen Geschichte der Römer als etwa die Forscher des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie stützten sich unbedenklicher auf die Geschichtskonstruktionen der Römer aus der Zeit Casars und des Kaisers Augustus. So interessant die Lektüre der Considerations heute noch sein mag, obwohl Inhalt und Gehalt im einzelnen überholt sind, ihr eigentümlicher Reiz liegt darin, daß dieses Buch die eine der drei möglichen Grundhaltungen des Betrachters der Geschichte vor dem Phänomen Geschichte herausstellt: Wir können mit Bossuet an die Providenz Gottes und seines Herrschertums in der menschlichen Geschichte glauben und sie danach konzipieren und niederschreiben; Gott allein hält die Geschichte der Menschen in seiner Hand, und nichts geschieht, was nicht im Plan der Vorsehung vorgedacht war. — Wir können aber audi mit dem gänzlich vom Religiösen abgewandten Roi de Prusse sagen, daß der Zufall — „sa sacrä Majesti le H a s a r d " — die Schicksale der Könige, Völker und Reiche bestimmt; wir schießen vielleicht den Pfeil ab, aber wohin ihn, um mit Schiller zu sprechen, die unsichtbare Kraft des Schicksals führt, wissen wir nicht, und sehen es erst später. — Wir können endlich aber auch die Geschichte als absurd betrachten; nichts in ihr hat dann einen „Sinn", — wenn nicht vielleicht den, daß wir die Götter verachten und Sisyphus lieben lernen und einsam und stolz, prometheische Gestalten, unser Schicksal auf uns nehmen, ohne doch auf die Revolte zu verzichten. Nun, Montesqiueu ist weder ein gläubiger Christ, noch ein Fatalist oder Atheist. Vielmehr ist er „Philosoph", also Aufklärer. Er sucht nach den „Gründen", nach den „Prinzipien" einer Entwicklung. Sein „Glaube" also ist, daß alles, nicht nur in der physischen Welt, sondern auch in der historischen, geistigen, moralischen Welt der Menschen, nach „Gesetzen" laufen müsse. Diese aufzufinden, war die ungeheure Anstrengung seines Lebens. Er reiste, um zu sehen; er las, bis er blind wurde; er durchdachte seine Erfahrungen und seine Lektüre, bis das Werk Gestalt wurde, dem er seinen Weltruhm verdankt. 3. Als Aristokrat alten Geschlechts hatte Montesquieu, als er nach England reiste, keine Schwierigkeiten, mit den hohen englischen Adelsfamilien zu verkehren. Er lernte bei Lord Chesterfield Lord Gray, Lord

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Holland, den Prince of Wales und Vertreter der Whig-Partei kennen. Die englische Verfassung erschien ihm das Höchste an politischer und staatsmännischer Weisheit; — und wenn er auch seine Augen nicht von den Schattenseiten des englischen Lebens abwandte und sehr wohl die Sittenverderbnis, die Käuflichkeit der Stimmen, die sozialen Schäden sah, so war doch sein Endurteil, daß England, alles in allem genommen, das freieste Land der Welt war — was einige Montesquieu-Interpreten zu der Meinung veranlaßte, Montesquieus England-Kapitel sei eine Reise in ein utopisches Land und sein Englandbild eine utopische Konstruktion. Die Wahrheit wird in der Mitte liegen. Von den tatsächlichen Verhältnissen ausgehend, hat er ein Idealbild aufgerichtet, das „in der Mitte zwischen richtiger Beschreibung und Utopie steht". (Berthold Falk op. cit. p. 70). Jedenfalls war die politische Freiheit das Zentralproblem, auf das sich die Radien seines Denkens richteten. Es handelte sich nicht mehr darum, nur Erkenntnisse zu haben, also etwa das Gute als gut zu befinden, sondern eine Nutzanwendung zu machen von allem, was er gelesen, gesehen, erfahren hat. Die Considerations waren eine Etappe auf diesem Wege. Der Esprit des Lois eine folgerichtige Fortsetzung und Ergänzung dazu. Montesquieus Absicht war nicht, die Vielzahl der positiven Gesetze aller bekannten Völker und Zeiten zusammenzustellen, sondern deren Natur, Prinzipien und Seele zu erfassen, ihre Beziehungen untereinander, zu den einzelnen Völkern und Zeiten zu erkennen, also Geographie, Geschichte, Philosophie als Bestandteile einer neuen Wissenschaft vom Rechtsstaat in seine Betraditungen einzulassen. Er verhält sich gewissermaßen wie ein naturwissesnchaftlicher Forscher im Grundsatz neutral, auch wenn ihm unter den mannigfaltigen Formen von Regierungen diese oder jene f ü r das Wohl der Nation geeigneter erscheinen als andere. Das Kriterium der Beurteilung ist die Vernunft und der soziale Nutzen. Aber er weiß: Selbst das absurdeste Gesetz, das offenbar nicht auf der menschlichen Raison gründet, hat seine raison d'etre. Gesetze und Einrichtungen sind Produkte verschiedener Elemente: des Klimas, der geographischen Beschaffenheit der Länder und Kontinente, der Fruchtbarkeit oder Unfruchtbarkeit des Bodens, audi der historischen Momente, der Religionen und der Volkscharaktere. Aber er weiß audi aus Erfahrungen und Beobachtungen: Die politische Wissenschaft, die zunächst aus den Gegebenheiten der Geschichte gewonnen und abstrahiert wird, kann ihrerseits auf die historischen Phänomene einwirken. Eine

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gute Verfassung vermag natürliche Mängel und Schäden abzugleichen, wie solche etwa aus Einflüssen des Klimas entstehen können. Physis ist eines, Ethos ein anderes. Physische Notwendigkeit enthebt den Menschen nicht seiner moralischen Pflichten. Und wenn es auf der einen Seite einen historischen Determinismus gibt, dann auf der andern einen sozialen Idealismus. Idee und moralische Forderung, die den Geist eines Gesetzes bestimmen, widerstreiten der brutalen, oft inhumanen Wirklichkeit, in der die conditio humana befangen ist. Aber aus dem Widerstreit soll die Freiheit hervorgehen, und Leitstern aller Mühen des Gesetzgebers soll die soziale Nützlichkeit und der Fortschritt der Menschheit sein. Noch immer ist das Vorwort des Esprit des Lois eine der schönsten Seiten französischer Prosa des 18. Jahrhunderts: Zeugnis menschlicher Größe, Weisheit, Noblesse und einer aufs Praktische gerichteten humanitären Gesinnung. Ein klarer Blick für die Wirklichkeit zeichnet den Verfasser aus: „Ich habe zunächst einmal einen kritischen Blick in die Menschen getan und den Glauben gewonnen, daß sie in der unendlichen Mannigfaltigkeit ihrer Gesetze und Sitten nicht einzig und allein von ihrer Phantasie geleitet wurden." „Ich habe (alsdann) Prinzipien aufgestellt und dabei gesehen, daß die Einzelfälle sich ihnen zwanglos unterordnen ließen, daß die Geschichte aller Nationen jeweils nur deren Folgen sind, und daß jedes einzelne Gesetz mit den andern verbunden ist oder von einem allgemeineren abhängt." „Meine Prinzipien habe ich nicht aus etwaigen Vorurteilen gezogen, sondern aus der Natur der Dinge." Also: Sitten und Gesetze sind keine Gebilde der Laune und des Zufalls ; es ist mit ihnen wie in der Physik: es herrschen die Gesetze von Ursache und Wirkung; diese zu erkennen ist die neue Wissenschaft einer Soziologie; — nidit subjektive Vorurteile, sondern die N a t u r selbst bestimmt seine Forschungsweise. „Wie oft habe ich dieses Werk wieder aufgenommen, wie oft es wieder aufgegeben! Tausendmal habe idi seine Blätter den Winden preisgegeben — ludibria ventis — und alle Tage fühlte ich die väterlichen Hände sinken — bis patriae occidere manus . . . Hatte ich eine Wahrheit gefunden, war es nur, um sie wieder zu verlieren; aber als ich endlich meine Prinzipien entdeckt hatte, kamen die Dinge, nach denen ich forsdite, wie von selbst zu mir, und im Laufe von 20 Jahren sah idi, wie mein Werk entstand, wuchs, vorankam und beendet wurde." „Sollte es je Erfolg haben, dann schulde ich es der Erhabenheit meines Gegenstandes — der ,majeste de mon sujet' — . . . " „Wenn ich je erreichen sollte, daß jedermann neue Gründe hat, seine Pflichten,

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seinen Fürsten, sein Vaterland, seine Gesetze zu lieben . . . w ü r d e ich midi f ü r den Glücklichsten unter den Sterblichen halten. W e n n ich je erreichen sollte, daß die Regierung besser wüßte, w a s sie anzuordnen habe, und daß die B e völkerung eine neue Freude am Gehorsam hätte, dann würde ich mich f ü r den Glücklichsten unter den Sterblichen halten. Idi w ü r d e mich f ü r den Glücklichsten unter den Sterblichen halten, wenn ich erreichen könnte, daß die Menschen v o n ihren Vorurteilen geheilt w ü r d e n . "

Ursprünglich war das ganze Werk auf die klassische Zahl von 24 Büchern beredinet. Bald wurden es 26, dann 27, schließlich kamen noch die ergänzenden Studien zwischen 1747 und 1748 dazu. Am Ende waren es 31 Bücher: „ D e l'Esprit des Lois, ou du R a p p o r t que les Lois doivent avoir avec la C o n s t i tution de chaque Gouvernement, ses Mceurs, le Climat, la Religion, le C o m merce etc.; έ quoi l'auteur a ajouti des Recherches nouvelles sur les Lois romaines touchant les successions, sur les Lois fran9aises et les Lois N o d a l e s . "

So lautet der genaue, die gesamte Thematik umgrenzende Titel. Das Werk erschien 1748 in Genf. Es hatte einen großen Erfolg. Innerhalb von 18 Monaten hatte es mehr als 20 Auflagen. 1749 erfolgte der Angriff der verbündeten Jesuiten und Jansenisten gegen das Buch. 1750 übernahm Montesquieu selbst seine Verteidigung in der „Difense de l'Esprit des Lois". 1751 wurde das Werk durch ein Dekret vom 29. November mit maßvollen Worten auf den Index gesetzt, während es die Sorbonne zu keiner förmlichen Verurteilung kommen ließ. Das war das Jahr, als Voltaires ,^ίέείε de Louis XIV.", der l . B a n d der „Encyclop^die" und Rousseaus 1. Discours (sur les sciences et les arts) erschienen. *

Es ist f ü r das Verständnis des Buches nützlich, sich klar zu machen, daß der Begriff „Gesetz" nicht einheitlich ist, sondern schillert und verschieden aufgefaßt werden kann. Der Anfang des Werkes lautet: „ L e s lois, dans la signification la plus £tendue, sont les rapports necessaires qui derivent de la nature des choses, et dans ce sens, tous les etres ont leurs lois; la Divinte a ses lois; le monde materiel a ses lois; les intelligences superieures a Phomme ont leurs lois; les betes ont leurs lois; l'homme a ses lois."

Mit einem Wort: Alles steht unter einem Gesetz. Ü b e r allem aber gibt es etwas wie eine „raison primitive", eine Art Urvernunft. Die Gesetze sind nur die B e z i e h u n g e n zwischen dieser Raison primitive und den verschiedenen Wesen, und die Beziehungen dieser Wesen untereinander.

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D e m g e m ä ß gibt es lois naturelles

Aufklärung u n d lois positives

— anders aus-

gedrückt: eine naturrechtliche Norm, d. h. einen absoluten Maßstab, an dem das zerstreute Recht, also die einzelnen bestehenden Gesetze gewertet werden können. Eine solche Norm muß es v o r den „gemachten" Gesetzen gegeben haben: „Behaupten, daß nur das, was die positiven Gesetze anordnen oder verbieten, recht oder unrecht ist, hieße, daß die Radien eines Kreises, bevor dieser geschlagen ist, alle von ungleicher Länge wären" (Dire qu'il n'y a rien de juste ni d'injuste que ce qu'ordonnent ou defendent les lois positives, c'est dire qu'avant qu'on eüt ί^οέ de cercle, tous les rayons n'itaient pas egaux.) 1,1

Angewendet auf die soziale Welt soll das nicht recht klare Bild wohl bedeuten: Es gäbe etwas wie Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, gewissermaßen immer gültige, „natürliche" Werte, die jeder zu achten hat. Es gäbe aber auch das Vielfältige, Besondere, historisch Bedingte, das erkannt, anerkannt und verstanden werden will. Somit sind beide Gesetzesarten normativer Art. Es kommt aber noch eine dritte Interpretation hinzu: Dieser dritte Gesetzesbegriff versteht das Gesetz naturwissenschaftlich als Wechselspiel zwischen Ursache und Wirkung. „Da wir sehen, daß die von der Bewegung der Materie geformte Welt, die indessen der leitenden Vernunft beraubt ist, immer fortbesteht, müssen ihre Bewegungen unveränderliche Gesetze haben — und, wenn man sich eine andere als diese Welt vorstellen könnte, so würde auch diese konstante Regeln haben, oder sie würde z e r s t ö r t . . ( 1 , 1 )

Kein Gott könnte eine geschaffene Welt ohne Gesetze regieren. Die Beziehungen der sich bewegenden Körper sind in dem Gesetz von Masse und Geschwindigkeit faßbar. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß eine Unklarheit der Gesetzesbegriffe entstehen kann, wenn diese sich den verschiedenen Ebenen der Betrachtung unterlagern. Einmal spricht Montesquieu als engagierter „moraliste" und „philosophe", alsdann wie ein neutral beobachtender „historien" und schließlich audi als „sociologue". Ein zweites Unbehagen stellt sich ein. Es war ja Montesquieus ursprüngliche Absicht, eine theoretisch-wissenschaftliche Untersuchung über den Sinn der Gesetze, ihrer Bedingtheit und ihrer Beziehungen zu den Nationalstaaten und den verschiedenen Verfassungen zu liefern („je ne traite point des lois, mais de l'esprit des lois", I, 3); er wollte mit einer naturwissenschaftlichen Objektivität die mannigfaltigen Beziehungen beleuchten, aber diese rein sachbezogene Absicht wurde in der Folge der

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Bücher und Kapitel von der kaum verhüllten Stellungnahme des Parteipolitikers und des an seine aristokratische Tradition gebundenen politischen Denkers durchkreuzt und überspielt. Montesquieu lebte in den Anschauungen der Fronde, er verteidigte die Ansprüche des Parlaments und richtete zuweilen, unter dem Mantel historischer Forschungen, seine politischen Invektiven im Kampf um die ständische Monarchie gegen den absolutistischen Staat Ludwigs XV. Er wechselte aus einer abstrakt-philosophischen Denkweise in eine konkret-politische hinüber. Selbst als „Philosoph" ist er widerspruchsvoll; denn einmal kämpft er als Aufklärer für Toleranz und Menschenwürde, zum andern schreibt er Seiten wie die über die Sklaverei (XV, 5), die, obwohl humorvoll gemeint, unser modern aufgeklärtes menschliches Gefühl verletzen: Da die Völker Europas die eingeborenen Stämme Amerikas vernichtet hatten, mußten sie durch Sklaven aus Afrika den Boden bebauen lassen... Der Zucker wäre zu teuer ohne die Arbeit der S k l a v e n . . . Diese sind schwarz von Kopf zu Fuß und haben eine so plattgedrückte Nase, daß es fast unmöglich ist, sie zu beklagen... Wie könnte Gott eine edle Seele in einen so schwarzen Körper gesetzt haben . . . Sind die Schwarzen überhaupt Menschen? Wenn schon, dann könnte man daran zweifeln, ob wir Christen s i n d . . . Entweder ist dieses Kapitel bittere Ironie, oder Montesquieu verdiente nicht die Benennung Aufklärer. Mit dem Begriif der Montesquieuschen Freiheit und seinem Naturrechtsbegriff waren solche Seiten nicht vereinbar. *

Drei Fragenkomplexe wurden seit je in dem Werke Montesquieus als wesentlich erkannt: die Fragen der Regierungsformen; die Teilung der Gewalten; die Wirkung des Buches in der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft. a) Die ersten 13 Bücher lassen einen Grundgedanken des Autors hervortreten, daß nämlich die politische Verfassung Natur und Geist der Gesetze bestimme. Die Faktoren, die er zu untersuchen sich vornimmt: die Relation der Gesetze zur Physis des Landes, dem climat, der qualite du terrain, seiner situation, seiner grandeur, dem genre de vie des peuples, dem degre de liberte que la constitution peut souffrir, der religion des habitants, ihrer inclination, ihrer richesses, ihrem commerce, ihren mceurs, ihren manieres... alle diese Relationen spielen ihre Rolle und haben ihre Bedeutung in den 3 Grundformen der Regierung der republikanischen, der monarchischen und der despotischen. Wie definiert sie Montesquieu?

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„Le gouvernement republicain est celui ou le pcuple en corps, ou seulement une partie du peuple, a la souveraine puissance; le monarchique celui ού un seul gouverne, mais par des lois fixes et itablies; au lieu que, dans le despotique, un seul, sans loi et sans rJgle, entraine tout par sa νοίοηίέ et par ses caprices." (II, 1) Die republikanische Regierung unterteilt sich in Demokratie und Aristokratie. Demokratie heißt sie, wenn das peuple en corps die souveräne Macht hat; Aristokratie, wenn die souveräne Macht in den Händen nur eines Teiles des Volkes ist. Jede dieser Regierungen hat nun ihren besonderen Motor. E r ist gewissermaßen das ihr jeweils zugeordnete, bewegende Prinzip. Das Prinzip der Monarchie ist die Ehre (honneur); das Prinzip der Despotie ist die Furcht (crainte); das Prinzip der republikanischen Regierungen ist die Tugend (vertu). Da also steht jener inhaltsschwere Begriff, der uns bei den Römern als virtus, bei Machiavelli als virtü, bei Montesquieu als vertu begegnet. „Vertu" ist hier kein christlich-moralischer Begriff, sondern ein politisch-sozialer Wert: „Ce que j'appelle la vertu dans la räpublique est l'amour de la patrie, c'est-ä-dire de l'£galit£" (Avertissement), und in IV, 5: „ . . . mais la vertu politique est un renoncement ä. s o i - m e m e . . . l'amour des lois et de la p a t r i e . . . cet amour est singuli^rement affecti aux d^mocraties..." Es ist kein Zweifel, daß von den 3 Regierungsformen die Despotie aus Prinzip und naturrechtlichem Empfinden von Montesquieu entschieden abgelehnt wird. Seine Demokratie, die an andern Stellen „Volksstaat", auch „Tugendhafte Republik" genannt wird, bedarf einiger Erläuterungen. Montesquieu denkt an die antiken, agrarischen Kleinstaaten. Was er oben an Tugenden solcher Volksstaaten aufgezählt hat, trifft nur für diese antiken Gebilde zu, freilich in soldier Kraft, daß „sie unsere kleinen Seelen in Erstaunen setzen" (IV, 4). Montesquieus Blick wie der seiner Zeitgenossen war auf die antiken Demokratien der kleinflächigen Republiken begrenzt. Mit der Heraufkunft der großräumigen Republiken von Ost und West, die sich beide Demokratien nennen, die sozialistische Sowjet-Union und die USA, hat sich das Bild verschoben. Die beste Regierungsform ist nach seiner Ansicht die Monarchie. D a ihr Funktionieren an einige untergeordnete und abhängige Zwischengewalten gebunden ist und Montesquieu selbst zu der politisch bedeutsamen Schicht der Aristokratie gehörte, fand er in der Monarchie, welche den Adel nicht entbehren konnte, das Ideal einer maßvollen Regierungsform. „Ohne Monarch kein Adel, ohne Adel kein Monarch. Sondern man

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hat dann einen Despoten" (II, 4). Die Rechnung sieht einfach aus: Was not tut, ist jemand, der regiert, ist jemand, der gehorcht, ist jemand, der kontrolliert. Mit andern Worten, es muß zwischen dem König und der Volksmenge gewisse corps intermidiaires geben, die das Gleichgewicht zwischen oben und unten herstellen und garantieren. Für Montesquieu, den Vertreter des alten Adels, bietet sich die Noblesse als vermittelnde oder mittlere Körperschaft an. Die Beziehungen zwischen diesen 3 Komponenten der Monarchie müssen durch Gesetze geregelt werden. Die Monarchie der Bourbonen ist in Montesquieus Augen zu absolutistisch, als daß er sie nicht in die Nähe des Despotismus rückte, in dem das Prinzip der Furdit, aber nicht dasjenige der Ehre und der Mäßigkeit, die der Aristokratie eigne, der bewegende Motor ist. Sein Ideal ist also die ständische Monarchie. Er verteidigt die Ansprüche der Parlamente, lebt in den Anschauungen der Fronde und arbeitet also der Revolution von 1789 nur insoweit vor, als er die Despotie angreift. Montesquieu ist und denkt aristokratisch. Er versteht unter Aristokratie eine Art begrenzter Demokratie. Eine nicht unerhebliche Zahl von Bürgern, die sich durch Geburt, Erbadel und durch ihre Erziehung ausweisen, aber unter sich gleich sind, sollen auf Grund ihrer Intelligenz und ihres Wissens in der Staatsführung sein. Aristokratie ist selection, tradition, έducation; in ihr sind 3 Tugenden wirksam: moderation, stabilit£, competence. Wie aber jede Demokratie in Despotismus umkippen kann, so jede Monarchie, wenn Prinzipien aussetzen oder pervertiert werden. Darum besteht die politische Weisheit in der Schaffung von Garantien, die das System des Gleichgewichts aufrechterhalten. b) Die Verteilung und Trennung der Gewalten ist der andere große Problemkomplex des Montesquieuschen Gesetzeswerks. Eine Verfassung, die in Montesquieus Augen die politische Freiheit der Bürger am besten zu gewährleisten sdiien, war die englische. Er war in England (1729 bis 1731), kannte Bolingbroke, las eingehend John Locke, von dem auch Bolinbroke abhängig war, fand bei Locke den Begriff der Freiheit und die wichtigsten Gedanken, denen Montesquieu in dem berühmten 11. Buch des Esprit des Lois Ausdruck gibt, und übernahm zuweilen fast wörtlich die Grundgedanken der „Discourses concerning Government" (1698) von Algernon Sidney: Kampf gegen den Absolutismus, die richterliche Gewalt als besondere Staatsgewalt neben der gesetzgebenden und ausführenden, die Trennung der 3 Gewalten. Das haben schon Haller und Koch bemerkt, und Walter Struck hat diese Anleihen analysiert. Sidneys Schrift

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lag schon 1702 in einer französischen Übersetzung vor. Das Ergebnis des Englandaufenthalts von Montesquieu ist der Essay „De la Constitution d'Angleterre", der heute als 6. Kapitel des Buches X I zu lesen ist: „Es gibt in jedem Staat drei Arten von Gewalten, die gesetzgebende, die vollziehende und die richterliche (la puissance legislative, la puissance executrice des choses qui dependent du droit des gens, et la puissance executrice de Celles qui dependent du droit civil)."

Legislative, Exekutive, Judikative müssen auf 3 Machtträger „verteilt" werden. Die Gesetzgebung, so faßt B. Falk die Ausführungen zusammen, soll von einer Volksvertretung ausgeübt werden und einem Oberhaus, das dem Adel reserviert ist. Die Volksvertreter sind nicht weisungsgebunden. Dem Monarchen obliegt die Ausführung der Gesetze und die Ausübung der auswärtigen Gewalt. Die Gerichte müssen unabhängig und in ihrer Rechtsprechung an das Gesetz gebunden sein (Falk, op. cit. 70). Es ist interessant, daß es eine Gewaltentrennung in diesem Sinne in der Verfassungswirklichkeit Großbritanniens um 1730 nicht gegeben hat. Sie war, wie K . Kluxen in seinem „Problem der politischen Opposition" (Freiburg/München 1956) ausführt, eine Forderung der Opposition. Das war sie auch bei Montesquieu: „Die Regierung muß so sein, daß kein Bürger den andern zu fürchten braucht. Wenn aber in einer und derselben Person oder in einer und derselben Körperschaft die gesetzgebende mit der vollziehenden Gewalt vereinigt ist, gibt es keine Freiheit; denn es ist zu fürchten, daß der Monarch oder die Körperschaft tyrannische Gesetze geben, um sie tyrannisch zu vollziehen. Ebenso gibt es keine Freiheit, wenn die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und der vollziehenden getrennt ist. Wäre sie mit der gesetzgebenden verbunden, würde die Gewalt über Leben und Freiheit der Bürger eigenwillig sein; denn der Richter wäre Gesetzgeber. Wäre sie mit der vollziehenden verbunden, hätte der Richter die Macht des Unterdrückers."

Das zivile Grundanliegen, um das es geht, ist die Frage nach der Freiheit und ihre politische Lösung. Darüber sagt Montesquieu dieses: „Die politische Freiheit besteht nicht darin zu tun, was man will. In einem Staat, d. h. in einer Gesellschaft, in der es Gesetze gibt, kann die Freiheit nur darin bestehen, tun zu können, was man wollen soll, und nicht gezwungen zu werden, zu tun, was man nicht wollen soll." ( X I , 3)

Das ist die berühmte Definition, die an die Formulierung Ciceros erinnert: „Omnes legum servi sumus, ut liberi esse possimus." (Pro Cluentio, 53). Freiheit begrenzt sich in dem „Recht zu tun, was die Gesetze gestatten" (ib.). Freiheit aber zielt auf die Sicherheit des einzelnen Bürgers.

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Damit das Gefühl der Sicherheit des Bürgers erreicht werde (cette tranquilliti d'esprit), muß die Regierung dergestalt sein, daß kein Bürger einen andern zu befürchten habe. N u n aber gibt es, sagt Montesquieu X I , 5, eine Nation in der Welt — er meint England —, „welche die politische Freiheit zum unmittelbaren Objekt ihrer Konstitution gemadit hat". Er will ihre Prinzipien prüfen, und sollten sie sich als gut erweisen, dann würde die Freiheit „wie aus einem Spiegel" hervorleuchten. Und sie leuchtete ihm in der Verfassung Englands. „Warum sie also noch suchen?" Es genügt ihm, seinen Essay „De la Constitution d'Angleterre" zu schreiben. Es wäre zu zeigen, welche Probleme Montesquieu noch in den folgenden Teilen des „Esprit des Lois" untersucht: 3. Teil (Buch 14—19), wo er darlegt, wie die Gesetze durch die schon zu Anfang genannten physischen und moralischen Elemente bedingt sind. Teil 4 (Buch 20—23) untersucht die wirtschaftlichen und demographischen Ursachen in der Bildung der Gesetze. Der 5. Teil (Buch 24—26) handelt von der Bedeutung, welche die geistigen Elemente innerhalb der Bildung von Gesetzen haben. Er spricht von den Religionen, aber aus politischer und demographischer Sicht. „Je ne suis point thiologien, mais icrivain politique." ( X X I V , 1) Er äußert sich zu dem „Paradoxe de Bayle": „J'aimerais mieux que Γοη dit de moi que je n'existe pas, que, si l'on disait que je suis un michant homme" (Bayle, Pensie sur la Con^te). Des weiteren weist er auf, warum der Katholizismus eher zur Monarchie neigt, und der Protestantismus sich eher mit einer republikanischen Verfassung verträgt, indessen der Mahomedanismus mehr der despotischen Regierungsform eignet. Immer prüft er die Religionen unter dem Gesichtspunkt ihrer staatspolitischen Nützlichkeit oder ihrer natürlichen Zuordnung zu dieser oder jener Staatsform. Montesquieu bezeugt sich als Christ. Spielt er indessen einmal mit der Frage, zu welcher Religion oder philosophischen Sekte er sich bekennen würde, wenn er f ü r einen Moment vergessen sollte, daß er Christ ist, dann überragt in seinem Urteil unter den antiken Sekten, die er als „esp^ces de religion" betrachtet, alle andern die stoische. „Sie allein vermochte Staatsbürger zu bilden; sie allein formte große Menschen; sie allein machte die großen Kaiser." Montesquieus Bewunderung f ü r Marc Aurel und Julian Apostata ist f ü r seine eigene philosophische Haltung bezeichnend. In diesem Teil seines Buches zollt Montesquieu auch der Toleranzidee seinen Tribut. Die Seiten der „Tr£s humble remontrance aux Inquisiteurs d'Espagne et de Portugal" (XXV, 13), wo er einen Juden den

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religiösen Fanatismus seiner Verfolger beschämen läßt, enden mit der Mahnung: „Ihr lebt in einem Jahrhundert, da das natürliche Licht der Aufklärung heller leuchtete als jemals, da die Philosophie die Geister aufgeklärt hat, da die Moral eures Evangeliums verbreiteter war als zuvor, da die Macht des Gewissens fester gegründet war . . . Wenn in späteren Zeiten jemand sagt, daß die Völker Europas in unserm Jahrhundert zivilisierter w a r e n , . . . dann hütet euch, daß man euch nicht zitiert um zu beweisen, daß sie Barbaren waren, und daß die Vorstellung, die man von euch haben wird, eurem ganzen Zeitalter zur Schande gereicht und alle eure Zeitgenossen dem H a ß ausliefert."

c) Ein Werk dieses Umfangs machte eine weitgespannte Dokumentation notwendig. Erst 1950 wurde in La Br£de der Katalog entdeckt, der uns über die von Montesquieu durchgearbeitete oder benutzte Literatur Auskunft gibt. Voranstehen die Politeia des Aristoteles, der Principe und die Discorsi sopra la prima Deca di T. Livio Machiavellis, die Utopie von Th. Morus, die Six Livres de la Republique von Jean Bodin und das De cive von Hobbes. Seltsamerweise fand man weder Lockes Essay on civil government noch Gravinas Originum juris civilis libri tres noch Sidneys Discourses concerning government, obwohl er sie alle zitiert. Wir sahen bereits, wie sich die Begriffe vom Gesetz durch das Ineinandergleiten der Betrachtungsebenen verwickelten und Unklarheiten hervorriefen. Aber gerade diese logisdien und kompositionellen Mängel haben der Wirksamkeit des Buches weiten Raum gegeben. Sowohl der demokratische Liberalismus der Revolution als audi die konservativen Männer der konstitutionellen Monarchie konnten sich gleichermaßen auf Montesquieu berufen. Die zeitgenössischen Aufklärer erkannten in dem Verfasser des Esprit des Lois einen der ihren im Kampf gegen die verschiedenen Formen der Intoleranz. Sie begrüßten das Buch, aus dessen Gesamteindruck sich das Ideal einer gemäßigten, von der Vernunft geleiteten, politischen Freiheit gestalten ließ. Montesquieu selbst blieb, nicht anders als sein Zeitgenosse Voltaire, auf dem Boden der politischen Ordnung seiner Zeit. Aber sein Werk enthielt einen umfassenden Plan politischer Reformen, deren Einfluß bedeutend werden sollte. Die Juristen des Tiers Etat griffen auf ihn zurück. Die Erklärung der Menschenrechte von 1789 benutzte in mehreren ihrer Artikel das Ideengut Montesquieus, und die Konstitution von 1791 realisierte das Prinzip der Gewaltenteilung. Freilich schaffte die Constituante die Privilegien der Zwischengewalten (Parlamente, Adel usw.) ab, die Montesquieu gerade als wesentlich für das Gleichgewicht des Staates anerkannt hatte. Doch das ist eine andere

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der modernen

Zeit

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Geschichte. Montesquieus Wirkung blieb stets als Impuls — nicht nur in der ersten verfassunggebenden Versammlung Frankreichs, sondern audi schon zuvor in den langen Kämpfen, welche die Parlamente gegen die Geistlichkeit und die Staatsgewalt führten. Es läßt sich weiter beobachten, wie unter der Wirkung seines Buches sich neue Anschauungen des öffentlichen Rechts ihren Platz sicherten sowohl in den Parlamenten als auch im Verhalten der Regierung selbst. Seine Wirkung läßt sich dort aufspüren, wo sich die Meinung durchsetzt, daß die gesetzgeberische Bindung der Staatsgewalt allein noch nicht genügt, um einen Rechtsstaat praktisch zu verwirklichen, sondern daß erst die Schaffung

formeller

Rechtsgarantien zu der erstrebten freiheitlichen politischen Ordnung führt. *

D i e Altersgenossen und jüngeren Zeitgenossen Montesquieus waren in ihren Urteilen über ihn und sein Gesetzes-Werk geteilter Ansicht. Voltaire rühmte seinen „esprit" und die „noble hardiesse"

seines

freiheitlichen

Denkens. E r rühmte den Esprit des Lois als das Breviarium aller derer, die zur Regierung berufen seien. D'Alembert ist voll des Lobes über ihn und nennt das Buch „ein unsterbliches Monument", das ebenso von dem Genie und der Tugend seines Autors wie von dem Fortschritt der Vernunft zeuge, ein ragendes Monument des Jahrhunderts, in „dessen Mitte die Geschichte der Philosophie ihr denkwürdiges Epos geschrieben h a t " (1751). D e r „Esprit des L o i s " war also mehr als reiner „de l'esprit sur les Lois", wie Madame D u D e f f a n d geistreichelnd bemerkte. Es war auch mehr als nur eine französische Version älterer italienischer, englischer, deutscher und französischer Untersuchungen dieser A r t ; denn es inaugurierte nichts weniger als eine Wissenschaft, die damals noch keinen Namen hatte: „Da der Plan des Herrn von Montesquieu", schreibt Maupertuis in seiner Eloge de Montesquieu, „alles in sich barg, was dem Menschengeschlecht förderlich sein konnte, hat er auch jenen wesentlichen Teil nicht aus dem Blick gelassen, der den Handel, die Finanzen, die Bevölkerung betrifft, also eine Wissenschaft, die so neu ist, daß sie noch nicht einmal einen Namen hat." In der T a t wurde erst mit Auguste Comte der Begriff der Soziologie als Gesellschaftswissenschaft eingeführt; und wenn auch heute die Soziologen über Montesquieu hinausgekommen sind und ihn bekämpfen, so sind sie sich doch darin einig, daß sie in der Aszendenz ihrer geistigen Ahnen von ihm abstammen. Montesquieu w a r dem Ancien Regime verpflichtet. E r w a r und blieb Aristokrat in D e n k f o r m und Allüren. Antoine Comte de R i v a r o l hatte

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recht, wenn er sagte, daß „Montesquieu in der Politik durchaus nicht alles gesehen, alles begriffen, alles gesagt hat — das war zu seiner Zeit unmöglich": „II n'avait point ρ3β8έ au travers d'une immense revolution qui a ouvert les entrailles de la s o c i e t e . . . " Und er fährt fort: „Aber was er gesehen hat, das hat er in überlegener Weise gesehen und unter einem immensen Blickwinkel. Sein Adlerauge durchdringt die Dinge und verbreitet Licht über sie . . . V o i l i mon homme! C'est vraiment le seul que je puisse lire aujourd'hui." (In den Conversations rapportees par Chenedoll£)

Montesquieu war in diesem Sinne nicht der Waffengefährte der Revolutionäre, die nach ihm kamen; — ein Vorwurf in den Augen etwa eines Helvitius, der, weil er in Montesquieus Werk noch immer die Vorurteile des homme de robe und des gentilhomme aufspürte, durchaus befürchtete, daß der Esprit des Lois die Menschen noch lange Zeit in die Irre führen w e r d e . . . „je crains qu'il ne nous egare pour longtemps" (An Saurin). Montesquieu war demnach schon v o r der Revolution ein Antipode der Revolution. Sein Ideal war zwar in einem gewissen Grade die Demokratie, aber die antike Demokratie, die keineswegs mehr zu verwirklichen war. Seine Bewunderung der alten Demokratien ist ein humanistischer Enthusiasmus. Im Gegensatz zu ihm ist J.-J. Rousseau der echte, moderne Demokrat, das Gegenbild des Aristokraten Montesquieu. Aus Rousseau, dem Plebejersohn, erwuchs die neue Zeit. Dennoch lebte die europäische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zum großen Teil im „Geiste der Gesetze": Die gesetzgebende, vollziehende und richterliche Gewalt wurden getrennt. Die Strafen waren angemessener und standen in einer vernünftigen Proportion zu den Vergehen. Der wirtschaftliche Liberalismus wurde eines der Kennzeichen der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Die konstitutionelle Monarchie, schreibt Falk, „war im besonderen das Charakteristikum der deutschen Verfassungsentwicklung im 19. Jahrhundert", (op. cit. 71) Schon in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika war das Prinzip der Gewaltenteilung verwirklicht. In den Federalist-Papers, dem berühmtesten Dokument des amerikanischen politischen Denkens (ursprünglich eine Sammlung von 85 Essays über den Verfassungsentwurf des Konvents von Philadelphia. Vgl. Jürgen Gebhardt, „The Federalist", in: Klassiker des politischen Denkens, II) spielte der Name Montesquieu eine hervorragende Rolle: Man zitiert ihn als „Orakel", „das bei jeder Diskussion über dieses Thema befragt und zitiert zu werden pflegt". Die Unabhängigkeit der Justiz ist heute ein staatsrechtlicher Grundsatz, den keine liberale Demo-

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kratie bestreiten möchte. Anders steht es mit der Gewaltenteilung der Legislative und Exekutive in den parlamentarischen Regierungssystemen. Wo „beide Funktionen bei einem Machtträger, einer Partei oder Koalition, vereint sind", wie in England, in der Bundesrepublik oder in Italien, ist die Dreiteilung Montesquieus nicht mehr gültig. Aber seine „soziologischen Erkenntnisse über die Bedingungen der Freiheit" bleiben bestehen: „die Einsicht, daß Freiheit nur gewährleistet ist, wo es einen Pluralismus und ein Gleichgewicht sozialer Kräfte gibt." (B. Falk, op. cit. 72) So bröckelte im 20. Jahrhundert vieles von dem Montesquieuschen Gebäude ab, und wir sehen, nicht anders als in den gewaltigen Trakten des philosophischen Monuments von Kants drei Kritiken, audi die Risse, Sprünge, Unebenheiten des sozialen Gebäudes der Montesquieuschen „idealen" Sozietät. Die heutige Industriegesellschaft will nicht mehr in den Rahmen passen, den Montesquieu abgesteckt hat. Andere Formen eines gesellschaftlichen Gleichgewichts werden gesucht. Aber was nach allen Brüchen, Umbrüchen, ja sogar nach den Rüdkfällen in die von Montesquieu so gehaßten despotischen Regierungsformen geblieben ist, sind die Prinzipien der politischen und bürgerlichen Freiheit, die sich in einem großen Teil der zivilisierten Welt behauptet haben. In jeder neuen Erklärung von Menschenrechten und in allen Verfassungspräliminarien wird etwas vom Montesquieuschen „Esprit des Lois" sichtbar. Neben vielem, was vergangen ist, steht das Bleibende und Dauerhafte, das offenbar — um in Montesquieus Sinne zu sprechen — in der unveränderlichen Vernunft und Natur des Menschen begründet ist. Voltaire 1. Gestalt und Werk Voltaires haben die Welt seit ihrem Erscheinen immer wieder in Bewunderung und Schrecken versetzt. Rousseau wurde sein erbittertster Feind; Friedrich II. hingegen setzte dem Verstorbenen ein königliches Denkmal; Goethe sah in ihm das Produkt einer langen Evolution des französischen Geistes und gestand ihm von 46 Eigenschaften, die man von einem geistvollen Manne zu fordern habe, 44 zu, darunter Genie, Talent, Sensibilität, Verstand, Geschmack, Wärme, Leichtigkeit, Feinheit, Eleganz, Anmut; David Friedrich Strauß brachte ihn uns näher; der Däne Georg Brandes entwarf auf dem Hintergrund des Voltaireschen Jahrhunderts die geistigen und künstlerischen Umrisse dieses einzigartigen Mannes; und Nietzsche widmete dem „freien Geiste" des Bewunderten sein „Menschlich-Allzumenschliches". Wem aber die Gabe

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des Lachens mangelt und der Sinn für Esprit und Ironie fehlt, der wird auch heute an Voltaire noch keinen Geschmack gewinnen. Längst weiß das 20. Jahrhundert, was es dem mutigen und geistvollsten Kämpfer für die Sache der Aufklärung verdankt, auch wenn unsere Zeit in ihren Rückschlägen zuweilen die Lehren Voltaires vergißt. Quentin de la Tour porträtierte Voltaire, als dieser 40 Jahre alt war. Menzel verdichtete seine Voltaire-Impression — die Genialität des Unterhalters — in das Bild von König Friedrichs Tafelrunde. Jean-Antoine Houdon schuf mit seiner Voltaire-Büste den Charakterkopf dieses von Geist, Ironie und Sarkasmus sprühenden Franzosen. Voltaire war in der Tat der witzigste und schlagfertigste Schriftsteller seines Jahrhunderts: ein hagerer, dürrer Mann, dessen Körper „fast nur wie ein Hauch" war, aber ein Wunder an Energie und Arbeitskraft, ein Unicum in der seltsamen Verbindung von boshaftem Verstand und geistiger Anmut, eine sonderbare Mischung aus Epikuräertum und asketischer Arbeitswut. Unruhig wie sein Temperament war sein Leben. Er verbrachte es, da er sich immer vor Verfolgern sichern mußte, zum größten Teil im Exil, in England, Holland, Preußen, im Reich, in der Schweiz, zuletzt an der französisch-schweizerischen Grenze, wo er gleichsam wie in einem Fuchsbau durch zwei Ausgänge gesichert war. Er stand schon im 21. Lebensjahr, als Ludwig XIV. starb. Das Säkulum des Sonnenkönigs hat er immer als den Gipfel französischer Macht und Kultur, und also der Menschheitskultur schlechthin, gewertet. Schon in der ersten Periode zeichnen sich die Züge seiner Persönlichkeit ab: Der sprühende Esprit dieses Pariser Bourgeois, der sich im Umgang mit den sozial Höherstehenden oft nicht zu zügeln wußte, weswegen er verprügelt wurde, mehreremals in die Bastille kam und außer Landes mußte. Die Galanterie bezeichnet sein Verhältnis zu Frauen. Kühle Berechnung auf Fortkommen und gesellschaftlicher Ehrgeiz stacheln ihn sein ganzes Leben. Er war boshaft und geldgierig. Seine Feinde konnte er mit der Feder durchbohren, daß alle Welt noch heute über solche Vierzeiler lachen kann wie diese auf seinen giftigen Gegner Friron: Un jour, au fond d'un vallon, Un serpent piqua Jean Friron. Que pensez-vous qu'il arriva? Ce fut le serpent qui creva.

Er besaß ein ungewöhnliches Geschick, sein Kapital zu vermehren, betrieb dubiose Geldgeschäfte, spekulierte in Grundstücken, bereicherte sich

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an Armeelieferungen, obwohl er überzeugter Pazifist war, der weder dem König von Preußen noch der Zarin Katharina hätte Mordwaffen anbieten dürfen. Seine beständigen Kaufvermittlungen, Korntransaktionen und nicht zuletzt die Erträgnisse aus seinen Büchern vermehrten sein Vermögen, so daß er am Ende das Leben eines Grandseigneurs führen konnte, ein Leben in vornehmem Stil mit einer Herrschaft von 1200 Untertanen. Er besaß Äcker, Weinberge, Villen, verfügte über einen Stab von Lakaien, Sekretären und anderen Bediensteten, hatte ein Haustheater und errichtete — so antiklerikal er war — vor seinem Schlosse in Ferney eine Kapelle, über deren Eingang zu lesen steht: D E O E R E X I T VOLTAIRE. Doch bis dahin war es ein weiter Weg. Er mußte 1726 — das war 3 Jahre, bevor Montesquieu nach England reiste — freiwillig in ein unfreiwilliges Exil nach London. Die Bilanz dieses dreijährigen Englandaufenthaltes, wo er gründlich die englische Sprache lernte, ist so bedeutsam, wie es die Englandreise für Montesquieu wurde. Die literarische Frucht haben wir in den „Lettres philosophiques", in denen er mit der Darstellung der zeitgenössischen Literatur, Philosophie, der Politik und Religion im Bilde der Gesellschaft des fortschrittlichen Inselreichs seinen französischen Landsleuten den Spiegel aufgeklärten Menschentums vorhält. Er folgen die Perioden seiner Freundschaft und Liebe zu der Marquise du Chatelet, nach ihrem Tode der Aufenthalt in Potsdam (1750—1753), der sich zum Drama einer denkwürdigen Freundschaft gestaltete, zu einem Drama, das sein Vorspiel, seine Peripetien, Klimax und Katastrophe sowie sein langjähriges Nachspiel hatte, das erst mit Voltaires Tode endete. Nach dem Fortgang von Potsdam und Berlin siedelte sich Voltaire in der Schweiz an. Seine Herrschaft als geistige Madit Europas begann: Könige und Fürsten huldigen ihm, Künstler und Wissenschaftler suchen ihn auf. In einer weitgespannten Korrespondenz, die etwa 12 000 Briefe umfaßt, hält er die Verbindungen und Querverbindungen mit den H a u p t städten Europas aufrecht. Er steht im Schnittpunkt der Linien, die von London nach Rom, von Paris nach Sankt-Petersburg verlaufen. Seine Produktionskraft grenzt ans Unheimliche. Am Ende seines Lebens steht ein Werk von 70 Bänden da, eine Enzyklopädie f ü r sich. Sein Kampf gegen die „Infame" steigert seine pathologische Reizbarkeit gegenüber jeglichem Fanatismus, jeglicher Grausamkeit, jeglicher Unduldsamkeit, die aus religiösen Überzeugungen begangen wurden und begangen werden. Seine Flugschriften, Essays, Satiren, Artikel, Traktate,

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Bittschriften, Briefe, die hundert „rogatons portatifs", seine ganze literarische Produktion wird zu einem einzigen Engagement, mit dem sich dieser Feuerkopf in den schier aussichtslosen Kampf gegen die empörende Dummheit der Menschen verstrickt. Aber er hielt ihn durch. Die Prozesse um Calas und Sirven und La Barre, die zu europäischen Ereignissen wurden, und die er siegreich durchgefochten hat, sind sein unsterblicher Ruhmestitel. Er wurde zur „Flamme über Europa". Das Grundpathos seines Charakters, nämlich des an Dante gemahnenden Rechtsgefühls, und die mit ihm verbundene Forderung, daß wir unsere irdischen Angelegenheiten mit souveräner Vernunft, mit Duldsamkeit gegenüber dem Nächsten und im Hinblick auf die soziale Nützlichkeit in die Hand nehmen sollen, hat nicht nur zu den Rechtsreformen des 18. Jahrhunderts geführt, sondern hallt noch heute in dem Umkreis der engagierten Literatur nach. Von Voltaire geht die Linie über Zola zu Camus. Als erster hat Friedrich d. Gr. diesen Zug in dem vielschichtigen, schillernden Charakterbild des Freundes, mit dem er sich längst versöhnt hatte, als bedeutungsvollsten hervorgehoben. In seiner Gedenkrede auf Voltaire heißt es: „Wie schön ist es, wenn ein Philosoph aus seiner Zurückgezogenheit die Stimme erhebt, wenn die Menschheit, deren Anwalt er ist, die Richter zwingt, ungerechte Urteile umzustoßen. Hätte Voltaire nur diesen einzigen Zug für sich, er verdiente, unter die kleine Zahl der wahren Wohltäter der Menschheit versetzt zu werden . .

In allen Voltaire-Biographien wird die Geschichte des Justizmordes an Jean Calas erzählt. Alfred Noyes berichtet sie noch einmal in seinem „Voltaire" (deutsch im Callway-Verlag 1958). Jean Calas lebte als Protestant in Toulouse mit seiner Familie als unbescholtener Kaufmann. Am 13. Oktober 1761 wurde sein ältester Sohn im Magazin erhängt gefunden. Er war angeblich katholisch geworden, weswegen der Vater beschuldigt wurde, ihn aus Religionshaß ermordet zu haben. Die ganze Familie kam ins Gefängnis. Vergeblich beteuerte Calas seine Unschuld. Das Parlament erklärte ihn für überführt, ließ ihn foltern und verurteilte ihn dann zum Tode durchs Rad. Sein Vermögen wurde eingezogen. Die Kinder kamen ins Kloster. Die Witwe zog nach Genf. Voltaire nahm sich der Sache an, brachte den Prozeß durch seine Schrift „Sur la Tolirance" an die Öffentlichkeit und erwirkte eine Revision des Prozesses. 1765 war der Prozeß gewonnen: die Familie Calas wurde rehabilitiert. Es genügt die Korrespondenz dieser Jahre zu lesen, und wir glauben der Behauptung, daß man Voltaire während der Jahre, in denen er um die Rehabilitierung von

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Calas' Andenken kämpfte, nie habe lächeln sehen. Noch Jahre danach, als durch seinen Mut und seine Bemühungen die Unschuld der Familie an den Tag gekommen war, und Versailles den Spruch des Toulouser Gerichts für nichtig erklärte, schrieb er an d'Argental: „Dieses unschuldige Blut schreit, mein lieber Engel; und auch ich schreie und werde bis zu meinem Tode nicht aufhören zu schreien." Der Kampf um die Verfolgten ging also weiter. So führte der Unermüdliche die Prozesse um Sirven, d'Etallonde, plaidierte in Sachen Perra, Martin, Montbailli in den 60er Jahren. In diese Zeit gehören das Dictionnaire philosophique (1764), die Dialogues, der Commentaire sur les delits et les feines (1766), der Essai sur la probabilite en fait de justice (1772). Voltaire verlangte eindeutigen Beweis der Schuld des Angeklagten; vollständige Motivierung des Urteils; Angemessenheit der Strafe. Unter dem Stichwort „Crimes" des Dictionnaire lesen wir: „Si contre cent mille probabilitis que l'accusi est coupable il y en a une seule qu'il est innocent, cette seule doit balancer toutes les autres." (Wenn gegen hunderttausend Wahrscheinlichkeiten, daß der Angeklagte schuldig ist, audi nur e i n e sich findet, daß er unschuldig ist, dann muß diese eine Wahrscheinlichkeit alle andern aufwiegen.) Als Voltaire 6 Jahre später, 84jährig, ein letztes Mal nach Paris einfuhr, um der Aufführung seiner „IrJne" beizuwohnen, huldigte ihm die ganze Nation. Den zeitgenössischen Schilderungen entnehmen wir, daß die Fahrt vom Louvre zum Theater einem öffentlichen Triumphzug glich. Unter allgemeinem Beifallsjauchzen und Händeklatschen auf der Straße, von den Fenstern, im Foyer, gelangte er in die Loge der königlichen Kammerherrn. Der Tumult erreichte den Höhepunkt, als nach Beendigung des Schauspiels auf der Bühne die Büste des großen Mannes, umringt von den Schauspielern und Schauspielerinnen, enthüllt wurde. Die Apotheose wurde zur Manifestation der öffentlichen Meinung in Frankreich. Voltaire hatte das seinige getan. Kurze Zeit danach, in der Nacht vom 30. zum 31. Mai 1778, erlosch das Licht, das sein Leben und Wirken über die Erde verbreitet hatte. Ein Begräbnis wurde ihm von der Geistlichkeit in Paris verweigert. Die Leiche wurde aus der Stadt entführt. 13 Jahre später ließ die Revolution die Uberführung seiner Asche ins Pantheon anordnen. 2. Alles kulturelle und gesellschaftliche Leben, alle Zweige geistiger Aktivität des Menschen interessierten ihn. Er ließ sich von Maupertuis in die Newtonsche Mathematik einführen. Er machte gemeinsam mit der 17*

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Marquise du Chatelet physikalische Experimente. Für sie begann er die historischen Arbeiten zum Steele de Louis XIV und den Essai sur les Moeurs. Er schrieb Gelegenheitsgedichte, philosophische Poemata, Satiren, Erzählungen, Epen, unter denen das vom König Henry IV., die „Henriade" die Popularität des „bon roy Henry" bei den Franzosen bewirkte, während das andere Epos von der Pucelle d'Orleans unter der Hand zirkulierte und umso begieriger von der mondänen Welt gelesen und genossen wurde, je despektierlicher die Heiligkeit der Jungfrau von dem Dichter ins Menschlich-Allzumenschliche gezogen wurde. Er komponierte ein ganzes Wörterbuch gegen die Dummheit, den Aberglauben und die Bosheit der Menschen und verfaßte mehrere Dutzend Tragödien, von denen Goethe zwei übertrug: den Mahomet und den Tancred. Die rührselige Zaire hat sich bis heute als Schaustück auf dem Spielplan der Comedie Franjaise gehalten. Voltaires Geist war unerschöpflich, seine Feder ewig gespitzt, unermüdlich. Frühzeitig hat er sich für Geschichte interessiert. Schon drei Jahre nach dem Versepos der Henriade (1728) ist ihm der erste Wurf als Historiker mit der „Histoire de Charles XII" gelungen. Ein fesselnd geschriebenes Werk, das seinen Verfasser nicht nur als gut dokumentierten Historiker der politischen und militärischen Ereignisse der Zeit des Schwedenkönigs und seines Gegenspielers Peters d. Gr. empfiehlt, sondern ihn als hervorragenden Schriftsteller ausweist, der durdi Geist und Stil seiner Darstellungen von der ersten bis zur letzten Seite fesselt. Das Werk ist eines der besten frühen Muster der noch in unserm Jahrhundert beliebten „biographies romam^es". Im Vorwort zur 2. Auflage stehen bemerkenswerte Dinge: Der Verfasser spricht von dem „Juckreiz" (d£mangeaison), unnötige Details in geschichtlichen Werken anzuhäufen; sie würden doch alle nur vergessen werden; denn was kümmern am Ende die Menschheit all die verwirrenden Hofintrigen, Maitressenwirtschaften, Ministerhändel, Kriege und Verträge? Die Ereignisse von Gewicht sollten den Strom des Geschehens entrissen werden, solche, welche die großen Revolutionen hervorgebracht hätten, oder jene, die von hervorragenden Schriftstellern beschrieben wären. Also nur bedeutende Ereignisse und die Kunst der Darstellung verbürgen Wert und Würde der Geschichtsschreibung. Voltaires Eignung als Historiker spricht sich schon in seiner Forderung aus, alle nur zugänglichen Quellen schriftlicher oder mündlicher Überlieferung kritisch abwägend zu benutzen. Er befragt Augenzeugen, durchstöbert diplomatische Dokumente, hält sich vor allem gegenwärtig, daß

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die Urteile sich mit den Zeiten wandeln; darum die Mahnung: der Historiker solle die zeitbedingte Perspektive kennen und „historisch" sehen: „Wenn man eine Geschichte liest, muß man sich in Gedanken die Zeit vergegenwärtigen, in welcher der Autor geschrieben hat . . . Die Spanier von heute sind nicht mehr die Spanier aus der Zeit Karls Y. . . . Die Engländer (heute) ähneln ebensowenig den Fanatikern Cromwells wie die Mönche und monsignori, von denen Rom voll ist, den Szipionen ähneln . . . " . . . Man sage gemeinhin, ein Mann sei tapfer gewesen . . . Spräche man von einer Nation, dann müsse man sagen, sie erscheine uns so und so unter dieser oder jener Regierung, und in dem jeweils bestimmten Augenblick der Geschichte . . .

All das ist klug und überzeugend. Indessen nimmt das Buch über „Das Jahrhundert Ludwigs XIV." (Le 5ίές1β de Louis XIV), an dem Voltaire über 20 Jahre gearbeitet hat, und dessen 1. Auflage 1751 in Berlin herauskam, im Bewußtsein der Nachwelt einen größeren Raum ein. Es ist das Werk eines Franzosen über Frankreichs ruhmreichste geschichtliche Periode: die Regierungszeit des Sonnenkönigs. Nationale Töne und Untertöne sind darum auch nicht überhörbar. Was interessierte Voltaire an Ludwig XIV. und seiner Zeit? Nicht so sehr die Geschichte und die Privatangelegenheiten des Souveräns selbst (obwohl er von ihnen ausgiebig spricht), sondern der Einfluß, der von Ludwig auf das gesamte Kulturleben Frankreichs und der Welt ausging, auf die Entfaltung der Wirtschaft, der Politik, der Künste und Wissenschaften, der materiellen Zivilisation und der geistigen Kultur: der Literatur, Architektur, Musik und Malerei. Das Buch enthält gewiß traditionelle Berichte von Schlachten, diplomatischen Angelegenheiten, Kriegen, Friedensschlüssen, Gebietsveränderungen; es enthält auch Porträts des Königs und von Personen seiner Umgebung, enthält Anekdoten seines Lebens und Liebeslebens. Es ließe sich ein Vokabular zusammenstellen, das den Geist der Hofhaltung, der Frauen und Höflinge charakterisierte: die politesse, cette fleur d'esprit, die galanterie noble et fiere, die grace, douceur, liberie decente und so f o r t . . . Solche Teilaspekte bilden zusammengenommen den Wert des goüt. In diesem Begriff des Geschmacks resümiert sich die Hochkultur der Klassik: in ihm verbindet sich die höfisch-humane Gesinnung und Gesittung mit der Meisterschaft literarischer, sprachlicher, künstlerischer Kultur. Doch fehlen in diesem glänzenden Gemälde auch die Schatten nicht. Denn Voltaire beschreibt nidit die Sonne selbst, die lauter Licht wäre, sondern die Ausstrahlung des Versailler Phöbus-Apollon, also den Glanz der Farben auf den Erscheinungen der Welt. Und zu den Farben gehören die Schatten: die Aufhebung des Edikts von Nantes, die kirchlichen An-

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gelegenheiten, die theologischen Spannungen zwischen Kalvinismus, J a n senismus, Quietismus. Ja, das Bild würde tiefere Schatten haben, färbte sie Voltaire nicht mit beschönigendem Licht. Man vergleiche nur, wie etwa gegenüber einem Saint-Simon oder Pierre Bayle hier, im 5ίέο1β de Louis X I V , Voltaire den Entschluß des Königs zur Rückführung der Protestanten in die katholische Kirche mildernd darstellt. Schließlich war bei allem Licht das Saeculum des Sonnenkönigs noch nicht das „si£cle des l u n ^ r e s " , das Jahrhundert der „saine philosophie", das erst mit Locke, Newton, Montesquieu und Voltaire selbst heraufziehen sollte. Dennoch hat sidi im Grunde die historische Perspektive, in der Voltaire die großen Etappen der kulturellen Entwicklung der abendländischen Menschheit sah, nicht verschoben. Das Frankreich des Sonnenkönigs bleibt im Urteil Voltaires der vierte Gipfel europäischer Kultur- und Geistesgeschichte. Das erste war das Perikleische Zeitalter, also die Jahre zwischen Perikles und Alexander d. Gr., das Jahrhundert von Piaton, Aristoteles, Phidias, Praxiteles. Das zweite Zeitalter war das von Cäsar und Augustus, die Epoche von Lukrez, Cicero, Titus Livius, Vergil, H o r a z , Varro, Vitruv. Das dritte folgte auf die Einnahme Konstantinopels durch die Türken und wurde das Zeitalter der Medici, die große Zeit der italienischen Kultur, die über ganz Europa ausstrahlte. Mit Recht gedenkt Voltaire des Königs Franz I., besser hätte er dessen Schwester Margarete von N a v a r r a erwähnen sollen. Lücken werden sichtbar. Er erwähnt nicht einmal, obwohl er audi von Musik handeln wird, Goudimel oder Palestrina; die musikalische Hochkultur der polyphonen Musik scheint ihm kaum bekannt zu sein, „la musique n ' i t a i t pas encore perfectionnie" — als ob es in den Künsten „Fortschritte" im Sinne der Naturwissenschaften und der Technik gäbe. U n d w a r die „philosophie expirimentale" damals wirklich so unbekannt, wie es Voltaire meinte? I n seiner Anschauung liegt die vierte Epoche über der dritten; denn im 17. Jahrhundert habe sich die menschliche raison vervollkommnet. „La saine philosophie n'a έΐέ connue que dans ce temps." Der Begriff der „gesunden Philosophie" ist zweideutig; denn einmal versteht Voltaire darunter, was K a n t als Wahlspruch der Aufklärung bezeichnen w i r d : sapere aude!, d . h . die Lösung der ratio aus der Vormundschaft der Theologie. Zum andern bedeutet die saine philosophie die Opposition Lockes und Newtons gegen die deduktive Methode Descartes'. Aber das eigentlich Bedeutungsvolle dieser vierten Epoche menschlichen Geistes sieht Voltaire im Fortschritt zu immer höhe-

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ren Formen menschlicher Gesellschaft, ihre vermeintliche endgültige Befreiung aus der „grossierete gothique", also der mittelalterlichen Dumpfheit und Ignoranz. „L'Europe a du sa politesse et l'esprit de βοα&έ ä la cour de Louis X I V . " Schon 1740, also noch viele Jahre, bevor er das Steele beendete, hatte sich ihm der Gedanke an ein historisches Werk von weltgeschichtlichen Dimensionen aufgedrängt, der „Essai sur les moeurs et l'esprit des nations et sur les prineipaux faits de l'histoire, depuis Charlemagne jusqu'ä Louis X I I I . " Erst 1756 wurde er abgeschlossen. Dieser Essai (in der Ausgabe von 1785 zählt er 4 Bände von durchschnittlich 500 Seiten) ist eine Art Gegenwurf oder Ergänzung des Bossuetschen „Discours sur l'Historie universelle". Das Werk ist nicht vom Standpunkt eines christlichen Theologen geschrieben, f ü r den die Weltgeschichte unter dem Gesetz göttlicher Vorsehung steht, sondern vom Standpunkt des „Philosophen", der sich unter anderen drei wesentliche Fragen vorlegt: Wie sieht die Wirklichkeit aus? Gibt es eine menschliche Natur, die den Erdbewohnern eigen ist? Gibt es einen Fortschritt? Die Wirklichkeit ist grausam von Anfang bis zum Ende der uns überschaubaren Geschichte. Sie ist ein einziges Bild von Verbrechen, Wahnsinn, Leiden, nur hin und wieder leuchtet durch die Düsterkeit der Jahrtausende (man lese die 340 Seiten der Introduction) ein Schimmer kurzer, glücklicher Zeiten, wo die Vernunft regierte und die Kräfte des Guten siegten. Der Mensch ist sich gleich — gleich gut, gleich böse — von einem Ende der Welt zum andern. Trotzdem zeigt die Geschichte eine unendliche Variation von Bildern, weil Natur und Gewohnheit sich ewig um die Herrschaft streiten. So sieht Voltaire das eine wie das andere: die Mannigfaltigkeit der Erscheinungsformen alles historischen Lebens, und die Einheit und Unveränderlichkeit dessen, was wir die N a t u r oder das Wesen des Menschen nennen. Zweihundert Jahre später fragte sich Albert Camus (in einer Zeit, die offenbar gezeigt hat, daß der zivilisierte Mensch des 20. Jahrhunderts sich gegenüber seinen Urahnen nicht viel geändert hat), ob die Griechen nicht doch recht gehabt hätten, wenn sie von einer unveräußerlichen N a t u r des Menschen gesprochen haben. U n d Voltaire: „L'empire de la coutume repand la variete sur la scene de l'univers: la nature y repand l'unite . . . Le fonds est partout le meme, et la culture produit des fruits d i v e r s . . . "

Kann es bei solcher Sachlage einen Fortschritt geben? Voltaire müßte

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kein Denker des 18. Jahrhunderts sein, um die Frage nicht bejahend zu beantworten. Die Analyse der menschlichen Natur, ihrer intimen Triebfedern, deutet darauf hin, daß es uns doch -wohl gestattet sein darf zu hoffen: „Wir beobachten eine Liebe zur Ordnung, die insgeheim das Menschengeschlecht beseelt und es vor einem totalen Ruin bewahrt h a t . . . Diese Triebfeder hat die Gesetzesbücher der Völker geschaffen; sie ist unzerstörbar und bewirkt immer wieder, daß wir das Gesetz und die Diener des Gesetzes in Tongking wie auf der Insel Formosa oder in Rom verehren . .

Wenn wir nur statt der verschiedenen Dogmen, welche die Menschen trennen, eine einheitliche Moral hätten, welche die Menschen verbindet, dann könnten in einem erträumten Zeitalter der völligen Reife des Verstandes und der „Reinigkeit des Herzens" (das Wort steht bei Lessing) der Geist der Kunst und Wissenschaft und eine aufgeklärte Politik und Staatsverwaltung einen Fortschritt bewirken. Das war der Glaube des Jahrhunderts, der Glaube jener Denker, die illusionslos wie Voltaire, Lessing, Kant die Geschichte der Menschheit betrachteten, ihre Verderbtheit sahen und dennoch nicht am Fortschritt verzweifelten. 3. Unter den Großen der Vergangenheit und Gegenwart sind es immer wieder drei, die Voltaires Denken beschäftigen und ihn nicht zur Ruhe haben kommen lassen: Pascal, Leibniz, Rousseau. a) Von der Lettre X X V des Englandbuches „Remarques sur les Pensees de Pascal" (zur Datierung dieser „Remarques" siehe die Edition der Lettres Philosophiques von Lanson-Rousseau, Bd. II, 226 f. P. 1964) über die Addition zu den „Remarques" bis zu den „Dern&res Remarques" von 1777 zieht sich Voltaires Auseinandersetzung mit diesem Christen und Metaphysiker. Er greift ihn an, als wäre Pascal sein persönlicher Gegner. Es ist hier nicht die Frage, wer philosophisch im Recht ist. Ihrer beider Welten und Denken sind zu verschieden, als daß der Kampf mit dem Sieg des einen oder andern entschieden werden könnte. Hier kann keiner Besiegter oder Sieger sein. Ihre Erfahrungen, ihre Denkform, das Jahrhundert, dem der eine und der andere angehört, trennen sie voneinander. Zwei Motive umklammern und begründen Voltaires Abneigung gegen den Jansenisten: der profunde Pessimismus, dessen Konsequenz die Entfremdung des Menschen von den irdischen Angelegenheiten ist; eine ausschließliche Blickrichtung auf Gott bringe die Gefahr mit sich, daß der Mensch vom irdischen Handeln abgehalten werde und schließlich die natürliche Fähigkeit des Genießens und der Lebensfreude verliere. Zum

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andern ärgert es Voltaire, daß Pascal, dieser mathematisch geschulte, stärkste Logiker unter den Modernen, just die Wahrheit der christlichen Religion mit den Waffen der Raison und der Logik als die unumstößliche einzig wahre Religion beweisen wolle. Es mußte Voltaire bekümmern; denn gelänge es Pascal, würde sich daraus die Gefahr ergeben, daß die Wissend-Gläubigen notwendig die andern vernünftig denkenden Menschen zu bekehren berufen seien, — und die Tugend der Toleranz würde aufgehoben werden. Der Impuls voltaireschen Denkens wäre sinnlos, das Ziel seines K a m p f e s um die irdische Regelung menschlicher Angelegenheiten wäre kein Ziel mehr, Voltaires Lebenssinn und Lebensinhalt würde ad absurdum geführt werden, denn das Glück unserer irdischen Existenz, das Voltaire im Diesseits realisiert wissen will, wäre keines Einsatzes wert. Die Kampfesführung ist für Voltaires Art bezeichnend. Er weiß um Pascals Genie — und bekundet es gleich zu Beginn in aller Offenheit: „ J e respecte le ginie et l'iloquence de M. P a s c a l . . . " um gleich darauf zu sagen: „ . . . et c'est en admirant son ginie que je combats quelques-unes de ses idέes." Dann stellt er den unvereinbaren Gegensatz von sich und ihm heraus. Was hat Pascal getan? Er hat den Menschen in einem hassenswerten Lichte erscheinen lassen; er hat uns alle als bösartig und unglückselig verworfen . . . „il dit eloquemment des injures au genre humain". Er aber, Voltaire, will die Partei der Menschlichkeit und Menschenwürde (humanite) gegen diesen „erhabenen Misanthropen" ergreifen; er glaubt nachweisen zu dürfen, daß wir Menschen weder ganz schlecht noch ganz unglücklich sind und glaubt, damit der Wirklichkeit näher zu kommen. An einem Beispiel mag die Kontroverse des lebensfrohen, optimistischen Aufklärers mit dem sich von der Welt abwendenden, pessimistischen Christen Pascal illustriert werden. Man wird sehen, daß sie auf so verschiedenen Ebenen stehen, daß unter solchen Voraussetzungen der K a m p f widersinnig ist: Pascal: „Man stelle sich eine Anzahl Menschen vor, die in Ketten liegen und zum Tode verurteilt sind. Täglich werden einige von ihnen vor den Augen der anderen erdrosselt; die verbleiben, sehen ihre Lage in der ihrer Mitgefangenen, und sie warten, wenn sie sich gegenseitig ansehen, voll Schmerz und ohne Hoffnung, daß die Reihe an sie kommt. C'est l'image de la condition des hommes." (Pensee 199) Voltaire: „Dieser Vergleich ist offensichtlich nicht richtig . . . das natürliche Schicksal eines Menschen ist nicht, daß er in Ketten gelegt und erdrosselt wird. Vielmehr sind alle Mensdien wie die Tiere und Pflanzen gemacht: um zu

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wachsen, um eine zeitlang zu leben, um ihresgleichen zu erzeugen und um zu sterben. Man kann in einer Satire den Menschen so viel man will von seiner schlechtesten Seite zeigen; aber sofern man sich nur seines Verstandes bedienen will, wird man zugeben müssen, daß der Mensch von allen Tieren das vollkommenste und glücklichste ist und das am längsten lebt. Anstatt uns über das Unglück und die Kürze unserer Lebensdauer zu verwundern und zu beklagen, sollten wir uns verwundern und uns beglückwünschen über unser Glück und unsere Lebensdauer. Als Philosoph wage ich zu sagen, daß noch viel Überheblichkeit und Verwegenheit dazu gehört, wenn man behauptet, daß wir, unserer Natur gemäß, besser sein sollen als wir es sind." (Nr. 28)

Schließlich verneint Voltaire, daß es Aufgabe der Metaphysik sei, die Wahrheit der christlichen Religion zu beweisen. Der Verstand vermag das garnidit, denn „la raison est autant au-dessous de la foi que le fini est au-dessous de l'infini." Mag das alles als Sache der Metaphysiker ausgetragen werden; was ein Voltaire unbegreiflich findet, und auch von seinem antimetaphysischen und antichristlichen Denken so finden muß, ist Pascals Versuch, das Dogma der Erbsünde logisch zu etablieren. Das sind für Voltaire Hirngespinste, die sein Geist nicht begreifen kann. Er hat so etwas wie Verachtung für die Metaphysik, eben weil sie für ihn eitle, unnütze Spekulation ist. Wir wissen nichts über die Attribute oder die wahre Natur Gottes. Wir wissen nichts von dem Ursprung der Welt und ihrem Ende. Wir erdichten Romane, wenn wir vom Sündenfall sprechen, und werden schlimmstenfalls Fanatiker, wenn wir Glaubensüberzeugungen anstatt beweisbarer Vorgänge auf die Ebene der Religion spielen und die Menschen bekehren wollen. Aber Voltaire ist alles andere als ein Ungläubiger. Er ist „nur" Deist reinsten Wassers. Entgegen den Christen wie Pascal und entgegen den Atheisten unter den Enzyklopädisten vertritt er die Anschauung, daß die Vernunft wohl einen Gott fordere — si Dieu n'existait pas il faudrait l'inventer —, weil die Welt offenbar eine bewundernswerte Maschinenkonstruktion ist und also einen Mechaniker postuliere, der sie geschaffen hat und in Gang hält. Aber ein Mittler zwischen Gott und den geschaffenen Kreaturen ist nicht nötig. Gott ist nichts anderes als der vielzitierte „Uhrmacher", der „ewige Geometer", der „ewige Architekt der Welt". Mit Christus, dem Zentrum der Pascalschen Religiosität, weiß Voltaire nichts anzufangen, es sei denn daß er ihn als moralisches Phänomen würdigt. Voltaire verteidigt seine Position im Namen einer Vernunft, die jedwedem Offenbarungsmysterium abhold ist. Er verteidigt sie, indem er das Prinzip der Nützlichkeit in der praktischen Betätigung des Menschen auf

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Erden, hier und jetzt, verwirklicht wissen will: II faut cultiver son jardin. Er verteidigt sie schließlich im Namen aller Menschen, die ihr bißchen Glück auf Erden suchen und ihren bescheidenen Anteil daran haben wollen und nicht begreifen können, wieso es uns im irdischen Leben durch den Sündenfall versagt sein soll. Uber die Dogmen stellt er die Moral, die für uns ein allgemein verpflichtendes Gesetz sei, das die Menschen zusammenführt, während die Dogmen sie trennen: „La morale est une, eile vient de Dieu; les dogmes sont diff^rents, ils viennent de nous." So steht es im Artikel „Dogmes" des Dictionnaire philosophique, und im Artikel „Droit canonique" lesen wir: „La religion n'est instituie que pour maintenir les hommes dans l'ordre et leur faire miriter les bontis de Dieu par la vertu." Diese sprachlich scharf konturierten Gedanken sind wie Maximen und haben das Eingängig-Insinuierende, das der Literatur der französischen Moralisten eigen ist. Voltaire befindet sich in Einklang mit den europäischen Aufklärern seines Jahrhunderts, wenn er die raison und die conscience, also Vernunft und Gewissen, als die unüberhörbaren Stimmen in uns und als die Wegweiser in dem dunklen Drange unseres Handelns betrachtet. „Dieu a mis dans tous les cceurs la conscience du bien avec l'inclination pour le mal." (Diet. Artikel Aristote) b) Es scheint, daß Voltaire zur Bekräftigung seiner Abwehrhaltung gegenüber Pascal einem gemäßigten Optimismus huldigte. Er dichtete um jene Zeit der „Remarques" aus der Stimmung seiner Fortschrittsgläubigkeit und eines philosophischen Hedonismus das Ροέπιε „Le Mondain", eine Lobpreisung der Gegenwart auf Kosten der vergangenen Perioden. Das änderte sich, als er auf Grund eigener Erfahrungen in der Welt und mit Menschen den Optimismus eines Leibniz zu bekämpfen unternahm. So wenig wie Voltaires „praktische" Vernunft geeignet war, einen Pascal zu verstehen, so wenig war sie es, um Leibniz gerecht zu werden. Dessen Gedanke von der „besten aller Welten", dem „meilleur des mondes possibles", konnte einem Voltaire nicht eingehen; denn er verstand unter „Welt" unsere armselige Erde, auf der es ja bekanntlich dem armen Candide aus dem gleichnamigen Roman allerdings sehr schlecht erging. Aber Leibniz dachte nicht allein an unsern Planeten, sondern begriff den „mundus" als Dimension des Weltalls. Das All aber ist ein in unendlichem Wachstum sich entfaltendes Gebilde, ein „Ozean ohne Grenzen", in welchem — ein Pascalscher Gedanke — das unendlich Kleine solche Wunder in sich schließt wie das unendlich Große.

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„So ist es denn möglich", schreibt Leibniz, „ja notwendig, daß in den kleinsten Stäubdien, ja, Atomen, Welten vorhanden sind, die der unseren an Schönheit und Mannigfaltigkeit nichts nachgeben."

Damit konnte Voltaire wenig anfangen. Aber die moderne Photographie, die uns die farbige Welt eines Wassertropfens zeigt, hat siditbar gemacht, was Leibniz hier ausgesprochen hat, und die Atomphysik unseres Jahrhunderts erwies die Pascal-Leibnizsche „Phantasie" vom injiniment grand und infiniment petit als das erstaunlichste Wunder der Schöpfung. Wie aber konnte der kluge und tiefblickende Leibniz das Böse — wenn auch nicht aus der Welt eliminieren — so doch ohne Schaden Gottes in seine Theodizee einbauen? Man muß zugeben, daß der Ursprung und die Beharrlichkeit des Bösen für Voltaire ein Problem war, über das er nicht hinwegkam. Er fand keine Lösung und wollte auch keine Brücke über jenen Abgrund bauen, dessen Tiefe noch niemand gesehen hat, „un abyme dont personne n'a pu voir le fond". (Diet, philos. Bien) Alle Philosophen und Theologen hätten statt echter Antworten auf die Frage nach dem Bösen nur Märchen und Mythen erzählt oder Trostworte gespendet: die Manichäer, die Ägypter, die Perser, die Christen mit ihren Engeln und Teufeln. Er fragt die Inder, die Syrer, die Griechen; er fragt Bolingbroke, Pope, Shaftesbury und Leibniz. Es ist unstatthaft — Voltaire richtet sich hier gegen Shaftesbury —, das Problem des Bösen dadurch zu verhüllen, daß man sagt: Gott wird seine ewigen Gesetze nicht verändern um einer elenden Kreatur willen, wie der Mensch nun einmal eine solche ist — „pour un animal aussi chdtif que l'homme". An der Erfahrung des Bösen und des menschlichen Leidens in der Welt gerät Voltaire in eine philosophische Empörung, die in nichts geringer ist als diejenige, welche in unsern Tagen und nach den Erfahrungen unserer Zeit einen Albert Camus zur Revolte und zur Konzeption des Absurden geführt hat. „Man muß wenigstens zugeben, daß dieses elende Geschöpf das Recht hat, ganz demütig (sein Leiden) hinauszuschreien, und, indem es schreit, das Recht hat, begreifen zu wollen, warum denn jene ewigen Gesetze nicht für das Glück der Individuen geschaffen sind."

Der Satz ist von Voltaire. Das Problem des Bösen und des Leidens hält Voltaire, der keinen billigen Trost spenden will, für unlösbar. Es bleibt ein unentwirrbarer Fragenkomplex für die, welche vorurteilsfrei, ohne religiöse Voreingenommenheit, eine Lösung suchen. Es ist nichts als ein Geistesspiel für die, welche

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das Problem zum Gegenstand von religiösen Disputen machen. Und nun gerät Voltaire doch in den Bann des Bildes, das er zuvor in Pascals condition humaine bekämpft hatte: Er meint, die Theologen selbst wären nur die Zuchthäusler, die mit ihren Ketten spielen — und die vielen, die nicht denken, sind wie die Fische, die man vom Fluß in ein Bassin gebracht hat; sie ahnen nicht, daß sie nur dahin transportiert wurden, um zur Fastenzeit verspeist zu werden. Bitter-ironisch ist das Ende dieses Verzichts auf Erhellung durch die Religion oder die Metaphysik. Ob wir Menschen in den Ketten wissen, wohin der Weg geht, oder ob die Fische ahnungslos sind, ist im Endeffekt gleich. Das ehrlichste menschliche Bekenntnis lautet „ignoramus"; Voltaires philosophische Haltung ist die des Agnostikers: „Setzen wir hinter alle Kapitel der Metaphysik die zwei Buchstaben N . L. der römischen Richter, wenn der Rechtsfall nicht klar ist." (Diet. phil. Bieri)

N . L. bedeutete „non liquet" und war die gerichtliche Formel, mit der ein Richter auf dem Stimmtäfelchen erklärte, daß er über Schuld oder Unschuld des Angeklagten nicht entscheiden wolle. c) Das Verhältnis zwischen Voltaire und Rousseau ist ein psychologisch wie weltanschaulich interessantes Drama. Es beginnt mit den Höflichkeitsbezeugungen des Jüngeren, der den bereits weltberühmten Älteren ehrlich bewundert. Rousseau sendet ihm den „Discours sur les Origines de l'Inigaliti". Voltaire dankt — er hat noch den 1. Discours im Gedächtnis — und dankt ironisch: „J'ai reju votre nouveau livre contre le genre humain . . . On ne peut peindre avec des couleurs plus fortes les horreurs de la societe humaine . . . On n'a jamais employ£ tant d'esprit a vouloir nous rendre betes; il prend envie de marcher ä quatre pattes, quand on lit votre ouvrage . . ( 3 0 . Aug. 1755) Ich habe Ihr neues Buch gegen das Menschengeschlecht erhalten . . . Man kann die Scheußlichkeit der menschlichen Gesellschaft mit keinen stärkeren Farben malen . . . Noch nie hat jemand so viel Geist aufgewendet, um uns zu Tieren zu machen . . . es packt einen geradezu die Lust an, auf allen Vieren zu laufen, wenn man Ihr Werk l i e s t . . .

In diesen 3 Sätzen zeichnen sich die Umrisse der kommenden Tragödie ab. Voltaire hat sich nach dem Bruch mit dem König von Preußen auf Genfer Gebiet begeben und sich in Les Delices niedergelassen. Er fordert Rousseau auf, zu ihm zu kommen, seine Gesundheit in der heimatlichen Schweizer Luft wiederherzustellen, die gesunde Kuhmilch zu trinken und gutes Gras zu käuen. Rousseau ist für den Esprit dieses Briefes empfänglich, aber noch empfindlicher ist er für den ironischen Ton des Schreibens. Als Voltaire

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anläßlidi der Erdbebenkatastrophe von Lissabon, durch die Tausende unschuldiger Menschen zugrunde gingen, sein philosophisches Gedicht „Sur le Disastre de Lisbonne" abfaßte und darin seine Empörung über den Glauben an eine gütige Vorsehung Gottes zum Ausdruck brachte: mußte Gott es zulassen, daß die Unschuld mit den Schuldigen so leidet? — wie unerbittlich führt das Schicksal die Überzeugung des „tout est bien" ad absurdum! —, da reagierte Rousseau aufs schärfste und schrieb an Voltaire: „ . . . Sie philosophieren in aller Friedlichkeit über die Natur der Seele . . . und entdecken überall nur das Böse auf Erden. Ich aber, ein unbekannter, armseliger, von einem unheilbaren Leiden gequälter Mensdi, idi denke in meiner Zurückgezogenheit mit Freuden darüber nach und finde, daß alles gut ist . . . Alle Subtilitäten der Metaphysik werden midi nicht dazu verleiten, auch nur einen Augenblick an der Unsterblichkeit der Seele zu zweifeln und an einer gütigen Vorsehung. Ich fühle sie, ich glaube an sie, ich will sie, ich hoffe auf sie, idi werde sie bis zu meinem letzten Atemzug verteidigen." (18. Aug. 1756)

Der Bruch mit Voltaire ist von Rousseau vollzogen. Die Erregung darüber zittert noch in den Seiten seiner „Confessions" nach: „Ich Tor faßte den Plan, ihn (Voltaire) zur Besinnung zu bringen und ihm zu beweisen, daß alles gut sei. Voltaire, der immer vorgab, an Gott zu glauben, hat in Wirklichkeit immer nur an den Teufel geglaubt."

Dieser-da — Ich-hier: Zwei Geistesmächte stehen sich nunmehr gegenüber, unversöhnlich — und ohne jede Aussicht auf einen Vergleich. Dem weltanschaulichen Gegensatz liegen psychische Motive zu Grunde. Wir fühlen sie in Sätzen wie diesen: „Sie sind reich, glücklich, Sie erfreuen sich aller Güter dieser Welt und hadern dennoch mit der Vorsehung. Ich aber bin arm, unglücklich, ein geschlagener Mann, und bete dennoch die göttliche Güte an." (Brief vom 18. Aug. 1756)

Die wohl von Rousseau erhoffte unmittelbare Antwort auf diesen Brief, durch den der Verfasser den Kampf mit Voltaire provozieren wollte, blieb aus. Von Seiten Voltaires kam nichts als ein enttäuschender Dank und die Entschuldigung, daß er ζ. Z. wegen mancherlei Geschäften, wegen Krankheit und häuslicher Sorge nicht ausführlich erwidern k ö n n e . . . Rousseau war der Wind aus den Segeln genommen. Sein Angriff war ein Schlag ins Wasser. Aber die Antwort Voltaires erfolgte später und in einer unvorhergesehenen Form. Sie lautet: „Candide ou l'Optimisme". Rousseau hat sich über den Ursprung und die Tragweite dieses wohl heute bekanntesten Werkes Voltaires nicht getäuscht:

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„Seither hat Voltaire jene Antwort, die er mir versprochen hatte, veröffentlicht, sie mir aber nidit zugeschickt. Sie ist nichts anderes als der Roman vom Candide . . ( C o n f . II, 9)

Und in einem Brief an den Herzog von Württemberg lesen wir: „Ich wollte mit ihm (Voltaire) philosophieren; als Antwort darauf hat er midi verhöhnt." (11. März 1764)

Erinnern wir uns des Inhalts: Der junge Candide lebte glücklich und zufrieden auf dem Schloß des westfälischen Barons Thunder-ten-Tronck, wo sein Lehrer Pangloss, ein Schüler von Leibniz und Wolf, einen glückverheißenden Optimismus lehrte. Auf dem Schloß wohnte auch die Frau Baronin, die 350 P f u n d wog, und sich also eines großen Ansehens erfreute. Candide bekannte sich um so lieber zum Optimismus des Herrn Pangloss, als er in das Fräulein Kunigunde verliebt war und ihm daher die Welt in rosarotem Lichte erschien. Kunigunde hatte alle Vorzüge eines Mädchens von 17 Jahren: „ . . . eile έtait haute en couleur, fraiche, grasse, 3ρρέώ53ηΐε". — Leider aber verjagte der Baron den etwas feurigen Liebhaber seiner Tochter aus dem „schönsten und angenehmsten aller denkbaren Sdilösser" und die „beste aller denkbaren Baroninnen" ohrfeigte noch obendrein die arme Kunigunde. Was folgt, ist eine Summe grotesker, ebenso tragischer wie komischer Ereignisse, die zusammen wohl die erheiterndste, aber nachdenklich stimmende Satire gegen den Optimismus und die Idee der praestabilierten Ordnung ist, welche je in französischer Sprache geschrieben wurde. Der Verfasser führt den Leser quer durch Europa, über den Ozean und durch Amerika bis zum Eldorado und wieder zurück bis nach Konstantinopel. Es gäbe keinen besseren Stoff zu einem geistreichen Film als all die verschiedenen Abenteuer, Menschenschicksale, Länder und Kontinente, die Ereignisse, die sich ineinander verketten, sich wieder lösen und neu verknüpfen — ein turbulentes Durcheinander, ein Spiel, das wie ein Märchen ist, wo jede Schwerkraft aufgehoben scheint, und wo sich das Unsinnige zum Sinnigen verkehrt und das scheinbar Sinnvolle zum Unsinn wird. Ein Märchenspiel, aber ohne die transzendente Bedeutung und ohne den kindlichen Glauben an das magische Reich, wie es in den späteren deutschen Märchen von Tieck, Hoffmann, Brentano, einer neuen Generation von Romantikern, vorgeführt wird. Hier, in Voltaires Märchenromanen, zieht noch ein allwissender, sogar aufgeklärter Meister, die Fäden eines Marionettentheaters und läßt die Figuren tanzen, wie es ihm beliebt und wie er es f ü r seine offenen oder geheimen „philosophischen" Zwecke braucht. Das Ganze ist ein Divertimento, wo sich die Philosophie ein buntschillerndes,

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satirisches Gewand umhängt. Sie macht ihre Träger zu Karikaturen, die unser Lachen provozieren. Voltaires Sprache erreicht hier ihre höchste Virtuosität. Seine Sprache ist durchgeistigt und von höchster Disziplin. Ihre Bilder zaubern Märchenwelten vor die Phantasie, und mit einem Wort, mutwillig schneidend und zugespitzt, zerreißt er den Traum. Gefühl schwingt allenthalben mit, aber alle Bilder sind scharf konturiert und bringen genau zur Anschauung, was gesagt werden soll, und zwar in einer knappen, gemeinverständlichen, durchsichtigen Form, die zugleich voller Anmut und Biegsamkeit ist. Die Worte kommen nicht schwitzend daher, sie sind nicht schwülstig und gefühlsüberladen, sondern kühl, spitzig, von erregender Prägnanz. Paul Vali'ry bekannte, als er von Voltaire sprach, daß „viel mehr Intelligenz erforderlich ist, seine Ideen in einer gewöhnlichen Sprache darzulegen, da eine solche schließlich die einzige Sprache ist, die gilt." (Zit. bei Jean Fabre, Pr£sence des Lumi£res, 18" δϊέοΐβ — Rev. d'Hist. litt. 68. Jahrg., 1968). Diese gewöhnliche Sprache (le langage commun) erweist sich aber als ein höchst feinnerviger Organismus. Sie wird zwar dem Philosophen und Theologen vom Fach nur flach erscheinen; der Fachwissenschaftler wird Voltaires eigentümliche Gelehrsamkeit als unwissenschaftlich empfinden und wird die „Tiefe" vermissen. Er aber besaß die Kunst — wie Taine bemerkte — eine vollständige Philosophie, eine zehnbändige Theologie, eine abstrakte Wissenschaft, eine ganze Fachbibliothek und dazu noch alle seine Erfahrungen in einen Satz oder einen Vers, in eine Metapher oder in ein Epigramm zu verdichten. Er riß den Schleier von den Dingen und befreite das Denken von allen Geist und Sinne umnebelnden Phrasen. Dann tritt jedweder Mißbrauch, jedes Vorurteil, alle Dummheit, alles Unrecht und jedwede fanatische Handlung, ihrer Umkleidung beraubt, in das grelle Licht der Vernunft, die so wenig Menschen vertragen können. Voltaires Sprache kommt leichtfüßig und tänzelnd daher — „alles Göttliche läuft auf zarten Füßen", sagte Nietzsche —, aber wehe dem, der sich von ihr betroffen fühlt; zwar ist ihr satirischer Tenor nicht ätzend, aber wenn sie einen Philosophen von schwerflüssigem Denken oder gar einen Theologen, dem es um Rechtgläubigkeit geht, einmal verletzt, da setzt Voltaire seine unnachahmliche Kunst ein, durch die Anmut seiner Intelligenz und durch den Zauber seiner Sprache wieder zu versöhnen. Rousseau war bislang von diesem Zauber berührt. Jetzt aber kehrte sich die Bewunderung in H a ß :

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„Ich liebe Sie nicht, mein Herr. Sie haben mir das empfindlichste Leid zugefügt, mir, Ihrem Schüler und begeistertsten Verehrer . . . Ich hasse Sie, da Sie es so gewollt haben; aber ich hasse Sie als einer, der würdiger gewesen wäre, Sie zu lieben, wenn Sie nur gewollt hätten . . . Leben Sie wohl, mein Herr." (17. Juni 1760)

Davor lag die TheaterafFaire. Voltaire wollte ein Theater in Genf errichten. Aber dort herrschte kalvinistischer Geist, und das Konsistorium von Genf war theaterfeindlich. Voltaire besprach die Sache mit D'Alembert, und D'Alembert schrieb den Artikel „Gen£ve" f ü r die Enzyklopädie. Er nahm dabei einen Abschnitt über einen Theaterplan auf, der offensichtlich von Voltaire inspiriert war: Warum nicht ein Theater in Genf? Der von den sittenstrengen Genfer Bürgern gefürchtete schlechte Einfluß der Komödianten auf die Jugend könne durch Gesetze verhindert werden; zudem seien theatralische Aufführungen von unbestreitbarem Vorteil f ü r die Bildung des Geschmacks und des Gefühls. „Gen£ve reunirait a la sagesse de Lacedέmone la politesse d'Athenes." Kaum hatte Rousseau, der von den Plänen erfuhr, den Hauch von Voltaires Geist in dem Artikel gespürt, als er sich mit aller ihm verfügbaren Beredsamkeit der Verwirklichung des Planes entgegensetzte. Seltsamer Mensch: War er doch selbst mit dem Theaterleben seiner Zeit verbunden. H a t t e er nicht eine in Paris gefeierte Oper „Le Devin du Village" komponiert? Und schon als Kind von 12 Jahren hatte er Marionettentheater gespielt, und mit 16 Jahren den „Amant de lui-meme" geschrieben, den späteren „Narcisse". Er las Voltaires Tragödien und komponierte eine Opera-Tragedie „Iphis et Anaxarete" und um die gleiche Zeit, Mitte der dreißiger Jahre, „La ϋ έ ΰ ο υ ν ε η ε du Nouveau Monde". In Venedig rekrutierte er italienische Komödianten f ü r den französischen Hof und schrieb dort eine Komödie „Les Prisonniers de guerre". 1745 ließ er das Opernballett „Les Muses galantes" von Philidor vollenden — und mußte sich freilich von Rameau seine musikalische Inkompetenz bescheinigen lassen. Aber Rousseau war der eifrigste Besucher der Comedie Frangaise, der Opera, des Theatre des Italiens, schrieb weitere Stücke: Komödien und Feerien und verdiente als Notenkopist sein Geld. Noch wenige Jahre vor der Lettre d d'Alembert plante er in Genf eine Prosatragödie „Lucrece". All das hinderte ihn nicht, in dem 400 Seiten starken Buch, der „Lettre a D'Alembert" alle Argumente vom Alten Testament angefangen über Piaton bis zu den jüngeren kalvinistischen und katholischen Äußerungen

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über das Theater zusammenzustellen, damit er seinen Ansichten das Gewicht der Jahrhunderte geben könne: Genf hüte sich vor einem Theater (das bedeutet: es hüte sich vor Voltaire): das ethische Ziel des Theaters, die Katharsis der Leidenschaften, sei problematisch. Es unterwühle im Gegenteil die guten Sitten, lenke den Geist und die Sinne aufs Vergnügen. Es mache, daß wir die großen Verbrecher bewunderten (Catalina, Atreus, Mahomet) oder die von Leidenschaften zerrissenen Menschen (Medea, Orestes, Phädra), oder es errege unsere Anteilnahme an den Übermenschen . . . Und vollends würden in der Komödie gar die Tugenden verlacht: die Naiven bezahlten immer die Rechnung der Gauner; wir lachten mit ihnen auf Kosten der unschuldig-anständigen Menschen (Misanthrope). Garnicht zu sprechen von dem lasterhaften Leben der Komödianten, das zwar für eine schon verdorbene Weltstadt wie Paris nicht mehr verderblich sein könne, wohl aber für eine sittsame kleine Bürgerrepublik wie Genf. Und wer soll schließlich den Luxus einer ständigen Bühne bezahlen? Mit andern Worten: Verschließt Voltaire und seinem Theater die Tore der Stadt. Errichtet statt dessen ein Volkstheater. Organisiert Aufmärsche, Freilichtaufführungen, sportliche Spiele, Regatten auf dem Genfer See, Wettläufe, ländliche Tänze und Bälle für die jungen Bursdien und Mädel.

Dieser offene Brief an D'Alembert über die Schauspiele hatte in der Tat den Erfolg, daß Voltaire auf seinen Plan verzichten mußte. Die breitere Bürgerschicht zollte Rousseau Beifall; aber Voltaire rächte sich, indem er sogleich in dem neu angekauften Grenzgebiet zwischen Ferney und Tournay mehrere Bühnen errichten ließ und die Aristokratie von Genf zu seinen Gästen zählte. Die darauf folgenden Verleumdungen, Lügen, Haßausbrüche auf beiden Seiten gehören zu den wenig erbaulichen Kapiteln über die Unzulänglichkeiten und Zerwürfnisse der Schriftstellerwelt jenes Jahrhunderts der Aufklärung und der Toleranz! Rousseau war ein pathologischer Fall. Sein ausgedehnter Verfolgungswahn und Voltaires pathologische Überreiztheit ließen eine Aussöhnung unmöglich werden. Ebensowenig waren ihre Weltanschauungen zu überbrücken. Der eine sagte: Der Weg, den die Menschheit gegangen ist, hat sich als Irrweg erwiesen. Der andere sagte: Der Weg war gut und richtig; denn er führte die Menschheit aus Elend und Barbarei zu den Segnungen der Zivilisation. Dank sei den Künsten und Wissenschaften, die solchen Fortschritt bewirkt haben! Der eine machte den Sprung in die Transzendenz: er war arm, geschunden, und hat zum guten Teil sein Unglück selbst geschmiedet. Der andere blieb auf der Erde und wollte, daß die Menschen mit ihren irdischen Angelegenheiten durch Arbeit und Vernunft ins Reine kämen: er war reich, mächtig,

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und war zum guten Teil der Sciimied seines eigenen Glücks. Wir werden sehen, daß die tiefere Wirkung auf die Menschheitsgeschichte der Nachwelt von dem leidenden, dem kranken, dem unglücklicheren Rousseau ausging· 4. Voltaires künstlerische Leidenschaft galt also dem Theater. In einer seiner Geschichten, „La Vision de Babouc" (1748) erzählt er, wie der Geist Ituriel den Skythen Babouc nach Persepolis entsendet, damit er urteile, ob die Stadt wegen ihrer Torheiten und Ausschweifungen nicht ausgerottet werden müßte. Da sitzt er unter den Zuschauern, einer illustren Gesellschaft der angesehendsten Satrapen und der schönsten und elegantesten Frauen der Stadt. Er glaubt, an einem hohen Feste teilzunehmen : Auf der Bühne agieren 2 oder 3 Personen, es scheinen Könige und Königinnen zu sein; sie sprechen eine herrliche Sprache und künden von den Pflichten der Herrscher, von der Liebe zur Tugend, von den Gefahren der Leidenschaften, daß Babouc die Tränen in die Augen kommen und alle Anwesenden in tiefes Schweigen versunken sind. Babouc ist überzeugt, daß, würde Ituriel ein solches Schauspiel erleben, er mit der Stadt auf ewig versöhnt wäre. In dieser kurzen Geschichte ist alles enthalten, was Voltaire als wesentliche Merkmale großen Theaters erachtet: Theater als Stätte der Erziehung zum guten Geschmack und edler Gesinnung; Theater als soziale Institution und gesellschaftliches Ereignis; Theater als höchste Kunstgattung, die f ü r Frankreich, das einen Racine hervorgebracht hat, künstlerisch verpflichtend ist. Voltaire brauchte das Theater. Die Bühne war ihm Lebensluft, in der sich sein eigentümlicher Kunstverstand nähren und seine Ruhmbegierde sättigen konnte. Epen, Romane, Gedichte, Traktate werden in der Stille des Zimmers gelesen; zum Theater aber gehört das große Publikum, der rauschende Beifall, es stärkt die geheime Eitelkeit, mit Regieführung und Schauspielkunst die Menge anzusprechen, sie vielleicht zu rühren: „Ich erschien", schrieb er in einem Brief an Cideville vom 25. August 1732, „in einer Loge, und das ganze Parterre klatschte Beifall. Ich wurde rot, versteckte mich, aber ich wäre ein ,fripon', wenn ich nicht zugäbe, daß ich zutiefst gerührt -war."

Er brauchte die Erregungen des Theaters wie den Kaffee. Er ist durch und durch Komödiant: gestikuliert, mimt, führt eine für alle Schauspieler höchst unbequeme Regie, ändert in letzter Minute den Text, streicht ganze Passagen, fügt neue hinzu, spielt selbst seine eigenen Rollen, stampft vor

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Zorn, bricht über seine eigenen Verse vor Rührung in Tränen aus, verlangt Intelligenz und Disziplin des Ensembles, führt überall Reformen durch, säubert die Bühne von lästigen Zuschauern, die, mit ihren Schoßhündchen auf der Bühne sitzend, das Spiel der Akteure hindern. Er unterscheidet die verschiedenen Formen des Theaters: Theater als reine Belustigung des Volkes; dann herrscht die Devise „panem et circenses"; Theater als ursprünglicher Mimos mit Seiltänzern, Zauberkünstlern, Jahrmarktspossen; dann Theater als Oper: ein Theater des Schaugepränges und zumeist schlechter Musik. Voltaire hat von der Oper nicht viel anderes gehalten als 100 Jahre vor ihm Saint-Evremond, der in einem Brief an den Herzog von Buckingham jene 5 Motive aufgeführt hatte, welche ihm die Oper als mißliches Zwitterding künstlerisch verdächtig erscheinen ließen: „. . . une sottise chargie de musique", . . . „travail bizarre de poesie et de musique" . . . „un mechant usage du chant et de la parole" . . . „le poete et le musicien egalement gene l'un par l'autre" . . . „laisez l'autorite principale au poete pour la direction de la piece".

Immerhin hat Voltaire mit Rameau zusammengearbeitet, so an der Oper „Samson", aber wenn er einen Quinault, den Textdichter, über dessen Komponisten Lully stellte, darf man annehmen, daß er sich der Ansicht Saint-Evremonds anschloß: „Ii faut que la musique soit faite pour les vers, bien plus que les vers pour la musique." Über dem Mimos und über der Oper steht in Voltaires Urteil die Große Tragödie und Komödie, d. h. Racine und Moli^re. Er will nicht wiederholen, was alle Welt Lobendes über Moli£re gesagt hat — „il est au-dessus des comiques de toutes les nations anciennes et modernes" (Volt, in Art dramatique, Diet.). Daß alsbald nach Moli^res Tode eine Dekadenz der Komödiendichtung einsetzte, führt er auch darauf zurück, daß Bühnendichter und Publikum jene köstliche Gabe Moli^reschen Lachens verloren haben: „Les Franjais ne surent plus rire." Statt dessen gefielen sie sich in dem schlechten Geschmack an der „comedie larmoyante". Die Bilanz ist traurig: „Le theatre tomba". Nun wollte erwenigstens verhindern, daß die Tragedie denselben Weg ging. Daher erklärt sich die harte Forderung Voltaires an die Bühnendichter, keinen Schritt von der klassischen Dramaturgie abzuweichen. Das können wir in seinen Dissertations

sur le Theatre

v o n Ödipus

( P r 6 f a c e 1729) bis z u r

Irene

(Lettre ä PAcadέmie fran9aise 1778) Jahr um Jahr verfolgen. Racine galt ihm schlechterdings als Gipfel des Welttheaters. Racine steht für ihn höher als Sophokles und Euripides. Die „Iphigenie" und die „Athalie"

Die vier Wegbereiter der modernen Zeit

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seien schlechterdings die tragischen Meisterwerke nicht nur Frankreichs, sondern der Weltliteratur. Nicht das Thema ist entscheidend, vielmehr sind es die Meisterschaft der dramatischen Technik und die verfeinerte Psychologie des modernen Künstlers. „Avant R a c i n e . . . personne ne savait la route du cceur" (ib.) Die Seiten, die Voltaire der Analyse der „Iphigenie" widmet, ihrer Szenenstruktur, ihrer Charakterzeichnung, ihrer Sprache, läßt sein Endurteil plausibel erscheinen: „In einem Jahrhundert wie dem unsrigen muß man sich endlich von der boshaften Hartnäckigkeit freimachen, immer wieder das antike Theater der Griechen auf Kosten des französischen Theaters zu erhöhen . . ( i b . )

Gewiß, wenn wir uns nicht hüten müßten, ein Meisterwerk zugunsten eines andern zu erniedrigen. Die Erhöhung Racines hängt aber auch mit Voltaires Stellung zu Shakespeare zusammen. Das epochale Ereignis im Leben des Dramatikers Voltaire war die Begegnung mit Shakespeare. Der Name fällt in der 18. Lettre des Englandbuches. Als Voltaire in England war, erlebte er in den Londoner Theatern Bühnenstücke, die ihn in Verwunderung stürzten. Er sah oder las Wicherleys „The plain dealer", der ihm einen Vergleich mit Moliäres „Misanthrope" aufdrängte. Er sah Vanbrough und Congreve, sprach von Steele und Cibber, empfing einen tiefen Eindruck von Drydens, Otways und Addisons Dramen — . . . und auf seinen Entdeckungsfahrten durch die Londoner Bühnenwelt tauchte die rätselhafte Erscheinung Shakespeares vor ihm auf — „est-il dieu ou singe"? Die Stücke, die er im Drury Lane Theatre gesehen hat, sind Julius Cesar, Macbeth, Othello, Hamlet, außerdem wahrscheinlich einige Königsdramen. Dieser Shakespeare war ein Wundermann: Ohne die geringste Kenntnis der klassischen Regeln, ohne den geringsten Funken guten Geschmacks, habe dieser englische Dramatiker, noch in halbbarbarischen Zeiten lebend, Stücke geschrieben, die solchen Schock auf Voltaire auslösten, daß er das ganze Leben von ihm nicht loskam. Am Anfang schwankte er zwischen Verwunderung und Bewunderung, zwischen ablehnender Kritik und enthusiastischer Verkündigung des englischen Genius. In der Mitte seiner Laufbahn ergreift er wieder die Feder und ruft in seinem „Appel a toutes les Nations", rund 30 Jahre nach den Lettres philosophiques die gebildetsten Geister des zivilisierten Europa auf, sie mögen entscheiden, welchen Rang dieser geniale Barbar, der Dichter des „Hamlet" und des „Othello" in der dramatischen Welt einzunehmen habe. Und am Ende steht die „Lettre de M. Voltaire ä l'Aca-

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ctemie Franjaise", 1776. Dieser letzte Appell an die höchste Kulturinstanz Frankreichs steht im Zeichen schon des Untergangs der Voltaireschen, und d. h. der klassisch-französischen Dramaturgie und im Frühlicht des europäischen Siegeszugs Shakespeares, dessen Geist Voltaire einst gerufen hatte, und der dann gekommen war und siegte. Voltaire hatte berechtigten Anspruch auf Anerkennung seiner Pionierarbeit, welche die Wege zur Rezeption Shakespeares bereitet hatte. Aber seine Verdienste wurden verschwiegen. Er will nun die Verhältnisse richtig stellen und seine persönliche Rolle in der Shakespearegeschichte beachtet wissen. Auch wenn er von seinem Enthusiasmus abgerückt war, so wirkte doch Shakespeares Zauber bis in seine späten Jahre nach. Nur sieht er jetzt in der sich entwickelnden Shakespeare-Manie eine Gefahr für die ästhetischen Prinzipien der französischen Dramaturgie, die er als unveräußerlichen Bestandteil weltgültiger Bühnendichtung gewahrt wissen will. Es ist ein ganzer Fugenbau von Themen und Thesen, den er zur Stützung der nationalen Bühnendichtung errichtet. In diesem Komplex mischen sich nationale, soziologische, psychologische, ästhetische Motive — es ist viel die Rede vom Geist der Sprache — von der Bühne als einer Bildungsstätte der Nation — von dem geläuterten Geschmack französischer Dichtung — von den ewiggültigen Strukturen und Formelementen, deren Abbau das Ende der französischen Tragödie bedeuten würde. Frankreich sei auch nicht England; das Pariser Publikum anders als das Londoner; die Psychologie des Engländers unterscheide sich von der des Franzosen; Gesetzgeber des guten Geschmacks könnten ihrer historischen Entwicklung nach nur die Franzosen sein. Formal gesehen stehen die Meisterwerke der französischen Tragödien unter dem Gesetz des Reims und einer strengen Versifikation: „Wir lehnen die geringste Freiheit ab und verlangen von einem Dichter, daß er alle diese Ketten unaufhörlidi trage und dabei doch frei erscheine."

Voltaire will die Entwicklung, die jenen Jahren des deutschen Sturms und Drangs und der französischen Shakespeare-Begeisterung auf die Romantik zusteuert, mit allen Mitteln bremsen. Doch bestreitet er e i n e Wahrheit nicht: Es gibt Dinge in der Poesie, große, kühne Würfe, die allein ein Genie wagen darf. Voltaire zitiert den Vers Drydens nach dem damals bekannten Prolog zur Adaptation des „Tempest" im „Discours sur la Tragödie": „Within that circle none durst move but he."

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Wo es um das Theater ging, haftete an Voltaires Urteilen viel Leidenschaftliches. Er fühlte sich von Shakespeares Unergründlichkeit angezogen, von seiner verwirrenden Regellosigkeit aber abgestoßen. Er sah in Shakespeares Werk die „Diamanten", um derentwillen er seinen Abscheu gegen das Plumpe, Barbarische, Geschmacklose der Shakespeareschen Dichtung in halbausgesprochene Liebe wandelte. Er ist begehrlich nach diesem N a r kotikum, findet dann die französische Tragödie langweilig, deklamatorisch, unnatürlich, faßt sich dann wieder und erklärt Shakespeare den Krieg, während er den Kulturnationen ganz Europas das Evangelium des französischen Geschmacks predigt. Er hat nicht ungestraft die Londoner Aufführungen gesehen. Wenn er auch in seinen eigenen Stücken noch keinen entscheidenden Umbruch zu den freieren romantischen Formen des Theaters vollzogen hat, so sieht er doch theoretisch in einer fruchtbaren Begegnung Racines und Shakespeares die ersprießlichste Entwicklung der nationalen Bühnendichtung: „Das wird einmal den Genies zufallen, die nach uns kommen werden. Idi werde immerhin diejenigen ermutigt haben, um derentwillen man mich vergessen wird."

Voltaire vermag sich aus dem Widerstreit der Gefühle und dem Widerspruch der Urteile nicht zu lösen. Die Spannung zwischen Begeisterung und Widerwillen lockt zu immer neuen Kombinationen von Bejahung und Ablehnung dieses rätselhaften Genies Shakespeare. Seine Ästhetik droht an ihm zu zerbrechen. An der europäischen Welle, die Shakespeare emportrug, mußte der alternde Voltaire erkennen, daß Europa dem Anspruch auf die Hegemonie des französischen Geschmacks nicht mehr folgte. Was die Welt an Voltaire verloren hat, das bekundet ein Wort Nietzsches. Es macht Voltaires Bedeutung gerade an dessen Kampf um die klassischen Werte der Kunst und Kunstübung deutlich. Nietzsche sah, daß mit der Aufgabe der strengen Formen, um deren Erhaltung Voltaire gekämpft hatte, viel von der Weisheit jener alten Schule vergehen mußte, in der noch ein Wissen um musikalische Kontrapunktik und literarisches Regelwerk, ein Wissen um Stile, Vers- und Satzbau eine Garantie großer Kunstleistung war. „Man lernt so allmählich mit Grazie selbst auf den schmalen Stegen schreiten, welche schwindelnde Abgründe überbrücken, und bringt die höchste Geschmeidigkeit der Bewegung als Ausbeute mit heim."

Man forsche weiter: In Nietzsches Urteil war ein Voltaire der letzte, freie, große Dramatiker dieser Schule:

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Im Lichte der

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„Man lese nur von Zeit zu Zeit Voltaires ,Mahomet', um sich klar vor die Seele zu stellen, was durch jenen Abbruch der Tradition ein für allemal der europäischen Kultur verloren gegangen ist. Voltaire war der letzte der großen Dramatiker, welcher seine vielgestaltige, auch den größten tragischen Gewitterstürmen gewachsenen Seele durch griechisches Maß bändigte . . . wie er audi der letzte große Schriftsteller war, der in der Behandlung der Prosa-Rede griechisches Ohr, griechische Künstlergewissenhaftigkeit, griechische Schlichtheit und Anmut hatte; ja wie er einer der letzten Menschen gewesen ist, welche die höchste Freiheit des Geistes und eine schlechterdings unrevolutionäre Gesinnung in sich vereinigen können, ohne inkonsequent und feige zu sein." (Menschlich-Allzumenschliches)

Vielleicht werden wir Nietzsches günstiges Urteil über Voltaires dramatische Leistung nicht teilen. Aber auf dieses ästhetische Urteil kommt es nicht an. Wir werden ihm zustimmen, wenn er in Voltaire die wahrhaft eigentümliche Verbindung von höchster Freiheit des Geistes und einer unrevolutionären Gesinnung bewunderte. Daraus entstand ein Lebensstil und eine Geschichtsanschauung, in der sich politisch konservative Kräfte mit sozial-reformatorischen verbanden, indessen seine lebendige Erfahrung der fatalen condition humaine mit dem auf Fortschritt und Aufklärung gerichteten Mut eines wachen Verstandes verbunden war. So wollte er der Gesellschaft mit der Tat, dem Wort und einer humanen Gesinnung dienen. Voltaire blieb der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts verbunden. E r wurde aber eine Etappe auf dem Wege der Entmythologisierung des Menschheitsprozesses. Insofern lebt er in allen fortschrittlichen Bewegungen audi unseres Jahrhunderts weiter. Und doch ging die neue Zeit nicht aus Voltaire hervor, sondern aus seinem Gegenspieler Jean-Jacques Rousseau.

Jean-Jacques

Rousseau

Jean Jacques Rousseau gehört nicht zu den glücklichen Gesunden, die scheinbar spielend das Leben meistern, sondern zu den Kranken, zu den von ihren Ideen Besessenen, den vom Wahn Befallenen, vielleicht zu den Erleuchteten, in deren seelischem Leiden Fluch und Größe liegt. Das Geheimnis dieses Mannes zu enträtseln, haben sich zwei Jahrhunderte bemüht, ohne daß es bisher gelungen wäre, die Widersprüche und Paradoxien dieses Philosophen und Pädagogen, des Musikers und Schriftstellers, des politischen Theoretikers und religiösen Denkers aufzulösen. An Rousseau sind Philosophen, Theologen, Soziologen, Politiker, Psychologen, Botaniker, Musiker, Literarhistoriker und Literaturwissenschaftler interessiert. Sein Werk hat mannigfaltige Aspekte. Den Rousseaufor-

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schern ist es oft schwer gefallen, eine Einheit darin zu finden. Vielleicht gibt es sie auch nicht, es sei denn, daß dieser Kosmos, genannt Rousseau, als Mittelpunkt das Phänomen Rousseau hat. Und eben dieses Phänomen ist schwer zu fassen. Er verstand sich schlechthin als „paradigmatischen Entwurf des Menschseins" (Röhrs). Darum wurde sein scheinbar disparates Werk eine einzige Konfession; jede Lebensstufe und Lebenserfahrung, über die und durch die er ging, war eine Projektion ins Menschlich-Grundsätzliche. Seine Werke bekommen Symbolkraft. Hermann Röhrs weist darauf hin, daß erst das Wissen um solchen beispielhaften Charakter seiner Bücher eine wesentliche Voraussetzung für ihr Verständnis ist: „Der Eintritt Saint-Preux' in die Pariser Gesellschaft symbolisiert nicht nur die eigene Lebenserfahrung, sondern das Zusammentreffen des natürlichen Menschen mit der zivilisierten Gesellschaft überhaupt. Das einfache Glück in der Ermitage inmitten der Wälder von Montmorency ist das goldene Zeitalter der Menschheit, und die Sehnsucht Rousseaus nach dem verlorenen Glück in Les Charmettes ist die Sehnsucht des Menschen nach der Austreibung aus dem Paradies." (Op. cit. p. 15)

Rousseaus literarisches CEuvre ist wie eine Romantetralogie, der eine zweiteilige Ouvertüre vorausgeht. Die zwei Sätze dieser Ouvertüre sind die beiden „Discours" — der erste über die Künste und Wissenschaften, der zweite über die Ungleichheit der Menschen. Die Romane heißen: La Nouvelle Heloise, Du Contrat social, Emile und die Confessions. Davon ist im eigentlichen Sinne nur die Nouvelle Heloise ein Roman; im übertragenen Sinne aber sind es, wenn wir Emile Faguet folgen wollen, auch die andern. Seine Träume verdichteten sich zu Theorien, seine Theorien verflossen wieder zu Träumen oder Utopien. Aus politischen Visionen schuf er den sozialphilosophischen Roman der modernen Demokratie, den Contrat social. Der Emile wurde der Erziehungsroman, welcher eine Umwälzung der Pädagogik und darüberhinaus der Sitten und des Lebensgefühls in Frankreich und Europa bewirkte. Das eine wie das andere Buch kam einer kopernikanischen Wendung auf den Gebieten des politischen Denkens und der Erziehungswissenschaft gleich. Aus der Empfindsamkeit aber, die Rousseau wie seinen Zeitgenossen eigen war, dichtete er den Roman der Liebe und des Herzens, die Nouvelle Heloise, der im Zusammenhang der europäischen Literaturen gesehen, das Erbe des englischen Romanciers Richardson an den jungen Goethe des Werther weitertrug. Und schließlich schuf Rousseau aus den glückseligen Erinnerungen seiner Jugend und den schmerzvollen Jahren seines Mannesalters den

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Roman der eigenen Seele, die Confessions — das erste tiefenpsychologische Werk unter den Autobiographien der Weltliteratur. Eine wunderbare, bald heitere, bald wehmutsvolle Melodie steigt aus den ersten Büchern der Confessions empor: eine Sprache, die ein französisches Ohr noch nicht vernommen hatte. Das kranke Herz, dem diese Weisen entströmen, ist wieder jung. Rousseau erzählt von seiner Kindheit im Hause des Vaters und wie er, dem Knabenalter kaum entwachsen, aus dem kalvinistisch strengen Genf, seiner Vaterstadt, in die weite Welt wandert, wie er bei einem katholischen Geistlichen Aufnahme findet, wie er dann nach Annecy zu Madame de Warens gelangt, die ihm wie eine Mutter ist und später seine Geliebte wird. Er erzählt, wie er weiter nach Turin zieht und in traumhafter Wanderseligkeit das freie Leben der Landstraßen genießt und sich an Gottes weiter, herrlicher Natur erfreut. Seit Eichendorff seinen „Taugenichts" geschrieben hat, sind wir verführt, das Vagabundenleben des jungen Jean-Jacques durch die Brille dieses romantischen Literaturwerks zu sehen. Seinem alten kalvinistisdien Glauben hat er abgeschworen, neun Tage nach seiner Ankunft im Kloster San Spiritu in Turin, wohin ihn Frau von Warens zwecks Katechismuslehre und Bekehrung geschickt hatte. Mit 20 Franken in der Tasche und guten Wünschen seitens der Missionare geht er wieder auf die Straßen. Er wird so etwa wie ein Lakai in dem vornehmen Hause der Madame de Vercelli, wo er jene seelische Grausamkeit beging, die sein Gewissen nicht mehr zur Ruhe kommen ließ: Er stiehlt anläßlich der Auflösung des Haushalts ein kleines rosa- und silberfarbenes Band, um es der kleinen Marion, die er liebt, zu schenken. Der Diebstahl wird entdeckt. Rousseau protestiert mit aller Heftigkeit und beschuldigt, um den Verdacht von sich abzulenken, das unschuldige kleine Mädchen — avec une impudence infernale — vor der versammelten gräflichen Hausgemeinde. Marion bricht in Tränen aus; sie stottert nur die Worte hervor: „Ah, Rousseau, je vous croyais bon caract£re!" und verteidigt sich so schlicht und einfach, wie sie es nur v e r m a g . . . Rousseau hat nie erfahren, was aus dem Opfer seiner hartnäckigen Lüge und Verleumdung geworden ist. Er weiß in der Erinnerung nur zu berichten, daß er damals zwar nicht so sehr eine Bestrafung fürchtete als vielmehr die S c h a n d e . . . „je la craignais plus que la mort, plus que le crime, plus que tout au monde . . E r hat diese Untat aus seinem Bewußtsein nie verdrängen können. Die Szene des „ruban vole" und die Folgen dieser Geschichte läßt den Psychologen aufhorchen. Rousseau ist glücklich, als sich ihm die Gelegenheit bietet, Turin zu

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der modernen

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verlassen. Mit einem pfiffigen Tunichtgut kehrt er zu seiner „Maman" zurück, nachdem sich die beiden Kumpane getrennt h a b e n . . . „Adieu la capitale, adieu la cour, l'ambition, la vanit£, l'amour, les belies, et toutes les grandes a v e n t u r e s . . . " Wie weiß der Erzähler all diese Erinnerungen in den Zauberspiegel seines Jugendbildes einzufangen! Nun verlebt er die seligste Zeit mit der zur Geliebten gewordenen Madame de Warens auf deren Gütchen „Les Charmettes" unweit von ChamWry: „Hier beginnt das kurze Glück meines Lebens; hier kommen die friedlichen, aber flüchtigen Augenblicke, die mir das Recht gegeben haben zu sagen, daß ich gelebt habe." (Conf. Buch VI)

Aber das Idyll geht seinem Ende entgegen . . . Im Herbst 1741 zieht er nach Paris: Auf den ersten, zwar nicht ungetrübten, aber doch jugendlichsorglosen Teil seines Lebens, den er mit aller Liebe und Selbstliebe in der Erinnerung empfängt, folgt die zweite, der tragische, überreif an Werken, die, langsam, von der Umwelt kaum bemerkt, in seinen Wanderjahren gereift waren. Seine innere Form war geprägt, als er in die Gesellschaft von Paris eintrat: Seine Neigung zum Philosophieren war erwacht. Er hatte Voltaire, Descartes, Locke, Malebranche, Leibniz und die Schriften von Port-Royal studiert. In „Les Charmettes" waren die ersten Gedichte und die ersten musikalischen Kompositionen entstanden, und, bedrängt zwischen den beiden christlichen Konfessionen, bekannte er sich zu einer unkonfessionellen Religiosität, da für ihn als Naturkind, das er war, die Natur selbst zur Bibel wurde, in der sich Gott offenbare. Was er von seinem Leben in „Les Charmettes" erzählte, wie er in der Morgenfrühe aufstand, in die Natur hinauswanderte, und „in aufrichtiger Erhebung zu dem Schöpfer dieser lieblichen N a t u r " betete — das war bereits romantisch-pantheistische Religiosität; und suchen wir nach einem Nachklang nicht nur bei den Literaten, dann finden wir ihn bei Beethoven und Karl Maria von Weber. Man lese nur in Beethovens Notizblättern, wo er aus Kalidasas „Sakuntala" Bedeutsames notiert wie dieses: „Aus Gott flöß alles rein und lauter aus", oder in Webers Romanfragment „Tonkünstlers Leben", das ein Hymnus auf die Natur, ein Vorentwurf seines Priestertums „im Tempel der Kunst" ist. „J'etais ivre d'amour sans objet", schrieb Rousseau und nahm damit Chateaubriands „vague des passions" voraus und die Seelenstimmung der Romantiker: die unheilbare Melancholie eines Ren£. Was wird ihn in Paris erwarten?

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Im Lichte der

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Der Leser der Nouvelle Heloise erfährt es aus dem berühmten Brief Saint-Preux': Ein „geheimer Schauer" empfängt ihn „in dieser weiten Einöde der Welt", wo nur „ein düsteres Schweigen herrscht". Und dabei tritt ihm die Welt höflich und einladend gegenüber; aber er fühlt ihre Falschheit und innere Teilnahmslosigkeit. Man darf indessen mit ebensoviel Berechtigung sagen, daß ihm die Fähigkeit fehlt, sich den Spielregeln der mondänen Gesellschaft anzupassen — nicht, daß er es im Grunde verschmäht hätte, sie anzunehmen; aber er vermochte es nicht, so wenig wie der Misanthrope Molares es wollte oder konnte. Im Spiegel dieser Lustspielfigur wird Rousseau seine eigene Tragik sehen. Er verspielt die einzigartige Chance eines gesellschaftlichen Aufstiegs, als er nach dem Erfolg seiner Oper „Le Devin du village" aus der Hand des Königs, der vor Begeisterung über die Musik den ganzen folgenden Tag nach der Aufführung mit „der falschesten Stimme seines Königreichs" die Melodie trällerte: J'ai perdu mon serviteur J'ai perdu tout mon bonheur

eine Pension empfangen sollte. Der Gedanke an einen Empfang bei Hofe ängstigte ihn derart, daß er lieber wieder das Weite suchte . . . Dem Leser der Konfessionen wird immer deutlicher, daß es sich bei Rousseau um eine pathologische Natur handelte. Ein wenig aus Mitleid, auch aus ritterlicher Gesinnung und aus Bequemlichkeit, machte er ein schwachköpfiges Mädchen aus Organs, Themse Levasseur, das weder richtig rechnen noch gut die Uhr lesen kann, zu seiner Lebensgefährtin. Er war durch die Schlichtheit und Offenheit ihres Wesens so an sie gebunden, daß er so lange glücklich mit ihr lebte, „wie es nach dem Lauf der Dinge sein konnte". Sie schenkte ihm 5 Kinder; er brachte sie alle ins Findelhaus: eine ungeheuerliche Tat, die der Vater unter Anführung mehrschichtiger Gründe zu mildern suchte: die soziale Indikation seiner Armut, die Nützlichkeit hartmachender Erziehung im Armenhaus, das Ideal spartanischer Ertüchtigung und der Hinweis auf die platonische Republik und den „Brauch des Landes", demzufolge von Jahr zu Jahr mehr Kinder in Paris ausgesetzt wurden. Nach den Statistiken wurden in der Tat allein in Paris von 18 713 Neugeborenen 7676 ausgesetzt (Röhrs op. cit. p. 57). Der Psychiater kann diese unverständliche Handlung Rousseaus kaum anders als eine Opfergabe an seine autistischen Neigungen deuten. In seiner Jugend lagen die Triebkräfte seiner Seele, der Hang zur Einsamkeit und Weitabgewandtheit und andererseits die Hinneigung zu den Menschen und zur

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Geselligkeit in gesundem Ausgleich. Aber unter den Einflüssen der veränderten Milieuverhältnisse, die Rousseau in Paris erlitt, wurden die allotropen Neigungen zu Gunsten der autistischen zurückgedrängt. Die Abkehr von den Menschen, zu der er sich entschloß, war f ü r ihn ein schmerzlicher Prozeß. Er vermochte vorerst nicht alle Fäden, die ihn mit den Freunden verknüpften, zu zerreißen. Aber da hatte sein geliebter Freund Diderot ein Wort in seinem „Dorval et moi" geschrieben, das sich wie ein Stachel in Rousseaus Herz bohrte: „II n'y a que le n^chant qui soit seul". Rousseau zitiert es im 9. Buch der Confessions. Die Wunde, die ihm Diderot geschlagen, ist nie verheilt. Rousseau wurde durch all diese Vorkommnisse und durch seine Lebensumstände in bedrückende Zweifel gestürzt. Sein feinfühliges moralisches Empfinden litt an der Welt und an den Freunden. Von dem Zeitpunkt an, da er sagte: „Ich beschloß, midi niemandem mehr anzuschließen" (Buch 7) bis zu dem vollzogenen Bruch mit der Gesellschaft liegt der Ausbau seiner moralischen Rechtfertigung, eine lange Kette komplizierter, weltanschaulicher Überlegungen. Das Gefühl der eigenen Lebensschwäche, das ihn in der Pariser Welt empfängt, hat ihn befangen gemacht. Nun kompensiert er den Mangel, indem er die ganze gegenwärtige Kultur als minderwertige Scheinkultur und die Zivilisation als verderblich brandmarkte. Aber die Konstruktion will die Last seiner nur scheinbar niedergerungenen Bedenken nicht tragen. In steigendem Maße ergreift ein Schuldbewußtsein, genährt durch die Tat der Kindesaussetzung, von seiner Seele Besitz. Da steigt aus den Qualen des Gewissens, die den Kinder- und Menschenfreund durchwühlen, die große Schöpfung des Emile hervor, in welcher er die Entdeckung der Kinderseele in ein Werk von weithin tragender Bedeutung romanhaft verkleidet hat. Schüchterne Menschen sind zuweilen die größten Reformatoren geworden, Menschen der inneren Konflikte, der schweren Gewissenskämpfe, der bangen Zweifel. Ernst Kretschmer hat Beispiele dafür angeführt. Rousseau selbst hat die Analyse seines Seelenlebens bis in die erschütternden Seiten seines „Rousseau Juge de Jean-Jacques" — eine Serie schärfster klinischer Beobachtungen über seine Geistes- und Seelenverfassung — getrieben. Das Ich spaltet und kontrolliert sich: Rousseau urteilt über JeanJacques. In diesem Triptychon der Dialoge verbinden sich luzideste Intelligenz, perfekte Logik des Absurden und Symptome eines ausgedehnten Beziehungswahns zu einem Werk, das in der Literatur des 19. Jahrhunderts einzig dasteht. Er hat Angst, daß die Seiten in unberufene Hände

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die Kathedrale von Notre-Dame, will das Buch auf den Hauptaltar legen, aber findet die Gitter verschlossen: Gott selbst weist ihn zurück. Er verfaßt ein R&umi von einer Seite, kopiert und verteilt es an die Passanten auf der Straße, „A tout Franjais aimant encore la justice et la v^rite" — aber niemand will das Blatt; denn niemand fühlte sich von der Adresse angesprochen... Bevor ihn der Tod vom Leben erlöst, hat Rousseau wirkliche Verfolgungen erlitten. Das Parlament läßt seinen Emile verbrennen. Ein Haftbefehl läuft gegen ihn. Er verläßt Frankreich, bittet Friedrich II. um ein Asyl auf dem damals preußischen Territorium von Neuchätel und läßt sich in Motiers-Travers im Hause der Madame Boy de la Tour nieder. Neue Verfolgungen. Er begibt sich auf die Sankt-Peter-Insel im Bieler See, von wo ihn ein Dekret des Berner Senats vertreibt. Verschiedene Pläne durchkreuzen seinen Sinn. Schließlich folgt er einer Einladung David Humes nach England. Der Verfolgungswahn ist ausgebrochen. Er sieht sich gehetzt, vom Tode bedroht, ist sogar der Überzeugung, daß sich die englische Regierung in dem allgemeinen europäischen Komplott gegen ihn verschworen habe. Auf Umwegen verläßt er das Inselreich, geht unter falschem Namen auf eine Besitzung des Prinzen Conti, bricht mit seinen letzten Freunden, reist ohne Rast und Ruh' nach Lyon, Grenoble, Chamb£ry, um schließlich nach Paris zurückzukehren, wo er sich 1770 in der Rue Plätri£re installiert. 1772 vollendet er die Confessions und beginnt die Reveries d'un Promeneur solitaire. Sie werden durch einen MollAkkord eingeleitet: „Me voici seul sur la t e r r e . . A m 12. April 1778 schreibt er an der 10. Träumerei. Es war Ostern. Genau vor 50 Jahren hatte er die Bekanntschaft mit Madame de Warens gemacht. Noch einmal schweifen die Erinnerungen zurück in die Zeiten längst verklungener Jugendseligkeit... Die Feder entgleitet der Hand. Die Träumerei bricht ab . . . Drei Monate später wird er vom Leben und Leiden erlöst. ψ Am Anfang des 8. Buches der Konfessionen erzählt Rousseau, wie er des öfteren seinen in Haft sitzenden Freund Diderot besuchte. Er lief in den ersten Nachmittagsstunden den weiten Weg von Paris nach Vincennes in der schattenlosen Allee zu Fuß. Einen Wagen konnte er sich nicht leisten. Beim Gehen las er in einer Nummer des Mercure de France. Sein Auge fiel auf eine Preisfrage, welche die Akademie zu Dijon ausgeschrieben hatte: „Si le progres des sciences et des arts a contribui a corrompre ou a ^purer les mceurs". Die genaue Formulierung lautete: „Le r£tablis-

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sement des sciences et des arts a-t-il contribui ä. ^purer les moeurs". Der so formulierte Titel ließ erkennen, daß die Akademie eine Beantwortung der Frage erwartete, ob und inwiefern die Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften im Zeitalter der Renaissance einen förderlichen Einfluß auf die Sitten und Moral ausgeübt habe. Rousseau geriet in eine Erschütterung, die nach seinem eigenen Bekenntnis an Wahnsinnsausbruch grenzte. „Wie ich das las, sah ich plötzlich eine andere Welt vor mir und wurde ein anderer Mensch." (ib.) Diderot bemerkte die Erschütterung und ermunterte ihn, sich um den Preis zu bewerben. „Mein ganzes übriges Leben und all mein Unglück war eine unvermeidliche Folge dieser momentanen Verirrung." Wir wissen zwar, daß dieser sein „Erster Discours" nur entwickelte, was lange Zeit in ihm vorgebildet lag. Rousseau selbst empfand den völligen Durchbruch seiner Ideen freilich erst an jenem heißen Sommertage 1749, da er plötzlich seinen „Geist von tausend Lichtstrahlen umflossen" fühlte und „ganze Massen der lebhaftesten Ideen" mit einer Gewalt und Unordnung in ihm aufstiegen, daß sein „Kopf bis zur Trunkenheit betäubt" war und heftiges Herzklopfen und Atemnot seine Brust beklemmte. Wir hören von Diderot, La Harpe, Grimm, Marmontel, Morellet, daß Rousseau, von dem Thema der Preisfrage begeistert, sie ursprünglich in bejahendem Sinne beantworten wollte. Da hätte ihm Diderot, der eine solche Beantwortung im Jahrhundert der Fortschrittsgläubigkeit als banal empfand, nahe gelegt, sie in umgekehrtem Sinne abzuhandeln und die Zeitgenossen durch das Paradox der Verneinung zu verblüffen. Was zwischen beiden Freunden damals im Scherz oder Ernst gesprochen und besprochen wurde, wissen wir nicht. Wem soll man glauben? Halten wir uns an den Text der Confessions, wäre allerdings dieser Sommernachmittag der Wendepunkt im Leben Rousseaus: Beginn einer vita nuova, Durdibruch zum eigenen Ich, und zugleich die Geburtsstunde einer modernen Kulturphilosophie und Kulturkritik, wie sie seitdem unser abendländisches Denken beunruhigen. Es ging Rousseau nicht darum, einen nüchternen historischen Exkurs über die gestellte Frage abzuliefern; die psychophysischen Begleiterscheinungen legen die Annahme nahe, daß es um mehr ging, nämlich um die entscheidende Grundfrage unserer Existenz: welche der beiden H a u p t k r ä f t e des Menschen, Ethos oder Intellekt, sittliche Grundkraft oder geistiges Vermögen, die Priorität hätten. Rousseau wurde durch seine Schrift mit einem Schlage ein berühmter Mann. Die Männer hielten ihn f ü r genial oder wunderlich, die Frauen

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fanden ihren kleinen „Bären" entzückend-naiv. Wie kann man behaupten, daß die Künste und Wissenschaften die Sitten verdürben! Welch unverständliche Herausforderung! — oder war es nur ein Paradox? Die Arbeit erhielt immerhin den Preis der Akademie. Verbargen sich vielleicht doch hinter dieser erregten und erregenden Sprache, hinter all den Unklarheiten, ja Widersprüchen, tiefere, beängstigendere Wahrheiten, die sich nur nicht ganz zu enthüllen wagten? Man glaube nicht, daß die fortsdirittsgläubigen Enzyklopädisten ohne Widersprüche zu sich selbst waren. Vielmehr möchte man meinen, daß etwas von den Rousseauschen Ideen in der Luft lag. In Lessings „Gedanken über die H e r r n h u t e r " vernehmen wir fast gleichzeitig eine ähnliche Mahnung wie die Rousseaus: Vom Grübeln zur Werktätigkeit, vom Vernünfteln zum Handeln zu schreiten. Lessing machte einen Auszug aus dem Rousseauschen Discours und Schloß ihn mit den Worten: „Ich weiß nicht, was man für eine heimliche Ehrfurcht für einen Mann empfindet, welcher der Tugend gegen alle gebilligten Vorurteile das Wort redet, auch sogar alsdann, wenn er zu weit geht."

An anderer Stelle nennt ihn Lessing den „Kühnen Weltweisen", der unbekümmert um alle Scheinwahrheiten und Vorurteile geradewegs auf die Wahrheit selbst zugehe. Lessing hat den Weg gezeigt, Rousseau richtig zu verstehen. Weit davon entfernt, ein Bilderstürmer zu sein, berichtigt Rousseau selbst die MißVerständnisse, die sich alsbald um seinen Discours verdichteten: „Ich habe schon andernorts gesagt, daß es durchaus nicht in meiner Absicht lag, die bestehende Gesellschaft umzustürzen, die Bibliotheken und alle Bücher zu verbrennen, die Schulen und Akademien zu zerstören; und ich muß hier noch anfügen, daß ich ebenfalls weit davon entfernt bin, die Menschen rückläufig dahin zu bringen, sich mit dem .simple necessaire' zu begnügen . . ." (Reponse a Μ. Bordes)

Zu behaupten, Rousseau habe gesagt, man solle wieder auf allen Vieren laufen, um glücklich zu werden, war eine Voltairesche Bosheit. N i r gends steht bei Rousseau das berühmt gewordene Schlagwort des ,retour a la nature'. Er dachte nicht daran, die Künste und Wissenschaften zu verbannen, sondern wollte sie in den gesellschaftlichen Prozeß einordnen, indem er sie auf das unveräußerliche Fundament der Moral stellte. Er wollte sie von der materiellen Abhängigkeit der Gesellschaft lösen und ihnen als höchste Aufgabe, deren freilich nur eine geistige Elite fähig sei,

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die Teilhabe an der Erziehung des Menschengeschlechts zuerkennen. Die platonischen Motive sind unüberhörbar: „. . . dieser kleinen Zahl ( = den Berufenen unter den Wissenschaftlern und Künstlern) gebührt es, Denkmäler zum Ruhme des menschlichen Geistes zu errichten . . . Möchten die Herrscher doch nicht verschmähen, in ihrem Staatsrat Männer zuzulassen, die am fähigsten sind, sie gut zu beraten . . . Aber solange die Macht auf der einen Seite allein steht und die Kenntnisse und die Weisheit allein auf der andern, werden die Gelehrten selten an große Dinge denken und die Fürsten noch seltener solche tun, und die Völker werden weiterhin gemein, verderbt und unglücklich sein."

Schon Lessing empfand, daß Rousseau einen neuen Ton angeschlagen hatte. Mit einer Eloquenz, wie er sie weder in Locke noch Sidney, weder in Grotius noch Pufendorf, weder in Hobbes noch Montesquieu fand, machte er sich zum Anwalt der Armen und Bedrückten. In ihrem Namen griff er bald die Einrichtungen der herrschenden Staatsformen und Gesellschaftsordnungen an. Sein revolutionäres Pathos durchglühte die häufig so starre und kühle Gedankenwelt seiner sozialphilosophischen Vorgänger. Durch Rousseaus Schriften wurde ins Bewußtsein gehoben, was die damalige Menschheit mit Ahnungen erfüllte: „Le grand devient petit, le riche devient pauvre, le monarque devient s u j e t . . . Nous approchons de l'etat de crise et du siecle des revolutions." (Emile III) „Der Große wird klein, der Reiche wird arm, der Monarch wird Untertan . . . Wir nähern uns dem Krisenzustand und dem Jahrhundert der Revolutionen." Sicher wollte Rousseau einst in Paris emporkommen. Aber eines Tages sah er den Abgrund, der die obere Welt der Eleganz, Korruption, des Esprit von der unteren der Schlichtheit, Reinheit, Anspruchslosigkeit trennte. Und nun verachtet er die Gesellschaft und spielt sich immer leidenschaftlicher in die Rolle ihres Anklägers hinein: Lieber gut handeln als korrupt denken; lieber einen schlichten Glauben als ein aufgeklärtes Wissen haben; lieber nach innen als nach außen leben; lieber ein festumrissener Charakter als eine entwurzelte Figur der Gesellschaft sein. Rousseau geht auf dem einmal eingeschlagenen Wege weiter. Dem Ersten Discours folgt 4 Jahre später der zweite: wiederum eine Bearbeitung einer Dijoner Preisfrage: „Quelle est l'origine de l'inegalite parmi les hommes, et si eile est autorisie par la loi naturelle?" (1755). Jedermann kennt Rousseaus Lieblingsgedanken, daß der Mensch in seinem natürlichen Zustand, so wie er aus den Händen des Schöpfers hervorgegangen ist, gut sei. Aber er ist einen falschen Weg gegangen in dem Glauben, sein Glück in der Gesellschaft zu finden, und hat sich nun in Elend, Laster, Verzweiflung verstrickt. 19 Möndi, Franz. Kultur

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Im Lichte der Aufklärung

„Der erste, der ein Stück Land einzäunte und sich anmaßte zu sagen: das gehört mir, und Leute fand, die einfältig genug waren es zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wieviele Verbrechen, wie viele Kriege, Mordtaten, Elend und Schrecken wären der Menschheit erspart geblieben, wenn einer die Grenzpfähle ausgerissen, die Gräben verschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: Hütet euch, diesen Betrüger anzuhören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Erträge allen, daß aber der Boden niemandem gehört." (1. Satz)

Nun bilden sich naturgemäß zunächst Familien, dann Gruppen, dann Nationen. Die Entwicklung ist nicht zurückzuschrauben... „Die Gleichheit verschwand mit der Einführung des Besitzes. Jetzt hieß es arbeiten — und die riesigen Wälder verwandelten sich in lachende Fluren, aber des Menschen Schweiß mußte sie bewässern, und bald erhob die Knechtschaft ihr Haupt, und das Elend begann zu keimen und wuchs mit den E r n ten . . . Sobald Menschen gebraucht wurden, das Eisen zu sdimelzen und zu schmieden, brauchte man andere, um sie zu ernähren . .

Kultur erforderte Arbeitsteilung; Arbeitsteilung bedeutete Ungleichheit; Ungleichheit aber war der Ursprung alles Übels. Drei Gedankenfäden verweben sich in diesem Discours ineinander: Die Angriffe gegen das Eigentum und dessen verhängnisschwere Folgen; das Fernziel, die natürliche Gleichheit, die verloren ging, auf andern Wegen, die vorerst noch im Dunkeln liegen, wiederherzustellen; der paradiesische Traum von einem Goldenen Zeitalter der ursprünglichen Menschheit. Die Entwicklung der Naturwissenschaften, der Fortschrittsglaube der Aufklärungsphilosophen und die Errungenschaften moderner Zivilisation legten freilich dem Jahrhundert Rousseaus die Anschauung von der Perfektibilität des Menschengeschledits und den Glauben an eine glücklichere Zukunft nahe. Dennoch sind Rousseaus Ideen über die physische und psychische Veränderung und Verzerrung des Menschen in der Geschichte nicht so revolutionär. Sie sind vielmehr nur eine Abwandlung eines Mythus, der von der Glückseligkeit der ersten Menschen in der freien Natur erzählt und von seinem unseligen Fall in die Welt der Geschichte. Auf der Titelseite der Erstausgabe des Ersten Discours war die Szene eines alten Satyr abgebildet, der zum ersten Mal das Feuer erblickte. Er wollte es küssen und umfassen, aber Prometheus rief ihm zu: Satyr, du wirst den Bart deines Kinnes beweinen, denn das Feuer brennt den, der es berührt. Die Sage von Prometheus, das Bild des feuergierigen Satyrs, der nie alternde Mythus vom Goldenen Zeitalter, die plotinische Metaphysik, die uns vom

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Abfall der Seele aus der intelligiblen Einheit in die Vielgestaltigkeit der sensiblen Welt kündet, und andere verwandte christlich-theologische Vorstellungen vom Sündenfall und der nachfolgenden Entwicklung des Menschengeschlechts dämmern mitten im Zeitalter des mythenfremden Rationalismus in Rousseau wieder auf und — das ist das Neue und Bemerkenswerte — sie gewinnen durch eine sozialphilosophische Ausprägung des Gedankens eine eigentümliche Modernität. Uber seiner Kulturphilosophie stehen zwei Leitmotive. Das eine leitet den Contrat social ein, das andere den Emile. Sie lauten: „L'homme est ηέ libre, et partout il est dans les fers" (Contrat social I, 1). Das andere: „Tout est bien, sortant des mains de l'Auteur des choses, tout dέgέnέre entre les mains de l'homme." (Emile I) Die Antinomie von Freiheit und Fessel, von Individuum und Gesellschaft ist in diesen zwei Leitmotiven gedanklich und rhetorisch eindrucksvoll herausgestellt. Rousseau läßt den Menschen zunächst den Zwiespalt fühlen, der zwischen seinem göttlichen Ursprung und seiner sozialen und historischen Existenzweise liegt. In dem einen war der Mensch ein entier absolu, in der andern ist er nur noch eine unite fragmentaire. Der Mensch der Gegenwart entfernt sich aber immer mehr von seinem Ursprung. Es gibt kein Halten und kein „Retrogradieren" zu einem fiktiven Zustand der Primitivität. „Die menschliche Natur schreitet nicht rückwärts, und nimmermehr steigen wir zu jenen Zeiten der Unschuld und Gleichheit wieder hinauf, da wir uns einmal davon entfernt haben." (Rousseau Juge de Jean-Jacques)

Wie aber kommen wir da weiter? Das eben wird der Contrat social zeigen, der sich folgerichtig aus dem Ersten und Zweiten Discours entwickelte. H a t Rousseau die drei Etappen in der Entwicklung zur Ungleichheit aufgewiesen: die Einrichtung des Eigentums und ihre Legalisierung; — die Einsetzung der Regierungen und der Verwaltung, woraus die Ungleichheit der sozialen Hierarchie resultierte; — die Umbildung der legitimen Gewalt in eine Willkürherrschaft, so handelt es sich nunmehr darum, dem Menschen, der sich in einen betrügerischen Kontrakt begeben und dadurch seine ursprüngliche natürliche Freiheit und Gleichheit mit den andern verloren hat, durch den richtigen Gesellschaftsvertrag zu einer neuen Freiheit und Gleichheit in staatsbürgerlichem Sinne zu verhelfen. Gewiß: der natürliche Mensch war frei, aber der Staatsbürger wird es wieder werden, und zwar auf einer höheren Stufe, und mit Hilfe einer theoretischen Ausgleichsrechnung, die aus 5 Operationen besteht: 1. Das Äquivalent des freien Naturzustandes ist, im sozialen Zustand, die auf

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dem Gesellschaftsvertrag gegründete Freiheit, das Ergebnis einer echten Autonomie des Willens. 2. Das Äquivalent der natürlichen Güter, deren Genuß dem Menschen verloren ging, ist der neue Besitz aller lebensnotwendigen Güter, die dem Staatsbürger durch die Gesetze garantiert werden. 3. Das Äquivalent seiner physischen Individualität ist seine neue moralische Individualität im Rahmen des Kontraktes: der faktischen Ungleichheit substituiert sich die staatsbürgerliche Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. 4. Das Äquivalent der religion naturelle ist die religion civile. Und schließlich, alles in allem genommen, ist 5. das Äquivalent des freien Naturmenschen der höher gebildete soziale Mensch als Mitglied des corps politique. Rousseau hat also niemals und nirgends ein „Zurück zur Natur" gepredigt, sondern hat den Menschen zugerufen: Geht durch das Fegefeuer der Geschichte hindurch — da ihr einmal auf diesem Wege seid — und schreitet vorwärts und nach oben in das Reich der Freiheit. Der Eintritt in den kontraktlich gesicherten gesellschaftlichen Zustand gewährt einen „höheren" Grad der Freiheit, weil die Einordnung in das Gemeinwesen und die Unterordnung unter die „volont£ g6n£rale" jenseits der natürlichen Güte des Menschen erst eigentlich Sittlichkeit verleiht. „Das Gesetz allein ist es, dem der Mensch die Gerechtigkeit und die Freiheit verdankt; dieses Organ des Willens aller ist es, das die natürliche Gleichheit unter den Menschen in der Ordnung des Rechts wiederherstellt; diese göttliche Stimme stellt für jeden Bürger die Normen der allgemeinen Vernunft fest und belehrt ihn, gemäß den Maximen seines eigenen Urteils zu urteilen und niemals in Widerspruch mit sich selbst zu geraten." (Rousseau, Economie politique)

Das ist, um mit Otto Vossler zu sprechen, kein Damaskus mehr von oben, sondern ein Damaskus des Willens und der Vernunft. Das ist der letzte Schritt in der schon lange vorbereiteten kopernikanischen Wende des politischen und sozialen Denkens: eine Wende vom theokratisch bestimmten mittelalterlichen Staatsgedanken wie auch von der absolutistischen Staatsraison seiner eigenen Zeit zu der „revolutionierenden, hochpolitischen Idee des Staates als sittlicher Selbstbestimmung, d. h. der Vermenschlichung des Staates." (O. Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, 1962) Die große Frage war für Rousseau die: Wie ist die Staatsautorität zu legitimieren? „Da kein Mensch eine natürliche Autorität über seinen Nächsten besitzt, und da die Stärke kein Recht mit sich bringt, bleiben also nur die Übereinkünfte

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als Grundlage jeder gesetzmäßigen Autorität unter den Menschen." (Contrat social I, 4)

Da aber keine Konvention je einen Menschen geschweige denn ein Volk zwingen kann, Sklave eines andern oder eines Herrschers zu sein, muß es eine „premi£re convention" gegeben haben, die nidit auf Gewalt beruhte — das ist der eigentliche „pacte social": „l'acte par lequel un peuple est un peuple" und nicht nur eine Summe einzelner oder einer „aggrigation" von Sklaven (I, 5). Die entscheidenden Formulierungen dessen, was der pacte social ist, stehen im 6. Kapitel des Ersten Buches: 1) „Chacun de nous met en commun sa personne et toute sa puissance sous la supreme direction de la volonte generale, et nous recevons en corps diaque membre comme partie indivisible du tout." 2) Die Klauseln dieses Kontraktes lassen sich auf eine einzige reduzieren: „l'alienation totale de diaque associe avec tous ses droits a toute la communauti." Also totale Entäußerung eines jeden Teilhabers mit allen seinen Rechten zugunsten der ganzen Gemeinschaft.

Wenn jeder sich rückhaltlos mit allem, was er hat und was er ist, dieser Gemeinschaft hingibt, dann ist gewiß, wie Rousseau sagt, die Kondition für alle gleich, und, wenn die Kondition für alle gleich ist, hat niemand Interesse daran, sie den andern zur Last werden zu lassen. Egalit6 und Liberti halten sich die Waage. 3) Der Stein des Weisen, den es zu finden gilt, muß also in folgender Richtung gesucht werden: „Trouver une forme d'association qui defende et protege de toute la force commune la personne et les biens de chaque associe, et par laquelle chacun s'unissant ä tous n'obeisse pourtant qu'a lui-meme et reste aussi libre qu'auparavent. Eine Form der Vergesellschaftung zu finden, die in gemeinsamer Kraftanstrengung Person und Güter jedes Teilhabers schützt und verteidigt, und durch die ein jeder, indem er sidi mit allen Teilhabern verbindet, doch nur sidi selbst gehorcht und ebenso frei bleibt, wie er es zuvor gewesen ist.

Das also ist das Fundamentalproblem, dessen Lösung der social darbietet.

Contrat

Das Buch II handelt von der Souveränität. Aus der Entäußerung unseres Partikularwillens folgt die Idee der volonte generale. Durch den Akt der Vergesellschaftung entsteht ein „corps moral et collectifeine Art „personne publique", die früher den Namen „cit£" trug und jetzt „ripublique" oder „corps politique" heißt. Diese Körperschaft bedeutet Staat, Souverän und Macht, je nach der Optik und Funktion. Gehorcht diese so begründete „politische Körperschaft" den Gesetzen, nennen wir sie

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Im Lichte der

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»Staat"; insofern sie die Gesetze schafft, ist sie der „Souverän"; und als „Macht" (puissance) bezeichnen wir sie im Hinblick auf das internationale Recht. Der Souverän ist also die Gesamtheit des Volkes. Rousseau selbst nannte sich, stolz auf sein Genfer Bürgertum, „citoyen d'un Etat libre, et membre du souverain". Natürlich fragt er im Verfolg der Untersuchung nach der besten Regierung (Buch I I I ) . Die Regierung ist die Exekutive, niemals die Souveraineti. Wenn jemand fragte, welches die beste Regierung für ein Volk sei, die Demokratie oder die Aristokratie oder die Monarchie, bzw. die einzelnen Mischformen, so wäre diese Frage unlösbar, weil es ebensoviele Lösungen wie mögliche Kombinationen gibt; denn die Völker gleichen einander nicht, und ihre jeweilige historische Situation und ihre naturgebundenen Lebensbedingungen sind verschieden. Fragte man hingegen, an welchen Zeichen man erkennen könne, daß ein Volk gut oder schlecht regiert werde, si> ist das eindeutige Erkennungszeichen der jeweilige Wohlstand des Volkes, „la conservation et la prosp^rite des ses membres". (111,9) Das letzte und vierte Buch handelt vom Funktionieren des Staates und der Verwaltung (suffrages, elections, cornices romains, tribunat, dictature u. a.). Rousseau bekundet in diesen Kapiteln seine Bewunderung für die politische Genialität des antiken Rom. Wenn uns auf Schritt und Tritt in dem ganzen Werk die Spuren aus der Lektüre von Piaton und Aristoteles, von Thiodore de Βέζε und Jean Bodin, von Grotius und Pufendorf, von Hobbes und Locke, von Althusius und Spinoza, von Machiavelli und Burlamaqui und manchen andern sichtbar werden, so klingt aus seiner Begeisterung für die alten Römer die Stimme Montesquieus nach. Aber das letzte Kapitel stößt zu einer Kernfrage politischer Existenz vor, zur Frage über die Staatsreligion, die religion civile, auf deren Bedeutung für die Sozialphilosophie Rousseaus K.-D. Erdmann und Hans Maier hingewiesen haben. Rousseau hat das Problem der Religion zweimal aufgegriffen und es dabei jeweils von einer andern Perspektive betrachtet: Im 4. Buch des Emile, der „Profession de Foi du Vicaire Savoyard", und im letzten Buch des Contrat social in der Optik des staatsbürgerlichen Denkers. Wie dem „droit divin naturel" ein „droit divin civil", so steht der „religion de l'homme" die „religion du citoyen" gegenüber. Rousseau unterscheidet drei Formen von Religionen: Erstens die „reine und schlichte Religion des Evangeliums", die ursprünglich keine Riten, Tempel, Altäre kannte und

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sich auf den rein innerlichen Kult des Höchsten Gottes und auf die von der Moral gesetzten Pflichten beschränkt; zweitens die jeweilige Staatsreligion der einzelnen Völker. Sie hatte ihre partikularen Götter, Riten, Dogmen und den jeweils gesetzmäßig vorgeschriebenen äußeren Kult. Alle, die nicht zu diesem Volk und seiner Religion gehörten, waren Heiden, Fremde, Barbaren. Drittens aber gibt es noch eine Religion — seltsamer als die andern, da sie zwei Gesetzgebungen, zwei Oberhäupter, zwei Vaterländer kennt und die Untertanen in einem Zwiespalt zwischen ihren Pflichten als Gläubige und als Staatsbürger hält. Das ist die Religion der Lamas, der Japaner und des römischen Katholizismus. Ihr gehört ein „droit mixte et insociable" zu. Politisch gesehen hätten alle drei Formen ihre Mängel. Im Rahmen des Contrat social gesehen hat die zweite den Vorteil, daß sie den Kult Gottes oder der Götter mit der Liebe zu den Gesetzen verbindet. Dem Staate dienen, heißt dem Schutzgott dienen. Für sein Land sterben, heißt Märtyrer werden. Die politischen Gesetze verletzen, heißt gottlos sein. Rousseau bedauert, daß gerade diese Art Religion, auch wenn sie „socialement vraie" ist, religiös gesehen sich auf Irrtum, Lüge und Täuschung gründet, daß sie in der Verwaltung der Priester das Volk blutrünstig und unduldsam machen kann. Anders steht es mit dem Christentum, „non pas celui d'aujourd'hui, mais celui de l'Evangile". Es hat den Vorteil, daß gemäß seiner Lehre alle Menschen Kinder Gottes seien. Da aber die religion de l'homme keine Bindung an den corps politique habe, ja sogar die Gläubigen gegenüber ihren staatspolitisdien Pflichten gleichgültig mache, darf Rousseau sagen: „Je ne connais rien de plus contraire a l'esprit social". Gewiß kann jeder Christ seine politischen Pflichten erfüllen; aber er wird es letztlich „mit tiefer Gleichgültigkeit gegenüber dem guten oder bösen Ausgang seines Tuns" machen; denn: „la patrie du Chretien n'est pas de ce monde". Des Christen Sinn richtet sich nicht auf das Zeitliche und Irdische, sondern auf die Ewigkeit und das Jenseits. Ja, der Christ würde sogar noch die Hand Gottes segnen, wenn diese sein Volk in die Vernichtung führte. Göttliche Vorsehung leitet die Weltgeschichte — und der christliche Erdenbürger hat nur im „Stoizismus" — das Wort steht hier bei Rousseau — zu erdulden, was ihm geschickt wird. Die Sanftmut des Christen verträgt sich nicht mit Rebellion... „ils savent plutot mourir que vaincre". Das Christenvolk könnte in den Händen jedes verschlagenen und ehrgeizigen Heuchlers, heiße er nun „un Catilina, par exemple un Cromwell", zum Spielball machtgieriger Verbrecher werden. Wird aber der Christ des reinen Evan-

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geliums politisch, dann verliert er den Namen Christ: eine „christliche Republik" ist ein Widerspruch in sich — „mais je me trompe en disant une Ripublique Ch^tienne; chacun de ces deux mots exclut l'autre", die beiden Begriffe „christlich" und „Republik" schließen einander aus. Unter dem Aspekt der reinen Staatsraison gesehen, mündet der Gedanke einer religion civile in einen religiös-dogmatischen Indifferentismus: „Es ist für den Staat wichtig, daß jeder Bürger eine Religion habe, die ihn seine Pflichten lieben lehrt. Aber die Dogmen dieser Religion interessieren den Staat und seine Mitglieder nur insofern, als sie sidi auf die Moral und die Pflichten beziehen . . . Sonst mag ein jeder denken, was er will, ohne daß es dem Souveränen zusteht, die Gedanken seiner Untertanen zu erforschen. D a der Herrscher in der andern Welt keine Kompetenzen hat, so ist das Schicksal, das seine Untertanen im Jenseits haben, nicht seine Angelegenheit, vorausgesetzt, daß sie in dieser Welt gute Staatsbürger sind." (ib.)

Das ist mit andern Worten, was etwa 20 Jahre zuvor der junge Friedrich II als berühmt gewordene Randbemerkung zum Beridit des Staatsministers von Brand und des Konsistorialpräsidenten von Reichenbach geschrieben hat: „ . . . hier mus ein jeder nach seiner Fasson Seiich werden" (22. Juni 1740) und etwas später: „ . . . so können alle (Religionen) der Regirung gleich recht sein, die folglich jedem die Freiheit läßt, den Weg zum Himmel einzuschlagen, der ihm gefällt. Nichts weiter verlangt sie vom einzelnen, als daß er ein guter Staatsbürger sei." (L* Hist, de la Maison de Brandebourg). Wenn der Souverän die Glaubensartikel fixiert, handelt es sich nach Rousseaus Worten nicht um „dogmes de religion", sondern um die „sentimeiits de sociabilite". Die Dogmen aber der Staatsreligion sollen einfach sein, nur gering an Zahl, präzis gefaßt und ohne Kommentare. Zu den „dogmes positifs" gehören folgende: L'Existence de la Divinite puissante, intelligente, bienfaisante, pr^voyante et pourvoyante, la vie a venir, le bonheur des justes, le chatiment des m&hants, la saintete du Contrat social et des Lois. Die „negativen Dogmen" beschränkt Rousseau auf eins: c'est l'intolerance; eile rentre dans les cultes que nous avons exclus." (ib.) So stellt sich uns der Contrat social als sozialpolitisches Glaubensbekenntnis dar: Er ist die Apologie der menschlichen Gesellschaft; er wird zum Hohen Lied der souveränen Staatsautorität; er verkündet die Heiligkeit der Gesetze und stellt, alles in allem genommen, das souveräne Recht des Staates über das Individuum, indem er, gleichzeitig, die Unterwerfung des einzelnen unter den allgemeinen Willen als die eigentliche Freiheit des

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Individuums verkündet. Alles läuft auf eine egalisierte Republik hinaus, deren Bau theoretisch von einer sozialverbindlichen

volonte

general

getragen wird. Die Gefährlichkeit einer praktischen Anwendung dieser Lehre sollte sich bald nach Rousseaus Tode in der Französischen Revolution und im 2 0 . Jahrhundert an einigen Brennpunkten der Weltgeschichte vollziehen und sich wiederholen. Theoretisch zwar kann der Souverän, der j a nichts als die Zusammenfassung aller, also das Volk,

ist, dem einzelnen

nicht schaden wollen; denn wie soll das H a u p t den Gliedern Böses tun? Aber in der realen Geschichte geschah es nun einmal so, wie es Egon Friedell kurz und bündig zusammenfaßte: „Der Souverän erhob sein Haupt und zwang, jedoch ohne ihnen schaden zu wollen, alle, die sich geirrt hatten, mittels Fallbeil zur Freiheit." (Kulturgeschichte der Neuzeit II, 318) Es wird immer erstaunlich bleiben, daß im gleichen J a h r wie der Contrat cation

social,

wenige Wochen nach ihm, auch der Emile,

OH de

l'Edu-

( 1 7 6 2 ) erschien. D a ß Rousseau das Zeug zu einem Reformator

hatte, war schon seinem Freunde Melchior Grimm nicht entgangen: „Hätte Rousseau zwei Jahrhunderte früher gelebt", schreibt er in der Correspondance litteraire am 15. Februar 1770, „würde er, ein geborener Sektenführer, eine große Rolle gespielt haben. Als Reformator hätte er die Seele einer allgemeinen Revolution sein können." Die erste aller nützlichen Tätigkeiten ist für den Erzieher Rousseau die „Kunst, Menschen zu bilden". E r kannte Lockes „Some Thoughts concerning Education", 1693, das Grundwerk der neueren Pädagogik; die Idee der griechischen Paideia war in ihm stets lebendig; aus einer Mischung moderner und antiker Pädagogik schuf er den Erziehungsroman, dessen Wirkung, wie es Röhrs in seinem Rousseaubuch herausgestellt hat, sich weithin über Fröbel und Pestalozzi hinaus in das 20. Jahrhundert hinein erstreckt hat. In dem Arbeitsschulgedanken und in den Zielen der Landeserziehungsheime sind Rousseaus Spuren sichtbar. Die Methode der pädagogischen Zielsetzung des Docteur D e c r o l y : „pour la vie par la v i e " verrät den Einfluß Rousseaus, und vollends ist der Gedanke der Eigengesetzlichkeit der Kindeswelt, wie ihn M a r i a Montessori entwickelt und praktiziert hat, in Rousseau vorgebildet. In dem Briefroman Nouvelle

Heloise

schreibt Julie an Saint-Preux: „Die Natur will, daß Kinder Kinder seien, bevor sie zu vernünftigen Wesen heranreifen. Wollen wir diese Ordnung umstoßen, so erzeugen wir vorzeitige Früchte, die weder Reife noch Wohlgeschmack haben und sicherlich bald verderben; wir bekommen junge Gelehrte und alte Kinder. Die Kindheit hat

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ihre besondere Weise zu sehen, zu denken und zu fühlen; nichts ist törichter, als ihr unsere Weise aufdrängen zu wollen . .

Rousseau hat keinen Anspruch darauf erhoben, eine allenthalben anwendbare, objektiv gültige Erziehungsmethode zu liefern; vielmehr müsse man sich bei der Frage nach der besten Methode gegenwärtig halten, daß die Anwendung jeder Methode immer relativ zu einem bestimmten Lande und einer bestimmten Bevölkerungsschicht bedacht werden muß: „ . . . telle Education peut etre praticable en Suisse et ne l'etre pas en France; telle autre peut l'etre chez le bourgeois, et telle autre parmi les grands." (Emile, Preface)

Es sei dem Leser kurz der Gang des Erziehungsromans an Hand der Schritt um Schritt entwickelten Prinzipien in Erinnerung gerufen. Zu Beginn erklingt das Leitmotiv: „Tout est bien sortant des mains de l'Auteur des choses, tout d£g£n£re entre les mains de l'homme." Ziel der Erziehung muß es also sein, die „Entartung" des Menschen durch richtige Erziehung zu verhindern. Die ersten Aufgaben obliegen den Eltern. Emil aber ist ein Waise; er gehört dem gehobenen Stande an, ist wohlhabend, gesund und hat einen Erzieher. Damit sind die Grenzen seiner partikularen „condition" abgesteckt, was indessen die allgemeingültige Richtigkeit folgender Prinzipien nicht ausschließt: Sorge um die Hygiene, Abhärtung durch kalte Bäder, Abschaffung der Wickeltortur; dem Kinde die Furcht vor den Gegenständen nehmen; es weinen zu lassen, wenn es Lust dazu hat; wissen, daß die Wörter, die wir sprechen, für das Kind einen andern Sinn haben als für die Erwachsenen; mit einem Wort, das Kind von der Welt des Kindes her begreifen. Das 2. Buch umfaßt die Lebenszeit vom 3. oder 4. bis zum 12. Lebensjahr. Das Prinzip lautet: sich das Kind durch eigene Erfahrungen formen lassen. Es soll ruhig stolpern, fallen, sich weh tun — freilich draußen, im Freien, und nicht in der verbrauchten Zimmerluft — es wird mit alledem kräftiger, gesünder, widerstandsfähiger werden als die Stubenhocker. „Alle ihre Bewegungen sind nur Bedürfnisse ihrer Konstitution", aber es gilt, die Echtheit eines Bedürfnisses von jedweder Launenhaftigkeit zu unterscheiden. Vor allem soll man mit dem Kind nicht „raisonnieren", also vernünfteln in „einer Sprache, die es nicht versteht", sonst gewöhnen die Erwachsenen es daran, „ä se payer de mots". H a t man schon darauf aufmerksam gemacht, daß dieser Hinweis offenbar von Schopenhauers Vater für die Erziehung seines Sohnes Arthur befolgt worden ist? Wir lesen in Arthur Schopenhauers „Lebenslauf" von 1819:

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„Mein Geist wurde n i c h t . . . mit leeren Worten und Berichten von Dingen, von denen er nodi keine richtige und sachgemäße Kenntnis haben konnte, ausgefüllt . . . sondern statt dessen durch die Anschauung der Dinge genährt und wahrhaft unterrichtet . . . Besonders erfreue ich midi dessen, daß mich dieser Bildungsgang frühzeitig daran gewöhnt hat, mich nicht mit den bloßen Namen von Dingen zufrieden zu geben, sondern die Betrachtung und Untersudiung der Dinge selbst und ihre aus der Anschauung erwachsende Erkenntnis dem Wortschalle entschieden vorzuziehen, weshalb ich später nie Gefahr lief, Worte für Dinge zu nehmen."

Das ist ein Erziehungserfolg, den Rousseau für sich buchen darf. Aber die Erzieher, die Eltern, müssen auch gebieten lernen; sie müssen zur rechten Zeit und aus stichhaltigen Gründen auch das „non" sagen und durchsetzen können. Das Kind soll geduldig die Notwendigkeit der Dinge ertragen lernen, die „n6cessit£ des choses", nicht die „mauvaise volonte" des andern. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Zwang ist das immer neu sich stellende Problem der Kindererziehung. Nicht alles, was Rousseau im 3. Buch über den ersten Geographieunterricht, die Physik, die Geschichtsstunden, die Erlernung der Sprachen usw. sagt, ist heute noch interessant. Aber der Bezug zu Montaignes Erziehungsbild, die „Abrechnung" mit La Fontaine und Rousseaus Interpretation der Fabel vom „Corbeau et le Renard", besonders aber das Lob des „Robinson Crusoe" von Daniel Defoe — „un livre qui fournit, a mon gre, le plus heureux traite d'^ducation naturelle" — all das ist originell wie sein ganzer Trend zur „Realerziehung", d. h. der Erziehung durch die „Dinge" und eben nicht durch die „Worte". Ein Handwerk lernen, das gehört zu der weiteren Erziehung vom 11. bis zum 15. Lebensjahr. Es ist die Periode, da die Urteilskraft wächst, und der Schüler gelernt hat, fleißig, geduldig, mutig zu sein, erst die Dinge gründlich zu kennen und nicht die „Meta"-Physik, also das was „hinter" ihnen steht. Am Ende seiner 15 Jahre hat Emil einen „esprit ouvert, intelligent, pret έ tout, et, comme dit Montaigne, sinon instruit, du moins instruisable". Das 4. Buch kann beginnen. Sein zentrales Kapitel ist die Profession de foi du Vicaire Savoyard. Diese rd. 60 Seiten sind das Glaubensbekenntnis Rousseaus, es ist als Kapitel der religiösen Erziehung dem Gesamtwerk integriert, aber es kann als ein in sich bestehendes Ganzes betrachtet werden. Rousseau war ein Gottsucher. J e mehr er sich ausgestoßen fühlte, um so unabweisbarer war sein Bedürfnis zu glauben, sich anzuvertrauen und sich eine Welt zu sichern, in der die Gerechtigkeit, die Weisheit, die Güte des Höchsten ihn nicht zu Grunde gehen ließen. Zwei Denkformen ver-

Im Lichtt der

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Aufklärung

schränken sich auf diesen Bekenntnisseiten ineinander: ein diskursivrationales Denken, das ihn hier mit Voltaire und den Aufklärern verwandt erscheinen läßt, und ein mystisches Denken, das ihn auf die Linie der Neuplatoniker und der italienischen Renaissancephilosophen stellt. Der Vikar, der seinen Zögling auf der nunmehr erreichten Altersstufe in den Bezirk des Religiösen einführt, stellt sich dem Leser als ein einfacher, schlichter Mensch dar; er hat seit seiner Jugend nach den Grundsätzen der Wahrheit, Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit gehandelt, ist auch dabei den Schlaueren gegenüber immer in den Nachteil geraten. Es kam bei ihm, wie bei Descartes, zu jener Ungewißheit und zu jener Disposition des Zweifels, die ihm unerträglich war. Wie sollte er aus dieser geistigen Misere herauskommen? Bei den Philosophen fand er keinen Rat; sie seien stolz, dogmatisch, überheblich, seien im Grund unfähig, etwas zu beweisen, machten sich außerdem übereinander lustig und seien alles in allem unleidlich und unduldsam. „Ich nahm also einen andern Führer und sagte mir: Consultons la lumiere interieure. Dieses innere Licht wird midi weniger in die Irre führen als die Philosophen es tun."

Als den großen Befreier nach allen Systemen des Altertums preist er den Engländer Clarke. Kartesianisch aber bleibt sein Bestreben, einen festen Grund zu finden, auf dem er bauen kann. So verwandelt er, gemäß seiner Gefühlsphilosophie, das cogito ergo sum in das Prinzip des sentio erso

sum. „Ich existiere und ich habe Sinne, durch die ich affiziert werde. Das ist die erste Wahrheit, die mich anpackt, und der ich midi zu fügen habe." W a s aber l ä ß t ihn „das innere Licht" erkennen? Er sieht, d a ß „ein Wille das Universum bewegt und die Natur b e s e e l t . . . Wenn die bewegte Materie mir einen Willen zeigt, dann weist die Materie, insofern sie nach bestimmten Gesetzen bewegt wird, auf eine Intelligenz."

Die Vorstellung eines intelligenten Uhrmachers rückt Rousseau in die Nähe der Gott- und Weltanschauung Voltaires. Vielleicht dachte Voltaire an diese Seiten, als er d'Alembert schrieb: „Ich habe mich über seinen Emile lustig gemacht; was für eine platte Person; sein Buch hat mich gelangweilt; aber da stehen 50 Seiten drin, die ich in Maroquin wollte binden lassen." (15. Sept. 1762)

Zu diesen Seiten gehört sicher auch das Bekenntnis Rousseaus: „Überall in seinen Werken bemerke ich Gott. Ich fühle ihn in mir; ich sehe ihn um mich; aber sobald ich ihn in sich selbst betrachten will, sobald ich ihn

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zu entdecken sudie und erforschen will, was er ist, entschlüpft er mir, und mein verwirrter Geist apperzipiert nichts mehr."

Was bleibt, ist Schweigen und still verehren. Goethe hat es nach Rousseau ausgesprochen: „Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren." ( M a x i m e n und Reflexionen) Was aber der Widersacher Voltaire besonders in sein Maroquin gebunden hätte, wären sicher die Seiten, da der Vikar seine Skepsis gegenüber den OfFenbarungsreligionen und dem Wert der Dogmen ausspricht. Wie kann der Mensch unter so vielen Weltreligionen die echte, gute, wahre erkennen? Und welchen Wert können wir der Bezeugung der Religionen durch Menschen und Bücher beimessen? Das sind die beiden kritischen Fragen, die Rousseau dialektisch aufwirft: Was habt ihr mir also zu sagen, Apostel der Wahrheit, worüber ich nicht Richter bliebe? — G o t t selbst hat gesprochen; hört seine Offenbarung. — . . . G o t t hat gesprochen! Fürwahr, ein großes Wort. Und zu wem hat er gesprochen? — Zu den Menschen. — Warum habe ich denn nichts davon gehört? — E r hat andere Menschen beauftragt, Euch sein W o r t zu bringen. — G u t : also Menschen sollen mir sagen, was G o t t gesagt hat. Lieber hätte ich G o t t selbst gehört; für ihn wäre es ebenso einfach gewesen, und ich wäre vor Täuschung sicher gewesen. — E r schützt euch davor, indem er die Sendung seiner Boten bezeugt. — Wie das? — Durch Wunder. — Und wo sind diese? — In den Büchern. — Und wer hat diese Bücher geschrieben? — Menschen. — U n d wer hat diese Wunder gesehen? — Menschen, welche sie bezeugen. — Wie, immer menschliche Zeugnisse, immer Menschen, welche mir berichten, was andere Menschen berichtet haben! Immer nur Menschen zwischen G o t t und mir! (Emile I V , 4)

Auf die Unmittelbarkeit zu Gott kommt es in Rousseaus Religion des Herzens an. In der irrenden Suche nach der wahren Religion hätte Rousseau sagen können wie Lessing im Todesjahr Rousseaus, da Nathan den Richter in der Angelegenheit der 3 Ringe sprechen läßt: „ . . . — Der ächte Ring vermuthlidi ging verloren." (Nathan der Weise III, 7) An Lessing gemahnt, was Rousseaus Vikar von der Pluralität der Religionen sagt: „Ich betrachte alle partikularen Religionen als ebenso viel heilsame Einrichtungen . . . Ich halte sie alle für gut, wenn G o t t in ihnen geziemend verehrt wird. D e r wesentliche Kult ist der K u l t des Herzens. G o t t weist keine Verehrung von sich, wenn sie in Aufrichtigkeit geschieht, in welcher Gestalt sie auch bekundet werde."

Was aber ist der Mensch, der „König der Erde"? Hier biegt Rousseaus Denken in eine Richtung, die ihn von Voltaire und den meisten Enzyklopädisten fortführt und zu der Tradition der Platoniker und neuplatoni-

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„Als ich über die N a t u r des Menschen nachdachte, glaubte id), zwei verschiedene Prinzipien in ihr zu entdecken: das eine, das den Menschen zum Studium der ewigen Wahrheiten, zur Liebe der Gerechtigkeit und des geistig Schönen erhebt, zu den Regionen der intelligiblen Welt, deren Betrachtung die Wonne des Weisen macht, das andere, das ihn herunterzieht, ihn an das Reich der Sinne kettet, an die Leidenschaften, die dessen Diener sind, und welches eben durch diese Leidenschaften allem Aufstreben der Seele entgegensteht."

Wir hören die Sprache, die uns aus Piaton, Plotin, den christlichen Mystikern und den europäischen Renaissancepiatonikern vertraut ist — der Mensch, ein gespaltenes Wesen, dessen „höherer" Teil in den mundus intelligibilis ragt, und dessen „niederer", animalischer, dem mundus sensibilis angehört — der Mensch im Schnittpunkt beider Welten als copula mundi. Indem Rousseau, von dieser humanistischen Tradition aus, Idee und Erfahrung des Bösen in der Welt durch einen Sprung in die Transzendenz zurückzudrängen geneigt ist, entfernt er sich von dem mehr „existenzialistisch" denkenden und urteilenden Voltaire, aber er nähert sich in umgekehrter Richtung dem Denken seines jüngeren Zeitgenossen Kant, was aus seinem 3. Glaubensartikel erhellt: „Der Mensch ist frei in seinen Handlungen, und als soldier von einer immateriellen Substanz beseelt." Handelt der Mensch seinem Gewissen entsprechend gut, dann handelt er auch in dem Gesamtplan der Vorsehung recht; handelt er schlecht, dann ist seine Tat innerhalb des Gesamtplans der Vorsehung so gering anzuschlagen, daß sie gar nicht ins Gewicht fällt. Aber für ihn selbst hängt von seinem Tun Glück und Unglück ab: „Sei gerecht, und du wirst glücklich sein." Und bist du unglücklich, weil „der Gerechte oft leidet, während es dem Bösen gut geht", dann bleibt dir als Christen die Hoffnung auf die Unsterblichkeit der Seele und auf die ausgleichende Gerechtigkeit nach dem T o d e . . . „ . . . tout rentre dans l'ordre k la mort". Das war die Hoffnung des Gequälten und Leidenden, und was er an dieser Stelle weiter sagt, klingt wie ein Echo aus dem „Phaidon", den Verheißungen Christi oder dem ehernen Vers Dantes: „Giustizia mosse il mio alto fattore" — Gerechtigkeit bewegte meinen hohen Schöpfer. Was aber ist das Kriterium, mit dem ich Gut und Böse unterscheiden kann und also mich als sittliches Wesen konstituiere? Er sucht es wiederum nicht bei den Philosophen, sondern „au fond de mon cceur". Dort seien die Maximen der Lebensführung „von der Natur mit unauslöschlichen Lettern geschrieben". Hier der gewagte Satz, der vielleicht Geschichte in der Geschichte der Philosophie gemacht hat:

Die vier Wegbereiter der modernen Zeit

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„ . . . alles, was ich als gut fühle, ist gut; alles, was ich als schlecht fühle, ist schlecht. Der beste aller Kasuisten ist das Gewissen. — Das Gewissen täuscht niemals. Es ist der wahre Führer des Menschen."

Der Vikar sieht in dem Menschen nicht allein das Wesen, das einzig nach seinen Interessen lebt, sondern daß auch des Opfers fähig ist und eine Sehnsucht nach dem Guten und Schönen hat. Wir hassen nicht nur die Bösen, weil sie uns schaden, sondern weil sie böse sind; wir hassen das Schlechte an sich. Aber woher weiß ich, daß etwas oder jemand schlecht und böse ist? „Tief in unserer Seele steckt ein uns eingeborenes Prinzip der Gerechtigkeit und der Tugend. Auf Grund dieses Prinzips beurteilen wir unsere eigenen und die Handlungen der andern als gut oder schlecht. Und diesem Prinzip gebe ich den Namen Gewissen."

Die Gesetze des Gewissens aber gehören nicht in den Bereich des rationalen Urteilens, sondern in den des Fühlens. „Les actes de la conscience ne sont pas des jugements, mais des sentiments." Diese Ausführungen konvergieren alle zu dem e i n e n Grundgedanken: Freiheit des Menschen ist möglich. Wir erfahren sie in dem unabweisbaren Gefühl der Verantwortung als ein sittliches „Urphänomen". Wir bleiben für unsere Entscheidungen verantwortlich, weil wir eben jene Stimme der Rousseauschen conscience nicht überhören können, die uns, goethisch gesprochen, zuraunt, „was zu ergreifen ist und was zu fliehn". Von hier bis zur Formel des Sittengesetzes bei K a n t : „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne" (Kritik der prakt. Vernunft V, 13), ist nur ein kleiner Schritt. Führen wir diese „Sprache Gottes im Gewissen" auf ihre alten Elemente zurück, dann entdecken wir den bei Goethe erwähnten sokratischen Daimonion, d. i., wie Th. Gompertz von Heraklit sagt, „eine innere Stimme, eine aus den unbewußten Unterströmungen des Seelenlebens auftauchende dunkle, aber richtige Einsicht in das, was seiner Natur gemäß war". Diese göttliche, unbegreifbare, aber gebietende Stimme des Gewissens feiert Rousseau in dem hymnischen Anruf: „Conscience! Conscience! instinct divin, immortelle et celeste voix; guide assure d'un etre ignorant et borni, intelligent et libre; unfehlbarer Richter des Guten und Bösen, der den Mensdien gottähnlidi macht. Du bewirkst die Vortreff lidikeit seiner Natur und die Sittlichkeit seiner Handlungen; ohne dich fühle ich nichts in mir, was mich über die Tiere erhöbe, es sei denn das traurige Vorrecht, von einem Irrtum in den andern zu fallen mittels einer regellosen Unteilskraft und einer prinziplosen Vernunft."

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Im Lichte der Aufklärung

Gewissen, Vernunft, Freiheit ist der Dreiklang seiner Philosophie. Diese drei Kräfte hat uns Gott gegeben, damit wir glücklich seien: „la conscience pour aimer le bien, la raison pour le connaitre, la liberte pour le choisir."

Der Autor, der 1762 den Contrat social und den Emile herausbrachte, hatte das Publikum bereits ein Jahr zuvor mit der Veröffentlichung eines Romans: „Julie, ou la Novelle Heloise. Lettres de deux Amants, habitants d'une petite ville au pieds des Alpes" überrascht. Rousseau lebte 1756 in der Ermitage bei Madame d'Epinay. Das war 4 Jahre nach seinem großen Opernerfolg des Devin du village, 2 Jahre, nachdem er zum Kalvinismus zurückgekehrt war und sich den Titel citoyen zugelegt hatte, 1 Jahr nach der Veröffentlichung des Discours sur l'Inegalite. Er wendet um jene Zeit seinen Blick rückwärts. Ein nie erfülltes Liebesbedürfnis zehrt an seinem Leben. Es überkam ihn das Gefühl, daß er sterben müsse, ohne gelebt zu haben. Das Buch I X der Confessions gestattet uns einen Blick in die Künstlerpsychologie, die uns erst vornehmlich seit den Romantikern vertraut ist: das Moment der Künstlerevasion, die Schöpfung des Kunstwerkes aus Traum und Vision, die Auffassung der Kunst als eines Ersatzmittels für jede Genußunmittelbarkeit, die Kunst als Rache am verlorenen Leben: „Ich vermochte der wirklichen Wesen nicht habhaft zu werden, und diese Ohnmacht warf midi in das Land der Chimären. Da ich nichts in der Wirklichkeit sah, was meiner Wahngebilde würdig erschien, nährte ich sie in einer idealen Welt, die meine schöpferische Phantasie alsbald mit den Gestalten meiner Träume bevölkerte. Liebe und Freundschaft, die beiden Idole meines Herzens, verdichteten sich in den entzückendsten Bildern . . .

Und nun zeichnet Rousseau mit wenigen Strichen die Figuren seines Romans: Die beiden Freundinnen, deren Physiognomie und seelischen Ausdruck er nach Herzenslust modellierte; die eine schuf er dunkelhaarig, die andere blond; die eine lebhaft, die andere sanft, und vernünftig die eine, schwach die andere . . . „Der einen gab ich einen Geliebten, dem die andere in zärtlicher Freundschaft zugetan war . . . Ich selbst war in meine bezaubernden Modelle verliebt und identifizierte mich mit dem Liebenden und dem Freund, so viel es mir nur möglich w a r . "

Das also sind die Hauptfiguren des Romans, der in der erotischen Hochspannung der Ermitage-Zeit bei Madame d'Epinay und seiner geliebten Madame d'Houdetot geschaffen wurde. Julie — Ciaire — Saint-Preux.

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Sie schreiben sich Briefe. Die Leidenschaft ist aufgeflammt. Sie reißt die Liebenden in den Strudel der Sinnlichkeit... Wie das ausgehen soll, weiß Rousseau wohl selbst noch nicht. Bevor er das Ende des Romans fixiert, bricht über ihn selbst eine neue Krise herein: Er verliebt sidi in Madame d'Houdetot, die in unglücklicher Ehe lebt und die Geliebte Saint Lamberts geworden ist. In ihr verkörpert sich die Idealgestalt seiner Julie. Der Traum senkt sich in die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit verdichtet sich wieder in Träume. Er träumt von dem unmöglichen Glück, das er zwischen Madame d'Houdetot und ihrem Geliebten, Saint Lambert, kosten will. Wie diese wirklichen Menschen, so sind Rousseaus Romangestalten in einer unmöglichen Situation. Saint-Preux liebt Julie, seine Schülerin. Der erste Kuß, das Zögern des Mädchens, sein Schamgefühl, das allmähliche Sich-Gleiten-Lassen bis zur Hingabe an den Geliebten und dem Erwachen der Liebeslust... der Widerstand des Vaters gegen die Ehe seiner Tochter mit dem unstandesgemäßen Lehrer Saint-Preux . . . der Fortgang SaintPreux' nach Paris und die Entdeckung der Korrespondenz der Liebenden durch die M u t t e r . . . Der Entschluß Julies, ihrer Liebe zu entsagen . . . und gemäß dem Wunsche des Vaters die Ehe mit H e r r n von Wolmar einzugehen, den sie dann audi halb aus Gehorsam, halb aus Vernunft, aber ohne Liebe h e i r a t e t . . . Das sind die Geschehnisse, die uns der Autor in den drei ersten Teilen des Briefromans vorführt. Dann aber kompliziert er die Situation: Herr von Wolmar weiß um die Vorgeschichte Julies. Er lädt Saint-Preux, der Julie immer noch liebt, in sein Haus. Julie, die glaubt, ihr Herz fest in der H a n d zu haben und die eine untadelige Gattin und Mutter ist, willigt ein, und Saint-Preux nimmt die Einladung mit dem festen Vorsatz eines loyalen Verhaltens an. So macht Rousseau seine Romangeschöpfe zu sentimentalen Abenteurern. Es geht nicht ohne eine Flut von Tränen, ohne furchtbare innere Kämpfe um die Überwindung wieder aufbrechender Leidenschaften ab. Abenteuerlich wie ihr Leben endet der Roman. Es hätte Rousseau freigestanden, daß er sich die Personen aneinander gewöhnen ließe, daß er ein nüchternes Ende mit seelisch-körperlicher Abstumpfung herbeigeführt hätte; so grau in grau zu malen war ihm und seiner Zeit noch nicht gegeben. Rousseau steht mit seinem Roman dem Abbέ Provost am nächsten: Fatalität ist das Signum großer Liebe, — und tragisch muß der Ausgang sein. So läßt er den Roman mit einer Katastrophe enden. Ein Unglück geschieht. Eins von Julies Kindern fällt ins

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Wasser. Die Mutter springt nach, rettet das Kind, aber erkrankt alsbald und stirbt. Ihr letzter Wille ist, daß Saint-Preux ihre Kinder erziehe. Der Roman kam zur rechten Zeit. Daher die unwiderstehliche Wirkung auf einen großen Teil der Zeitgenossen. Sie wurde nur noch einmal erreicht, ja übertrofFen, als der junge Goethe mit seinem „Werther" die Seelen in seinen Bann zog. Die Linie der Brief-Roman-Literatur verlief quer durch Europa. Sie begann in England. Mit Richardsons „Pamela", „Clarissa Harlowe" und „Charles Grandison", die der Abi Provost ins Französische und Geliert (Pamela) ins Deutsche übersetzt hatten, hob sich die Woge der sentimentalen Romane. Diderot war der begeisterte Verkünder Richardsons. Mit Rousseaus „Julie" kulminiert sie auf französischem Boden. Dann bricht sich die Woge auf dem deutschen Sprachraum mit Goethes „Werther". Die Flut rollt zurück und läßt zahlreiche Spielarten des psychologischen Romans auf den Gefilden früherer und späterer Romantik auftaudien. Es sind auf französischem Boden die Romane und Erzählungen Bernardin de Saint-Pierres, Chateaubriands, der Mme de Stael, Senancourts, Nodiers, Benjamin Constants, Fromentins. Es wird heute nur wenig Leser der Nouvelle Heloise geben. Rousseaus Zeit ist nicht mehr die unsrige. Damals war die Sensibilität nicht weniger en vogue als die Verstandeskühle. Rousseau brachte durch seinen Subjektivismus Neues ans Licht, was nicht nur für die Literatur und Malerei, sondern audi für die Philosophie und Psychologie interessant wurde. Er sah die Natur nicht mehr allein als Kulisse seines Romans, sondern als Partnerin des Gefühlslebens seiner fiktiven Gestalten und seiner selbst. Es ergab sich ein fesselndes Wechselspiel zwischen der Physis einer Landschaft und der Psyche des die Landschaft in sich aufnehmenden Menschen. Daraus entwickelte sich ein Zusammenhang von physischem Befinden, Gemütszustand und moralischem Verhalten, ein Zusammenhang, der sich auf die literarische Landschaftsbeschreibung übertrug. Die Landschaft wirkt auf den Menschen, aber der Mensch projiziert audi seine Psyche auf sie. An sich ist die Natur-Landsdiaft indifferent. Landschaft „lebt" also und „beseelt" sich erst im Herzen des Menschen; so kann je nach der „Stimmung" eine Landschaft von dem Betrachter als zu„stimmend"-freundlich oder als abweisend-feindlich erfahren werden. „C'est dans le cceur de l'homme qu'est la vie du spectacle de la nature". Landschaft hat also nicht mehr nur die Funktion einer Szene, sondern ist in den Prozeß der Gestaltung — Umgestaltung einbezogen. Sie ist Seelenspiegel in dem doppelten Sinne, daß sich in ihrem objektiven Sein ein

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Gemütszustand spiegelt, aber daß sie erst durch den Subjektivismus des so und so Gestimmten umkleidet wird und also belebt aus dem Spiegel hervortritt. Auf einer weiteren, religiösen Stufe seiner Landschaftsmetaphysik wird die N a t u r bei Rousseau als vestigium Dei — Spur Gottes — erfaßt. Ihre göttliche Spur weist auf einen Weg zum mystischen Raptus, da Gott in der N a t u r zugänglich ist und durch sie zum Menschen spricht. Gott offenbart sich Julie durch das Medium der N a t u r und der entsprechenden, sich in ihrer sensibilite morale betätigenden Empfängnisfähigkeit ihrer GottNatur zugewandten Seele. Aus dem Zauberspiegel der Identitäten von Außen und Innen tritt ein sprachliches Kunstwerk hervor, das in seinem Reichtum an Tönungen, Farbakkorden und musikalischen Stimmungen bisher in der französischen Literatur nicht vernommen worden ist. Die Diskussion über Rousseau wird kaum mit eindeutigen Ergebnissen abzuschließen sein. Gestalt und Werk erscheinen im Lichte der parteilichen Gegensätze gespalten. Die einen rufen: Kreuziget ihn! die andern erheben ihn zum Himmel. Für die Revolutionsmänner war der Contrat social die neue Bibel; den konservativen Mächten war diese Bibel wiederum ein Werk des Teufels, oder aber so gleichgültig, wie der Contrat social f ü r den englischen Schriftsteller und Staatsmann Edmund Burke, den Verfasser der „Reflections on the revolution in France" (1790) „Wir brauchen keine Narren als Gesetzgeber". Es ist nicht leicht, den mittleren Weg zu finden; denn je nach dem eigenen Weltbild oder auch je nur nach der Perspektive, in der wir sein Werk sehen, werden Zustimmung oder Ablehnung verständlich. Friedeil erklärt einen großen Teil des Rousseaussdien CEuvre aus dem gehässigen Ressentiment des Verfassers. Was wären dann die Confessions anderes als raffiniert dosierte Mischungen aus Selbstüberheblichkeit, faustdicken Lügen und grundehrlichen Selbstbekenntnissen? Gewiß will Rousseau alles sagen und beichten, aber er verschweigt, was zu verbergen opportun ist. Wie doppelt interessant erscheinen dann die Laster, wenn er, sie analysierend, den reuigen Sünder spielt und sich gleichzeitig genießerisch den „Glorienschein des Moralhelden, der über sich selbst Gericht hält" um das H a u p t zaubert. Dann wird er zum Theatraliker — im schlechten Sinne des Wortes, wie es etwa Nietzsche im Urteil gegen Wagner verstand — ein perfider Komödiant, dessen psychologisch erklärbares Grundmotiv der Wille zur Sensation ist, und dessen Verleumdungskunst aus dem Neid des Plebejers und Schleditweggekommenen erwächst. Eins ist nicht weg-

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Im Liebte der Aufklärung

zuleugnen: Er hat es mit allen Freunden verdorben und sie so vor den Kopf gestoßen, daß ein Verkehr mit ihm nicht mehr möglich war. Es ließe sich viel Aufschlußreiches aus dem Brief der M m ° de Bouffiers an Gustav III. von Schweden (1. Mai 1782), aus den verschiedenen Äußerungen von Marmontel und Melchior Grimm zitieren, man lese auch bei Diderot nach und frage mit Rivarol: „Quel besoin avait-il de se dägrader et se s'avilir?", dann schlage man das 10. Buch der Memoiren von Marmontel auf und suche mit ihm nach den psychologischen Gründen dieses pathologischen Verhaltens. Wir Kinder des 20. Jahrhunderts, die wir durch die Schule der Psychoanalyse und einer strengeren Sachlichkeit gegangen sind, wären eher geneigt, uns der genialen Paradoxie des Kranken verstehend zuzuwenden. Es ist kein Zweifel, daß einige wesentliche Entwicklungen des literarischen, pädagogischen und sozialen Lebens aus Rousseau hervorgegangen sind. Er hat seine Werke und Wirkungen mit einem Leben voller Leiden und seelischen Qualen bezahlen müssen. An ihm bewahrheitet sich das Wort Carl Pelmanns, „daß die innere Qual des Genialen der Mutterschoß unendlicher Werke ist". (Psychische' Grenzzustände. Bonn 1909)

Denis

Diderot

An äußeren Ereignissen ist Diderots Leben nicht reich. Er wurde im Oktober 1713 zu Langres geboren. Seine Vorfahren waren ein in der Champagne eingesessenes Handwerkergesdilecht. Diderots Tochter, seine Biographin, berichtet, daß seine Vorfahren die Messerschmiedekunst betrieben. Denis war, wie sein Zeitgenosse Jean-Jacques Rousseau, ein Mann des Volkes, des bürgerlichen Handwerkerstandes, der schafft und schuftet und notfalls von seiner täglichen Arbeit lebt. — Lerneifer treibt schon den Jungen zur Erlernung des Griediischen und Lateinischen, des Englischen und Italienischen, der Mathematik und der Naturwissenschaften. Auf dem Jesuitenkolleg tut er sich als ausgezeichneter Schüler hervor. Dabei ist er alles andere als ein Musterknabe. Von seinem Vater spricht er zwar in lyrisch-pathetischen Worten der Bewunderung, aber bereitet ihm ständig größten Kummer, weil er das Gegenteil seines Willens tut. Der Vater schickt den begabten Sohn nach Paris, um ihm eine christlich-humanistische Ausbildung auf einem Gymnasium zuteil werden zu lassen. Der Junge, wohl früh zum geistlichen Stand bestimmt, lebte bislang in der

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Atmosphäre katholischer Frömmigkeit. Nun bewegt er sich 10 Jahre lang in der aufklärerischen Atmosphäre der Großstadt. Er läßt sich treiben, haßt jeden Zwang, liebt die Freiheit des Denkens und der Sitten. Die Periode von 1732—43, das entsdieidende Alter zwischen 20 und 30 Jahren, hat ihn den Traditionen des Elternhauses entfremdet. In dem Sittenbild seines Neveu de Rameau, das er als Fünfzigjähriger entwirft, leuchten Züge seiner eigenen Jugendzeit auf. Unfähig oder nicht willens, einen bürgerlichen Beruf oder ein Handwerk zu ergreifen, zieht er Leid und Elend eines Abenteurerdaseins der Mittelmäßigkeit eines geregelten Berufslebens vor. Lieber hungert er, schläft auf Stroh, wenn er Bett und Zimmer nicht bezahlen kann, übernimmt die verschiedensten Arbeiten, redigiert Predigten, gibt Mathematikunterricht und denkt daran, Komödiant zu werden. Wir wissen wenig von ihm aus dieser Zeit seiner Lehrjahre; was wir erfahren, ist nicht immer erbaulich, so wenig wie es das Milieu ist, in dem er verkehrt: eine Boh£me von verdächtigen Eigenschaften, Typen wie sie in der Welt von Rameaus Neffen dahintreiben, lebend, liebend, schmarotzend, dichtend oder geigend, die Stürme der Zeit mit mehr oder weniger Glück und Geschick überlebend. Seine erste große Liebe ist eine abenteuerliche Geschichte im Stil zeitgenössischer Romane. Er verliebt sich in die Nachbarstochter Anne-Toinette, ein Mädchen aus armen Verhältnissen. Er schwört seiner „Ninot", „Ninette" oder „Tonton" ewige Treue, verlobt sich mit ihr gegen den Willen seines Vaters, wird eingesperrt, entflieht, wird wieder aufgestöbert und will mit Gewalt die Heirat durchsetzen, aber scheitert, um endlich doch in Heimlichkeit die Ehe zu schließen — just in dem Augenblick, da sich nach allen Mühen und Plagen das Glück der Liebenden schon zu trüben beginnt. So war er als Jüngling, so ist er als Mann, so wird er im Alter bleiben: ein Opfer seiner Sinnlichkeit und seines Herzens, ein Feuerkopf von ungezügelter Leidenschaft, gehetzt und getrieben von Träumen und Phantomen, die ihm nichts als die Tragik von Enttäuschungen bringen. In Enttäuschung brach die Ehe mit der gutherzigen, aber geistlosen Frau zusammen. Mit Enttäuschung endete die zehnjährige Liaison mit der raffinierteren und geistvolleren Madame de Puisieux, für die er die Bijoux indiscrets und die freigeistigen Pensees philosophiques geschrieben hat. Enttäuscht muß er die Liebe der Madame de Meaux mit ihrem Gatten teilen und das Ärgernis verschmerzen, daß seine Geliebte ihre Gunst noch drei andern Liebhabern schenkt. Wie eine Erscheinung aus der Romanwelt des Abb£ Provost steht Diderot vor uns:

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Im. Lichte der Aufklärung

„Etwas Niedriges, Gemeines, Perfides steckt in alledem, was mir garnicht p a ß t . . . Aber mag sie närrisch sein oder vernünftig, treu oder untreu, mag sie andere betrügen oder selbst betrogen werden, ich kann nicht anders, ich m u ß bei ihr bleiben, sei es mein Glück oder Unglück."

Man denkt an des Chevalier Des Grieux hörige Liebe zu Manon Lescaut. Diderot mußte die Vierziger überschreiten, bis die fast gleichaltrige Sophie Volland in sein Leben trat und ihn in einer zwanzigjährigen Freundschaft an sich fesselte und beglückte. Der Briefwechsel, den wir dieser Liebe und Freundschaft verdanken, gehört zu den schönsten Dokumenten des menschlichen Herzens. Diderots letzte Briefe an sie sind wie Hymnen, in denen Dichtung und Liebe eins w e r d e n . . . Aber seltsam beunruhigend tauchen am Rande dieser Lebensfreundschaft die Schatten dreier Frauen auf, die den Alternden zu Schuld und Treulosigkeit gegen Sophie verlockten. Wie er in der Liebe immer ein Opfer seiner Sinnlichkeit und seines Herzens wurde, so ist seine ganze Lebensgeschichte ein Opfergang, über die Höhen und Tiefen der Welt. Er opferte dem eitlen Wahn, durch Nachruhm zur Unsterblichkeit zu gelangen. Er opferte zwanzig Jahre seines Lebens dem gewaltigen enzyklopädischen Werk, das er zu ruhmreichem Abschluß führte. Er kannte die Qualen harter Entbehrungen, ja strenger Inhaftierung und Verfolgungen aller Art, und genoß wieder auf dem Zenith seines Ruhms die Freundschaft und Verehrung der größten Männer und Frauen seiner Zeit, bis er am Ende seines Lebens einsam wurde und in der Zurückgezogenheit nur für sich, einige Freunde und die Nachwelt schrieb. Was die Zeitgenossen von seinem Lebenswerk kannten, waren nur Fragmente eines GEuvre, von dem wichtigste Teile erst nach seinem Tode veröffentlicht wurden. Diderots Nachlässigkeit bei der Publikation seiner Werke war unbeschreiblich. Das hat freilich der Gelehrtenwelt den Vorteil gebracht, ihren Spürsinn bei der wissenschaftlichen Edition der posthumen Werke zu beweisen — man denke an die Odyssee des Manuskripts von Rameaus Neffen oder die an kriminologische Sensationen grenzende Textgeschichte von d'Alemberts Traum. Verwirrt steht der Leser vor dem Chaos der Diderotschen Produktionen. Nur langsam will es sich zum Kosmos ordnen. Um das Werk ganz zu begreifen, müßte man Mathematiker und Naturwissenschaftler, Theologe und Philosoph, Kritiker und Essayist, Maler und Musiker, Dichter und Dramaturg sein — oder sich wenigstens die Elemente dieser Künste und Wissenschaften angeeignet haben Er war ein Mensch, der nicht lange in der kalten Luft der Abstraktionen leben

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konnte, sondern das Leben selbst zu leidenschaftlicher Erfüllung bringen wollte, und so erfaßte er mit allen Fasern der Sinne zunächst die Materie, bevor er deren feinste Blüte, den Geist, lieben lernte. Er war 60 Jahre alt, als er einer Einladung der Zarin Katharina II. folgte. Das Werk der Encyclopedic war mitsamt den 11 Bänden Tafeln 1 Jahr zuvor beendet. Diderot, der nie mit Glücksgütern gesegnet war, hatte seine Bibliothek der Zarin verkauft, damit er seine Tochter mit einer Mitgift ausstatten konnte. Er unternahm die Reise nach Sankt-Petersburg und blieb 5 Monate am russischen Hof. Auf ihre Bitten entwarf Diderot einen „Plan d'une Universite pour le gouvernement de Russie", veröffentlichte den „Entretien d'un philosophe avec la Ma^chale de*** — ein materialistisches Glaubensbekenntnis (1776), schrieb den „Essai sur les rägnes de Claude et de Neron" (1778) und arbeitete an seinen „Emmerns de Physiologie" (1774—78), einem seiner philosophischen Hauptwerke. Die Nachwelt hat ihm nur sparsam den Ruhm gegönnt, um dessentwillen er sich unermüdlich an die Arbeit verschwendet hat. Ist es Wahrheit oder Wahn, wenn er schreibt: „Seinen Zeitgenossen zeigt sich der Mensch so, wie er in Wirklichkeit ist: ein bizarres Kompositum aus Erhabenheit und Schwäche. Aber die Schwächen sinken mit unserer sterblichen Hülle ins Grab und verschwinden. Was bleibt, sind die Ewigkeitswerte, die sich der Mensch in seinen Denkmälern gesetzt hat . . . So antizipiert er im Bewußtsein seines eigenen Verdienstes die Idee einer unsterblichen Ehre . . . "

Wunschträume, die nur halbe Wahrheiten w u r d e n . . . Manchmal kommen ihm Zweifel, ob er seine Zeit recht angewendet habe. Als er Senecas Trakt a t „ D e b r e v i t a t e v i t a e " liest, w o es h e i ß t : „ . . . nun fordere Rechenschaft von deinen Tagen und Jahren. Sag' uns wieviel der Zeit hast du dir rauben lassen von einem Gläubiger, einer Geliebten, einem Beschützer, einem Klienten . . . wieviele Menschen haben dein Leben ausgeplündert, während du nicht einmal merktest, was du verloren hast . .

da schrieb Diderot als Kommentar nur diese eine Zeile: „Ich habe dieses Kapitel niemals lesen können, ohne über mich zu erröten: Es ist dies meine eigene Geschichte." Mit Ruhe sieht er der letzten Stunde des Lebens entgegen. Die Reue, daß ein großer Teil seines Lebens verzettelt wurde, wird durch das Bewußtsein aufgehoben, daß er etwas Unvergängliches für die Nachwelt geschaffen habe. Seine aus Materialismus und Erosmetaphysik gemischte Philosophie tut das ihrige, um dem Todesgedanken die Schrecklichkeit zu nehmen:

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Der Tod erscheint ihm wie ein natürlicher Prozeß im allgemeinen Werden und Vergehen der Dinge. Eine Art Wollust ergreift ihn bei dem Gedanken, daß der Tod die innigste Vereinigung mit der Geliebten bringen könne: „Welch ein Glück, wenn unser Sein unter dem Gesetz der Affinitäten stünde . . . wenn idi im Gange der Jahrhunderte wieder ein Wesen mit Dir würde, ein Ganzes mit Dir bilden sollte . . . wenn sidi zusammenfügte, was in der Natur zerstreut ist . . . Laßt mir dieses Wahngebilde, es ist mir süß und verheißt mir die Ewigkeit in Dir und mit Dir . .

Wenige Zeit, nachdem Sophie Volland, der er diese Worte schrieb, gestorben war, endete auch Diderots Leben. Er starb am 30. Juli 1784. Diderot ist mit seinen universalen Interessen und all seinen Widersprüchen ein Kind seiner Zeit. Er teilt ihre Neigung für die Naturwissenschaften und die Aufklärungsphilosophie, für die physikalischen Experimentalmethoden und die antitheologischen Tendenzen. Seine Blicke waren nach England gerichtet. Auch darin folgte er der Zeitströmung. Wir denken an Montesquieus Theorie der Gewaltenteilung, an Voltaires Bewunderung für Locke und Newton, an des Abb£ Provost Richardson-Übersetzungen. Nach englischem Vorbild nahm die Naturwissenschaft in Frankreich mit der Eröffnung des Lehrgangs für Experimentalphysik im Jahre 1734 durch den Abbi Nollet neuen Aufschwung. 1735 schrieb Buffon — wie wir uns erinnern — als Einleitung zu seiner Ubersetzung der „Vegetable statics" des Engländers Haies eine Abhandlung über die Experimentalmethode, und 1736 erschien der Recueil de differents traites de physique et d'histoire naturelle von Boureau-Deslandes. In dieser Atmosphäre gediehen nicht nur Diderots naturwissenschaftliche Interessen, sondern auch seine mit diesen verwobenen Ideen zur Philosophie und Metaphysik. Zu Locke und Newton, den beiden Göttern Voltaires, gesellt er als dritten Anthony-Cooper, Earl of Shaftesbury. Diderot, in demselben Jahr geboren, in dem Shaftesbury starb, hatte noch nichts Beachtliches geschrieben, als er, ein schon Zweiunddreißiger, mit einer freien Übertragung von dessen „Inquiry concerning virtue and merit" herauskam. Damit beginnt die Stufenleiter seiner philosophischen Weltbetrachtung und seines religiösen Denkens. Sie führt ihn vom Theismus über den Deismus zum Atheismus. Der ersten Stufe gehört die Ubersetzung und Interpretation des Shaftesburyschen Werkes an, der „Essai sur le merite et la vertu", (1745) ein theistisches Glaubensbekenntnis, das er in 3 fundamentalen Sätzen formuliert:

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„Wir werden beweisen, und zwar mit einer wahrhaft mathematischen Präzision, daß von allen die Gottheit betreffenden Systemen der Theismus das einzige ist, das ihr förderlich ist." „Meine Gegner: Atheisten, die sich Redlichkeit zugute halten, Leute ohne Redlichkeit, die sich ihres Glückes rühmen." „Der Zweck dieser Schrift ist zu zeigen, daß die Tugend fast untrennbar an die Gotteserkenntnis gebunden ist, und daß das irdische Glück des Menschen von der Tugend untrennbar ist. Point de vertu, sans croire en Dieu; point de bonheur sans vertu." (Discours preliminaire)

Der Theismus, d. h. der Glaube an die Offenbarung eines persönlichen Gottes, ist allein der Tugend günstig. Sehr bald danach, 1746, wandelt sich Diderot von einem Theisten zu einem Deisten. Die 2. Stufe seiner seltsamen Entwicklung sind die „Pensies philosophiques" — eine erregende Sammlung von Maximen und Reflexionen über Gott, die Religion, die Deisten und Skeptiker — eine Broschüre, die zu verbrennen das Parlament f ü r geboten eraditete. In einer späteren Ausgabe, 1757, trägt das kleine Werk den Titel „Etrennes aux esprits forts", -womit angezeigt wird, daß es sich an die Freigeister wendet. Indessen hebt sich der Verfasser ausdrücklich von den Atheisten ab. „Le deiste seul peut faire tete ä l'athie." (Pensie 13). Was aber ist der Deist? „Le diiste assure l'existence d'un Dieu, l'immortaliti de l'äme et ses s u i t e s . . . " (23). Er bekämpft die Skeptiker und legt in der 58. Pensie sogar ein Glaubensbekenntnis nieder, das gewiß keine ironisch gemeinte Perfidie oder Rückversicherung war. „Ich bin in der katholischen, apostolischen, römischen Kirdie geboren und ich unterwerfe mich mit aller Kraft ihren Entscheidungen. Idi will in der Religion meiner Väter sterben, und ich halte sie für gut, soweit es überhaupt einem Menschen möglich ist, der nie einen unmittelbaren Verkehr mit der Gottheit hatte, und der nie Zeuge irgendeines Wunders gewesen ist. Das ist mein Glaubensbekenntnis." (58)

Als Antwort auf die Kritiken der „Pensees philosophiques" seitens der Theologen schrieb Diderot die „Addition aux Pensies philosophiques", die freilich erst 1770 erschienen. Diese Zusatzparagraphen sind allerdings heftige Angriffe gegen bestimmte Glaubensgrundsätze der katholischen Kirche und zeichnen den Weg vor, auf dem er zum Atheismus gelangte. Das mag an wenigen Beispielen erhellt werden: „In den ersten Jahrhunderten gab es 60 Evangelien, an die man in gleicher Weise glaubte. D a v o n wurden 56 als kindisch und albern verworfen. Sollte es mit den verbleibenden andes sein?" (64) „Ein junges Mädchen lebte sehr zurückgezogen. Eines Tages empfing sie den

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Aufklärung

Besuch eines jungen Mannes, der einen Vogel trug. Das Mädchen wurde schwanger, und man fragte: wer hat das Kind gemacht? Schöne Frage! Natürlich der Vogel." (62) „Gott gab den Menschen ein erstes Gesetz; dann setzte er es außer Kraft. Hat ein solches Verhalten nicht etwas von einem Gesetzgeber, der sich geirrt hat und der seinen Irrtum mit der Zeit erkennt? Geziemt es einem vollkommenen Wesen, sich eines Besseren zu besinnen?" (65)

All das und vieles andere sind Banalitäten, die in zahlreichen Variationen die ironisch-sarkastische Richtung eines antichristlichen und antikirchlichen Denkens beleuchten. Der ältere Voltaire hat den Weg gewiesen; Rousseau fügte sein ernst zu nehmendes Glaubensbekenntnis hinzu; Helv£tius entfesselte mit seinem „De l'Esprit" 1758, einen Sturm der Entrüstung in den verschiedenen Lagern der christlichen Bekenntnisse. In solchem Zusammenhang muß man Diderots „Introduction aux grands principes ou Reception d'un philosophe" lesen. In diesem dreigeteilten kleinen Werk treten in einem Frage- und Antwortspiel ein Pate, ein Weiser und ein Proselyt auf; alsdann folgt der Mittelsatz: Le pros61yte τέροηdant par lui-meme, und schließlich das „Examen du proselyte". Es handelt sich um die Diskussion über so grundsätzliche Fragen wie die Existenz Gottes, den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele, den Ursprung des Bösen in der Welt, die Belohnungen und Strafen im Jenseits, die Religionen in politischer Sicht, die erkenntnistheoretische Bedeutung der Sinne und des Verstandes, die Offenbarung, den Wert der menschlichen Zeugnisse, die moralischen Grundsätze und viele andere Streitpunkte der Philosophen und Theologen, der Theisten, Deisten und Atheisten. Es ist wie bei einem Aufnahmeverfahren in einer Freimaurerloge . . . Glaubt ihr an . . . , versprecht ihr, zu tun, zu verzichten a u f . . . ? — Ich glaube a n . . . , ich verzichte a u f . . . , ich verspreche, ζ. B., „die Vernunft als souveränen Schiedsrichter anzuerkennen in der Frage, was das höchste Wesen hat tun können und hat tun müssen". So nimmt der Weise den Neubekehrten auf: „un homme". Und um ihn der vollen Freiheit teilhaftig werden zu lassen, tauft er ihn um im Namen der Verfasser des Emile, des De l'Esprit und des Dictionnaire

philosopbique.

Es wäre zu billig, Diderots Denken auf einen Nenner zu bringen. Er ist zu komplex und weiß um die Unauflösbarkeit der Antinomien und die Widersprüchlichkeit der Denkformen. Zuweilen haben seine Sätze Rousseauschen Akzent: „Ich folge derjenigen Religion, die ich im Grunde meines Herzens geschrieben finde" . . . „derjenigen, die einen Sokrates und Aristides geleitet hat, und die dauern

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der modernen

Zeit

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wird bis ans Ende der Zeiten, weil ihr Grundgesetz im menschlichen Herzen ruht, während die andern Religionen vorübergehen wie alle menschlichen Einrichtungen, die der Strom der Jahrhunderte anspült und mit sich fortschwemmt." (Le proselyte repondant par lui-meme) . . . „Genügt nicht die Stimme meines G e w i s s e n s ? . . . Durch diese spricht Gott zu allen Menschen . . . Eure trügerischen Dogmen folgen und heben einander auf, sie verdunkeln jenes göttliche L i c h t . . ( i b . )

Zuweilen haben sie aber audi den Zorn des Voltaireschen „ficrasez l'Infame!", den Zorn der Revolte: „Oui, je le soutiens, la superstition est plus injurieuse k Dieu que l'atheisme". (Pensees philos. 12)

Und dann bekennt er sich wieder zu der hedonistischen Philosophie eines Helv^tius, wie es seinem sinnlichen Temperament entspricht. Wenn der Skeptiker Diderot in fortschreitendem Alter zur Ungläubigkeit neigt, so ruft ein anderer Diderot, der Verehrer Piatons und der große Meister der Empfindsamkeit, auf den verborgenen Pfaden einer Gefühlsphilosophie und -theologie den Enthusiasmus herbei, holt durch das Gefühl herein, was ihm der Verstand versagt, und verströmt sich dann in einer Gefühlsseligkeit, die einem Künstler teilhaftig wird, wenn er sich in die poeta-vates-Rolle eines Mittlers zwischen Gott und Menschen hineinsteigert. Seine kühle Vernunft weist ihn auf den Weg einer Experimentalphilosophie, in der alle Erscheinungen mit Hilfe sinnlicher Beobachtungen, wissenschaftlich geführter Experimente und einer rationalen Logik erklärbar sind. In diesem Bereich gelangt er auf einer letzten Stufe zum Materialismus und Atheismus. Das ist der Weg über die „Ρε^έββ philosphiques", die „Promenade du Sceptique", die „Lettre sur les Aveugles" (1749) und die „Lettre sur les sourds et muets" (1751) zu den „Pensees sur ^Interpretation de la Nature" (1754) und dem „Entretien entre D'Alembert et Diderot" (geschrieben 1769, veröffentlicht 1830) mit dem anschließenden „Reve de D'Alembert", einem Gespräch zwischen D'Alembert, Mademoiselle de l'Espinasse und dem Arzt Bordeu. Die beiden letzten sind unter den philosophischen Werken auch künstlerisch die interessantesten, die echt platonischen Dialoge seiner Zeit. So weit die eine Linie; sie ist mannigfach gebrochen, biegt sich rückläufig zu bereits aufgegebenen Etappen um und drängt von neuem vorwärts zu den Grenzpfählen, hinter denen erst die unlösbaren Rätsel des Seins und des Menschen auftauchen. Auf der andern Linie wird der Leser durch merkwürdige Ausbrüche aus dem logisch-dialektischen Gedankensystem der Diderotschen Schriften

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überrascht. In die rationale, deistisdie Denkweise bricht plötzlich ein mystischer, pantheister Gedankenstrom ein. Diderot kommt aus der Dialektik der Denkformen nicht heraus. Als Naturwissenschaftler und Logiker verhaftet er sich dem deterministisch-materialistischen Weltbild; als Künstler, Dichter, Metaphysiker empört er sich gegen die Enge dieser Weltanschauung; er ist von ihr unbefriedigt und läßt sich zu Hypothesen und Spekulationen verleiten, die in Phantasien und wundersamen Visionen enden. Er schreibt an Sophie Volland von diesem verteufelten Dilemma: „Ich werde rasend, daß ich midi in dieser verteufelten Philosophie verfangen habe, die mein Denken nicht anders als billigen kann, und die mein Gefühl nur Lügen straft." — J'enrage d'etre empetre d'une diable de philosophie que mon esprit ne peut s'emp£cher d'approuver, et mon coeur de άέηιεηώ. (Lettre k Sophie V. III, 283)

Die Unterscheidung zwischen Materialismus und Idealismus wird ihm zum Unsinn. Der Mensch ist kein privilegiertes Wesen, dessen Körper vergänglich und dessen Seele unsterblich wäre. Sein Schicksal tritt nicht aus der Gesetzmäßigkeit eines allumfassenden Determinismus heraus. Geburt und Tod sind nicht absoluter Anfang und absolutes Ende. Alles einzelne wandelt sich, nur das Ganze ist unwandelbar und verharrt im Sein. Die Welt beginnt und endet unaufhörlich. Sie war, was sie ist, und wird sein, was sie ist. Es gibt nur ein einziges lebendiges Ganzes, und das ist das Universum. „Ce qui vit a toujours νέου, et vivra sans fin." (An Sophie Volland 15. Okt. 1759) Wir entstehen aus den wechselnden Stoffmischungen und lösen uns wieder in Atome auf, um in denselben Kreislauf zurückgesogen und verschlungen zu werden. Logisches Denken, physikalisches Betrachten der Welt und dichterische Phantasie verweben sich in Diderots Weltanschauung. Vor Lamarck (1744—1829) und Darwin (1809—1882) stellte Diderot die kühne Hypothese einer allgemeinen Evolution der Gattungen auf. Er vermochte es noch nicht in der Sprache der Wissenschaft; aber ihm stand die Ausdrucksform mythischer Bilder zur Verfügung. Er imaginierte einen D'Alembert, der im Traume spricht, nachdem er wachen Sinnes die Probleme mit Diderot geprüft h a t . . . „Da ist kein Unterschied zwischen einem wachen Wissenschaftler (medecin) und einem träumenden Philosophen."

Was wird ihm wachend oder träumend kund? Das allbeseelte Stufenreich des Universums, das im ewigen Wandel der Formen und Stoffmisdiungen

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Gestein, Pflanze, Tier und Mensdi verbindet. Alles Lebendige ist nur ein Sidi-Gestaltend-Umgestaltendes: „Vivant, j'agis et je ^ a g i s en m a s s e ; . . . mort, j'agis et je reagis en molecules . . . J e ne meurs done point? Non, sans doute, je ne meurs point en ce sens ni moi, ni quoi que ce soit . . . Naitre, vivre et passer, e'est changer de forme." (Reve de D'Alembert)

Das eigentliche Wunder ist der Ubergang von der leblosen zur belebten Materie; denn in diesem Übergang offenbart sich das Leben. Das zweite Wunder ist die Evolution des Keimes. Für die „große Arbeit der Natur" nimmt Diderot weit größere Zeitspannen an als Buffon, wenn er von Millionen von Jahrhunderten" spricht, während welcher das „grand sidiment inerte" (das leblose Sedimentgestein) den Übergang von dem „etat d'inertie" zum ^ t a t de sensibiliti" vollzieht. Leben ist also Sensibilität. Dieser ersten Etappe, wo „der Marmor zum Humus wird, der Humus die Pflanze ernährt, und die Pflanze ihrerseits das Tier und den Menschen", folgt eine zweite, während welcher das „sensible Wesen" zum „denkenden Wesen" wird. Diese Evolution vollzieht sich vermutlich durch einen Medianismus von Assoziationen vibrierender Gedächtnisstränge, in denen das Schema des menschlichen Nervensystems von Diderot vorgedacht ist. Die grundlegende Wissenschaft des Menschen über den Menschen ist die Physiologie. Wer sagt, daß der Mensch „frei" ist? „Alle Wesen kreisen ineinander, und so alle Gattungen . . . Alles ist in ständigem Fluß . . . Jedes Tier ist mehr oder weniger Mensdi; jedes Mineral mehr oder weniger Pflanze; jede Pflanze ist mehr oder weniger Tier. Es gibt in der Natur nichts scharf Konturiertes . . . Und Sie sprechen von Individuen! . . . Was wollen Sie mit Ihren Individuen sagen? Es gibt durchaus keine . . . Es gibt nur ein einziges großes Individuum, und das ist das Ganze . . . Und Sie sprechen von Wesenheiten, arme Philosophen! Geht mir mit Euren Wesenheiten! Betrachtet die allgemeine Masse, oder, wenn der Horizont Eurer Phantasie zu klein ist, um sie zu begreifen, dann betraditet Euren ersten Ursprung und Euer letztes Ende." (ib.)

Das erinnert an Schopenhauers Kritik der Idealisten, die den „Staub" verachten. Hat man diese Parallele schon gezogen? Wir lesen bei Schopenhauer, was Diderot hätte schreiben können: . . . „Oho! kennt ihr denn diesen S t a u b ? . . . Diese Materie, die jetzt als Staub und Asche daliegt, wird bald, im Wasser aufgelöst, als Kristall anschießen, wird als Metall glänzen, wird dann elektrische Funken sprühen, wird mittels ihrer galvanischen Spannung eine Kraft äußern, welche, die festesten Verbindungen zersetzend, Erden zu Metallen reduziert: ja, sie wird von selbst sich zu Pflanze und Tier gestalten und aus ihrem geheimnisvollen

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Im Lichte der Aufklärung Schoß jenes Leben entwickeln, vor dessen Verlust ihr in eurer Beschränktheit so ängstlich besorgt seid . . . " (Die Welt als Wille und Vorstellung)

Sensibilität und Kunstverstand machten Diderot zu einem ausgezeichneten Kritiker. Er war ein Kenner der zeitgenössischen Malerei, besuchte die Ateliers und Künstler, las alle verfügbaren Schriften über Ästhetik, suchte auf seine Weise das Problem des Schönen zu lösen. Dabei ging es audi hier nicht ohne Widersprüche ab. Kunst ist Abbildung der Wirklichkeit und ist es doch wieder nicht. Widerspruch auch in den Beziehungen der Kunst zur Moral. Einmal will Diderot, daß der Mann der Feder, des Pinsels oder Meißels „die Tugend liebenswert, das Laster hassenswert" mache; zum andern schreibt er, daß eben das, was der moralischen Schönheit schädlich sei, die poetische Schönheit erhöhe. Mit Tugend male man bestenfalls ruhige und kalte Gemälde, aber was die Kompositionen eines Malers oder Musikers belebe, seien Leidenschaft und Laster. Ohne Emotion und Sensibilität keine Kunst. Beide sind an die Physis des Menschen gebunden (An Sophie Volland). Er schildert die Symptome, die er an sich selbst erfährt: Herzpochen, Atemnot, der Schauer, der durch seinen ganzen Körper läuft, und wie er ihn am Haaransatz spürt. Er geht der N a t u r dieser Künstlersensibilität nach, sieht ihren Ursprung in der Erregung des Diaphragmas, in der Lebhaftigkeit der Phantasie, in der Disposition des Nervensystems. Ein Wort, das unser Ohr trifft, ein Bild, das unsern Blick einfängt, und schon erhebt sich „der innere Tumult", die Nerven werden erregt, Schrecken ergreift uns oder die Wonne der Begeisterung, fort ist die Kaltblütigkeit, Vernunft, Urteilskraft. Aber dafür steigert sich die Empfindung; sie erhebt uns über das Gros der andern Menschen im Aufschwung der Freude, oder senkt uns in Tiefen des Leides. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Ein solcher Mensch hat in sich „die Quelle ungezählter seliger Augenblicke, von denen die andern nichts wissen". (An Sophie Volland, o. D.) So beschreibt Diderot den Künstler, das Genie, sich selbst. War in Voltaires Urteil Genie die „raison sublime", so ist f ü r Diderot das Genie im Konflikt mit der Vernunft, und der geniale Mensch, sei er Dichter, Künstler, Philosoph, Feldherr, Staatsmann (von allen spricht er) überschreitet „die Gesetze der raison". Vor allem wendet sich der Künstler als schöpferischer Mensch von der Konvenienz der Geschmacksregeln ab. Geschmack sei das Ergebnis von Studium und Z e i t . . . er bringe nichts als konventionelle Schönheiten hervor. Damit ein Kunstwerk nach den Regeln des Geschmacks sdiön sei, müsse es elegant, vollendet, mühelos gearbeitet

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erscheinen. Das geniale Werk erscheine unter andern Aspekten. „Poesie" im kraftgenialischen Sinne breche aus wilden, ungezügelten Naturkräften, aus vulkanischem Erdreich hervor. In diesem Sinne beurteilt er Racine als „schön", Vergil als „elegant", aber Shakespeare als „genial". In solchen Urteilen klingt etwas von Voltaires Shakespearebegeisterung nach; wir stehen schon bei Herder, und Äußerungen dieser Art rücken Diderot in den Bereich des Sturms und Drangs. Zweifellos hat er seine Sensibilität kultiviert. Er wartet nicht nur auf die großen Erregungen, die ihm von den Gegenständen der Kunst oder von den Erlebnissen kommen; er ruft sie künstlich hervor, um seine „Seele zu erhitzen". Seine Stimulantia sind Kaffee, Wein, gutes Essen, das Leben in der wilden Natur. Von allen Naturphänomenen liebt er, seiner Natur entsprechend, Wind und Sturm: „II me semble que j'ai l'esprit fou dans les grands vents. Quelque temps qu'il fasse, c'est l'etat de mon coeur." (An Sophie Volland 28. Okt. 1760)

Aber der Raisonneur weiß zu gut, daß, soll ein bleibendes Kunstwerk entstehen, das den Stempel der Vollendung und Gültigkeit trage, ein klarer, gestaltender Wille das Chaos ordnen muß. Dann wird der Künstler wie ein Gott, ein creator mundi. Kein Detail darf er vernachlässigen; das Große wie das Kleine muß in seiner Art sinnvoll im Zusammenhang des Ganzen stehen. Audi darf der Künstler der Technik nicht entraten; er muß die Gesetze der Kompositionskunst beachten, Klarheit, Zucht, Ordnung überall sichtbar werden lassen. Mit all diesen Eigenschaften wurde Diderot ein ausgezeichneter Kritiker — nicht immer einer, dessen Urteilen wir folgen, da all die Schulen und Werke des Impressionismus, Expressionismus, Kubismus, Surrealismus und aller Arten abstrakter Malerei unsern Blick erweitert und unsern Geschmack verändert haben. Diderot hat nichtsdestoweniger jene schöpferische Kritik inauguriert, die wir etwa bei der romantischen Kunstkritik Wackenroders und noch später finden. Auf Bitten seines Freundes Melchior Grimm redigierte Diderot für die Correspondance litterarire die „Salons" von 1759—1771 und die "Salons" von 1775 und 1781. Wenn schon unser heutiger Geschmack nicht mehr auf die Anekdote, die lyrische Stimmung oder Dramatik eines Bildes gerichtet ist, so noch weniger auf die geistige Umsetzung eines Gemäldes in Literatur, was aber gerade die Eigenart der Diderotschen Bildbeschreibung ist. Aus den Impressionen, die ihm ein Gemälde vermittelt, wird ein Stüde eigener Prosa, das poetischen Eigenwert enthält und das Bild nur zum Anlaß lyrischer Meditationen über dessen

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Im Lichte der Aufklärung

Thematik nimmt. Aber Diderot schuf aus seinem lebendigen Empfinden und Nachempfinden, aus dem sinnigen Betrachten der Kunstwerke und aus der Fähigkeit, sich in die Welt und die Seele des Künstlers zu versetzen, die französische Kunstkritik. Diese Leistung ist in Sainte-Beuves Augen sogar Diderots größter Ruhmestitel. Goethe war kritischer, und einige Bemerkungen über sein Gespräch mit Diderot mögen hier am Platze sein. Als Anhang zum Salon von 1765 steht der „Essai sur la Peinture". Er kam Goethe etwa 30 Jahre später in die Hände, als Diderot schon tot w a r . . . Da las er, was der Verfasser des Essais im Geleitwort an seinen Freund Melchior Grimm über sich geschrieben hatte: „Wenn ich heute einige durchdachte Begriffe von der Malerei und Bildhauerkunst besitze, verdanke ich sie Ihnen, mein Freund. Ich wäre sonst nicht anders als die Müßiggänger durch die Ausstellungen spaziert und hätte, gerade wie diese Leute, nur einen oberflächlichen, zerstreuten Blick auf die Werke unserer Künstler geworfen. Leichtfertig hätte ich mit einem einzigen hingeworfenen Wort vielleicht ein kostbares Stück verurteilt, oder aber eine durchaus mittelmäßige Arbeit in den Himmel gehoben . . . N u n aber habe ich mich ganz der Kunst geöffnet . . . Ich habe mit den Künstlern verkehrt, sie immer wieder befragt; ich habe begriffen, was zeichnerische Einheit, was natürliche Wahrheit ist. Ich habe Farben sehen lernen und das Gefühl für das Fleisch erworben; dann habe ich in aller Stille nachgedacht über das, was ich gesehen und gehört habe, und all die technischen Ausdrücke wie Kunst, Einheit, Mannigfaltigkeit, Konstrast, Symmetrie, Anordnung, Komposition, Charaktere, Ausdruck, die ich sonst so gern im Munde führte und von denen ich doch nur eine vage Vorstellung hatte, haben jetzt für mich eine fest umrissene Bedeutung."

Dem Essai sur la Peinture fügte er später (1781) die „Pensees detachees sur la Peinture, la Sculpture, VArchitecture et la Poesie" an (veröffentlicht erst 1798). Seine bevorzugten Künstler waren Greuze, Vernet, La Tour, Chardin, Hubert Robert, Falconet. Bedenkt man das sinnliche Temperament Diderots, sollte man meinen, er bekenne sich vorzüglich zu Ch. Vanloo oder Boucher; denn alles, was das Rokoko an koketter Grazie oder Boudoir-Erotik hervorgebracht hat, fand in ihren Bildern Ausdruck: sei es die junge Dame, die, „pour tenter le destin", sich von einem jungen Herrn einen Floh erhäschen läßt, sei es das zweideutige Bild, wo Sarah ihrem Abraham die schöne Hagar zuführt, oder sei es die Toilettenszene der üppigen Orientalin, die um ihren Schenkel eine goldene Spange schlingt, und es ist gewiß nicht zu leugnen, daß Diderots Augen gern die nackten, weichen Formen suchten, und daß er sich in ihrer Beschreibung

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gefällt . . . bis es ihm mit all den weiblichen Reizen zuviel wird und die andere Seite seines Temperaments die Oberhand gewinnt, nämlich die „moralische". Seit der Zeit, da er Shaftesburys „Inquiry concerning virtue and merit" übersetzt hatte, galt ein wesentliches Interesse seiner „Philosophie" der Moral. Über Bouchers Schminke, Flitter und Toilettenspiegelei bricht er dann den Stab, und sein wahrer Meister wird Greuze, der Maler bürgerlich-züchtiger, etwas sentimental-ehrbarer Bilder. Diderot wird Prediger: „Die Malerei hat mit der Poesie das gemein — und man scheint es noch nicht bemerkt zu haben — daß beide Künste bene moratae (sittsam) sein sollen." Greuze wird sein Mann: „ H a t der Pinsel des Malers nicht lange genug dem Laster und dem liederlichen Leben den Tribut gezahlt? Die Malerei soll mit der dramatischen Dichtung wetteifern, soll uns rühren, erziehen, verbessern und zur Tugend anhalten . . . Courage, mon ami Greuze, fais de la morale en peinture!"

Sprach ihn ein Bild an, entzündete sich seine Beredsamkeit, und es geschah, daß er, versunken in die Betrachtung etwa der Greuzesdien „ Jeune Fille pleurant sur son Oiseau" oder in die Vernetschen Landschaften — Joseph Vernets Seestücke und Landschaften haben in besonderem Maße die romantischen Stimmungen Diderots wachgerufen — seiner Phantasie die Zügel schießen ließ. Von allen Seiten suchte er in das Bild zu dringen, beginnt mit dem Bilde zu reden, entlockt dem weinenden Mädchen das Geheimnis seines Herzenskummers. Oh, es ist doch nicht der tote Vogel, den es beweint . . . ein ganz anderer Schmerz betrübt das Mädchenherz, das zur Liebe e r w a c h t . . . Oder er beschreibt seine Unterhaltungen und Spaziergänge mit Freunden und, siehe da! die Szenerie ist just das Seestück oder Landschaftsbild seines geliebten Vernet, vor dem er gerade steht und das der Dichter nun in seiner Sprache verlebendigt. Das Gemälde, das er beschreibt, wandelt sich fast unmerklich in ein eigenes Stück Prosa, in eine Idylle, in eine Elegie um. Treffend sagt Sainte-Beuve von Diderot: er sei der König jener demipo£tes, die nur eines Anstoßes von außen und eines Anhaltspunktes bedürften, um in der Gattung der Kritik selbst ganz zu Dichtern zu werden. Diderot hat Malerei in die Syntax der Literatur übersetzt. Diesem vielgewandten, umfassend gebildeten und informierten Manne nahte sich nun Goethe, um auf der Ebene der Kunstbetrachtung ein Streitgespräch mit dem illustren Toten auszutragen. Es war zur Zeit, als sich Goethes Interessen an den bildenden Künsten wieder stärker nach vorn drängten. E r hatte gleich Diderot die Freude, im Kreise von Künstlern,

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Schauspielern, Musikern, Sängern zu verkehren, mit ihnen im Gespräch die eigenen Ideen zu klären. Er betrachtet ein Kunstwerk, sinnt darüber nach, entwickelt eine Theorie und ordnet schließlich, wie Diderot, seine ästhetischen Anschauungen in den Zusammenhang seines philosophischen Weltbildes ein. Infolge seiner eigentümlichen Fähigkeit und Empfänglichkeit f ü r das Licht und seine Wirkungen hat Goethe einen Teil seiner Ästhetik in die Farbenlehre einbezogen. Es interessierte ihn, wie das ästhetische Problem bei Diderot gelöst war. Aber das Gespräch zwischen dem Lebenden und Toten blieb Fragment. Es enthält ungelöste Widersprüche nicht allein zwischen den Gesprächspartnern, sondern auch Widersprüche innerhalb ihrer jeweils eigenen Gedankenreihen. Das Gespräch ist umso lebendiger. „Ich tadle Diderot", sagt Goethe im .Geständnis des Übersetzers', „wenn er sidi von dem Wege entfernt, den ich für den rechten halte; ich freue mich, wenn wir wieder zusammentreffen, ich eifre über seine Paradoxe, ich ergötze mich an der Lebhaftigkeit seine Überblicke, sein Vortrag reißt mich hin, der Streit wird heftig und ich behalte freilich das letzte Wort, da ich mit einem abgeschiedenen Gegner zu tun habe."

Wir werden gleich darauf aufmerksam gemacht, daß der Streit temperamentvoll durchgeführt werden wird. Hinter den Grundsätzen, die Diderot mit viel Geist und ebensoviel rhetorischer Kühnheit und Gewandtheit geltend mache, verberge sich nicht so sehr die schelmische Lust, die Anhänger alter Formen zu beunruhigen, als vielmehr der Anspruch, ein neues Kunstgebäude zu errichten. Das ist von Goethe sidier zu weit gegriffen. Zwar hat Diderot versucht, in seinen „Recherches philosophiques sur l'Origine et la Nature du Beau" (1751) — die sich zum Artikel „Beau" der Encyclopedic verdichten — die Materialien zu sammeln, mit denen er nach Du Bos, Batteux, Caylus, Le Blanc, Lafont de Saint-Yenne, Hutcheson, Crouzat u. a. die Fundamente einer Ästhetik legen wollte, aber ich sehe nicht, daß er den Ehrgeiz hatte, darauf ein ganzes Kunstgebäude zu errichten. Es sei am Rande vermerkt, daß Mengs einem Holbach bekannt und daß Winckelmanns entscheidendes Werk bereits 1766 übersetzt war; aber von einem Einfluß auf Diderot kann keine Rede sein, da um diese Zeit seine eigenen Ideen im wesentlichen fixiert waren. Es verstimmte Goethe, daß einige Gedanken Diderots als theoretische Grundsätze den Künstlern willkommen seien, weil sie eine „leichtfertige Praktik begünstigten", obwohl er anerkennt, daß seines Gegners Gesinnungen eben die Künstler vom „Manierierten, Konventionellen, Habi-

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tuellen, Pedantischen zum Gefühlten, Begründeten, Wohlgeübten und Liberalen" geführt hätten: „Dann finde idi meinen Eifer wieder am Platz, ich habe nicht mehr mit dem abgeschiedenen Diderot, nicht mit seiner in gewissem Sinne schon veralteten Schrift, sondern mit denen zu tun, die jene Revolution der Künste, welche er hauptsächlich mitbewirken half, an ihrem wahren Fortgang hindern, indem sie sich auf der breiten Fläche des Dilettantismus und der Pfuscherei, zwischen Kunst und Natur, hinsdileifen und ebensowenig geneigt sind, eine gründliche Kenntnis der Natur als eine gegründete Tätigkeit der Kunst zu befördern."

Also nicht Diderot, der die Revolution der Kunstgesinnung gefördert hat, war die eigentliche Gefahr, sondern die Dilettanten und Pfuscher, die sich auf ihn beriefen. Es würde hier zu weit führen, den Umkreis der Goetheschen Kritik an den einzelnen Anmerkungen zu Diderots Theorien zu durchmessen. In meinem Essay über Diderot und Goethe („Das Gastmahl", 1947) habe ich einiges davon angedeutet. Hier sei nur bemerkt, daß die Schwerpunkte der Kritik bei dem Problem des Dilettantismus, bei der Frage nach dem Verhältnis von N a t u r und Kunst und bei dem Problemkomplex Kunst als Mimesis zu suchen sind. Was versteht Goethe unter einem „Dilettanten"? Der Dilettant ist gewissermaßen ein Halbkünstler, der seinen „Beruf zum Selbstproduzieren erst aus den Wirkungen der Kunstwerke auf sich empfängt". Er macht seinen Empfindungszustand produktiv, „wie wenn man mit dem Geruch einer Blume die Blume selbst hervorzubringen gedachte". Es bleibt unklar, ob Goethe damit Diderot selbst hat treffen wollen. Idi glaube nicht; denn ein solcher Vorwurf hätte nur dann Sinn, wenn Diderot Maler gewesen wäre und sich in dieser Kunst, wie Goethe selbst, anspruchsvoll versucht hätte. Dennoch sind Diderots „Salons", also jene ins Dichterisch-Literarische projezierten Eindrücke der Malerei in dem zitierten Goetheschen Sinne ein psychologisch interessanter Fall von Dilettantismus. Diderot reproduziert sozusagen die Idee, die Stimmung, die Farben, die Reize eines Bildes mit Worten und Begriffen. Er riecht die Blume, aber natürlich bringt er nicht mit dem Geruch der Blume die Blume selbst hervor. Indessen ist aus diesem Verfahren einer literarischen Transposition eines Farbkunstwerks etwas höchst Eigenartiges entstanden, nämlich die Gattung der literarischen Kunstkritik, die Sainte-Beuve die Demimetamorphose nannte: ein souveränes Spiel des Kritikers, der, sich in das Kunstwerk des andern versenkend, aus dem Geist des Künstlers selbst urteilt, nachgestaltet und in der Metamorphose des Wortes den Eindruck des Gesehenen vermittelt. In diesem Sinne schreibt Madame Necker an Diderot:

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„Die Lektüre Ihrer Salons ergötzt mich weiterhin unendlich: Ich liebe die Malerei nur als Dichtung; und in diesem Sinne haben Sie es verstanden, uns die Werke unserer modernen Maler zu übersetzen."

Das kongeniale Nachempfinden ist, wenn man so will, der geniale Dilettantismus Diderots. Er liegt an der Grenze schöpferischen Künstlertums. Die Forderung, die Natur nachzuahmen (Mimese), war der Leitsatz der klassischen französischen Ästhetik des „Großen Zeitalters". Was ihr Gesetzgeber Boileau für die Dichtung aufgestellt hatte, übertrug sich auch auf andere Künste. Lange waren in Frankreich poisie und peinture miteinander in der gemeinsamen Aufgabe der Naturnachahmung verbunden. Ganz sind die Franzosen auch im Zeitalter Diderots von dieser Idee nicht losgekommen. Aber in den ästhetischen Schriften der Zeitspanne zwischen Boileau und Diderot ist eine allmähliche Auflockerung der starren Prinzipien zu beobachten. Man spürt, wie es nur noch wenig bedarf, um den Blick für neue Erkenntnisse frei zu machen. Ein Satz wie dieser: „La poesie veut quelque chose d'inorme, de barbare et de sauvage" (aus der „Ροέβΐβ dramatique" Diderots) weist eine Richtung, aus der sich der „Sturm und Drang" und die ossianische Dichtung entwickeln werden. Zunächst stehen wir noch bei den 1719 erschienenen „Reflexions critiques sur la Poesie et sur la Peinture" con Jacques Baptiste Du Bos. Darin finden wir freilich schon die Einsicht, daß das Kunstsdiöne im Gegensatz zum Naturwirklichen ein freies Spiel ist. Auf dem Wege schritt Batteux, Diderots Altersgenosse, weiter, ohne daß auch er das „halbwahre Evangelium der Nachahmung der Natur" hat fallen lassen. Zum Wesen der Sache aber sei noch niemand vorgedrungen, meint Diderot. Jedermann habe seine eigenen Gedanken über das Schöne; man bewundere es in den Werken der Natur; man fordere es in den verschiedenen Kunstgattungen, und doch wisse keiner recht, welches der Ursprung, das Wesen, der genaue Begriff, die wirkliche Idee, die exakte Definition des Schönen sei. Ist das Sdiöne etwas Absolutes oder Relatives? Gibt es ein ewig unveränderliches Schöne, gleichsam als platonische Idee, oder verhält es sich mit dem Schönen wie mit der wandelbaren Mode? Merkwürdig, sagt Diderot: Alle Menschen spürten wohl, daß es das Schöne gäbe, viele fühlten lebhaft, wo es stecke, aber kaum einer wüßte, was es sei. Diderot vermeint, über Batteux hinauszukommen: der habe zwar gepredigt, die „sdiöne Natur" müsse vom Künstler nachgeahmt werden, aber er hat nicht gesagt, was die sdiöne Natur sei. Noch lange standen auch deutsche Dichter und Schrift-

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steller im Banne Batteux'. Gottsched begrüßte ihn, Sulzers Theorie der schönen Künste beruhte zu einem großen Teil auf Batteux' System, und Jahre hindurch erschienen verschiedene deutsdie Übersetzungen, Bearbeitungen und Ergänzungen seiner Hauptschrift „Beaux Arts rdduits ä. un meme Principe", als schon Lessing im „Laokoon" wenigstens die Gefahr einer Verwischung der Kunstarten zu bannen versuchte. Im Umkreis dieser Fragestellungen erhärtet Goethe seine Position in der Auseinandersetzung mit Diderot. Er knüpft an den Satz Diderots an: „Wenn die Ursachen und Wirkungen uns völlig anschaulich wären, so hätten wir nichts Besseres zu tun, als die Geschöpfe darzustellen, wie sie sind; je vollkommener die Nachahmung wäre, je gemäßer den Ursachen, desto zufriedener würden wir sein."

Er unterschiebt Diderot die Tendenz, „Natur und Kunst zu konfundieren" : „eine Hauptkrankheit, an der unsere Zeit darniederliegt". Goethes Anliegen ist es, beide Bereiche zu trennen, den Naturbetrachter vom Künstler zu unterscheiden. Die Natur, sagt er, organisiere ein lebendiges, gleichgültiges Wesen, der Künstler ein totes, aber ein bedeutsames; die Natur ein wirkliches, der Künstler ein scheinbares. Eine vollkommene Nachahmung der Natur sei in keinem Sinne möglich. Was interessiert den Künstler? „Das Äußere des Gefäßes, das lebendige Ganze . . . das Ausgebildete, Schöne, dahin ist der Künstler angewiesen." Und was interessiert den Naturbetrachter? „Er muß das Ganze trennen, die Oberfläche durchdringen, die Schönheit zerstören, das Notwendige kennenlernen und die Labyrinthe des organischen Baues . . . vor seiner Seele festhalten."

Goethe macht seinem Autor Diderot den Vorwurf, eine unhaltbare Behauptung zu wagen, daß nämlich die Menschen als Ersatz für die unbekannten Gesetze der organisierenden Natur sich nach Art einer Konvention auf gewisse Regeln geeinigt hätten, um vollendete Kunstwerke hervorzubringen. Von einer solchen Konvention will er nichts wissen. Die Natur habe sich lange empirisch fortgeholfen, bis schließlich die Künstler selbst, vielleicht durch Beispiel und Lehre die Regeln gebildet hätten, „die ebenso wahr in der Natur des bildenden Genius liegen, als die große allgemeine Natur die organischen Gesetze ewig tätig bewahrt". Goethe streitet mit Diderot, scheint sich ihm dann wieder zu nähern; denn ist der Genie-Begriff Diderots so weit von dem Goethes entfernt? Alsbald kehrt er zu seinen eigenen, ihm lieb gewordenen Anschauungen zurück:

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„Die Kunst übernimmt nicht, mit der Natur in ihrer Breite und Tiefe zu wetteifern; sie hält sich an der Oberfläche der natürlichen Erscheinungen. Aber sie hat ihre eigene Tiefe, ihre eigene Gewalt Die Natur scheint um ihrer selbst willen zu wirken; der Künstler wirkt als Mensch um des Menschen willen." Mit solchen Gedanken leitet Goethe den vorläufigen Abschluß seines Gespräches mit Diderot ein. Wie er die Zwiesprache — oder besser den Monolog mit dem Toten schließt, wie er „das letzte W o r t behält" und zugleich den Faden zu neuen Unterhaltungen weiterspinnt, ist ein schönes Zeugnis seines weltmännischen Taktes: „Aus dem, was uns die Natur darbietet, lesen wir uns im Leben das Wünschenswerte, das Genießbare nur kümmerlich aus. Was der Künstler dem Menschen entgegenbringt, soll alles den Sinnen faßlidi und angenehm, alles aufreizend und anlockend, alles genießbar und befriedigend, alles für den Geist nährend, bildend und erhebend sein; und so gibt der Künstler, dankbar gegen die Natur, die auch ihn hervorbrachte, ihr eine zweite Natur, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine menschlich vollendete zurück. Soll dieses aber geschehen, so muß das Genie, der berufene Künstler, nach Gesetzen, nach Regeln handeln, die ihm die Natur selbst vorschrieb, die ihr nicht widersprechen, die sein größter Reichtum sind, weil er dadurch sowohl den großen Reichtum der Natur als den Reichtum seines Gemüts beherrschen und brauchen lernt . . . Und so lebe wohl, ehrwürdiger Schatten! Habe Dank, daß du uns veranlaßtest, zu streiten, zu schwätzen, uns zu ereifern und wieder kühl zu werden! Die höchste Wirkung des Geistes ist, den Geist hervorzurufen. Nochmals lebe wohl! Im Farbenreiche sehen wir uns wieder." Im Farbenreiche — auf Goethes geliebter Domäne. W i r begreifen, daß eine Begegnung auf dieser Ebene mit Diderot ein bedeutender Anlaß für Goethe ist, im Zwiegespräch mit seinem „gewandten und rüstigen Streiter" die eigenen Anschauungen zu klären und eine „Arbeit selbst zu vollenden, deren Bedürfnis von wahren Künstlern, von wahren Freunden der Wissenschaften längst empfunden worden". Nun aber hat sich Diderot nicht annähernd so gründlich und wissenschaftlich mit dem Phänomen der Farbe auseinandergesetzt wie Goethe, und darum würde eine Darstellung dieses Streitgesprächs mehr von Goethe als von Diderot aussagen. W i r würden mehr von der sinnlich-sittlidien Wirkung der Farben und ihres allegorischen, symbolischen, mystischen Gebrauchs erfahren, als von den Diderotschen „Protokollisten der Malerei oder den untertänigen Dienern des Regenbogens". So wollen wir unsererseits den Dialog auf sidi beruhen l a s s e n . . . — Im Entscheidenden weiß sich Goethe doch wieder eins mit Diderot: Der kleine Gott der Welt,

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„ . . . der Mensch verlange nidit, Gott gleich zu sein, aber er strebe, sich als Mensdi zu vollenden! Der Künstler strebe, nidit ein Naturwerk, aber ein vollendetes Kunstwerk hervorzubringen!"

Der Gedanke hallt wie ein Echo fort: Wir lesen in Goethes Schrift „Diderots Versuch ,Über die Malerei', Kapitel I : Gedanken über die Zeichnung": „Der Künstler soll nicht so wahr, so gewissenhaft gegen die Natur, er soll gewissenhaft gegen die Kunst sein. Durch die treueste Nachahmung der Natur entsteht noch kein Kunstwerk, aber in einem Kunstwerk kann fast alle Natur erloschen sein, und es kann nodi immer Lob verdienen."

Das ruft Diderots Formulierung in Erinnerung: „Das macht, daß der Mensch kein Gott ist und daß die Werkstatt des Künstlers nicht die Natur ist."

Eine zweite Begegnung Goethes mit Diderot beansprucht unser Interesse: Le Nevau de Rameau. „Horazens Tick war es, Verse zu machen; Trebatius' und Burignys, über das Altertum zu sprechen; mein Tick ist es zu moralisieren." Diderots philosophisch-schriftstellerische Aktivität ist eine umfassende Enquete über den Menschen. Er steht auf der Linie der französischen Moralisten. Sein „Neveu de Rameau" (nicht vor 1763 geschrieben) ist vielleicht das originellste literarische Produkt dieses Moralphilosophen des 18. Jahrhundert. Ein merkwürdiges Stüde: Ist es ein Dialog, ein Sketch, eine Satire, ein Stück Moralphilosophie, Kunst- und Gesellschaftskritik? Wie soll man es nennen; es ist das alles zusammen. „Unsittlich-sittlicher" ist Goethe kein Werk der Weltliteratur vorgekommen. Und was ist es? Ein Dialog zwischen Diderot und dem Neffen des großen Rameau, also zwischen einem Philosophen und einem höchst bizarren Genie. Die Szene ist das Caf£ de la Rigence, in der Nähe des Palais Royal von Paris, wo sich die Schauspieler zu versammeln und zu spielen pflegten. Rameau erzählt Diderot, wie er von einem seiner reichen Beschützer aus dem Haus gejagt wurde. Nun muß er sehen, was er mit seinem Talent als Amuseur und Parasit anstellen kann. Er redet immerzu, indeß Diderot wenig sagt. Im Grunde ist es ein Zwiegespräch zwischen den beiden Seelen in des Philosophen Brust. Vergebens suchen wir nach einer Auflösung der Disharmonie oder wenigstens nach einem Ausgleich der Gegensätze, die den Neffen zwischen niedrigster Verwerflichkeit und stolzem Künstlertum, zwischen einem krassen Zynismus, mit dem er die Welt, die Mitmenschen und alle überlieferten Werte der Moral mit Füßen tritt, und dem

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göttlichen Funken des Enthusiasmus, der ihn emporreißt. Was entscheidet im letzten die Taten des Menschen? Wovon hängt alles ab? Antwort: Vom Hunger, der alle Schranken der Moral einreißt, — oder vom Reichtum, der alle Schandtaten leicht verdeckt. Dazwischen liegt die Skala der Triebe und Leidenschaften, auf deren Befriedigung das Leben und die Organe des Menschen offenbar abgestellt und abgestimmt sind. Eine materialistischere, naturalistischere, ganz auf die existenzialistische Befindlichkeit des Menschen gerichtete Moralphilosophie ist weder vor noch nach dem „Neveu" in so „aufregender Trefflichkeit" — um Goethes Charakterisierung zu gebrauchen — niedergeschrieben worden. Was soll der Stolz des Menschen, was soll das zeitweilige Aufbäumen des Neffen gegen diese Welt, in deren Verworfenheit er sich verstrickt hat oder verstrickt worden ist? Das bleibt eine unbeantwortete Frage. Am Ende des Dialogs stehen wir vor demselben Dilemma wie am Anfang. In dem Artikel Societe, den Diderot für die Encyclopέdie schreibt, heißt es: „Die ganze Ökonomie der menschlichen Gesellschaft stützt sidi auf das allgemeine und einfache Prinzip: ich will glücklich sein; aber nun lebe ich doch einmal mit Menschen zusammen, die ebenfalls glücklich sein wollen, jeder nach seiner Art. Suchen wir also das Mittel, unser Glück zu erreichen, indem wir ihnen das ihrige lassen, ohne ihnen wenigstens Schaden zuzufügen."

Die Individualmoral verflicht sich mit der Sozialmoral. Seid tugendhaft, gerecht, anständig, gütig, maßvoll, und ihr werdet glücklich sein, so ruft uns Diderot zu. Aber immer wieder erfährt und beobachtet er auf der Kehrseite dieser moralischen Medaille, daß die Tugendhaften, Gerechten, Anständigen, Gütigen, Maßvollen leiden müssen, und daß die Bösen, Ungerechten, Gemeinen, Niedrigen und Zuchtlosen, gefeiert, reich, glücklich sind. Wie kommt Diderot aus diesem bekannten Dilemma heraus? Ich fürchte, garnicht. Was hilft es ihm, daß er hin und wieder das Gewissen, die conscience, einführt und versichert, daß in dieser vernehmbaren göttlichen Stimme, die sein Zeitgenosse Rousseau gerade ein Jahr vor der Konzeption des „Neffen" in den Menschen wecken wollte, schon ein reines Glück wirksam sei, nämlich das Glück, die Tugend um der Tugend willen zu üben? Aber die Ansichten und Handlungen des Neffen sind eine Widerlegung der Philosophie des Gewissens. Trotzdem ruft Diderot ehrlich aus: „In der Brust des tugendhaften Menschen wohnt ein Gott — ich kenne ihn zwar nicht, — aber es wohnt in ihr ein Gott!"

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So windet und quält sich Diderot mühsam ab. Von der einstigen Sicherheit der religiös-moralphilosophischen Spekulation der ShaftesburyEtappe geht der Weg zum quälenden Nichtwissen, zur Unsicherheit der Erfahrung, zur Ironie der Irrungen und Wirrungen bis zum bittern Ende des Zynismus; noch immer suchend und tastend verliert er die Richtung. Aber aus unbeugsamer Wahrheitsliebe, aus der Not der Seele, aus der Unruhe philosophischen Fragens, aus der Einsamkeit des Suchenden, und aus Hunger, Not, Elend, deren er sich erinnern mochte, entsteht das seltsame Manuskript vom „Neffen Rameaus", dieses sittlich-unsittlichen Selbstporträts Diderots, das durch einen Zufall dem fünfundfünfzigjährigen Goethe in die Hände kam. Er liest die Handschrift, fühlt sich ergriffen und beginnt ohne Zögern die Übersetzung. Hundert Anspielungen aber auf zeitgenössische Ereignisse und Personen machten bei der Lektüre denjenigen zu schaffen, die sich gern genaue Rechenschaft über die Hintergründe des Dialogs geben wollten. So verfaßt Goethe aus eigener Freude an der Sache eine Reihe von Anmerkungen, die er nach Beendigung in alphabetischer Ordnung seiner Übersetzung beifügt. Damit hat er ein selbständiges Opus geschaffen, das Schillers höchsten Beifall fand: eine Art Kommentar zur Literatur·, Kunst- und Geistesgeschichte Frankreichs im 18. Jahrhundert am Ariadnefaden des Diderotschen Dialogs. In der Tat sind die Hintergründe des Neffen interessant. Der Dialog ist ein Sittenbild sui generis mit seinen realistischen Details über die vie de boheme. Diderot kannte aus eigener Erfahrung das Leben der Desperados und Desamparados in den Cafe-Häusern von Paris, ihr Elend und ihr Schmarotzerdasein, ihre vergeudete Genialität oder Talentfülle, ihren zerbrochenen Idealismus. Wir brauchen nur in Goethes Ubersetzung den Auszug aus Merciers „Tableau de Paris" zu lesen, um den Hintergrund der Szenerie des Neffen zu verstehen. Der Neffe ist, wie der große Onkel, ein Musicus. Diderot selbst verstand sich auf Musik. Er hat Rameau, Philidor, Blainville studiert und sich als Mitarbeiter von Bemetzrieder die Technik musikalischer Kompositionskunst angeeignet. Er stellt sich einerseits in die Tradition des Pythagoras, des Mittelalters, des Pater Mersenne, Taylers, Eulers, wenn er dafürhält, daß ohne mathematisches Studium die Grundlage einer musikalischen Kultur fehle. Er greift andererseits Rameaus musikalischen Intellektualismus an, steht in der „Querelle des Bouffons" mit Rousseau, Grimm, Holbach und d'Alembert auf der Seite der Verteidiger der italienischen

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Musik; er will nicht, daß die mathematische Kultur ein Hindernis für den schaffenden Künstler werde. Es wäre seltsam, meint er, wenn der mit Gefühl komponierende Künstler in wesentliche Fehler verfiele. Das Wunder der Musik sei es, daß sie die mathematische Strenge der Tonfolgen mit dem Ausdruck freier, poetischer Sensibilität verbinde. In Jean-Franfois Rameau, dem „Neffen", dem Künstler ist die Skizze eines musikalischen Genies entworfen, das in der Mania sein Inneres preisgibt; er ist gewiß ein verkommenes Genie, verworren, trunken, toll und bacchantisch, aber es öffnen sich in dem Dialog zwischen dem Er und dem Ich, Tore zu einem idealen Reich der Musik, in das einzutreten, dem Neffen versagt ist. Ist schon die Geschichte der Handschrift des Neffen für die GoetheDiderot-Forschung interessant genug, so möchte der Leser vielleicht eher etwas anderes erfahren: was es eigentlich mit der Gestalt des ]ean-Franfois Rameau auf sich habe. Hat dieser Neffe des großen Jean-Philippe überhaupt gelebt, oder ist der Musicus eine Phantasiegestalt des Dichters, ein Ahnherr der Kreislerschen Kapellmeisterfamilie? Die Frage nach dem Modell tauchte tatsächlich nach dem späten Bekanntwerden des Neffen auf, wurde aber alsbald beantwortet, als Saur und G£ni£s die Hammes celebres de la France 1823 veröffentlichten. Goethe hat diese kuriose französische Bearbeitung seiner eigenen Anmerkungen zum Neffen mit Interesse in die Hand genommen. Es wäre noch zu erzählen, daß er darin einen Auszug aus dem erwähnten Tableau de Paris von Mercier abgedruckt fand. D a lesen wir eine ergötzliche Schilderung des Oheims und des Neffen. Diderot begegnete dem Neveu tatsächlich im Cafέ de la R^gence, und es ist sogar möglich, daß er dem genialen Boh^mien Geld geliehen hat. Ob indessen die Unterhaltung, wie er sie niedergeschrieben hat, wirklich stattgefunden hatte, ist eine andere Frage. Lesen wir einige Passagen aus Mercier über Rameau und seinen Neffen in der Goetheschen Übersetzung: „Ich habe", sagte Mercier, indem er vom Oheim zu reden beginnt, „in meiner Jugend Rameau, den Musikus, gekannt. Es war ein langer Mann, dürr und hager, eingeschrumpften Unterleibs, der, gebückt, wie er war, im Palais Royal stets spazieren ging, die Hände auf dem Rücken verschränkt, um sich einiges Gleichgewicht zu geben. E r hatte eine lange Nase, ein spitzes Kinn, Stecken statt Beine und eine schnarrende Stimme. E r schien unzulänglichen Humors, und nach Art der Poeten sprach er unsinnig über seine Kunst . . . Man sagte, die ganze musikalische Harmonie sei in seinem Kopfe . . . E r konnte Voltairen nie eine Note begreiflich machen, und dieser jenem nie die Schönheit eines seiner Verse, so daß, als sie einst gemeinsam an einer Oper arbeiteten, sie fast handgemein wurden, indem sie über die Harmonie sprachen . . . Ich habe

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auch seinen Neffen gekannt, der halb ein Abb6, halb ein Laie war, der in den Cafe-Häusern lebte und alle Wunder der Tapferkeit, alle Wirkungen des Genies, alle edle Selbstverleugnung, kurz alles Große und Gute was je auf der Welt geschehen, auf das Kauen reduzierte. Nach ihm hatte alles das keinen andern Zweck und keinen andern Erfolg gehabt, als um etwas zwischen die Zähne zu bekommen. E r predigte diese Lehre mit einer sehr ausdrücklichen Gebärde und einer höchst malerischen Bewegung der Kinnladen. Sprach man von einem schönen Gedicht, von einer edlen Tat, von einem guten Gesetz, so sagte er: Alles dieses, vom Marschall von Frankreich bis zum Schuhflicker und von Voltaire bis zu Chaban oder Chabanon, geschieht bloß, um etwas zu bekommen, das man in den Mund tue und woran man die Gesetze der Mastikation erfülle . .

Was folgt, sind die Abenteuer des Vaters, des Sohnes und des Onkels, dreier wunderlicher Gestalten. Cazotte, ein Mitschüler des Neffen, mit ihm im Jesuitenkolleg zu Dijon erzogen und selbst eine der sonderbarsten Figuren in der literarischen Welt des 18. Jahrhunderts, hat seinerseits dem Neffen ein Denkmal in seiner „Nouvelle Rameide" gesetzt; darin skizzierte er das Porträt dieses Musicus mit Humor und einiger Wärme. Wir erfahren das erbauliche Ende dieses phantastischen Talentes, nämlich wie der Neffe in eine religiöse Anstalt kam und sich schließlich „die Herzen seiner Wärter eroberte" . . . — Von Cazottes Erzählungen und Romanen, seinen Spuk- und Teufelsgeschichten führt ein Weg zu Ε . T. A. Hoffmanns grotesker und genialischer Phantasiewelt. 4. Das klassische Theater Frankreichs kannte als „Großes Theater" nur die Gattungen des Tragischen und Komischen, wobei die „Tragedie" dominierte, hätte es nicht Moli£re gegeben. Das Tragi-Komische hatte zwar als Gattung (tragicocomoedia) wie als Lebensgesetz immer Gültigkeit gehabt, aber hatte sich aufgespalten: Racine wurde zum Muster der tragischen, ΜοΙϊέΓβ zum Archetyp der heiteren Bühnendichtung. Das 18. Jahrhundert erlebte den Niedergang der Tragödie, obgleich Voltaire, der Verteidiger der klassischen dramatischen Doktrin, gerade der Tragödiendichtung, ohne daß er die Technik und Struktur der dramatischen Komposition veränderte, eine neue Politur gab und sie mit neuen Sinngehalten erfüllte. Mit der Comddie ging es etwas weniger schnell bergab. Aus dem Reiditum der Moli£reschen Komödiendichtung konnten noch Generationen von Lustspieldichtern schöpfen. Von Marivaux bis Beaumarchais verläuft eine Linie, die Frankreichs Komödienliteratur nach ΜοΙϊέΓβ zu einer zweiten Stufe der Weltgültigkeit erhoben hat. Zugleich können wir an der Com£die, ihrer Thematik und ihrem Tenor, den Wan-

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del des Geschmacks beobachten und sehen in der Bildwelt des Theaters auch den Wandel des Publikums und der Gesellschaft, an die sich das Theater richtet. Diderot war auf dem Wege, ein neues Theater zu schaffen. Er war nicht der erste und einzige, der erkannte, daß die geweihten Gattungen der Tragödie und Komödie erschöpft waren oder neue Bahnen einschlagen mußten. Zwar singt er noch das Lob der klassischen Tragέdie im „Paradoxe sur le Comedien", rät den jungen Autoren, den klassischen Geschmack nicht aufzugeben (Avis a un jeune Poete qui se proposait de faire une Tragedie), suggeriert als Themen hocharistokratische Stücke um die Princesse de Portugal, den Prince de Conde, einen Coriolan... aber in Wirklichkeit schuf Diderot selbst eine neue Gattung daramatischer Dichtungen, nämlich differenzierte Kompositionen im Zwischenreich der comedie und tragedie (Le fils naturel), des genre serieux und der comidie (Le p£re de famille), und des genre serieux und der tragedie (ein „drame", das er plante, aber nicht geschrieben hat). Die Abstufungen der dramatischen Produktionen in den Zwischenlagen verwischen sich. Es bleibt der Versuch, ein „Drama" zu kreieren, ds sich zwischen den Extremen der reinen Komödie und der reinen Tragödie bewegt. Goethe hat in „Dichtung und Wahrheit" ein Bild des französischen Theaters jener Jahre gezeichnet, da Diderot seine „Musterstücke" vom „Fils naturel" und „ΡέΓβ de famille" komponierte. Es war im Jahre 1760, als der Elfjährige in der damals von den Franzosen besetzten Heimatstadt Frankfurt einigen Aufführungen französischer Schauspielertruppen beiwohnte und mit den gleichaltrigen Kindern der Truppe Freundschaft Schloß. Er erzählt, wie er den Racine zur H a n d genommen und daraus deklamiert habe, wie er sich so mancher Lustspiele erinnerte, so mancher charakteristischer Figuren aus den Verskomödien von Destouches, Marivaux, La Chaussee und Moliere. Er erwähnt die kuriosen Mißstände der damaligen Aufführungen und gedenkt Voltaires und seiner Bestrebungen, die Szene vom Publikum zu befreien; denn damaliger Sitte entsprechend saßen Zuschauer auf der Bühne, hinderten die Schauspieler an der Entfaltung des Spiels, ja machten die Aufführung ganzer Szenen unmöglich. Dabei fiel ihm Diderots Grundsatz ein, „die natürlichste Natürlichkeit auf der Bühne zu fordern". Zu seinen ersten theatralischen Kindheitseindrücken gehört Diderots „Hausvater". Es war zur Zeit, da Lessing, 1760, Diderots „Fils naturel" und den „ΡέΓβ de famille" ins Deutsche übertrug. Lessings Begeisterung f ü r Diderot

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war für seine eigene dramaturgische Entwicklung von Bedeutung. Noch 20 Jahre später bekannte er im Vorwort zur 2. Auflage seiner Übersetzung von Diderots Theater, daß der Franzose „an der Bildung meines Geschmacks so großen Anteil hat . . . denn es mag mit diesem (Geschmack) auch beschaffen sein wie es will: so bin ich mir doch zu wohl bewußt, daß er ohne Diderots Muster und Lehren eine ganz andere Richtung würde bekommen haben. Vielleicht eine eigenere, aber doch schwerlich eine, mit der am Ende mein Verstand zufriedener gewesen wäre."

Wir erfahren aus dem Briefwechsel Diderots mit Sophie Volland, daß Diderot seinerseits beabsichtigte, Lessings „Miss Sarah Sampson", wahrscheinlich mit Hilfe Grimms ins Französische zu übersetzen. Indessen blieb der Plan unausgeführt, und nur ein Entwurf der Vorrede wurde skizziert. Lessing hingegen machte sich außer den Dramen an die Übersetzung einiger Stücke von Diderots dramentheoretischen Abhandlungen. Den Verfasser der „Hamburgischen Dramaturgie" mußte es interessieren, was ein so origineller Kopf wie Diderot von der neuen Gattung des Dramas und „aller ihr untergeordneten Künste der Deklamation, der Pantomime, des Tanzes" geschrieben, und welche „neuen Pfade durch unbekannte Gegenden" er gezeigt hat. Die Zitate stehen bei Lessing. Dabei kam er zu zwei bemerkenswerten Urteilen, „daß sich, nach dem Aristoteles, kein philosophischerer Geist mit dem Theater abgegeben hat, als e r " ; und: „Diderot scheint überhaupt auf das deutsche Theater weit mehr Einfluß gehabt zu haben, als auf das Theater seines eigenen Volkes". Kehren wir nach dieser Abschweifung zu Goethe zurück. E r hat in „Dichtung und Wahrheit" die allgemeinen Tendenzen der damaligen Bühnendichtung und den Geschmack des Publikums hübsch geschildert. Man beobachte dabei Goethes Sinn für die Zusammenhänge von künstlerischem Geschmack und den gesellschaftlichen Veränderungen der Zeiten, und überhaupt seinen Blick für die europäischen Verhältnisse: „Sdion die Richardsonschen Romane hatten die bürgerlidie Welt auf eine zartere Sittlichkeit aufmerksam gemacht. Die strengen und unausbleiblichen Folgen eines weiblichen Fehltritts waren in der „Clarissa" auf eine grausame Weise zergliedert. Lessings .Miss Sarah Samson' behandelte dasselbe Thema. Nun ließ ,Der Kaufmann von London' einen verführten Jüngling in der schrecklichsten Lage sehen. Die französischen Dramen hatten denselben Zweck, verfuhren aber mäßiger und wußten durch Vermittlung am Ende zu gefallen. Diderots Hausvater, der Ehrliche Verbrecher, der Essighändler, der Philosophe ohne es zu wissen, Eugenie und mehr dergleichen Werke, waren dem ehrbaren Bürger- und Familiensinn gemäß, der immer mehr obzuwalten anfing. Bei uns gingen der Dankbare Sohn, der Deserteur aus Kindesliebe und

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ihre Sippschaft denselben Weg. Der Minister, Klementine und die übrigen Geblersdien Stücke, der deutsche Hausvater von Gemmingen, alle brachten den Wert des mittleren, ja des unteren Standes zu einer gemütlichen Anschauung und entzückten das große Publikum." Das englische Stück von Lillo, auf das Goethe anspielt: der „Kaufmann von London", wurde 1748 ins Französische übersetzt. Diderot folgte dem bürgerlichen Geschmack des Theaterpublikums. Er schuf die tragedie domestique et bourgeoise: Stücke für den Geschmack der moyenne bourgeoisie, in denen nicht mehr Könige, Fürsten, Kaiser in Szene gesetzt wurden, auch nicht mehr die Schicksale von Weltreichen, große Gemälde der grandeur et dέcadence des empires unser Interesse erregen sollten, sondern das Interesse der hochgekommenen neuen Klassengesellschaft wandte sich der bürgerlichen Schicht zu, mochte der Bürger ein ehrbarer Hausvater, ein Richter, Kaufmann oder Beamter sein. Es war natürlich, daß Diderot diese neue Gesellschaft nicht mehr in Alexandrinern, sondern in Prosa sprechen, lachen, weinen und deklamieren ließ. Er verbannte Mythen und Sagen des klassischen Altertums von der Bühne und setzte an ihre Stelle Gesellschaftsprobleme der bürgerlichen Gegenwart. Will man ein Beispiel, genügt der Inhalt des „P£re de famille", Com6die en cinq actes et en prose, 1758, aufgeführt 1761: Saint-Albin, der Sohn des alten d'Ormesson, liebt mit aller Herzensleidenschaft das arme Mädchen Sophie. Es hat weder Geburt noch Stand — wie man das damals bezeichnete —, aber ist schön und tugendhaft wie ein Engel. Der Sohn muß aus Standesrücksichten seine Neigung dem Vater gegenüber verheimlichen. Als dieser dennoch von den Besuchen seines Sohnes bei Sophie erfährt, setzt er alles daran, um die Verbindung zu verhindern. — SaintAlbin hat eine Schwester Cicile. Sie liebt den in des Vaters Hause lebenden jungen Germeuil, den auch der Vater mit Liebe und Wohlwollen betrachtet. Aber die Ruhe und frühere Eintracht des Familienlebens wird durch die Anwesenheit des alten Kommandeurs d'Auvili, eines Stiefbruders von d'Ormesson, gestört. Er beschließt, die unschuldige Sophie gefangen zu setzen, um so die Ehe zwischen ihr und Saint-Albin zu verhindern. Er bedient sich des armen Germeuil, dem er für derlei Dienste Οέοϊΐε und seine Erbschaft verspricht. — Cecile aber versteckt die verfolgte Sophie, bis am Ende der Zuschauer erfährt, daß Sophie garnicht das arme, unstandesgemäße Mädchen ist, sondern niemand anderes als die eigene Nichte des Kommandeurs. Der kunstvoll geschürzte dramatische Knoten löst sich. Die Kinder finden den Weg zu ihrem Vater, der sich ihnen durch sein Verhalten entfremdet hat, zurück. Die liebenden Paare, deren jedes nunmehr den Weg zum ehelichen Bunde schreiten kann, werden von der Hand des glücklichen Vaters gesegnet. Das Drama ist als Bühnenstück weder für eine Aufführung noch für die Lektüre heute von irgendeinem Interesse. Interessant ist es nur als

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Beispiel von Dutzenden solcher Stücke, in denen sich die Gesellschaft der Zeit spiegelt: ihre Rührseligkeit und moralische Verworfenheit, die Grausamkeit der sozialen Verhältnisse und die Scheinharmonie gesicherter bürgerlicher Existenz in der Muffigkeit bourgeoiser Atmosphäre; vorzüglich interessant sind in den Stücken der folgenden zwei Jahrzehnte die philosophischen, pädagogischen, religiösen, sozialen und politischen Sentenzen und Tendenzen, welche auf der sozialen Waagschale zugunsten des tiers dtat mehr und mehr an Gewicht und Überzeugungskraft gewinnen. Der Realismus des bürgerlichen Schauspiels war weniger der psychologische Realismus der Klassiker, also ein gewissermaßen zeitlos gültiger, der zum Typologischen tendierte, sondern der neue Realismus war zeitgebunden und sozialer Art; denn er versuchte aufzu weisen, wie die soziale Umgebung zu den Modifikationen der Typen führt. Ein Kaufmann hat andere Sorgen als ein Richter, und die Welt des Offiziers ist durch andere Faktoren bestimmt als die eines Gelehrten, eines Künstlers, eines Handwerkers. Die Menschen stehen in bestimmten Situationen, die über die Charaktere entscheiden: „C'est aux situations k decider des caract£res", heißt es darum bei Diderot in der „Poisie dramatique" (8. Kapitel). Es ist das Problem, das etwa einen Sartre für sein existenzialistisdies Drama interessierte: An und in den Situationen offenbaren sich die Charaktere: „Wenn der Mensdi in einer gegebenen Situation wirklich frei ist", heißt es bei Sartre, „und er sich in einer gegebenen Situation frei wählt und sidi in und durch solche Situation wählt, dann muß man auf dem Theater einfache und menschliche Situationen wählen " Und audi das klingt an Diderots Forderung an: „Das Theater war ehemals Charaktertheater: Der Autor stellte mehr oder weniger komplexe Personen auf die Bühne, aber ganzheitliche Menschen, und die Situation hatte keine andere Rolle, als eben diese Charaktere in Konflikt zu bringen und zu zeigen, wie jeder von ihnen durch die Handlung der andern modifiziert wurde . . ( S a r t r e par lui-meme, Paris 1955)

Wir vermeinen, Diderot zu hören, der im Kapitel 13 seine „Art dramatique" schrieb: „Die Charaktere werden deutlicher erfaßt, wenn und je mehr die Situationen verwirrend und beängstigend werden . . . Eure Situationen sollen stark s e i n . . . Der wirklidie Kontrast besteht zwischen den Charakteren und den Situationen . .

Natürlich hat das „Situationsdrama" bei Diderot noch nicht den Sinn, den es durch das Medium der Existenzphilosophie bei Sartre bekommen sollte. Diderot wäre es nicht eingefallen, wie Sartre zu schreiben:

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„ . . . diaque situation est une souriciäre" — und eine Mausefalle hat keine „Ausgänge" — „des murs partout" (Situations II). Das 18. Jahrhundert ist nicht das 20. Aber das 20. Jahrhundert entwickelte sich aus dem 18.; und Diderots dramatische Theorien, auf vielerlei Weisen, in kleinen und großen Arbeiten vorgetragen, enthalten lebendige Keime zukünftigen Lebens. Seine eigenen Stücke stehen heute ungelesen auf den Regalen, aber wurden wirksam, weil das Problematische in ihnen in ständiger Diskussion geblieben ist. Man lese einmal die 22 Kapitel seiner Poesie dramatique — eine zwar diffuse Abhandlung; aber liegt nicht ihr Reiz gerade in der Lockerkeit des „4 propos", in den Abschweifungen, aus denen sich gleichwohl thematische Gruppen herausbilden? Diderot spricht von den dramatischen Gattungen, den Aufbauelementen eines Stückes, den Charakteren und Situationen, er spricht von den Bühnenbildern, den Kostümen, der Schauspielerarbeit, er spricht von der Stellung und der Bedeutung des Theaters im öffentlichen Leben und unter den verschiedenen Regierungsformen; er sagt sein Wort zur Soziologie der Bühnendichtung. Und dahinein mischt er Betrachtungen philosophischer, moralischer Art, skizziert Entwürfe von Stücken, redet über Pathos und Sentimentalität, beleuchtet die Stellung der Moderne zum antiken Theater, wobei seine Verehrung der griechischen Leistung und des Terenz im besonderen immer wieder durchbricht. Er unterscheidet das merveilleux vom miraculeux, vergleicht die literarischen Gattungen Roman und Drama miteinander, nimmt das Problem von Malerei und Dichtung auf, urteilt über Vers und Prosa in den Bühnenstücken, über den Zwang des Regelwerks und die Freiheit des schöpferischen Genies. Unter all den Themen und Themengruppen hat er einem Problem seine besondere Aufmerksamkeit geschenkt und ihm eine eigene Abhandlung gewidmet: der Frage: Was ist ein Schauspieler und wie soll er sein? Er hat die Frage paradox beantwortet, d. h. entgegen der allgemeinen Meinung, die sich gemeinhin das Publikum vom Schauspieler und seiner Arbeit macht, aber audi als paradox zu dem, was man sich von einem Philosophen der Sensibilität — irrtümlicherweise — erwarten sollte. Der Grundgedanke, auf den sich die Kurven seiner abschweifenden Argumente immer wieder zurückbiegen, heißt: Die große Schauspielkunst ist eine Kunst der Berechnung und eines intellektuellen Kalküls; sie wird nicht mit dem Herzen oder der Sensibilität gemeistert. „Ich will in dem Schauspieler viel Urteilskraft und brauche in ihm einen kalten und ruhigen Zuschauer. Ich verlange von ihm keinerlei Sensibilität, vielmehr

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die Kraft der Penetration, die Kunst, alles nachzuahmen oder, was auf dasselbe hinausläuft, eine gleichmäßige Eignung für jedweden Charakter und jedwede Rolle." (Paradoxe sur le Comidien)

Spielte der Schauspieler nur nach dem Gesetz seiner jeweiligen Empfindsamkeit, dann wäre er, seiner Stimmung gemäß, bei jeder Aufführung anders. Vollkommenheit erreicht er nur in der Nachahmung eines großen idealen Modells. Was also beim Schauspieler natürlich wirkt, ist studiert und gemacht . . . die Schreie einer Mutter, die Tränen einer Geliebten . . . all das ist erlernbar als ein Teil eines umfassenden Systems schauspielerischer Deklamation. „ . . . ist die Stimme nur um ein Zwanzigstel eines Vierteltones nach oben oder unten gestimmt, ist der Ton sdion falsch. Er muß hundertmal geübt werden . . . vor einem S p i e g e l . . ( i b . )

Auf dem Theater herrscht eine eigene Ton-Sprache. Der Schauspieler muß anders sprechen, wenn er auf der Bühne steht, anders, wenn er in Gesellschaft oder unter Freunden ist: „Glauben Sie wirklich, daß die Szenen bei Corneille, Racine, Voltaire, selbst bei Shakespeare, in einem gewöhnlichen Konversationston gesprochen werden können so wie daheim am trauten Kamin? . . . Kleopatra, Merope, Agrippina, Cinna oder wer sonst sind auf dem Theater imaginäre Phantome der Dichtung . . . de spectres de la fajon particuli^re de tel ou tel poete."

Diese Theaterfiguren würden sich in der Wirklichkeit lächerlich ausnehmen; hörte man ihre Diktion im Alltag der Gesellschaft, würde alles in schallendes Gelächter ausbrechen: „Quelle est la p l a n t e oü Ton parle ainsi!" Was aber heißt dann „wahr sein" auf der Bühne? Heißt es, die Dinge und Menschen so zu zeigen, wie sie in der Natur sind? Keineswegs. Was ist dann das „vrai de la sc£ne"? Es ist die „ c o n f o r m ^ des actions, des discours, de la figure, de la voix, du mouvement, du geste, avec un modJle idial imaging par le ροέΐβ, et souvent exageri par le comedien". (ib.) Die Welt des Theaters ist also eine eigene Welt mit eigenen Gesetzen, eigener Sprache, auch eigenen Sitten — eine Art Uberwelt, in der andere Regeln herrschen als in der gesellschaftlichen. Das erklärt, warum einem Diderot diese oder jene Schauspieler zuweilen zwiefach erschienen. „Als ich Mademoiselle Clairon das erste Mal zu Hause antraf, rief ich aus: Ach, Mademoiselle, ich glaubte, Sie wären einen Kopf größer!"

Diderot war selbst eine zeitlang mit dem Gedanken umgegangen, Schauspieler zu werden. Unter den Großen, deren Kunst es ihm angetan

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hat, nennt er den Engländer Garrick, den Shakespeareinterpreten. W ä h rend des Winters 1764/65 w a r Garrick 6 Monate in Paris und ist mit Diderot zusammengetroffen. Der tiefe Eindruck, den Diderot von Garrick empfangen hat, klingt nodi in dem „Paradoxe sur le Com^dien" nach. Er schrieb dieses kuriose Werk 1773, arbeitete es 1778 noch einmal durch; veröffentlicht wurde es erst 1830, dem J a h r der „Bataille d'Hernani". Diderot konnte kein suggestiveres Lob von Garricks Schauspielkunst sagen als dieses: „.. . dieser berühmte Mann, dessen Spiel zu sehen sich eine Reise nach England ebenso lohnte wie eine Italienreise, um die Trümmer Roms zu betrachten."

So sehr Diderot sonst die Duclos, die Dumesnil, die Clairon, QuinaultDufresne, Le Kain, Baron, den Engländer Macklin und die Riccobonis geschätzt hat, Garrick ist das große Modell für Diderots Idealbild des Schauspielers geblieben. An ihm mochte er den Tatbestand finden: Der Schauspieler spielt, der Zuschauer leidet. Er spricht Garrick an: „Hast du mir nicht gesagt, daß trotz deiner starken inneren Anteilnahme an der Aktion dein Spiel schwach wäre — welche Leidenschaft und welchen Charakter du audi immer darzustellen hättest —, wenn es dir nicht gelänge, dich durch den Gedanken zu der Größe eines homerischen Phantoms, mit dem du dich zu identifizieren suchtest, zu erheben? Als ich dir entgegenhielt, daß du dir also nicht selbst Modell warst, gestehe deine A n t w o r t : Hast du mir nicht eingestanden, daß du dich wohl davor hütetest, und daß du auf der Bühne nur deswegen so erstaunlich warst, weil du konsequent beim A u f t r i t t immer nur ein imaginäres Wesen darstelltest, das nicht du warst?"

U n d kurz danach: „Ein großer Schauspieler ist kein Clavecin, keine Harfe, kein Pianoforte, keine Geige, kein Violoncello; er hat keinen eigenen A k k o r d ; aber er ergreift den A k k o r d und den Ton, der jeweils zu seiner Rolle paßt, und er weiß sich allen Rollen anzuschmiegen. Idi habe eine hohe Idee vom Talent eines großen Schauspielers. Das ist ein seltener Mensch, ebenso selten, und vielleicht noch seltener als ein großer Dichter."

Die vielleicht seltsam erscheinende Klassifikation der 3 Diderotschen Modelle findet hier ihre Erklärung: „Mon ami, il y a trois mod£les: l'homme de la nature, l'homme du poete, l'homme de Facteur." Diderots Ruhm und Leistung w a r die Herausgabe der Encyclopedic, ou Dictionnaire raisonnee des Arts, des Sciences et des Metiers. Das Unternehmen k a m durch Anregung von außen zustande. 1732 w a r in Dublin die Cyclopaedia, or universel dictionary of arts and sciences von Ephraim Chambers mit Erfolg veröffentlicht worden. Das Werk wurde

Die vier Wegbereiter der modernen Zeit

339

im Journal des Savants lobend besprochen. Der Buchhändler Le Breton wandte sich an Diderot und wollte ihm die Leitung einer französischen Ausgabe anvertrauen. Das war 1746. Diderot war fast noch unbekannt. Er hatte damals gerade Shaftesbury übersetzt, die Pensees philosophiqu.es geschrieben und das Wörterbuch der Medizin von James übertragen. Er griff die neue Aufgabe mit Begeisterung an. Der Boden für eine Enzyklopädie großen Stils war in Frankreich vorbereitet. Die Nation besaß nicht nur das lexikographische Werk der Acadέmie Franjaise, die Wörterbücher Fureti£res, Richelets und Trevoux', sondern Thomas Corneille hatte auch ein Dictionnaire des Arts et des Sciences veröffentlicht, dessen 3. Auflage von Fontenelle durchgesehen und auf die Gebiete der Mathematik und Physik erweitert worden war. Savary Desbroulons, Generalinspektor der Manufakturen, schrieb eine Dictionnaire universel de commerce, d'histoire naturelle, d'arts et metiers. Der Abbe Noel Chomel publizierte ein Dictionnaire economique. Savarien arbeitete am Dictionnaire universel de mathematique et de physique, und Ferriere brachte schon 1740 das Dictionnaire de Droit et de Pratique heraus. Andere Nachschlagewerke über Medizin, Chemie, Pharmakologie, Militärwissenschaft und Landwirtschaft ergänzen das Bild. Der enzyklopädische Gedanke war also nicht neu. Seine Geschichte geht auf die Spätantike zurück, da Plinius seine 37-bändige Historia naturalis schrieb. Der Gedanke verwirklichte sich auf eigene Art in den Summen des theologisch bestimmten Mittelalters. Dann erhielt mit dem Einbruch der Neuzeit im 17. Jahrhundert der enzyklopädische Gedanke neue Impulse. Zum l . M a l taucht der Name als Haupttitel 1630 in den 7 Großbände umfassenden Werk von Johann Heinrich Aisted auf. Aber erst mit der Diderotschen Enzyklopädie bekamen die Werke dieser Art ihr modernes Profil: die alphabetische Anordnung statt der Gliederung nach Stoffgebieten. Der Gedanke machte in ganz Europa Schule. Es seien nur die Encyclopedia Britannica (1768—1771) und das deutsche Conversations-Lexikon von 1796—1808 erwähnt. Ihnen schlossen sich im 19. und 20. Jahrhundert fast alle Kulturnationen der Welt an. Aus Diderots Prospectus (1750) und D'Alemberts berühmtem Discours preliminaire (1751) erfahren wir alles Wissenswerte über die leitenden Ideen des Unternehmens: „Das Werk", schreibt D'Alembert, „das wir beginnen und zu Ende zu führen wünschen, hat einen doppelten Zweck: als Enzyklopädie soll es, soweit möglich, die Ordnung und Verkettung der menschlichen Kenntnisse darlegen;

22»

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Im Liebte der

Aufklärung

als Sachwörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe soll es von jeder Wissenschaft und Kunst — gehöre sie zu den freien oder mechanischen — die allgemeinen Grundsätze enthalten, auf denen sie beruhen, und die wesentlichen Besonderheiten, die ihren Umfang und Inhalt ausmachen."

Ohne den philosophischen und wissenschaftsorganisatorischen Geist Diderots, ohne den geschäftstüchtigen Unternehmergeist der Buchhändler, ohne den Einfluß der Salons und der Frauenwelt, der Madame Du Deffand und der Madame GeofFrin, und ohne die indirekte Mittäterschaft der öffentlichen Meinung wäre dieses großartigste Kollektivunternehmen des 18. Jahrhunderts nicht zustande gekommen. Es entstand in der sich verdichtenden Atmosphäre der Aufklärungsphilosophie — „la philosophie qui forme le goüt dominant de notre βΐέΰΐβ", wie es D'Alembert im Discours pr^liminaire versteht. Das Werk hat als Ganzes ein ebenso geistesgesdhichtlidies wie finanztechnisches und soziologisches Interesse — ganz abgesehen von allem, was es an Interessantem in der Geschichte seiner Nachwirkung der Methode eines ersten umfassenden Teamwork-Unternehmens vor allem in dem sensationellen Verlauf seiner Entstehung und Vollendung darbietet. Diderots erste Sorge galt der Zusammenstellung der Mitarbeiter für die einzelnen Sachgebiete: Philosophie, Wirtschaft, Politik, Geschichte, Naturwissenschaften, Astronomie, Mathematik, Literatur, Architektur, bildende Künste, Theologie, Heerwesen, Marine, aber auch für Technik und Maschinenwesen, Fabrikationsmethoden und Kunsthandwerk... all das, was einen Blick in die Werkstätten der materiellen Kultur ermöglicht. Erfolgverheißender konnte die erste Liste mit Namen wie Voltaire, Montesquieu, Buffon, D'Alembert u. a. nicht aussehen. Diderot weckt überall Kräfte und regt zu tätigem Mitwirken an. Aber gleich zu Beginn geschieht etwas Aufregendes: Diderot wird wegen seiner schlüpfrigen Bijoux indiscrets und seiner Pensees philosophiques am 24. Juli 1749 verhaftet. Die Verleger erreichen erst seine Freilassung, als er verspricht, weiser und seriöser zu werden. Am 1. Juli 1751 erscheint der 1. Band. Er ist dem Minister d'Argenson gewidmet. Von den Philosophen begrüßt, wird das Werk alsbald von den Jesuiten und Jansenisten angegriffen, und der Conseil d'Etat untersagt den Verkauf und beschlagnahmt den 1. und den gerade erschienenen 2. Band. Aber Diderots Freunde sind einflußreich: Malesherbes hat den Mut, die Manuskripte des 3. Bandes in seinem Haus zu verstecken, während bei den Druckern Haussuchungen gehalten werden. Madame de Pompadour unter-

Die vier Wegbereiter der modernen Zeit

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stützt die Fortsetzung des Werkes. Dank der umsichtigen Hilfsbereitschaft Malesherbes' erscheint nun von 1753—1757 Jahr um Jahr ein neuer Band (III—VII). Der Mitarbeiterstab hat sich vergrößert. Er bildet eine philosophische Phalanx, die sich sogar die Tore der Acadimie öffnet und diese Körperschaft zu helfenden Freunden gewinnt. Aber mit dem Erscheinen des 7. Bandes bricht das Unheil herein. Friron verdoppelt seine Angriffe, Palissot schreibt seine „Petites Lettres sur de grands Philosophes", Chaumeix die „Prejttges legitimes contre l'Encyclopedie" und Moreau die berüchtigten und berühmten „Cacouacs". D'Alembert zieht sich zurück. Der Artikel „Θβηένβ", von dem wir im Voltaire-Kapitel sprachen, führte zu dem endgültigen Bruch zwischen Voltaire und Rousseau, und am 3. September 1759 spricht Papst Clemens VII. die damnatio et prohibitio aus. Aber die Subskribenten verzichten auf die gerichtlich festgelegte Rückerstattung von je 72 Pfund. Indessen wird auch Diderot vorsichtig: Er vermeidet jede Einmischung in die damals entbrennenden Prozesse Voltaires in Sachen Calas und Sirven. Jedoch wird unter heimlicher Zustimmung des neuen Polizeileutnants M. de Sardine der Druck der Texte wieder aufgenommen. Die glückliche Wendung erfolgt, als 1762 der Jesuitenorden in Frankreich unterdrückt wird. Voltaire gewinnt die erwähnten Prozesse. Das Klima ändert sich. Die Enzyklopädie darf wieder erscheinen. Es gelingt durch geschickte Manöver, Ludwig XV. und die D u Barry von der Nützlichkeit des Werkes zu überzeugen. Das Endergebnis sind 17 Bände Text und 11 Bände Tafeln, deren letzte 1772 erscheint. Damit ist ein Werk beendet, das in der Entwicklung der Geistesgeschichte eine neue Periode einleitet. Es hat, um nodi einmal mit Goethes Worten zu sprechen, seinen Anteil an „jenen ungeheuren Weltveränderungen", die wenige Jahre später mit dem Ausbruch der Revolution sichtbar werden sollten. (Dichtung und Wahrheit III, 11)

K A P I T E L III

Das Ende des Ancien Regime Die „ungeheuren Weltveränderungen " ließen nicht lange auf sich warten. Hellsichtigen Köpfen war längst eine Ahnung des Kommenden aufgegangen. Man lese in Melchior Grimms „Correspondance litteraire, einem Kulturspiegel der Epoche des endenden Ancien Regime, und man wird eine Vorstellung von dem unaufhaltsamen Vorwärtsdrängen einer Zeit und Generation gewinnen, die von den sozialen Ideen der „libertas americana", von der faszinierenden Entwicklung der Naturwissenschaften und von den Freiheits- und Menschheitsideen der Aufklärungsphilosophie bestimmt wurden. Will man unter den Kulturerscheinungen dieser zweiten Hälfte des Jahrhunderts nur ein einziges, aber eindrucksvolles Beispiel des Wandels, so verfolge man den Prozeß der Zeitgenossen um das klassische französische Theater. Er begann bereits im 17. Jahrhundert mit dem Doppelangriff der Jansenisten und der Staatskirche, also mit Nicole und Bossuet, gegen Corneille, Racine und MoliJre, wurde mitten im 18. Jahrhundert von J . - J . Rousseau unter Ausspielung nicht etwa kirchlicher, sondern sozialer Motive im Hinblick auf eine demokratische Volksbühne weitergeführt und nahm schließlich eine politische Wendung mit einigen Theorien und Bühnenwerken von Beaumarchais und Louis-Sebastien Mercier. Beide stützten sidi auf Diderot und leiteten die Thematik in ein sozialpolitisches Fahrwasser. Solches Theater war nicht ohne Wirkung auf das Selbstverständnis des Tiers-Etat, wie umgekehrt das sich bildende Bewußtsein des „Dritten Standes" ein solches bürgerliches Theater erst ermöglichte. Aus Beaumarchais' „Essai sur le Genre dramatique serieux" (1767), der 10 Jahre nach Diderots „Entretiens avec Dorval" geschrieben war, seien zwei Gedanken hervorgehoben, die sich aus einigen dramatischen Prinzipien Diderots herleiten und sich zu den sozialen Anschauungen Merciers fortentwickelten. 1. „Bei den Tragödien der Alten ergreift midi ungewollt ein Unwille gegen deren grausame Götter, die ein unschuldiges Opfer mit Leid überhäufen, ödipus, Jokaste, Phädra, Ariadne, Philoktet und so viele andere bereiten mir

Das Ende des Ändert Regime

343

weniger Interesse als daß sie mir einen Schauder verursachen . . . In ihren Dramen ist alles ungeheuerlich: zügellos die Leidenschaften, fürchterlich die Verbrechen — unerhört für unsere Sitten. Man watet durch Ströme von Blut über Ruinen, über Leichenhaufen hinweg der Vernichtung durch Totschlag, Gift, Blutschande oder Vatermord entgegen . . . Wollte man eine sittliche Lehre aus derlei Schauspielen ziehen, wäre sie schrecklich . . . Jedweder Glaube an das Fatum degradiert den Menschen, indem er ihm die Freiheit nimmt, außerhalb welcher es keine Moral in des Menschen Handlungen gibt." 2. „Wenn das Theater das getreue Bild dessen ist, was in der Welt vorgeht, dann hat das dadurch in uns erregte Interesse also einen notwendigen Bezug zu der uns eigenen Art, die Wirklichkeit anzuschauen."

Das Mitleiden mit den leidenden Menschen ist ein echtes, tiefes Gefühl, daß uns die Könige erst in ihrem Unglück menschlich nahe bringt. „Das echte Herzensanliegen ist immer eine Relation von Mensdi zu Mensch und nicht von einem Menschen zu einem König . . . Was sollen mir, der ich ein friedlicher Untertan eines monarchischen Staates des 18. Jahrhunderts bin, die Revolution von Athen und Rom? Was für ein Interesse kann idi ernstlich an dem T o d eines peloponnesischen Tyrannen nehmen, oder an dem O p f e r einer jungen Prinzessin in Aulis?"

So führt Beaumarchais die Tradition des „genre s£rieux" von Diderot mit dessen moralisierend-bürgerlichen Tendenz weiter und leitet den Strom in das Bett einer sozialisierend-politischen Dramaturgie. Schon sechs Jahre nach Diderot weist Mercier, ein wirklicher Avantgardist, kühn, rebellisch, originell, in die neue Richtung. Sein „Jean Hennuyer, Eveque de Lisieux" (1772), der zur 200. Wiederkehr der Bartholomäus-Nadit erschien — „l'action se passe le 27 aoüt 1572" —, ist künstlerisch beurteilt gewiß kein Meisterwerk; aber die große Szene (Akt III, Szene 3) zwischen dem kgl. Leutnant, der dem Bischof von Lisieux den Befehl Karls I X . zur Niedermetzelung der dortigen Hugenotten überbringt, und dem Bischof, der sich aus christlichem Gewissen und humanitärer Gesinnung weigert, den Befehl auszuführen, enthüllt im Bilde vergangener religiöser und politischer Greuel die typischen Verhaltensweisen zweier Charaktere, wie sie sich in jedem Augenblick der Geschichte wiederholen können und bis in die jüngste Vergangenheit wiederholt haben: D e r Bischof zum Leutnant: „Man muß nicht tiefsinnig raisonnieren, um zu fühlen, daß man erst Mensch und Christ ist, bevor man Untertan ist; daß der Monarch, ein vergängliches Wesen, nicht das Vaterland ist; daß es Grenzen gibt, welche die königliche Macht nicht überschreiten darf, sonst wäre der Untertan nichts als ein niedriges Instrument der Knechtschaft; daß schließlich von Ewigkeit her die Tugend im Herzen der Menschen wohnt, um ihm anzuzeigen, wann er gehorchen, und wann er Widerstand leisten muß . . . Die

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Im Lichte der

Aufklärung

Menschheit, glauben Sie mir, hat ihre Rechte, lange bevor das Königtum sie hat. Wer nicht mehr als Mensch spricht, kann auch als König nicht befehlen . . . Ungehorsam wird dann zur P f l i c h t . . . "

D a s ist schon Schiller und nimmt Camus voraus. Mercier w i l l ein durch und durch modernes Theater im Sinne eines Engagements des Dramatikers und als gezielte Information: „Zeigt mir", ruft er den Dramaturgen zu, „was ich bin, entwickelt doch vor meinen Augen, was ich meinen Fähigkeiten entsprechend zu leisten vermag . . . H a b t ihr das bislang getan? Wofür habt ihr gearbeitet? Sind eure Erfolge vom Beifall des Volkes bestätigt worden? Das V o l k weiß vielleicht nicht einmal von eurer Existenz und von euren Arbeiten. W o also ist der Einfluß eurer Kunst auf eure Zeit und eure Landsleute?" (Du Theatre, ou nouvel essai sur l'art dramatique)

Corneille, dessen geniale Dramaturgie Mercier z w a r preist, habe sich leider in der W e l t seiner alten Römer besser ausgekannt als in der seiner Zeitgenossen. Sein Genius sei über den Büchern der A l t e n im Arbeitszimmer gereift; dorthin habe sich der geniale Dichter des „ C i d " mehr und mehr verschlossen: Er kommentierte die „Träumereien seines Aristoteles" (reveries de son A r i s t o t e ) . . . So groß und edel seine Bühnengestalten auch waren, dem V o l k haben sie nichts bedeutet, nichts genützt — sie waren „ z u hoch" — „au-dessus de son si£cle, et peut-etre au-dessus du notre" — und so blieben sie „reine Theatervorstellungen". Übrigens, so bemerkt Mercier an dieser Stelle, existierte das „ V o l k " noch nicht f ü r die Schriftsteller. Mercier aber sieht gerade auf das V o l k , er w i l l zeitgenössisches Theater z u einer Zeit, da moderne Bühnendichtung das Selbstbewußtsein des „dritten Standes" heben kann: „Die griechische Tragödie gehörte den Griechen, und wir, wir sollten es nicht wagen, unser eigenes Theater zu haben . . . ? Verlangen wir denn immer nur Menschen in Purpur auf der Bühne, von Wachen umgeben, und diademgekrönt? . . . Warum sollen wir nicht den Mut haben, der Nation die Tugenden eines obskuren Menschen zu zeigen? und wäre er in der untersten Schicht des Volkes geboren; glaubt mir, er wird, wenn er den rechten, genialen Interpreten findet, in unsern Augen größer erscheinen als die Könige, deren Sprache seit langem unser Ohr langweilt." (ib.)

Mit der sozialen Sinngebung eines modernen Theaters erweiterte Mercier die dramaturgische Thematik: Theater muß vieles sein und vielen Inhalt haben: Sittenbilder jeweiliger

Zeiten —

darin hätten Corneille,

Racine, nicht einmal Moli^re genug getan — ; aus der jeweils aktuellen Bühnendichtung sollen zukünftige Generationen eine Anschauung der V e r -

Das Ende des Artcien Regime

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gangenheit gewinnen. So soll audi aus dem gegenwärtigen Theater eine spätere Zeit eine Vorstellung davon erhalten, was die Gesetzgebung, was die treibenden Kräfte und Laster der Zeit waren, in welchen Formen und Riditungen ihr Denken kreiste, wie die Einstellung der Bürger zu H o f und Thron war, und wie die daraus folgenden Revolutionen entstanden . . . Die Dramatiker müssen gleichsam in das Innere der Häuser leuchten, die wie die Eingeweide des Staatskörpers sind: „ . . . cet int^rieur, qui est k un empire ce que les entrailles sont au corps humain." (ib.) Wir interessierten uns für alle möglichen Metiers, wir läsen in der Enzyklopädie von den interessantesten Fabrikationsmethoden, der Entwicklung der Technik, und sollten uns nicht für die Menschen interessieren, denen wir die Fortschritte verdanken, den Ingenieuren, Handwerkern, Fabrikanten? Statt diese Menschen auf die Bühne zu bringen, erdulden wir noch immer die „Fadheiten unserer Marquis, die offenbar in den Augen der Stückeschreiber die einzige Daseinsberechtigung haben, und die mit all ihrem Geschwätz nicht den hundertsten Teil an Geist besitzen, den ein anständiger Handwerker aufweist", (ib.) Dieser Stand muß zu seinem Selbstverständnis gelangen, damit er an die Stelle des abgelebten Standes des Adels und der Geistlichkeit tritt. Mercier führt uns in seinen Theorien und eigenen Stücken wie etwa der „Brouette du Vinaigrier" ins Zentrum seiner humanitär-bürgerlich-sozialen Anschauungen, in denen sich demokratische Egalitätsprinzipien mit einem handfesten, wirtschaftlichen Bürgersinn verbinden. Größe und Grenzen des Dritten Standes zeichnen sich ab.

Qu 'est-ce que le Tiers-Etat? Großartig ausgreifend, von stilisiert-diktatorischer Gestik getragen, hallt das berühmte Wort des Abb£ Siey£s in die Zukunft des eroberungsfreudigen Bürgertums. So setzte 5ϊεγέ8 das Thema der dreigliedrigen Frage und Antwort wuchtig, unüberhörbar, siegesgewiß an den Anfang der berühmtesten Flugschrift der Französischen Revolution: „Wir haben uns drei Fragen vorzulegen: 1. Was ist der dritte Stand ? Alles. 2. Was ist er bis jetzt in der staatlichen Ordnung gewesen? Nichts. 3. Was verlangt er? Etwas darin zu werden." Die Formulierung steht am Eingang der Broschüre des „Qu'est-ce que le tiers-£tat?" Sieyes hat sie während der Notabein Versammlung vom 6. November bis 8. Dezember 1788 verfaßt; sie erschien im Januar 1789

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Im Lichte der

Aufklärung

und wurde 1796 vom Verfasser überarbeitet und erweitert. Man sollte meinen, Siey^s sei ein großer Rhetor im Stile Ciceros — des „quousque tandem Catalina . . . " , gewesen. Keineswegs. Er trat nach 1789 kaum noch auf die Tribüne, war zurückhaltend, ließ seine Anträge von seinen Parteifreunden vorlesen, arbeitete mehr unterirdisch, was seinen Feind Robespierre dazu veranlaßte, ihn den „Maulwurf der Revolution" zu nennen. Mit knapper Not entging er der Guillotine, nur indem er für den Tod Ludwigs XVI. stimmte. Nach dem Sturz des Konvents wurde er Mitglied des Rates der Fünfhundert und hatte maßgeblichen Anteil an der Bekämpfung der royalistischen Umtriebe. An der Wende des Jahrhunderts war er zusammen mit Bonaparte der große Mann Frankreichs. Mit dem Staatsstreich Bonapartes vom 18.Brumaire (1799) kam sein Verfassungsentwurf vom Jahre VIII zur Geltung: Die neue Verfassung wurde am 15. Dezember 1799 von Bonaparte und Siey^s mit den einleitenden Worten verkündet: „Die Revolution ist beendet." Aber er geriet alsbald in den Schatten des neuen Machthabers und Gewaltmenschen, der sidi immerhin seinem Berater in staats- und verwaltungsrechtlichen Fragen nicht undankbar erwies: Siey£s erhielt von dem späteren Empereur glänzende Dotationen, hohe Auszeichnungen und wurde sogar von Napoleon in den Grafenstand erhoben. Daß er es geschehen ließ, stimmt bei einem Manne, der einst der Todfeind der Adelsklasse war, einigermaßen bedenklich. Trotz aller Ehrungen blieb er ein Gegner des Usurpators, auch als dieser in den „Hundert Tagen" seinen alten Verfassungstheoretiker zum Pair von Frankreich erheben wollte. Aber die Ereignisse liefen schneller. Siey^s wurde nach dem Sturze Napoleons als einstiger Königsmörder verbannt, lebte in Brüssel und kam erst mit der Juli-Revolution von 1830 nach Frankreich zurück. Er durfte mit Genugtuung sehen, daß in der liberalen Verfassung der Juli-Monarchie einige seiner Ideen fruchtbar geworden waren. 1836 starb er mit 88 Jahren. So hatte dieser seltsame Mann, der lange genug diesseits und jenseits der großen Cäsur der europäischen Geschichte gelebt hat, die Entwicklungsphasen des französischen Staats- und Gesellschaftslebens mitbestimmt: angefangen von der großbürgerlichen Revolution und der Schreckensherrschaft (1789—1793) über die ganze napoleonische Ära des Direktoriums, des Konsulats und des Kaiserreichs und seines Niedergangs hinweg bis zur Bourbonenrestauration, der Herrschaft Karls X. und der 2. Revolution von 1830, die das plutokratische Regime des Bürgerkönigs Louis-Philippe begründete. Mit einem Wort: „Alle einzelnen Phasen des

Das Ende des Anden

Regime

347

Übergangs des Staatsführungsprivilegs von der alten, in den Rechtsgewohnheiten der Feudalzeit wurzelnden Aristokratie auf die neue, nunmehr selbstbewußt gewordene soziale Schicht des Großbürgertums". (Eberhard Schmitt, in: Klassiker des politischen Denkens I I . München 1968) Siey^s besiegelte das Ende des Mittelalters, indem er, verfassungsgeschichtlich gesehen, die philosophischen und politischen Ideen des 18. Jahrhunderts, vornehmlich diejenigen Rousseaus, als geistige Fundamente zur Errichtung seiner verschiedenen Verfassungsgebäude kritisch benutzte. Seine Wurzeln liegen im 18. Jahrhundert, dort, wo die Enzyklopädisten gegraben haben, wo sich die Materialisten, Sensualisten, Freigeister ansiedelten; er war ein gründlicher Kenner von Montesquieu, Voltaire, Rousseau; er las die Engländer Bacon und Locke und verkehrte in dem Salon von Herrn und Frau Helv^tius, wo die Freunde so etwas wie die „Etats g6n£raux de l'Esprit f r a n j a i s " bildeten. Die Generalstände. An der Regelung ihres Verhältnisses untereinander und ihrer Stellung zur Nation entzündete sich die Revolution von 1789. Es gab 2 privilegierte Stände: Adel und Geistlichkeit, und es gab ihnen gegenüber den „dritten Stand", zu dem die Majorität des gesamten französischen Volkes gehörte. Siej^s schätzte den Tiers Etat auf 96 %> der Gesamtbevölkerung. Der Prozentsatz lag sogar noch höher, bei 98 °/o. Der Dritte Stand war die Summe der verschiedensten sozialen Kategorien, angefangen von der wohlhabenden Bürgerschicht bis zu der ärmsten Bevölkerung der Städte und des Landes. Das einzige Band, das diese Masse zusammenhielt, war das erniedrigende Gefühl, als „roture" von der Welt der Privilegierten ausgeschlossen, oder, wenn es „hoch" kam, nicht voll genommen zu werden. Man fragt sich auch, ob die ärmste Schicht überhaupt zum Dritten Stand zu rechnen wäre; man sprach bereits von einem vierten Stand der Gesellschaft. Aber die Grenzen zwischen dem „Haut"-Tiers und dem „Gros"-Tiers, d. h. der Bourgeoisie und der Masse der städtischen und ländlichen Bevölkerung waren schwankend. Im 18. Jahrhundert kam die obere Bourgeoisie als der wohlhabende Teil des „Tiers" durch die Entwicklung von Industrie und Handel zu immer größerer Bedeutung. Zu dem Unternehmerstand gehörten Familien wie die Decretot in Louviers, die van Robais in Abbeville, Oberkampf, Reveillon, die Dietrichs in Jouy, Paris, Straßburg; dazu die mächtigen Reeder von Nantes, Bordeaux, Marseille, Le Havre, ferner die Banquiers und F i n a n z l e u t e . . . Dieser Teil des Tiers

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Im Lichte der Aufklärung

Etat gelangte zu stattlichem Reichtum, wovon uns Berichte und Aufzeichnungen genug erhalten sind. Die Fabrikherren waren manchmal audi Mäzene und Förderer der Künste, des Musiklebens, der Wissenschaften, also des geistigen und kulturellen Lebens, das sich in den Salons ihrer Privathäuser oder Schlösser abspielte. Das Großbürgertum war im 18. Jahrhundert der Geldgeber des Königs und der Monarchie. Die jährlichen Zinsen der Staatsschuld beliefen sich 1789 auf mehr als 2 000 000 Pfund. Die breiteste Schidit des Dritten Standes war die mittlere Bourgeoisie: Beamte, Richter, freie Berufe, Ärzte, Notare, Anwälte und höhere Verwaltungsbeamte, die auf Grund ihrer Ausbildung und ihrer beruflichen Praxis eine hervorragende Rolle als Conseillers im Tiers Etat spielen sollten. Dieses mehr oder weniger wohlhabende Bürgertum kaufte Land, was ihm, trotzdem die Bürger zur „roture" gehörten, der Staat nicht verweigerte. Die Geschäftswelt investierte häufig einen Teil ihres Kapitals in Grund und Boden. Der bürgerliche Grundbesitz ballte sich vornehmlich in der Nähe der größeren Städte zusammen. Im Durchschnitt erreichte das aufgekaufte Land ungefähr zwischen 25 und 30 °/o des gesamten f r a n zösischen Staatsgebietes. Die untere Bourgeoisie (la petite bourgeoisie) — das war die Masse der städtischen Bevölkerung — war in Korporationen gegliedert und unterstand einer kollektiven Berufsdisziplin, die sich in den Vorschriften für die Lehrzeit, die Kontrakte zwischen Meistern und Lehrlingen, f ü r die Lehrlingsprüfungen usw. ausdrückte. Oft mag das Solidaritätsgefühl zwischen einem Handwerksmeister und seinen Lehrlingen, zwischen einem Kaufmann und seinen Gehilfen stärker gewesen sein als das korporative Standesbewußtsein einer handwerklich-bürgerlichen Berufsschicht gegenüber der Arbeiterklasse, die ihr dienten. Im übrigen wurde besonders im Baugewerbe, in der Lebensmittelbranche und in einigen handwerklichen Berufen gut verdient. Keineswegs ging es Sieyes etwa in erster Linie um eine soziale oder materielle Hebung des Dritten Standes oder gar um ein sozialisierendes Programm im Sinne des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern um die Klärung der staatsrechtlichen Stellung des Tiers Etat im Rahmen der Nation. Es gab auch schon in den „compagnonnages", also den Genossenschaften, Organe, die in der Auseinandersetzung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern den Streik als Mittel f ü r die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen einsetzten. Der Staat griff gewöhnlich mit harten Maßnah-

Das Ende des Arteten Regime

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men dagegen ein. Die vereinzelten Arbeiterrevolten kann man aber damals noch nicht als Symptome eines sich bildenden Klassenbewußtseins deuten oder werten. Es ging jeweils nur um konkrete Forderungen materieller Verbesserungen der Arbeitsbedingungen. Ein beträchtlicher Teil des Dritten Standes setzte sich aus der Bauernund Landarbeiterschicht zusammen. Statistische Berechnungen haben den Anteil der Landbevölkrung des Staates auf rd. 85 °/o berechnet. Die seßhafte Bauernbevölkerung betrug nur etwa 2 /s der Gesamtbevölkerung, d . h . rd 18 000 000 Menschen. Zur Vervollständigung des Bildes sei bemerkt, daß die Geistlichkeit etwa 10 °/o des Bodens, der Adel 20 % , die Bourgeoisie 25—30 % besaßen. Das also war, in wenigen Strichen skizziert, die Situation des Dritten Standes, zu dessen Sprecher sich der Abbi Siey£s erhob. Was nun zu einer Bewußtseinsbildung des Standes führte, war die überalterte, vernunftwidrige und empörende Anmaßung der zwei andern Stände des Königtums. Der Adel und die Geistlichkeit erfreuten sich als privilegierte Klassen bevorzugter Sonderstellungen und größter Vorrechte: Sie waren von den Steuern befreit, besaßen grundherrschaftliche Rechte auf Abgaben und Leistungen der arbeitenden Bevölkerung und genossen zivilrechtliche, kriminal- und ehrenrechtliche Vergünstigungen (Otto Brandt in der Einleitung zu der deutschen Übersetzung des „Tiers Etat". Klassiker der Politik Bd. IX. Berlin 1924). Vergeblich waren die Bemühungen der sich ablösenden Minister in den 70er Jahren, eines Turgot, eines Necker, eines Calonne, die Vorherrschaft der Privilegierten abzubauen und Frankreich aus der Misere seiner Finanzwirtschaft herauszuholen. Durch den Staatsbankrott vom August 1788 wurden Zehntausende von Beamten und privaten Geschäftsleuten schwerstens getroffen. Die letzte Bastion einer Hoffnung auf gerechte und wirksame Ordnung des Staats- und Wirtschaftslebens war gefallen. Der Dritte Stand wiegte sich eine zeitlang in der Illusion, die Privilegierten stünden, da sie einst und ζ. T. noch jetzt Gegner der absoluten Königsherrschaft waren, auf der Seite der Entrechteten. Gewiß sympathisierten einzelne Aristokraten und Geistliche mit dem Dritten Stand. So spielten Adlige selbst gern auf der Bühne die Rolle des Figaro oder der Suzanne, die, sozial gesehen, in Beaumarchais' Komödie klassische Figuren des Dritten Standes waren. Drei Forderungen wurden von Siey£s aufgestellt und in drei Paragraphen des Kapitels I I I seiner Broschüre begründet:

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Im Lichte der

Aufklärung

1. „Die Vertreter des Dritten Standes sollen nur aus den Bürgern gewählt werden, die wirklich zum Dritten Stand gehören."

Diese Forderung hatte bei den Notabein keinen nennenswerten Widerstand gefunden. 2. „Seine Abgeordneten sollen denen der beiden privilegierten Stände gleich sein."

In diesem Paragraphen macht Siey£s eine Rechnung auf: Er addiert die Posten der Pfarreien, der Kathedralkirchen, Domherren, Bischöfe und Erzbischöfe, der Äbte, Prioren, Kapläne, aller Pfründeneinnehmer, der Mitglieder der geistlichen Orden, schließlich die Mönche und Nonnen und kommt auf die Summe von 80 000 Personen. Zu ihnen addiert er die über den Daumen gepeilte Summe der Adligen am Beispiel der Bretagne, wo er allein 1800 adlige Familien zählt, die er auf 2000 abrundet. Insgesamt errechnet er zusammengenommen 200 000 Privilegierte der beiden ersten Stände. Nach den fundierten statistischen Errechnungen unserer Zeit belief sich d i e Z a h l des clerge

seculier

(70 0 0 0 ) u n d des clerge

regulier

(60 000) auf insgesamt 130 000 Seelen. Das waren 0,5 °/o der französischen Bevölkerung, fast eine quantit^ nigligeable gegenüber der Masse des Dritten Standes. Das wird noch deutlicher, wenn man die Zahlenwerte des Adels kennt. Siey£s beredinet den Adel auf 110 000 Köpfe, der Marquis Bouille auf 3—400 000. Das ergibt ein Mittel zwischen 1,1 °/o und 1,5 °/o der Gesamtbevölkerung. Die Berechnungen, die Sieyes — er war Sohn eines Steuereinnehmers und Posthalters — angestellt hat, haben sich, mit geringen Schwankungen, als exakt erwiesen. 3. „Die Generalstände sollen nicht nach Ständen, sondern nach Köpfen abstimmen."

Diese Forderung steht im Zusammenhang mit der zweiten; denn durch Stimmenzuwachs konnte der Dritte Stand auf Majorität hoffen. Welches Ziel stand hinter diesen Forderungen? Das Recht auf persönliche Freiheit und rechtlich garantierte Entfaltung der bürgerlichen Tüchtigkeit; denn in Siey£s' Urteil war der Dritte Stand allein dem Staat und der Nation nützlich. Immer wieder hebt er darauf ab. Die Schrift entfesselte einen Sturm. In wenigen Tagen wurden 30 000 Exemplare verkauft. Das war mehr als die Absatzziffer des Kommunistischen Manifestes von 1848. Das zündende Wort, das Geschichte gemacht hat, steht im 6. Kapitel, dem letzten der Broschüre: „Man muß einsehen, wie unsinnig der Plan war, am Ende des 18. Jahrhunderts die abscheulichen Reste der Feudalität zu besiegeln. Hier hat die Sprache

Das Ende des Ancien Regime

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die Sache überlebt. Die Adligen gebraudien mit besonderem Vergnügen die Bezeichnungen roturier, manant, vilain (Bürgerliche, Bauern, Knechte). Sie vergessen, daß diese Ausdrücke . . . heutzutage entweder für den Dritten Stand fremd geworden oder allen drei Ständen gemeinsam sind . . . Man würde vergebens die Augen vor den Umwälzungen verschließen, welche die Zeit und die Verhältnisse bewirkt haben; diese Umwälzungen haben sich nichtsdestoweniger vollzogen. Ehemals war der Dritte Stand Sklave, der Adelsstand war alles. Heute ist der Dritte Stand alles, der Adel ist nur mehr ein Wort. Aber unter diesem W o r t hat sich eine neue und unerträgliche Aristokratie eingeschlichen, und das V o l k hat allen Grund, keine Aristokratie zu wollen."

Und nun die letzte Frage, deren konsequente Beantwortung die Konstituierung der Nationalversammlung ist: „Was bleibt bei einer solchen Lage dem Dritten Stand noch übrig, wenn er sich auf eine der Nation nützliche A r t in den Besitz seiner politischen Rechte setzen will? . . . Ich bitte, den ungeheuren Unterschied zu beachten, der zwischen der Versammlung des Dritten Standes und derjenigen der beiden andern Stände besteht. Die erste vertritt 25 000 000 Menschen und berät über die Interessen der Nation. Die beiden andern Stände, sollten sie sich vereinigen, haben nur die Vollmachten von ungefähr 2 0 0 000 Individuen und denken nur an ihre Privilegien. Man wird sagen: Der Dritte Stand allein kann nicht die Reichsstände (etats generaux) bilden. Nun, umso besser! E r wird eine Nationalversammlung bilden!"

Das Wort ist gefallen. Am 10. Juni 1789 bringt Siey^s als Sprecher einer radikalen Grupe des Tiers Etat einen ultimativen Antrag durch, demzufolge die beiden privilegierten Stände zusammen mit dem Dritten Stand eine Verfassung ausarbeiten sollen. Da der Aufforderung nicht stattgegeben wird, erklärt sich am 17. Juni 1789 die Versammlung des Dritten Standes zur Assemblee Nationale. Das war der erste Akt der Großen Revolution. Eberhard Schmitt nennt das radikale Comite breton, das zu diesem Schritt gedrängt hatte, „die wohl erste parlamentarische Pressure group des Kontinents — die Wiege des späteren JakobinerClubs". (op. cit. p. 143) Ohne diesen ersten Schritt gäbe es keinen Ballhausschwur und keinen Bastillesturm, die nur Folgen des Ereignisses vom 17. Juni waren. So hat Siey£s die Revolution eingeleitet. In den folgenden Jahren tritt er in ihren Schatten. Aus Siey£s zahlreichen politischen Schriften lassen sich die ζ. T. sehr modern anmutenden Grundgedanken zu einer umfassenden Staatstheorie, da sie in Variationen immer wiederkehren, unschwer herauslesen. Sie sind philosophischer, staatsrechtlicher, sozialer Art. Er geht von der Vorstellung

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Im Liebte der Aufklärung

aus, daß „die Glückseligkeit der Individuen der einzige Zweck der Gesellschaft ist". Also ist die Freiheit des Bürgers der einzige Zweck der Gesetze und demzufolge liegt die Hauptschwierigkeit einer Verfassung in dem Problem, wie der Bürger vor jedwedem Mißbrauch der Macht rechtlich geschützt werden kann. Bei der Lösung dieser ewigen Frage geht er mit einer mathematisch-rigorosen Methode vor, um durch ein ausgeklügeltes System von politischen Kontrollen, die auch nicht vor der Entmachtung der Berufskorporationen H a l t macht, das Ziel zu erreichen. Die Staatstheoretiker unseres Jahrhunderts haben Grund zu der Behauptung, daß Siey£s nicht nur auf die französische Verfassung von 1791, sondern „auf die gesamte kontinentale Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts . . . mehr Einfluß ausgeübt hat als sonst ein Verfassungsdenker des 18. Jahrhunderts". (E. Schmitt, op. cit. p. 149) Aber es wäre unstatthaft, über der praktischen Wirkung von Siey^s die in der Tiefenschicht der Historie wirkende „philosophischen" Begründer des modernen Staatslebens in Frankreich: Montesquieu und Rousseau, zu vergessen. Ohne den „Esprit des Lois" und den „Contrat social" ist Siey£s nicht denkbar, so sehr er auch zuweilen gegen den Aristokraten Montesquieu eifert und so bewußt er, Rousseaus treuester Schüler und Gesinnungsgenosse, doch dessen „absolute" Demokratie durch seine „repräsentative" Demokratie ersetzen will. Siey£s' Gedanken kreisen um die Idee der Repräsentation: „Die Repräsentation", schreibt Karl Loewenstein in seinem ,Volk und Parlament nach der Staatstheorie der französischen Nationalversammlung von 1789' (München 1922), „wird aus einem bloßen Surrogat der unmittelbaren Volksrechte zu einem Phänomen von volkssouveränitätsmäßigem Selbstzweck und staatsphilosophischem Eigenwert", (zit. bei E. Schmitt, op. cit. p. 150) Die Repräsentation, also die Stellvertretung, ist im Gesellschaftsstande ein jeweils neu zu lösendes Problem. Si^y^s sagt eindeutig, daß „nicht mehr der wirkliche gemeinschaftliche Wille (Rousseau nannte ihn volonte generale", Sieyäs volonte commune) handelt, sondern ein vertretender gemeinschaftlicher Wille" — ein Wille, welcher der Körperschaft nicht voll und unbeschränkt eigen ist, und ein Wille, den die Abgeordneten „nicht als ein eigenes Recht, sondern als fremdes Recht ausüben". (Tiers Etat, Kap. 5) Wichtig bleibt die Funktionentrennung. In dem Dreitakt: Gesetzesvorschlag — Gesetzesvotierung — Gesetzesvollzug schwingt noch der Montesquieusche Gedanke der Gewaltentrennung nach. Aber die Unterscheidung der Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) hat sich

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Regime

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mit Sieyes' Unterscheidung der öffentlichen Funktionen im Hinblick auf die Analyse politischer Vorgänge nach staatstheoretischer Meinung als bei weitem überlegen erwiesen. Was Siey£s im Grunde noch von der späteren, im Zeitalter der Romantik sich auswirkenden organischen Staatsauffassung trennt, ist seine Anschauung, daß die Gesellschaft ein einziger Mechanismus ist, welcher nach unveränderlichen Prinzipien der Vernunft und Billigkeit zu regieren und regulieren sei. Um hinter das Geheimnis des Ablaufs zu kommen, muß man den Mechanismus nur auseinanderlegen und ihn hernach sinnvoll wieder zusammensetzen. Man muß das Uhrwerk gesehen haben: „Man wird niemals den gesellschaftlichen Medianismus verstehen, wenn man sich nidit entschließt, eine Gesellschaft wie eine gewöhnliche Maschine zu zergliedern, jeden Teil für sich zu betrachten und dann alle einen nach dem andern, in seinem Denken wieder zusammenzufügen, um ihr Zusammenstimmen zu erfassen und die allgemeine Harmonie zu vernehmen, die daraus hervorgehen muß." (Tiers Etat. Kap. 5)

An anderer Stelle nennt er das Gemeinwesen eine Aktiengesellschaft, von der er sagt, der Steuerzahler müsse sich „als Aktionär der großen gesellschaftlichen Unternehmung" betrachten. Die Aktionäre gäben das Kapital, seien also „die Herren der Unternehmung; für sie ist dieselbe da, arbeitet für sie, und ihnen gehören alle Vorteile." (Übersicht über die Vollziehungsmittel)

Aus der Distanz userer Zeit gesehen birgt das Siey^ssche System mancherlei Gefahren in sich: 1. Wenn ein Teil der Nation — hier der Tiers Etat — sich als Ganzes versteht, als volonte generale oder volont£ commune, und dementsprechend politische Ansprüche erhebt, kann eine gesetzgebende Versammlung zu einem allmächtigen Parlamentsregime werden,wo nicht mehr der einzelne Bürger, sondern eine „Kryptodiktatur eines Komitees" entscheidet (Schmitt). 2. Die Ausrichtung der außenpolitischen Vorstellungen von Sieyes auf die ausschließlichen Interessen Frankreichs stärkte einen Nationalismus, der als historische Begleiterscheinung die Kehrseite der allgemeinen menschheitsrechtlichen Grundsätze der großen Frazösischen Revolution war. Sieyes wurde zum Wegbereiter eines hochgespannten Nationalwillens, der alsbald die Revolutionsmänner charakterisieren wird und der sich seither tief in das Sendungsbewußtsein der Nation eingegraben hat. 3. Eine letzte Gefahr war die Tendenz, alles lebendige Leben der Politik einem streng rationalen System zu unterwerfen und darüber den Blick und das Verständnis für die

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Imponderabilien der Geschichte zu verlieren, die Politik einem Systemzwang zu unterwerfen und, sollte sie scheitern, das Feld der Geschichte unvorhergesehenen Kräften zu überlassen, wie es Siey^s mit Napoleon erging. Die Mächtigkeit des Wortes ist in keiner Epoche der französischen Gesellschaftsgeschichte von so schlagkräftiger Wirkung gewesen wie in der Großen Revolution. Das Wort peitschte die Massen auf; es riß sie zu Begeisterung und Heldentaten hin; es umnebelte sie mit Phrasen und Lügen; es befreite und erstickte sie zugleich. Madame de Stael, die Zeugin der Revolution war, hat im vorletzten Kapitel ihres Buches „De la Litt£rature" (1800) Größe und Mißbrauch der politischen Beredsamkeit dargelegt: Zu keiner Zeit, sagt sie an anderer Stelle in ihren „Considerations sur les pricipaux evenements de la Revolution Franjaise" (II, 19), und in keinem anderen Lande war die Redekunst in allen ihren Formen von so beachtlichem Niveau wie in den ersten Revolutionsjahren. Aber audi zu keiner Zeit war sie so demagogisch, so verhängnisvoll wie eben zu der Periode, da die Rhetorik sich zu politischen Mißbräuchen erniedrigte, weil sie ihre Bindung an die soziale und politische Moral zerrissen hatte. Die Revolution hatte ihre Phasen; der Strom des Geschehens ergoß sich nicht geradlinig seinem Ende zu, sondern markierte sidi in Biegungen und Wendungen und hatte seine eigentümliche Interpunktionen. Darum ist die Eloquence politique der gesamten Revolutionsepodie nicht einheitlich, sondern bildete an den Knotenpunkten der entscheidenden Dekade von 1789—1799 ihr unverwechselbares Charaktermerkmal aus. Rufen wir uns die wesentlichen Etappen der Ereignisse jenes Jahrzehnts in Erinnerung: 1. 14. Juli 1 7 8 9 : Sturm auf die Bastille. Sturz des absoluten Königtums, d. h. des Feudalstaates. 2. 10. August 1 7 9 2 : Sturm auf die Tuilerien: Sturz der konstitutionellen Monarchie. 3 . 2 . Juni 1 7 9 3 : Verhaftung der Girondisten: Sturz der parlamentarischen Republik. 4. 14. Germinal (1794): Diktatur Robespierres. 5. 9. Thermidor (1794): Sturz Robespierres und der jakobinischen Diktatur. 6. 1. Prairial (1795): Sturz des Konvents. 7. 18. Brumaire ( 1 7 9 9 ) : Sturz des Direktoriums: Buonaparte 1. Konsul.

Ordnet man die Daten in einer Parabel kontrapunktisch an, ergibt sich folgendes Schema (entnommen Egon Friedeil, Kulturgeschichte der Neuzeit)

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Regime

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14. Germinal (1794) Diktatur Robespierres

2. Juni 1793 Sturz der Gironde

Sieg der radikalen Demokratie

9. Thermidor (1794) Sturz Robespierres

10. Aug. 1792 Sturz des Königtums

Sieg der bürgerlichen Republik

1. Prairial (1795) Sturz des Konvents

14. Juli 1789 Sturz des Feudalstaates

Ancien Regime

Sieg der Konstitution

Absolutistisches Regime

18. Brumaire 1799 Sturz des Direktoriums

Empire

Zieht man die Querverbindungen von 1 zu 7, von 2 zu 6, von 3 zu 5, wird man die Beziehungen der Ereignisse an den Punkten der aufsteigenden Kurve zu denen der abfallenden unschwer erkennen. Die Beseitigung des alten Despotismus endete mit der Annahme eines neuen Despotismus. In den so gesteckten Rahmen der historischen Ereignisse gewinnt die Eloquence politique gemäß den Gruppen, die zur Macht streben und als Redner auftreten, eine eigentümliche Dynamik und ihre jeweiligen Besonderheiten. Die Eloquenz eines Mirabeau, der am Anfang der Revolution steht, ist anders als die Redekunst der grande bourgeoisie von 1790/91, und diese

23*

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Im Lichte der Aufklärung

unterscheidet sich wieder von der Rhetorik der politischen Orateurs von 1792/93, von Danton, Robespierre, Saint-Just. Mit dem 18.Brumaire, dem Staatsstreich Bonapartes, endet der Tragödie I. Teil, und der Tragödie I I . Teil — Napoleon — hebt an. Der größte Sohn der Revolution, Napoleon Bonaparte, der die zügellos gewordene gebändigt hat, erhebt sich selbst auf den Thron. Die Eloquence revolutionäre ist beendet; die Eloquence militaire des Feldherrn, der sich von 1794—1799 durch seine Italienfeldzüge und das ägyptische Abenteuer einen Namen gemacht hat, löste sie ab und machte ihrerseits Geschichte: Ein neuer Stil einer neuen, harten Zeit, die prägende Kraft besaß. Was an anti-napoleonischen Energien da war und, wie Chateaubriand, überlebte, wurde erst nach dem Sturz Napolions als politische Beredsamkeit wirksam. Es ist die Zeit, da Chateaubriand auf die Tribüne trat und gegenüber den neuen Feinden einer liberalen konstitutionellen Monardiie für die Pressefreiheit zu Felde zog. Die soziale Wandlung gegen Ende des 18. Jahrhunderts hat einen Wandel in der Haltung der Franzosen gegenüber der Welt und seinem eigenen Leben hervorgerufen. Das war das Ergebnis eines allgemeinen Umschwungs, in dem philosophische, literarische, künstlerische, politische, wirtschaftliche Kräfte wirksam waren. Darauf hat Roger Garaudy, dem ich hier in seiner Einleitung zu der Textauswahl der „Orateurs de la Rέvolution Franjaise" (Classiques Larousse) folge, aufmerksam gemacht. Mit der Revolution hat sich das Klima der Kunst und der Literatur verändert. Das neuartige Phänomen einer Revolutionsrhetorik ist ein ebenso interessantes Kapitel der Literatur, wie es als spezifischer Akt der französischen Gesellschaftsgeschichte in das Bild des endenden 18. Jahrhunderts gehört. Es ist aus der Geschichte der ausmündenden Aufklärungszeit so wenig wegzudenken wie die Leistungen der Enzyklopädie, der Prozeß gegen das klassische Theater, die Sozialreformen Voltaires, die Sozialphilosophie Rousseaus, der „Sturm und Drang" Diderots. Von all diesen Kraftfeldern sprangen Funken auf das Leben der Gesellschaft über und setzten das alte Gebälk des Staatsgebäudes in Brand. Der Tenor der Eloquenz: Tonstärke, Farbe, Klang, Syntax, war nicht in allen Phasen der revolutionären Entwicklung der gleiche. Vielmehr änderte sich der Charakter je nach der Klasse, die an der Regierung war, je nach dem Publikum, das die Tribünen besetzte und je nach den Phasen des Revolutionsdramas selbst. „Die Sprache Racines und Bossuets spie jetzt Blut und Mord, schrieb der Royalist Desmarais, sie brüllte mit Dan-

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ton, sie heulte mit Marat, sie zisdite wie eine Schlange in dem Munde Robespierres. (Zit. bei Garaudy) 1. Phase: Zu Beginn der Revolution saß noch ein aristokratisches Publikum auf den Bänken. Es war ein kultiviertes Publikum, das zu den Sitzungen wie zu einem Schauspiel ging, an dem sie sich je nach dem Temperament des einzelnen ergötzen oder das Fürchten lernen mochten. Diesem Publikum paßten die Redner ihren Stil an: Sie vermieden die ermüdenden Anhäufungen von Fakten, Daten, statistischem Material; sie beschränkten sich lieber auf Exposes von philosophischen und revolutionären Prinzipien, auf zugängliche Gemeinplätze, aber ihre Sprache, an der Eloquenz der R ö m e r geschult, entbehrte nicht des antiken Pathos. Die Zuhörer waren gebildete Männer, die sich in der Antike auskannten und die Reminiszenzen an die Schulweisheit zu genießen verstanden. Die ganze Revolution schien mit dem rhetorischen Gewand, mit dem sie sich umhängte, in die Schule der republikanischen R ö m e r zu gehen. Wie gut hatte da ein C o r neille vorgearbeitet! Wie herrlich leuchtete aus Louis Davids Bildern die Römertugend hervor! Die Reden der Revolutionsmänner waren vor allem und zumeist rhetorische Verkündigungen einer Renaissance edelster Prinzipien, mit denen schon die Alten die Größe ihres Reichs gezimmert hatten. D a mochte Montesquieu und seine Begeisterung für die R ö m e r nachwirken. U m Einzelheiten sich zu kümmern, war nicht eigentlich Aufgabe der Orateurs; das war noch immer Sache des Königs und seiner Minister. Das war die Beredsamkeit, welche Madame de Stael gepriesen hatte. Diese Etappe der politischen Eloquenz entspricht ungefähr der Zeitspanne der parlamentarischen Karriere des Grafen von Mirabeau. E r bewunderte Montesquieu und Siey£s. Montesquieu wurde als politischer Philosoph in jenem ersten Stadium der Revolution verehrt, da die Noblesse liberale noch an der Spitze stand. Siey£s hat seinerseits zu Eingang der Bewegung als Verfassungspraktiker ein gut Teil der Montesquieuschen Ideen in staatspolitische Wirklichkeit umgemünzt. H o n o r i - G a b r i e l Riquetti, comte de Mirabeau ( 1 7 4 9 geboren, als Montesquieus „De l'Esprit des Lois" gerade erschienen war), kam nach Paris nicht allein mit rhetorischen Prinzipien über die Revolution, sondern mit einem klaren Programm zur Lösung bestimmter politischer und finanzieller Probleme. E r besaß Sachkenntnis, und was sich oft phrasenhaft ausnahm, beruhte auf Faktenkenntnis und gewann damit festen Boden. Seine hervorstediende Leidenschaft war die Sorge um die Freiheit, auf deren Kehrseite sein H a ß gegen Despotismus stand. Seine politischen Ideen wur-

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Im Lichte der

Aufklärung

zelten gewiß in Montesquieus Staats-und Rechtsanschauungen, aber erhielten ihre wirksame Kraft dadurch, daß in ihnen das aktuelle Zeitbewußtsein durchschlug. D a ging er über Montesquieu hinaus. Vier kurze Beispiele aus verschiedenen seiner Schriften und Reden: 1. „Die nationale Freiheit hatte drei Feinde: die Geistlichkeit, den Adel und die Parlamente." (Brief an seine Schwester vom Dez. 1789). 2. Von der Rolle und Bedeutung des Königs: „Ein König, das Haupt der Gesellschaft, ist nur durdi und für die Gesellschaft instituiert." (Essai sur le Despotisme) — Jenseits der Interessen der Schichten, Kasten usw. ist der König der Hüter der Gesetze und des Rechts. 3. Das Gegengewicht zur Aufrechterhaltung des Äquilibriums im Staatsleben ist das Volk. Mirabeau will das Volk frei; aus ihm soll die Souveränität fließen. Aber man kann in den modernen Großstaaten die Stimme des Volkes nicht mehr nur auf der Agora erfassen. Eine Demokratie kann nicht mehr direkt und absolut funktionieren; sondern sie muß im Sinne der Sieyesschen Repräsentation eine Stellvertretung haben. Da aber regt sich eine neue Bedrohung der Freiheit: „Wenn die Exekutive, regel- und zügellos geworden, an ihr Ende gelangt, löst sie sich von selbst auf, und alle büßen dann die Fehler eines einzigen. Das Beispiel steht vor uns. Aber wenn die Revolution sich invertierte, wenn die legislative Körperschaft mit ihren großen Möglichkeiten, ehrgeizig und unterdrückungslustig zu sein, es in Wirklichkeit würde . . . " — nun, dann bräche ein neuer Despotismus auf, „eine Art faktischer Aristokratie, die . . . gleichermaßen dem König, nach dessen Machtbefugnissen sie strebte, wie dem Volke, das zu unterdrücken sie immer bestrebt sein wird, feindlich ist." . . . „Daher die natürliche und notwendige Allianz zwischen Fürst und Volk gegen jede Art Aristokratie . . . Wenn einerseits die Größe des Fürsten von der Wohlfahrt des Volkes abhängt, beruht andererseits das Glück des Volkes hauptsächlich auf der schützenden Macht des Fürsten. Also hat der Monarch bei der Intervention in der Gesetzgebung keineswegs sein persönliches Interesse im Auge, sondern das Anliegen des Volkes; in diesem Sinne kann und muß man sagen, daß la sanction royale n'est point la prerogative du monarque, mais la propriete, le domaine de la nation." (Sur la Sanction royale. 1. Sept. 1789) 4. Zwischen den beiden konkurrierenden Tyranneien von oben und von unten, müßte ein Mittleres bestehen, eine Art Kontrollorgan, eine dritte Macht, die Mirabeau als „opinion publique" bezeichnet: „In der Nation soll eine machtvolle und scharf umrissene Macht geschaffen werden, die gleichzeitig royalistisch und liberal sei, also weder der Assemblee gestatten würde, den König zu verschlingen, noch dem König die Möglichkeit gäbe, die Assemblee zunichte zu machen." (In der Correspondance secr£te avec la Cour) Das eben war die Rolle, die der Graf von Mirabeau als monarchistischer Volkstribun in den Anfängen der Revolution gespielt h a t : E r schuf ein Klima, eine öffentliche Meinung, er erweckte Instinkte, aber er zügelte sie. Und so gezügelt war auch seine Sprache; ihr Ausdruck w a r von der

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Raison bestimmt und so ausgewogen, wie es seine vermittelnden, die Extreme vermeidenden Gedanken waren. Er hat aber seiner Diktion außerordentliche rhetorische Valeurs beigemischt; er weiß zu orchestrieren, und in einigen entscheidenden Momenten steigert er seine Sätze zu Formulierungen, welche die sprengende Kraft von Schlagwörtern besitzen. So schleuderte er dem Marquis de Dreux-ΒΓεζέ, als dieser am 23. Juni 1789 die Deputierten aufforderte, auf Befehl des Königs den Saal zu räumen, die Herausforderung entgegen: „Nous sommes ici par la νοίοηΐέ du peuple, et nous n'en sortirons que par la force des baionnettes." Sein früher Tod hat ihm die Hinrichtung auf dem Schafott erspart. Er starb, bevor seine Verbindungen mit dem König denunziert wurden. Maß und Gerechtigkeit (mesure et έquite), deren er sich in einer Rede vom 16. Juli 1789 noch rühmen durfte — er schaute mit Bewunderung auf „die imponierende Reife eines Volkes, das in den Staatsgechäften alt geworden ist" (England) (Rede vom 23. Juni 1789) — sollten bald nicht mehr die Triebkräfte der revolutionären Entwicklung sein. Doch zwischen Mirabeau und Danton lag noch eine Phase, da wirtschaftlich orientierter Bürgersinn die Geschicke der Revolution bestimmte. 2. Phase: In dem Zeitabschnitt von der Gründung der Constituante bis zu ihrem Ende, also vom 20. Juni 1789 — zum 10. August 1792, beobachteten wir eine Evolution in Stil und Tenor und audi in der Thematik der rhetorischen Literatur. Jeder Tag, jedes neue Ereignis führt die Vorherrschaft der Grande Bourgeoisie herauf und leitet die Eloquenz in die Richtung bürgerlicher Egalitätsinteressen. Es ist die Zeit von Antoine Barnave, der um 12 Jahre jünger als Mirabeau war (1761—1793). Er fiel der Guillotine zum Opfer. Barnave, der nur noch mütterlicherseits dem Adel entstammte, sah und behandelte die sich aufdrängenden Probleme als Wortführer einer Klasse, die sich im Besitz der wirtschaftlichen Macht weiß und demzufolge politische Autorität besitzt. Die Bourgeoisie, so sahen wir, hatte die Schlüsselstellung in Industrie und Handel und überspielte die verarmende Feudalaristokratie und den Landadel. Barnaves Schlüsselwort heißt Egalitέ, d. h. Gleichheit als politische Folge der wachsenden Macht des bürgerlichen Kapitals. Er dachte und spekulierte nicht in abstrakten Theorien, sondern redete als Empiriker großen Stils. Gewiß arbeitete er auch noch für die Rekonstruktion der Monarchie in einer konstitutionellen Form; aber er sah die faktische Suprematie des Reichtums, plaidierte für eine liberale Wirtschaft, setzte sich für eine uniformierte, aber dezentralisierte Verwaltung ein. Hin und

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wieder blitzt ein mokanter Zug gegen abstrakte Konstrukteure und Prinzipienreiter durch seine Reden. Ideale Projekte auf dem Papier ausarbeiten ist eines; etwas anderes ist es, sie praktisch zu verwerten. Er erstrebte eine neue Ordnung, die sich auf die Realität der Eigentumsverhältnisse gründen sollte. Es ist seine unbedingte Uberzeugung, daß der Revolution Einhalt zu gebieten ist, nachdem das Prinzip der Egalität Verwirktlicht worden sei. Sonst würde die Entwicklung zur Katastrophe führen. Hören wir ihn in seiner Rede „Sur l ' i n v i o l a b i ^ royale" vom 15. Juli 1791: „Jede weitere Entwicklung der Revolution wäre eine Katastrophe. Ihr habt die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz erreicht, die bürgerliche und die politische Gleichheit Ein Schritt darüber hinaus wäre ein verhängnisvoller A k t . . . ein Schritt über die Linie der Freiheit bedeutete die Zerstörung des E i g e n t u m s . . . Wenn man dafürhielte, daß noch nicht alles für die Gleichheit getan wäre, wo doch die Gleichheit aller Menschen schon gesichert ist, fände man da noch eine Aristokratie, die vernichtet werden müßte, es sei denn die Aristokratie der Besitzer? . . . Die Nacht des 4. August (Aufhebung der Feudalredite) hat der Revolution mehr eingebracht als die großen Maximen der Philosophie und der Vernunft, welche die Grundlage eurer erhabenen Dekrete sind. "Was wollt ihr eine zweite Nacht des 4. August? Es ist Zeit, die Revolution zu beenden . . . Würde man in dem Augenblick, da die Nation frei ist und alle Franzosen gleich sind, noch mehr wollen, hieße das, sich seiner Freiheit zu begeben und schuldig zu werden."

Auf einer andern Ebene ist die Idee der Egalite das Leitmotiv des Marquis de Condorcet, der in jener Phase der Revolution aktiv in die Gestaltung des sozialen Lebens der Nation eingriff. Zwar hatte dieser lungenkranke Mann nicht den großen Atem der Volksredner. Er konnte und wollte auch nur die Elite der Nation erreichen, eben ihre Repräsentanten. In der demagogischen Eloquenz sah er nur eine Gefahr. Wie soll sich dieser Gelehrte und Philosoph in den vehementen Auseinandersetzungen zwischen der Gironde und dem Berg behaupten? Ihm lag daran, durch die Kraft vernunftbegründeter Argumentation zu überzeugen. Sein Hauptanliegen war eine Reform des Erziehungswesens auf der Grundlage der Gleichheit aller Bürger und mit dem Ziel, den allgemeinen Fortschritt der Menschheit durch eine moderne, dem Geist des Jahrhunderts angepaßte Ausbildung der Jugend aller Bevölkerungsschichten zu fördern. In seinem „Rapport sur l'Organisation gen£rale de l'Instruction publique (20. und 21. April 1792) lesen wir: „ . . . Ihr habt der Nation eine Ausbildung zu vermitteln, die dem Niveau des Geistes unseres 18. Jahrhunderts Rechnung trägt. Das ist eure Pflicht. Es ist der Geist einer Philosophie, welche die gegenwärtige Generation aufklärt und

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schon die höhere Vernunft vorbereitet und verkündet; diese zu vernehmen sind die zukünftigen Generationen im Vollzug des notwendigen Fortschritts des Menschengeschlechts aufgerufen."

In letzter Instanz dienen Aufklärung und Ausbildung dem Fortschritt der Gesellschaft. Die Pädagogik hat eine soziale Funktion: „Meine Herren! Es geht darum, allen Individuen der Mensdienrasse die Möglichkeit zu bieten, daß sie ihren Bedürfnissen genügten, ihr Wohlsein sichern, ihre Rechte kennen und ausüben und ihre Pflichten erfüllen können. Es geht darum, jedem von ihnen die Mittel an die H a n d zu geben, ihre Fähigkeiten zu vervollkommnen, damit sie ihre sozialen Funktionen (fonctions sociales), zu denen sie berufen sind, ausüben und ihre Talente, die ihnen von der Natur gegeben sind, in ihrem ganzen Umfang entfalten können; dann wird sich zwischen den Bürgern eine faktische Gleichheit (egalite de fait) herstellen, und die politische Gleichheit, wie sie durch das Gesetz garantiert ist, wird Wirklichkeit sein."

Das Erziehungswesen soll die körperliche, geistige und moralische Ausbildung in gleicher Weise bedenken und die Lehranstalten, soweit es möglich ist, von jeder politischen Autorität unabhängig halten. Die soziale Ungleichheit muß aus dem Unterrichtswesen verschwinden. Das ist eine Forderung der Gerechtigkeit und der Vernunft, die im Interesse der menschlichen Gesellschaft gestellt wird: „Aussi, l'instruction doit etre universelle, c'est-i-dire, s'etendre k tous les citoyens."

In dem Gesamtplan der geistigen Ausbildung weist Condorcet der Mathematik und den physikalischen Wissenschaften einen bevorzugten Platz an. Die Mathematik erzieht zu klarem Denken und die Wissenschaften zu klaren Analysen — nicht, daß auch ein Studium der „Literatur, Grammatik, Geschichte, Politik, Philosophie im allgemeinen" zur „Richtigkeit, Methodik und kräftigen und tiefen Logik" nicht erziehen könne; aber die Exaktheit der Gedanken und des Ausdrucks liegt eher bei den Naturwissenschaften; diese bekämpfen auch besser die Vorurteile und ein enges Denken (la petitesse d'esprit). Condorcet will das bisherige Übergewicht des Latein-Unterrichts auf die Mathematik und die Naturwissenschaften verlagern. Aus alledem spricht der Mathematiker Condorcet, und aus ihm selbst spricht der Geist des Jahrhunderts, der machtvoll sich entfaltenden Naturwissenschaften. Im Zusammenhang aber unserer Betrachtung ist entscheidend, daß Condorcet in einer Rede dieser Art und dieses Inhalts seine pädagogischen Betrachtungen und Forderungen im Kontext mit den sozialen Ereignissen seiner Zeit a u f s t e l l t . . . :

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„Das also sind unsere Grundsätze. Unser philosophisches Denken muß frei von allen Zwangen sein, frei von jeder Autorität, jeder alten Gewohnheit, und demgemäß haben wir die Fächer des öffentlichen Unterrichts klassifiziert. Eben diese Anschauungen haben uns auch dazu geführt, die ,sciences morales et politiques' als wesentlichen Bestandteil unserer gemeinsamen Ausbildung zu betrachten."

Um eine Vorstellung von der Verschiedenartigkeit der Revolutionsredner der vor-robespierreschen Etappe der Bewegung zu haben, höre man neben Barnave und Condorcet den großen Melancholiker unter den Girondisten Pierre-Victurnien Vergniaud (1753—1793). Die Geschichtserfahrung scheint für diesen dem Weltschmerz geöffneten Empfindsamen zu brutal, als daß er nicht an den Ereignissen gelitten hätte und als Dichter, der er war — wie Garaudy meint, — die Kunst der Evasion kultivierte: Evasion durch Revolte gegen den alten Despotismus, Evasion durch einen lyrisch-patriotischen Appell zu den Waffen — „Au camp, citoyens, au c a m p ! . . . Oublions tout excepte la patrie! Au camp, au camp!" Das rief er am 16. September 1792, vier Tage vor der Kanonade von Valmy, wo die Invasionstruppen gestoppt wurden. Evasion des Rhetors vor allem durch das an Demosthenes und Cicero geschulte Kunstwerk der Rede. All seine Reden, die er als Abgeordneter der Assemblee legislative hielt, sind durdistilisiert. Jeder Abschnitt ist ein Baustein in der Konstruktion des Ganzen, das Vergniaud sehr oft zu einem glänzenden Finale, in welchem er die Themen resümiert, mit Anklängen an die antike Geschichte orchestriert. Er war es, der, ein Kunstverständiger und Literaturkundiger, die rhetorische Antwort auf die Forderungen der Künstlerdeputaion bei der konstituierenden Nationalversammlung am 19. Oktober 1791 formulierte: „Griechenland erwarb sich Ruhm in aller Welt durch seine Liebe zur Freiheit und zu den Schönen Künsten. In der Folgezeit verbreiteten diese beiden Leidenschaften über Italien einen unsterblichen Glanz. Noch heute eilen alle empfindsamen Menschen nadi Rom, um über der Asche der Catonen zu weinen . . . Das französische Volk, noch in Ketten gefesselt, aber von der Natur zur Größe geschaffen, hat aus seinem Schöße Männer hervorgebracht, die es mit den Künstlern Griechenlands und Italiens aufnahmen und dem Vaterland Jahrhunderte hindurch zum Ruhme gereichten. Nun ist es frei, dieses edelmütige Volk, und sich kühner emporschwingend wird es mit seinen neuen Ideen die Achtung der Nachwelt erzwingen . . . Seien Sie versichert, daß die Nationalversammlung mit all ihren Kräften jene Künste fördern wird, die aus ihrer edlen Bestimmung heraus zu großen Taten anfeuern und also zum Glück des Menschengeschlechts beitragen."

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Er war es, der im „Appel au Peuple" am 31. Dezember 1792 eine Volksabstimmung im Prozeß gegen den König forderte, weil er Ludwig XVI. retten wollte, nicht, weil er an der Monarchie gehangen hätte, sondern weil er die einstige Abstimmung über die Unverletzbarkeit des Königs nicht durch einen Gewaltakt rechtlich verletzt wissen wollte: „ . . . das Votum der ,volonte generale' lag klar zutage. Der Wille des Volkes hatte sich für die Unverletzbarkeit (des Königs) erklärt. Nun gut, bringt ein gegenteiliges Votum ein, wenn die Wohlfahrt des Landes es euch so zu gebieten scheint; aber hebt erst dann die alte volonte generale auf, wenn das Votum einer neuen dazu berechtigt. Sonst usurpiert ihr die Souveränität . .

Hinter der Forderung einer nationalen Volksbefragung stand das girondistische Interesse, der Hauptstadt Paris nicht mehr Einfluß auf die politische Entwicklung zuzubilligen als jeder andern Provinz des Landes. Und schließlich war er es, der mit seiner Antwort auf die Anklage Robespierres, als die Auseinandersetzung zwischen Girondisten und Jakobinern auf den Höhepunkt kam, am 10. April 1793 den Mut hatte, zugleich mit seiner Verteidigung den zukünftigen Tyrannen in seinem Gegner zu entlarven: „ . . . Robespierre klagt uns an, daß wir plötzlich .Gemäßigte' und ,Feuillants' geworden wären. Wir, .gemäßigt'? Ich jedenfalls war es nicht, Robespierre, als du dich in dem Keller versteckt hieltest.,Gemäßigt', oh, nein . .

Fünf Tage zuvor, am 5. April 1793, war das „Οοπιΐΐέ de Salut public" mit Danton gegründet worden. Die dritte Phase der Entwicklung hatte begonnen. 3. Phase: Mit dem 10. August 1792, dem Sturz der konstitutionellen Monarchie, hatte sich die Situation Frankreichs gewandelt. Die Pariser Kommune verurteilte die Assemble mitsamt dem König und erzwang am 17. August die Schaffung eines außerordentlichen politischen Tribunals. Sie appellierte an die Volksmassen, trieb zur Handlung. Auf Antrag Robespierres wurde der Beschluß gefaßt, daß in die neue Nationalversammlung, die Legislative, kein Mitglied der bisherigen gewählt werden sollte. Somit traten die alten, besonnenen Abgeordneten, die bisher die Reform des Staates in die Hand genommen hatten, von der politischen Bühne ab, und neue Männer stiegen auf. Die Revolution gerät in ein radikales Fahrwasser. Montesquieu wird von Rousseau abgelöst. Es bilden sich Parteien: Auf der rechten sitzen die Feuillants (genannt nach dem ehemaligen Kloster zu Paris, das ein Versammlungsort des nach ihm benannten politischen Clubs war, welcher eine Verfassung nach dem

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Muster der englischen erstrebte, aber am 28. März 1791 gesprengt wurde), Anhänger der konstitutionellen Monarchie, neben ihnen die unabhängigen Abgeordneten. Die weitaus größere Linke wurde von den Republikanern gebildet, die sich in 2 Gruppen teilten: die Gemäßigten Girondisten, sogenannt, weil sie zum großen Teil aus der Gironde stammten, und die Radikalen, die Jakobiner, sogenannt nach ihrem Versammlungslokal, einem alten Jakobinerkloster. Die Spannungen waren vielfacher A r t : Die radikalen Clubs bearbeiteten die Massen gegen die Monarchie; — an den Grenzen Frankreichs sammelten sich die Emigranten des französischen Adels und hetzten zum Krieg gegen das eigene Land; — die Großmächte Europas erkannten die Gefahr, die der alten, auf dynastischen Prinzipien gegründeten Ordnung durch die revolutionären Vorgänge drohte. Längst aber waren die Ideen der Revolution über die Grenzen Frankreichs gedrungen. Von ihrem Geist war ein Schiller ergriffen; in seinen „Räubern", in „Kabale und Liebe" spüren wir ihn; der jugendliche Beethoven war in Bonn von der Revolution g e p a c k t . . . Die Revolution drohte sich auch auf politischer Ebene zu einer europäischen Revolution auszuwachsen. Es bildete sich eine Solidarität der Throne. Wien sandte drohende Noten nach Paris, die von französischen Emigranten diktiert waren. Die Kriegserklärung selbst aber ging von Frankreich aus. Die verbündeten Armeen überschritten die Grenzen. Der Druck von außen und der Druck von innen wirkten zusammen, um die Revolution in eine radikale Bewegung zu führen. Am 10. August 1792 stürmten die Massen den Regierungssitz des Königs. Ludwig X V I . wurde mitsamt seiner Familie gefangen gesetzt und seiner Rechte enthoben. Die Monarchie und die bisherige Verfassung standen auf dem Spiel. D a beschloß der neugewählte Nationalkonvent die Abschaffung der Monarchie und die Errichtung der Republik. Der Prozeß gegen den König und seine Hinrichtung waren das Nachspiel dazu. An jenem 10. August empfing auch die „Marseilleise", das Lied der Freiwilligen, die nach Paris gezogen waren, ihre Weihe. Es war mit der Musik wie mit der Malerei. In beiden Künsten war ein politischer Stimulans fühlbar. Die Royalisten gaben sich durch Melodien aus Gretrys „Richard coeur de lion" zu erkennen. Μέΐηιΐ und Cherubini arbeiteten an der Musik für den „ C o n g ^ s des R o y s " . Aber Gretry bog, wie wir schon sahen, in die revolutionäre Linie ein, wie der Maler Louis David, und schrieb 1794 politische Bühnenmusik wie „Joseph B a r a " , „D£nys le T y r a n " und die „Fete de la Raison". Dalayrac komponierte 1799 die „Chenepatriotique ou la Matinee du 14 Juillet" und eine „Hymne

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i la Liberte" auf die stolzen W o r t e : „ Pluto t la mort que l'esclavage, c'est la devise des Fran9ais". Diese H y m n e wurde von den Patrioten am 10. August 1792 gesungen, also in dem J a h r , da Rouget de Lisle den „Chant des Marseillais" komponierte. Louis D a v i d malte den „Schwur der H o r a t i e r " , malte „Brutus vor den Leichen seiner Söhne". E r wurde zum größten Revolutionsmaler, entwarf die Uniformen der revolutionären Amtsträger, inszenierte dramatische Werke und überlieferte der Nachwelt auf der Leinwand die Tragödien von M a r a t und Barat. In diesem Zusammenhang sind die „Fragmente sur les Institutions republicaines" von Saint-Just zu verstehen, deren 10. von „Quelques Institutions morales sur les Fetes" handelt. Darin lesen w i r : „Das französische Volk anerkennt das Höchste Wesen und die Unsterblichkeit der Seele. Die ersten Tage jedes Monats sind dem Ewigen geweiht." „Die Hymne an den Ewigen wird jeden Morgen vom Volke in den Tempeln gesungen. So sollen alle öffentlichen Feste beginnen." „Jedes Jahr soll am 1. Floreal die Bevölkerung einer jeden Kommune . . . einen wohlhabenden jungen Mann, der zwischen 21 und 30 Jahre alt ist, tugendhaft und Wohlgestalt zugleich, wählen. Dieser soll ,en memoire de l'igalite humaine' eine arme Jungfrau küren und heiraten." „Es sollen von den Lyzeen Preise für Beredsamkeit verteilt werden. Aber der Wettbewerb schließt die reinen ,discours d'apparat' aus. Nur der Lakonismus' hat Anredit auf Preise, d. h. nur derjenige Bewerber kann einen erhalten, der einmal in der Gefahr eine ,parole sublime' hervorgestoßen, der durdi eine besonnene Anspradie das Vaterland gerettet, das Volk zu Sitte und Anstand zurückgeführt und die Soldaten wiedervereinigt hat." „Der Preis der Poesie soll nur der Ode und dem Epos zugedacht werden."

In der Atmosphäre höchster dramatischer Spannungen bekam an diesem Wendepunkt der Revolution die Eloquenz einen neuen Klang. J e t z t erst wird das W o r t der Madame de Stael in seiner ganzen Bedeutung verständlich: „L'Eloquence tient lieu de la musique guerri^re". Es ging um Sein oder Nichtsein der Republik. In den schweren Wochen des Jahres 1792, da die ganze N a t i o n von einem Freiheitsrausch und Patriotismus gepackt wurde, der seinesgleichen in der europäischen Neuzeit bisher nicht hatte, lag die Geburtszeit der „grande eloquence revolutionnaire". Die Beredsamkeit wurde schlechthin — wie es Saint-Just andeutete — von dem harten Gesetz des Handelns geprägt. D a war kein Platz mehr für Barnave, Condorcet, Vergniaud. Die Guillotine der neuen Männer beendete deren T ä t i g k e i t : Vergniauds K o p f fiel im J u n i 1 7 9 3 ; Barnave bestieg das Blutgerüst am 2 9 . November 1793 und Condorcet vergiftete sich in seiner Gefängniszelle am 8. M ä r z 1794.

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Inzwischen hatten die verbündeten Heere die Niederlage bei Valmy am 20. September 1792 erleben müssen. Goethe machte den Feldzug in Begleitung des Herzogs Karl-August mit und erkannte hellsichtig: „Von hier und von heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen."

Das lesen wir in seiner „Kampagne in Frankreich" vom 19. September nachts — und dann den Schluß vom Dezember 1792 bis April 1793: „Mit welchem Zyklus von Tragödien sahen wir uns von der tosenden Weltbewegung bedroht" . . . und kurz davor: „ . . . den Thron sah ich gestürzt und zersplittert, eine große Nation aus ihren Fugen gerückt und nach unserem unglücklichen Feldzug offenbar auch die Welt schon aus ihren Fugen."

Nun drängte die Revolution über die Grenzen: „Krieg den Palästen, Friede den Hütten!" Aber die Entwicklung rast dem Terror im Innern entgegen: Massenverhaftungen, Massenguillotinierungen, Massenerschießungen, Massenertränkungen — wahre Orgien der Vernichtung und des Blutrausches. Schiller, der anfänglich so begeisterte Freund der Revolution schreibt in einem Brief vom Februar 1793: „Ich kann seit 14 Tagen keine französische Zeitung mehr lesen, so ekeln diese elenden Schinderknechte midi an."

Im Nationalkonvent gab es jetzt 3 Gruppen: Die Gemäßigten, die um einen Ausgleich der Gegensätze bemüht und einer Zusammenarbeit mit den Girondisten nicht abhold waren. So paradox es klingen mag, GeorgesJaques Danton, gewiß in bestimmten Momenten seines Lebens einer der größten „buveurs de sang", stand ihnen nicht fern. Die eigentlichen „Enrages" aber formierten sich als Ultrarevolutionäre unter der Führung von Hubert. Schließlich die Gruppe um Robespierre. Alle drei wurden Opfer der Revolution selbst: Unter der Mitwirkung Dantons wurde zunächst Hubert liquidiert; dann entledigte sich Robespierre Dantons und der Dantonisten, und am 28. Juli 1794 fiel unter dem Jubel der Massen der Kopf Robespierres selbst. Danton ist vielleicht im Bewußtsein auch noch der Menschen von heute die faszinierendste Gestalt der Revolution auf ihrem Höhepunkt: Uns Deutschen wird er immer wieder durch Georg Büchners „Dantons T o d " — zum lebendigen Erlebnis im Sprachraum der deutschen Bühnen. Schon der Hintergrund, auf dem Büchner seine „Dramatischen Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft" skizziert, hat das Erregende eines fatalen Geschichtsablaufs:

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„Ich studierte die Geschichte der Revolution", schrieb er an seine Braut im November (1833?). „Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlidien Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, allen und keinem verliehen. Der einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrsdien unmöglich."

In der herkulischen Gestalt Dantons wirkte eine urtümliche Kraft. Er hatte das Gesicht einer Dogge, pockenzernarbt und durch die Wunden, die ihm in der Jugend die Hörner eines Stieres beigebracht hatten, entstellt. Wenn er seinen enormen Kopf nach hinten warf, bändigte er die Menge durch diese Geste und seine Stentorstimme. In ihm gebar sidi die rabelaissche Heiterkeit immer von neuem, wenn er die zeitweilig einsetzenden Perioden der Niedergeschlagenheit und des Sich-Treiben-Lassens überwunden hatte. „Je porte dans mon caract£re une bonne portion de la gaitd franjaise, et je la conserverai, je l'espere." Er stand wie seine Zeitgenossen unter dem Eindruck der alten Republikanergröße Roms; er verehrte Corneille und die stoische Urkraft seiner Bühnenhelden, die wie die alten Frondeurs waren; er liebte Plutarch, den Schöpfer der „Heldenleben" — er begeisterte sich für ihn wie vor ihm ein Rousseau, nach ihm ein Schiller und Beethoven. Mir scheint auch viel von Diderots Philosophie in ihn eingegangen zu sein. Er hatte schließlich den Sinn für sein Jahrhundert, den neuen Humanismus, der sich in der Aufklärungszeit entfaltete; er sah den Aufbruch der Jugend, welche die alten Formen des sozialen und politischen Lebens zerschlug; er inkarnierte die Revolution. Man ist leicht geneigt, über so viel urwüchsige Kraft die Schlacken seiner Existenz, seine Verderbtheit, seine Laster zu vergessen. Robespierre freilich übersah sie nicht. Aber sein Handeln wurde von keinen metaphysischen, logischen oder gar religiösen Prinzipien bestimmt. Er war das Gegenteil Robespierrres. Er hatte kein System. Er war nur Kraft. Und so war seine Sprache als Rhetor. Seine Syntax entbehrte der architekturalen Ordnung und einer klassisch ausgewogenen Harmonie. Man wolle seine Sprache nicht mit Kriterien beurteilen, die ihr nicht angemessen sind: Da fehlt die übergreifende Logik, da wollen sich die Gedanken nicht verzahnen; man vergleiche seine Reden nicht mit denen eines Vergniaud. Die Einheit seines Stils — wenn man überhaupt nach ihr suchen will — fände man in einer Art Antithese zum klassischen Stil, nämlich in einem ungefügten Nebeneinander von Gedan-

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kenklötzen, deren jeder roh behauen ist von dem vitalen Willen zum Sieg der Revolution über deren Gegner. Dantons Metaphern sind einfach, oft trivial und, gemessen an der klassischen Diktion, von schlechtestem Geschmack. Aber sie sind von explosiver Wirkung, die sich noch erhöhen kann, wenn er dem dramatischen Ausdruck lyrische Töne beigibt. Ein solcher Mann, dem oft der Ekel an den Menschen emporstieg, der, wie er von sich sagte, „saoul des hommes" sei, ein Mann, der in zweiter Ehe eine Royalistentochter unter dem Segen eines refraktären Pfarrers heiratete und sich in sein häusliches Glück in die Provinz zurückzog, während in Paris die Königin, Philippe d'Orl£ans, Bailly, Manuel, Houchard, die Girondisten guillotiniert wurden, ein solcher Mann wäre nicht fähig gewesen, die revolutionäre Entwicklung fest in die H a n d zu bekommen. Dazu fehlte ihm die klare Linie der Raison, die ohne Umwege zum Ziele strebt. Danton war nur groß, wenn er auftrat, um jeweils sich stellende Einzelprobleme in dieser oder jener tragischen Stunde durch die hinreißende Gewalt seiner Persönlichkeit zu meistern, wenn er in solchen Augenblicken das ganze Volk, so gespalten es in seinen Gruppen und Schichten war, mit sich zu reißen verstand zu Abenteuern und Opfern, die in der französischen Geschichte ihresgleichen noch nicht kannten. Eine seiner größten rhetorischen Leistungen vollbrachte er in der kritischen Stunde, da es darum ging, innere Widerstände zu brechen und durch eine „lev^e en masse" den äußeren Feind zu besiegen. Das war am Vorabend von Valmy, der dunkelsten Stunde der Revolutionsgeschichte: Monarchistisch gesinnte Generale hatten Verrat begangen. Die konstitutionelle Monarchie war am 1. August 1792 gestürzt. Am 23. August hatte sich Longwy ergeben. Verdun wurde eingeschlossen. Danton erreichte von der Assemble, daß ein Revolutionstribunal errichtet wurde. Der Widerstand im Innern wurde gebrochen. Die nationalen Energien wandte er nun gegen den Feind von außen: „ . . . la patrie va etre sauvee. Tout s'imeut, tout s'ebranle, tout brüle de combattre . . . Ein Teil des Volkes eilt zu den Grenzen, ein anderer hebt die Verteidigungslinien aus, und ein dritter wird mit den Piken das Innere unserer Städte verteidigen. Paris wird diese großen Anstrengungen unterstützen. Die Kommissare unserer Kommune werden feierlich proklamieren, daß die Bürger zu den Waffen greifen und sich zur Verteidigung des Vaterlandes formieren . . . In diesem Augenblick wird die Nationalversammlung ein einziges Kriegskomitee . . . Wir fordern, daß jeder Bürger, der den Dienst verweigert oder seine Waffen niederlegt, mit dem Tode bestraft wird . . . U m die Feinde zu besiegen, meine Herren, ist nur Kühnheit, und wieder Kühnheit und noch einmal Kühnheit vonnöten und Frankreich wird gerettet sein!"

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Das war am 2. September 1792. Die Rede machte Geschichte. Ihre Wirkung, die zur Tat von Valmy führte, erklärt das Wort Goethes von der „neuen Epoche der Weltgeschichte". Aber diese Tat wurde von Dantons Feinden nicht in die Waagschale geworfen, als sie an Einfluß gewannen und ihn auszuschalten trachteten. Die Partei der Hebertisten, Hebert und Chaumette an der Spitze, machten sich die Schwächen Dantons zunutze. Diese radikale Gruppe war der kommunistischen Lehre von Jacques Roux, Varlet und Leclerc zugetan. Sie verkündeten, daß die politische Revolution ihre Ergänzung in einer sozialen Revolution finden müsse und daß die erkämpfte Gleichheit der Rechte eine Gleichheit der Besitzverhältnisse impliziere. Bedenkt man die allgemeine Korruption, die sich in der Geschäftswelt, der Finanz und der Politik ausbreitete, bedenkt man die Etappen der einsetzenden Geldentwertung und der Staatspapiere, bedenkt man die Hungersnot, die ihre Opfer forderte, dann begreift man die Neigung breiter Massen für die extremen Tendenzen der hebertistischen „parti des enrages".Jacques Roux trägt den Angriff gegen den Nationalkonvent am 25. Juni 1793 voran: Die Freiheit ist nur ein Phantom, solange eine Klasse von Menschen die andere ungestraft aushungert. Die Gleichheit ist nur ein Phantom, solange der Reiche durch sein Monopol das Recht über Tod und Leben seiner Mitmenschen ausübt. Die Republik ist nur ein Phantom, solange die KonterRevolution von Tag zu Tag an Macht gewinnt, und zwar deswegen, weil die Lebensmittelpreise die Grenzen der Kaufkraft von 3/t der Bürger übersteigen . . .

Sollen doch die Gesetzgeber einmal frühmorgens um 3 Uhr wie das Volk Schlange vor den geschlossenen Bäckerläden stehen: „Trois heures de temps passees ä la porte d'un boulanger formeraient plus un ligislateur que quatre annees de residence sur les bancs de la Convention." (zit., wie das folgende nach Pierre Gaxotte, La Rivolution franjaise. Paris, Fayard 1928)

Und Hibert Anfang September: „Das Vaterland, das Vaterland — Dreck — die Geschäftswelt hat kein Vaterland. Solange die glaubten, daß die Revolution ihnen nützlich ist, haben sie diese unterstützt und haben den Sans-culottes ihre Hand geboten, um Adel und Parlament zu stürzen, aber mit dem Gedanken, sich selbst an die Stelle der Aristokraten zu setzen . .

Hubert ist eine zeitlang der stärkste und gefürchtetste Mann von Paris. In seiner Hand laufen dank seinen Vertrauensmännern die Fäden des Kriegsministeriums, der Revolutionsarmee, der Nationalgarde, des 24

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Bürgermeisteramts und der revolutionären Frauenclubs zusammen. Die Hebertisten waren gewillt, alle Gewalt der Pariser Kommune zu übertragen. Revolte gegen die Revolution. Das Volk strömte aufs Rathaus, besetzte den Versammlungssaal der Ratsmitglieder und fordert Brot. Chaumette wird die Petition unterstützen. Am folgenden Tag führt er die Gruppe zum Konvent: „Das ist der offene Krieg der Reichen gegen die Armen . . . Wir aber haben die Macht in Händen. Die Elenden . . . sie haben die Früchte unserer Arbeit, sie haben unsere Hemden verzehrt, sie haben unsern Schweiß getrunken und wollen jetzt an unserm Blut ihren Durst stillen!"

Die Jakobiner erklären sich mit den Hebertisten solidarisch. Auf ihrem Zug vom Hotel de Ville zu den Tuilerien tragen sie Transparente „ Guerre aux Tyrans" — „Guerre aux Aristocrates" — „Guerre aux accapareurs". Pache und Chaumette fordern die Ausrottung der "merkantilen Aristokratie". Die verzweifelte Versorgungslage hat zu einer Krise geführt, die es offenkundig machte, wie es auf dem Sektor des Versorgungs- und Wirtschaftswesens nicht mehr vorangehen wollte, solange die Konventsmitglieder noch in den alten Vorstellungen eines wirtschaftlichen Liberalismus, den sie in ihrer Jugend übernommen hatten, befangen waren. Ihnen mußte die Intervention des Staates auf dem Sektor der Produktion eine Rückkehr zum alten Regime erscheinen. Ihre Zeit war vorüber. Der Eingriff der Regierung war hart: Er führte am 27. Juni 1793 zur Schließung der Börse, am 24. August zur Liquidierung der Aktiengesellschaften, am 8. September zur Aufhebung der Wechselgeschäfte. Die lex Le Chapelier nahm den Sans-culotten das Versammlungs- und Streikrecht. Das Revolutionstribunal belegte jeden Widerstand gegen den Arbeitseinsatz mit härtesten Strafen. Trotz der Entwertung der Assignaten wurde der Maximal-Lohn auf nur Vs der Wertstufe von 1790 erhöht, später auf 50 %>. „Brüder und Freunde", sagte das Konventsmitglied Frecine zu den Arbeitern, die sich gegen das Lohnmaximum aufgelehnt hatten, „ich höre zu meinem Bedauern, daß es unter euch Männer gibt, die auf eine Erhöhung des Tageslohns zu Lasten der Republik bestehen. Eh, quoi, citoyens! Hat sich der abscheuliche Geist der Habgier, den die nationale Gerechtigkeit gerade bei den Großschiebern ausgerottet hat, in die reine Seele der Sans-culotten eingeschlichen? Ihr verlangt, daß das Gesetz in seiner ganzen Härte auf das angewandt wird, was ihr kauft, aber ihr weigert euch, es auf das anzuwenden, was ihr selbst verkauft!"

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Der Konvent hatte die nationale Produktion im Griff. Blieb die Sorge um den Außenhandel. Er wurde mit Anordnung vom 30. Mai 1794 geregelt. De facto machte sich der Staat zum einzigen Importeur. Der Export wurde f ü r eine große Zahl bestimmter Artikel praktisch gedrosselt. Die in den Häfen und Grenzstationen eingesetzten Agenturen beschlagnahmten, was ihnen geboten erschien. Die Verdienstspanne des Handels war äußerst gering. Gleich rücksichtslos war der Einsatz der Menschen f ü r den Krieg. Zum Frontdienst wurden die Jungen zwischen 18 und 25 Jahren eingezogen, aber ganz Frankreich wurde einschließlich der Frauen dienstverpflichtet. Der Staat war omnipotent. Der Konvent delegierte die Exekutive und die Überwachung an 2 Komitees von 12 Mitgliedern: Das Comite de salut public, das für Krieg, Diplomatie, die Revolutionsgesetze und die Unterhaltsprobleme zuständig war, und das Comite de surete generale für die Polizei und die Justiz. Zu der bestehenden Verwaltung kamen 20 neue Dienststellen: Kommissare für die eingezogenen Kirchengüter, den Besitz der Emigranten, Kommissare f ü r den Pferdepark, den Bekleidungssektor, die Ernten, die Pulverfabrikation, die Requirierungen, das Transportwesen, die Steuereinnahmen und so fort. In dieser Zeit machte sich der Konvent an die Ausarbeitung eines neuen Kalenders, der „Ere des Fran9ais". Die neue Ära wurde vom 22. September 1792 an datiert. Das Jahr I erstreckte sich vom 22. September 1792 bis zum 21. September 1793; das Jahr II vom 22. September 1793 bis zum 21. September 1794; das Jahr I I I (ein Schaltjahr) vom 22. September 1794 bis zum 22. September 1795 . . . Jedes Jahr wurde in 12 Monate geteilt mit ihren bedeutungsvollen Naturnamen Regenmonat, Windmonat, Nebelmonat, Blütenmonat, Erntemonat usw.; jeder Monat hatte 3 Dekaden; die in der Rechnung des 30-Tage-Monats verbleibenden Tage-Reste wurden „Sans-culottiden" genannt. „Wozu dient euer neuer Kalender?", fragte Gregoire den Berichterstatter: „Der Aufhebung des Sonntags", war die einfache Antwort. Die Maßnahmen lagen in der Richtung des hebertistischen Programms. Wenn die Sonntage aufgehoben und die kirchlichen Feiertage fortfielen, mußte mehr gearbeitet werden. Es gab dafür Feste anderer Art, durch welche die Massen an die Idee der Revolution gebunden werden sollten. Chaumette organisierte das Fest der Inthronisierung der Göttin Vernunft in Notre-Dame de Paris. An der Spitze marschierten die Abgeordneten der Kommune und des Departements. Musikkapelle und Sänger folgten. Am Ende des Zuges sah man die jungen Mädchen in Weiß mit blau-weiß-roten Gürteln. Im Innern der Kathedrale

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war symbolisch ein „Berg" (das Jakobiner-Symbol) errichtet; auf seinem Gipfel stand ein griechischer Tempel. Um ihn herum Büsten von Voltaire, Rousseau, Franklin. Die Mädchen bestiegen den Berg. Es gab Reden, Chorgesang, Fanfarenmusik, und aus dem Tempel trat eine Opernsängerin als „Raison" hervor, während Chaumette feierlich in einer Rede die Natur, die Gerechtigkeit und die Wahrheit pries. Wer sich über das ganze Treiben beunruhigt zeigte, war Maximilien de Robespierre. Er war gewiß kein Freund der Geistlichkeit; aber es lebte in diesem Mann der Fanatismus der Tugend, der Reinheit, der Gerechtigkeit. Es war etwas Messianisches in ihm. Das Weib, das in Büchners „Dantons Tod" im 1. Akt zum Volke ruft, trifft das Richtige: „Hört den Messias, der gesandt ist, zu wählen und zu richten; er wird die Bösen mit der Schärfe des Schwertes schlagen. Seine Augen sind die Augen der Wahl, seine Hände sind die Hände des Gerichts."

Robespierre (1758—1794) begann seine Laufbahn als Deputierter seiner Vaterstadt Arras bei der Nationalversammlung 1789. Seine extremen Anschauungen riefen des öfteren Gelächter hervor. Weder seine Erscheinung noch seine Redekunst waren imponierend und brillant. Doch verschaffte ihm der Ruf der Unbestechlichkeit bald Achtung und Einfluß. Sein erster bedeutender parlamentarischer Erfolg als Präsident des JakobinerClubs war derBeschluß, daß kein Mitglied der konstituierenden Versammlung in die Legislative gewählt werden dürfe — la non-r£61igibilit£ des constituants k la ligislative. Er wirkte dann als öffentlicher Ankläger beim Revolutionstribunal und wurde Urheber und treibende Kraft im Prozeß gegen den König. Ludwig XVI. wurde am 14. Januar 1793 mit 387 Stimmen gegen 334 zum Tode verurteilt. Danach benutzte Robespierre seine einflußreiche Stellung zum Sturz derGironde. Das war Anfang Juni 1793. Als leitendes Mitglied des Wohlfahrtsausschusses war er de facto Diktator Frankreichs und scheute kein Mittel, seine Ideale durchzusetzen: Die Regeneration der Gesellschaft durch Errichtung einer Herrschaft der Tugend. Hören wir einige Passagen aus seinem „Discours" vom 18. Floxal An II „Sur les Rapports des Idies religieuses et morales avec les Principes ripublicains, et sur les Fetes nationales": „Das französische Volk hat v o r der übrigen Menschheit einen Vorsprung von 2000 Jahren!"

Nach diesem Hammerschlag des Nationalismus rühmt er Frankreichs Erde:

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„ . . . oui, cette terre diüicieuse que nous habitons, et que la nature caresse avec predilection est faite pour etre le domaine de la liberti et du bonheur..

Also Freiheit und Glück sind auf diesem bevorzugten Landstrich Europas heimisch. Dieses empfindsame und stolze Volk ist wahrlich für den Ruhm und die Tugend geboren...: „Oh mein Vaterland! Hätte das Schicksal midi in fremder Erde aufwachsen lassen, idi hätte ständig meine Stimme zum Gebet für deine Wohlfahrt zum Himmel erhoben; hätte Tränen der Rührung vergossen, wenn ich von deinen Kämpfen, deinen Tugenden hörte, und voll Eifer würde ich meine Seele spannen, um alle Bewegungen deiner ruhmreichen Revolution zu verfolgen . . . Erhabenes Volk! Nimm das Opfer meines ganzen Lebens an! Glücklich der, welcher in deiner Mitte geboren wurde; glücklicher der, welcher für dein Glück sterben kann!"

Seine Schwarz-Weiß-Philosophie ist von einfachster Dialektik: Das Laster zieht den Menschen nach unten, die Tugend erhebt ihn: „Der Zweck aller sozialen Einrichtungen ist, die Leidenschaften zur Gerechtigkeit hinzuziehen, in der das ,bonheur public' und das ,bonheur ρπνέ' in eins zusammengeschlossen sind." Die „Wissenschaft der Politik" — der echten Politik — ist, wie er ausführt, nichts anderes als die tatkräftige Realisierung der politischen Aufklärungsphilosophie des „Contrat social": „A quoi se riduit done cette science my^rieuse de la politique et de la legislation? A mettre dans les lois et dans l'administration les Veritas morales rel^gu^es dans les livres des philosophes . .

Robespierre hat offenbar auch mit besonderem Interesse das letzte Kapitel des Rousseausdien Gesellschaftsvertrages gelesen; denn er sieht das Phänomen Religion in der zweifachen Perspektive: in der metaphysisch-moralischen Perspektive als Idee des Höchsten Wesens, und in der sozial-politischen Perspektive als gesellschaftliches und republikanisches Phänomen. Überdies sind die Anklänge an die „Profession de Foi du Vicaire Savoyard" unüberhörbar, denn was ist Robespierres „instinct p^cieux", „sentiment religieux", seine „id£e d'une sanction donnie aux preeeptes de la morale par une puissance sup£rieure k l'homme" anderes als Rousseaus „Conscience"? Im Namen dieser Natur-, Sozial- und Gewissensreligion führt Robespierre den Frontalangriff gegen die Priesterschaft und Priesterherrschaft: Die Priester seien für die Monral nur das, was die Charlatane für die ärztliche Heilkunst sind: „Die Priester haben Gott nach ihrem Bilde geschaffen: eifersüchtig, launisch, habgierig, grausam, unversöhnlich. Sie haben ihn in den Himmel wie in ein

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Palais verwiesen, und haben ihn nur auf die Erde zurückgerufen, wenn sie zu ihrem Profit den Zehnten, Reichtümer, Ehren, Vergnügungen und Macht von ihm wollten. Der wahrhafte Priester des Höchsten Wesens ist die N a t u r ; sein Tempel ist das All; sein Kult die Tugend, die Feste, die Freude eines großen Volkes, das unter seinen Augen versammelt ist, um die zarten Bande einer allumfassenden Brüderschaft enger zu knüpfen und ihm unsere gefühlvollen und reinen Herzen zu weihen."

Die Urteile über Robespierre divergieren auf extreme Weise. Vielleicht hat der alte Michelet recht, wenn er diesen fanatischen Moralprediger als maskierten Klerikalen charakterisiert und seinen unerhörten Aufstieg als Volkstribun aus einem politischen Milieu erklärt: „Man muß ihn begreifen und beurteilen lernen in dem ihm eigenen Milieu. Robespierre muß man im Rahmen der jakobinischen Inquisition verstehen." (Zit. bei Gaxotte, p. 395) Die Inquisition der Jakobiner: Robespierre setzt die Verfassung außer Geltung und erklärt, daß, um ein neues goldenes Zeitalter heraufzuführen, die Regierung mit Gewalt und Schrecken die Ordnung zu errichten habe, und so wird er, der Vollstrecker dieser Ära, jeden Widerstand der Parteien in Strömen von Blut ersticken. Nachdem er sich für diese Arbeit der Mitwirkung von Hubert und Danton versichert hatte, wandte der Argwöhnische seinen Verdacht gegen die Freunde und liquidierte seine Helfershelfer einen nach dem andern: Hubert am 24. März, Danton am 5. April, Chaumette am 13. April 1794. Robespierre ist nun Alleinherrscher. Er genießt die Würde und Machtbefugnis eines Hohenpriesters der demokratischen Idee. Im Mai 1794 erklärt er, daß das französische Volk an ein Höchstes Wesen und die Unsterblichkeit der Seele glaubt. Am 20. Prairial des Jahres I I (der Termin fiel auf den Pfingstsonntag 1794) hält er in den Tuilerien vor der versammelten Menge eine Rede zu Ehren des Höchsten Wesens. Die Vorgänge sind auch in der Sicht des Kulturhistorikers kurios: Louis David hat die Organisation übernommen. Treffen der 48 Sektionen frühmorgens um 5 Uhr. Letzte Probe für den Hymnus von M^hul unter Leitung der Professoren des Konservatoriums für Musik. Um 8 Uhr Abmarsch zu den Tuilerien: die Frauen und Mädchen in Weiß, die Männer mit Eichenzweigen, die Kinder mit Körben voll Blumen. Um 10 Uhr Artillerie-Salve, Musik, Ankunft des Konvents. Ansprache Robespierres. Opernchor singt den „ΡέΓβ de l'Univers, supreme Intelligence". Robespierre legt Feuer an eine aus Werg gefertigte Puppe, die den Atheismus darstellt, und aus deren Innern nach dem Brande die feuerfeste Gestalt der Weisheit hervortritt. Weitermarsch zum Champ de

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Mars mit 3 Musikkapellen, 10 Tambours, einem Freiheits-Wagen, der von 8 Ochsen gezogen wird, und Robespierre im blauen Frack . . . Es ist niemandem verwehrt, die Komik dieses Aufzuges zu sehen, aber man soll auch nicht den Fanatismus des Ernstes verkennen, der hier wieder einmal ein Blatt Geschichte mit Blut geschrieben hat, während das verblendete Volk sich berauscht und umarmt. Eine seltsame Irreleitung der Aufklärungsphilosophie, deren eine tragende Säule doch gerade die Idee und Forderung der Toleranz war. Robespierre ist auf dem Gipfel seiner Macht. Er wird von der Liebe und Bewunderung des Volkes getragen, beweihräuchert, wie wir es in solchem Ausmaße erst wieder in politischen Stilformen des 20. Jahrhunderts erfahren haben: „Bewundernswerter Robespierre, Flamme, Säule, Eckpfeiler der R e p u b l i k . . . " — „Ich will meine Augen und mein Herz sättigen an deinen Zügen . . . " — „Beschützer der Patrioten", „Genius der Unbestechlichkeit" — „erleuchtet siehst du alles, blickst in die Zukunft, entlarvst a l l e s . . . " — „Du bist meine höchste Gottheit, ich sehe in dir meinen Schutzengel..." (Zit. bei Gaxotte) E r definiert in seiner Rede vom 18. Pluviose An I I „Sur les Principes de morale politique qui doivent guider la Convention dans ^Administration intirieure de la Republique" die Prinzipien einer demokratischen Volksregierung: das „gouvernement dέmocratique ou populaire" beruht auf dem Fundament der „vertu publique". Robespierre preist, als habe er gerade Montesquieu gelesen, die Größe der griechischen und römischen Antike, der römischen Republik im besonderen — l'amour de la Patrie et de ses Lois — und er sagt vorher, daß ein solches Erbe im gegenwärtigen republikanischen Frankreich zu noch weit erstaunlicheren Taten anstacheln werde. Welche Regierung aber wird die Wunder der Regeneration der Menschheit aus dem Geist und der Kraft der Tugend vollbringen können? „Le seul gouvernement d^mocratique ou r^publicain; ces deux mots sont synonymes malgri les abus du langange vulgaire." (ib.) Im Namen seiner Prinzipien setzte nun Robespierre die Schreckensherrschaft fort. Er hatte bereits im Juni 1285 Menschen dem Blutgerüst überliefert. D a aber rief die gemeinsame Furcht eine geheime Verständigung seiner Gegner und Rivalen hervor. Robespierre stieß plötzlich im Wohlfahrtausschuß auf unerwarteten Widerstand. Tallien hielt eine feurige Anklage gegen ihn; ein Mitglied wagte den Antrag auf Verhaftung Robespierres gleichzeitig mit einem solchen gegen Saint-Just. Robespierre wurde verhaftet, aber noch einmal vom Volke befreit und aufs Rathaus

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gebracht. Er versuchte einen Selbstmord, der ihm mißlang. Am 10. Thermidor, dem 28. Juli 1794, wurde er gegen 6 Uhr nachmittags mit 20 Genossen zum Schafott auf die Place de la Concorde gefahren. Unter Händeklatschen der Menge fiel sein Haupt. Das war das Ende der Terreur. Das Nachspiel und der Auftakt zu der Tragödie II. Teil. Nach dem Sturz der Robespierreschen Diktatur begann die rückläufige Bewegung auf der Ellipse der Geschichte dieser Zeit. Montesquieu drängte Rousseau wieder zurück. Siey^s, der die Schreckensherschaft überlebt hatte, gewann an Aktualität. Die Direktorialverfassung bekannte sich zum Grundsatz der Gewaltenteilung. Ein Direktorium von 5 Köpfen erhielt die exekutive Gewalt, während die legislative in einen „Rat der Alten" von 250 über 40 Jahre alten Mitgliedern und einen „Rat der Fünfhundert" geteilt wurde. Die Kirche wurde vom Staat getrennt. Aber die Direktorialregierung war den Krisen nicht gewachsen. Es erwies sich, daß die Kräfte, welche die Revolution ausgelöst hatte, nicht eigentlich in den von den Politikern getragenen und propagierten revolutionären Ideologien bestanden, sondern daß sich in den Volksmassen ein neuartiges Nationalgefühl bildete, welches der korsische Feldherr mit seinen siegreichen Italienfeldzügen in neue Richtungen lenkte. In der Armee und seinem General gründete sich die neue Macht Frankreichs. Im Volke wuchs die Bereitschaft für den starken Mann. Der Friede mit Österreich in Campo Formio bestätigte die Vorherrschaft Frankreichs. Neue Tochterrepubliken wurden mit dem Schwert des Feldherrn begründet: aus der Republik Genua die Ligurische Republik, aus dem Kirchenstaat die Römische Republik, aus der Schweiz die Helvetische Republik, aus Neapel die Parthenopeische Republik. Alle waren von Frankreich abhängig. 1799 erfolgte der Staatsstreich. Bonaparte verständigte sich mit Siiy^s, welcher der Direktorialregierung angehörte. Der Rat der Fünfhundert wurde mit Baionetten auseinandergejagt. Die Exekutive Gewalt wurde drei Konsuln übertragen. Bonaparte wurde Erster Konsul. Zwar wurden die republikanischen Formen beibehalten, aber nur formal. Die tatsächliche Macht lag bei dem Feldherrn und Ersten Konsul. So bändigte Bonaparte die Revolution, aus der er selbst als Anhänger von Robespierre hervorgegangen war. Damals war er erfolgreicher Offizier, hatte den Konvent am 13. Vend&niaire gerettet, das aufständische Toulon bezwungen. Nun besiegte er die Revolution selbst und leitete die revolutionären und antirevolutionären Kräfte in das gemeinsame Strombett eines nationalen Willens.

TEIL III

Der Torso des 19. Jahrhunderts

KAPITEL I

Auftakt zum neuen Jahrhundert Die drei Schlüsselfiguren am Ubergang vom 18. zum 19. Jahrhundert sind Napoleon, Chateaubriand, Madame de Stael. Napoleon rettete zwar nicht die Republik am 18. Brumaire 1799, wohl aber den Fundus der republikanisch-demokratischen Ideen. Dieser Komplex war ein merkwürdiges Kompositum aus einer sozial-politischen Mystik, dem militärischen Prestige der Revolutionsarmee, einem religiös gefärbten humanitären Kosmopolitismus und einem gesteigerten nationalen Missionsgedanken. Napoleon Bonaparte war dazu berufen, diese heterogenen Elemente als Erbstücke der unmittelbar zurückliegenden Vergangenheit in einer neuartigen Diktatur zu verschmelzen, einer Diktatur, die sich ebenso von der alten Monarchie wie von der Jakobinerdiktatur der späteren Revolution unterschied. Madame de Stael steht ebenfalls am Kreuzweg der französischen Geschichte, aber als Gegnerin Napoleons. Ihre Rolle war es, die demokratischen Errungenschaften der Revolution, denen auch Napoleon, der Bewunderer Robespierres, verpflichtet war, vor einer sozialen und politischen Verfälschung zu bewahren und die Kräfte echter republikanischer Gesinnung an die Idee eines politischen Liberalismus zu binden. Ihre Gedanken gründeten in der Fortschrittsidee der Aufklärung und befestigten sich in einer unabdingbaren Moral politischen Handelns, die sie weder im Ancien Regime, noch in der Revolution, noch in der napoleonischen Diktatur gefunden hat. Aber nicht nur ihre politische Linie läßt sie als frühe Vertreterin einer zukunftweisenden, systematisch durchdachten liberalen Politik erscheinen, sondern, da sie die Literatur- und Geistesgeschichte des Abendlandes in ihr Interesse einbezog und deren Erscheinungen in der sozialen Sphäre deutete, wurde sie zur Gründerin einer umfassenden Kultursoziologie, die es vor ihr nur in Ansätzen, etwa bei Montesquieu und Voltaire, gegeben hat. Chateaubriand, der mächtigste Gegner Napoleons, führte endlich das antiklerikale, kritische, aufgeklärte 18. Jahrhundert, das sich während seiner Jugendzeit in dem blutigen Schlußakt der Revolution ausgespielt hatte, auf dem Wege über eine kirchliche und politische Restauration in

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Jahrhunderts

das sich bildende bürgerliche 19. Jahrhundert hinein. Er hat um seine Rolle als Politiker der Legitimität und als Theoretiker der konstitutionellen Monarchie gewußt und hat sich seiner politischen Leistungen ebenso gerühmt wie seiner schriftstellerischen Erfolge, die er als Verfasser seiner frühromantischen Erzählungen und Romane und als Verkünder eines religiös-ästhetischen Lebensgefühls errungen hat. Er ist neben Madame de Stael der eigentliche Gegenspieler Napoleons gewesen. Das Verhältnis dieser drei Persönlichkeiten erscheint mir in dreifacher Weise interessant: unter einem historischen Aspekt, in psychologischer Hinsicht und wegen der exemplarischen Thematik ihrer politischen Anschauungen, die von spannender Aktualität sind und bleiben werden. Alle drei waren von den Ereignissen ihrer Jugendzeit geprägt, frei von Illusionen, den Blick auf die Gegenwart und die Zukunft gerichtet. Sie schienen sich nahe zu sein und waren doch grundverschieden: Chateaubriand, der aristokratische Anhänger der englischen konstitutionellen Monarchie; Germaine de Stael, die wie er vom Geist der liberalen Fortschrittsidee getragen war; Napoleon, der Verehrer Rousseaus und Robespierres, ein von der demokratisch-republikanischen Idee geprägtes Organisationsgenie. Alle drei: Kinder einer Zeit, die geistig von Montesquieu, Rousseau und den Enzyklopädisten vorbereitet war; Kinder der Revolution, die sie als Zeugen der Ereignisse in den entscheidenden Lebensjahren geformt hat, — und alle drei begierige Leser zeitgenössischer Literatur der frühen Romantik, wie sie sich in den Romanen von Walter Scott, im Ossian, im „Werther" niederschlug; sie verspürten alle drei einen Hauch von Shakespeare und dem Dichter der „Faust". Alle drei sahen schließlich in dem Enthusiasmus und den großen Leidenschaften die Triebfeder großer Handlungen. Wir können die Begegnung der drei Persönlichkeiten als ein Drama betrachten, in dessen Ablauf sich die Fäden ihrer politischen Karrieren verspannen. Am Anfang steht, gleichsam als Exposition, die gemeinsame Erfahrung des geschichtlichen Lebens einer der bedeutungsschwersten Epochen der Menschheit: der Revolution. Alle drei waren damals etwa 20 Jahre alt; das ist das Alter der stärksten politischen Empfänglichkeit für alles Neue. Mit den ersten persönlichen Begegnungen zwischen Chateaubriand und Bonaparte und zwischen Bonaparte und Madame de Stael beginnt sich der Knoten zu schürzen. Die beiden Gegnerpaare treten gewissermaßen auf eine Simultanbühne. Die Katastrophe setzt 1814 ein: Verbannung Napoleons nach Elba, die Hundert Tage, der Zusammen-

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bruch des Empire in Waterloo. Danach erfolgt die Rückkehr der von Napoleon in die Verbannung gesdiidcten Madame de Stael aus England, während nach des Kaisers Sturz Chateaubriands politische Karriere an diesem Punkt einsetzt. Ihm war noch eine politische und diplomatische Tätigkeit bis zur Thronbesteigung Louis Philipps und ein langes Leben bis zur dritten Revolution von 1848 geschenkt. Der letzte Lebensakt war ein Kampf um die Durchsetzung der Idee des konstitutionellen Königtums: eine Kette von Erfolgen, Rückschlägen, Enttäuschungen, Revolten und einer frühzeitigen Altersresignation. Madame de Stael hingegen war alsbald nach Napoleons Sturz selbst von der Bühne des Lebens abgetreten. Sie starb schon 1817 und hat demgemäß nur die ersten wenigen Jahre der Restauration, und zwar zutiefst enttäuscht, miterlebt. Chateaubriand starb achtzigjährig 1848, als ganz Europa von einer neuen revolutionären Entwicklung ergriffen wurde und in Frankreich bereits der Schatten des Dritten Napoleon, den Victor H u g o „Napolion le petit" nennen wird, auftauchte. Das Drama ist beendet. Die Bühne wurde f ü r neue historische Spiele frei. Diese 80 Jahre, vom Ancien R£gime über die Große Französische Revolution und das Kaiserreich Napoleons I. bis zur Revolution von 1830, da Chateaubriand von der Jugend Frankreichs im Triumph durch die Straßen von Paris getragen wurde, und bis zur Februar-Revolution 1848, da sein Freund Lamartine seinen großen historischen Augenblick hatte, das ist die lange Karriere Chateaubriands. Am 19. Florial des Jahres X I (9. Mai 1803) wurde er zum Legationssekretär der Französischen Republik in Rom ernannt. Die Veröffentlichung seines „G&iie du Christianisme" (1802) hatte die Aufmerksamkeit des Ersten Konsuls auf ihn gelenkt. Bonaparte begrüßte das Buch, weil es im Augenblick seines Erscheinens eine Bestätigung und Bekräftigung des Konkordats in der öffentlichen Meinung Frankreichs bedeutete. Während seiner Reise durch Italien und in Rom selbst wurde Chateaubriand von den Italienern mit Begeisterung aufgenommen. Er erzählt, wie Väter und Mütter ihre Kinder zu ihm führten im Gefühl der Dankbarkeit, daß er die ehrwürdige Religion ihrer Vorfahren gerettet habe. Damals lenkte Bonaparte bereits die Geschicke Frankreichs und Europas. Chateaubriand, nicht weniger ehrgeizig als der Korse, mußte mit dem autoritären Konsul in Konflikt geraten, da er mit ihm in den Wettkampf um die Herrschaft seines Jahrhunderts t r a t : „dominer sur son si£cle", wie Madame de Boigne schrieb. Man versteht wenig von Chateaubriands aktivem Leben, wenn man sich nicht klar macht, daß sein Tun

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Jahrhunderts

und Denken im Bereich der politischen Aktionen von der Gestalt des Konsuls und späteren Kaisers erfüllt ist. Schon auf der ersten Seite seines Erinnerungswerkes „Les Tv^moires d'Outre-Tombe" lesen wir: „Vingt jours avant moi, le 15 aoüt 1768, naissait dans une autre lie, L l'autre extremite de la France, l'homme qui a mis fin a l'ancienne societe."

Es ist belanglos, daß sich Chateaubriand hier genau um 1 Jahr und 1 Tag geirrt hat — Napoleon wurde am 16. August 1769 geboren. Auf die dramatische Spannung des in dieser Notiz erhaltenen Vergleichs kommt es an: Er stellt sich auf gleichen Rang mit Napoleon, zeitlich, räumlich und auf der Ebene ihrer historischen Bedeutung. 20 Tage nur trennten das Datum ihrer Geburt; beide seien sie Söhne des Meeres an den Grenzen Frankreichs: der eine Bretone, der andere Korse; beide hätten, ein jeder auf seine Art, das Ende des Ancien Rigime herbeigeführt und besiegelt: der Usurpator Napoleon und der Legitimist Chateaubriand. Beide Männer sahen sich zum ersten Male 1802. Mit überschwenglichen Worten beschreibt Chateaubriand aus der Erinnerung den Eindruck, den Bonaparte auf ihn machte: „Ich war angenehm betroffen. Bisher hatte ich ihn immer nur von ferne gesehen. Sein Lächeln hatte etwas Gewinnendes; es war schön. Seine Augen waren wunderbar, besonders wie sie, von den Lidern überwölbt, unter der Stirn l a g e n . . . "

Bonaparte war seinerseits ein zu feiner Menschenkenner, als daß er nicht die eigentümliche Größe dieses vom Schicksal der Emigration gezeichneten Mannes erkannt hätte. Aber Chateaubriands Adelsstolz hindert ihn, sich zum Diener des Usurpators zu machen. Als er die Hinrichtung des Herzogs von Enghien erfährt, richtet er an den Ersten Konsul sein Entlassungsgesuch. Durch mehrere Artikel, die voller Anspielungen auf Bonaparte sind, zieht er sich den Zorn des Diktators zu. Chateaubriands Unwille gegen den Kaiser bekommt neue Nahrung durch die Hinrichtung seines Vetters Armand de Chateaubriand im März 1809, aber er weiß auch, daß gerade Napoleon eine geheime Neigung zu ihm hat: „Mehreremals bedrohte mich Bonaparte mit seinem Zorn und seiner Macht. Er fühlte sich indessen durch eine geheime Neigung zu mir hingezogen, so wie ich meinerseits eine ungewollte Bewunderung für alles empfand, was groß an ihm war. Ich hätte in seiner Regierung alles werden können, wenn ich gewollt hätte. Indessen fehlten mir, um solche Karriere zu machen, zweierlei Eigenschaften: Ehrgeiz und Heuchelei." (Vorwort zur 2. Aufl. des „Essai sur les Revolutions")

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In einem politisch-geistigen Bündnis mit Chateaubriand stand Madame de Stael. Sie war um 2 Jahre älter als er. Auch sie war in ihrer Jugend von der Gestalt des jungen Feldherrn des ruhmreichen Italienzuges fasziniert. Sie liebte ihn, was noch gefährlicher war als die Bewunderung, die Chateaubriand vor dem Korsen hatte. Bonaparte konnte aber diese Frau nicht ausstehen. Er verletzte ihre sich ihm aufdrängende Liebe, und so erwuchs ihm in Madame de Stael seine mächtigste und gefährlichste Feindin. In dem Ressentiment ihrer gekränkten Weiblichkeit nisteten sich um so fester ihre antiautoritären sozialpolitischen Anschauungen ein, die sich zu einer unverhüllten Feindschaft gegen den Diktator verdichteten. Germaine Necker, die Tochter des Finanzministers Necker, spielte schon eine politische Rolle, seit sie als junge Gattin des schwedischen Barons Stael-Holstein in ihrem Pariser Salon Einfluß auf den Gang der Geschichte nehmen wollte. Eine glühende Verehrerin ihres Vaters interessierte sie sich früh für Politik und Wirtschaft. Als gemäßigte Republikanerin geriet sie einerseits in Gegensatz zum Radikalismus der Revolution selbst, andererseits in Opposition gegen den Erben und Vollstrecker der revolutionären Bewegung, Bonaparte. Aus dieser ihrer Position erklären sich die Fronten ihrer Freunde und Feinde. Christopher Herold, der letzte Biograph der Frau von Stael, zitiert aus ihrer frühen, unveröffentlichten Verstragödie „Jan de Witt" (1797) eine Stelle, die hinter dem Porträt des Wilhelm von Nassau unverkennbar die Züge des Feldherrn und Ersten Konsuls hervortreten läßt: „Ich fürchte seinen Charakter, sogar seine Weisheit. Diese unersdiütterliehe Ruhe in einem so jungen Herzen ist nicht etwa eine Beruhigung für mich, sondern erfüllt mich mit Schrecken. Schon jetzt werden seine Gefühle einzig von seinen Interessen beherrscht . . . (Alles) wird von seinem Willen gelenkt. Jeder Schritt dient einem Zweck, jedes Wort deckt ein Geheimnis . . . Von früher Jugend an hat er nach Macht gestrebt..

Mochte der jungen Frau von Stael der ruhmgekrönte General wie Scipio oder Tankred erscheinen, mochte sie ihn — in einem Brief an Meister vom 24. Juli 1797 — „le meilleur rdpublicain de France", „le plus libre des Fran9ais" nennen, die Reaktion Bonapartes auf diesen Enthusiasmus einer Frau, welche die Beauharnais beneidete und verachtete, war f ü r Madame de Stael ernüchternd: „Cette femme-la est folle." U n d doch gab es vieles, was sie mit Bonaparte verband. Sie glaubten beide an den Fortschritt der Gesellschaft und taten das ihrige f ü r die Ausbreitung der demokratischen Prinzipien als der wichtigsten Errungen-

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Schäften der Französischen Revolution. In beiden lebte der Fortschrittsglaube als Vermächtnis des 18. Jahrhunderts. Beide waren begeisterte Anhänger Rousseaus und glaubten an das Schlagwort der gleichen Chance für alle. Beide wußten sich einig mit dem politischen und sozialen Realismus des jungen Chateaubriand, wie er sich in dessen Frühwerk, dem „Essai sur les Revolutions", dokumentierte: „Man muß Menschen und Dinge nehmen wie sie sind und sie nicht immer so sehen wie sie eben nicht sind und nicht sein können. Die alte Monarchie lebt für uns nur noch in der Erinnerung."

Man muß sich diese Worte Chateaubriands immer wieder vor Augen halten, um den Fonds an Realismus dieser vermeintlich so romantischen Generation zu verstehen. Keiner der drei glaubte an die Möglichkeit, daß die Geschichte zurückgedreht werden könne, und keiner von ihnen hielt solche reaktionäre Wendung im Interesse des sozialen Fortschritts auch nur für wünschenswert. Nun aber setzte Napoleon gewissermaßen in einer Umkehr des totalen demokratischen Prinzips „sein gigantisches Ich an die Stelle der Menschheit", wenn er für das Idol seiner einsamen Größe Millionen von Menschen opferte, während Frau von Stael, umgekehrt, ihr persönliches Leben und Vermögen für die Verfolgten und Versklavten einsetzte. So wurde während der Herrschaft des Kaisers ihr Schloß zu Coppet, das gleichzeitig ihr Verbannungsort am Genfer See war, „der oberste Gerichtshof des europäischen Gewissens". War schon ihr Salon in Paris eine Stätte politischer Intrigen und Abenteuer, so wurde Coppet das stärkste Widerstandsnest in dem von Napoleon beherrschten Europa. Es zog aber seine Widerstandskraft nicht aus aristokratischen Ressentiments gegen den Usurpator — wie es zum großen Teil bei den französischen und europäischen Aristokraten der Fall war —; auch holte Frau von Stael ihre Kraft zum Widerstand nicht aus nationalen Motiven wie die Spanier, die Russen, die Preußen, sondern die Resistance gründete, man mödite sagen, auf dem kantischen Prinzip einer unbedingten Moral, die sich als geistige Haltung ausdrückte. Mit deutlicher Anspielung auf Napoleon schrieb sie: „Wenn man einmal erst dahin gelangt ist, die Moral dem nationalen Interesse zu opfern, dann ist man auch schon nahe daran, den Sinn des Wortes Nation immer mehr einzuengen. Man versteht dann zunächst einmal darunter seine Parteigänger, dann seine Freunde, dann die Familie, die schließlich nur noch eine dezente Benennung der eigenen Person ist." (De l'Allemagne III, 13)

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Man vergleiche diesen Passus mit dem folgenden von Kant aus der „Kritik der praktischen Vernunft": „Die wahre Politik kann keinen Schritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben . . . Das Recht der Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten. Man kann hier nicht halbieren und das Mittelding eines . . . Rechts zwischen Recht und Nutzen aussinnen, sondern alle Politik muß ihre Knie vor dem ersten beugen, kann aber dafür hoffen, obzwar langsam, zu der Stufe zu gelangen, wo sie beharrlich glänzen wird . .

Der Geist Coppets war der Geist der Madame de Stael. In den posthum erschienenen „Considerations sur les principaux Evenements de la Revolution Fran9aise" ballen sich vernichtende Urteile über Napoleon zusammen: „Er betrachtet die menschliche Kreatur wie ein Faktum, wie eine Sache, nicht wie etwas seinesgleichen . . . Es gibt nur ihn, alle übrigen Kreaturen sind Ziffern . . ( I , 493) „Bonaparte ist nicht nur ein Mensch; er ist ein System." (II, 2) „Sein Plan, zur Herrschaft über Frankreich zu gelangen, zeigt eine dreifache Stoßrichtung: Er wird die Interessen der Menschen auf Kosten ihrer Tugenden zufrieden stellen; er wird die öffentliche Meinung durch Sophismen pervertieren; er wird der Nation die Zeichen des Krieges aufrichten, anstatt ihr Freiheit zu schenken." (II, 22)

Ich möchte hier eines Werkes gedenken, das noch immer viel zu wenig bekannt ist, aber einen einzigartigen Platz in der sozialkritischen Literatur Frankreichs innehat: ihr „De la Literature consid6^e dans ses Rapports avec les Institutions sociales" (1800). Dieses außerordentliche Werk ist ein Versuch, die Literatur Europas in ihrer sozialen und politischen Funktion im Rahmen einer universalen Geistes- und Kulturgeschichte von den Zeiten Homers bis zur Französischen Revolution zu beleuchten. Das Buch ist etwas absolut Neues in der Historiographie der Literatur. Das Außerordentliche bestand darin, daß die Verfasserin das System Montesquieus auf das literarische Leben angewandt hat. Es war ihr deutlich geworden, daß literarisches Leben und Schaffen von Faktoren abhängt, die außerhalb der eigentlichen Literaturgrenzen stehen, insofern auch der freieste schöpferische Genius doch immer nur ein Kind seiner Zeit und Gesellschaft ist, und daß umgekehrt der Schriftsteller seinerseits eine Verantwortung vor der Geschichte hat. Ich bin auf die Mängel des Buches an anderm Orte eingegangen, und habe an 3 Beispielen zu zeigen versucht, wie Madame de Stael ihre sozio25 Möndi, Franz. Kultur

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logischen Thesen an einem kulturgeschichtlichen Phänomen der Vergangenheit (nämlich der französischen Klassik), an einer literaturgeschiditlich bezogenen Gegenwartsfrage (nämlich der £loquence ^volutionnaire) und an einer Prognose der gesellschaftlichen Perfektibilität (einem Zukunftsproblem) exemplifiziert. Das Buch ist nichts weniger als ein erster noch tastender Schritt zu einer Soziologie der Literatur. Auf diesem Wege erscheint plötzlich ein Kapitel interessant, das in einer fast prophetischen Vision Zukunftsmöglichkeiten einer Entwicklung der Politik zu einer Wissenschaft erkennt. In einem Kapitel, wo wir es am wenigsten vermuten (De la Philosophie) lesen wir den Satz: „C'est une science k crier que la politique." Die Politik ist noch eine zu begründende Wissenschaft. In ihr spielt die Mathematik eine hervorragende Rolle. Der erste naheliegende Schritt zu einer auf das politische und wirtschaftliche Leben angewandten Mathematik war der Gedanke an eine systematische Statistik. Man müsse das Ziel vor Augen haben, durch Anwendung des Kalküls auf die Politik die jeweils beste Regierungsform unter Berücksichtigung aller besonderen geschichtlichen und sozialen Umstände der einzelnen Völker herauszuarbeiten. Warum sollte nicht, was Descartes durch die Revolution der analytischen Geometrie für die Geometrie erreicht hatte, auf dem Gebiet des politischen Lebens durch Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung gelingen können? Der Versudi einer mathematischen Behandlung der Volkswirtschaftslehre ist erst im 20. Jahrhundert zur Wissenschaft geworden. Aber hat man gesehen, wie viel Madame de Stael dem Mathematiker Condorcet schuldet? Was sie als Kennerin von Condorcets Schriften vorfühlte, war, daß Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Zukunft die Grundlagen der sciences politiques (der Ausdruck steht bei ihr) bilden werden. Nach einigen Betrachtungen schließt sie: „Warum sollte man nicht eines Tages dahin gelangen, Tafeln aufzustellen, welche die Lösung aller politischen Fragen gemäß den Erkenntnissen der Statistik und gemäß den positiven Daten, die von jedem Lande erstellt wären, enthalten würden?"

Solange die Staaten Europas nicht von diesen Prinzipien einer statistisch erarbeiteten politischen Wissenschaft geleitet würden, unterwerfen wir uns der Majestät des Zufalls, und nur in Glücksfällen werden die politischen und sozialen Institutionen der Raison konform sein, während allein die wissenschaftlich gegründete Anwendung politischer Prinzipien zu einer Stabilisierung und Sicherheit des sozialen Lebens verhelfen kann.

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Es ist nicht ohne Bedeutung, daß Madame de Stael alle diese Gedanken in der Zeit der Diktatur des Ersten Konsuls niedergeschrieben hat. Sie klickt in die Zukunft einer aufgeklärten Gesellschaft, deren Politik und Wirtschaft, die beide darniederlagen, von der Sicherheit mathematischen Kalküls auf der Basis der Moral, die in der Revolution und unter Bonaparte mit Füßen getreten wurde, geleitet werden sollte; dann müsse der Despotismus verschwinden, d. h. jene Regierungsform, welche die politische Wissenschaft nicht benötigt, weil rohe Gewalt auf das Licht der Aufklärung verzichtet. So stehen auch diese Gedankenreihen mit den Erlebnissen der Revolution und Bonapartes in engster Verbindung. Zurück zu Chateaubriand. Unter seinen politischen Schriften ist das Pamphlet „De Buonaparte et des Bourbons" vom 30. Mai 1814 das leidenschaftlichste Opusculum des Napoleongegners. In wenigen Strichen umreißt er das Drama der Französischen Revolution und die Karriere ihres Erben. Der Stil seiner Darstellung gemahnt an Bossuets Kanzelberedsamkeit und seinen christlichen Vorsehungsglauben . . . Kaum sind 15 Jahre vergangen, da stand Napoleon in Moskau, und jetzt stehen die Russen in Paris. Alle Völker zitterten unter seinen Gesetzen, von den Säulen des Herkules bis zum Kaukasus, und jetzt ist er ein Flüchtling . . . fugitif, errant, sans asyle . . . Seine Macht hat wie die Flut des Meeres die Ufer überspült, und jetzt haben sich die Wasser wie die Ebbe zurückgezogen... Aber noch zittert Europa vor seinen Schritten. Wird die Abdankung des Empereur nur ein Zwischenspiel in den Schlußakten des großen Dramas sein? Man mochte in Wien fühlen, daß Napoleons Stern noch nicht erloschen war. In dieser Zeit, zwischen der Abdankung und den Hundert Tagen, erschien das Pamphlet, von dem Ludwig X V I I I . sagte, es sei ihm eine Armee wert gewesen. Chateaubriand selbst erfaßte die Tragweite des Augenblicks: „Der Augenblick war entscheidend. Es war ein unbedingtes Erfordernis, nur den gefürditeten Mann im Blickfeld zu haben. Alles, was ihn auszeichnete, durfte jetzt nicht interessieren. Hätte man unklug die Bewunderung auf die Waagschale gelegt, wäre sie zugunsten des Unterdrückers unserer Freiheiten gesunken."

Darum hat Chateaubriand bewußt, aus politischen und taktischen Erwägungen heraus, in seinem Napoleonbild alles herausgelassen, was für den Augenblick, da das Königtum der Bourbonen wiederhergestellt werden konnte, etwa Stimmung f ü r den Usurpator hätte machen können. So ist das Napoleonbild von 1814 einseitig gezeichnet, weil es damals der

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Endkampf gegen den Unterdrücker der französischen Freiheiten so erforderte. Die späteren Napoleonbilder, in denen Chateaubriand die Größe und Bedeutung des Gegners anerkennt, bedeuten also nicht einen Wandel seines Urteils über den Empereur, vielmehr müssen sie von den gewandelten zeitgeschichtlichen Voraussetzungen gesehen werden, da Napoleon auf Sankt Helena und nach seinem Tode keine Gefahr mehr war. Erst dann konnte Chateaubriand seinem Gegner Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er konnte als „historien consciencieux" sprechen, als „citoyen qui voit l'independance de son pays assur£". Wie sieht die Bilanz aus, die Chateaubriand nunmehr ziehen kann? Auf der einen Seite stehen seine Verbrechen, auf der andern seine historischen Leistungen: Er charakterisiert seinen Gegner unter 3 Aspekten: als „criminel en politique", als „fou", als ^ d u c t e u r " . Kriminell: Seine politische Kriminalität war die Zerstörung des Volkskörpers durch den Wahnsinn der Eroberungskriege und die Heraufführung einer Herrschaft der Unterdrückung, der Sklaverei, der Lüge: oppression, esclavage, mensonge. Chateaubriand analysiert die mannigfachen Erscheinungsformen dieser kriminellen Triebe, ζ. B. die Umbiegung der Werte und Begriffe: „Ein Volk, das für seine legitimen Herrscher kämpft, ist ein Volk von Rebellen." Oder: „Ein Verräter ist ein treu ergebener Untertan." Als Folge des despotischen Prinzips wurde eine Herrschaft der Lüge eingesetzt: „Tageszeitungen, Pamphlete, Reden, Vers und Prosa, alles verhüllt die Wahrheit". Die Schriftsteller haben sich rückhaltlos in den Dienst des Diktators zu stellen. Kein Buch kann erscheinen, das nicht auf irgendeiner Seite den „Stempel der Knechtschaft" getragen h ä t t e . . . „marqui de l'eloge de Buonaparte comme du timbre de l'esclavage" . . . In den Künsten sei es dasselbe gewesen. Die öffentliche Meinung wurde ausgeschaltet, oder wie Chateaubriand ironisch bemerkt: Der Diktator verfügte jeden Morgen neu über sie. Innerhalb der polizeilichen Organisation bestand ein besonderes Comite, an dessen Spitze eine Art Propagandaminister funktionierte, „un directeur de l'opinion publique". Dieser hatte die Richtung anzugeben, in welcher zu schreiben und zu denken war. Der Wahnsinnige: Als wahnsinnig bezeichnet Chateaubriand in erster Linie die napoleonischen Kriege. Er malt in grauenvollen Farben Leid und Elend Frankreichs, dessen Söhne auf die Schlachtbänke des eigennützigen Ausländers geführt worden seien, eines Mannes, dem kein Tropfen französisches Blut in den Adern flöß. Wahnsinnig waren die titanischen Träume Buonapartes, wenn er die Häfen Spaniens und der Ostsee sperrte,

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um den Kampf gegen England durchzuführen. Welteroberungsträume. Träume eines politischen Narren und eines Wüterichs, dem es an Verstand und Vernunft gebrach. Schließlich nennt ihn Chateaubriand einen Schauspieler und Verführer: Von seinem ersten Auftritt an offenbarte Buonaparte sein Schauspielertalent, worunter Chateaubriand die Gabe verstand, wahre Absichten zu verbergen. Buonaparte war in den Augen Chateaubriands ein Fremder, der die Franzosen erst zu gewinnen sich bemühen mußte, und nicht allein die Soldaten, die sein Feldherrngenie immer gefesselt hat. Bonaparte habe seine Verführungskünste meisterlich einzusetzen verstanden. Er gewann nach und nach die Republikaner, die Monarchisten, das Volk. Die Republikaner sahen in ihm ihr eigenes patriotisches und soziales Werk sich vollenden und beugten sich willig dem „chef populaire d'un Etat libre". Die Monarchisten glaubten ihm, wenn er sich als „restaurateur de l'ordre, des lois et de la religion" bezeichnen konnte. Dieser Seite waren die Sympathien der ganzen Bourgeoisie geöffnet. Dem Volke schließlich gefiel es, daß sich Buonaparte demokratisch gebärdete, wenn nämlich nicht mehr Rang und Würde, sondern persönliche Tüchtigkeit in demokratischem Wettbewerb entscheiden sollte. Ergebnis: „Tout le monde ε β ρ έ ^ ΰ en lui." Was steht auf der andern Seite? Sehr bald nach der Verbannung und dem Tod Napoleons (1821) entstand das legendäre Bild, wie es die Soldaten, das Volk, Dichter, Künstler als eine zweite Wirklichkeit geprägt haben. Davon hat uns Heinrich Heine ein anschauliches Bild in seinem „Französische Zustände" gegeben. Wir denken nicht nur an Β έ ^ ^ β Γ , sondern an Hugo, Stendhal, Balzac, an Maler und Bildhauer wie Gros oder Rude. Auch Chateaubriand durdidachte noch einmal das Phänomen Napoleon, als keine Gefahr mehr von ihm drohte. Nun legte er die Gewichte der Taten und Leistungen seines Gegners auf die andere Schale der Balance und resümierte in einer Gegenüberstellung alles, was wahrhaft groß und bedeutend an ihm war und alles, was Großes und Bedeutendes durch ihn geschah. Ich wüßte keine Seite Literatur zu nennen, wo ein Gegner seinem Gegner, nachdem dieser besiegt war, solche Gerechtigkeit hat widerfahren lassen. Ein Gleiches zu tun, war der anderen Gegnerin Napoleons, Madame de Stael, nicht mehr vergönnt: Der Tod hat sie zu früh aus dem Leben gerissen. Es würde zu weit führen, die einzelnen Posten der Bilanz aufzuführen. Die immer wiederkehrende stilistische Formel lautet: „Bonaparte

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n'est point grand p a r . . . il est grand p o u r . . . " und nun folgen Sätze oder Substantive, -welche die Leistungen beinhalten. Gewicht um Gewicht wird auf die Waage gelegt — und siehe! die andere Schale steigt zugunsten dieser schwerer wiegenden. Es ballen sich die einzelnen Gewichte zu Gewichtgruppen: Er war groß in der Organisation der Staatsführung und Verwaltung: er war groß in der Wiederherstellung der Ordnung nach dem Chaos der anarchischen Regierungen; er war groß durch die kulturellen Leistungen des Schulwesens und des Code civil; er war groß durch die Restauration des kirchlichen Lebens, der Religion und groß vor allem, weil er alles aus eigener Kraft geschaffen hat, weil er als Gleicher unter Gleichen begann . . . Man lese das alles in den „Memoires d'OutreTombe" nach — und forsche weiter in diesen interessanten Denkwürdigkeiten: man wird entdecken, daß Napoleon, sein Leben, seine Karriere, seine Gegnerschaft das hundertfach variierte Leitmotiv der Memoiren sind — und daß Napoleons Ende die unabdingbare Voraussetzung der eigenen politischen Karriere Chateaubriands war, einer Karriere, die er selbst in inniger Beziehung zu seiner Laufbahn als Schriftsteller gesehen und beurteilt hat. In der Tat begann nach dem Sturz Napoleons seine politische Laufbahn. Wenn er freilich am Ende seiner Memoiren behauptete, daß er eine entscheidende Rolle im politischen Leben der Nation gespielt habe, so ist das gewiß mehr Selbstgefälligkeit als objektive Wahrheit. „Alle seriösen Geister", sdirieb er, „die damals in den Regierungen saßen, stimmten darin überein, daß sie in mir einem Staatsmann begegnet wären . . . Bonaparte hatte es vorausgesagt. Ich darf also, ohne midi zu rühmen, von mir glauben, daß der Politiker in mir den Schriftsteller aufwog." (Mim. V, 408)

Am Spielbrett der europäischen Politik, wohin das Schicksal ihn gesetzt habe, sei er dem Fürsten Metternich und dem englischen Minister Canning überlegen gewesen. Wie steht es in Wirklichkeit? Chateaubriand war für den Botschafterposten in Stockholm vorgesehen. Statt dessen ging er nach Berlin. Die diesbezüglichen Memoiren des Buches IV sind etwas enttäuschend. Was er von seinem „illustre ami" Alexander von Humboldt sagt, wie er die Hofgesellschaft beschreibt, was er von seinen Unterhaltungen mit dem König Friedrich-Wilhelm III. im Opernhaus erzählt, alles das und die Schilderungen der Denkmäler, der Stadt, des Tiergartens, der Musizierfreunde der Berliner Jugend sind etwas fade und ein wenig abwertend dargestellt. Ein Jahr später (1822) finden wir ihn als Botschafter in Lon-

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don, das ihm seit seiner Emigration vertraut war. Hernach vertrat er Frankreich auf dem Kongreß von Verona. Aus nicht ganz durchsichtigen Gründen wurde er am 6. Juni 1824 gestürzt. Ludwig XVIII. starb, sein Bruder Karl X. bestieg den Thron. Chateaubriand wird Mittelpunkt aller Politiker und Schriftsteller der liberalen Opposition. Er beschwört den neuen König, sich von seinen reaktionären, verhängnisvollen Ministern zu trennen. Vergeblich. Nun hatte er die ganze oppositionelle Jugend auf seiner Seite: Lamartine, Vigny, B£ranger, Hugo, Lamennais. Er gründete die „Soci£t£ des Amis de la Libert^ de la Presse". Vergessen wir nicht, daß er seinen Kampf um die Pressefreiheit als die wichtigste und wesentlichste Aufgabe seines Lebens erachtete: „La liberte de la presse a ete presque l'unique affaire de ma vie politique; j'y ai sacrifi£ presque tout ce que je pouvais y sacrifier, temps, travail ou repos: j'ai toujours considere cette libert£ comme une constitution entiere." (Im Vorwort zur Ausgabe seiner Werke 1828)

Als der König den reaktionären Polignac in die Regierung berief, begriff Chateaubriand, daß die Monarchie ihrem Ende entgegenging. Das Volk sah sich betrogen, die Pressefreiheit wurde unterdrückt, das Eigentum ungerecht verteilt. Chateaubriand demissionierte zum zweiten Mal. Zwar wurde Polignac gestürzt, aber mit ihm stürzten auch die Bourbonen, für deren Legitimität sich Chateaubriand stets eingesetzt hatte. Das Jahr 1830 fegte die alte Monarchie hinweg. Chateaubriand begriff, daß es sich bei den Juli-Ereignissen um eine Revolution handelte, die ihre tiefe Berechtigung hatte. Er steigerte seinen Ingrimm: „Noch nie war eine Selbstverteidigung legitimer und heroischer als die des Volkes von Paris . . . Grauenhafte Minister haben die Krone besudelt und haben sich hinter die Rechtsverletzungen durch Mord gestellt..." . . . „Ich' glaube nidit an das göttlidie Recht des Königtums, ich glaube an die Macht der Revolutionen und der Tatsachen."

Er träumt von einer „Grande Ripublique" als Erbin aller großen Errungenschaften der Revolution von 1789: der politischen Freiheit, der Pressefreiheit, des Ausgleichs der Rangstufen, des Zugangs der Bürger zu allen Ämtern, der Gleichheit aller vor dem Gesetz, der Wahlen und der Volkssouveränität. Am 30. Juli trug ihn die Jugend triumphierend durch die Straßen, von den Tuilerien durch die rue de Seine zum Palais de Luxembourg. Er schildert mit der ihm eigenen pathetischen Selbstgefälligkeit die Vorgänge dieses denkwürdigen Tages: Versunken in sich selbst wohnt er der Bestattung einiger Opfer der Barrikadenkämpfe bei. Plötz-

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licii wird er aus seiner Dumpfheit herausgerissen: „Vive le defenseur de la libert£ de la presse!" Die Jugend kannte seine Polemiken um die Unterdrückung der zivilen Freiheiten... „oü allez-vous?, oü allezvous?" rufen die jungen Menschen. „Eh, bien, au Palais Royal". Abgleicht tragen sie ihn empor und rufen: „Vive la Charte, vive la Ι&εηέ de la presse! Vive Chateaubriand!" Er kann sich der Begeisterung der Jubelnden nicht erwehren und gesteht ihnen schließlich, daß er sich zur Chambre des Pairs begeben wolle. Einige rufen: „Aux Tuileries! aux Tuileries!", andere: „Vive le Premier Consul!", was wohl bedeuten sollte, daß sie in ihm den Nachfolger des revolutionär-demokratischen Bonaparte feiern wollten. Einer trägt ihn auf den Schultern. Von der Straße und aus den Fenstern schallt es: „A bas les chapeaux! Vive la Charte!" — worauf Chateaubriand: „Oui, Messieurs, vive la charte! mais vive le roi!" In der Chambre des Pairs plaidiert er ein letztes Mal die Sache des legitimen Königs. Vergeblich. Die Geschichte ging andere Wege. Der Herzog von Organs wird zum Generalstatthalter des Königreichs ernannt. Karl X. geht in die Verbannung, und der Herzog von Orleans wird König Louis-Philippe. Chateaubriand aber bleibt den Bourbonen treu und weigert sich, den Eid auf Louis-Philippe zu leisten. Er demissioniert ein letztes Mal. Damit beendet er seine politische Karriere — und auch seine Memoiren. Das Finale seiner Denkwürdigkeiten setzt ein. In gestraffter Engführung verschlingen sich die Motive ineinander und bauen sich zu einer grandiosen Schlußfuge auf. „Hier endet meine politische Laufbahn . . . " Drei Katastrophen haben die Marksteine seines Lebens gesetzt: In der ersten Periode hat er das amerikanische Abenteuer, den „Voyage en Amerique" unternommen und nach Frankreich zurückgekehrt als Soldat gegen die Revolution gekämpft. „Ich habe Ludwig XVI. sterben sehen." Am Ende der zweiten Etappe, die seine große literarische Periode war, ist Napoleon von der Bühne der Welt abgetreten. In der dritten Etappe hat Karl X. mit seinem Sturz audi Chateaubriands politischer Laufbahn ein Ende gesetzt. „Charles X, en tombant, a ferme ma carri^re politique." Chateaubriand selbst starb am 4. Juli 1848, als die dritte Revolution ausbrach. Das Jahr 1848 war auch das Jahr des „Kommunistischen Manifestes" von Marx und Engels. Was sich aus diesem Samen für die Geschicke der östlichen und westlichen Welt entwickeln sollte, hat sein Blick nicht mehr erfassen können. In diesem Sinne gehört Chauteaubriand der Vergangenheit an, und er scheint nur in der Literaturgeschichte weiterzuleben. Aber er wollte den Politiker in ihm nicht vom Schrift-

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steller getrennt wissen. Darum ist zu fragen, was an Gedanken und Taten, die der politische Schriftsteller vollbrachte, wohl doch bleibenden Wert hat, so verschiedene Wege die Gegenwart und Zukunft einschlagen mögen. 1. Was bleibt, ist die Forderung einer bedingungslosen Verteidigung einer politischen Moral und einer moralischen Politik gegen jede Art von zynischem Opportunismus. Das war seine Grundhaltung, die er nacheinander gegen Talleyrand, F o u d ^ , Metternich, Villele einnahm. E r postulierte den Primat der Ethik auch im politischen Leben. Dem machiavellistischen Prinzip einer „morale des int^rets" stellte er das Kantische Prinzip der „morale des devoirs" gegenüber. Eine politische Ethik ist aber nur auf dem Fundament der Freiheit möglich. E r scheint, ohne daß er den Satz aus den „Reflexionen zur Metaphysik" zu lesen brauchte, Kants Gedanken zum seinigen gemacht zu haben: „Das metaphysische Hindernis aller Moral ist die Verleugnung der Freiheit." (Kant X V I I I , 82)

Damit näherte er sich Rousseau und seiner Kampfgenossin Madame de Stael. Sicher hat sich Chateaubriand keinen Illusionen darüber hingegeben, daß die Verbindung von Politik und Moral nur selten, wenn überhaupt je in der Geschichte, eingegangen wird. Sie bleibt dennoch als Forderung bestehen. 2. Chateaubriand war bei aller Idealität seiner Forderungen ein Realpolitiker, der die Grenzen und Möglichkeiten des Handelns sah. Man müsse im Leben, sagte er, jeweils von dem geschichtlichen Standort der Gegenwart ausgehen un sich nicht an Träume vergangener Zeiten verlieren. „Un fait est un fait". Mögen frühere Regierungsformen ausgezeichnet oder schlecht gewesen sein, das Vergangene ist v e r g a n g e n . . . Die Menschen stünden nicht mehr dort, wo sie vor 100, geschweige vor 300 J a h ren gestanden hätten. Chateaubriand ist der absolutistischen Staatsform des 18. Jahrhunderts entwachsen. E r hat in seinem Londoner Exil als junger Mann mit den anti-absolutistischen Monarchisten wie Mallet du Pan, Lally-Tollendal, Malouet, Fontanes u. a. verkehrt und geriet nach seiner Rückkehr aus der Emigration in den Kreis um Mole, Joubert, Madame de Stael, Benjamin Constant und also in die Opposition gegen die Diktatur Bonapartes. Er hielt an der fundamentalen Konzeption einer parlamentarischen Monarchie fest, wie sie in England funktionierte und sich in dem Satz verdichtete: Le roi regne et ne gouverne pas. Das schien ihm die moderne Form staatlichen Lebens zu sein.

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3. Jedermann weiß, welche Bedeutung die Religion im Leben und in den Anschauungen Chateaubriands gespielt hat. Man sieht aber dieses Problem zu einseitig in der literarisch-ästhetischen Beleuchtung seines „Ginie du Christianisme" und vernachlässigt die politische Perspektive der Frage. Gewiß soll das Christentum mit seinen Dogmen unerschütterlich stehen bleiben, aber das religiöse Leben muß sich dem Gange der allgemeinen Geschichte anbequemen: „Le christianisme, stable dans ses dogmes, est mobile dans ses lumi^res" (zit. bei Cattaui). Das kann nichts anderes heißen, als daß zwar die Glaubensgrundsätze unverändert bleiben sollen, daß aber wohl eine fortschreitende Beweglichkeit im Lichte moderner Erkenntnisse garantiert sein müsse. In diesem Sinne kann Chateaubriand sagen, daß „die Religion des Erlösers noch von ihrem Endstadium entfernt ist", und eben erst in ihre politische Phase eingetreten sei, wo sich evangelischer Geist in den Schlagworten der Großen Revolution, der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit charakterisiert. Noch sei das Evangelium nicht aller Welt gepredigt worden. Er wünschte, daß die Geistlichkeit sich von der Geschichte und den Erkenntnissen der Naturwissenschaften Rechenschaft gebe. Sie sollten eine Stütze der konstitutionellen Einrichtungen des politischen Lebens sein. Was ihm am Ende vorschwebt, ist ein soziales, liberales, politisches Christentum. 4. Als Dichter, der er war, hat er vielleicht tiefer in den unterirdischen Lauf der Geschichte geblickt als mancher sogenannter Praktiker der Politik von geringerem geistigen Horizont. Er sah, was in der Zukunft geschehen wird, und was audi wirklich eingetroffen ist. Nachdem er nämlich festgestellt hatte, daß jeweils neue Prinzipien des politischen Lebens stufenweise die alten überlieferten Prinzipien außer Kraft setzen, und daß demgemäß die Demokratie an die Stelle der alten Aristokratie und des alten Königtums treten wird, sagte er in seiner Schrift „De la Restauration et de la Monarchie elective": „Wir gehen einer allgemeinen Revolution entgegen. Wenn die Umwandlung, die sich heute vollzieht, weiterhin auf kein Hemmnis stößt, wenn die .raison populaire' sich stetig entwickelt, wenn die Erziehung der Mittelklassen keine Unterbrechung erleidet, dann werden die Völker sich auf einem gleichen Niveau der Freiheit einander annähern. Wird aber die Umwandlung aufgehalten, dann werden die Völker auf ein gleiches Niveau der Despotie gedrückt werden . . . les nations se nivelleront dans un igal despotisme . . . Freilich wird ein solcher Despotismus nur kurze Zeit dauern, weil die Aufklärung zu weit fortgeschritten ist, aber er wird hart sein, und lange, soziale Auflösungserscheinungen werden folgen . .

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Wer weiter sucht, wird in Chateaubriands Schrifttum noch andere P r o phezeiungen

finden,

aber

audi

eigenartige

Widersprüche.

Seltsamer

Mensch, dieser bretonische Aristokrat und Vorkämpfer liberal-demokratischer Freiheitsrechte. Eine widerspruchsvolle Erscheinung, wie sie in Zeiten des Umbruchs auftreten: Verteidiger der legitimen Monarchie auf der einen Seite, und andererseits überzeugt davon, daß die Zukunft der Völker den republikanischen Verfassungen gehört. Ein Restaurator des mittelalterlichen christlichen Kultus, und ein Fürsprecher moderner Politisierung des Christentums und der Geistlichkeit. Ein Mann, der groß denken und handeln mußte, weil die Größe und T a t k r a f t seines Gegners Napoleon ihn dazu herausgefordert hatte.

KAPITEL II

Was heißt Romantik, und was ist ein Romantiker? Mit dieser Doppelfrage sollte eine Betrachtung des 19. Jahrhunderts beginnen, da in seinen ersten Dezennien die „romantische Bewegung" für die Sozial-, Kunst-, Kultur- und Geistesgeschichte charakteristisch ist. Allerdings kompliziert sich die Beantwortung einer solchen legitimen Frage in dem Maße, wie sie von den Perspektiven abhängt, unter denen der Begriff und die Sache zu sehen sind. Weiterhin hat die Romantik als eine soziale, wissenschaftliche, philosophische, literarische und künstlerische Bewegung eines bestimmten Zeitabschnitts der europäischen Gesellschaft eine über die Grenzen der einzelnen Nationen gehende Bedeutung; sie zeigt aber auch Sondermerkmale der einzelnen Nationalkulturen und ihrer gesellschaftlichen Träger. Die Romantik sieht in England anders aus als in Italien; in Polen und Rußland anders als in Spanien und Portugal; in Deutschland anders als in Frankreich. Dennoch lassen sich gemeinsame Merkmale feststellen, Merkmale, die wiederum in sich nüanciert sind; so werden wir immer wieder bei ihrer Festlegung zur Vorsicht vor Verallgemeinerungen aufgerufen. Seit die Schlegels und Heine im Zeitalter der deutschen Romantik und einige Mitarbeiter des „ G l o b e " bei den Franzosen sich der Fragen nach der „ R o m a n t i k " angenommen haben, bis hin zu den neueren literaturwissenschaftlichen Versuchen von Strich, Klemperer, Huch, Korff, Petersen, Walzel, Kluckhohn, R . B e n z , Wellek, E . C . M a s o n , Farin e l l i . . . oder von Pierre Courthion, Julien Tiersot, L£on Guichard und so vielen anderen, die das Problem in die Gebiete der Musik und der bildenden Künste einbezogen, seitdem ist so viel Widersprüchliches an Erkenntnissen, ist so viel Divergierendes an Forschungsrichtungen zutage getreten, daß die Kompliziertheit der Probleme eine einfache und klare Beantwortung obiger Fragen weiter hinausschiebt. Immerhin ließe sich ein Fragebogen ausarbeiten, dessen Kardinalfragen sich zur Erlangung einer ersten Übersicht und einiger allgemeiner Einsichten in das, was wir gemeinhin unter Romantik verstehen, in folgende 5 Punkte verdichten könnten: 1. Wie steht der Mensch zur Religion, zum Übersinnlichen, zu Gott? Welchen Weg zu Gott zu gehen oder ihn zu suchen, wäre der „ R o m a n -

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tiker" am ehesten bereit? — den rationalen Weg in Begleitung der englischen Deisten oder Voltaires? — den ethischen Weg mit Rousseau oder Fichte? — den ästhetischen Weg des künstlerisch Empfänglichen mit Chateaubriand, Wackenroder oder Philipp Otto Runge?, ein Weg, der zum Pantheismus führt, und den in Frankreich Lamartine vorausging? Und da ist bei diesem Dichter, dem ältesten der französischen Romantiker, 1790 geboren, eine Besonderheit des christlich-religiösen Charakters auffällig, die Verschmelzung katholischer Religiosität mit platonischem Gedankengut. Das lange Gedicht „La Mort de Socrate" stellt im Anschluß an Piatons „Phaidon" die letzten Stunden des Sokrates dar und ist eine poetische Zusammenfassung einiger Hauptthemen der platonischen Ideenlehre. Für Lamartine sind das sokratische Philosophieren und des Sokrates Lebenshaltung eine Praefiguration von Christus und der christlichen Lehre. Piatons Philosophie wird als eine partielle Offenbarung der christlichen Religion gedeutet. Derlei Prozesse sind uns aus der italienischen und französischen Piatonrenaissance bekannt. Ich erinnere an Ficino, Pico della Mirandola, Margarete von Navarra, denen sich viele Künstler, Dichter, Philosophen, Theologen, Humanisten ganz Europas anschlossen. Metaphysik und Dichtung werden eins: „La Metaphysique et la Poesie sont done soeurs ou plutot ne sont q u ' u n e . . . " (Lamartine im Avertissement zur „Mort de Socrate") Ein großer Teil der Lamartineschen und aus Lamartines religiösen Dichtungen hervorgehenden romantischen Poesie läßt sich geistesgeschichtlich als Erbgut der europäischen Piatonrenaissance deuten. Diese selbst war ein universaler Einschmelzungsprozeß wesentlicher Elemente aus der vorsokratischen, platonischen, jüdischen, christlichen, gnostischen und neuplatonischen Metaphysik, die in der Romantik neuartige Umformungen erfuhren und nicht ohne Bedeutung f ü r die Entwicklung des französischen Symbolismus gegen Ende des 19. und den Surrealismus des 20. Jahrhunderts waren. 2. Wie steht der „romantische" Mensch zur Gesellschaft und Geschichte? Ist er Monarchist, Republikaner, Sozialist oder Napoleonanhänger? Man wird bei der Beantwortung dieser Frage sogleich erkennen, daß gemäß der historischen Entwicklung die Antworten etwa in Deutschland, England, Spanien anders ausfallen werden als in Frankreich, das die Große Revolution hervorgebracht hat. Man wird aber auch bei näherer Betrachtung der französischen Verhältnisse alsbald einsehen, daß neben den demokratischen Republikanern und den sozialistischen Saint-Simonisten auch die monarchistisch gesinnten Traditionalisten wie De Maistre

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Der Torso des 19. Jahrhunderts

oder die christlichen Sozialisten wie Lamennais stehen. Ist es nicht eine politische Sonderheit der „französischen Romantik", daß sich in dem liberalen Katholizismus und dem saint-simonistischen Sozialismus, so deklamatorisch sich beide ausnehmen, ein aufrichtiges Mitleiden an der gequälten Menschheit in Vers oder Prosa ausspricht? Das ist bei Vigny und Georges Sand nicht zu überhören; das ist aber auch ein Zug im Lamartines und Hugos Physiognomie, denkt man dabei etwa an die „Marseillaise de la Paix" des einen oder den Roman der „Miserables" des andern. Lyriker von der Größe eines Hugo oder Lamartine predigen nicht nur als Poeten soziale Mission, sondern fordern politische Aktivität und gaben sich selbst als Beispiel. Lamartines Broschüre „Sur la Politique rationelle" (1831) und sein im Dezember des gleichen Jahres erschienenes langes, dreiteiliges Gedicht „Les Revolutions" hatten schon kurz nach der Juli-Revolution seinen politischen und sozialen Fortschrittsglauben bekundet. So konnte der saintsimonistische „Globe" die Wendung des Dichters von einem lyrischen Individualismus zu einem politischen Engagement begrüßen. Lamartine selbst hat in seinem „Voyage en Orient" seine Sympathie für den SaintSimonismus bekannt. Er begrüßt in der Bewegung die „application du diristianisme k la βοαέίέ politique" — die „legislation de la fraternit£ humaine" — . . . „in diesem Sinne bin ich Saint-Simonist". Er pflegte Beziehungen zu führenden Sozialisten und gründete zusammen mit ihnen und Victor Hugo auf Initiative von Lechevalier den „parti social". Dichter und Künstler der französischen Romantik lebten in einem sozialistischen Klima, das nicht nur die politische und wirtschaftliche, sondern auch die künstlerische und literarische Atmosphäre der Zeit zwischen den Revolutionen von 1830 und 1848 bestimmte. Im Gegensatz zu den Verteidigern der traditionellen religiösen und politischen Ordnungen der Restauration standen die Modernen, also die jugendlichen Romantiker, auf Seiten der Bewegung der Saint-Simonisten und Fourieristen. Die sozialistischen Tendenzen der drei großen Romantiker Hugo, Vigny, Lamartine sind mit Händen zu greifen. Aber auch Charles Nodier und der in Paris lebende Heinrich Heine, Sainte-Beuve und Georges Sand sind hier zu nennen, — ganz zu schweigen von den „Sympathisierenden" unter den Malern und Musikern wie Delacroix und Berlioz. Erwähnen wir auch Historiker wie Michelet und Quinet: sie leiteten den Strom der antiklerikalen und demokratischen Ideen in die akademischen Hörsäle.

Was heißt Romantik, und was ist ein Romantiker?

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Die sozialisierende Tendenz der Zeit ging quer durch die Gruppen hindurch. Ein religiöser Kopf wie Feliciti de Lamennais (1782—1854) wirkte weithin aus dem Geiste eines sozialistisch konzipierten Christentums oder eines evangelischen Sozialismus. Bei ihm verkehrten Lacordaire und Montalembert, Maurice de G ^ r i n und Sainte-Beuve. Seine „Paroles d'un Croyant" (1834) führten zum Bruch mit Rom. „Le Livre du Peuple" (1837) ist das Buch seines parti republicain, ein Anathema gegen die Reichen und Mächtigen der Welt, eine Apologie der Armen und Geknechteten, eine Prophetie der Zukunft. Wie die französischen Arbeiterpriester des 20. Jahrhunderts ging er bis an die Grenze, wo Evangelium und Kommunismus sich begegnen. Er predigte die Solidarität des Proletariats, die Brüderlichkeit der Völker, den pazifistischen Internationalismus. Dennoch sahen die Saint-Simonisten, Fourieristen und Kommunisten in ihm einen Feind des Sozialismus, erklärte dieser Priester doch: „Nicht darum geht es, die Besitzenden ihres Besitzes zu berauben, vielmehr darum, für diejenigen, denen nichts zu eigen ist, ein Eigentum zu schaffen." (Livre du Peuple)

Gewoge und Brandung an allen Ufern der bewegten Zeit. Eine Hochflut von Zeitschriften überschwemmte das Land. Sie gehören zum Bild der romantischen Epoche. Der Globe, der Producteur, der Organisateur (alle drei in den 20 e r Jahren gegründet) sind Organe des Saint-Simonismus. La Femme libre, La Femme nouvelle und La Tribune des Femmes (alle aus dem Anfang der 30 e r Jahre) gehören als Dokumente der Frauenemanzipation zum romantischen Saint-Simonismus. Erwähnen wir auch die 3 Zeitschriften des Saint-Simonisten Leroux: La Revue encyclopedique (1831—35), La Revue independante (1841—43) und die Revue sociale (1845—50). Zeitlich zwischen beiden saint-simonistischen Generationsgruppen schieben sich die Organe des Fourierismus: Le Phalanstere und La Phalange aus den 30 e r Jahren, die Democratie pacifique und L'Humanite aus den 40 e r Jahren. Das vierte Jahrzehnt sieht den Durchbruch der kommunistischen Blätter: La Ruche populaire, L'Union, L'Atelier, Le Travail, L'Humanitaire und die Zeitschrift Proudhons Le Peuple. Das ist nur ein Ausschnitt aus der beträchtlich größeren Zahl sozialistischer Revuen, die in dem dokumentarischen Buch von H . - J . Hunt (1935) zum Gegenstand aufschlußreicher Untersuchungen über den „Sozialismus und die Romantik in Frankreich" gemacht worden sind. (Etudes de la Presse socialiste de 1830 k 1848).

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Der Saint-Simonismus und die ihm nahestehenden sozialpolitischen Strömungen sind aus dem Bild der französischen „Romantik" — so paradox das erscheinen mag, — ebensowenig herauszudenken wie die philosophischen Romane des „Realisten" Balzac oder die mystischen Züge des „Positivisten" Comte aus deren gesamten Schrifttum. Was wollte SaintSimon? Sein unbedingter Glaube war, daß die Menschheit dem Zustand der Vollendung entgegengeht. Der Weg zur perfection führt durch einen Wechsel von epoques organiques und epoques critiques, deren dialektische Spannung zum Fortschritt der Zivilisationen notwendig sind. Unter „organischen Epochen" versteht er diejenigen, in denen eine gesetzmäßige, soziale Ordnung herrscht, wo alle Bemühungen auf ein Ziel ausgerichtet und alle menschlichen Tätigkeiten koordiniert sind. Die „kritischen Epochen" sind diejenigen, in denen jede „Kommunion des Denkens, des gemeinsamen Handelns, der Koordination" aufhört, wo also die Gesellschaft „nur eine Agglomeration isolierter und sich befehdender Individuen" darstellt: Auf den altgriechischen Polytheismus folgte der auflösende Skeptizismus des philosophischen Zeitalters; auf den verbindenden christlichen Spiritualismus die Epoche der Reformation und Renaissance. Im Universum wie in der Menschheitsgeschichte wirken drei Grundkräfte: die force in der materiellen, die intelligence in der geistigen, der amour in der moralischen Welt. Die „force" bestimmt auch das Leben der Politik und der Wirtschaft und ist den physischen Bedürfnissen des Menschen zugeordnet. Die „intelligence" durchwaltet die Wissenschaft und gehört dem Bereich der Gelehrten und Forscher an. Der „amour" ist dem Künstler und religiösen Menschen eigen; in ihm wurzeln die Künste und Religionen. Je weiter sich Saint-Simon im Laufe seiner geistigen Entwicklung vom wirtschaftlichen Denken und der ursprünglichen Unterschätzung der Künste entfernt, umso bedeutsamer tritt die Rolle des Künstlers als eines Priesters seiner hierarchisch sich gliedernden Gesellschaftsordnung hervor. Wo aber stehen die Künstler? Saint-Simon war von ihnen, wie auch anfangs von den Gelehrten, enttäuscht; denn er wollte sie als Propagandisten seiner Ideen wirksam sehen; er bemühte sich, sie zu gewinnen, lud sie in sein Haus, aber mußte feststellen: „mes savants et les artistes mangeaient beaucoup et parlaient peu". (Halivy in seinen „Souvenirs sur Saint-Simon") Aber obschon seine Künstler und Wissenschaftler viel aßen und sich wenig äußerten, neigte Saint-Simon immer mehr zu einer Aner-

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kennung der Kunst als einer bedeutungsvollen Funktion im Entwicklungsprozeß der Menschheit. In dem „Dialogue entre l'Artiste, le Savant et l'lndustriel" steht der Künstler an der Spitze der Gesellschaft. Enthusiasmus und eine „faculti affective", die gerade dem Künstler eigen sind, prädestinieren ihn zum Priesteramt; sie hauchen dem Werk der Regeneration der Menschheit erst die Seele ein. Die Liebe ist die tiefste Schicht, ohne welche die beiden andern der force und intelligence nicht getragen werden können. An diesem Punkte mußte den Romantikern der SaintSimonismus interessant werden. Ein inneres Verständnis f ü r die Kunst hat aber Saint-Simon trotz dieses Wandels seiner Urteile über die Künstleraktivität nicht bekommen. Er gliedert die Künstlerschaft hierarchisch in die Rangstufen des Predigers der neuen Kirche, des Dichters, der die hymnische und religiöse Poesie fabriziert, des Musikers, der diese Dichtungen in tönende Harmonien kleidet und die Seele des Lauschenden erheben soll, und schließlich des Malers und Bildhauers, welche den Tempel zu schmücken haben. So wird der Künstler zum dienenden Organ der neuen Kirche des „nouveau christianisme", die Enfantin 1825, im Todesjahr Saint-Simons, gegründet hat. Um Barthelemy Prosper Enfantin bildete sich ein Kreis von Anhängern der sozialistischen, saint-simonistischen Lehre. Er und Bazard ließen sich als „p£res supremes" in dem „College", der Vereinigung der Initiierten, weihen. Enfantin erklärte die von der Gesellschaft aufgestellten Gesetze f ü r ungerecht, forderte die Emanzipation der Frauen und verkündete mit der Theorie des Doppelpriesters die Freiheit des geschlechtlichen Verkehrs. Mit 40 seiner treuesten Anhänger zog er sich auf seine Besitzung in Minilmontant zurück, organisierte dort eine patriarchalisch-soziale Gesellschaft, aber verletzte in den Augen der Staatsanwaltschaft das Vereinsgesetz und die guten Sitten. Die Verbindung der Genossen ging in die Brüche und Enfantin ins Gefängnis. Ein großer Leser des hl. Augustin, vertiefte er sich in den Gedanken, der Kirchenvater der modernen Gesellschaft zu werden. Es nützte nichts, daß der Gatte seiner Cousine Th^r^se Nugues ihm als Heilmittel kalte Dusdien und Beruhigungsmittel empfahl. Er machte Ernst mit seiner Religion, was aber weder dem Papst des Positivismus, Auguste Comte, noch dem Pontifex maximus in Rom gefiel. Er machte Ernst mit der Politik, indem er Heinrich Heine, einen Saint-Simonisten der frühen Stunde, aufforderte, politische und religiöse Dichtungen zu schreiben und den großdeutschen Gedanken einer Vereinigung von Deutschland und Österreich

26 Möndi, Franz. Kultur

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zu propagieren — welche Vorstellung der Diditer Heine nicht ohne Witz dahin interpretierte, daß er, Henri Heine, dann wohl „le premier P£re de l'Eglise allemande" würde. Enfantin machte schließlich Ernst mit der Auseinandersetzung zwischen den Romantikern und Klassikern; aber er verstand weder etwas von Racine noch von Shakespeare, was einen Stendhal aufs äußerste beunruhigte. Da sprang Barrault in die Bresche und präzisierte in seiner Broschüre „Du Passe et de l'Avenir des Beaux Arts", 1830, die saint-simonistische Anschauung, daß jeweils am Ende der epoques organiques die Künste ihren Höhepunkt erreichten, aber in den epoques critiques degenerierten. Nach Barraults Meinung steht die Gegenwart vor einer neuen organischen Epoche. Der Künstler hat wieder die Mission eines praeceptor humanitatis. Seine umfassenden, neuen sozialen Aufgaben sind: E m a n c i pation c o m p e t e des femmes, l'affrandiissement des classes laborieuses disl^rWes de la fortune, l'activit£ humaine dans la triple direction des arts, des sciences et de l'industrie, sous l'invocation d'un Dieu agrandi de tous les progr^s de l ' h u m a n W . In Barraults Programm ist alles nur Denkbare enthalten: soziale Gedanken, mystische Vorstellungen eines ins Religiöse gewandten Materialismus: „ . . . la mattere elle-meme . . . £labor£e par l'homme . . . deviendra po£tique, parce qu'elle aura sanctifiie" . . . Institution eines neuen Kultus, in dem der Künstler Priester sei. „Enfin, la musique, la peinture, la sculpture seconderont les efforts de 1'έΐοquence et de la poesie dans les temples, que l'architecture aura renouvelis sous l'influence d'une inspiration plus complete." Das konnte immerhin auf die Romantiker, ihren Sinn f ü r Synästhesien und ihre Neigung zur Verwischung von Grenzen und Gegensätzen, Eindruck machen. Bei Fourier besteht schließlich die ganze Gesellschaft aus moralischen, sozialen und Einheiten, „phalanges" genannt. Eine Phalange setzt sich aus mehreren Reihen (series) zusammen, die ihrem Gewerbe (ζ. B. sirie d'agriculture, sirie d'industrie, s£rie d'art usw.) entsprechen. Mehrere Phalangen bilden einen Kanton (canton), mehrere Kantone eine Provinz (province), die alle, gemäß der Newtonschen „loi d'attraction" in dem „Ministäre Universel", der Verwaltungsspitze der kosmopolitischen Gesellschaft, zu Konstantinopel zusammenlaufen. Die Künstler können in einem Wettbewerb ihre Werke bei der Jury der zuständigen „sirie" einreichen. Durch ein nicht allzu kompliziertes Rech-

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nungsverfahren und einen normalen Verwaltungsmedianismus werden über einen Umlauf von Listen die jeweils besten Werke herausgesiebt, wobei die Gattungen (wie etwa Lyrik, Drama, oder Lied, Symphonie etc.) eine verschiedene Grundeinstufung haben; es kann geschehen, daß nützliche Erfindungen, ζ. B. der Blitzableiter, eine höhere Bewertung erzielen als etwa eine Ode. Die Frage, in welcher Sprache die Werke eingereicht werden sollen, ist klar beantwortet: Es ist die universal französische Sprache. Man denke an Rivarols „Discours sur l ' U n i v e r s a l ^ de la Langue fran9aise" (1784). Die andere Frage, ob die Millionen Menschen, die ihre Stimme abgeben sollen, überhaupt urteilsfähig sind, wird nicht diskutiert; denn die Fouriersche Gesellschaft ist so durchgebildet — oder wird es sein —, daß die Masse sogar über umstrittene Fragen etwa des Vorzugs der Klassiker oder Romantiker entscheiden könne. Fourier verlockte die Künstler durch die Gaukelbilder des Ruhms und des Gewinns — „gloire et fortune". Freilich müssen Werk und Gesinnung auf der Linie einer „Volkskunst" (art populaire) liegen und dem sozialistisch-demokratischen Geist des neuen Jahrhunderts dienen, auf dessen Bühne seit 1789 das Volk als Hauptakteur aufgetreten ist. Es versteht sich, daß die Zeitschriften des Fourierismus eine dreifache Abneigung bekunden: Sie sind gegen das L'art-pour-Part-Prinzip, das sich damals mit Thiophile Gautier herauszubilden begann; ein schärferer Kontrast läßt sich nicht denken, und es ist kein Wunder, daß Gautier selbst die Fourieristen als „cr6tins utilitaires" (utilitaristische Schwachköpfe) betitelt hat. Die Anhänger Fouriers sind aber auch gegen die klassische Schule alten Stils, die sie als „bourgeoise, dέmodέe, inutile" bezeichnen. Sie sind endlich gegen die katholisierende Richtung der Literatur, den „mouvement romantico-catholique", der, nachdem im 18. Jahrhundert der „Katholizismus so gründlich ekrasiert" war (Heinrich Heine in „Die Romantische Schule" III) nunmehr seit Chateaubriands ,,Οέηΐε du Christianisme" „durch den Reiz der Neuheit auch einige uneigennützige Geister f ü r sich gewinnen konnte". Es waren jedoch schon mehr als nur „einige", — das hatte Heine wohl unterschätzt. Die Fourieristen treten endlich auch für den „feminisme litt£raire" ein, für die „rihabilitation des courtisanes" — denn auch die Kurtisanen sind Opfer der Gesellschaft —, predigen die freie Liebe im Sinne Enfantins und begrüßen den schonungslosen Realismus, mit dem ein Eugene Sue in den „Mystέres de Paris" die soziale Fäulnis der Großstadt enthüllt. Sie begrüßen Victor Hugos „Les Miserables", weil durch diesen Roman des Sträflings Jean Valjean

26»

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Jahrhunderts

der Geist eines humanitären Sozialismus weht. Aber vergeblidi erwarten wir aus dem Munde der Fourieristen das Lob dessen, der das eigentlich „realistische" Epos der zeitgenössischen Gesellschaft geschrieben hat: Honori de Balzac. Aber gerade ihm, dem Monarchisten und Verteidiger des Katholizismus, waren sie nicht Freund. Wir stehen an der Schwelle zur Februar-Revolution 1848. Die Zeit von Proudhon und Karl Marx war gekommen. Proudhon schrieb seine „Philosophie de la Misere" (1846) und Marx als Gegenschrift die ,,ΜϊβέΓβ de la Philosophie" (1847). In seiner berühmten Abhandlung „Qu'est-ce que la ΡΓορπέίέ?" erschütterte Proudhon das Gebäude der saint-simonistischen Ästhetik: „Mag Homer seine Verse singen, ich höre wohl dieses erhabene Genie, mit dem verglichen ich einfacher Hirte, demütiger Landarbeiter nichts bin. Was sind denn wirklich, Werk mit Werk verglichen, meine Käse und meine Bohnen im Verhältnis zur ,Ilias'? Wenn aber dieser Homer als Entgelt seines unnachahmlichen Epos alles nehmen will, was ich habe und mich dadurch zum Sklaven macht, verzichte ich auf das Vergnügen, seine Gesänge zu hören, und danke ihm."

Das ist kein schönes Finale der Fourieristischen Wohlfahrtsoper, aber eines, dessen klare Bestimmtheit als Todesurteil aller sozialistisch-romantischen Mystik der vereinigten Saint-Simonisten und Fourieristen gemeint war. 3. Eine Frage anderer Art: Wie steht der Romantiker zur „Natur"? Daß sein „Naturgefühl" ausgeprägt ist, gehört zu den bekanntesten und vielfach untersuchten Erscheinungen seiner spezifischen Sensibilität. Mannigfaltig sind die Aspekte seines Naturempfindens und -erlebens. Liebt er die „romantische" Ossianpoesie, wie sie der Maler Jean-Baptiste Isabey (1767—1855) als Frontispice zu den „Ροέβΐεβ ga61iques" (1805) aquarelliert, wie sie Anne-Louis Girodet (1767—1824) in seinen „Ombres des Hiros franfais rejues par Ossian dans le Palais d'Odin" (1801) skizziert, oder wie Lesueur (1760—1837) sie für Napoleon in seiner Oper „Ossian ou les Bardes" vertont hat? Ist das Naturgefühl der Romantiker stimmungsgebunden-sentimental, oder heroisch, oder metaphysisch? Ist es Stimmungsbild seiner Freuden und Leiden wie bei Rousseau? Ist es idyllisch-bukolisch wie bei Lamartine? Erscheint dem Romantiker im Innern der Natur ein Mysterium, wie Nerval es erfuhr? Oder erlebt er die Naturphänomene als Symbole, wovon Baudelaire künden wird? Heiligt er gar die Natur als Emanation Gottes im pantheistisdien Sinne oder ist sie ihm das Unheimlidi-Indifferente, das ihn demütigt und zermalmt?

Was heißt Romantik,

und was ist ein

Romantiker?

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Audi bei der Beantwortung dieser Fragen hören wir nur Widersprüche, sehen Ubergänge, und es erstaunt uns die Mannigfaltigkeit dqr physischen, psychischen, metaphysischen Naturerlebnisse: Delacroix* Farbenrausch und Turners praeimpressionistische Farbtableaus, — Goyas und Füßlis Unheimlichkeiten", — C.-D. Friedrichs nordische Sommerlandschaft auf Rügen, der Stimmungszauber seiner Mondnädite oder das Unendlichkeitssymbol seines „Mönch am Meer", — die Waldespoesie des „Freischütz" von Carl Maria von Weber, die so viele Nachklänge in der französischen Romantik hatte, — die Landschaftsmusik der „Sc£ne aux Champs" in Berlioz' „Fantastique" aus dem Geiste der Beethovenschen Pastoralsymphonie, — die Shakespearesche Märchenstimmung des „Oberon", — Spohrs indische „Jessonda", Davids arabische „Wüste", Mendelssohns „Venezianische Bilder" und schottische Landschaften... und Tempel und Kaiserpaläste des Orients wie in der „Turandot"-Ouvertüre? Dem Exotismus der Lyrik entsprechen die exotischen Rhythmen in dem neuartigen Klanggewebe romantischer Kompositionen. Im Ordiester der Romantiker, aus dem ein Hector Berlioz ungeahnte Klangmischungen als erfindungsreicher Instrumentalist herausholte, begannen Klänge zu Punkten und Flächen sich zu binden oder zu zerlegen. Die Instrumente bekamen einen neuen Ton. Horn und Klarinette wurden farbenreicher und zu romantischen Instrumenten par excellence. Bislang Unerhörtes hat Berlioz über die „Instrumentenfamilien" gesagt. So offenbarte sich die Mannigfaltigkeit der „Natur" nicht weniger in der Musik als im Farbkunstwerk der Maler oder in den Wortkompositionen der Lyriker oder Prosaschriftsteller. Die Natur war das unendlich variable Motiv der romantischen Dichter, Maler, Musiker; sie war der eigentliche „Tempel, aus dessen lebendigen Säulen die konfusen Stimmen hervordringen" (Baudelaire). Unendlich reich sind die verschiedenartigsten Erlebnismöglichkeiten der Natur: als Landschaft, als Seelenspiegel und Projektion eigener Sehnsüchte, als Erfahrung einer Transzendenz des Göttlidben, als Offenbarung aller Schönheiten des westlichen und östlichen Geländes unserer Welt. 4. Gibt es unter den Weltbildern eines, das dem „Romantiker" im besondern eigen wäre? Es ist eine Binsenweisheit, daß die Romantik, unter dem Aspekt der Weltanschauung gesehen, als Reaktion gegen die rationale Aufklärungsphilosophie begreifbar ist. Aber ist die Bewegung damit charakterisiert, daß ihre Vertreter dem Rationalismus einen Irrationalismus, dem Positivismus einen Idealismus, dem Materialismus eine

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Metaphysik, dem Wirklichkeitssinn eine intuitive Erkenntnis aus den Quellen der Mystik und Magie entgegensetzen? Antithesen dieser Art sind allenthalben belegbar, aber sie sind zu simpel: Novalis, ein „Erzromantiker", war von ebenso mathematischer Klarheit des Denkens wie er als Vorläufer der antilogischen Surrealisten gewertet werden kann. Ε. Τ. A. Hoffmann plädierte als Jurist sehr rational und scharfsinnig, und lebte wiederum in der magischen Wirklichkeit seiner Märchenwelten. Balzac war Metaphysiker und Phantast, wowon sein „Siraphitus-Siraphita" zeugt, und er steht doch in der großen Tradition des französischen Realismus und Positivismus. Will man k tout prix ein romantisches Weltbild, das besonders häufig in der Dichtung der Romantiker sichtbar wird, aus der philosophischen Dichtung herausdestillieren, muß man den Weg rückwärts zu den Dichtern der Renaissance gehen, zu dem Kreis von Ronsard, Du Beilay und der Margarete von Navarra, in deren Dichtungen die platonische Erosmetaphysik aus dem Geiste des „Symposion", wie er in den italienischen Verarbeitungen von Ficino und Pico della Mirandola christlich umgedeutet war, ihre schönsten Blüten getrieben hat. Die Verwandschaft zwischen Romantik und Renaissance liegt in der platonisch bestimmten Grundhaltung und in dem Verlangen eines so gearteten Menschen, aus der Welt der irdisch-vergänglichen Erscheinungen in das Reich der unvergänglichen Ideen des Guten, Wahren, Schönen als Wanderer zwischen zwei Welten einzugehen. Eine fragmentarische Dichtung aus dem Geist dieser neu erweckten Metaphysik sind die religiösen Epen Lamartines: „La Chute d'un Ange" und „Jocelyn". Sie sind die beiden Pole eines unausgeführten Gesamtplans, den Mythus der Menschenseele auf ihrem Gang durch die Welt darzustellen. Die 2 Verse enthalten das Thema: Borne dans sa nature, infini dans ses vceux L'homme est un Dieu tombi qui se souvient des cieux.

Der Mensch: ein gefallener Gott, der sich im irdischen Dasein seiner einstigen Heimat erinnert. Der Erste Akt ist der Fall des Engels. Ein himmlisches Wesen ist aus Liebe zu einer Sterblichen selbst Mensch geworden. Der „Fall" hat es in die Tiefe der Welt gerissen, deren Leiden es nun im Zweiten Akt zur Strafe durchmessen muß, bis es sich in immer neuen Wiedergeburten von Aeon zu Aeon durch die Kraft sittlichen Wollens läutert und schließlich in den Zustand seiner ursprünglichen Reinheit zurückkehrt. Dieser kreisförmig sich entfaltende Mythus vom gefallenen

Was heißt Romantik, und was ist ein Romantiker?

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Engel und seiner Reintegration ist nach der eigenen Deutung Lamartines nichts anderes als das mythisch-metaphysische Gemälde des Menschheitsganges durch die Geschichte, wie ihn Jahrhunderte zuvor Origines dargestellt hat. Der „Fall" bedeutet dann die Descendit-Bewegung, der „Jocelyn" ist eine einzelne Episode der Ascendit-Bewegung in dem Aufstieg des Menschen zu immer neuen Bewußtseinsstufen seines göttlichen Ursprungs. 5. Wie steht der Romantiker zu den praktischen und geistigen Betätigungen im menschlichen Leben? Vielleicht ist auch an der Beantwortung dieser Frage einiges zu erkennen. Die Lebensläufe zeigen ein buntes Bild. Zunächst ist auffällig, daß die praktischen Berufe, vornehmlich die geldbringenden, nicht den ersten Rang einnehmen. Zwar gibt es Ärzte, Wirtschaftler, Politiker, Industrielle unter ihnen, aber wir finden mehr N a t u r und Geisteswissenschaftler wie Cuvier, Carus, Steffens unter ihnen, vor allem Historiker, Philologen, Sprach- und Literaturwissenschaftler. Sie alle versenkten sich in die nationale Vergangenheit, ins Mittelalter. Fauriel, Paulin Paris, Le Roux de Lincy, Amalie Bosquet, F. Pluquet, viele andere wären zu nennen; sie haben sich um die Hebung alter, versunkener Schätze der Volksdichtung und der Volksbräuche verdient gemacht; wir denken auch an Tieck, Wackenroder, Grimm und erwähnen wenigstens die Namen einiger französischer Philologen wie Roquefort, Raynouard, Fauriel, Girardin, Ginguene, die uns ihrerseits wiederum Namen wie Franz Bopp und Jakob Grimm in Erinnerung rufen. Mehr als die Philologie ist von Frankreich aus, im Zeitalter der Romantik, die Stimme der Soziologen in unser heutiges Bewußtsein gedrungen; von Saint-Simon, Fourier, Enfantin, Proudhon haben wir gehört, bleibt zu erwähnen, daß Auguste Comte, eine merkwürdige Mischung aus einem Positivisten und Metaphysiker, zum Begründer der Soziologie wurde, einer Wissenschaft, die mithin als eine der großen modernen Leistungen der französischromantischen Epoche dasteht. Aber so sehr all diese Aktivitäten in den Natur-, Geistes- und Gesellschaftswissenschaften dem Zeitalter der Romantik zugehören, es gibt unter ihnen ein Gebiet, das als „romantische" Aktivität par excellence gelten kann: die Kunst als Malerei, Dichtung, Musik. Der „Künstler", im modernen Sinne, ist ein Produkt der Romantik, und die Künstlerpsychologie ist eines ihrer interessantesten Phänomene. Am Ende der romantischen Bewegung des 19. Jahrhunderts, d. h. in der Periode der „decadence" der neuromantischen Symbolisten, hat Friedrich Nietzsche, rückblickend, aus

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genauer Kenntnis des romantischen Erbes in Richard Wagner die Gesamterscheinung „Romantik" kritisch analysiert. Wir werden später davon hören. Hier genüge die Einsicht: der romantische Künstler setzte sich noch einmal nach der europäischen Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts in den Mittelpunkt des dynamisch-neuplatonischen Weltbildes, an den Schnittpunkt des mundus intelligibilis und des mundus sensibilis, wo er als Vermittler zwischen der Gottheit, deren Stimme er vernimmt, und der Menschheit, die zu erleuchten er sich berufen fühlt, seine Funktion in der Gesellschaft ausübt. So begriff ein Victor Hugo die Mission des Dichters, so ein Caspar David Friedrich diejenige des Malers, so deutete Bettina Brentano in ihrem Brief an Goethe die Rolle Beethovens. Es scheint, daß der Romantiker, mag er Dichter, Maler oder Musiker sein, e i n e m Stoffgebiet sein besonderes Interesse zuwandte: dem Märdien. Märchen ist magische Begebenheit. In dieser Schöpfung muß nach Novalis' Wort „alles wunderbar — geheimnisvoll und zusammenhängend sein — alles belebt". Märchen sind Traumbilder. In ihnen scheint die absolute Zwecklosigkeit der Dichtung erfüllt. Es ist ein Phantasiespiel ohne Sinn; es ist reine Bewegung in sich selbst und um ihrer selbst willen. In Shakespeares Märchenspielen entdeckten die Romantiker ihr Ideal vom reinen Märchen, das im 18. Jahrhundert durch rationale Sinnunterlegungen gefälscht war. In vielfachen Brechungen und Färbungen zeigte sich der neue Märchengeist der Romantik: er war dämonisch wie bei Tieck, der, wie im „Blonden Eckbert", dunkle Urschuld des Menschen, Weltangst, Tod ineinanderfließen läßt; er war tiefenpsychologisch deutbar wie in den „Filles du Feu" eines Gerard de Nerval; er zeigte sich mythisch wie in Novalis' „Heinrich von Ofterdingen", oder war, wie bei den Gebrüdern Grimm, naiv wie Perraults französische Kunstschöpfungen im 17. Jahrhundert, die in der Musik der „Contes de ma m£re l'oye" von Ravel eine geistvoll-moderne Auferstehung feierten; kunstreich und treuherzig gab sich Märchengeist in den sagenumwobenen Klängen und Bildern der Brentanoschen Rheinmärchen, gab sich ritterlich-romantisch in Fouques Dichtungen, deren Chevaliers, Burgfräulein und Nixen ein Heinrich Heine verspottete; er war naturselig bei Eichendorff; phantastischrealistisch, spukhaft und unheimlich wie bei Ε. T. A. Hoffmann, Charles Nodier, Honor£ Balzac und gebar sich oft höhnisch und skurril. Aber alle Klangstufen deuteten auf eine gemeinsame Grunderfahrung des Poetischen, die allen romantischen Märdiendichtungen im Gegensatz zu der in Europa voraufgehenden aufgeklärten des 18. Jahrhunderts eigen war:

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und was ist ein

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die Realität des Magischen oder das Magische der Realität. In den naiven Künstlerglauben mischte sich zuweilen der intellektuelle Zweifel. Dann kam die Ironie zu ihrem Recht. Die Romantiker besaßen in hohen Graden die Gabe der Ironie. Sie entzündete sich häufig an dem Spiel des Intellekts mit der magischen Welt. In Frankreich war Alfred de Musset, ein Spätgeborener (1810—1857), der Ironiker par excellence, wovon seine „Lettres de Dupuis et Cotonet" (1836/37) beredtes Zeugnis ablegen: „Die Romantik, mein verehrter Herr, aber die Romantik, die erschöpft sich gewiß nicht in der Verachtung der drei Einheiten (der klassischen französischen Dramaturgie), auch nicht in der Allianz des Komischen und Tragischen oder in dem, was ihr sonst anführen könntet. Vergeblich würdet ihr nach den Flügeln eines Schmetterlings haschen — nur der Blütenstaub, der sie färbt, bliebe auf euren Fingern. Die Romantik? Das ist die Träne eines Sterns, ist das Seufzen des Windes, ist der Schauer der Nacht; es ist die Blume, die fliegt, und der Vogel, der die Lüfte mit Wohlgerüchen erfüllt. Romantik? Das ist der unerwartete Wurf, ist die Müdigkeit des Extase, ist die Zisterne unter den Palmen und die hochrote Hoffnung und die tausend Formen der Liebe, ist der Engel, die Perle und das weiße Kleid der Weisen. Oh, la belle chose, monsieur! Es ist das Unendliche und das Gestirnte, das Warme, das Zerbrochene, das Ernüchterte, und es ist zugleich das Volle und das Runde, das Diametrale, das Pyramidale, das Orientalische, das Nackte und was euch packt, umschlingt und in den Wirbel reißt. Was für eine neuartige Wissenschaft!" (1. Brief von 1836)

Das ist der Sommernachtstraum eines Romantikers, für den die Gesetze der Logik, der Sinnenwelt, der Schwerkraft aufgehoben scheinen — eines Romantikers, dessen Phantasie die Möglichkeiten synästhetischer Spielerei auskostet, und der die intellektuelle Selbstironie in der Art Heinrich Heines über die andern und sich selbst ergießt. Alle Themen der Romantiker geben sich hier ein Rendezvous: der Zauber der Nacht, die Faszination des Orients, die Motive des Vogels, der Perle, des Engels, der Blumen, der Zisterne, des Schmetterlings, der Düfte, der Farben, der Klänge und Bewegungen... — eine Feerie, flüchtig wie ein Traum. Eine solche Seite weist schon über das eigentlich Romantische hinaus auf ein „Paradis artificiel", auf Baudelaire. Da ist nichts mehr von dem sozialpolitischen Fonds der französischen Romantik zu spüren, Was soll dem enttäuschten Dichter die Forderung eines politischen Engagements — „le po£te ne doit pas faire de politique", schrieb Musset 1831 —, was soll die Anmaßung des Poeten, die Menschheit zu erleuchten und zum Fortschritt zu leiten? Was ist ernstlich der sozial-humanitäre wissenschaftsgläubige Saint-Simonismus, wenn nicht eine ungeheure Farce im Bereich der amo-

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raiischen und zweckfreien Künste? Führt nicht gerade von diesem unsinnigen Motiv romantischer Ironie eine Brücke über Baudelaire hinüber zu der modernen Ästhetik eines Rimbaud und Lautr^amont, zur Ästhetik des „d6r£glement" der Sinne und des Verstandes, aus dem sich im 20. Jahrhundert der Surrealismus entfalten sollte?

Kapitel III

Die Künste im Zeitalter der Romantik Architektur und Plastik Im Jahre 1806 wurde die Ecole des Beaux-Arts gegründet. Napoleon steht auf der Höhe seiner Macht. Die Revolution, deren Vollender er war, liegt im Bewußtsein derer, die sie noch erlebt haben, weit zurück. Die Gegenwart ist das Empire. Erstaunlich, wie in der Architektur die antiken Säulenordnungen die politischen Umwälzungen überdauert haben; denn schon die Revolution trug das Gewand der Antike, aber auch Napoleon prägte seine imperiale Idee in antik-klassische Formen wie etwa in Vignons Madeleine, einem antiken Peripteros, der als Ruhmeshalle seiner Armee gedacht war. Wir denken auch an die Triumphsäule der Place Vendome (1806—10), an die Vorhalle des Palais Bourbon (1804—07) und an die Pariser Börse von Brogniard. Schon 10 Jahre vor der Ecole des Beaux-Arts wurde die Ecole Polytechnique gegründet (1794/95); 10 Jahre nach ihr (1816) forderteRondelet in seinem „Discours pour l'Ouverture du Cours de Construction a l'Ecole speciale d'Architecture" eine „konstruktive Richtung" in der Ausbildung der jungen Architekten. Der Gedanke erwies sich fruchtbar: Die Linie begann mit der eisernen Großkonstruktion des Theatre Frangais 1786, führte über die Halle au ble (1811) mit ihrer Kuppel aus Eisen und Glas und hatte einen ersten Höhepunkt in der kühnen Eisenkonstruktion des Lesesaals der 1843—50 erbauten Pariser Bibliothek Sainte-Geneviέve von Henri Labrouste. Noch war das eiserne Grippe unsichtbar in einem massiven Mauerkern versenkt, als müsse es sich schamhaft verhüllen. Aber die Zeit drängt weiter. Industrie und Kapitalismus bestimmen mehr und mehr das Gesicht der neuen Gesellschaft und verlocken zu architektonischen Experimenten in den folgenden Jahrzehnten der Weltausstellungen. Am Ende der Bewegung steht die Tour Eiffel als Wahrzeichen einer neuen Zeit im Pariser Stadtbild. Die Warenhäuser des Printemps Paris (1881—89) von Paul Dedille und der Samaritaine (1905) von Fr. Jourdain wachsen auf dem Pariser Pflaster kurz vor dem Anbruch der Epoche, da mit Gro-

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pius und Behrens aus einer neuen Bau- und Materialgesinnung die Ära des Glases und Eisenbetons hervorgeht. Das eigentliche Charakteristikum der „romantischen" Baukunst ist die Rückwendung zum Mittelalter, vornehmlich zur Gotik. Die Wiederentdeckung der gotischen Architektur, ihrer Konstruktionstechnik, ihres religiösen Sinngehaltes und ihrer künstlerischen Transzendenz hat bestimmenden Einfluß auf die romantische Baugesinnung der Zeit ausgeübt. Goethe hatte das Straßburger Münster entdeckt: „die großen harmonischen Massen, zu unzählig kleinen Teilen b e l e b t . . . alles Gestalt, und alles zweckend zum Ganzen . . . " („Von deutscher Baukunst", 1773). Wackenroder, Tieck, Chateaubriand, Horace Walpole, ein jeder trug auf seine Art dazu bei, mittelalterliche Baugesinnung neu entstehen zu lassen. Walpole läßt schon 1750 seine gotische Villa in Strawberry bauen. Abbotsford (1811) ist der Landsitz Walter Scotts, und die Restaurierung von Windsor folgt 1819—26. In Victor Hugos Zeichnungen, Tuschen, Aquarellen, seinen phantastischen Schlössern und rheinischen Burgen, ist eine „gotische" Atmosphäre eingefangen, die man ebenso wohl „romantisch" wie bereits supranaturalistisch oder surrealistisch nennen könnte. Wie die romantische Literatur des „Exotisme" das Interesse am maurischen Spanien, am Heiligen Land, am nahen und fernen Osten erweckte, so bereicherten sich in jener Periode die Bauformen durch Übernahme orientalischer Elemente. Bedenkt man, daß 7 bis 8 Jahrhunderte europäischer Baukunst auf den Schultern der Romantiker lasteten, rechnet man noch das Vermächtnis der griechisch-römischen Antike dazu und was die Zeitgenossen der Romantiker durch die Erweiterung ihres Horizonts aus dem Orient, aus Indien und der arabischen Welt in sich aufnahmen, dann wird begreiflich, wie diese Generation im Anblick eines solchen Weltreichtums der Architektur dazu geführt wurde, eklektisch zu werden. So kam es gleichzeitig zu einer Neuklassik, Neugotik und zu mannigfachen Anleihen bei der chinesischen, indischen und arabischen Kunst, also zu Weiterbildungen exotischer Tendenzen, die bereits im 18. Jahrhundert spürbar waren. Von höchster Originalität war die architektonische Phantasie dreier französischer Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts: Boulle (1728—99), Ledoux (1736—1806)undLequeu (1738—1824).Freilich blieben ihreBauten zumeist in Entwürfen stecken; aber diese eröffneten Perspektiven, die weit über ihr Jahrhundert und die nachfolgende Romantik hinauswiesen und die Heraufkunft moderner Formensprachen ankündigten. Schon das

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Bewußtsein, daß Architektur eine soziale Funktion habe, ist interessant. Man lese in Ledoux' „L'Architecture consid£r£e sous le Rapport de l'Art, des Moeurs et de la Legislation" (Paris 1804), und wir bewundern seine phantasievollen Entwürfe, die in der Idealstadt Chaux teilweise verwirklicht wurden: ein neuer Baustil aus humanitärem Geiste. Ledoux baute nicht nur f ü r die Du Barry und den Finanzminister Necker, sondern arbeitete auch in Preußen und Rußland, wo er vor allem auf den Stil der Petersburger Architektur Bedeutung gewann. Wie stark die mathematisierende Tendenz dieser Künstlergruppe war, zeigen die Entwürfe Boulles zu seinem Friedhofseingang, der in seiner geometrischen Strenge dem Betrachter die ästhetische Seite planimetrischer und stereometrischer Formen offenbart. Auch der halbkugelförmige Kuppelbau des Isaac NewtonMausoleums von Pierre Jules Delespine (1750—1825) weist in diese Richtung. Betrachten wir ferner Lequeus Denkmalentwürfe „Zu Ehren der Frauen" oder f ü r die „Souveränität des Volkes" (Jahr I der Republikanischen Zeitrechnung), werden wir erkennen, wie sich in diesen revolutionären Künstlern der Aufklärung und der praeromantischen Epoche die Voltairesche Newton-Begeisterung mit den durch Rousseau erweckten sozialen und politischen Sehnsüchten der Revolutionsepoche verbindet. *

Wenn man sagen darf, daß die Architektur nicht eigentlich „romantische" Kunst par excellence ist —, weil sie, zweckgebunden, zu fest auch im Material haftet (sei dieses Marmor oder Stein, Holz oder Glas, Beton oder Eisen), während echt romantische Kunst, einem ihrer Wesenszüge entsprechend, eher zu zweckfreien Schöpfungen und zum Immateriellen strebt, werden wir mit Thtophile Gautier auch der Bildhauerei keine spezifische Eignung f ü r romantische Schöpfungen zuerkennen wollen: „ . . . de tous les arts, celui qui se prete le moins i l'expression de l'idie romantique, c'est assuriment la sculpture." Wohl aber ist der Eindruck der Literatur und der Geschichte auf die Phantasie der Bildhauer jener Periode so stark gewesen, daß ein großer Teil ihrer Thematik entweder der antiken, mittelalterlichen und modernen Geschichte entstammte, oder wie marmorgewordene Poesie anmutet. Einem Torso gleich blieb das Bildhauerwerk gewissermaßen noch im Block der griechisch-römischen Antike stecken, aber die Künstler haben sich andererseits der historischen Wirklichkeit bemächtigt oder die epische und dramatische Figurenwelt Dantes, Shakespeares, Cervantes', Ariostos und Goethes plastische Gestalt werden lassen. Felicie de Fauveau (1799—1886),

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die Sdiöpferin des „Paolo e Francesca da Rimini" und eines Dante-Denkmals wäre hier zu nennen, und neben ihr die Zeitgenossen Antoine Moine (1796—1849) mit seinen Elfen, Kobolden, Luft- und Berggeistern, seinen Rittern und Amazonen, ferner Maindron (1801—84) mit seiner „ V e l ^ d a " aus der Romanwelt Chateaubriands, und Antoine Augustin P ^ a u l t (1810—79), der Schöpfer von „Dante et Virgile aux Enfers". Die beiden überragenden Zeitgenossen aber waren David d'Angers und Franjois Rude. David d'Angers (1788—1856) besuchte Weimar, München, Stuttgart, Dresden, Köln und Berlin. Deutschland verdankt ihm die Büsten, bzw. die Porträtmedaillons Goethes, Schellings, Tiecks, Alexander von Humboldts, Danneckes, Rauchs, Schinkels und vieler anderer. Die Franzosen verdanken diesem unermüdlichen Gestalter der menschlichen Physiognomie — einem Lavater der bildenden Kunst — die Serie der Plastiken von Corneille und Racine, von Fänelon und Montesquieu, von Madame de Stael und Chateaubriand, von Lamartine und Lamennais, die Bildergalerie großer Könige, Feldherrn und Staatsmänner der Nationalgeschichte von Franz I. über Heinrich II. zu Lafayette und Siey^s. In Erfüllung der Aufgabe, wie sie die Giebelinschrift bestimmte: „Aux grands Hommes la Patrie reconnaissante", schuf er die Giebelskulpturen des Pantheon, wo er die berühmtesten Männer Frankreichs seit der Revolution um das „Dankbare Vaterland" gruppierte. Nicht weniger als ein halbes Tausend Medaillons zeugt von der Schöpferkraft und Porträtierkunst dieses Meisters. Alles zusammen genommen ist das ein Epos der französischen Nation — „tous les nobles aspects de la figure humaine", wie wir es in den „Rayons et les Ombres" von Victor Hugo lesen. Schon in den „Feuilles d'Automne" (1831) zollte der Dichter Hugo dem Bildhauer Bewunderung; später, in den „Rayons et les Ombres" (1839), in denen Hugo die Mission des Dichters verkündet, beschwört er auch die Giebelfiguren Davids und erhebt den Bildhauer in den Rang der richtenden und zukunftweisenden, vom Missionsgedanken erfüllten Künstler. Der andere ist Franyois Rude (1784—1855) aus Dijon. Sein Wirken hat keinen solchen Widerschein in der Literatur hervorgerufen wie dasjenige Davids aus Angers. Und doch bedeutete Rüdes Relief des „Depart des Volontaires de 1792" (1836) am Triumphbogen von Paris, was f ü r die Gloire Frankreichs Davids Giebelfeld am Pantheon war. Wie der vorgebildete Rahmen: das Fronton des Pantheon und der Sockel des Are de Triomphe, klassisch ist, so löste sich auch die Skulptur noch nicht

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vom antiken Vorbild. Die Soldaten des Jahres II der Revolution sind nackt oder römisch kostümiert. Der Genius, der sie entflammt, trägt ein Schwert und einen antiken Helm. Jedoch künden Bewegung und Ausdruckskraft den Enthusiasmus der zeitgenössisch-revolutionären Ära in der Figur der „Marseilleise". Das Volk hat diese Rudesche Sockelseite auf den Namen „La Marseilleise de Pierre" getauft. Eine innere Beziehung, nicht äußerer Einfluß, klingt in Hugos Versen auf die „Soldats de l'An I I " mit: La Revolution leur criait: — Volontaires, Mourez pour dilivrer tous les peuples vos freres!

Die Juli-Revolution hatte Rude in den Strudel der romantischen Bewegung hineingerissen. Sein „Auszug der Freiwilligen von 1792" hat innere Verwandtschaft mit Delacroix* „La Libert£ guidant le Peuple" von 1830. Zwei historische Gestalten aus der Geschichte Frankreichs hat der Bildhauer ins Mythische gesteigert: „Jeanne d'Arc ecoutant ses Voix" und „Napoleon s'iveillant & l'Immortalit£". Wenn seine Jungfrau von Orleans etwas von der klassischen Verklärung Schillerscher Poesie ausstrahlt, schuf Rude seinen Napoleon aus dem romantischen Geist ossianischer Visionen. Das Werk wurde f ü r den Oberst Noizot in Fixin bei Dijon ausgeführt; dieser alte Veteran wollte zu Füßen des Kaisers Wache stehen, wenn er einst, seinem Willen gemäß, neben diesem Monument begraben läge. Majestätisch erheben sich Kopf und die betreßten Schultern aus dem Leichentuch, dem kaiserlichen Mantel, empor, das H a u p t mit einem Lorbeerkranz umwunden, und den Adler zu seinen Füßen. Die Skulptur gehört in den Umkreis jener Werke der Literatur, Musik und Bildenden Künste, die aus dem frühen Napoleon-Mythos entstanden sind. Der Maler, der die Ereignisse der Großen Französischen Revolution und die Epoche Napoleons begleitet hat — und selbst politisch eine Rolle spielte — war Louis David (1748—1825), ein Altersgenosse Goethes und Goyas, H a u p t der klassizistischen Schule Frankreichs. Als er seine Malerlaufbahn begann, standen Boucher (1703—1770) und Greuze (1725 bis 1805) als Meister neben ihm. Als Ingres (1780—1867), Davids bedeutendster Schüler, und Delacroix (1799—1863) in den sechziger Jahren starben, begannen Manet und die Impressionisten ihre Ruhmeslaufbahn. Das sind Epochen französischer Malerei. In einem gewissen Sinne galten und gelten noch heute Ingres und Delacroix als Antipoden der bildenden Kunst: der Zeichner und der Maler. Man mag sie konfrontieren, aber sollte ihr Werk auch als ein CEuvre betrachten, das nur zwei verschiedene Seiten der bil-

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denden Kunst beleuchtet. Zudem war beiden die Liebe zur Musik gemeinsam. Freilich liebte der eine, Ingres: Haydn und Mozart, der andere: Berlioz und Chopin. In solchen Verwandtschaftsbekenntnissen sprechen sich individuelle Praeferenzen, aber audi Generationsunterschiede aus. Delacroix war fast 20 Jahre jünger als Ingres. Ein jeder hat auch gewisse Eigenschaften des andern besessen, und beide haben Erbteile Davids in sich und vermittelten dieses Erbe, ein jeder auf seine Weise, an die kommenden Generationen von C£zanne bis Picasso. David war der Sohn eines kleinen Kaufmanns aus Paris. Er kam nach Parma, begeisterte sich für Correggio, zog nach Rom, arbeitete unermüdlich mit dem Zeichenstift, reiste mit Quatrem£re de Quincy nach Neapel, kehrte nach Paris zurück und malte die „Andromache an der Leiche Hektors": „Les pleurs d'Andromaque", den byzantinischen General „Beiisar" und entwarf 1784 den „Schwur der Horatier". Der Erfolg dieses letzten Bildes war ungeheuer. Fortan war sein Leben durch die Ereignisse der Zeit bestimmt, so wie er selbst in die politischen Begebenheiten der Epoche eingriff. Er entwarf Pläne für die revolutionären Massenaufzüge, hatte als Freund Robespierres auch im Wohlfahrtsausschuß Einfluß, gab seine Stimme für die Hinrichtung Ludwig XVI. ab, malte den Tod Marats und schuf die ergreifende Skizze der Marie-Antoinette auf dem Karren, der sie zur Guillotine fuhr. Als Bonaparte sich einen Namen machte, rühmte er die Taten des Feldherrn (Napoleon am Großen Sankt Bernhard) und des späteren Kaisers (Die Krönung zum Empereur). So pulsierte der Strom der Geschichte durch die vermeintlich trockene Malerei der Klassizisten. Neben David arbeiteten Gros, Girard, Delaroche, Giricault. Den „Klassizisten" war mehreres gemeinsam: der Glaube an die Methode; die Überzeugung von der Erlernbarkeit der Kunst; die Vorstellung, daß Malerei eine Schule der Bildung sei, wo der Jünger sich des Studiums der Anatomie, der Proportionen, der Perspektive und der Syntax der zeichnerischen und malerischen Sprachsymbole zu befleißigen habe. Daß der Maler darüber hinaus im Alten und Neuen Testament, in der griechisch-römischen Mythologie und in der nationalen Geschichte Bescheid wissen mußte, war selbstverständliche Forderung. Aber ihre Kunst war auch „engagiert", sei es in der politischen Gegenwart, sei es, wie bei Ingres, im Dienst an der vermeintlich ewig-gültigen Wahrheit der antiken Modelle. Immer war ein erzieherisch-ethischer Faktor für ihre Kunstauffassung mitbestimmend. Aus diesem Grunde schätzte Napoleon einen David; denn ein gutes Bild, etwa der „Leonidas", entfache Mut, der

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„Schwur der Horatier" patriotisches Pathos, die Statue eines Weisen vertiefe die geistigen Einsichten und erwecke die „magnanimit^", hochherzige Gesinnung. Mit welchen Mitteln aber vermag ein Künstler das im Bilde zu erreichen? Mit Linien, Farben, Flächen. Für die einen wie David und Ingres war die Linie das Zaubermittel. Sie schworen auf Winckelmann und sahen das „Ewig-Gültige", sahen „griechische Schönheit" im Kontur, d. h. im Ausdruck einer großen, bewegten, reinen Linie. Linie war ihnen das sinnliche und geistige Element des Gestaltens. Sie diente der Begrenzung und der Ordnung, aber auch der flutenden Bewegung des Bildes, bedeutete Spannung in Erweichung; sie vermochte ebenso zu straffen, wie sie schmiegsam sein und schmeicheln konnte. Die andern bedienten sich mehr der Farbe. In ihrer Palette lagen Sinnlichkeit und Geistigkeit ihrer Kunst beschlossen. Kompositeure waren beide, der Linien, Farben, Flächen. Wenn ϋέζαηηβ von Delacroix sagte: „er hat die schönste Palette Frankreichs", dann darf von Ingres gesagt werden: er hat die expressivste Linie und die höchste Intelligenz in der Versinnlichung des Lebens und der Vergeistigung alles Stofflichen. Ingres, dem griechisch-römischen Kulturboden Südfrankreichs entstammend, ging nach Paris, um bei David zu lernen. Mit seinem „Achill empfängt die Abgesandten Agamemnons" gewann er den Prix de Rome. In Rom widerfuhr ihm das entscheidende Erlebnis: Raphael. 1820 zog er nach Florenz und lebte bei dem italienischen Bildhauer Bartolini, wurde bei seiner Rückkehr nach Paris von den Gegnern Delacroix' begeistert aufgenommen, eilte nochmals nach Rom zurück und ließ dann nach seiner Heimkehr bis zu seinem Tode 1867 Werk auf Werk folgen. Der oberste Grundsatz seiner Ästhetik, wie wir sie seinen „Ecrits sur l'Art" entnehmen, lautete: „Le dessin est la probiti de l'art". Also in der Zeichnung offenbart sich die Redlichkeit des Künstlers. Wie meint er das? Zeichnen ist nicht einfach Reproduktion der Konturen. Zeichnen heißt „Ausdruck, innere Form, Plan, Gestalt". Zeichnen ist „Dreiviertel oder mehr der ganzen Malerei". — Wenn ich ein Schild über meiner Tür anzubringen hätte, würde ich daraufschreiben: „Ecole de Dessin" — und ich wäre sicher, daß ich Maler ausbilden würde.

Ingres war von der Vasenmalerei der Antike beeindruckt und schenkte den Fayencen und Limogen große Aufmerksamkeit. In die Linien und Liniengeflechte hat er alle Schönheit des nackten Körpers und der Körpergruppen gebannt: die sitzende Badende, die Tänzerin im Türkischen Bad

27 Mönch, Franz. Kultur

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oder die Thetis am Thron Jupiters, die Odaliske und das Bildgefüge dei Einzelfiguren im Goldenen Zeitalter oder dem Bain turc, wo er alles Räumliche und Flutende in vollendete Arabesken der Fläche überführte. Ein zweiter Grundsatz seiner Ästhetik war so klassisch wie der erste: „Worauf es ankommt, ist, daß wir uns von der raison leiten lassen, um das Wahre vom Falschen zu unterscheiden." Man vermeint, Descartes zu hören und denkt an Corneille, Racine, Boileau. Im Zusammenhang mit diesem steht ein anderer Satz: „II n'y a pas deux arts, il n'y en a qu'un. C'est celui qui a pour fondement le beau έΐεΓηεΙ et naturel." Ingres hielt nichts von der sog. Erfindung des Neuen. „Tout est fait, tout est trouv£", schrieb er in den „Ecrits sur l'Art" — und das erinnert an La BruyJres „Tout est d^jä. d i t . . A l s o Aufgabe des Künstlers sei nidit zu erfinden, sondern fortzufahren . . . continuer. Demgemäß nennt er sich selbst einen „conservateur et non un novateur". Über allen Malern stand ihm Raphael, über allen Komponisten H a y d n , Gluck und Mozart, welch letzteren er den „Raphael der Musik" nannte. Unter den Bildhauern war ihm Phidias der größte, und da er Homer mit Begeisterung zitierte und sich zu Poussin bekannte, sehen wir den Bildungsgrund seines klassischen Geschmacks deutlich vor Augen. Ein letztes Anliegen seines Künstlerdaseins ist das religiöse Motiv. „Ayez de la religion pour votre art!" schreibt er und fährt fort, daß ohne Seelengröße (elevation dans l'äme) nichts Gutes ja nicht einmal annähernd Gutes hervorkommen könne. Wir fühlen uns an Wackenroder, an Tieck, an die Bekenntnisse Caspar David Friedrichs erinnert, im ganzen also an die Romantik mit ihrer Tendenz, die Kunst im Religiösen zu verankern und Religion an die Kunst zu binden. Priester und Dichter, sagte Novalis, waren eins; sie sollen es wieder werden. Das ist die „klassische" Position der französischen Malerei im Zeitalter der Romantik. Der andere Pol dieser unruhigen Zeit ist Eugene Delacroix. Er wurde viel bekämpft und viel verkannt, aber ist doch am Ende der Neuere und der Neuerer, aus dem die Zukunft der Malerei in Frankreich hervorgehen sollte: „Delacroix — ah, der!", schrieb Vincent van Gogh an Emile Bernard. Und Cezanne: „Wir stecken alle in diesem Delacroix drin." Delacroix' Vorbilder trugen andere Namen als die der Götter Ingres'. Sie heißen nicht mehr Homer, Raphael, Poussin, heißen nicht mehr Haydn, Gluck, Mozart, sondern seine Wahlverwandten sind Byron, Scott, Goethe

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und in der Musik Liszt, Chopin, Berlioz — so widersprechend seine Urteile im „Journal" (1822—1863) auch sein mögen. Delacroix (1798—1863), stammte aus Charenton-Saint-Maurice bei Paris. Er schwankte zwischen seiner Neigung zur Musik und Malerei, als ihn, den Vierundzwanzigjährigen, sein erstes größeres ausgestelltes Gemälde in die vorderste Reihe der zeitgenössischen Malerei rückte. Ein erster Blick auf sein CEuvre verrät eine der Quellen seiner Thematik und Inspiration: die Literatur und Dichtung. Während er an der Dante-Barke arbeitete, ließ er sich, so heißt es, aus der „Divina Commedia" vorlesen. Audi wenn die Anekdote nicht stimmt, bedeutet sie etwas. Er unterlag ähnlich wie Beethoven, den er immer wieder hörte, bewunderte, kritisierte, dem Zauber der Dichtung: Shakespeare und Goethe nahm er in seine Welt auf wie es Beethoven getan hatte: Wie dieser die beiden Dichter in die Syntax seiner Musiksprache transponierte, so reiften die Bildgedanken des Malers Delacroix in der Berührung mit der Dichtung zu seinen Lithographien oder Farbkunstwerken. Neben Dante, Shakespeare, Goethe inspirierten ihn, der schon früh von der englischen Malerei eines Turner und Constable bewegt war, auch die schottischen und englischen Dichter Scott, Byron und Macphersons Ossian, ferner die Mythen und Sagen mit ihren zeitlos-menschlichen Aussagen. Man kann aber bei der Betrachtung seiner literaturgezeugten Werke der dichterischen „Vorlagen" entraten, so wenig es nötig ist, die Mignon-Szenen aus „Wilhelm Meister", Shakespeares „Sturm" und Schillers Gedicht „Das Glück" zu kennen, um die 7. Symphonie, die d-moll Sonate (op. 31 Nr. 2) oder den 3. Satz der „Neunten", das Adagio molto e cantabile von Beethoven zu verstehen, Musik, in welche die angeführten poetischen Erlebnisse hineingeheimnißt sind. Man kann Delacroix wie Beethoven als Exoteriker sehen und hören, man kann beide aber auch als Esoteriker erleben und in der Erkenntnis ihrer Schaffensgründe eine tiefe Beglückung erfahren. „Le peintre aimi des po£tes" nennt ihn Baudelaire in den „Curiositis esthitiques". Das Dichterische Delacroix' wird von Baudelaire hier in der Perspektive eines „intirSt surnaturel" gedeutet, das durch künstliche Mittel wie Opium erregt werden, aber auch die Begnadung „wunderbarer Stunden, wahrhafter Feste des Gehirns" sein kann. Farben, Töne, Düfte erschließen „Welten von Ideen" — „die Malerei von Delacroix scheint mir die Ubersetzung jener schönen Tage des Geistes" zu sein. In dem „Supranaturalismus" sah Baudelaire die Verwandtschaft des Malers mit dem Dichter Ε. A. Poe. 27*

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Auch andere als die poetischen Ereignisse sind für Delacroix und die Geschichte der französischen Malerei bedeutsam geworden: Ein früher Aufenthalt in England, wo er Turner, Lawrence und Gainsborough studierte, nachdem er schon im Pariser Salon von 1824 von Constable beeindruckt war. Ein neues Erlebnis ist seine Reise nach Marokko, wohin er sich als Begleiter des Grafen von Mornay begab. So wurde Delacroix einerseits der Mittler zwischen den Engländern und den späteren französischen Impressionisten, großen Bewunderern der englischen Malerei —, andererseits der Künder neuer Farbeffekte einer sonnendurchglühten Atmosphäre und faszinierender Fremdheit. Früchte des nordafrikanischen Erlebnisses sind die Frauen von Algier, die Straße von Meknez, ferner die Odalisken, Araber, Pferde, wilde Tiere, ein malerischer Orientalismus, der ihn in die Nähe der literarischen Romantik brachte. Wir denken an Hugos Rhythmen der „Orientales", an Filicien Davids symphonische Ode „Le Disert" — auch daran, daß Baudelaire in seinem Zimmer des H6tel Pimodan außer den Hamletlithograpien Delacroix' eine Kopie der Femmes d'Alger an die Wand hängte. „In ihm war alles Energie, aber eine Energie willensharter Nervenspannung" — Baudelaire, der das von Delacroix schrieb, dachte dabei an die alten Herrscher Mexikos oder an die Hindufürsten . . . „qui portent au fond de leurs yeux une sorte d'aviditi insatisfaite et une nostalgie inexplicable, quelque chose comme le souvenir et le regret des choses non connues..." (Art romantique). Mit dieser Charakterisierung Delacroix' dürfte der kongeniale Baudelaire den romantischen Wesenszug des von ihm so verstandenen Meisters getroffen haben: Wille, Energie, Spannung — und doch lähmende Müdigkeit im Verlangen nach den unbekannten Dingen, nie gesättigte Wollust, unerklärliches F e r n w e h . . . Baudelaire übersandte ihm 1856 seine Ubersetzung der „Tales of mystery and imagination" von Ε. Α. Poe. Das Tagebuch Delacroix' verzeichnet den „sens du mystirieux", den die Lektüre in ihm, Delacroix, hervorgerufen habe. Wenn die moderne Seele Schmerz und Melancholie ist, dann ist Delacroix der moderne Künstler, wie Schopenhauer, sein Altersgenosse, der moderne Philosoph, und Wagner, sein Erbe, der moderne Musiker ist. Delacroix' Malerei trägt das Signum der Weltangst in sich: Dante und Vergil in dem schauererregenden Gebräu von Düsternis und Hölle, die Todesorgie des Sardanapal, das Massaker von Chios, die Austreibung Heliodors aus dem Tempel, die Grausamkeit der Löwen und Tiger, die Angst der Pferde, Raub, Zerstörung, Flammen, Jakob im Kampf mit dem

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Engel, der Christus am Kreuz, Hamlet, Faust und Mephisto, Margarete und Medea . . . alle qualvollen Züge des Menschen, Leid, Schmerz, Todesangst; Abschied von Jugend, Glück, Liebe; Opfer und Verzweiflung, Aufbegehren und Ohnmacht in der Revolte, Bitterkeit und Ende. Das ist die Hölle der Existenz. Und dann die Revolte in den historischen Augenblicken seelischer N o t : Delacroix teilte mit seinen Zeitgenossen die leidenschaftliche Anteilnahme an der Geschichte. Beethovens „Eroica", Chopins „Revolutions-Etude", Delacroix* „La Libert^ guidant le Peuple" liegen auf einer Linie. Auf dem letzten Bild, „Die Freiheit führt das Volk", hat sich der Maler selbst dargestellt, die Flinte in der Hand, der voranstürmenden Freiheitsgöttin mit der wehenden Trikolore folgend, und über die Barrikaden hinweg, durch Blut und Schweiß der Gefallenen hindurch, dem Sieg oder Untergang entgegen. Rauch und Pulver vor dem flammenden Hintergrund. Dichteste Atmosphäre. Tragik der Geschichte. Mit Baudelaires Augen gesehen, spricht Delacroix die Sprache der „Modernität" — in dem Sinne wie ein Nietzsche es von Wagners Tonkunst meint: Unruhe, Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, ein geheimes Verlangen zum „escapism" oder zur „evasion dans l'espace et dans le temps" — Künstler, die ein Wissen um Traumeswollust haben, ein Wissen um verborgene Seelenreize, audi um den Haut-Goüt des Morbiden, ein Wissen um Frauen, lasterhafte und heilige, die müde sind und begehrlich, Frauen, deren „bleierner Fieberblick das phosphoreszierende Leuchten" der künstlichen Paradiese hat. Die Romantiker entfesselten das Dämonische, das die „Klassiker" wie durch einen Wunderakt ihres künstlerischen Willens in Fesseln hielten oder verdeckten. Sie haben nicht die heilige Nüchternheit der klassischen Linie, sondern die Begierde der heftigen Erregung und suchen — „passionniment amoureux de la passion" (Baudelaire) — die Mittel hochgesteigerten Ausdrucks im Strich und in der Farbe. Wenn das Romantische das Krankhafte ist, dann gehört in den Umkreis der Romantiker. Er war der Maler der menschlichen Psyche, der Maler der Irren, der Verbrecher, der Gestrandeten aller Art, selbst fasziniert von der phosphoreszierenden Fäulnis des nächtlichen Lebens; ein Maler des Triebhaft-Unbewußten und der befremdlichen Wirklichkeit des Anomalen. Er malte Kindesräuber, Kleptomanen, Brandstifter — das Grausig-Reale steigerte sein Farbstrich ins Visionäre. Er arbeitete in der Irrenanstalt des Frauenhospitals La Salpetriere bei dem Nervenarzt Dr. Georget und hielt im Bilde der „Irren" (1822) den physischen Ausdruck

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der krankhaften Eifersucht, die sich bei der Patientin zur Monomanie und Umnaditung steigerte, mit einer klinischen Drastik ohnegleichen fest. Ε. T. A. Hoffmann, Ε. A. Poe, Gerard de Nerval waren die Geistesverwandten dieser Maler, deren Familienähnlichkeit im Rahmen der romantischen Epoche unverkennbar ist. So waren die Romantiker als Porträtisten, Tier- und Landschaftsmaler Ausdruckskünstler par excellence. Man lese in Delacroix' „Journal" vom 19. Januar 1847, von jener Beglückung im Kontakt mit dem unendlichen Formen- und Bewegungsreichtum der lebenden Tierwelt — „au Jardin des Plantes, devant les Animaux". Dann versteht man seine Begeisterung für Rubens „Jagden" und seine eigenen Tierschöpfungen. Dabei zielt er in seinen Bildbeschreibungen immer auf die Gesetze der malerischen Komposition des einzelnen Gemäldes ab. Malerei ist nicht naturalistische Wiedergabe von Lebewesen des Cabinet d'Histoire

naturelle, sondern eine in sich

selbst gründende Kraft der Transformation. Delacroix selbst hat das Wunder der Malerei beschrieben: „Poesie und Musik können sie ( = diese der Malerei eigentümliche Emotion) nicht hervorrufen. Ihr erfreut euch der wirklichen Wiedergabe der Gegenstände, wie wenn ihr sie wahrhaftig vor euch sähet, und gleichzeitig erregt eudi der geistige Sinngehalt der Bilder und reißt eudi mit sich fort. Die Figuren und Gegenstände, die ihr als solche in einem gewissen Teil eurer Intelligenz apperzipiert, scheinen dann wie eine feste Brüdke, über die hinweg die Phantasie in das tiefe und geheimnisvolle Reich der ,sensation* dringt, deren Formen gewissermaßen die Hieroglyphe ist, aber eine Hieroglyphie, die allerdings anders spricht als der kalte Charakter eines gedruckten Buchstabens: eine sublime Kunst, vergleicht man sie mit derjenigen, in welcher der Gedanke nur mittels einer konventionellen Ordnung von Buchstaben zum Geist gelangt. Die Malerei ist eine viel kompliziertere Kunst, hundertmal expressiver, wenn man bedenkt, daß, unabhängig von der Idee, schon das sichtbare Zeichen, die sprechende Hieroglyphe — sonst ein wertloses Zeichen für den Geist in einem Literaturwerk — bei dem Maler eine Quelle lebhaftester Freude wird, d. h. eine höchste Befriedigung, die uns beim Schauspiel der Dinge, durch die Schönheit, die Proportion, den Kontrast, die Harmonie der Farben zuteil wird, und durch alles, was das Auge mit so viel Freude in der Welt der Erscheinungen b e t r a c h t e t . . ( C h a m p r o s a y , 20. Okt. [1853]).

Die Musik Während die Ο ρ έ ^ und die Ο ρ έ ^ Comique dem Pariser Musikleben einen kosmopolitischen, gesellschaftlichen Stempel aufdrückten und die Musik eigentlidi mehr ein soziales als ein künstlerisches Phänomen

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war, traten drei Ereignisse ein, welche die Musik und das Musikleben der Zeit in neue Bahnen lenkten. Das war die Bekanntschaft der Pariser mit Beethoven und Weber; das war das isolierte Phänomen Berlioz, d. h. der Einbruch der großen Dichtung in die Thematik der symphonischen Musik, und das war die schicksalhafte Verknüpfung der Lebenslinien von Berlioz, Liszt und Wagner. Am Anfang der Neuzeit stand die Revolutionsoper als ein eigentümlich nationales Phänomen der französischen Musikkultur da. Durch Rodolphe Kreutzer wurde Beethoven mit der französischen Revolutionsmusik vertraut. Er stand in seiner Bonner Studienzeit im Bann der Freiheitsidee der Großen Französischen Revolution, studierte die Kompositionen von Gossec, Mehul, Lesueur, die Märsche und Hymnen der republikanischen Feiern, die für das Volk, nicht f ü r die Salons geschrieben wurden. Wahrscheinlich lag ihm die Sammlung von Revolutionsmelodien vor, die Kreutzer herausgegeben hatte. Am 13. November 1805 wurde Wien von Napoleon besetzt. Eine Woche später fand die Uraufführung des „Fidelio" (unter dem ursprünglichen Titel „Leonore") statt. Der französisch geschriebene Text stammt von Nicolas Bouilly, einem Freunde Cherubinis. Das Publikum der Premiere waren zumeist französische Offiziere, da H o f , Adel, Bürgerschaft von Wien entweder geflohen waren oder sich zurückhielten. Die Bewunderung, die Beethoven noch vor kurzem dem General Bonaparte, dem Befreier der Völker, gezollt hatte, war mit der Annahme der Kaiserkrone durch den Korsen in Enttäuschung umgeschlagen. U m so stärker lebte in dem Komponisten die Idee der Freiheit weiter, und bis zum heutigen Tag wird der „Fidelio" — ähnlich wie Schillers „Don Carlos" — als eine Verdichtung der Freiheitsidee aus dem Geiste der Aufklärung und der Revolution empfunden. Napoleon stand auf dem Gipfel seiner Macht, als 1807 die 1. und 2. Symphonie Beethovens, 1811 die „Eroica" in Paris aufgeführt wurden. Zwischen diesen beiden Jahren wurde Wien zum zweiten Mal von N a poleon erobert (1809). D a erhielt Beethoven durch den Baron de Tremont das Angebot Frankreichs, nach Paris zu kommen und in der französischen Metropole sein Werk fortzusetzen. Nach einigem Schwanken lehnte Beethoven die Berufung ab. 1813 wurde er, immer in die Wechselfälle des politischen Lebens hineingezogen, im befreiten Wien als nationaler Musiker gefeiert —, indes sein Stern in Frankreich weiter im Aufgehen war. Der begeisterte Kreis um Habeneck, den unermüdlichen Beethovendirigenten

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Jahrhunderts

in Paris, setzte sich durch. Mihul wurde von Beethoven zutiefst beeindruckt. Lesueur nannte Beethoven den „Antichrist der Musik" — was auf eine künstlerische Erschütterung schließen läßt: in der Tat erschütterte ihn die Musik dermaßen, daß er in einem Beethovenkonzert schier den Kopf verlor —, worüber der jugendliche Beethovenenthusiast Berlioz, der seinen Lehrer Lesueur dorthin geführt hatte, in seinen Memoiren Wunderbares zu berichten weiß (1,139 ff.). Im übrigen blieb Cherubini die treibende Kraft des wachsenden Pariser Beethovenkults. 1828, ein Jahr nach Beethovens Tode, wurde die Societe des Concerts du Conservatoire von Habeneck gegründet. Sie begann ihre Wirksamkeit mit einer Aufführung der Eroica und führte nach und nach alle Symphonien Beethovens auf. Was die Tätigkeit dieser Gesellschaft für den Wandel des musikalischen Geschmacks in Frankreich bewirkt hat, gehört in die noch ungeschriebene Geschichte der Nachwirkung Beethovens als ein Kapitel der französischen Musik im Zeitalter der europäischen Romantik und ihrer Ausstrahlung bis in das 20. Jahrhunderts hinein. Schon die relativ frühen Zeugnisse über die Beethovenaufführungen in Paris, wie die von Schindler 1841, dämpfen den weitverbreiteten nationalen Stolz der Deutschen, in musikalischen Dingen an vorderster Stelle zu stehen: „Das, was ich von Musik jeder Gattung in Paris gehört", schreibt Schindler (1841), „übertraf in hohem Grade meine Erwartungen und hat midi von dem bis dahin audi in mir festgewurzelten Vorurteil: nur wir Deutsche verstehen uns auf Musik und sie aufzuführen, g e h e i l t . . . Ich bin mir beim Anhören der Beethovenschen Instrumentalwerke im Conservatoire zu Paris auf das überzeugendste bewußt geworden, daß ich sie im allgemeinen nie und nirgends noch richtiger aufgefaßt und in allen Teilen vollendeter vorgetragen gehört habe."

Wir erfahren von Schindler, welche Begeisterung, ja fast religiöse Verehrung, der Kreis um Habeneck diesem Messias der Musik entgegenbrachte. Der Boden, auf dem eine symphonische Musik sich in Frankreich seitdem entfalten konnte, wurde durch das Erlebnis Beethovens aufbereitet. Um dieselbe Zeit, da Beethovens Musik Eingang in Frankreich fand, wurde den Parisern, deren Freude an der Theatermusik und dem Musiktheater mit Rossini, Auber, Meyerbeer ungebrochen war, eine musikdramatische Sensation zuteil. Carl Maria von Webers „Freischütz" (in Berlin 1822 uraufgeführt) wurde in Paris schon 2 Jahre später gespielt. Im Gegensatz zu den hervorragenden Interpretationen der Beethovenschen Symphonien durch Habeneck und sein Orchester, wurden Text und Musik

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der deutschen Oper elend verstümmelt. Jedoch blieb so viel „romantische" Atmosphäre von dem aus den Böhmischen Wäldern nach England versetzten Robin des Bois (das war der französische Operntitel) in der Partitur hängen, daß die Aufführung schon 6 J a h r e vor Victor Hugos „ H e r n a n i " so etwas wie ein Manifest der romantischen Jeune-France D e r 22jährige, jung verheiratete

Hugo,

dessen

war. „Odes et

Poesies

diverses" und „Nouvelles Odes" gerade erschienen waren, wohnte einer der Freischütz-Aufführungen bei. W i e sich die junge Generation beim A n hören der neuen musikdramatischen Sprache Webers zusammenfand, lesen wir in „Victor Hugo raconte par un ΐέιηοίη de sa v i e " : „Das Odeon-Theater brachte dieses Jahr (1824) mit eklatantem Erfolg den .Freischütz' heraus. Alles, was sich Romantiker nannte, kam zusammen, und umjubelte mit Bravorufen die große Musik Webers. Herr Victor Hugo wartete mit seiner Gattin auf die Öffnung der Schalter. Neben ihm stand ein junger Mann mit entschlossenem, freundlichem Gesicht. Es war Achill Deveria. Er war gekommen, um zum 12. Mal Webers Musik zu beklatschen und das Da Capo des Jägerdiors zu erreichen."

Auch Berlioz, der damals 21 J a h r e alt war, hörte die Oper, aber war über das Arrangement des Werkes durch Castil-Blaze verärgert. Dennoch spürte der Musiker durch alle szenischen und musikalischen Verstümmelungen hindurch das unerhört Neue, das in der romantischen Atmosphäre der Musik lag: Waldeszauber und Märchenschauer, eine Welt guter und böser Geister, innige Frömmigkeit und die Faszination des Bösen. Das führte von Gluck und Spontini fort in ein magisches Reich, das die eigentliche H e i m a t der romantischen Künstler war. Romantisch war aber auch das Schweifen in fremde, ferne Länder. Neue Farbklänge und Rhythmen bereicherten die Musik. I m Orchester der Romantiker oder auf der Klaviatur des Pianos begann die N a t u r zu tönen und zu singen. Waldespoesie im „Freischütz", das Murmeln des Baches in Schuberts K l a v i e r p a r t . . . das Flimmern des Mondlichts und der Sterne, der Zauber der Mittsommernächte bei Mendelssohn und aller Geister- und Elfenspuk wurde zu noch nie gehörten Tonbildern; Klänge wurden zu Punkten und Flächen wie in der Malerei, die Instrumente bekamen einen neuen T o n . Aus den enharmonischen Verwechslungen zog der Komponist seine stärksten Effekte. In Webers Partituren rauschten aber nicht nur deutsche Wälder . . . „Abu H a s s a n " , „Preziosa", „Oberon" enthalten exotische, spanische, märchenhafte Elemente aus der Welt von Cervantes und Shakespeare...

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Schon das 18. Jahrhundert hatte eine „romantische" Freude an allem Fremdartigen. Wie hatte doch Voltaire seine Leser mit leichter Hand über den Erdball in den abenteuerlichen Geschichten und Theaterstücken geführt. Die Opernliteratur schien ihm jetzt im Zeitalter der Romantik zu folgen. Bis in sein Methusalem-Alter hinein schuf Daniel-Franjois-Esprit Auber (1782—1871), als sein nur um 4 Jahre älterer Zeitgenosse Weber längst gestorben war, Werk um Werk in Gemeinschaft mit dem ebenso fruchtbaren Textdichter Eug£ne Scribe. Der Kosmopolitismus war offenbar ein Erbe der Aufklärung und verband sich eigenartig mit der Tendenz zu nationaler Ausprägung der Völkergemeinschaften. „Fra Diavolo", die Mär von dem liebenswürdigen Räuberhäuptling (1830), spielt in Sizilien. „Le Dieu et la Ι ^ ^ έ Γ β " , deren indisch-religiöse Tänze die Marie Taglioni aufführte, beschwor indische Atmosphäre. „Le Philtre", wo die Liebesgesdiichte von Tristan und Isolde in Couplets vorgetragen wird, spielt in der französischen Provinz. Mit „Gustave III ou le Bai masqud" (1833) kommen wir nach Schweden; von dort nach Rußland („L'estocq", 1834). Weiter geht's nach China auf dem „Cheval de Bronze" (1835) und zurück nach Europa: der „Action" spielt wieder auf Sizilien, die „Chaperons blancs" in Flandern, die „Ambassadrice" in Deutschland, alle drei aus dem Jahre 1836. Schließlich erwähnen wir noch den „Lac des Fies" (1839) — ein Märchen aus dem Harz —, die „Zanetta", noch einmal Italien 1840, und die „Diamants de la Couronne", 1841, die wir in Portugal finden. Aber kaum hatte ein musikdramatisches Werk einen so nachhaltigen Einfluß auf die Entwicklung dieser Gattung gehabt wie Aubers „La Muette de Portici". Als junger Kapellmeister hatte Wagner einst in Magdeburg Aubers „L'Estocq" zum Erfolg geführt. Er sah das Neue und zugleich Ausgezeichnete der „Stummen von Portici" in der Konzision und „drastischen Gedrängtheit der Form", in der dramatischen Rolle der Rezitationen, in der Gruppierung der Chorensembles, die Auber zum ersten Mal als szenisch handelnde Massen sich bewegen läßt, er sah es in der musikalischen Bildhaftigkeit und der „theatralischen Plastik", die durch die glänzende Instrumentierung erreicht wurde; „in betreff der inneren Struktur der Musik" hob er die Harmonisierung und Stimmführung hervor sowie die dramatische Sinngebung der ein- und ausleitenden Orchesterzwischenspiele. „Hier war eine .Große Oper', eine vollständige, fünfaktige Tragödie, ganz und gar in Musik: aber von Steifheit, hohlem Pathos, oberpriesterlicher Würde

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und all' dem klassisdien Kram keine Spur mehr; heiß bis zum Brennen, und unterhaltend bis zum Hinreißen. Der deutsche Musiker brummte verdrießlich . . Bei der Analyse der französischen Opernformen machte Wagner die Entdeckung, daß ihrem regelmäßigen B a u „die Struktur des Kontertanzes" zugrunde liegt. D i e Quintessenz der Auberschen Oper würde jedem — meint Wagner — , der „einen unserer ehrbaren Bälle besucht", als eine reguläre „Quadrille" sichtbar: Pantalon — E n avant deux — R o n d e — Chaine anglaise. Wenn die Deutschen die Musik einer Op£ra comique langweilig fänden, läge es daran, daß sie „den Pariser Kontertanz nicht zu tanzen verstanden". Aber Wagner treibt die Strukturanalyse in noch tiefere Schichten, dorthin, wo er die Eigentümlichkeiten des französischen Volkstanzes als wesentliche Bauelemente der Auberschen O p e r aufzeigen kann. Wie die Spanier in ihrem Fandango, die spanischen Zigeuner in ihrem Flamenco, die Italiener in der Tarantella, die Polen in ihrem Mazurek, die Deutschen im Walzer bestimmte musikalisch-tänzerische F o r men ausgebildet haben, so die Pariser im Cancan. E r deckt in der Analyse des Cancan mit einer kühnen Anspielung auf den Pariser Gamin, den Gavroche aus Hugos „Mis£rables", der keck die mörderische Kugel herausfordert, die „Wurzel des Pariser Volksgeistes" auf und deutet von hier aus auch den Charakter der „Stummen von P o r t i c i " . « . . . er (Auber) wies auf den Ouvrier in der Bluse: ,voilä mon publique'... Er machte sein klug und ungemein lebhaft um sich blickendes Auge weit auf, und da sah er sein Pariser Volk und hordite auf die Weisen zu denen es tanzte." D e r für alles Politische aufgeschlossene Wagner sah auch die Zusammenhänge von Musik und Politik im damaligen vorrevolutionären F r a n k reich. D i e Aubersche „Stumme" w a r eine Freiheitsoper: der K a m p f des unterdrückten Fischervolkes von Neapel und Portici gegen die Tyrannenmacht. D i e Uraufführung fand in Paris 1828 statt. Zwei J a h r e später brach die Juli-Revolution aus, die „sich in den Augen der V ö l k e r ganz so sympathisch aufregend ausnahm, wie die ,Stumme von Portici' zuvor in den Theatern dies getan hatte . . . Selten stand eine künstlerische E r scheinung mit einem Weltereignisse in einer genaueren Beziehung." D e r Erfolg des „Freischütz" in Paris, und derjenige der „Muette de P o r t i c i " in Deutschland lassen erkennen, daß die Grenzlinie „zwischen den Schöpfungen des deutschen und französischen Geistes", gerade in der Perspektive der europäischen Romantik, „viel häufiger bereits überschritten

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worden ist, als es manchen Dünkel nach den Anschein haben mag." Die Erinnerungen an Auber zeigen ihren Verfasser, Richard Wagner, in seiner Dankesschuld gegenüber dem Franzosen. „Aber was ist die Musik?", fragte Heinrich Heine im 9. Brief „Über die französische Bühne" an August Lewald (1837). Er hat die Frage nur unvollkommen beantworten können, hat aber statt dessen ein Bild der Großen Französischen Oper skizziert, in dem — außer Auber — die beiden andern Großen der „ O p c h a r a k t e r i s i e r t werden: Rossini (1792 bis 1868) und Meyerbeer (1791—1864). Mit dem ihm eigenen Scharfblick und sozialen Kunstverstand hat Heine, ähnlich wie Wagner bei Auber, deren Opernschaff en im Zusammenhang mit dem politischen Zeitgeschehen beobachtet: Rossini triumphierte in der Restaurationszeit. Während der Revolution und des Empire hätte er schwerlich die Volkstümlichkeit erlangt. Vielleicht, meint Heine, hätte ihn ein Robespierre gar „antipatriotischer, moderantischer Melodien angeklagt", und Napoleon „hätte ihn gewiß nicht als Kapellmeister angestellt bei der Großen Armee, wo er einer Gesamtbegeisterung bedurfte". Heine will sagen, daß Rossinis gewissermaßen private Musik mehr einer Generation entsprach, in der nach den großen Kämpfen und Enttäuschungen „die Gefühle der Idiheit wieder in ihre legitimen Rechte eintreten konnten". Heine scheint zu vergessen, daß Rossini seinen „Guillaume Teil" am Vorabend der Revolution von 1830 schrieb, die immerhin eine Freiheitsoper aus dem Geiste Schillers war und im übrigen sein bedeutendster Beitrag zur „Großen Oper". Freilich saß nicht das „Volk" sondern die ganze internationale Hocharistokratie in der Oper: der Herzog von Orleans, der zukünftige König Frankreichs, die Prinzessin von Vaudremont, der Graf Pozzo di Borgo, die Gräfin Potowska, Lord Courlande, die Goulds, Stuarts, Robinsons... Aber die einzelnen revolutionären Szenen und Akzente genügten nicht, das Werk aus dem Geist von 1830 zu erklären. Die junge Generation erwähnt es kaum: Hugo, Lamartine, Balzac, Delacroix, Berlioz sprechen nicht von ihm oder wenden sich von ihm ab . . . Ein anderer Ausländer erobert die Bühne, Jakob Beer-Meyer aus Berlin, oder Meyerbeer, wie er sich später nannte. 1831 siedelte er nach Paris über. Damit begann seine große Schaffenszeit. Er gehörte also 10 Jahre lang ebenso nach Frankreich wie Heinrich Heine; denn er ging erst 1842 nach Berlin. Sein größter Pariser Opernerfolg war „Robert der Teufel" (1831), die berühmteste Oper neben der „Stummen von Portici". Alles, was sich da begibt, ist romantisch-

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pittoresk-rührselig: Beim Aufgang des Vorhangs sehen wir eine italienische Landschaft. Links eine Höhle gleich einem Hölleneingang, aus dem jedesmal, wenn Bertram hineingeht oder herauskommt, Flammen hervorbrechen. Rechts steht ein Kreuz, das die weibliche Unschuld seiner himmlischen Gegenspielerin schützt — man kann nicht simpler die Symbole von Gut und Böse entgegenstellen. Nehmen wir hinzu, daß der große Bühnenbildner Ciceri als Szenerie den Mont Saint-Michel und den Kirchhof von Montfort l'Amaury darstellt, daß er den Mond über gotische Ruinen scheinen läßt, daß sich Gräber öffnen, Irrlichter tanzen und daß die Prima Ballerina Taglioni den Tanz der unreinen Nonnen anführt, daß die Hölle zu siegen scheint... dann spüren wir einen Hauch der Walpurgisnacht oder der Sabbathszenen der „Phantastischen Symphonie" von Berlioz, und dächten wohl, der „Diable" würde der romantische Schlachtruf der Opernbesucher sein wie Hugos „Hernani" wenige Monate zuvor derjenige der romantischen Jeunesse im Theater. Aber das war er keineswegs. Vielmehr war der Titelheld „ein treues Bild des moralischen Schwankens damaliger Zeit". Wie meint das Heine? Die Republikaner liebäugelten mit dem legitimen Regime, die Legitimisten mit der Republik . . . Die Franzosen waren, meint Heine, jenen Verdammten in Dantes Hölle vergleichbar, „denen ihr dermaliger Zustand so unerträglich geworden, daß sie nur diesem entzogen zu werden wünschten, und sollten sie audi dadurch in einen noch schlechteren Zustand geraten". (Franz. Zustände, Artikel V, 25. März 1832) Die gemeinsame Qual verband sie. „Sie hatten nicht denselben Himmel, aber dieselbe Hölle", (ib.) Dabei gab es mehr Bälle als jemals, und die Oper stand in voller Blüte. Das „Thermometer des Volksglücks" stieg wie der „Staatspapierkurs". Die Aristokratie und die Bourgeoisie tanzten, gaben Bälle, zeigten, daß Frankreich glücklich s e i . . . „sie wollten die Kurse in die Höhe tanzen, sie tanzten h la hausse . . . und die dicksten moralischsten Bankiers tanzten den verruchten Nonnenwalzer aus .Robert le Diable', der berühmtesten Oper", (ib.) Meyerbeer hat die Pariser einen ganzen Winter lang zu fesseln vermocht; alles strömte in die Academie de Musique, um „Robert den Teufel" zu sehen — und Heine glaubte, daß „mancher nicht bloß von der Musik angezogen wird, sondern audi von der politischen Bedeutung der Oper". Er deutet Bertram als den Helden des Juste Milieu, hin und hergerissen zwischen seiner Neigung zum Bösen, d. i. die „Revolution" und der Neigung zum Guten, d. i. „das alte Regime". Aber die Liebe zu einer

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Prinzessin beider Sizilien, die sehr fromm ist, macht audi ihn fromm, und Heine unterläßt nicht zu bemerken, daß der Opernheld am Ende „im Schoß der Kirche, umsummt von Pfaffen und umnebelt von Weihrauch" erlöst wird. Aber erst in den „Hugenotten" (1836) erreichte Meyerbeer wahre Größe: „ein Gleichmaß zwischen Enthusiasmus und artistischer Vollendung" (9. Brief an Lewald). Meyerbeer, ein Mann der Überzeugung, dessen Herz „für die heiligsten Interessen der Menschheit glüht". Er hat unumwunden seinen Kult für die Helden der Revolution bekundet; und dennoch rückten Politik und politische Tagesfragen für diesen Komponisten auf den zweiten Rang. Heine hat ihn bei der Arbeit gesehen: wie er seine Opern einstudiert, ein „Plagegeist aller Musiker und Sänger", wie es je ein theaterbesessener Musiker war. Darum konnte er von ihm sagen: „Die eigentliche Religion Meyerbeers ist die Religion Mozarts, Glucks, Beethovens; es ist die Musik; nur an diese glaubte er, nur in diesem Glauben findet er seine Seligkeit und lebt mit der Oberzeugung, die den Oberzeugungen früherer Jahrhunderte ähnlich ist an Tiefe, Leidenschaft und Ausdauer." (ib.)Das erinnert an Wagners „Glaubensbekenntnis" in seiner Novelle „Ein Ende in Paris" (1840/41): „Ich glaube an Gott, Mozart und Beethoven"...

Ein Höhepunkt der musikdramatischen Kultur in Paris war erreicht. Mit G ^ t r y begann die Bewegung. Es folgte Spontini mit der „Vestalin" (1802) — wo das Erbarmen der Götter für die sündige Vestalin über die Härte des Pontifex siegt —, weiter Auber mit der „Stummen", Rossini mit „Wilhelm Tell", Meyerbeer mit den „Hugenotten". Später haben wiederum zwei Ausländer, Verdi und Wagner das französische Musiktheater überschattet. Erst 10 Jahre nach Meyerbeers Tod schrieb Bizet seine „Carmen": Ein reizvoller Gedanke, daß die Figur der spanischen Zigeunerin aus Merim^es Novelle stammt, wie zuvor Louis Joseph Ferdinand Hirold mit seiner „Schreiberwiese" (Le ΡΓέ aux clercs) und Meyerbeer für seine „Hugenotten" aus Mirimies „Chronique du temps de Charles I X " geschöpft haben. Aber verlassen wir die Bühne, um uns dem symphonischen Ereignis der Generation von 1830 zuzuwenden: Hector Berlioz. Heinrich Heine erinnert sich der eindrucksvollen Gestalt dieses Jünglings, als er ihn bei der Aufführung der „Symphonie fantastique" zum ersten Mal sah: „Es ist schade", schrieb er in der Rückerinnerung, „daß er seine ungeheure, antediluvianisdie Frisur, diese aufsträubenden Haare, die über seine Stirne,

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wie ein Wald über eine schroffe Felswand, sieh erhoben, hat abschneiden lassen; so sah ich ihn zum ersten Male vor sechs Jahren, und so wird er immer in meinem Gedächtnis stehen . . ( 1 0 . Brief an Aug. Lewald)

Berlioz ist im Reidh der Musik der Inbegriff der französischen Romantik — „romantisch" in der poetischen Thematik seiner Stoffe, im Pathos seiner musikalischen Sprache, in der instrumentalen Farbenpracht seines Orchesters. Er ist es vor allem als Mitschöpfer der Programmusik, durch die er, in einem schöpferischen Akt der symphonischen Musik, Ton und Klang an das Wort gebunden hat. Will man ihn obendrein durchaus als „Franzosen" charakterisieren — was immer wieder in vergangenen Generationen trotz aller Fährnisse solcher Betrachtungen versucht worden ist, — dann mag man immerhin darauf verweisen, daß in diesem Romantiker eine bewußte Neigung zur musikalischen und literarischen Klassik auffällig ist. Er blieb zeitlebens ein Verehrer Glucks. Wenn Beethoven den Griechen Homer liebte, dann inspirierte sich Berlioz an dem Römer Vergil und widmete seine letzte große Oper „Les Troyens" dem Divo Virgilio; warum sollte er nicht dem Siegfried und der Brünnhilde des „Ringes", oder auch der germanischen Sagenwelt des Lohengrin und Tannhäuser, eine musikalische Aeneis als Drame lyrique um die Liebe Didos und des Aeneas entgegenstellen? — und das Ganze „dans le systέme shakespearien"? Als an die französischen Zustände gebunden mag man weiterhin seine „politische" Musik oder den Anlaß zu ihr empfinden. In seinem ausführlichen Berlioz-Bericht vom 5. Mai 1841 handelt Richard Wagner von der „Phantastique", von „Romio et Juliette", von der sozialen Sphäre der zeitgenössischen Musik im allgemeinen und spricht von der Juli-Symphonie, die Berlioz f ü r die Überführung der Gefallenen der Revolution geschrieben hat. Es ist die „Symphonie fun£bre et triomphante" gemeint — zur zehnjährigen Wiederkehr der „Trois glorieuses". „ . . . lebhaft empfand ich, daß jeder gamin mit blauer Bluse und roter Mütze sie bis auf den tiefsten Grund verstehen müsse... sie ist edel und groß von der ersten bis zur letzten N o t e . . . ich muß mit Freude meine Überzeugung aussprechen, daß die Juli-Symphonie existieren und begeistern wird, so lange Nation existiert, die sich Franzosen nennt." (R. Wagner, Pariser Berichte für die Dresdner Abendzeitung. Nr. III vom 5. Mai 1841)

Schließlich mag man als „römisch" die musikalische Kolossal-Architektur seines „Requiem" empfinden — wobei man freilich weder an Bach noch an Palestrina denken sollte, sondern eher an die rhetorische Musik Mihuls oder Lesueurs zu den Nationalfeierlichkeiten der Ersten Republik. Μέΐιυΐ h a u e schon 3 Orchester und 3 Chöre im Invalidendom

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aufgestellt, Lesueur 4 und Berlioz stellt nun einen Chor von 200 Stimmen gegen ein fünffach gegliedertes Orchester hin. Der Effekt dieses gigantischen Apparates, den Habeneck dirigiert und beinahe umgeworfen hat, war ungeheuer. Als sich mit dem Blech der Bläser die Stimmen des Chores „Tuba mirum spargens s o n u m . . . coget omnes ante tronum" mischten, fielen die Schwächeren in Ohnmacht wie schon einst in seiner 1. Messe bei den Worten „Et iterum venturus est cum gloria judicare vivos et mortuos". Die Zeremonie fand unter Anwesenheit der kgl. Prinzen, des diplomatischen Corps, der Chambre des Pairs, der hohen militärischen und geistlichen Führung, der ganzen gesellschaftlichen Elite von Paris, zu der auch die Theaterwelt, das Paris der Banken und Bälle gehörte — also es war das Publikum, das in Meyerbeers Opern ging — es war nicht die revolutionäre romantische Jugend. Die Versuchung durch den großen Effekt gehört in das Bild des Komponisten, sogar in sein „romantisches", das sich auch bei andern Künstlern seiner Generation wie bei Hugo oder Delacroix in der pathetischen Schaustellung charakterisiert. Es lag etwas Napoleonisches in ihm, wenn wir mit diesem Begriff herrscherlichen Ehrgeiz, revolutionären Elan, einen Willen zur großen Form verstehen wollen, — und auch einen Schuß Antiklerikalismus damit verbinden. Trotz Messe (1826), Requiem (1837) und der späten T r i logie der „L'Enfance du Christ" (1854) war Berlioz alles andere als ein gläubiger Christ. Er nahm es mit der Religion nicht so genau und spöttelte sogar: „Diese Religion, die gewiß ihren Charme hat, seit sie niemanden mehr auf den Scheiterhaufen bringt, war 7 Jahre lang meine ganze Freude; und obschon wir uns einander verzankt hatten, bewahre ich doch eine zärtliche E r innerung an sie."

Aber nicht nur mit den Vertretern der Kirche, sondern auch mit denen der Politik stand er keineswegs auf gutem Fuß. E r war zwar der Komponist der Juli-Symphonie, aber die Politik als solche erschien ihm wie ein dürres, bleiches, hartherziges Weibsbild mit scheelem Blick: „Die Abneigung, die ich immer schon gegen die Politik hatte, ist noch ständig im Wachsen; dieses lange, dürre Weib mit den sdieelen Augen, der bleichen H a u t und dem harten Herzen erscheint mir immer hassenswerter."

E r war, wie die romantische Jugend seiner Generation, mit dem Revolver in der Hand durch die Straßen von Paris gezogen, als Karl X . abdankte und das Lilienbanner vor der Realität der Banken und Fabriken zum 2. Mal verblaßte. Wenn Berlioz Bonapartist und Revolutionär war,

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dann aus Opposition gegen den Altersgeist, und wir müssen ihn in einer Linie mit Hugo, Balzac, Stendhal, Delacroix sehen. Es stedkte in dem jungen Feuerkopf etwas Napoleonisdies. Das Wort Wagners vom „Napoleon der Musik" sagt etwas Wahres aus. Sein musikalisches Feldherrntalent hat ihm sein Konkurrent Richard Wagner bestätigt, als er bei seinem 1. Pariser Aufenthalt die „Symphonie fantastique" hörte: Das sei das Werk eines ungewöhnlichen Mannes, eines „Napoleon der Musik". Die Jugend war fasziniert. Das Phänomen des Jugendaufbruchs hat auch Th^ophile Gautier verstanden: „Dans l'armie romantique comme dans l'armie d'Italie tout le monde etait jeune". Diese Jugend war revolutionär, weshalb Julien Tiersot sagen konnte, daß Berlioz die Verse Victor Hugos mit voller Zustimmung unterzeichnet hätte: Je mis un bonnet rouge au vieux dictionnaire . . . J'ai pris et d£moli la Bastille des rimes... Drei Blitze, sagt Berlioz in seinen Erinnerungen, sind kurz hintereinander in sein Leben eingeschlagen. Am 11. September 1827 spielte eine englische Truppe im Odeon den „Hamlet". Alles, was zur Jeune-France gehörte, war da: Hugo, Vigny, Nerval, Gautier, Sainte-Beuve, Delacroix . . . Kemble spielte Hamlet, Harriet Smithson Ophelia. Berlioz' Memoiren lassen keinen Zweifel darüber, daß dieses theatralische Ereignis entscheidend f ü r ihn wurde, menschlich wie künstlerisch. Die Aufführung öffnete ihm die Tore zur Welt Shakespeares, zur großen dramatischen Dichtung, und Smithson-Ophelia wurde sein persönliches Schicksal. Beides hing zusammen. „Je touche ici au plus grand drame de ma vie." (I, 125) Am nädisten Tage sah er „Romeo and Juliet". Wir wissen, was später aus diesem dichterischem Erlebnis wurde: „Romäo et Juliette. Symphonie dramatique avec chceurs οοπιροβέε d'apr^s la Tragödie de Shakespeare". Auch diese Symphonie hat Wagner in Paris gehört und Schlechtes von ihr gesagt, aber längst weiß man, welche Wirkung in der Tiefe und geheim gehalten dieses Berliozsche Werk auf den „Tristan" gehabt hat: Man vergleiche das Liebesmotiv Romeos — vielleidit den schönsten melodischen Gedanken, den Berlioz je gefunden hat — mit dem Motiv von Isoldes Liebestod: die Verwandtschaft springt in die Augen. Es war mehr als berechnete Höflichkeit, durch die Wagner damals in den kritischen Monaten der Pariser Tannhäuseraufführung den gekränkten Berlioz zu gewinnen trachtete, wenn er die Tristan-Partitur dem Ton-

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Mönch, F r a n z . Kultur

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dichter des Rom£o widmete: „Au grand et eher maitre de R o n ^ o et Juliette, l'auteur reconnaissant de Tristan et Yseult". So gingen zwei der berühmtesten Liebespaare der Weltliteratur durch ein etwas forciertes Eingeständnis ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen in das Reich der dramatisch und epischen Musik ein. Im gleichen Winter 1827, dem J a h r des Hugoschen „Cromwell", las Berlioz den „Faust" in der Ubersetzung Nervals. Es war der zweite Blitz, der in sein Künstlerleben schlug: „Je vis, je compris, je sentis que j'etais vivant et que je devais me lever et marcher." Unter den großen Musikern haben wir nur von Beethoven Zeugnisse darüber, was ihm und seiner geistigen Welt die Berührung mit Goethe bedeutete, sofern wir von Schuberts unmittelbaren Kontakt mit der goetheschen Lyrik absehen. Aus der Berührung des Musikers mit der Dichtung des „Faust" und mit der Welt Shakespeares wurde die Orchesterphantasie, d. i. „sinfonische Dichtung", geboren, Gebilde, die, anders wiederum als bei Beethoven, den Stempel von Programmusiken trugen. Die „Damnation de Faust" (1846), eine Symphoniekantate (1846), in die auch die „ H u i t 5οέηε5 de Faust" (1829) hineingearbeitet sind, liegt auf der Linie der „Fantastique". Wir sind gegen Musikprogramme und Programmusiken seit langem allergisch geworden. Schon Robert Schumann hat in Hinblick auf Berlioz „die schwierige Frage, wie weit die Instrumentalmusik in Darstellung von Gedanken und Begebenheiten gehen dürfe", grundsätzlich untersucht. (Ges. Schriften, hrsg, von H . Simon Bd. L, 108 ff.) Wir sollten hier nicht zu ängstlich sehen, meint Schumann: „Man irrt sich gewiß, wenn man glaubt, die Komponisten legten sich Feder und Papier in der elenden Absicht zurecht, dies oder jenes auszudrücken, zu schildern, zu malen. Doch schlage man zufällige Einflüsse und Eindrücke von außen nicht zu gering an. Unbewußt neben der musikalischen Phantasie wirkt oft eine Idee fort, neben dem Ohre das Auge, und dieses, das immer tätige Organ, hält dann mitten unter den Klängen und Tönen gewisse Umrisse fest, die sich mit der vorrückenden Musik zu deutlichen Gestalten verdichten und ausbilden k ö n n e n . . . Hauptsache bleibt, ob die Musik ohne Text und Erläuterung an sich etwas ist und vorzüglich, ob ihr Geist innewohnt..

Beethoven, den Schumann anläßlich seiner kritischen Bemerkungen zur Programmusik an dieser Stelle mit seiner „Pastoralsymphonie" erwähnt, ist der dritte Blitz in Berlioz' Leben. Er hörte Beethoven das erste Mal im Frühjahr 1828, als Vierundzwanzigjähriger. Die musikalische Analyse der „Symphonie fantastique" (1830) erweist die Bedeutung, welche die

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VI. Symphonie auf den Schöpfer der ersten großen symphonischen Tondichtung gehabt hat. Sachkundig und verständnisvoll hat Schumann das Werk analysiert. Ein echter Romantiker, der er war, kannte er sich freilich in den Bereichen der Dichtung und Musik gleichermaßen aus. Und dennoch hat er Berlioz' Symphonie nur durch die Klavierbearbeitung von Franz Liszt gekannt. Nach allen Regeln einer musikalischen Analyse untersucht er die Symphonie nach 4 Gesichtspunkten, nämlich der Form (Struktur des Ganzen, der Teile, der Perioden, der Phrasen), der musikalischen Komposition (Harmonie, Melodie, Satz, Arbeit, Stil), der Idee (d. h. dem „Programm", der „Episodes de la Vie d'un Artiste") und dem Geist, „der über Form, Stoff und Idee waltet". Die technische Analyse, die freilich nur dem musikalisch gebildeten Kenner der Symphonie verständlich ist, zeigt aber auch dem Laien, daß „trotz der scheinbaren Formlosigkeit" diesem Klangkörper, in größeren Verhältnissen gemessen, eine „richtige symmetrische Ordnung innewohnt", und daß alle Einzelheiten „einen inneren Zusammenhang" aufweisen. Beim ersten Anhören läßt sich allerdings das musikalische Sinngefüge nur schwer erkennen. Wer aber über weite Strecken zu hören vermag, dem stellt sich folgende Struktur dar: Erstes Thema Mittelsätze

(G-Dur)

Mittelsätze

Erstes

mit einem

mit dem

Erstes

Thema

Zweiten Thema

zweiten Thema

Thema

Anfang (C-Dur) (C-dur)

(C-dur) Schluß (G-dur, e-moll)

(e-moll, G-dur)

(C-dur)

Schumann treibt die Analyse „dieser recht ungeheuren Phantasie" weiter und zeigt die Struktur der einzelnen Phasen auf. Vor allem entdeckt er die Genialität der freien Schöpferfreude des Komponisten: „Fast nie entspricht der Nachsatz dem Vordersatze, die Antwort der Frage. Es ist dies Berlioz so eigentümlich..., daß das unbehagliche Gefühl des ersten Augenblicks und die Klage über die Dunkelheit wohl zu entschuldigen und zu erklären ist. Aber mit welch kecker Hand dies alles geschieht, dergestalt, daß sich garnichts dazuzusetzen oder wegwischen läßt, ohne dem Gedanken seine scharfe Eindringlichkeit, seine Kraft zu nehmen, davon kann man sich nur durch eigenes Sehen und Hören überzeugen. Es scheint, die Musik wolle sich wieder zu ihren Uranfängen, wo sie noch nicht das Gesetz der Taktesschwere drückte, hinneigen und sich zur ungebundenen Rede, zu einer höheren, poetischen Interpunktion (wie in den griechischen

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Chören, in der Sprache der Bibel, in der Prosa Jean Pauls) selbständig erheben." (p. 95) Gewiß: Will Berlioz z.B. von G nach Des, „so geht er einfach ohne Komplimente hinüber". Die Akademiker der Musik, etwa ein Ρέΰβ, dem Schumann „völligen Mangel eines Organs für diese Art von Musik" vorwirft, mögen darüber den Kopf schütteln, und doch hat der Hörer den Eindruck: „ . . . es dürfe an jener Stelle gar nicht anders heißen". Man verstehe also den Ausspruch eines Hörers nach dem Anhören der Symphonie: „cela est fort beau, quoique ce ne soit pas de la musique". (zit. bei Schumann, I, 97) Nein, die „Kernhaftigkeit und Gedrungenheit" der Komposition erinnert Schumann vielmehr an Beethoven. Solche Musik ist keineswegs immer „schön". Es hat bei Berlioz eine besondere Bewandtnis: Jeder geübte Harmoniker könnte hier ändern und „verbessern". Aber „wie matt" würde sich dann das Ganze ausnehmen! Man soll nicht „durch Kunst verfeinern oder durch Zwang in Schranken halten". Berlioz will auch gar nicht „für artig und fein" gehalten werden. Was aber da urwüchsig hervorbricht, „geht durch Mark und Bein". Dabei ist seine Musik zuweilen von zartestem Melos, „das jedem Rohen und Bizarren die Waage hält." Und wie versteht er sich auf das kunstreiche, feingearbeitete Detail: „Er preßt aber seine Themas nidit bis auf den letzten Tropfen aus und verleidet einem, wie andere so oft, die Lust an einem guten Gedanken durdi langweilige thematische Durchführung. Er gibt mehr Fingerzeige, daß er strenger ausarbeiten könnte, wenn er wollte, und wo es gerade hinpaßt, — Skizzen in der geistreichen Weise Beethovens. Seine schönsten Gedanken sagt er meistens nur einmal und mehr wie im Vorübergehen." (p. 100) Schumann deutet auf die Durchführung der Themen und ihre geistvolle Verflechtung. „Beethoven könnte kaum fleißiger gearbeitet haben." Immer wieder der Vergleich mit Beethoven. Er drängt sich auf. Aber „mehr als Beethoven, mehr als alle andern" stellt Berlioz Forderungen an das Orchester; das ist nicht nur im Sinne größerer, mechanischer Fertigkeiten der Spieler gemeint, sondern als Dienst der Individuen am Ganzen. Seinem Instrumentalinstinkt müßten selbst seine Gegner Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie taten es. Das große Orchester ist seine Sache. „Ob Berlioz mit wenigen Mitteln etwas ausrichten wird, steht dahin." Das fragte sich Schumann. Was schließlich die Idee dieser „Episode im Leben eines Künstlers" angeht, so braucht man nur die wenigen Prosaseiten von Berlioz selbst zu

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lesen, die er dem Werk voranstellte: Reveries-Passion; — Un Bai; — Sc£ne aux Champs; — Marche du Supplice; — Songe d'une nuit du Sabbat. D a ist alles enthalten, was thematisch für einen Romantiker interessant ist: Träumerei und Leidenschaft; das Chateaubriandsche ,vague des passion'; die Beethovensche Pastoralszene im Adagio; die Opiumphantasie des Künstlers: Mord an der Geliebten, Verurteilung, Vision der eigenen Hinrichtung, wie sie ihm in der Bewußtseinsspaltung zuteil wird; schließlich das mephistophelische Thema des Hexensabbaths: höllische Orgien, Totenglocken, Parodie des Dies irae: Hexentanz und dies irae in einer Doppelfuge verwebt: Parodie burlesque. Das Groteske mischt sich mit dem Sublimen, das Gemeine mit dem Erhabenen. Auf die romantischen Träumereien in der Szene auf dem Lande (mit den Horn-, Oboenund Flötenstimmen), die im ppp ausklingen, folgt der Hexensabbath, ein wüstes Stück. Romantisch ist endlich die poesiegezeugte und poesiebezogene Musik: Die Walpurgisnacht im „Hexensabbath"; der „Gang zum Richtplatz" (La Marche au supplice) weckt den Schauder einer Erinnerung an Hugos „Dernier Jour d'un Condamni", und Tiersot sagt, er habe nie die Musik des „Balls" hören können, ohne an die Ballszene von Balzacs „Lys dans la Vallie" zu denken. So stellt sich uns das Werk als ein Rέsumέ aller Tendenzen dar, die wir, in Ermangelung eines andern Ausdrucks, als „romantisch" bezeichnen. Es ist unmöglich, bei der Erwähnung der „Fantastique" und der „Damnation de Faust" nicht an Liszt zu denken; hat doch dieser 19-jährige Liebling des Pariser Musik- und Salonpublikums der Uraufführung der „Symphonie fantastique" beigewohnt und noch am gleichen Tag eine Klavierbearbeitung entworfen. Später haben ihn die drei Hauptgestalten der Goetheschen Tragödie: Faust, Gretchen und Mephisto zu seiner dreisätzigen Faustsymphonie inspiriert, deren musikalische Symbolsprache die rein pikturale Tonmalerei überlagert. Berlioz und Liszt stehen in jenen frühen Pariser Jahren wie das Bruderpaar Kastor und Pollux am Kunsthimmel von Paris. Liszt spielt in fast allen Konzerten, die Berlioz veranstaltet: „Er tobt, weint, schluchzt, träumt, seufzt, erhitzt sidi bis zum Taumel der Raserei, versinkt in religiöse Betrachtung, schäkert, ist ausgelassen, fasziniert . . . und Berlioz ist das Edio, dessen Liszt bedurfte . . . "

All das lesen wir bei dem Kritiker Ortigue . . . Aber Liszt flüchtet aus Paris mit der Gräfin d'Agoult, kehrt wieder in die Musikhauptstadt zurück, spielt eine große Phantasie über zwei Themen aus Berlioz' „Lelio"

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und die Ballszene und den Gang zum Richtplatz aus der „Fantastique". Hector dirigiert, das Publikum tost. Aber Liszt verschwindet wieder und überläßt den älteren Freund dem Schicksal, das Berlioz nicht hold ist, so sehr ihn auch Liszt ermutigt: „Die Götter stehen dir bei!". Nun, sie standen Liszt bei und überhäuften den Glücklichen mit ihrer Gunst, aber zogen sich von d e m zurück, den Wagner den „Unglücklichen" nannte . . . Doch scheint ihn die Welle wieder zu heben: Liszt spielt 3 Konzerte. Der Erfolg war beispiellos. In dem einen Konzert spielt er nur Eigenes, in dem dritten vom 24. April 1841, das er zugunsten des Beethovendenkmals für Bonn unter Berlioz' Stabführung gibt, spielt er nur Beethoven. Aber das Publikum verlangte in dieser Beethovenfeier Liszts beliebte „Phantasie über ,Robert le Diable'" — und Liszt spielte sie: „Je suis le serviteur du public", habe er dabei gemurmelt und habe sich verärgert an den Flügel gesetzt. Wagner, der dem Konzert beiwohnte, nimmt ihn zwar in Schutz, aber fügt spöttelnd hinzu: „So rächt sidi jede Schuld auf Erden. Einst wird Liszt audi im Himmel vor dem versammelten Publikum der Engel die .Phantasie über den Teufel' vortragen müssen! Vielleicht wird es dann das letzte Mal sein.*

1852 veranstaltete Liszt in Weimar für Berlioz eine Festwoche, die zu den größten Erfolgen in der Künstlerlaufbahn des französischen Komponisten gehört. Liszt ist nicht mehr der alte . . . Inzwischen ist Wagner aufgetaucht und lenkt immer mehr die Aufmerksamkeit Liszts auf sich.. Tragische Geschichte, auch das Kapitel Wagner—Berlioz. Berlioz hatte sich einst für den Hungerleider aus Riga, der nur mit dem „Rienzi" im Gepäck Paris erobern wollte, verwendet. Dann hörte er den inzwischen zum Hofkapellmeister ernannten Komponisten des „Fliegenden Holländers" in Dresden den „Rienzi" und den „Holländer" dirigieren. Sogar für den „Tannhäuser" setzte sich Berlioz auf Bitten Liszts in Paris ein — und mußte nun erleben, wie er auf dem Felde der Oper von dem Rivalen selbst geschlagen wurde. Das waren drei große Etappen, in denen sich die 3 verwandten Künstler immer wieder begegneten. Und wenn auch die wechselseitige Bewunderung der drei „Kerle" durch menschliche Unzulänglichkeit: Verrat, Eifersucht, Neid getrübt wurde, so bleibt doch die in einem Brief an Liszt von Wagner formulierte Einsicht gültig: „daß in der Gegenwart doch nur wir drei Kerle eigentlich zu uns gehören, weil nur wir uns gleich sind: und das sind Du — Er — und Ich!" Mit dem „Tannhäuser", dem wir Baudelaires Tannhäuser-Aufsatz verdanken, geht 20 Jahre nach den Pariser Vorspielen das Drama „Wagner in Frankreich" seinem Höhepunkt ent-

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gegen. Während aber Wagners Stern im Aufgehen war, sank Berlioz' Stern tiefer. Im Kampf mit dem Leben, mit sich selbst, mit seiner Kunst hat sich Berlioz aufgerieben. Er hatte Liszt verlassen, hatte Wagners versöhnlich dargebotene Hand ausgeschlagen und ging nun als Einsamer durch Paris, das er sich nicht mehr zurückerobern konnte.

KAPITEL IV

Die Weltgültigkeit der französischen Lyrik Der Parnaß Über dem Eingangstor zu der „modernen Dichtung", die wir als solche im Gegensatz zu der sich vorerst überlebenden romantischen Lyrik empfinden, stehen vier Namen von weltgültigem Rang: Baudelaire — Mallarm^ — Verlaine — Rimbaud, in großen Lettern geschrieben. Zwischen ihnen und den vorangegangenen Romantikern hat eine „Schule" von sich reden gemacht, die unsere Aufmerksamkeit verdient: der Parnaß. Die bedeutendsten in der älteren Dichtergruppe, die im „Parnasse contemporain" Gedichte veröffentlichten, verraten ihre Herkunft aus der Romantik und weisen zugleich Wege in die Zukunft. Sie preisen die Selbstherrlichkeit des Schönen. Ihr L'Art-pour-l'Art-Gedanke stammt von Hugo, ist ebenso ein Kunstprinzip, das in den Bereich der Ästhetik gehört, wie ein Protest gegen den Utilitarismus und die Banalität bürgerlicher Fortschrittsgläubigkeit. Der Protest als ein Akt der Dichtung kann auch als ein Phänomen der Sozialgeschichte im Frankreich der Jahrhundertmitte betrachtet werden. Die Dichter hatten es um 1850 nicht leicht. Die Februarrevolution von 48 lenkte die Kräfte nicht gerade auf die Lyrik. Der Staatsstreich Napoleons vom 2. Dezember trug zur Liberalisierung der Künste nichts bei. Victor Hugo ging ins Exil; viele freigesinnte Geister sahen ihre Existenz zerbrochen. Das neue Kaiserreich interessierte sich nicht für die Dichtung, vor allem aber waren die Dichter selbst an der Epoche desinteressiert. Der Bruch zwischen Poesie und Gesellschaft war offenkundig. Die neue Generation war, wie Thibaudet bemerkt, auf ihrer oberen, geistigen Schicht eine Generation von Kritikern, Gelehrten, Naturwissenschaftlern, Technikern, dazu eine Generation von Männern der Wirtschaft und Finanz, vom Dämon des Gelderwerbs beherrscht und machthungrig. Es war die Zeit, da die hoch bezahlte Nana Emile Zolas die Männerwelt zu ihren Füßen zwang und „verspeiste". Wie diese Generation in der Adels- und Bürgerschicht und ganz „unten" aussah, erfahren wir aus

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der Lektüre von Zolas „Rougon-Macquart", der Natur- und Sozialgesdiichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich. Es war in den höchsten geistigen Schichten die Generation von Taine, Renan, Gobineau, Claude Bernard, humanistisch gebildeten Männern, wissenschaftlich geschult, eine Jugend, der die Ecole Normale den Stempel aufgedrückt hatte. Sie verfügte über ein großes Faktenwissen und eine wissenschaftliche Methode. Die „Parnassiens" waren ihre Altersgenossen und hatten etwas vor ihrem Geist. Das Wort Th^ophile Gautiers: „II n'y a de vraiment beau que ce qui ne peut servir έ rien" (Preface zu dem Roman „Mademoiselle de Maupin", 1834) ist noch eine romantische Herausforderung, die sein schon zwei Jahre zuvor formuliertes Thema zusammenfaßt: „Was wollen denn all die Utilitaristen, Wirtschaftsmänner, Saint-Simonisten und all die andern, die da fragen: quoi cela rime?' Dumme Frage dieses ,A quoi cela sert-il?' — ,Cela sert i etre beau' ist die bündige Antwort." (Albertus 1832)

Die Besorgnis um die reine, zweckentbundene Schönheit eines Kunstwerks — Gautier nennt auch die Bilder eines Delacroix und Ingres — erfüllte schon den Victor Hugo der „Odes et Ballades" und wurde von Heinrich Heine anläßlich seiner Ausführungen über Goethe in der „Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland", 1835, mit kritischem Verstand geprüft. Vor allem analysierte Heine in dem L'Artpour-l'Art-Prinzip die schon von den „Goetheanern" aufgeworfene Frage nach dem moralischen Sinn der Kunst. Hören wir Heine: „Die Goetheaner bemerkten lächelnd, daß . . . die Beförderung der Moral, die man von Goethes Dichtungen verlange, keineswegs der Zweck der Kunst sei, denn in der Kunst gäbe es keine Zwecke, wie in dem Weltbau selbst, w o nur der Mensch die Begriffe ,Zweck' und ,Mittel' hineingegrübelt; die Kunst wie die Welt sei um ihrer selbst willen da, und wie die Welt ewig dieselbe bleibt, wenn auch in ihrer Beurteilung die Ansichten der Menschen unaufhörlich wechseln, so müsse auch die Kunst von den zeitlichen Ansichten der Menschen unabhängig bleiben; die Kunst müsse daher besonders unabhängig bleiben von der Moral, welche auf der Erde immer wechselt, so oft eine neue Religion emporsteigt und die alte verdrängt."

So sprächen die „Goetheaner" — so sprach Gautier. Heine selbst — das sei am Rande bemerkt — konnte dieser Ansicht nicht huldigen: die Kunst als eine zweite Welt so hoch zu erheben, „daß alles Treiben der Menschen, ihre Religion und ihre Moral, wechselnd und wandelbar unter ihr hin sich bewegt." (ib.)

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Aber da ist noch eine andere Frage als die einer philosophisch-ästhetischen Haltung im Spiel: die Frage nach der Kunst als einer technischen Leistung, nach der Dichtung als einer „Mache", die dem Begriff der „Poesie" ihren tieferen Sinn gibt. Wer liest noch das Lehrbuch von Theodore de Banville (1823—1891), den „Petit Traite de Poesie fran?aise"? Und es ist doch ein interessantes Büchlein, diese Einführung in die französische Reimkunst. 1. Banville beruft sich auf die Dichtung des 16. Jahrhunderts. Wer sie kennt: Ronsard und die Pleiade in der Jahrhundertmitte, Marot und die Meistersingerschule vor ihnen, und nach ihnen im letzten Drittel d'Aubigne und Rignier, der weiß, wie richtig Banville sah, als er behauptete: „Unser Werkzeug, das ist die Verskunst des 16. Jahrhunderts, wie sie von den großen Dichtern des 19. vollendet wurde." Er denkt an Victor Hugo. Aber Banville gräbt noch eine andere Schicht des Dichtens auf, den Urgrund der Dichtung; er legt ihn mit einem Zitat aus Ronsards „Abr£g£ de l'Art poetique" frei: Die Konzeptionen des Dichters sollen nicht „am Boden schleifen"; sie seien „groß, hoch, schön . . R e l i g i ö s und gottesfürchtig sei der Dichter: ,,Έκ Διός άρχώμεσθα, et c'est aussi pour te monstrer que rien ne peust estre ny bon, ny parfaict, si le commencement ne vient de Dieu". Aus Gott sei aller Anfang, und so will ich dir auch zeigen, daß nichts gut noch vollkommen sein kann, wenn der Anfang nicht von Gott kommt. Wenn Banville selbst auch keineswegs ein „religiöser" Dichter ist, für den alles „aus Gott seinen Anfang nimmt", so sieht er doch die transzendente Bedeutung großer Dichtung, die mehr als nur Verskunst sein will, — womit er ebenfalls eine Unterscheidung aufnimmt, die das 16. Jahrhundert mit der Differenzierung von „po£te" und „versificateur" getroffen hat. „Große Dichtung" kann also nur da entstehen, wo „Begeiferung", und das heißt „Inspiration", der göttliche Atem, den Dichter erfüllt. „Wie hoch dein Genius und deine Wissenschaft dich tragen mag, du mußt wissen, daß du schöne Gedichte nie wirst schreiben können, wenn göttliche und übernatürliche Hilfe dir nicht zuteil wird."

2. Sind solche Töne bei einem Parnassien schon auffällig genug, wieviel verwunderlicher ist bei einer Schule, die ihre Verwandtschaft mit den plastischen Künsten betonte, das Bekenntnis zur Musik. Banville spricht es unüberhörbar aus. Einst sagte Ronsard: „Ich will, daß meine Verse gesungen werden." Und er schrieb viele Gedichte für die Komponisten, die

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ihm den Wunsch in überreichem M a ß e bis z u m heutigen T a g erfüllten. Banvilles Frage u n d A n t w o r t : „A quoi done servent les vers? A chanter", sind ein Echo auf Ronsards Anliegen, Dichtung u n d Musik wieder zu vereinen, wie es im A l t e r t u m bei D a v i d u n d P i n d a r gewesen w a r . Aber diese Vereinigung h a t t e sich längst gelöst. Sie vollzog sich erst wieder im Mittelalter bei den Trobadors, d a n n in der religiösen u n d weltlichen Lyrik der Psalmen- u n d Liederkompositionen der Renaissance, u n d k u r z v o r Banville noch einmal in der R o m a n t i k . D i e Vereinigung von Dichtung u n d Musik, die innerhalb der deutschen K u l t u r mit E i c h e n d o r f f — H e i n e — Goethe u n d Schubert—Loewe—Schumann Wirklichkeit geworden w a r , ist bei Banville u n d den Franzosen eher ein Sehnsuciitstraum geblieben, in welchem noch die T r a u e r über den Verlust der W o r t - T o n - E i n h e i t nachhallt . . . „A chanter d&ormais une musique dont l'expression est perdue, mais que nous entendons en nous, et qui seul est le C h a n t . . . " Das k o n n t e ein R o m a n t i k e r geschrieben haben. Banville gibt sich zuweilen wie ein romantisch-wehmutsvoll gestimmter Zirkusclown, ein A k r o b a t des Verses, der sein P u b l i k u m mit seiner Sprachkunst in Erstaunen setzen will. Aber er sah sich als der C l o w n seiner „Odes funambulesques", der, angezogen von dem „ g o u f f r e d'en h a u t " , dem über ihm sich wölbenden „ A b g r u n d " , sich mittels seines Sprungbretts so hoch schnellte, d a ß er unter dem Trommelwirbel des Orchesters das Zeltdach durchstieß u n d sich voller Sehnsucht nach d e m A b g r u n d in den Sternenhimmel schwang . . . 3. W a s bedeutet das W o r t „Poesie"? Als Parnassien, d. h. als ein Dichter, der sich zur Suprematie der sprachlichen F o r m bekennt u n d die Forderung auf höchste Qualitätsarbeit a n sich u n d andere stellt, interpretiert er es unter Berufung auf seine Etymologie: „ . . . en grec ποίησις, action de faire, fabrication, vient du verbe ποιεΐν, faire, fabriquer, fajonner: un Po£me ποίημα est done ce qui est fait et qui par consequent n'est plus k faire; d. h. also eine Komposition, die so absolut, so vollkommen, so endgültig ist, daß sie in nichts geändert werden kann, ohne sie weniger gut zu machen oder ihren Sinn abzuschwächen." (ib.) Banville f a ß t den Begriff des ποίημα so eng u n d straff, d a ß er die Möglichkeit eines „ροέηιε en prose" leugnet. E r n i m m t nicht einmal F6nelon („Telemaque), Louis Bertrand ( „ G a s p a r d de la N u i t " ) , nicht einmal Baudelaires ,,Ροέπιεβ en prose" aus, ja er hält sogar Boileaus Anweisung: Vingt fois sur le mutier remettez votre ouvrage

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für absurd; ein Poet, der 20 Mal seine Dichtung auf der Hobelbank überarbeitete, würde nur 20 neue Gedichte hervorbringen, ohne die Kraft des ersten Wurfes wiederzuerlangen — sofern dieser eine geniale Eingebung war: die „Gnade" des 1. Verses, von der Val^ry sprechen wird. 4. Wer aber den vollendeten Ausdruck eines Gedichtes erreichen will, muß ihre Elemente — die Wörter — kennen. Dazu bedarf es eines umfassenden Wissens, einer weiten Sach- und Fachkenntnis, sonst geriete der Dichter in eine unerquickliche „Phrasiologie de convention et de lieux communs". Was also einem Balzac, Flaubert, Zola als Romanciers redit war, mußte einem Lyriker der Parnaßschule billig sein. Sdion Fureti^re hatte verlangt, daß ein Dichter die Dinge beim Namen nenne. Gautier hatte die Forderung erfüllt, wenn er etwa die Wunder des arabischen Sattlerhandwerks beschrieb, und Flaubert verfügte über ein entsprechendes Vokabular für seine „Salammbo". Die präzisen Wörter lassen sich nicht aus der Tiefe des Gemüts hervorzuzaubern. Der „Parnaß" wurde mit der Forderung Banvilles zu einer Schule der Präzision des poetischen Handwerks: „Ohne die Richtigkeit des Ausdrucks gibt es keine Dichtung, und ohne ein tiefes, solides und umfassendes Wissen würdest du vergeblich das treffende Wort suchen und die Richtigkeit des Ausdrucks — du würdest sie nie finden."

5. Aber mit der Anhäufung „richtiger" Wörter ist es in der Dichtung nicht getan. Die aus ihr sich ergebende „justesse de l'expression" ist nur Mittel und Bedingung guter Dichtung. Der Weg ist komplizierter. „Sammle dich und horche in dich hinein" — „Recueille-toi et icoute en toi-meme". Der geheimnisvolle Weg geht also nach innen. Diese Stimme Novalisscher Mystik nimmt sich seltsam im Munde eines Parnassien aus; aber sie bei Banville zu überhören, wäre ein Unrecht gegen den Dichter und seine poetischen Ideen. Was er im folgenden zu sagen hat, sollte von weittragender Bedeutung werden: „Wenn du begabt bist und der Gnade teilhaftig — du magst deinen Geist mit allem wißbaren Wortmaterial möbliert haben —, werden sich ihm Eindrücke und Bilder darbieten und sie werden von Wörtern, Tönen, Klangkombinationen begleitet sein, die ein Echo in dem Hörer hervorrufen . . . Ein Dichter, der sich darauf beschränkte, die Dinge wie sie sind niederzuschreiben, ähnelte einem Maler, der alle Blätter eines Baumes abbildete, und er würde doch keinem Betrachter die Idee eines Baumes vermitteln. Der Maler muß nicht den Baum darstellen, sondern ihn sichtbar machen" — „qu'il le fasse voir".

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Das ist bereits malerischer Expressionismus, wie ihn Klee fordern wird. Chef der Parnassianer wurde Leconte de Lisle. Er hatte den Zuschnitt and die große Geste eines „g&^ral en disponibiliti" (Thibaudet). Mit 20 Jahren kam er aus den Tropen nach Paris, ein glühender Anhänger der revolutionären Ideen und der Sozialphilosophie, großer Leser von Proudhon und Fourier. Das Scheitern der Revolutionsideale hat den Bruch des enthusiastischen Diditers mit der Gesellschaft verursacht. Er zog sich zurück und verdichtete in der Thematik seiner „Po£mes antiques" (1852 bis 1862), der Ροέπιββ barbares" (1862—1871) und der "Pommes tragiques" (1884) Träume und Bilder mythischer und frühgeschichtlicher Menschheitsepodien. Es erschien ihm sinnlos, die unendliche Melodie der emotionalen romantischen Lyrik weiterzuspinnen. Könnten nicht Kunst und Wissenschaften, lange genug voneinander getrennt, in seiner wissenschaftsbewußten Zeit audi in der Poesie miteinander verschmolzen werden? Aber waren nicht die Romantiker gerade so von ihrer Zeit und Gesellschaft enttäuscht wie er? Diktierte ihm nicht die Sehnsucht nach dem Verlorenen Paradies seiner tropischen Heimat die schönsten Verse, brachte nicht der H a ß gegen die zeitgenössische Gesellschaft oder Politik eine Saite seines poetischen Genius zum Klingen? Dabei machte gerade das strenge Gewand seiner Poesie mit dem parnassianischen Faltenwurf den eigentümlichen Reiz seiner Sprache. Er schuf sich das Instrumentarium eines inneren Gesanges, dessen Schönheit und Klangfülle zu leugnen töricht wäre. Gewiß rief seine Dichtung nicht zu großen Taten auf; er wurde auch kein propbeta vates, kein Märtyrer, der, wie Victor Hugo in Gegenwart und Zukunft blickte und möglicherweise ein lebenslanges Exil auf sich nahm, sondern er hielt nur mit seiner mythischen Thematik der jämmerlichen Gegenwart den Spiegel ersehnter Größe vor. Die Themen dieses erbarmungslosen Feindes der christlichen Religion sind die antiken Mythen und Religionen, deren Ansichten er dem Hörer seiner Verse in monumentalen Entwürfen vorführt. Leconte de Lisle besaß eine außerordentliche Kenntnis nicht nur der biblischen und griechischen Antike, sondern auch der östlichen Philosophie und Literatur. Je weiter die humanistische Bildung aus dem Erziehungsbereidi des Menschen unserer Tage verdrängt wird, um so mehr wird man Leconte de Lisle als einen Wundermann musealer Dichtung bestaunen, der die Grille hatte, eine „Kindheit des Herakles", einen „Khiron", eine „Venus von Milo", eine „Niobe", eine „Hypathia" zu besingen und eine griechische „Vase" oder

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anderes in lyrisches Relief zu erheben, anakreontische Oden zu dichten und aus Theokrit (1861), aus der „Ilias" (1866), der „Odyssee" (1867), aus Hesiod (1869), aus Aischylos (1872), Sophokles (1877) und Euripides (1885) zu übersetzen. Er steht in der Reihe der großen Gräzisten unter den Lyrikern und Dramatikern der französischen Dichtung: Ronsard, Racine, Cl^nier. Jedes Jahrhundert besaß den ihrigen. Der letzte nach ihnen, der das als Dichter konnte und antike Form hatte, war in Frankreich Paul Claudel, ein katholischer Aischylos oder ein aischyläischer Christ. Leconte de Lisles Blick schweifte über Griechenland hinaus nach Indien. Auch diese Welt war von den Romantikern erschlossen worden. Indische Legenden wie Goethes „Gott und die Bajadere" waren bekannt. Friedrich Schlegel hat „von der Weisheit und Sprache der Inder" geschrieben, Franz Bopp war in Deutschland der eigentliche Sanskrit-Gelehrte. Heinrich Heine erspürte in Schlegels Unternehmen einen „Hintergedanken des Buches", das „im Interesse des Katholizismus geschrieben" sei: (Die romantische Schule in Deutschland). „F. Schlegel übersieht hier die ganze Literatur von einem hohen Standpunkt aus, aber dieser hohe Standpunkt ist doch immer der Glockenturm einer katholischen Kirche. Und bei allem, was Schlegel sagt, hört man die Glodcen läuten; manchmal hört man sogar die Turmraben krächzen, die ihn umflattern. Mir ist, als dufte der Weihrauch des Hochamts aus diesem Buch und als sähe ich aus den schönsten Stellen desselben lauter tonsurierte Gedanken hervorleuchten." (ib. Bd. IX, p. 62)

Wenn es sich bei Schlegel mit dem katholischen Hintergedanken also verhält, dann wirkte bei Leconte de Lisles Indienbild ein Hintergedanke umgekehrter Art, nämlich der H a ß gegen die christliche Religion. Man könnte sagen, daß seine Hindu-Visionen, seine indischen Götter, sein Veda-Gebet, der „Bhagavad-Gita", die kosmogonische „Vision de Brahma", daß er alles, was er von den indischen Religionen durch die Übersetzungen und wissenschaftlichen Werke der französischen Orientalisten wie Burnouf, Langlois, Fauche erfahren konnte, dazu diente, seine antichristlichen Komplexe in zyklischen Dichtungen abzureagieren, und sie als Kampfmittel gegen die Erbärmlichkeit einer verkommenen christlichen Welt einzusetzen. Leconte de Lisle nimmt nach der romantischen Restauration des Christentums den Kampf Voltaires mit andern Waffen wieder auf.

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Baudelaire Baudelaires „Tieurs du Mal" sind wohl nach Petrarcas „Canzoniere" und Shakespeares Sonetten das bedeutendste Buch der jüngeren Vergangenheit europäischer Dichtung. Seine „Poemes en Prose" wird jeder Kenner als besondere literarische Kostbarkeit genießen. Seine „Salons" werden als Zeugnisse eines hohen kritischen Kunstverstandes von allen Freunden der Malerei geschätzt werden. Über diese 3 Sparten Literatur wären immer neue Betrachtungen anzustellen, ebenso wie über die 3 folgenden: das Dandytum als Revolte; das Phänomen der Erlebnisübertragung, zu dem es bei Baudelaire auf dem Wege des simile simili cognoscitur (Wesensgleiches wird nur von Wesensgleichem erkannt) kam, als er sich in Poe, Delacroix und Wagner entdeckte; und schließlich das Geheimnis korrespondierender Erkenntnisorgane, mit denen sich der Dichter die Zugänge zur sinnlichen und übersinnlichen Welt erschloß. Das alles sei hier nur angedeutet. Eine Durchführung dieser komplexen Thematik würde den Rahmen des Buches sprengen. So sei nur einiges im Zusammenhang damit beleuchtet. Was Baudelaire (1821—1867) auf den ersten Blick mit den Parnassiens verbindet, ist der H a ß gegen eine Gesellschaft, die in dem Ungeist utilitaristischer Weltbetrachtung von der Idee des Fortschritts verblendet war. Den Geist aus dieser Umklammerung zu retten, war Baudelaires poetische Mission: — poetisch, weil eine solche Tat von ihm als Dichter durch den Spiritualismus des Wortkunstwerks vollbracht werden konnte. Das bedeutete aber Entfremdung vom „Zeitgeist", bedeutete Verzicht auf politisches Engagement, und Einkehr in das eigentliche Reich der Kunst und Dichtung. Die Wendung zur Sprache und dem Material des Verses, mit dem die Sprache Welt baut und sie beseelt, brachte den Dichter in die Nähe Gautiers, dem Baudelaire in vollem Bewußtsein dessen, was er tat, die „Fleurs du Mal" widmete. Man versteht die Verwandtschaft, wenn man sich nur einige Parallelen ihrer Sätze ins Bewußtsein ruft. Gautier·. „Die Kunst um der Kunst willen bedeutet für die Eingeweihten eine Arbeit, deren einziges Anliegen die Sorge um das Schöne an sich i s t . . . Mögen die Künstler auf der Hut sein und sich nicht ins Joch einer philosophischen Schule oder einer poetischen Coterie einspannen lassen. Haben denn die Dichter nicht ebenso viel wie alle Utilitaristen für die Vervollkommnung des Menschengeschlechts getan durch den Wohlklang einer Strophe, durch den edlen Ausdrude einer Büste, durdi die reinen Linien eines

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Torsos, in denen sich Suche und Sehnsucht nach dem ewig und allgemein Schönen offenbart?" (Du Beau dans l'Art. In: L'Art moderne 1856) Baudelaire·. „Eine Unmenge Menschen bilden sich ein, das Ziel der Diditung sei irgendein Unterricht, Diditung solle einmal das Gewissen stärken, alsdann irgendetwas Nützliches demonstrieren . . . Die Dichtung aber . . . hat kein anderes Ziel als sich selbst, kann kein anderes haben, und kein Gedicht wird je so groß, so edel, so wahrhaft würdig seines Namens sein wie eines, das einzig aus der Lust an seiner Abfassung geschrieben wird." (Notes nouvelles sur E. Poe IV, 1857)

Baudelaire war nicht nur ein origineller, schöpferischer Dichter; er war zugleich ein Kunstkritiker von luzidester Intelligenz und fühlte sich im Bewußtsein dieser Doppelbegabung als der Geistverwandte eines Ε. A. Poe, eines Delacroix und eines Richard Wagner, in denen sich unter seinen Zeitgenossen schöpferische Kraft mit schärfstem kritischen Verstände paarte. Baudelaire war ein „Aristokrat des Geistes" und aristokratisch in der Attitude des geistig Überlegenen. Es ging nicht ohne Widersprüche ab. Er, der die Demokratie haßte, weil diese ihm als Sinnbild aller Feindschaft gegen den Luxus des Lebens, gegen die Kunst und die Dichtung erschien, er zog, als die ersten Schüsse der Februarrevolution auf dem Boulevard des Capucines knallten, mit einer roten Krawatte durch die Straßen und gründete mit zwei seiner Mitarbeiter am „Corsair" den „Salut public", von dem freilich nur 2 Nummern erschienen. Diese politische und soziale Aufwallung war von keiner langen Dauer. Bald bekannte er: „Das Jahr 1848 war nur insofern amüsant, als jeder seine Utopien wie Luftschlösser errichtete" . . . und: „1848 ne fut charmant que par l'exc£s meme du ridicule" (Expos 69 N r . 4). Ein solcher Zynismus ist nicht leicht zu nehmen. Er erklärt sich aus seinem inneren und auch äußerlich zur Schau getragenen Dandytum. Dandytum war Haltung und Revolte. Das Motiv des „maquillage", der Schminke, verflochten in das Thema „Natur und Kunst", spielte dabei auf dem Hintergrund seiner Dandy-Philosophie und aristokratischen Lebenshaltung eine entscheidende Rolle. Das scheinbar snobistische Motiv selbst hängt mit seiner Überzeugung vom Wert des Bizarren in der Konstitution des Schönen zusammen und integriert sich seinerseits in des Dichters Suche und Forderung nach der Spiritualität des Poetischen, einer supranaturalistischen Magie. „Le dandysme est le dernier £clat d'heroisme dans les dicadences", schreibt Baudelaire. Er kultivierte auf den Spuren Lord Byrons die ästhe-

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tischen Werte des Dandytums, dem er im Grunde mehr Aufmerksamkeit schenkte als den Utopien der Revolution. In den Übergangsepochen, da eine degenerierende Aristokratie von der Demokratie abgelöst wird, entsteht eine neue Gesellschaftsschicht, in der sich verschiedene Typen sozial deklassierter Outsiders zusammenfinden. Diese bilden eine Art neuer Aristokratie, welche, da ihr Prädikat weder durch Arbeit noch Erbschaft noch Geld erworben wird, sondern auf Eigenschaften und Begabungen beruht, unzerstörbarer als die Bluts- und Geldaristokratie ist. Baudelaire steht als eine der geistigsten Figuren in der Reihe der großen Dandys, die in der Welt der Kunst, der Mode, der Literatur und sogar der Politik ihre Rolle spielten. Brummel, der Prototyp des englischen Dandys, hatte die angewandte Wissenschaft von der Toilette und der Krawatte bis an die Grenzen geführt. Noch lange wirkte er in Frankreich nach: Die gelben Handschuhe wurden durch ihn fashionable wie die „pantalons a la Brummel" zur Zeit, da Parfüms und Kuchen englische Namen trugen. Der Comte d'Orsay gelangte in Paris als Modediktator der Generation von 1830 zu höchster Popularität. Barbey d'Aurevilly schildert ihn als eine Natur, in der sich das englische Dandytum zu einer spezifisch französischen Form umprägte. Er besaß das „Gewisse Etwas", das sich ebenso in seinem Geist und seiner Haltung wie in dem unnachahmlichen Knoten seiner Krawatten ausdrückte. Bekannt ist, wie die Künstlergeneration von 1820/30, aus der Baudelaire herausgewachsen ist, ihren romantischen Ich-Kult mit den Extravaganzen ihrer Toilette verband. Die gesuchte Auffälligkeit ihrer Kleidung ist das farbige Spiegelbild ihrer romantischen Seele. Theophile Gautier schildert die Mode, welche die Romantiker — die flamboyants — von den ergrauten Klassikern — den grisätres — scheidet. Lange Mähne und Bärte feiern Triumphe, sind Proteste gegen die Philister. Einige Frauen spielen die Partie mit: Georges Sand sitzt im Sattel, gespornt und flintenumgürtet, mit der Zigarre zwischen den Lippen, dem Glas in der Hand, impertinent und aufreizend. Baudelaires Dandytum ist aber Reaktion auf die romantische Mode: Sein Anzug ist dunkelfarbig; jede Falte seines Jaketts scheint besonders geschneidert, auf seinem weiten, gefälligen Revers trommeln nervöse, gepflegte Finger; die Weste mit ihren 12 Knöpfen ist lässig geschlossen; das feine, blütenweiße Hemd läßt die plissierte Manschette diskret hervortreten. So schildert ihn Charles Cousin in seinen „Erinnerungen". Baudelaires antibürgerliche Gesinnung und Haltung bedürfen nicht des aufdringlichen Geschmacks; seine verhalten-aristokrati-

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Mönch, Franz. K u l t u r

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sehe Lebensart manifestiert sich nicht in der operettenhaften Kostümierung der Jeune-France. Sich-Kleiden-Können, sagte er, unterscheidet den Menschen vom Tier, sich gut zu kleiden ist das Zeichen des Weltmannes und unterscheidet den Dandy höherer Prägung von der Masse der geschmacklosen Snobs. Dahinter steht mehr. Der Dichter zelebriert seine ästhetische Messe auf dem Altar der Schönheit. Das Dandytum ist Gnade. Nur Erwählte werden ihrer teilhaftig; es ist eine Form der Religion, mindestens eine Art heroischer Lebensführung. Im Dandytum verinnerlicht sich das Äußerliche, veräußert sich das Innerliche. In diesem Sinn ist die „Eloge du Maquillage" (Lob der Schminke) eine charakteristische Äußerung Baudelaires. Wer ihm vorwirft, die „Gesetze der Natur und Natürlichkeit", also die Forderungen Rousseaus, verachtet zu haben, erhält von dem Dichter der „Künstlichen Paradiese" die Antwort, daß dem in der T a t so ist. Baudelaire bezieht eine klare Position in dem Widerspiel von Natur und Kunst, von Realismus und Surrealismus. Das 18. Jahrhundert war nach seiner Meinung verblendet, als es etwa mit den Naturaposteln die „Natur" als Fundament, als Quelle und Typus alles denkbar Guten und Schönen ansah. Die aufklärerische Verneinung des Sündenfalls spielte bei dieser Irrlehre eine nicht geringe Rolle. Was ist die Natur uns kreatürlichen Menschen? fragte Baudelaire spontan. Sie zwingt uns zu essen, zu trinken, zu schlafen, sich recht und schlecht gegen die Unbilden des Klimas zu schützen. Ein Blick in die „Gazette des Tribunaux" genüge, um uns davon zu überzeugen, daß die „Natur" des Menschen ihn zum Mörder seines Nächsten werden lasse, daß sie ihm den Hang zum Verbrechen vererbe. Was aber zieht ihn aus der Barbarei seiner Natur? Baudelaire nennt die Philosophie (je parle de la bonne) und die Religion — also die Kultur. Alles Schöne und Edle ist das Ergebnis der Raison und des Kalküls. Das Verbrechen hingegen ist das UrwüchsigNatürliche (originellement naturel); die „vertu" aber ist „artificielle, surnaturelle". Zu allen Zeiten hat es Götter und Propheten gegeben, die der animalischen Menschheit die Vertu gelehrt haben. „Le mal se fait sans effort, naturellement, par fatalit^; le bien est toujours le produit d'un art." (Eloge du Maquillage) Nun transponiert Baudelaire diese Idee auf die Ebene ästhetischer Anschauungen, und siehe da: Schmuck und Schminke bekommen ihre transzendente Bedeutung als „Zeichen des Uradels menschlicher Seele" (signes de la noblesse primitive de l'äme

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humaine). Das ist die dem philosophischen Dandysmus zugeordnete Metaphysik der „haute spirituality de la toilette", (ib.) Die Baudelairesche „Spiritualität" ist nicht leicht zu fassen; sie hat verschiedene Interpretationen hervorgerufen. Es gibt zwei Schichten von „Realität", die sich in Baudelaires Erfahrung gemäß dem Gesetz der „Entsprechungen" gleichzeitig als eine Wirklichkeit der äußeren und eine Wirklichkeit der inneren Welt erschließen. Diese „mystische" Erfahrung ist an sich nichts Neues, und auch die Blickrichtung auf das Bizarre und Ungewöhnliche verbindet Baudelaire mit einer langen Tradition von Dichtern und Malern: mit Bosch und Breughel, mit Goya und Blake, mit Callot und Ε. T. A. Hoffmann, mit der italienischen, spanischen, französischen Barocklyrik und mit Achim von Arnim, Nerval und Aloysius Bertrand. Das Insolite, Ungewöhnliche, reizt ihn aber nicht nur, sondern es wird der dichtungstheoretische Gegenpol des ästhetischen Formalismus Winckelmannscher Klassik. Das Ungewöhnliche, das noch nicht recht ins Blickfeld des in rationalen Denkformen angesiedelten Europäers getreten ist, eröffnet dem, der sich ihm hingibt, ein Verständnis der Kunst jenseits der gewöhnlichen Raumgebundenheit: „Was würde ein moderner Winckelmann sagen, wenn man ihn vor ein chinesisches Kunstwerk stellte, vor ein seltsames, bizarres, in seinen Formen verschrobenes Werk von intensivster Farbgebung und zuweilen von einer Zartheit, die sich aufzulösen scheint?"

So fragte Baudelaire in der „Exposition Universelle de 1855". Um das Ungewöhnliche zu verstehen, müßten Kritiker und Betrachter durch einen Akt des auf die Einbildung wirkenden Willens sich erst dafür rüsten, d. h. sich in das Milieu einfühlen, in dem das fremdartige Kunstwerk entstanden ist. In der Erweiterung des Schönheitsbegriffs und in der Intensität des erlebbaren Insoliten werden die kläglichen Grenzen professoraler Kunstlehren überschritten. Baudelaire zitiert den Heineschen „professeur-jur£" — „une ββρέΰβ de tyran-mandarin" — (ib.). Die Künstler würden seiner engstirnigen Kunsttyrannei erliegen; es würden alle Ideen, Schöpfungstypen, Gefühlsweisen zu einer unpersönlichen, monotonen Uniformität zusammenschrumpfen; es wäre „die Öde und das Nichts". In der Mannigfaltigkeit der Schöpfungsakte liegt das Geheimnis ihres Lebens — und das Erstaunen ist eine unserer großen Freuden, die uns durch Kunst und Lite29*

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ratur vermittelt wird. Das ist Baudelaires Credo. Er faßt es in den lapidaren Satz zusammen: „Le beau est toujours bizarre." (ib.) Freilich soll das Seltsame nicht mit kühler Berechnung in das Kunstwerk eingezimmert werden, dann würde nur ein Monstrum an Entgleisung entstehen, sondern das Bizarre muß „naiv, ungewollt, unbewußt" in das Werk einfließen, das Werk muß die „dose de bizarrerie" enthalten, damit die Individualität des Künstlers und die Einmaligkeit des jeweiligen Kunstwerks, ohne die das Schöne nicht existiert, offenbar werde. Der Schuß Bizarres übernimmt für das Kunstwerk die Rolle, welche in der Kochkunst die Würze spielt; „denn die Gerichte unterscheiden sich — abgesehen von der Nützlichkeit oder Quantität ihrer Nahrungssubstanz — auch nur durch die ,Idee', die sie der Zunge offenbaren." (ib.) Man bemerke, daß französisch „langue" sowohl „Zunge" als auch „Sprache" bedeutet. Die Bedingungen jeder echten Poesie im Sinne Baudelaires, d. h. einer poesie pure, und nicht etwa des l'art-pour-l'art, ist der Mut, den Positivismus, der in der Philosophie als Fortschrittsidee, in der bürgerlichen Gesellschaft als „Realismus" wucherte, zu bekämpfen; sie ist das Nein zu jedem begrenzenden Formalismus in der Kunst, und sie ist das Ja zur magischen Welt, die als supranaturalistische in unsere Naturwelt eingesenkt ist. Die Wurzeln der Baudelaireschen Anschauungen reichen in jene Bezirke des mystisch-transzendentalen Erlebens, in denen sich Orphiker, Platoniker und Neuplatoniker und ein Teil der europäischen Renaissancephilosophen angesiedelt hatten. Es ist müßig, Baudelaire als Christen — vielleicht wegen seiner spiritualistischen Sündenmetaphysik — retten zu wollen. Das hat nicht einmal Paul Claudel versucht, sondern er hat ihn als „einen reinen Pneumatiker" angesprochen (un pur pneumatique) (In: Position et proposition, I) also als einen Spiritualisten jenseits positivistischer religiöser Bindung. An einem Gedicht seiner „Fleurs du Mal" — dem „R£ve Parisien" — mag sich die Stellung des Dichters zwischen der Romantik und dem Surrealismus erhellen. Das rein musikalische Instrumentarium der Romantiker, das Baudelaire beherrschte, bereichert sich in diesem außerordentlichen Gedicht um die eigenartig supranaturalistischen Farbwerte der späteren Surrealisten, deren traumschöpferische Sprachkunst er hier vorwegnahm, wobei wir die Zwischenstufen von Rimbaud, Laut^amont, Saint-Pol Roux nidit übersehen wollen. Ob durch die Kraft der Phantasie allein, ob durch eine Dosis Opium oder Haschisch die poetische Erregung erfolgte, —

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ein Gedicht wie dieser „Pariser T r a u m " , dem „peintre de la vie moderne", Constantin Guys, gewidmet, erscheint mir so unverkennbar surrealistisch, daß ich Chirico zu sehen meine. Das Gedicht besteht aus zwei Teilen: der erste aus 13 Strophen zu je 4, der zweite aus nur 2 ebenfalls zu je 4 Versen; beide Teile sind durchgehend in Achtsilbnern komponiert. Das Gedicht heißt „Reve Parisien", ein Pariser Traum oder ein Traum von Paris. Aber es fügt sich kein Stadtbild oder audi nur eine Teilansicht von Paris hier zusammen; es ist auch kein impressionistisches Bild a la Sisley oder Utrillo. Kein Mensch, kein Tier, kein Baum belebt die Straßen. Der Dichter hat aus seiner toten Traumstadt alles Pflanzenhafte verbannt — seltsame Laune eines Genius, der sich als „unfähig erachtete, die Pflanzenwelt liebevoll zu umfangen" (incapable de m'attendrir sur les νέ§έΐ3υχ, heißt es in einem Sendschreiben zum „ C ^ p u s c u l e du Soir"), der nie glauben wollte, „die Seele der Götter könnte in den Pflanzen wohnen". Statt der wärmenden Heimlichkeit belebter Materie, die kalte Unheimlichkeit des Metalls, des Marmors, des Wassers: ein Babel von Stufen und Arkaden; schwere K a t a r a k t e wölben sich wie Vorhänge aus Kristall an metallenen Mauern, und um die schlafenden Wasser, in denen sich riesige N a j a d e n spiegeln, stehen nicht Bäume, sondern Kolonnaden und Ufer aus Stein, an denen sich, bläulich, die Wasser bis an die Grenzen der Unendlichkeit hinziehen. Ein Traum aus Edelsteinen, die noch kein Mensch gesehen, und magischen Fluten, endlosen Eiswüsten und diamantenen Schluchten, und er, „architecte de mes fderies", ersinnt einen Tunnel aus kostbarem Gestein, durch den sich, gezähmt, das Weltenmeer ergießt. Kein Sonnenlicht liegt über der Landschaft, und kein Stern erhellt sie, diese Welt einer metallischen Vision. Alles, sogar das Schwarz, funkelt und flimmert in irisierendem Licht, und das Flüssige erstarrt in kristallenen Strahlen. Über diesen erregenden Wundern kreist — unvernehmbar dem Ohr, doch furchtbar mit dem Auge zu erfassen —, das Schweigen der E w i g k e i t . . . Doch als der Rausch des Traumes vorüber, erwacht der Erschreckende zum Bewußtsein seiner elenden Behausung und fühlt den Stachel der verfluchten Sorge. Die W a n d u h r schlägt Mittag, und vom Himmel sinkt Finsternis über der traurig erstarrten Welt herab. Ein solches Gedicht, anstößig im eigentlichen Sinne — denn es verletzt traditionelles „Naturgefühl" — stülpt die O r d n u n g der Dinge um; es fasziniert durch den H a ß der Vegetation und die surrealistischen Traumgebilde aus Metall und Stein. Den Surrealisten, großen Rauschgiftgenießern, hat Baudelaire den Weg gebahnt; er selbst hat an den Quellen

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getrunken, die Ε. A. Poe ihm erschlossen hat. Damit beginnt eine lange, lange Geschichte: die Bedeutung Poes nicht nur in der französischen Literatur der 2. Jahrhunderthälfte — ein Thema, dem schon immer nachgegangen wurde —, sondern auch in der Musikwelt, wie wir es später am Beispiel Debussys sehen werden. Mallarme Schwieriger als Baudelaires Werk erscheint das CEuvre Stephane M a i l a n d s (1842—1898) — eines Dichters, der im Leben die Schlichtheit und Einfachheit selbst war, aber dessen Verse und Prosa das Komplizierteste und Dunkelste an Literatur darstellten, das je in französischer Sprache bis zu seiner Zeit geschrieben wurde. Sein äußeres Leben verlief denkbar bürgerlich und eintönig, aber in der Stille des Daseins und Dichtens schuf er durch Krisenzeiten hindurch ein Lebenswerk, das als Produkt unerhörter Denkarbeit und feinster Künstlersensibilität von weltweiter Wirkung wurde. Die Literaturkritik und -Wissenschaft des 20. Jahrhunderts'hat das Instrument der philologischen Interpretation und Analyse so verfeinert, daß dank den Forschern wie Wais und Mondor, Roulet und Noulet, Boulay und Poulet die Dunkelheit der Mallarmeschen Schöpfung an entscheidenden Punkten erhellt werden konnte. Wir besitzen einen kurzen Lebensabriß Mallarm^s von eigener H a n d . Er hat ihn auf Bitten Verlaines f ü r dessen Serie der „Hommes d'aujourd'hui" verfaßt. Er, der sonst sein Privatleben mit Schleiern verhüllte, lüftete sie hier einmal: er läßt uns in seine poetischen Absichten einen Blick tun: Er begann unter dem Einfluß Baudelaires seine poetische Laufbahn. Er war bereit, f ü r die Idee DES Buches, das er schreiben wollte, alles Glück und alle Eitelkeit zu opfern, „wie man einst sein Mobiliar und die Dadibalken des eigenen Hauses verbrannte, um den Ofen des ,Grand-CEuvre' zu heizen."

DAS Buch, aufgebaut und vorbedacht, sollte nicht eine Sammlung zufälliger Inspirationen sein, und wären diese auch noch so wunderbar. Als er das schrieb, am 16. November 1885, hatte er noch 13 Jahre zu leben. Er hat nicht aufgehört, an der Verwirklichung seiner poetischen Idee zu arbeiten, sich von ihr quälen und tragen zu lassen. Genug, wenn am Ende nur Fragmente aufzuweisen waren, deren strahlende Echtheit den, der die Teilstücke berührt, noch immer künstlerisch zu beglücken vermag.

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D a ß die Einsamkeit das Los eines solchen Mannes war, versteht sich. Audi begriff Mallarm^ die eigene Epoche nur als ein „interregnum", in das sich der deplazierte Dichter nicht einzumischen habe. Dennoch war Mallarm£ von der Liebe und Verehrung seines kleinen, aber bedeutenden Kreises umgeben. E r nennt unter seinen Zeitgenossen an bevorzugter Stelle Villiers de l'Isle-Adam, Catulle Mendts, „mon eher Manet", dessen Ableben, 1883, er nicht verwinden konnte. Manche andern wären zu nennen, die von 1885—1898 alle Dienstag-Abende zu ihm kamen und die Gruppe der „Mardisten" der Dienstagsgäste bildeten: Gustave Kahn, Georges Rodenbach, Saint-Pol Roux, Charles Morice, Rene Ghil, Ferdinand Harold, Andri Fontainas, Henri de Rέgnier, Francis νϊέΐέGriffin, Albert Mockel, Adolphe Rettέ, die Blüte des belgisch-französischen Symbolismus... und neue, andere Gesichter, jüngere, die später kamen: Pierre Louys, Andr6 Gide, Paul Valery — das war keine geringe Nachfolge, in deren Zug sich unter den Malern nach Manet auch BertheMorisot, Whistler, Odilon Redon und Degas befanden. D a ß ein Debussy die eklogische Musik zu Mallarm^s „L'Ap^s-midi d'un Faune" schrieb, zeigt die Wirkung seiner Verse auch auf die poesieempfängliche Musik der Impressionisten. Die Evolution dieses seltsam verhaltenen, in die Tiefe und Stille sich senkenden Werkes ist eine Quelle wachsenden Erstaunens. Es begann mit knabenhaften Versuchen, um sehr bald die Periode des Baudelaire-Stils ( 1 8 6 1 — 6 4 ) zu erreichen: ein verhältnismäßig fruchtbarer Abschnitt, in dem er mehr als 2/s des Gesamtvolumens seiner Verse dichtete und im letzten J a h r 7 seiner 13 Poemes en Prose niederschrieb. Wie ein Abschied von dieser seiner ersten Dichterstufe erscheinen drei Prosastudien über Gautier, Baudelaire und Banville unter dem Titel „Symphonie littiraire". Im Spiegel dessen, was er und wie er über diese Drei spricht, offenbart sich Mallarir^s eigenes Gesicht, das Züge der Dankbarkeit, der Bewunderung, des Genusses an der Dichtung dieser Meister trägt; aber es klingt wie Abschied und Aufbruch zu neuen Ufern, die der junge Dichter sucht und die hinter den Gestaden Baudelaires liegen. Die Debaudelairisierung setzte 1864 ein. Innerhalb von 4 Jahren wird er auf dem Wege zu sidi selbst die „Hirodiade" und den „L'Ap^s-midi d'un Faune" dichten und den „Igitur ou la Folie d'Elbehnon" schreiben, womit er den Akt der „Selbstaufhebung im Absoluten des Nichts" (Hugo Friedrich) vollziehen wollte. Eine neue Periode hebt an. Merkwürdig zu

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beobachten, wie in dem M a ß e einer inneren Entfaltung seiner poetischen K r ä f t e der eigentliche dichterische „Ausstoß" immer geringer -wird. „Mallarme", schreibt Henry Nicolas, „dachte 10 mal mehr als er sprach. E r sprach lOmal mehr, als er in Prosa schrieb (1100 Seiten in der PleiadenAusgabe). E r sdirieb in Prosa 10 mal mehr, als er in Versen oder in poetischer Prosa dichtete, („etwa 1500 Verse") (Mailarme et le Symbolisme)

D e r T o d riß ihn aus dem Leben und schnitt ihm die 10 J a h r e ab, die er zu benötigen glaubte, um mit seinem einzigen Gedicht den Sieg über den Zufall zu feiern. Keiner der Dienstags-Gäste der rue de R o m e vermochte, die Soliloquien des Meisters, die vielleicht das Schönste seines durchgeistigt-poetischen Lebens waren, in der Erinnerung nachzuzeichnen. D e r Zauber des gesprochenen Wortes war mit dem K l a n g verflüchtet. Vielleicht hat Mailarme, ähnlich wie Chopin oder Liszt, auf dem Instrument des Klaviers, das Beste in der Improvisation des Sprechens gegeben: die einen in der Kunst des musizierenden Spiels, er in der Kunst des poetischen Sagens. Unaufbewahrt — denn kein Bandgerät hat sie je verzeichnen können — ist dieser Teil seiner Poesie den Nachgeborenen verloren gegangen. Noch immer ist die Enquete des Journalisten Jules Huret, der Mallarm£ 1891 interviewt hat, die verständlichste Einführung in den poetischen und metaphysischen Kosmos des Dichters. Maliarme verzichtet auf alle billigen Mittel, Poesie zu machen. Ein solcher Verzicht kommt einer Ehrenpflicht des Dichters gleich, der das Unglück hat, gewissermaßen arbeitslos in der utilitaristischen Gesellschaft seiner Zeit zu stehen. E r weiß um die Isolierung des Dichters, einen Prozeß, der seit Vigny, Baudelaire, den Parnassiens unaufhaltsam zur Entfremdung

des Künstlers

vom

Publikum führte. M i t der Entfremdung hat der esoterische Charakter der modernen Dichtung einen kausalen Zusammenhang. Die „Dunkelheit" kommt dem Rätsel nahe und wird von Mallarm6 als Stilmittel betrachtet. Doch müsse man unterscheiden: es gibt eine Dunkelheit, die in der Insuffizienz des Konsumenten selbst ihren Ursprung h a t ; wenn ein Leser mittlerer Intelligenz, der überdies nur eine ungenügende literarische Vorbildung hätte, sich zufällig einer anspruchsvollen Dichtung gegenüber sieht und sie gar zu genießen meint, dann läge ein „MißVerständnis" v o r ; man muß die Dinge an ihren Platz rücken; an der Poesie s o l l haftes bleiben.

immer etwas Rätsel-

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Dichtung heißt „evoquer les objets". In dem I n t e r v i e w steht der ber ü h m t gewordene S a t z : „Nommer un objet, c'est supprimer les trois quarts de la jouissance du poeme qui est faite de deviner peu ä: Ie suggerer, voilä le reve." Einen Gegenstand nennen, heißt dreiviertel der Freude an einem Gedicht, das langsam erahnt werden soll, unterdrücken: ihn zu suggerieren, das ist der Traum.

Durch ein W o r t k u n s t w e r k zu suggerieren, es uns e i n f ü h l b a r zu machen, ist des Dichters Wunsch u n d das H ö r e r s Freude. D a s poetische Geheimnis besteht also darin, allein durch sprachliche Mittel das Innere der Gegenstände hervorzulocken, sie zu entziffern u n d ihnen die sprachliche Chiffre zu verleihen. Was w i r „Wirklichkeit" nennen, w i r d durch den Dichter bis zur Unkenntlichkeit des Dinges e n t f o r m t . Poesie ist also nicht mehr sprachliche Widerspiegelung eines Gegenstandes, einer Idee, eines Gefühls oder wäre gar ein Lehrgedicht. Sie sei suggestives Dichten, das durch den genau durchdachten Einsatz der sprachlichen Mittel eine neue, eigene Welt im Gedicht schafft, eine Welt, die nur in dem jeweiligen Gedicht ihre Gültigkeit h a t u n d dadurch entsteht, d a ß die Realität eines Gegenstandes, etwa eines Fächers, einer Konsole, eines Spiegels u n d was an dergleichen Dingen in Mallarmes Gedichten genannt werden mag, vernichtet w i r d , u m sie im P r o z e ß einer Abstraktion wieder h e r v o r z u z a u b e r n — als Symbole. Mallarme gibt ein Beispiel f ü r das, was er meint, in dem „ A v a n t - D i r e au Traite du Verbe de Rene Ghil" (1886): „Ich sage: eine Blume! und aus dem Vergessen, dahin meine Stimme jedweden Kontur verweist, steigt, insofern es eben etwas anderes ist als die bekannten Blütenkeldie, musikalisch, als Idee selbst, und sanft, die Abwesende aller Bouquets hervor."

I n der A b w e r t u n g der realen D i n g w e l t gegenüber ihrem symbolischen Sein liegt ein platonisierender G r u n d z u g Mallarmeschen Denkens: nicht die Blumen im Blumenbouquett zählen, sondern die Idee der Blume suggerieren. M a n mag dabei an Goethes U r p f l a n z e denken, aber darf nicht übersehen, d a ß zwischen P i a t o n u n d Goethe einerseits u n d der M a l l a r m e schen Idee andererseits ein Unterschied besteht: Bei P i a t o n u n d Goethe ist es gerade die Schau — eben die Idee, das Eidos, das im Griechischen Sehen, Schauen bedeutet. Bei M a i l a n d w i r d nichts mehr geschaut, die Welt der Phänomene, der Erscheinungen, ist entdinglicht, aufgelöst, an die Grenze des Unsehbaren u n d des Schweigens gebracht. D a s h a t H u g o Friedrich am Beispiel der Tänzerin in Mallarm£s „Ballets" (1891) gezeigt. Was der Dichter sich in der Betrachtung des Tanzes durch die Vision der

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körperlichen Zeichen der Tänzerin hindurch vollziehen läßt, ist nicht eine platonische Schau des Tanzes, sondern die Reflexion des Geschehens in die Transzendenz des eigenen Geistes. Es kommt Mallarme nicht auf eine Verwendung oder Verwertung der platonischen Ideenlehre an, sondern es geht ihm um den Absolutheitsanspruch des Dichtens selbst, als um die Sprache, die das Organ des Sagens ist. „Le D i r e " : Das Sagen ist das Gegenteil der gängigen Münze, mit der sich der Handel unter Menschen in der Funktion ihres repräsentativen Nennwerts vollzieht. Das Sagen ist eine virtuelle Kraft. Der Vers, aus verschiedenen Vokabeln bestehend, „stellt ein Wort wieder her", dieses ist neu, der Sprache ungewohnt, und wie mit Zauberkraft begabt; und so beendet der Vers die Isolierung des Wortes und leugnet den Zufall: „Er bewirkt jene Überraschung, als hätten wir nie zuvor soldi ein gewöhnliches Fragment vernommen, indessen gleichzeitig die Erinnerung an das Objekt wie von einer neuartigen Atmosphäre umspült wird." (Avant-Dire)

Eine so strukturierte Dichtung bringt eine neue Technik ins Spiel. „Spiel" ist sie, die Mallarmesche Dichtung, j a zuweilen ist sie eine an Magie grenzende Jonglierkunst und Zauberwerk. D a fallen die verschränkten Wortstellungen auf. Das gab's noch nicht bei Baudelaire, aber es hat Schule auch in der modernen Philosophensprache gemacht. D a gibt's absolute Infinitive, wo man konjugierte Formen erwartete, und wie einst bei Du Beilay in der Renaissance-Poetik der lateinischen Ablativus absolutus, substantivierte Adjektiva im Neutrum und adjektivische Verwendungen von Adverbien und andere zu seiner Zeit noch ungewohnte Dinge. Das alles verlieh seiner Sprache einen eigenen Reiz, machte sie schwierig und zwingt uns, auf vielen seiner Verse mit einem langen, intensiven Blick zu verweilen, damit und bis er sich erschließe. Dabei muß der Leser von Anfang an darauf verzichten, etwa durch eine vermeintlich kluge Interpretation das letzte Wort des Verständnisses zu behalten. Das ungewisse „In-der-Schwebe-sein" des Sinnes ist ein neuer Reiz der Mallarmeschen Verskunst. Wir werden ζ. B. nie recht wissen: Ist die „sceur" in der 3. Strophe der „Prose pour Des Esseintes", auf die Nicolas anspielt, Maila n d s Schwester Maria, deren Erinnerung eine Obsession seines ganzen Lebens war? — ist sie die mysteriöse Harriet, die er als Jüngling besang? — ist sie gar sein jung verstorbener Sohn Anatole, den der Vater — dem Dichter der „Herodiade" ist nichts dergleichen fremd — in ein Mädchen verwandelte? — ist sie vielleicht eine Idealisierung der femininen Seite seines Wesens? — oder liegen einfach literarische Reminiszenzen an Poes

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„Ulalume" oder Baudelaires „Mon enfant, ma sceur..." aus der „Invitation au Voyage" vor? Das alles bleibt offen. Eine letzte Frage beunruhigt: Was soll das alles, und wohin führt solche Dichtung? Wer von Dante, Shakespeare oder Goethe herkommt, wird in Mallarmes Dichtung das volle Leben vermissen, das sich mit allen Organen an die Welt der Erscheinungen klammert und doch den symbolischen Gehalt und die Transzendenz nicht vermissen läßt. Mallarme erfuhr gewiß nicht die Beglückung, die der „Türmer", des Sehens und Schauens selig, im „Faust" erfahren hat, und sicher hätte es Mallarmi abgelehnt, die Wimpern mit dem goldnen Uberfluß der Welt zu beladen. Wäre nicht seine unerhörte Sprachkunst, die als isoliertes Phänomen der französischen Dichtung in sich ruht und strahlt, M a i l a n d s Sagen wäre unerträglich wie die verdünnte Luft in eisigen Höhen. Die Poesie geriet mit ihm in eine Zone, wo sie sich selbst aufzuheben drohte. Der Duktus solchen Dichtens führt ins Schweigen. Das Schweigen aber ist das Nichts — mag sich dieses im „Azur", im „Ideal", im „Absoluten" symbolisieren. Im Nichts sind Leben, Zeit, Tod aufgehoben. Spekulationen dieser Art haben freilich mit dem „Nihilismus", den Mallarmis Altersgenosse Nietzsche bekämpfte, nichts gemein. Sie wurzeln vielmehr in einem „idealischen" Denken. Man fragt sich, welche Gedankenströme oder -rinnsale ihm aus Hegels „absolutem Geist", aus der Fichteschen Ich-NichtIch-Spekulation, aus Schellings romantischer Transzendentalphilosophie oder aus Schopenhauers buddhistischer Thematik zugeflossen sind. Das wird im einzelnen schwer auszumachen sein; denn alle diese Strömungen waren damals in Frankreich nicht unbekannt und bildeten zusammen ein geistiges Klima, an dem die große Akademikergeneration von Taine und Renan nicht unbeteiligt war. Indessen mußte solch übermenschlicher Entschluß, das ideelle Nichts im und durch das immer karger werdende Dichterwort in DAS B U C H zu bannen, am Ende scheitern. Mallarme hat nach dem Unmöglichen gegriffen. Die ständige Verdünnung der Poesie — oder das Dichten als totales Ver-Dichten — war ständiger Entzug ihrer Vitalität. In dem Maße wie der Dichter Wörter und Verse durch ihre Entdinglichung entlastete, belastete er sie doppelt durch die Vieldeutigkeit ihres Sinngehalts. Eine solche Poesie verlor sich in reiner Suggestivität, wo fast jede Deutung gemäß dem Temperament oder der Intelligenz des Hörers möglich ist, oder sie verhauchte sich in ihrer „presque disparition vibratoire", im piano-pianissimo, wie der von Engeln entrückte Graal im „Lohengrin-

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Vorspiel", das einst Baudelaire mit solchem Entzücken gehört hatte. Baudelaire sah beim Anhören dieser Musik die ungeheure Fläche eines tiefen Rot, das sich durch eine Serie von Übergängen ins Weiß verwandelte, welches sich selbst wiederum in einem letzten Aufschwung der lauschenden Seele von einem weißen Urgrund abhob. So wurde M a i l a n d s Sprache wie die Klänge des Lohengrin-Vorspiels immer leiser, immer ätherischer — und sein „schweigender Aufflug ins Abstrakte", in ein „Gedicht aus lauter Weiß" scheint mir sehr an Baudelaires Erlebnisse anzuklingen. Ist M a i l a n d s metaphysisches Vorhaben, ins Absolute vorzustoßen, gescheitert, so ist er es nicht als Dichter. Denn sein Griff nach den Sternen hat den Versstil und das musikalische Sagen der französischen Sprache wunderbar bereichert. Mit ihm erhielt die Sprache als Gefäß und Medium des Denkens, Sagens, Erkennens, ihre Souveränität und Autonomie. Die Philologen haben in Mallarme einen ihrer interessantesten und exzentrischen Fälle: Eine Dichtung, die Arbeit und Mühe, Magie und Gaukelei, Philosophie und Tiefenpsychologie, erkünstelte Spielerei und raffinierte Kunstübung, Wortalchemie und Klangsymbolik ist, eine Dichtung, die des Dichters virile und feminine Züge in einem selben Versstück zeigen, ein Dichter, der sich freiwillig in eine selbst gezimmerte Folterkammer zwängt und noch von dem unausweichlichen Lustprinzip getrieben und umgetrieben wird, im selbstquälerischen Schöpfungsakt der Poesie ein Wort hervorzurufen, mit dem ein „nicht-existierendes Ding" erzeugt werden soll — eine solche Dichtung, die Sinn und Un-Sinn zugleich ist, und ein solcher Dichter, der sich seiner Idee zum Opfer bringt und das paradoxe Schicksal hatte, als Verächter jedweder ästhetischen Schule allein aus Einsamkeit und Stille eine weltweite Wirkung zu haben, — das ist ein Ausnahmefall in der bisherigen Geschichte der französischen Dichtung, ist eines ihrer merkwürdigsten Phänomene.

Verlaine In einer Porträtgalerie großer Dichter der zweiten Jahrhunderthälfte sollte Paul Verlaine ( 1 8 4 4 — 1 8 9 6 ) gegenüber, nicht neben Mallarme hängen; denn es bedarf einer Kehrtwendung um 180°, um seiner ansichtig zu werden. Es lassen sich zwischen zwei Dichtern, noch dazu aus ein und derselben Generation, kaum schärfere Gegensätze denken. Zwar waren beide Sprachlehrer, der eine als Lebensberuf und zum Lebensunterhalt, der andere, Verlaine, solange er als solcher tragbar war, d. h. kurze Zeit,

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nur als er in England Französisch, in Frankreich Englisch unterrichtete. Das Leben des einen w a r geordnet, pedantisch, bürgerlich, das des andern das Gegenteil: Verlaines Leben stand im Zeichen der Βοΐιέπιε u n d der Misere — oder unter dem Zeichen Saturns, des „Fauve plan£te ch£re aux n6cromanciers"; seinem Einfluß schreibt er die M ü h e zu, mit der die Vernunft vergeblich die unruhstiftende Phantasie bekämpft . . . E r w a n d e r t e nach England u n d Deutschland u n d zweimal ins G e f ä n g nis; denn einmal h a t er auf seinen jugendlich-genialen V e r f ü h r e r und K u m p a n A r t h u r R i m b a u d geschossen, u n d ein anderes M a l seine M u t t e r zu erdrosseln versucht. Er, der die „Poetes maudits" schrieb, war selbst ein solcher. Zeitgenossen u n d Nachwelt haben in seiner Person die Wiederkehr Villonschen Vagabundentums gefeiert u n d sich von ihm das Bild eines legendären Trunkenbolds von genialer lyrischer Veranlagung gemacht. 1866 erschienen bei Alphonse Lemerre, dem Herausgaber der P a r nassiens, die „Poemes Saturniens" — Nachhall parnassischer Versmelodie, Widerklang auch fernöstlicher T h e m a t i k Leconte de Lisles. Doch w a r unverkennbar Eigenes u n d Neues darin, das einen Baudelaire aufhorchen ließ u n d beunruhigte. 1869 veröffentlichte er die „Fetes Galantes". E r h a t inzwischen G o n courts „L'Art au XVIII' Steele" gelesen u n d in diesem Zeitalter der Galanterie u n d des R o k o k o Züge m ü d e r Lebensstimmung u n d künstlerischer Werte entdeckt, die er, selbst ein melancholischer D έ c a d e n t des fin de 8Ϊέΰ1ε, auszukosten v e r s t e h t . . . Je suis l'Empire b. la fin de la decadence . . . Ah! tout est b u . . . Seul, un ennui d'on ne sait quoi qui vous afflige! Die M o r b i d i t ä t des „homme physique

moderne"

h a t Verlaine im Bilde

Baudelaires analysiert: „ . . . der physische Mensdi der Moderne . . . Produkt einer überfeinerten Zivilisation, der moderne Mensdi mit seinen geschärften und vibrierenden Sinnen, seinem schmerzhaft subtilen Geist, seinem tabaksaturiertem Hirn, seinem alkoholverbrannten Blut, der ,bilio-nerveux par excellence', wie Taine sagen würde." (In: L'Art vom 16. Nov. 1865) D i e „Fetes Galantes" zeigen noch eine andere Seite der DecadenceM ü d i g k e i t : die Illusion aller flüchtigen Verlockungen des sich im Bilde der K y t h e r a - I n s e l spiegelnden Liebeszaubers. Verlaine betrachtete in der Galerie L a Caze, die im Louvre gerade dem P u b l i k u m zugänglich ge-

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macht worden war, was es an Watteaus dort zu sehen gab. E r begeistert sich für den Mozart der Malerei, den kurz vor ihm Gautier, Banville, Baudelaire wiederentdeckt hatten. Ihn, Verlaine, inspirierte die traurigfröhliche Welt scheinbar schwereloser Eleganz und Lebenskunst einer Gesellschaft, die sich den Reizen des flüchtigen Augenblicks zu erschließen wußte. In der Sammlung stehen die Gedichte: „Clair de Lüne", „La Mandoline", ein Siebensilbner-Gedicht mit durchkomponierten weiblichen Reimen, das selig-trunkene „Sur l'herbe" Do, mi, sol. — Ηέ! bonsoir, la lune! und dann das zarte und harte Bravourstück des „Colloque sentimental" ein gespenstisches Gespräch der Schatten zweier Liebenden, die sich im nächtlichen Park begegnen, und deren einem die Erinnerung an die glücklichen Tage ihrer Zuneigung zerronnen i s t . . . 1870 folgte „La Bonne Chanson", erschienen 2 Monate vor der Heirat des Dichters mit Mathilde Maute de Fleurville. Sie war eine Halbschwester des Musikers Charles de Sivry. Ihre Mutter soll eine Schülerin Chopins gewesen sein. Durch Charles de Sivry und Chabrier kam Verlaine in die musikalischen Milieus von Paris hinein und besuchte die Concerts Pasdeloup. Es ist wenig bekannt — darum mag es als Kuriosum mitgeteilt werden — , daß Sivry die Vertonung des Baudelaireschen Sonetts „La Mort des Amants", das Villiers de l'Isle-Adam komponiert und auf dem Klavier des Freundes vorgespielt hat, aus dem Gedächtnis niederschrieb. Sivry selbst erzählt, wie zu Weihnachten 1870 in seinem Elternhaus seine — Sivrys — Braut und einige Musiker versammelt waren. Auch Villiers de l'Isle Adam erschien in einer stilisierten Phantasieuniform. E r hatte sein Frühstück, einen sauren Hering, selbst mitgebracht, worauf Charles Cros ein surrealistisches Gedicht „Le hareng saur" improvisierte, während Cabaner dazu eine lustige Musik draufsetzte. Alle gerieten in fröhliche Stimmung; da erhob sich Villiers de l'Isle Adam, ließ auf seinem Teller einen quabbligen Gelatine-Flan liegen, begab sich ans Klavier und intonierte, offenbar in feierlicher Stimmung, Baudelaires „Tod der Liebenden". Die Anwesenden gerieten in höchste Bewunderung. Verlaines Schwager berichtet, daß er die Melodie Villiers und die instrumentale Begleitung aus dem Gedächtnis aufgezeichnet habe. Tatsächlich erschien die Komposition in Sivrys Handschrift als Faksimile in „Les Quat'z Arts" (1898) mit der Anmerkung: „Pour m£moire conforme: Charles de Sivry". Willi Schuh hat in unseren Tagen diese unbekannt ge-

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bliebene Baudelaire-Vertonung interpretiert, und ich darf hinzufügen, daß selten moderne Sonett-Vertoner gerade klassischer Sonett-Strukturen dem Oktav-Sextett-Schema musikalisch so gerecht geworden sind wie Villiers de l'Isle Adam, als er die Terzett-Folge mit dem fis-moll-Klang so markant gegen das A-Dur der strophisch behandelten Quartette absetzte, während er die Terzette durchkomponierte, wobei er im 2. Terzett den E-Dur-Akkord in das ppp des A-Dur zurückführte und so das Ende des Sonetts in seinen Anfang zurücknahm. (Die Noten sind in der Neuen Zürcher Zeitung vom 26. Aug. 1967 abgedruckt) Das berühmteste Lied der Bonne Chanson ist wohl „La Lüne blanche"; nicht weniger berühmt ist seine Vertonung durch Gabriel Fau^. Fauri und Debussy — Debussy komponierte die „Ariettes oubliees" und aus den „Fetes Galantes" — spielten etwa die Rolle, die Schubert und Schumann mit den Vertonungen ihrer zeitgenössischen deutschen Lyriker gespielt hatten. Die Musikalität der Verlaineschen Verse verlockte immer von neuem die lyrischen Talente unter den Komponisten, wie es Goethes Lyrik, die Lieder Eichendorffs und Heines den deutschen Lyrikern der Musik angetan hatten. Unter den zahlreichen Vertonern Verlaines nenne ich nur einige wenige: Gustave Charpentier, Ernest Chausson, Gabriel Fabre, Maurice Ravel, Reynaldo Hahn, Prousts Freund, Sandre Severac, S t r o h l . . . Es folgten die „Romances sans Paroles" 1874. Der Titel ist offenbar von Mendelssohns „Lieder ohne Worte" inspiriert. Wieder sind wir auf die Musik verwiesen. Freilich, die „Romanze" mit Mathilde ist von kurzer Dauer gewesen. Arthur Rimbaud war turbulent in das Familienleben der Verlaines eingedrungen. Das Lebensband mit Mathilde wurde zerrissen, der Lebensbund mit dem Jüngling, der ein verführender Feuerkopf war, wurde geschlossen. Alles spätere Leid des Dichters hob hier an: zunächst die unselig-trunkene Seligkeit eines freien Vagabundendaseins, dann die Aufschwünge der Seele im Rausch der Sinne, schließlich der Sturz aus den Höhen seiner Träume, der Kreislauf von Sündenbewußtsein und Bereitschaft zur Reue — ein Kreislauf, den sein erschlaffender Wille nicht mehr durchbrechen konnte. Die musikalische Satzweise der „Romanzen" feiert als Formenkunst ihre höchsten Triumphe. Sie ist eine Quelle feinsten Genusses für das reizempfängliche Ohr: Die Buntheit der Rhythmen und Versstrukturen, der Wechsel der Tongeschlechter von Dur und Moll, die Biegsamkeit und Schmiegsamkeit des sprachlichen Duktus, das Wiegende der in ungleichen

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Wellenlängen verschwebenden Verse, d a z u die naiv anmutende, aber raffiniert erklügelte Variationskunst eines gegebenen Themas — all das hat vor Verlaine vielleicht nur ein Brentano im deutschen Sprachraum geübt u n d gekonnt; nach ihm sind viele belgische u n d französische Symbolisten in Verlaines Schule gegangen, ohne die Vollendung zu erreichen, es sei denn das eine oder andere M a l in diesem oder jenem Vers. Z u den bekanntesten R o m a n z e n gehört „Ii pleut dans mon coeur" mit dem M o t t o R i m b a u d s : „Ii pleut doucement sur la ville". M i t dem Brüsseler D r a m a — den Schüssen auf R i m b a u d u n d dem Gefängnis —, sind die Stücke des „Cellulairement" (Lieder aus der Zelle) 1875 verbunden. Sie w a r e n das poetische Gepäck, als er das Gefängnis in Möns verließ. Einige erschienen in „Sagesse" (1881), andere in „Jadis et N a g u ^ r e " (1884). Ein neuer Verlaine t r i t t uns entgegen, ein christlicher, der, ein Verlorener Sohn, in der H i n w e n d u n g z u m Gekreuzigten Vergebung seiner Sünden, Mitleid, Liebe sucht. Aber Verlaine ist kein Augustin u n d kein Pascal; er h a t audi nicht den weiten A t e m eines C h a t e a u briand, noch die K r a f t eines P^guy oder Claudel. I h m eignet eher die Kindlichkeit des hl. Franziskus oder die Suavitas des hl. F r a n j o i s de Sales. D a ß in dem hilfesuchenden Verlassenen — M a t h i l d e weigerte sich, zu ihm zurückzukehren — das Bild der M u t t e r auftaucht, ist ein n a t ü r licher Reflex. So w i d m e t e er 1889 der Verstorbenen den Band „Sagesse": „Der Verfasser dieses Büches hat nicht immer so gedacht. Lange hat er sich in der Verderbnis der Gegenwart verirrt. Er trägt sein Teil an Schuld und Unwissenheit. Wohlverdienter Kummer hat ihn seither gewarnt, und Gott hat ihn gnädig die Warnung verstehen lassen. Er hat sich vor dem langgemiedenen Altar niedergeworfen; er betet die All-Güte an und ruft die All-Macht herbei, ein unterwürfiger Sohn der Kirche, der Geringste nach Verdiensten, aber voll des guten Willens." D e r mystische Aufschwung f ü h r t e nicht sehr hoch; die Reue w ä h r t e nur k u r z e Zeit; denn alsbald packte ihn von neuem das Verlangen nach der „ G r ü n e n Fee" — la fee verte — dem Absinth. E r konnte nicht w i d e r stehen u n d ergab sich ihrer Verlockung. Von den 3 Sammlungen „Jadis et Naguere" (1884), dem J a h r der „Po£tes maudits", „Amour" (1888) u n d „Parallelement" (1889) enthält die erste den berühmten „ A r t p o e t i q u e " : eine Absage an die Ideale p a r nassianischer Lyrik, u n d eine in Gedichtform konzentrierte Aussage eigener Kompositionsideale. D a s Gedicht ist freilich schon 10 J a h r e f r ü h e r geschrieben w o r d e n :

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De la musique avant toute chose . . . Car nous voulons la Nuance encore Pas la Couleur, rien que la Nuance . . . Prends l'eloquence et tords-lui le c o u ! . . . Que ton vers soit la bonne aventure Eparse au vent crisp6 du matin Qui va fleurant la menthe et le thym . . . Et tout le reste est litterature. Das sind 4 soldier Formulierungen seiner anti-rhetorischen Ideale und seiner Forderungen musikalischer Nuancierungskunst. Demgemäß stehen zwischen diesen Versen Imperative und Aussagen über Versformen, Reime, Rhythmen in präzisen, fest umrissenen Bildern, in denen sich eine nonchalante Ruppigkeit des Ausdrucks mit der ihm eigentümlichen künstlerischen Intransigenz v e r b i n d e t . . . Man kann in dieser „Dichtkunst" das symbolistische Gegenstück zu Gautiers parnassischem „Art" erblicken. Verlaine hat jedoch die Vorliebe f ü r den klassischen Vierzeiler und das Sonett bewahrt. Er lockert dessen feste Form allenthalben auf und stellt das Sonett einmal auf den Kopf — Terzette nach oben — eine poetische Frechheit. Er schreibt Distichen, Balladen, Terzine; er desartikuliert den Alexandriner, zerhämmert dessen klassische Strukturregeln, holt aus der Renaissancedichtung den „m£tre impair" hervor und bringt den ungewohnten 3-, 5-, 7-, 9- und 11-Silbner wieder zu Ehren — alles um der musikalischen Wirkung willen: Et pour cela pr^fire l'Impair Plus vague et plus soluble dans l'air, Sans rien en lui qui pise ou qui pose. Über den 14-silbigen Vers geht er nicht hinaus, da ein Vers von höherer Silbenzahl sich dem Gesetz des natürlichen Atemvorgangs entziehen würde. Verlaine reimt, ohne extravagant zu werden; er hascht nicht nach Effekten um der Effekte willen, sondern aus künstlerischen Intentionen. Die weichen, weiblichen Reime bevorzugt er, aber vermeidet die Gefahr der Monotonie durch Verwendung von Binnenreimen, Alliterationen, Assonanzen. Zwei Jahre nach „Jadis et Nagu^re" veröffentlichte Ren^ Ghil seinen merkwürdigen „Ύιαίΐέ du Verbe" (1886) Ein Jahr darauf schreibt Verlaine in einem Brief an H e n r i de Rignier gegen Ghil sein poetisches Glaubensbekenntnis: „Alles ist schön und gut, was gut und schön ist, gleich woher es kommt und wie es gewonnen wird. Klassiker, Romantiker, Decadents, Symbolisten, As30

Möndi, Franz. Kultur

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Jahrhunderts

sonanten oder, wie soll idi sagen, willentlich Dunkle . . . alle sind mir recht, wenn sie mir nur einen frisson vermitteln oder mich einfach bezaubern.. (Aug. 1887)

Das „Parall£lement" ist ein bezeichnender Titel: Linien, die sich nicht bündeln wollen, getrennte Kraftfelder, die sein Leben, seine Seele zerreißen. Parall£lement: Er strebt in mystischem Elan in die Höhe, und er sinkt, schwächer und schwächer werdend, in Abgründe. Beides besingt er parallelement. Christlich gedeutet heißt das: ein ewiger circulus von Sünde und Reue: einem Canticus auf die Jungfrau Maria folgt ein Lied entfesselter Erotik. Antik gesprochen opferte Verlaine auf dem Altar der Aphrodite Uranos und der Aphrodite Pandemos: der himmlischen und der vulgären Venus.

Rimbaud Wir kennen Verlaine. Aber was wissen wir im Grunde von Rimbaud? Trotz aller Forschungen, eigensinnigen Interpretationen und romanhafter Biographien so wenig, daß erst heute alle Rimbaud-Spezialisten der Welt aufgefordert sind, an der Rimbaud-Forschung mitzuarbeiten. Doch führen uns die Werke von Carr£, Rivi£re, Fondane, Küchler, Etiemble und manchen anderen auf Wege zu seinem Verständnis. Uns Deutschen sind sie schon durch die Nachdichtungen von Paul Zech (1881—1946) geebnet worden. Zechs Widerspiegelungen der Rimbaudschen Lyrik sind höchst eigenwillig: „Diese Übersetzung", schrieb er zu seiner Rimbaud-Ausgabe von 1927, „erfordert natürlich alle Spannungen einer Neuschöpfung. Wie weit sidi die Gesdiidite meines eigenen Ichs auf solchen Bahnen vorwärts treiben ließ und in welchem Maße sie sidi am Ziel mit dem andern identifizierte, das vermag nur der zu entscheiden, dem die Welt Rimbauds mehr bedeutet als eine literarische Angelegenheit."

Diesen Rimbaud, der „mehr als eine literarische Angelegenheit" bedeutet, erfuhren auch so entgegengesetzte Geister wie Claudel und Breton, wie Gide und Cocteau. Verständlich: denn Rimbaud wurde in der Phantasie derer, die von seinem Genius ergriffen wurden, fast ein Mythos. „Homme aux semelles de vent" nannte ihn Verlaine — wie auf Sandalen des Windes in alle Fernen getragen, über die Weltmeere zu den Sternen, deren Licht er auf sich herabbeschwor, ein Dichter, für den Dichtung ein Vehikel zum Himmel und zur Hölle wurde, und ein Abenteurer in dem

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politisch-wissenschaftlichen Spannungsfeld imperialistischer Gelüste um Abessynien und die Quellen des Nils. Mit 19 Jahren war sein lyrisches CEuvre abgeschlossen. D a n n verließ er Europa, das er vagabundierend durchstreift hatte, einmal mit seinem alten K u m p a n Verlaine, dann mit seinem neuen Freund Germain N o u veau. Er ließ sich in der niederländischen Armee anwerben, desertierte in Java, ging an Bord eines englischen Seglers, kehrte nach Charleville, seinem Geburtsort zurück. Nichts konnte den Ruhelosen halten. Er wandert nach Holland, Österreich, Schweden, in die Schweiz, nach Mailand, nach H a m b u r g ; dann segelt er nach Zypern, erkrankt, kehrt heim, überwintert im elterlichen H a u s und geht von neuem auf Wanderung, erreicht über Zypern endlich Aden, wo er in der Firma Viannay, Mazeran, Bardey & Co. eine Anstellung findet. Die Firma schickt ihn auf die gerade eröffnete Zweigstelle nach H a r a r . Rimbaud handelt mit Fellen, Gewehren und Kaffee, verkauft Gebetbücher und Sklaven und übernimmt die Geschäftsleitung einer Faktorei in H a r a r . Im Februar 1891 beginnt der Wettlauf mit dem Tod. Er rafft seinen Lebenswillen zusammen. Unter körperlichen Qualen wird er in ein Krankenhaus in Marseille transportiert, wo ihm das rechte Bein abgenommen wird. Am 10. November desselben Jahres ist er 37-jährig gestorben. Er, der die Welt entmythisierte, wurde von der Welt selbst zum Mythus erklärt. E. Noulet hat alle Rollen zusammengestellt, in welche die Mit- und Nachwelt ihn schlüpfen sah: Er war der voyant, der voyou, der vivant, der mystique, der ath^e, der cabbaliste, der surr^aliste, der homosexuel, das enfant terrible (Le premier visage de Rimbaud, 1953). Jeder machte sich ein Bild von ihm und versuchte, mit der Taineschen Methode das Zentrum seines Wesens zu ergründen. Vergebens. Seine Existenz wird mehrere Zentren haben; darum w a r es möglich, d a ß so viele „Schulen" und Geistesbewegungen sich auf ihn berufen konnten. Etiemble nennt einige in der Einführung zu den „Pages choisies" (1957): die Katholiken, die in seinem Märtyrertod eine erbauliche Lehre sahen und ihn gern zum Heiligen erheben möchten; die Atheisten, die sich auf seine Gottesferne, seinen H o h n auf das Christentum stützen können; die Surrealisten, denen der päpstliche Katholizismus, die Vaterlandsliebe und die christliche Sexualmoral ein Greuel waren und in Rimbauds Texten und Taten einen der Ahnherrn ihrer eigenen Literatur und Handlungen anerkannten; dann haben ihn die Faschisten aller Spielarten, die Kommunarden und Kommunisten gefeiert; andere Interessenten haben in der

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Ratlosigkeit vor seinem „unfranzösischen" Werk den Autor gar als Germanen oder Kelten deklariert, wie es einige Historiker mit der gesamten symbolistischen Bewegung getan haben; dann bemächtigten sich die E x i stenzialisten seiner; denn was den Surrealisten recht gewesen war, konnte ihnen billig sein: Sartre sah in ihm den existenzialistischen Dichter, „qui se choisit", und Camus einen „aventurier de 1'absurde", den Mann der Revolte; schließlich begrüßte Isidor Isou in Rimbaud den Urgroßvater des lettrisme;

selbstverständlich fanden die Psychoanalytiker in Rimbaud

einen interessanten F a l l . . . und so wird es weiter gehen. O b Ismael oder K a i n , Prometheus oder

Ikaros, ob ein neuer Christus oder

antiker

Heros sich in ihm verkörperte — kuriose Fragen, die jedoch erkennen lassen, welchen Zauber sein Werk auf die Nachwelt ausgeübt hat. Halten wir uns am T e x t : „Lui seul est pur. Lui seul confesse." (Noulet) I m Urteil der meisten Rimbaud-Leser ist „Das trunkene Schiff" (Le Bateau ivre) die „klassische", typische Leistung des jugendlichen Dichters. Forscher wie Noulet und Etiemble haben nach den Quellen gesucht und gefunden, daß eine Kollektion „trunkener Schiffe" durch die Dichtung des 19. Jahrhunderts segelte: Jules Verne nicht zu vergessen, auch nicht G a u tier, Leconte de Lisle, V i c t o r Hugo und der „Parnasse contemporain" von 1866, von der Seemanns-Literatur der Engländer ganz zu schweigen. Aber was bedeuten „Quellen" bei einem solchen Gedicht? Sie beweisen nur, daß jeder auch noch so urwüchsige Dichter oder Künstler seine Modelle, besser gesagt, seine Anregungen hat. D e r Begriff Quelle wird unpassend, man sollte statt seiner eher vom Rohstoff der dichterischen Phantasie sprechen — dem „support riel de l'imaginaire", wie es Pierre Petitfils bei seinen „Quellen"untersuchungen über die „Villes" und die „Ville"

(aus den

„Illuminations" Rimbauds) in seiner „ArchitectureRimbaudienne" (Nouv. litt. 24. Aug. 1967) getan hat. Kein echter Seemann hätte sich eine solche F a h r t auf einem „trunkenen Schiff" gewünscht. Undenkbar, daß ein J e a n B a r t oder ein afrikanischer Pirat, daß ein Nettelbeck oder Nelson solche Fahrt je beschrieben hätte. Auch nicht die größten Kapitäne der christlichen Seefahrt, ein Columbus, ein Elcano, ein Vasco da G a m a hätten die Fahrt unternommen, so phantastisch ihr Unterfangen auch war, Indien zu entdecken, um die W e l t zu segeln, neue Reiche zu gründen. Sie blieben den Meeren unseres Planeten angebannt. Aber Rimbauds Reich war eben nicht von dieser Welt. Sein Ehrgeiz der Eroberung war größer, weiter gesteckt. M a n könnte sein „Trunkenes Schiff" und seine Fahrt eher mit dem Argonautenzuge ver-

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gleichen oder mit der tollkühnen Blasphemie des „Fliegenden Holländers", der den Teufel herausforderte, da er trotz Sturm und Wetter das Kap umsegeln -wollte. Die Fahrt beginnt in gleitendem Piano — flußabwärts — aber so nur in der 1. Zeile, dann beginnt auch schon der Tumult: D a schleifte kein Schiffsknecht das Zugseil mehr, Von den roten Barbaren an Pfähle geschlossen . . .

E r aber pfiff auf die Ladung von flämischem Korn und britischer Wolle und stieß ab von den Inseln — £veils maritimes — zehn Nächte lang umbrandete ihn das Gebrüll der Wogen . . . Rasend vorübergedrehte Inselfetzen kochten die Brandung herauf zu Lawinen geballt.

Tanzte das Schilf wie Kork auf dem Gewoge, bis das Wasser die Fugen zerfraß — er aber badete sich in dem „Gedicht des Meeres", sah darin die Millionen Infusorien der S t e r n e . . . ich w a r . . . ich s a h . . . ich träumte... Aufbruch von Schlachten und alle gehezten Verbrechen, die vor mir noch niemand erfuhr . . . Ich sah, wie bei den großen Komödianten antiker Theater, ein tragisches Faltenspiel auf dem Meer . . . Ich träumte von einer Schneenacht, die aus eisgrünen Zweigen kußtolles Geziefer ins Wolkenbett w a r f . . . . . . und das Toben hysterischer Brünste, um Felsen g e z i s c h t . . . Ich schlug mich durch Länder, die jungfräuliche Erde waren, wo Blumen wie Panther mich wütend b e s p i e n . . . Sümpfe voll schorfiger Schleime mußt ich durchstelzen. Die Blutgier der Vipern durchstach meine H a u t . . .

So treibt sein Schiff, so treibt ihn sein Fuß, durch nie befahrene Länder und Meere, über Riffe, durch Schlinggras in bronzene Himmel, die in Schwefeldampf schmelzen, und zu Eisbergen, „von hungrigen Wogen zerkaut" . . . zu tropischen Ländern, wo Schlangen gepeinigt von Ameisenstidien flössen von mystischen Bäumen wie Wachs . . .

Himmel und Hölle, alle Meere und Länder hat der Bug seines Schiffes zerschnitten — aber da träumte ihm plötzlich von den Tagen der K i n d h e i t . . . von dem Tümpel, schwarz und kalt,

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Der Torso des 19. Jahrhunderts ou vers le crepuscule embaume Un enfant accroupi plein de tristesses, liehe Un bateau freie comme un papillon de m a i . . .

Aber Heimweh führt ihn nicht zurüdk. Was sollen ihm Europens enge Grenzen, ihm, der die Weite der Welt, ihre Tiefe und ihren Schauer durchschifft hat. E r ist m ü d e . . . les aubes sont n a v r a n t e s . . . Toute lune est atroce et tout soleil a m e r . . . Mein Leben war Lustrausch. Nun donn're in Splitter, Mein Schiff und mein Schädel, draus Sterbemut klafft. Ο que ma quille eclate! ο que j'aille k la mer!

Solche Sprache war unerhört — und wie ganz anders als die eines Baudelaire, eines Mallarme, eines Verlaine! Das Gedicht ist wie aus Klötzen aufgebaut. Quader häufen sich auf Quader, — und der Übersetzer, Paul Zech — konnte ohne Beeinträchtigung des Sinnes ganze Strophen verschieben, ihre Bilder umwandeln, konnte sogar abnehmen oder zusetzen — das spielt bei solchen Dichtungsgefügen keine erhebliche R o l l e ; denn keine Strophe geht mit Logik aus einer andern hervor. Es herrscht das Gesetz der Inkohärenz und Expressivität, und die Inkonsequenz des Würfelspiels,

die Gegensätzlichstes zusammenwürfelt. Aber durch das

Ganze zieht sich eine Bewegungslinie, die sich im Vorentwurf als die Lebenslinie des Dichters selbst erweist: Ausbruch aus der „normalen" W e l t ; — Aufbruch ins Unbekannte über die Unendlichkeit des Meeres zu nie gesehenen Fernen; — und dann, nach einer kurzen Aufwallung von Heimweh, das Verlangen, im Schoß der Unendlichkeit des Meeres zu versinken. Es erfolgte in der T a t ein „Abschied" — ein Abschied von der poetischen Existenz, an der er scheiterte. Aber der Abschied war ein A u f bruch zu einem neuen Dasein: als Lebensform zugleich bürgerlicher und dennoch verwegener als die bisherige: die abessynischen J a h r e und Abenteuer. Aber warum müssen wir in diesem gewiß merkwürdigen Vorgang einen „Bruch" sehen anstatt eine Konsequenz seines bisherigen Lebens? Seine Zähigkeit, sein unstillbares Fernweh, seine Abenteuerlust, die sich nun, da er in die „moderne" Welt seiner Zeit zurückgekehrt war, auch „modern" materialisieren wollte. Vier Sätze nur aus seinem „Adieu", die der Schlüssel zu seiner neuen Existenz sind: „J'execre la mis^re" (idi verabscheue die Misere) — sein geliebter Montaigne hatte schon die Armut in gleicher Weise wie das Leiden gehaßt. „Ich habe die schönsten Tanzfeste, Triumphe und alle Dramen der Welt ge-

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schaffen. Ich war auf der Suche nach neuen Blumen, neuen Gestirnen, neuem Fleisch, neuen Sprachen, ich glaubte, übernatürliche K r ä f t e zu besitzen. Nun muß ich meine Phantasie begraben und meine Erinnerungen." „Ich, der ich mich Magier oder Engel nannte, befreit von aller Moral, ich bin der Erde wiedergegeben, habe jetzt die Pflicht, die schwielige Wirklichkeit zu umarmen! Bauer!" „Ja, die neue Stunde ist sehr ernst. Jetzt kann ich sagen, daß ich gesiegt habe. II faut £tre absolument moderne. Den Vorsprung muß ich mir bewahren . . . "

Diesem praefiguriertem Ende w a r die „Lettre du V o y a n t " vorausgegangen. Der Junge von 17 Jahren, der sie schrieb, ergriff mit der Ungeduld und Begier des Sidi-Vor-Fühlenden die in der Zeitatmosphäre keimende Idee eines metaphysischen und sozialen Illuminismus: „Ich sage, daß man ,sehend* (voyant) sein muß, sehend werden muß. Der Dichter wird ein Sehender durch ein langes, unermeßliches Entfesseln aller Sinne und durch ihre Verwirrung. Alle Formen v o n Liebe, Leiden, Wahnsinn. Er selbst sucht, er verbraucht in sich alle Gifte, um nur ihre Quintessenz einzusaugen. Unaussprechliche Tortur, da er den ganzen Glauben nötig hat, alle übermenschliche Kraft, da er unter allen der große Kranke wird, der große Verbrecher, der große Verfluchte, — und der höchste WISSENDE! — denn er erreicht das Unbekannte . . . "

Der voyant ist der poete — voleur de feu. Der Mythus vom Prometheus, der das Feuer stahl, die Legende vom Dr. Faust, dem Magier, und die des Ewigen Juden, sind seit Renaissance und Romantik bekannte „Stoffe". Was Rimbaud über die Mission des Dichters sagt: „Cette langue sera de l'ame pour l'äme, resumant tout, parfums, sons, couleurs, de la pensee accrochant la pens^e et tirant" . . .

weist auf Baudelaire und — ich vermute es — auf Kenntnis des „Ion", w o Piaton von der wunderbar-anziehenden Kraft des Magnetsteins spricht, die Ring um Ring aneinanderkettet, so wie die gottbegeisterten Dichter die Interpreten und über sie hinaus die Lauschenden an sich ziehen. Das folgende: „ce serait encore un peu la Poesie grecque" scheint die Annahme zu bestätigen. „Es gilt, durch die Entfesselung aller Sinne ins Unbekannte vorzustoßen", schrieb er einst an seinen Schullehrer Izambard (Mai 1871). Das Wort gilt auch im Sinne der Perversion. Das berühmteste Opfer, das er an sich kettete, w a r Verlaine. Wer das pervertierte Verhältnis beider Diditer und die Folgen für Verlaines Ehe vor Augen hat, versteht ohne Kommentar Satz um Satz aus den „Dälires I " der „Saison en Enfer": Vierge folle — l'Epoux infernal. Die törichte J u n g f r a u , Rimbauds Kumpan in der Hölle, umreißt beichtend das Bild ihres dämonischen Verführers:

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„Ich bin verloren, trunken, unrein. Welch ein Leben! ...Seine geheimnisvollen Zärtlichkeiten verführten mich . . . deshalb muß ich hingehen, wohin er w i l l . . . Ein Dämon ist er, er ist kein Mensch. Er sagte: ,Ich liebe keine Frauen' . . . Ich muß mitanhören, wie er Gemeinheiten in Herrlichkeiten verwandelt, wie er aus Grausamkeiten blendende Reize m a c h t . . . Mehrere Nächte packte mich sein Dämon; wir wälzten uns auf dem Boden. Ich kämpfte mit ihm . . . Ist er vielleicht im Besitz von Geheimnissen, das Leben zu ändern? Nein; er ist nur auf der Suche nach i h n e n . . . Was wollte er mit meinem öden, jämmerlichen Dasein? Er machte mich nicht besser... Ich dürstete von Tag zu Tag mehr nach seiner Güte. Unter seinen Küssen, im Taumel seiner Umarmung, das war ein Himmel, und wo ich hätte wohnen wollen, arm, taub, stumm, blind . . . Ich sah uns wie zwei gute Kinder, ohne Sorgen, im Paradies der Traurigkeit lustwandeln . . . Er mußte mir versprechen, mich nicht zu verlassen. Er gab mir dieses Versprechen eines Geliebten wohl zwanzig Mal. . . . Er wird midi stark machen, wir werden wandern, in den Steppen auf Jagd gehen, werden auf dem Pflaster unbekannter Städte schlafen, sorglos, ohne Qualen. Und ich werde aufwachen, und Gesetze und Sitten werden sich geändert haben dank seiner magischen G e w a l t . . . Oh, das bunte Abenteuerleben, wie es in Kinderbüchern s t e h t . . . Wirst du es mir schenken? Er kann es nicht. . . . Hält er Zwiesprache mit Gott? Ich sollte mich an Gott wenden, aus dem tiefsten Abgrund — aber ich kann nicht mehr beten . . In diesem Bekenntnis des Höllenbegleiters ist nicht nur der Charakter Verlaines gezeichnet, sondern gerade auch und indirekt die dämonischen Züge dessen, der das Weib Verlaine sich untertänig machte und mit sadistischer Grausamkeit behandelte. D i e Entfesselung der Sinne potenziert sich in der Pervertierung des andern. Aber über solche Seiten bekenntnishafter Literatur hinaus greift das Motiv der Revolte in überpersonale Bezirke. Die Revolte. Blenden wir ein Wort über den acht Jahre älteren Isidore Ducasse ein. Er nannte sich Le Comte de Laut^amont und ist, seit die Surrealisten sich wieder auf ihn beriefen, durch seine „Chants de Maldoror" für die literarische Welt ein Begriff geworden. Er wußte die Errungenschaften der romantischen Prosasprache, wie sie Rousseau, Byron, Goethe, Chateaubriand der Nachwelt vermacht haben, zu benutzen und prägte sie in eine Prosa um, deren praesurrealistische Züge äußerst modern anmuten. Er gehört zu Rimbaud, der Ähnliches für die Verssprache leistete. Man lese etwa den 1. Gesang der „Chants de Maldoror" (1868), eine hymnische Anrufung des Ozeans — Lautr6amont stammte aus Montevideo — und lese im 6. Gesang die ins TraumhaftGespenstische sich steigernde Vision des nächtlichen Paris, da der Dichter dort an der Ecke der rue Colbert und der rue Vivienne die jünglingshafte

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Gestalt des Mervyn erblickt. Dort steht der überraschende Satz, der zur Leitidee der ganzen surrealistischen Dichtung und Malerei werden sollte: „ . . . beau . . . comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d'une machine k coudre et d'un parapluie!" (Schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch)

Romantik — Surrealismus, und dazwischen ein Text aus dem 10. Gesang: Aufruf zur Revolte. Revolte gegen den Schöpfer, Revolte gegen das Geschöpf, Revolte gegen die Gesellschaft samt ihrer Zivilisation und Literatur. Aus der Seele dieses Dichters steigt ein infernalischer H a ß empor, ein Lustgefühl, das sich zu einer sadistischen Vision der Vernichtung des Seins verdichtet: „Wenn die Erde mit Flöhen bedeckt wäre, wie von Sandkörnern das Gestade des Meeres, dann würde die Menschenrasse vernichtet werden und eine Beute furchtbarer Qualen. Welch ein Schauspiel! Und Ich, von Engelsflügeln getragen schwebte unbeweglich in der Luft, dieses Schauspiel zu betrachten!"

Die epische Kraft kosmischer Visionen hat ihren Quellgrund — wie bei allen großen Rebellen, vor und nach ihm, bei Byron oder Breton, in dem kategorischen „Nein" zu der als unrein und verlogen erkannten Ordnung des menschlichen Daseins. Dieses Nein hat natürlich auch Hintergründe und Untergründe in der Psyche des Rebellen. Sätze wie diese deuten auf die Verwandtschaft der poetischen Intentionen zwischen Lautreamont und Rimbaud: „Menschenrasse, stupid und idiotisch! D u wirst es noch einmal bereuen, dich so zu führen. Ich sage dir: du wirst es bereuen, du wirst es bereuen. Mein Dichten soll nur darin bestehen, mit allen Mitteln den Menschen anzugreifen, den Menschen, dieses wilde Tier, und den Schöpfer, der solches Gewürm nicht hätte erschaffen sollen. Ich will Bände auf Bände türmen, bis ans Ende meines Lebens, und immer nur wird man diesen einzigen Gedanken darin finden, der meinem Bewußtsein immer gegenwärtig ist." (10. Gesang)

Die Blasphemie hat Rimbaudschen Zuschnitt. Der jetzt noch 14-jährige wird in kürzester Zeit solche Sprache sprechen. Der Dichter wird die Fragmente der „realen Welt" nur für Brocken nehmen, mit denen er in einem ebenso metaphysischen wie sprachlichen Prozeß s e i n e Welt in scharfen, realen und doch irrealen Bildern aufbauen wird. Der Dichter hat den Vorzug, Bilder zu sehen, Klänge zu hören, Formen zu ertasten, und das alles aus der poetischen Fähigkeit visionären Träumens, dessen der „normale" Mensch nicht teilhaftig wird. Grundbedingung ist nach Rimbaud das „d&£glement des sens".

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Es erscheint mir nicht angängig, Rimbaud als Christen retten zu wollen. D a ß Paul Claudel einen entscheidenden Anstoß zu seiner Konversion durch Rimbauds „Illumination" erfahren hat, ist kein Beweis für R i m bauds Christentum, auch nicht, daß er schrieb: „Ich warte gierig auf G o t t . " Aber Rimbaud ist auch kein „ H e i d e " ; selbst wenn er schreibt: „Das Heidenblut kommt wieder, das Evangelium ist vorbei." Ein Grieche hätte keine „Saison en E n f e r " dichten können. W o sollte der Heiden Hölle sein? Ein anderer „Grieche" war es, der ihm im Haßgehalt gegen das Christentum und christliche Moral nahe k a m : Friedrich Nietzsche. Ein katholischer Christ hätte jedenfalls nicht schon mit 17 Jahren „Die Erste K o m munion" dichten können: ein von tiefenpsychologischem Wissen um die Pubertätsqual junger Mädchen erregter Widerwille gegen das, was sich da naturalistisch ereignet. Revolte, die sich bei Rimbaud nie in Gläubigkeit verwandelt hat. Ein Hadern mit Gott, ein Bespeien dessen, was dem Frommen als das Verehrungswürdigste gilt. Rimbauds Wertzertrümmerung, seine Verachtung aller sinn- und gedankenlos geheiligten Traditionen der Literatur, der Gesellschaft, der Religion hat ihre Parallele in Nietzsches Abwendung von dem Schöpfer des „Parsifal" und der europäischen Romantik, einschließlich der französischen. Die D y n a m i k der Rimbaudschen Revolte gewann eine solche Explosionskraft, daß sich am Ende die Revolte gegen ihn selbst, den Revoltierenden, richtete. Das Lebensende Nietzsches, der Fall in die Umnachtung, ist nur eine andere F o r m der Evasion, die Rimbaud in die T a t umsetzte, als er seine poetische Existenz aufkündigte, um das heillose Europa zu verlassen, es womöglich zu vergessen. Was war das poetisdie Ziel Rimbauds gewesen? Nicht nur Aufbruch in das Unbekannte, sondern Eroberung des Unbekannten und seiner Verkündigung in einer neuen Sprache, von der er träumte, daß sie einmal die Universalsprache der Seelen sein würde. I n der „Alchemie du V e r b e " (in: Saison en Enfer) ist zu lesen: „Mir träumte von Kreuzfahrten, Entdeckungsreisen, die nicht aufgezeichnet sind, von Republiken, die keine Geschichte haben, von erstickten Religionskriegen, von Revolutionen der Sitten, von Versdiiebungen der Rassen und Kontinente: Ich glaubte an alle Verzauberungen." „Ich erfand die Farbe der Vokale! Α schwarz, Ε weiß, I rot, Ο blau, U grün. Ich bannte Form und Bewegung jedes Konsonanten in Regeln und glaubte, mit einigen instinktiven Rhythmen ein poetisches Wort zu erfinden, das eines Tages allen Sinnen zugänglich s e i . . . " „Ich gewöhnte mich an die einfachen Halluzinationen: Ich sah wahrhaftig

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eine Moschee anstelle einer Fabrik, eine Tambourschule, die von Engeln gemacht ist, sah Kaleschen auf den Himmelsstraßen, einen Salon in der Tiefe eines Sees . . „Dann erklärte idi meine magischen Sophismen mit der Halluzination der Worte." „Schließlich fand idi die Wirrnis meines Geistes als etwas Geweihtes. Ich war faul, Beute eines schweren F i e b e r s . . „Ich streifte durch stinkende Gassen, geschlossenen Auges, und bot mich der Sonne dar, dem Gott des Feuers . .

Stoff genug, das Interesse der Philologen, der Psychiater und aller Forscher zu wecken, die sich mit der Wirkung von Rauschgiften befassen. Professor Marcel Sendrail hat es am Beispiel der „Matinee d'Ivresse" aus den „Illuminations" unternommen und seine Analysen in dem Concours medical (24. Sept. 1955) niedergelegt. Die Inspiration kommt bei Rimbaud mit ihrer überwältigenden Macht nicht wie bei den Mystikern oder dem poeta vates der antiken Dichter von oben, sondern sie wird durch die zumeist nur momentan wirkende Rauschgiftekstase gleichsam von unten her erreicht. Am Ende mag das Ergebnis als Halluzination das gleiche sein. Aber woran Schwächere zugrunde gehen, das hat den Dichter Rimbaud zu jener äußersten Energieanspannung vermocht, mit welcher er den Durchstoß zu einer neuen, noch nie vernommenen Sprache gewagt und geschafft hat. Man darf ohne Übertreibung sagen, daß, wenigstens seit den Surrealisten die moderne Lyrik des 20. Jahrhunderts, die so verschieden von der „romantischen" Phase der vorangegangenen Generationen ist, ohne die Leistung Rimbauds undenkbar ist. Die Sprache der Rimbaudschen Lyrik ist zum Vehikel nicht mehr nur von Gedanken und Gefühlen, sondern von Entdeckungen geworden: Sprache der alten Propheten und Seher, die vom Übersinnlichen kündeten, aber auch Sprache, durch deren Subtilität Erkenntnisse aus den Bereichen des Unterbewußten empordrangen. Seine Sprache ist voller Dinglichkeit, voller Welt, voller Gegenstände — man erinnere sich des „Trunkenen Schiffes". Aber die Relationen dieser geschauten Dinge, ihre Verknüpfungen oder Lösungen, ihre Vertilgung und ihr Wiedererstehen, die brutalen Wortklötze und Bilder, die er häuft, die einander stoßen, sich verdrängen . . . eine aufkeimende Melodie von süßester Zartheit, alsbald zerrissen von konkreter Gegenstandsmusik schreiendster Dissonanz — das alles erzeugt eine Dynamik von Eindrücken, die kein Gravitationszentrum mehr hat, sondern das Wunder einer neuen, inkohärenten Architektur hervorbrachte, einen kosmischen Sternennebel im Weltall poetischer Schöpfung.

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Vom Symbolismus Als Rimbaud in Abessynien war, Mallarm£ seine Dienstag-Abende hielt und Verlaine seine 3 Studien über die Poetes maudits (Tristan Corbi£re, Rimbaud, Mallarme) in der Lutece veröffentlichte, bildete sich bei den französischen Poeten zwischen 1883 und 1885 so etwas wie ein Bewußtsein einer neuen Dichtergemeinschaft und eines neuen Diditungswertes heraus. Es handelte sich, wie bei den meisten derartigen Bewegungen, um ein soziales wie ästhetisches Phänomen. Damals kam das vielzitierte Wort „Decadence" auf. Es resümiert einen Aspekt der Bewegung. Kabarette wie der Chat noir, Caf^s, wo diskutiert und Domino gespielt, Clubs von grotesken Namen wie die Hydropatbes oder die Zutistes, die Mardi- und Vendredi-Zusammenkünfte von Dichtern und Künstlern, neue Zeitschriften, u. a. der Mercure de France, die Plume, der Ermitage, die Entretiens, die Revue Wagnerienne schössen wie Pilze aus der Erde. Ihre Gründer und Mitarbeiter kannten sich einander kaum. Dichter, Literaten, Romanciers traten in ihnen hervor, die Jugend schlechthin: Studenten der Medizin und Rechtswissenschaft arbeiteten ζ. B. an der Ermitage mit. Alle diese Zeiterscheinungen trugen dazu bei, ein Klima zu schaffen, wo die Jungen ihrem Mißmut gegen die herrschende Lehre eines Taine oder Renan, gegen die alternde Generation des Second Empire — der Krieg 1870/71 lag für die Jugend schon 15 Jahre zurück —, und dann vor allem gegen die Lyrik der parnassianischen Vergangenheit und Gegenwart Luft machen konnten. Bei Malern und Musikern fanden sie Gleichgesinnte. Die Impressionisten der Musik waren revolutionär gesonnen wie die Literaten und wie vor und mit ihnen die älteren und neueren impressionistischen Maler. Die Malerei geht in Frankreich häufig den andern Kulturerscheinungen voraus. Die „Nevroses" von Maurice Rollinat — Neurotiker mit ultrasensitiven Nervensystemen waren sie alle — wurden sowohl in literarischen als auch in Musikerkreisen mit gleicher Begeisterung gelesen: von Massenet und Gounod wie von Barbey d'Aurevilly und dem alten Victor Hugo. Es war eine Jugend in Revolte. Sie gab sich ζ. T. einen dandyhaften Anstrich wie einst in der Romantik und in der Nachfolge Baudelaires; es war eine Jugend voller Idealismus, aber auch mit wachen Sinnen für die Welt der Wirklichkeiten. Das eine Schloß das andere nicht aus. Es war zwar eine müde, spätgeborene Generation, aber es regte sich in ihr ein Neues, Modernes: das aufkommende Bewußtsein eines heraufziehenden technischen Zeitalters mit seiner Großstadtkultur. So erklärt sich einerseits das Dicadence-Gefühl, ein roman-

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tisches Fernweh, das sich audi in der Liebe der Symbolisten zu Mythen, Träumen, vorgeschichtlichen Bezirken der Menschheit bekundet; die Dichter zogen oft einen Schleier über die tägliche, rauhe Wirklichkeit; andererseits aber ergriffen sie die neuen Wirklichkeiten oder wurden trotz allen Fluchtversuchen von ihnen ergriffen: so zeichnete sich in den vom modernen Lebensgefühl durchpulsten Dichtungen des Belgiers Verhaeren der kommende Futurismus Marinettis ab. Das Jahrhundert hatte also seine Spannungen. „Symbolismus" war als Schlagwort der neuen Generation nicht eindeutig. Es gab einen Baudelaireschen Symbolismus, es gab den hermetischen Symbolismus der Mallarmischen Seinserfahrung; es gab den musikalischen Symbolismus der Verlaineschen Verskunst; es gab den symbolistischen Praesurrealismus Rimbauds und L a u t r i a m o n t s . . . Bei den „Symbolisten" der 80er Jahre findet sich kaum ein Gedanke, der nicht bei einem der vier oder fünf Großen aufspürbar wäre. Die Manifeste der Symbolisten scheinen, liest man sie im Anschluß an die Symbolisten der Ersten Stunde, nicht viel mehr an den Tag zu fördern als was sie aus den Dichtungen dieser Modelle herausgefiltert haben. Indessen findet sich in dem Vokabular der symbolistischen Manifeste ein Wort, das auffällig viel gebraucht wird: Idee. Es weist auf Piaton und Plotin sowie auf jede Form spiritualistischer Weltbetrachtung, einschließlich der mystisch gefärbten christlichen Metaphysik. Saint-Pol Roux nennt Gott ein „Pseudonym für Schönheit" und von Gott wird da gesagt, er wolle sich humanisieren, wie wir Menschen uns zu vergöttlichen trachteten: „Die endgültige Apotheose des Lebens wird das Ergebnis einer Zusammenarbeit von Gott und den Menschen sein." Merkwürdig, sagt er: alle Berufe wie Ärzte, Richter, Kaufleute, Philosophen, Naturwissenschaftler hätten Fortschritte gemacht, aber der Rhapsode und Aede psalmodiere noch immer „Au clair de Lüne" oder die „Marseillaise" und wisse gar nicht, daß ein unablässiges Bemühen, die poetischen Energien frei zu machen, auch ihnen, den Poeten, zu einer progressiven Dichtung in ferne Zukunft hinein befähige. („Poisia", 1898, in „Feeries interieures") Denn es genüge nicht mehr, heutzutage und auf dieser Erde in Versen zu lachen oder zu weinen; am Dichter ist es, tiefer zu graben oder höher zu fliegen, von seinen Eroberungen mit unerwarteten Funden heimzukehren. Wer dächte nicht an Rimbaud? Saint-Pol Roux prägte auch den Begriff des „ideorealisme", der eine wesentliche Seite symbolistischen Denkens glücklich formuliert. Was heißt es anders, als daß sich die Idee in der Erscheinung offenbart, und daß die Erscheinungen auf das ideelle Reich weisen.

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Unter den vielen Poeten dieser Generation, die ihr Wort zum Symbolismus sagten, gehören auch Maeterlinck, Reni Ghil, Albert Mockel, Henri de Rignier, Stuart Merrill und andere mehr. Berühmt ist das symbolistische Manifest des Griechen Papadiamantopoulos — mit seinem Pseudonym Jean Morias — geworden. Wir besitzen ein erfrischend amüsantes Porträt von ihm aus der Feder von Henri Mazel, der ihn jahrelang gekannt hat. (Aux beaux temps du Symbolisme 1891—1895, Paris—Brüssel 1943). Morias erscheint auf diesen Seiten als Dandy, bemüht, die Aufmerksamkeit beider Geschlechter auf sich zu lenken: sein Auge schleuderte Blitze, seine Adlernase ruhte auf einem wilhelminisch gezwirbelten Schnurrbart, unter den buschigen Augenbrauen klemmte ein Monokel, und über der Stirn wehten schwarze Haare, von denen man versicherte, daß sie blau seien wie Flügel von Raben — „un air tout-i-fait palikare", wie ein „Klephte sur la montagne", Traumfigur der alten griechensüchtigen Romantiker. Merkwürdig muß seine Stimme gewesen sein: Berliozsches Blech, und noch merkwürdiger sein orientalischer Akzent, den zu verlieren er sich nie bemüht hat. Er machte alle e zu geschlossenen Vokalen und behauptete: „CL· qu'il y 3. AL· plus bo dans la langue fran9aise, cL· sont les e muets", transkribierte Mazel. Komisch, wie er alle auslautenden -e stranguliert und apokopiert haben soll. Im übrigen versichert uns Mazel, daß Moreas selten zu sprechen geruhe, es sei denn von sich selbst. Sein symbolistisches Manifest erschien am 18. Februar 1886 im Figaro litteraire. Er skizzierte darin das Schicksal der Romantik, wie sie als Revolte begann, sich allmählich einebnete, im Parnaß fortlebte und schließlich vom Naturalismus, der ein legitimer Protest gegen die Fadheit der Epigonen war, entthront wurde. Dann kam das Neue seiner Zeit, und Morias, sein Verkünder, taufte es „SYMBOLISME". Wesentliche Züge seiner eigenen symbolistischen Dichtung erhellen sidi, wenn wir sie auf dem Hintergrund des platonisch-plotinischen Schemas vom mundus intelligibilis und mttndus sensibilis betrachten: Die Poesie soll „die Idee mit einer sensiblen Form umkleiden". Sie darf sich der „prächtigen Simarren der äußeren Analogien" nie berauben lassen. Die Bilder der Natur, die Taten der Menschen, alles, was hienieden geschieht und in Erscheinung tritt, sind nur „sensible Phänomene, Repräsentanz ihrer esoterischen Verwandtschaften mit den primordialen Ideen". Das Schema ist nicht neu, aber lag einem Griechen, der nicht nur seinen Piaton kannte, sondern audi in Proklos und Jamblichos zu Hause war, ziemlich nahe. Den Stil symbolistischen Dichtens will er „archetypisch und kom-

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socialisme — desir du nouveau. Darin sind fast alle Züge und Widersprüche der neuen Zeit aufgezählt: ein neuer Roman wird entstehen; in der Geschichtsschreibung wird eine gediegenere Gelehrsamkeit vorwalten; die Baukunst des 19. Jahrhunderts — „une architecture nulle" oder bestenfalls „utilitaire" — wird ein neues Gesicht bekommen; das religiöse Leben war in den vorangegangenen Jahrzehnten zu einem „catholicisme d'opira" geworden, es wird jetzt vertieft werden; in der Politik herrschten bislang Systeme, die auf Gewalt beruhten; die Wirtschaft war zwar „liberal, aber kalt"; in den Künsten bricht die neue Zeit schon an; in der Malerei herrscht bereits der „impressionisme" und der „tachisme", eine neue Kunst der Farben und Linien. Mazel fühlt den Aufbruch neuer Formen des wirtschaftlichen, politischen, sozialen Lebens: In das „Manchestertum" werden moderne Sozialisten eine Bresche schlagen, und sogar die überalternde Theologie wird von der Soziologie zu neuen Formen umgeprägt werden. Der Vorrang der Politik wird von der Wirtschaft gebrochen. Das alles war für 1890 weitschauend und hob die poetisch-künstlerische Bewegung des Symbolismus in das Relief der allgemeinen Zeitgeschichte. Aber zu dieser Zeit überschritt der Symbolismus als poetische Bewegung bereits seinen Höhepunkt. Ein Jahr nach dem Manifest des Ermitage von Mazel wurde von Morias selbst eine Bresche in den Symplex" — „d'impolluis vocables" — eine weithin schwingende Satzperiode, die mit kleineren Wellenbewegungen alterniert; er arbeitet mit bedeutungsvollen Pleonasmen; Ellipsen sollen auf Geheimes weisen; das Anakoluth den Gedanken in der Schwebe halten; auch in den Schichten des Rhythmus und des Reimes soll sich Altes mit Neuem mischen; die Metrik soll belebt werden; durch eine scheinbare Unordnung soll wissentlich verborgene Ordnung hindurchschimmern; der Reim soll wie ein antiker Schild aus Gold und Erz gehämmert sein, aber neben der Plastik soll das Fließende musikalischer Reimkunst sein Recht behaupten. Interessant sind die wenig bekannten Seiten der 1. Nummer (April 1890) des „Ermitage" von Mazel. Sie enthalten eine Theorie des Symbolismus: Auf dem Hintergrund der Romantik und des Parnaß stellt sich die 3. Periode vor: Predominance du sentiment altruiste — preoccupations morales — psychologie analytique — esprit religieux, parfois mystique — pessimisme, chariti, bolismus geschlagen, den er verkündungsfreudig 5 Jahre zuvor propagiert hatte. Am 14. September 1891 erschien in der Lettre au Figaro das Manifest einer Gegenbewegung, die Morias Ecole romane nannte.

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Der Bruch des symbolistischen Dichters mit den Anschauungen von 1886 im Figaro konnte eigentlich nur für diejenigen überraschend sein, welche des Griechen Freude an der französischen Renaissancedichtung nie bemerkt hatten. Mor6as hatte schon seinerzeit Rabelais und die Pleiadendichter gepriesen, er ronsardisierte selbst einige Zeit, bis er sein Vergnügen an den Klassikern und ihrer schlichten Diktion entdeckte; da begann er zu malherbisieren und machte eine neue Entdeckung in der Seele der Franzosen: ihren griechisch-römischen Genius. Er schlug nun einen kühnen Bogen vom Mittelalter und der Trobador-Lyrik über die Pleiade bis zum Zeitalter der Klassik. Die Romantik aber verurteilte er als französischer Wesensart nicht kongenial, was ihm dann viele nationalistischen Germanophoben nachsprachen: die Romantiker, und in ihrem Gefolge die Parnassiens und Symbolisten, hätten die französischen Musen um ihr legitimes Erbe gebracht. Solche globalen Urteile wirken heute lächerlich, aber sie machten damals und noch lange Zeit hernach großen Eindruck, wie es häufig geschieht, daß autoritär vorgetragene Meinungen eines unerschütterlich selbstbewußten Diktators bewundernde Anhänger finden. Zu seinen Gefolgsmannen gehörte audi „le savant critique Charles Maurras". Auch er fühlte sich dem griechisch-römischen Erbe der französischen Kultur verpflichtet, dem Ideal der „Romanite". In solchen ernstgemeinten Schlagwörtern, die einem sich übersteigernden Nationalismus Vorschub leisteten, lag gefährlicher Zündstoff. Er wurde immerhin in den Karikaturen des „Poke decadent" entschärft. Gabriel Vicaire und Henri Beauclair haben in den „D£liquescences d'Andri Floupette" (1885) das parodistische Bild des Symbolisten skizziert, dessen „köstliche Sprachneurosen" . . . eben nur „eine Nervenattacke auf Papier" seien. Das richtete sich nicht gegen Mor6as; denn gerade er wollte aus dem Heiligenbezirk nebuloser „Traumextasen" ausbrechen und den „genüßlichen Wonneschauern der zarten, zeitgenössischen Seele" die Verehrung des Lichtgenius mediterraner Kultur entgegenstellen. Der Symbolismus fiel zeitlich mit dem Wagnerkult in Frankreich zusammen. Daraus entwickelte sich ein besonderer Charakterzug der Bewegung. Mallarn^ hatte die Tendenz des „reprendre a la musique son bien" inauguriert. Musik wird dabei als das Flüssige, Weiche, auch das Weibliche und das Sentimentale verstanden, — was sie wohl sein kann, aber nicht sein muß. Hier liegt ein Mißverständnis der symbolistischen Dichter vor, das sich noch durch Verlaines „musikalisches" Dichten vergrößerte. Keiner unter den Poeten war damals in der Lage, rein musika-

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lische Analysen so exakt durchzuführen, daß etwa bei der Tristanpartitur just nicht die Verschwommenheit, sondern die Präzision des tonalen Gefüges als Charakteristikum dieser Musik kenntlich gemacht wurde. Doch ist das Wagnerverständnis und die Wagnerdeutung der Dichter, Künstler und Musiker jener Epoche eine schwierige Geschichte, die sich um so mehr kompliziert, als die Motivationen der Zustimmung oder Ablehnung bei den Dichtern anders zu beurteilen sind als bei den Musikern und Komponisten, die vom „Fach" etwas verstehen. Zudem mischen sich politische Motive in die Diskussion, da Wagner in der frühen Rezeption als politischer Flüchtling anders von den Franzosen gesehen wurde als später nach dem deutsch-französischen Kriege von 1870/71. Eins kann nur mit Sicherheit gesagt werden: Die Geschichte des französischen Symbolismus ohne Rücksicht auf das Phänomen Wagner zu schreiben, wäre ebenso unstatthaft, wie wenn man den Einfluß Ε. A. Poes auf die französischen Dichter ignorieren wollte. Beide, Ε. A. Poe und Richard Wagner, sind durch das poetische und kritische CEuvre von Baudelaire und Mallarmi so tief in das Selbstverständnis der französischen Dichtung und Geisteskultur eingesenkt worden, daß sie auch in der ganzen symbolistischen Bewegung präsent sind. Baudelaire erfüllte die Aufgabe einer Übertragung Poes in die literarische Welt Frankreichs. Schon in der Altersgemeinschaft der ersten Parnassiens war der Einfluß des Amerikaners unmittelbar greifbar. Davon zeugen Gautier, Banville, Dierx, Armand Renaud, Leconte de Lisle. In der folgenden Generation der Symbolisten und der Dichter des „vers libre" werden die Ideen des „Poetic Principle" diskutiert und umgeformt. Das läßt sich bis in die Zeit des Surrealismus weiterverfolgen. Als Baudelaire seine Studie über „Edgar Poe, sa vie et ses ouvrages" 1852 in der Revue de Paris veröffentlichte, kannte er nur einen bescheidenen Teil der Werke Poes. Er schrieb damals an Armand Fraisse: „Ich kann ihnen etwas Merkwürdiges, fast Unglaubliches berichten. Im Jahre 1846 oder 1847 lernte ich einige Fragmente aus Poes Werk kennen. Ich empfand eine eigentümliche Erschütterung... Ich fand zu meiner Überraschung — Sie mögen es glauben oder nidit — Gedichte und Novellen, die schon in meinen Gedanken vorgebildet waren, obwohl noch unbestimmt, verworren, ungeordnet, und die Poe eben schon kombiniert und vollendet ausgedrückt hatte."

Sein Entschluß ist gefaßt: Er wird Poe übersetzen. Doch die Kenntnisse des Englischen waren mangelhaft. Asselineau berichtet, wie und unter

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welchen Umständen Baudelaire sich die erforderlichen Kenntnisse aneignete: er besuchte die englische Taverne der rue de Rivoli, trank Sherry und Ale, Whisky und Punch, befragte englische Matrosen über Fachausdrücke der Seefahrt usw. Der Identifizierungsprozeß mit Poe beginnt. Beide haben gemeinsame Ahnen: Lord Byron und Ε. Τ . A. Hoff mann. Der eine war das poetische Vorbild aristokratischen Dandytums, das wir an Baudelaire erkannt haben; der andere Schloß beiden die Tore zur Geisterwelt auf. Das Nächtig-Grausige Hoffmannesker Phantasie lebte in Poes Schöpfungen weiter und fand seinen Widerschein in Baudelaire. Poe wurde von Ε. T . A. Hoffmann so ergriffen wie Baudelaire später von Ε. A. Poe. Es sei erwähnt, daß Hoffmanns „Goldner T o p f " 1827 von Thomas Carlyle übersetzt worden, daß die „Elixiere des Teufels" 1824 zu Edinburgh in englischer Version herausgekommen waren, während „Das Majorat" und „Mademoiselle de Scudery" in den ,German Stories from the Works of Hoffmann and others' in Edinburgh und London erschienen, im gleichen Jahr wie „Meister Floh" in den ,Specimens of German Romance* von G. Soane. Es konnte Poe auch als Studenten und Liebhaber der französischen Literatur nicht entgangen sein, daß um die gleiche Zeit, da Hoffmann in England bekannt wurde, eine Welle der HoffmannBegeisterung durch Frankreich ging. Jeder Hoffmann-Leser weiß, daß die pathologischen Halluzinationen des phantastischen Schriftstellers den Stempel der Echtheit tragen. Poe geht auf diesem Wege weiter. Er kombiniert noch intensiver als Hoffmann Verstand und Phantasie: Seine Erzählungen kennzeichnet eine mathematische Präzision und Formelkraft, die aus seinen Prosaseiten mehr als „Literatur" im üblichen Sinne macht, nämlich Dokumente eines wissenschaftlich-exakt gestaltenden Künstlers, der sich als Kriminologe von faszinierender Denk- und Kombinationskraft erweist. Baudelaires Mentalität wurde von Poe angesprochen. E r fühlte sich, ohne daß ihm die Verlockung durch das jeweilige Werk Gewalt angetan hätte, wie in einen Wirbel hineingerissen, wenn er Poe l a s . . . „und langsam, nach und nach, entrollt sidi eine Geschichte, deren ganzes Interesse auf einer unmerklichen Ablenkung des Intellekts beruht, auf einer kühnen Hypothese, auf einer unvorsichtigen Dosierung der Natur im Amalgam der geistigen Fähigkeiten. Der Leser, der sich aus dem Bannkreis nicht mehr befreien kann, muß dann dem Autor in die mitreißenden Deduktionen folgen."

Von hier zeichnen sich drei Wege ab, in die sich Poes Novellenkunst abgezweigt hat: Der Kriminalroman, die Schicksalstragödie des Symbo-

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listen Maeterlinck, die dramatischen Verarbeitungen f ü r die Bühne des Grand-Guignol. Maeterlinck hat den geheimen Schauer der Poeschen Dichtung in seine Dramen übersetzt. Eine Atmosphäre des Grauens webt um Schlösser und Paläste, liegt über Gärten und Teichen, umhüllt vor allem die Seelen der gezeichneten Menschen. Eine Zone des Schweigens kreist über den Geschehnissen, deren unbegreiflicher Logik sie erliegen. Vergeblich die Weisheit der Ärzte vor den Krankheiten und Leiden; jeder Wille gebrochen, bevor er noch wirken kann. Die Poesie des „Raven" geistert in den Bühnenbildern und hängt über den bangen Fragen und Ängsten der Maeterlinckschen Gestalten. Mit der gleichen Kompositionstechnik, wie sie Poe beherrschte, weiß er zu nuancieren, Effekte zu berechnen, Wirkungen abzustufen und setzt ein Minimum an lautlichen und szenischen Mitteln ein, um ζ. B. beklemmende Stille oder furchterregende Geräusche hervorzurufen. Er hat sich ausdrücklich zu Poe bekannt, als er an ί έ ο η Lemonnier unter dem 22. Juni 1928 schrieb: „Edgar Poe hat auf mich, wie übrigens auf meine ganze Generation einen großen, tiefen, dauerhaften Einfluß ausgeübt. Er hat in mir den Sinn für Geheimnisvolles erweckt und den leidenschaftlichen Drang nach den Jenseitigkeiten des Lebens." (Zit. bei Lemonnier, Edgar Poe et les Pontes fran;ais. Paris 1932)

Mit guten Recht zieht Lemonnier die Linie des dramatischen Poeeinflusses zum Grand-Guignol. A n d ^ de Lorde, unumstrittener Meister des Schauertheaters, schrieb mit fast den gleichen Worten über die Eindrücke, die Poe auf ihn gehabt hat, als er das „Syst£me du Docteur Goudron" nach der Poeschen Novelle dramatisch bearbeitete. Das war 1903. Das Stück hatte einen großen Erfolg. Was dort und in andern Stücken auf der Bühne des „Theatre d'Epouvante" geschieht, oder zuweilen auch nur hinter der Bühne als Verbrechen geahnt wird, ist nichts f ü r schwache Nerven. Da wird ζ. B. ein Mensch so stark hypnotisiert, daß seine Seele weiterlebt und lebendig im Kerker des Leichnams eingeschlossen bleibt (Cercueil de Chair). Da steht ein Forscher vor der Leiche seiner Tochter und jagt ihr einen elektrischen Strom ins Herz, daß es wieder zu schlagen beginnt; aber der galvanisierte Arm des Leichnams ergreift den Mann an der Gurgel und erdrosselt ihn (L'horrible Εχρέπβηςε). Da ist die etwas verwandelte Black-Cat-Geschichte: Ohnmächtig gegenüber seinen kriminellen Triebkräften begeht ein Mann den Mord an seinem Sohn. — Das psychopathologische Interesse auch an den Mädchen hat neben

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andern Motiven Baudelaire zu Poe geführt. Baudelaire hat in den erotischen Halluzinationen jener Poeschen Sylphiden-Gestalten „das Ergebnis einer unausgefüllten Lebensenergie, zuweilen auch die hartnäckige Keuschheit und eine tiefe, verdrängte Empfindsamkeit" beobachtet. Auf einer „höheren" Stufe der Theaterkultur assoziiert sich der Name Maeterlinck mit dem Debussys. Seit „Pell&is et Melisande" werden sie zusammengenannt wie Moli£re und Lully, wie Hofmannsthal und Richard Strauß, wie Claudel und Milhaud. Gibt es ein tertium comparationis, dann ist es ihre gemeinsame Neigung zu Ε. A. Poe, ihre Lektüre Baudelaires, ihr Geschmack an dem Theatre de la Peur. Debussy war aufs tiefste von Poes Gedichten und Prosawerken beeindruckt. Sein Interesse an dem Novellisten geht bis auf das Jahr 1890 zurück. In einem Brief von A n d r i Suar£s an Romain Rolland vom 14. Januar 1890 lesen wir, daß Debussy an einer Symphonie arbeite, und zwar über „ein Thema, das sich psychologisch entfalten soll, und dessen Idee aus Poes Erzählungen, im besonderen aus der ,Chute de la Maison Usher' stammt." Auffällig ist der Hinweis auf das psychologische Moment, mit dem Suar£s die musikalische Handschrift Debussys zu deuten versucht; der junge Komponist, „Monsieur Achille Debussy", habe eine starke Neigung zu Baudelaire, Verlaine, R o s s e t t i . . . „et tous autres damn^s et dέcadents formels"; seine Musik leide wohl an gewissen „timbres berloziens"; seine musikalische Interpretation Verlaines (Suar£s meint die „Anettes") zeige eine Tendenz zu „psychologischer Kommentierung" — kein Wunder, daß „Wagner endlich besser verstanden und nicht nur mehr kopiert wurde". Das ist ein interessantes Dokument. Wie mit leichter H a n d skizziert, werden Verbindungslinien zwischen Poe, Baudelaire, den englischen Praeraphaeliten und Debussy sichtbar. Wir wissen, welch großer Leser zeitgenössischer Literatur Debussy gewesen ist. Er hatte, ähnlich wie Beethoven, ein Organ, mit dem er auf die feinsten Reize der Dichtung reagierte. Was bei Beethoven das Erlebnis Goethescher Werke war: Goethes Lyrik, der Egmont, der Wilhelm Meister, das wurde bei Debussy das künstlerische und psychologische Erlebnis der Dichtung und der Erzählungen Poes, der Lyrik Baudelaires und der Engländer, und der Dramaturgie Maeterlincks. Poe war das entscheidende Erlebnis. Debussy kam sein Leben lang nicht von ihm los. Poe begleitete ihn wie ein Schatten. Noch Jahre nach der Komposition des „Pelkas" äußerte Debussy zu Gatti-Casazza, daß er unbedingt „das musikalische Äquivalent" (l'equivalent musical) zu Poes „imagination" finden müsse. Das Problem reduzierte sich also f ü r

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ihn auf die Beethovensche Frage, welche die Frage nach der inneren Verbindung von Dichtung und Musik schlechthin ist: die Transfiguration dichterischer Erlebnisse in die Sprache und Syntax der Musik, die als solche den Gesetzen ihres eigenen, musikalischen Kosmos folgt. Aus der Dokumentensammlung von Edward Lodkspeiser: „Debussy et Edgar Poe" (Monaco, Ed. du Rocher 1961) erfahren wir, daß Debussy 1910 an einem „Tristan" arbeitete (nach dem Text Bidiers), daß er die Absicht hatte, einen „Orpheus" zu schreiben, und daß er zwei Novellen Poes: La Chute de la Maison Usher und Le Diable dans le Beffroi f ü r die Op6ra Comique vollendete. Vom Tristan und dem Orpheus ist keine Note erhalten, aber von der musikalischen Dramatisierung der Poeschen Prosastücke liegt ein Teil der Fragmente als Faksimile in der genannten Dokumentensammlung vor. „Wenn es mir je gelingt", schreibt Debussy bei der Anfertigung des Librettos und der Musik zum „Fall of the House of Usher", „was meine Absicht ist, eine Idee von der Progression der A n g s t . . . zu vermitteln, dann glaube ich, der Musik einen guten Dienst erwiesen zu haben." Die Filiation von Maeterlinck zu Debussy wird an solchen Bekenntnissen deutlich. Der Musikstudent war noch nicht 20 Jahre, als er in der Vertonung eines Gedichts von Charles Cros, „Archet" Themen des „Pelkas" vorausnahm: das lange, bis zu den Füßen wallende H a a r der Geliebten, ihre seltsame Stimme „musicale, de fee ou d'ange" — und das Thema der „Frau als Instrument": Der Geliebte soll, wenn sie gestorben ist, aus ihren Haaren einen Bogen machen; so zieht er hin und spielt auf diesem Instrument, daß alle, die ihn hören, einen Schauer empfinden; er wirbt um eine Königin, entführt sie, aber sie müssen beide sterben; denn die Tote, die in den Saiten sang, fordert ihr Pfand zurück . . . Tastende Versuche juveniler A r t . . . aber aus ihnen wird „Pelkas et M61isande" entstehen. Maeterlincks Gedichte und Dramen waren frühzeitig in Paris bekannt geworden; so die „Serres chaudes", 1889, zwei Jahre später erschienen in Brüssel „La Princesse Maleine", „L'Intruse", „Les Aveugles", „Les sept Princesses", und ein Jahr darauf „Palleas et Melisande". Am 17. Mail893 ging das Stück über die Bretter der Bouffes-Parisiens. Debussy und Vincent d'Indy ersuchten bei Maeterlinck um die Genehmigung, die „Princesse Maleine" musikalisch zu bearbeiten. Es lag eine Poe-Maeterlincksche Atmosphäre über den Jahren. Sie lastete auf Debussy. Er vermochte die „Traurigkeit seiner Landschaften" nicht zu „entrunzeln"; seine Tage verliefen „fuligineuses, sombres et

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muettes comme celles d'un hiros d'Edgar-Allan Poe", so schrieb er an Ernest Chausson im September 1893 und fügte hinzu „mon äme romanesque ainsi qu'une Ballade de Chopin". Interessant, daß die 3 Epitheta eine wörtliche Übernahme aus dem Anfang der Baudelaireschen Übersetzung des „Fall of the House of Usher" sind, und daß sich gerade zur Zeit, da die Gestalt des Roderick aus dem „Fall" immer deutlichere Formen bei Debussy annimmt, die Poe-Maeterlincksche Atmosphäre sich für ihn in den Stimmungszauber einer Chopinschen Ballade verdichtet... Angst: Leitmotiv, das den Hörer durch die Landschaften Debussyscher Musik geleitet. Wind und Wasser sind Elemente dieser Motive. Andr£ Schaeffner hat in dem Vorwort zu der Arbeit Lockspeisers auf den bemerkenswerten Umstand hingewiesen, daß das 7. der 12 „Pr£ludes pour Piano" mit dem Titel „Ce qu'a vu le vent d'ouest" von „Des Pas sur la Neige" und „La Fille aux Cheveux de Lin" umrahmt ist, d. h. von der traurigen Schneelandschaft und dem Milisande-Motiv des Mädchens mit den flachsblonden Haaren. Das alles sind Vorspiele und vorbereitende Skizzen zu jener „Musik des Schauers", welche aufzufinden die künstlerische Verwirklichung seiner „schönsten Fähigkeiten" war trouver des fajons inddites d'assembler des sons". (An Godet in einem Brief von 1916) Jahre vor dem Abschluß des „Pelkas" hat sich Debussy auch in die praeraphaelitische Dichtung Englands eingelesen. Damit kommen wir auf die Spur geistiger, psychologischer und künstlerischer Verwandtschaften, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zwischen den Malern, Musikern und Dichtern zeigen. Debussy las Rossettis „La Damoiselle Elue" in einer Übersetzung, als er 1887 noch in Rom studierte. Es verschlägt dabei wenig, daß Rossetti seine Damoiselle als Antithese zu der Poeschen Psychologie der Verzweiflung konzipiert hatte. Durch Pierre Louys' Nachdichtung wurde Debussy auch mit Rossettis „La Saulaie" und mit einigen Sonetten aus dem „House of Life" vertraut. Zur Zeit des Pelleas stand auch Maeterlinck unter dem Einfluß der Praeraphaeliten. Seine Besucher in der Rue Raynouard konnten Reproduktionen von Burne-Jones und Rossetti sehen. Auffällig, daß in jenen Jahren des französischen Impressionismus der Malerei und Musik, in denen ein Turner und Constable ein zweites Mal, nach Delacroix, in Frankreich zu Ehren kamen, auch Maeterlinck seinen Pelleas dichtete. Das Leitmotiv der Poeschen Angst bei MaeterlinckDebussy scheint indessen eher auf den sich anbahnenden Expressionismus als auf den zeitgenössischen Impressionismus oder die vorgängige Praera-

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phaelitenbewegung zu deuten. Der Hinweis Schaeffners auf das J a h r 1897, da das epochemachende Bild der „Angst" von E d v a r d Munch im Salon des Independants ausgestellt wurde, scheint mir interessant, um so mehr, als Munch es zu der Zeit gemalt hat, da Debussy an der unheimlichen „sc£ne des souterrains" arbeitete. Ein anderer Maler teilte Debussys Faszination durch Poe: Paul Gauguin. Er besuchte fleißig die Vorstellungen des javanischen Theaters und erschloß sich eine neue Welt. Diese neuen Eindrücke aus fernöstlicher Kunst stürmten auf den Komponisten ein. Er besuchte die Weltausstellungen von 1889, 1900 und 1906. D u r f t e n sich längst zuvor die Brüder Goncourt rühmen, dem französischen Publikum die Mode und den Geschmack an japanischen H o l z schnitten vermittelt zu haben, so berichtete jetzt Debussy dem Theaterpublikum von den Wundern annamitischer Theaterkultur. Wiederum taucht das Motiv des Schreckens a u f . . . „une petite clarinette rageuse conduit l'emotion; un Tam-Tam organise la t e r r e u r . . . et c'est tout." (15. Februar 1913) Worte, die bei Claudel widerhallen werden. Man wird nach alledem fragen: H a t Debussy eine neue Tonsprache gefunden, um adäquat auszudrücken, was ihm aus den Erlebnissen der Poeschen Welt zugekommen war? Hier müßte eine Analyse einsetzen, die sich in drei Richtungen erstrecken sollte: Zunächst die Frage, welche Ideen Poes über Musik zukunftsträchtig und wirksam geworden sind; als Seitensatz wäre zu fragen, was die Musiker selbst über Poe geäußert haben. Der literarischen Dokumente gibt es genug, von Ravel, Schönberg, Prokofieff und andern, wobei auch zu untersuchen wäre, welche Bedeutung Edgar Poe auch noch auf zeitgenössische Komponisten wie Dallapiccola oder Benjamin Britten gehabt hat oder immer noch ausübt. Zu diesem Fragenkomplex gehört etwa auch, was E d v a r d Lockspeiser in den Notes et Eclaircissements der Dokumentensammlung über Poe und Debussy mitteilt: als nämlich Ravel gefragt wurde, was es mit der wiederholten Note in dem „Gibet" f ü r eine Bewandtnis habe, antwortete er: „C'est Nevermore" — also eine Reminiszenz an Poes „Raven" — „ . . . quoth the Raven ,Nevermore'". Z u m zweiten wäre zu fragen: welches Instrument hat sich Debussy im Laufe seiner kompositorischen Entwicklung geschmiedet und verfeinert, um mit H i l f e einer neuartigen Technik jene Klangfarben hervorzurufen, die von einem frühen „dessein gounodmassenitesque" (Andr£ Suarez in dem zit. Brief an Romain Rolland) über Berlioz-Wagnersche Einflüsse zu seiner eigenen „icriture musicale", der Pentatonik, geführt haben. So ver-

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suchte Debussy den eigentümlichen Modergeruch in Ushers Palais mittels einer Klangkombination von Oboen und Violinen zu transponieren: „Es handelt sich um den Einfluß, den die Steine auf die Stimmung von Neurasthenikern haben können Man kann ihnen Moderluft -wiedergeben, indem man die schwerer wiegenden Töne mit den harmonischen Tönen der Geigen m i s c h t . . ( D e b u s s y an J . Durand 26. Juni 1909)

Zielte er unter Poes Einfluß auf eine „musique de la peur" — also auf eine Musiksprache, welche die Nerven affiziert, dann bliebe die Frage offen, warum er sich als Antiwagnerianer profiliert hat. Wagners Musik stand ganz im Zeichen des Psychologisierens, was Nietzsche lange vor Thomas Mann gesehen hat: „Wagner est une nevrose", schrieb Nietzsche auf französisch in seinem Pamphlet „Nietzsche contra Wagner", und Thomas Mann hat die Beziehungen aufgedeckt, die den Komponisten des Nibelungenringes mit Sigmund Freud verbinden, dessen psychoanalytische Einsichten in die sexuellen Probleme wie die der Mutterbindung in manchen Szenen etwa des „Siegfried" genial vorausgenommen sind. Solche Dinge kannte Debussy natürlich, aber er gestand sie nicht zu . . . Daß Richard Wagner ein großer Leser und Verehrer Ε. T. A. Hoffmanns war, hätte den Leser und Verehrer Poes eigentlich noch stärker an Wagner binden müssen — und er war auch eine zeitlang gebunden; denn beide Dichterkomponisten standen mit ihrer Neigung zu dem Ungewöhnlichen, dem Dämonischen, dem Grausigen, zu allen Opiaten der Sinne — und dem Ironischen —, unter demselben Gesetz neurotischer Spannungen. Hernach löste sich Debussy von Wagner — er fühlte sich als „musicien frangais". — Erst später erkennt man zuweilen wieder, daß aus getrennten Quellgebieten durch Zusammenfluß neue Formen sich erschließen: Aus der Chromatik des Wagnerschen „Tristan" und aus der Fünftonmusik Debussys entwickelte sich die Atonalität noch zu Lebzeiten des Komponisten des Pelleas. Drittens ließe sich fragen, wie Debussy, der im „Fall of the House of Usher" sein eigener Librettist war, die literarische Kunstform der Novelle in die musikdramatische Gattung eines Theaterstücks verwandelt hat. Das Original ist fast ein Monolog von Roderick Uhers Freund in der 1. Person. Roderick selbst spricht nur selten. Die von ihm geliebte Schwester Lady Madeline hat in der Novelle nur eine stumme Rolle. Die vierte Figur, der Familienarzt, erscheint in einer untergeordneten Rolle. Die dramatische Umformung der Geschichte hat mehrere Versionen. Immer wieder hat Debussy an der Textgestaltung und Musik gearbeitet. Noch am

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4. September 1916 schreibt er darüber an Jacques Durand, und Durand bestätigt, daß Komponist und Textdichter bis in die letzten Monate des Lebens an dem „House of Usher" gearbeitet haben. Im Herbst 1917 wurde es seinem Verleger übergeben. Die letzte Version ist heute in der Dokumentensammlung von Lockspeiser zugänglich. Eine vergleichende Studie des Poeschen Textes, genauer gesagt, der Baudelaireschen Version, könnte aufweisen, daß und warum der Musikdramatiker aus gattungsbedingten Gründen den monologischen Grundcharakter der Novelle in Dialoge transponiert hat. Ein wesentlich dramaturgisches Mittel ist ihm, besonders im Musikdrama, effektvoll anzuwenden, das „Schweigen". Durch eine Briefstelle Debussys veranlaßt, verweist Schaeffer auf Carlyles „Sartor resartus", aus dem Debussy die kommunikative Bedeutung des Schweigens erlesen konnte. Sicher aber hat die Praxis Maeterlincks und dessen Essay über das Schweigen im „Tresor des Humbles" den Musikdramatiker dieses Strukturelement erproben lassen. Das entscheidende Moment dramatischer Umstrukturierung eines Novellenstoffes ist die Materialisierung durch den Schauspieler, den Sänger, das Bühnenbild als Dekor und Stimmungsfaktor, die hörbare Stimme des Singenden oder Sprechenden, die sichtbar auftretende Person in ihrem Kostüm, ihrer Haltung, ihrer Gestik. Wird die Musikskizze zu diesem Libretto, das in der Bibliotheque Nationale aufbewahrt ist, je von einem Orchester hörbar gemacht werden?

KAPITEL V

Die vier Großen des französischen Romans Stendhal Ein Unzeitgemäßer

unter den

(1783—1842) Zeitgenossen

Heinrich Mann sagte von Sorel, dem Helden des Stendhalschen Romans „Le Rouge et le Noir": Wäre er 15 Jahre früher zur Welt gekommen, er wäre ein Offizier unter Napoleon gewesen, und nichts, kein Königreich, nicht die stolzeste Frau wäre ihm unerreichbar gewesen. „Der Zufall entscheidet, ob du dem Abschnitt angehörst, für den du dich geboren weißt." (In: Geist und Tat. Franzosen 1780—1930. Weimar 1946) Generationenschicksal. Das Schicksal Henri Beyles, der sich Stendhal nannte. Man ist nicht ungestraft 20 Jahre alt, wenn eine neue Ära literarischen Geschmacks mit Chateaubriands Genie du Christianisme und Madame de Staels Delphine heraufzieht, d. h. wenn sich eine neue Sensibilität kristallisiert, ein neuer Geist sich einer Generation bemächtigt. Wie aber, so fragt sich Thibaudet zu Beginn seines Stendhal-Kapitels in der Histoire de la Litterature franqaise, wenn ein urwüchsiger Mensch kommt, Henri Beyle, und erklärt, mit dem Chateaubriandschen G£nie (geschweige denn dessen Christentum) und den Romanen Staels oder den lyrischen Ergüssen Lamartines gar nichts anfangen zu können? — ein Mensch, der sich eigensinnig an die Vergangenheit des 18. Jahrhunderts hält, Voltaire liebt und sich zu den Materialisten unter ihren Philosophen, zu Condillac, Ηεΐνέtius, Chamfort, Choderlos de Laclos und gar zu den „Ideologen" der Jahrhundertwende, die sich dem Sensualismus verpflichtet haben, bekennt? — der mit einem Wort die Gegenposition zu seiner eigenen Zeit bezieht, indem er seinen Stil an dem nüchternen Code Napoleon bildet, sein Denken an den Anschauungen der rationalen Aufklärungsphilosophie schult und seine Psychologie an den Meistern der französischen Moralistenliteratur schärft und geschmeidig macht? Wie sollte ein solcher Schriftsteller in seiner Epoche „ankommen"? Die Zeitgenossen lasen ihn nicht, Balzac und Μέπιηέβ als Kenner und Freunde

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ausgenommen. Das breitere gebildete Publikum zog Chateaubriands „Ren£" und „Atala" vor, sog das romantische Gift der Poesie des Weltschmerzes ein, verschlang den „Werther", erhob Lord Byron zu seinem Gott und durchtränkte sich mit dem christlichen und sozialen Lyrismus Lamartines oder Lamennais'. Aber Hippolyte Taine sprach schon 15 Jahre nach Stendhals Tod von ihm als dem „größten Psychologen der modernen Zeit" und charakterisierte die Psychologie des Verfassers des Rouge et Noir als „une psychologie en action". Nietzsche ging auf Taines Spuren. Seitdem gilt noch bis heute Henri Beyle als einer der originellsten und größten unter den französischen Psychologen und Romanciers. Er hat den Reichtum an Erkenntnissen in der Seelenforschung vermehrt, er hat der Sprache neue Valeurs gegeben und hat mit der ästhetischen und philosophischen Redlichkeit in seiner Weise und auf seinem Gebiet der psychologischen Literatur das getan, was Nietzsche, der andere „Unzeitgemäße" in der 2. Hälfte des Jahrhunderts mit der verwandten Haltung seiner Unbestechlichkeit für die psychologische Philosophie vollbrachte. Auch die Politiker von Links und Rechts haben sich noch vor kurzem auf Stendhal berufen. Er wurde zum gemeinsamen Nenner der „intelligentsia franjaise" der vergangenen Generation. Aragon schrieb sein leidenschaftliches „Lumi^re de Stendhal", Paul Morand proklamierte die „Chartreuse de Parme", Roger Vaillant und Pierre Courtade fühlten sich als „stendhalsche Bolschewiken" und Jean Giono stimmte seine Leier auf den Ton Stendhals, als er den „Voyage en Italie", eine Art Anhang zu Beyles „Rome, Naples et Florence", schrieb und andere Themen Stendhals variierte. (Claude Roy, Stendhal et Fourier in Nouv. litt. 3. Aug. 1968) Das bestimmende Ereignis seines Lebens war das Jugenderlebnis Napoleons. Was konnte ihm nach der harten Größe der napoleonischen Zeit die klägliche Restauration, die weichen lyrischen Sentimentalitäten und das mediokre Bürgertum einer an die kirchlichen und plutokratischen Mächte gebundenen Zeit bedeuten? Als junger Mensch trat er in den Dienst des Korsen, folgte ihm auf seinen Heerzügen quer durch Europa, erlebte unmittelbar die epochalen Ereignisse der Zeit, schwamm in dem Strom der Energie, die von Bonaparte ausging. Solange er Napoleon diente, hat er wenig geschrieben. „Die Sicherheit zu handeln", sagt Heinrich Mann in dem zitierten Stendhalaufsatz, „ersetzt vollauf jene andere Illusion, die das Schreiben i s t . . . Ein ganz und gar glückliches Zeitalter hätte keine Literatur." Frau von Stael schrieb, weil sie Napoleon haßte und sie ihn

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aus persönlichen und politischen Gründen bekämpfen mußte. Stendhal fühlte sich „leben" und frei in der Atmosphäre des Conquistadors. Auch als er ihm später seinen Despotismus vorwarf, hat er ihn noch mit seinem Genie entschuldigt. Stendhal sah genau, was vorging und, nach der Formulierung von Heinrich Mann, vorgegangen war: „Der Revolution war vom Kapital die faszistische Wendung gegeben — schon damals; und in jedem späteren Zeitpunkt, sooft das Kapital den Aufschub der demokratischen Verwirklichungen brauchte, was zeigte sidi wieder? Die Affen Napoleons."

Was er an Bonaparte bewunderte, war das Phänomen einer alles überspannenden und zusammenhaltenden Leidenschaft und Klarsicht. Er fühlte sich Napoleon verwandt. Auch war er wie dieser frei von ererbten Vorurteilen, frei von konfessionellen Bindungen, frei von dem moralisierenden Gedanken, die Politik müsse dieser oder jener Ideologie unterworfen sein. Napoleon bedeutete ihm Entfaltung einer reinen Energie ohne einschränkende Sinngebung. Sein Stil verdichtet sich in seiner Korrespondenz, in seinen Tagesbefehlen, in seinem Code civil. Er sagt Befehle, Fakten, Faßbares, und nichts liegt beiden ferner als Schwatzen und Phrasenmachen. Doch deswegen waren beide noch nicht vom „Zeitgeist" der Romantik frei: Romantik lag in dem titanenhaften Überschwang des einen (Napoleon), der den Sturm- und Drang-Roman vom „Werther" siebenmal las; und mit romantischer Melancholie färbte sich der große Liebesabenteuerroman von der „Kartause von Parma", in den der andere (Stendhal) ein wenig von neuromantisch-hofmannsthaler RosenkavalierWehmut gegossen hat. Schließlich vollendete Bonaparte die Französische Revolution, und Stendhal blieb dem Jakobinertum verhaftet; sonst hätte er die Gestalt seines Julien Sorel nicht geschaffen. Wir wissen, daß ihn manches mit dem Sozialisten und Utopisten Fourier verband. Er sah, was in der Fourieristischen Idee der „Association" fruchtbar und zukunftsträchtig war, aber durchschaute zugleich die Gefahren, denen das sozialistische Ideal der „Vergesellschaftung" ausgesetzt war, wenn sich in ihr der Persönlichkeitskult und die Macht der Monopolherrschaft in der sich konzentrierenden Industriegesellschaft durchsetzen w i r d . . . „Ce caractere futur de notre Industrie se montre deja" (Zit. bei Cl. Roy), habe doch Fourier nicht gesehen, daß „in jedem Dorf nur ein aktiver Schurke (un fripon actif) und Schönredner (beau parleur) sich an die Spitze des Association setzen kann — und alles wird pervertiert." *

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Unter allen Werken, so interessant ein jedes in seiner Art sein mag, ragt noch immer neben der „Chartreuse de Parme" und der autobiographischen „Vie de Henri Brulard" der große Roman von 1830 hervor: „Le Rouge et le Noir". Es stimmt traurig, die Zeugnisse seiner Zeitgenossen zu lesen, wie z . B . die Kritiken der Revue de Paris (November 1830), des Journal des Debats (Jules Janin unter dem 26. Dez. 1830), die ironischen Zeilen des Artiste (13. Febr. 1831) oder die Verurteilungen durch die Gazette de France (16. Febr. 1831). Wie verständnislos zeigt sich noch ein Flaubert gegen den Rouge et Noir, während nur Balzac und Taine die Größe des Romanciers erkannt zu haben scheinen. Wie resümiert die Gazette de France das Buch? „Ist der Titel nidit fein kombiniert? Rot und Sdhwarz. Was soll man von der Lithographie auf dem Umschlagdeckel sagen? Eine hübsche Frau hält auf ihrem Gueridon den Kopf eines Guillotinierten, der sie liebevoll betrachtet! Es juckt einem in den Fingern, das Buch aufzuschlagen. Fangen wir von hinten an, um die Ungeduld nidit auf die Folter zu spannen! Der abgeschnittene Kopf gehört einem Jesuiten. Dieser Jesuit hat, wie das die Regel ist, Frauen, Mädchen und seine Wohltäter verführt, deren einzige Schuld darin bestand, ihm zu viel Beweise ihrer Zärtlichkeit gegeben zu haben. Und damit diese Heldentat recht ins Rampenlicht erhoben wird, hat der Autor als Schauplatz einen Tempel Gottes gewählt und als Zeitpunkt der Ausführung des Verbrechens den Augenblick, da der Priester den Gläubigen das Sühneopfer zeigt."

Das ist, in wenigen Worten, der Schluß des Romans. Wie aber kam es dahin, und was ist sein gesellschaftskritischer Hintergrund? Der Untertitel von „Le Rouge et le Noir" heißt: „Chronique du X I X " si^cle". Es handelt sich also um einen aktuellen Stoff in zweifachem Sinne: 1. um den Kriminalfall „Berthet". Berthet hatte auf die Frau seines Brotherrn geschossen und war zum Tod durch die Guillotine verurteilt worden. Das hatte sich wenige Jahre vor der Konzeption des Julien Sorel ereignet. Stendhal sah in dem ehrgeizigen Sohn eines Hufschmieds das Modell seines Helden; einen jungen Mann unteren Standes, der, vielleicht zu Höherem geboren, in die Opposition zu seiner Umwelt geht, und, von Ehrgeiz getrieben, diese bezwingen will. 2. Aktuell ist, abgesehen von der Kriminalgeschichte um Berthet die „Chronik des 19. Jahrhunderts". Das Jahrhundert war 30 Jahre alt; davon gehörten 15 Jahre der Napoleonherrschaft, die anderen 15 der Restauration. Um deren letzte handelt es sich. Der Epoche von 1815—1830 aber fehlte das, was die vorangehende charakterisiert hatte: Energie und Größe. Hätte Julien Sorel unter Napoleon gelebt, wäre er eben General geworden und hätte dem Kaiser die Welt

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erobern helfen. Nun aber mußte er, wie sein Schöpfer Beyle, in der Restauration leben. Seine unterdrückte Kraft wandte sich gegen die bestehende, restaurativ eingesetzte Ordnung. Sorel ist ehrgeizig. Um sich durchzusetzen, schließt er den Bund mit der an der Macht befindlichen Priesterschaft, ohne an die Religion zu glauben, nur weil er als Bürgerlicher über diese Institution auf die erstrebten hohen Stellungen gelangen kann. Würden wir das „und" des Titels durch ein „oder" ersetzen: le rouge on le noir, schiene der Roman auf ein Würfelspiel zu deuten; — ist nicht unser Leben ein Spiel, eine Wette? Wir spielen auf Glück oder Unglück, auf Erfolg oder Scheitern, auf Reichtum oder Armut. Von wie wenigen Zufällen hängt es ab, ob wir im Schatten oder im Lichte stehen! Sind die Würfel gefallen, müssen wir normalerweise unser Schicksal weiterleben. Dem Romancier ist es jedoch gestattet, für seine imaginären Personen Schicksal zu spielen. Er läßt sie das tun, was er selbst nicht tat oder tun konnte. Das Bild einer einzigen Persönlichkeit, Julien Sorel, eines Ausnahmemenschen, wird zum Fresko eines Gesellschaftsbildes. Der vorhergehende Roman „Armance" hatte als Untertitel „Quelques scenes d'un salon en 1827"; „Le Rouge et le Noir" aber ist eine „Chronique de 1830". Das ganze Frankreich von 1830 ist gemeint, die Provinz und Paris. Frankreichs Energien speisen sich nadi Stendhals Meinung immer wieder aus der Provinz. Auch Sorel, wie Stendhal, ist aus der Provinz. Warum konnte er nicht vom Soldaten über die Grade eines Leutnants und eines Obersten zum General aufsteigen und am Ende gar Comte de Sorel werden? Weil die Ära Napoleon vorüber war. Jetzt mußte er statt die Seite Rouge die Seite Noir wählen, also statt der Militärkarriere die Priesterkarriere. Aber die Partei der Schwarzen, die reaktionäre Ordnung, wird in dem Roman gerichtet. Das Buch ist eine der heftigsten Anklagen, die je gegen eine Zeit sozialer Mißstände erhoben wurde. Julien muß ein Doppelleben führen: frei nach innen, wohin niemand schauen kann (nur die Frauen ahnen, wer er „eigentlich" ist), gebunden nach außen, da er sich zum Schutz die Masken anlegt, deren er jeweils bedarf. Der Ungläubige setzt die Maske des Gläubigen auf. Nur hübsch in Reih' und Glied bleiben, audi wenn man seinen Zeitgenossen „überlegen", ein „esprit supirieur" ist. In Reih* und Glied, das ist die Welt der Kirche, das sind die Abbes und die Seminaristen; das ist der Bischof von A g d e . . . Dann wird Sorel Hauslehrer bei dem Bürgermeister von νβΓπέΓββ, Μ. de Renal. Das ist die Provinzgesellschaft, die Welt des reich gewordenen Bürgertums und Grundbesitzes — und es ist für Sorel die Welt der schönen Madame de

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Renal, die er liebt, er, der nicht schön ist und sozial gesehen nur ihr Domestik. H a ß und Liebe durchdringen sich in dem Inferioritätskomplex, der eine gefährliche Nahrung für sein „ressentiment" wird. Das „Sentiment d'inf£riorit£" — das Wort steht bei Stendhal — wird zum Stachel seiner Handlungen in der berühmten Szene der Handberührung. Sorel will die Gattin seines Brotherrn erobern: er, der einfache Sohn aus dem Volk wird sie erobern, sie, die eines Abends bei der ersten, flüchtigen Berührung ihre H a n d zurückgezogen hat. Er aber setzt, nachdem er zuvor im Memorial de Sainte-Helene gelesen hat, die Attacke auf den nächsten Abend um 10 Uhr an. Er hatte das Nahziel erreicht. Das Fernziel, die Einnahme der Festung, ist nur noch eine Folge dieses seines ersten Sieges. Während aber Madame Renal das höchste Glück in ihrer Hingabe findet, weil sie spontan einem liebenden Herzen entströmt, vergiftet Sorel sein Glück, weil die Eroberung der geliebten Frau nicht dem Zwang seiner Liebe entspricht, sondern in seinem Willen zur Macht ihr voluntaristisches Motiv h a t . . . D a n n folgen die Erfahrungen im Priesterseminar: Tiefe Demütigung durch totale Unterwerfung unter die Regeln; Aufgabe der Freiheit des unabhängigen, eigenen Denkens: Er ist gezwungen, sich eine neue Maske aufzusetzen, die der Unterwürfigkeit und der L ü g e . . . So kommt er nach Paris, der dritten Station seines Werdegangs. Er wird Erzieher in der Adelsfamilie de la Mole. Eine neue ihm ungemäße Welt, der Adel — als Kaste ebenso in Reaktion gegen die Revolution wie gegen den neuen, reich gewordenen Bürgerstand. In diesen Adelshäusern herrschen Langeweile, überlebte Ehrbegriffe, kastenbegründete Überheblichkeit. Aber Mathilde de la Mole, die Tochter des Hauses, hat noch das alte Blut der einst so stolzen, freien, souveränen Aristokraten in sich. Sie versteht den jungen Mann aus dem Plebejerstand. Sie ist ihm ebenbürtig wie er ihr; aber beide sind durch Abgründe der Gesellschaftsklassen voneinander g e t r e n n t . . . Er liebt sie, und sie wittert in ihm den Mann, der sie über die Leere und Langeweile des Salonlebens erheben kann. Beide wagen das Letzte in einem Abenteuer, dessen Motive sich wohl berühren; aber ihr Seinsgrund ist so verschieden wie die Welt eines stolzen, hochstehenden Mädchens, gewohnt, daß man ihr dient, und die Welt eines Plebejers, der nach Macht und Herrschaft strebt. Die Liebe ist hier Kampf, grausamer Kampf, der den andern reizt, verletzt, aufpeitscht und wieder versöhnt. Die kühle und doch leidenschaftliche Mathilde läßt sich zu noch ungekannten Erfahrungen der Liebe hinreißen. Verachtung und Bewunderung, H a ß und Liebe entgrenzen sich. Eine Szene von romantischer Melodramatik spielt sich ab;

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und dennoch ist sie bis in das Detail der Worte und Gesten wirklichkeitsnah: „Ihr liebt mich also nicht mehr?" — „Mich schaudert's, wenn idi daran denke, daß ich mich dem ersten besten geschenkt habe", sagte Mathilde, und weinte vor Wut über sich selbst. — „Dem ersten besten", schrie Julien, und warf sich auf ein altes Schwert, das da mittelalterlich in der Bibliothek hing." Es ist immerhin von theatralischer Komik, wie Julien mit einiger Mühe das rostige Schwert aus der Scheide zieht, um Mathilde zu töten — aber Julien-Stendhal merkt es zu unserer Beruhigung sofort, wenigstens sieht er es so für einen Augenblick in seiner Vorstellung... „eile va eclater de rire ä la vue de ce mouvement de melodrame..." Und mit leiser Ironie bemerkt der Autor, daß Mathilde in „die schönsten Jahre der Zeit Karls IX. und Heinrich III." versetzt war, wo die Frauen noch so geliebt wurden, daß die Geliebten sie töteten. Sie schaute ihn groß an; noch nie war sie so verführerisch wie in diesem Augenblick. Das Schicksal nimmt seinen Lauf. Mathilde erreicht von ihrem Vater, daß er in die Ehe seiner Tochter mit Julien einwilligt. Aber M. de la Mole zieht Erkundigungen über seinen zukünftigen Schwiegersohn ein und erfährt durch einen Brief der Madame Renal, was für ein Vorleben der Bewerber geführt hat. Julien verläßt Mathilde, begibt sich nach Verri£res, und was folgte, haben wir aus dem Bericht der Gazette de France gehört: Mordversuch an Madame RSnal in der Kirche, Verhör vor dem Richter, das in der Anklage Sorels gegen die Gesellschaft gipfelt „Messieurs, je n'ai point l'honneur d'appartenir a votre classe, vous voyez en moi un paysan qui s'est τένοΐΐέ contre la bassesse de la fortune." Er wird zum Tode verurteilt. Aber in den Tagen vor seiner Hinrichtung, da Madame de R£nal ihn besucht, wird ihm bewußt, daß die einzige, echte Liebe für ihn eben diese Frau war, gegen die sich der Schuß gerichtet hatte. In keiner Periode seines Lebens hat Julien solche Momente des Glücks erfahren wie jetzt, da er um ihre und seine Liebe weiß, da er nicht mehr aus Ehrgeiz oder Machtwillen, aus sozialer Demütigung oder sonst wie gearteten Gründen diese Liebe selbstmörderisch zu zerstören braucht, da alles im Anblick des Todes gereinigt i s t . . . Julien wird mit stoischem Gleichmut, und das heißt zugleich mit der Verachtung der Welt und mit der Erkenntnis der fundamentalen Wertlosigkeit seiner eigenen Epoche das Schafott besteigen. Nur die Gewißheit der Liebe trägt er mit sich. Er will aber auf seinem letzten Gang noch Haltung zeigen, wird also noch einmal, ein letztes Mal, vor der Welt eine Maske aufsetzen, die Maske der stoischen „ i m p a s s i b i ^ " .

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— Dem Leser bleibt der Eindruck einer furchtbaren Fatalität, die über den Romangestalten und nicht weniger über der Geschichte jener Zeit schwebt. Der Autor des Romans will nichts „erklären"; er bietet keine Lösungen an, er macht nur die Situation der Menschen in der Welt und Gesellschaft sichtbar: Die Religion weist auf keine Auswege mehr, die Politik ist erbärmlich, die Gesellschaft verlogen, die Größe des Menschen in solcher Zeit zur Ohnmacht verurteilt. So begann das 19. Jahrhundert nach dem Sturz Napoleons, da niemand mehr in der Lage war, die Umwelt nach dem Maßstab menschlicher Genialität zu gestalten. Das Gefühl der Ohnmacht radikalisierte sich, und Nietzsche, der Verehrer Stendhals, wurde ihr zweiter Verkünder in der 2. Jahrhunderthälfte. E r sah wie Stendhal die Schwäche unserer okzidentalen demokratischen Gesellschaft und blickte nach Rußland, wo er die Zukunft weltgeschichtlicher Größe zu vernehmen meinte. Inzwischen war in Rußland Dostojewskis Stern aufgegangen. Mit der Ära Dostojewski wuchs audi wieder das Interesse an Stendhal. Es sei nur daran erinnert, daß die russische Literatur durch Stendhals Freund Μέπηιέε in das Blickfeld der Franzosen gerückt wurde.

Balzac Eine Statue des 19.

(1799—1850)

Jahrhunderts

Der „Avant-Propos" zu seiner „Comedie humaine" vom Juli 1842 enthält alle wesentlichen Hinweise auf den Plan des gigantischen Unternehmens, seinen Ursprung, seine Bedeutung. Eine vierbändige, mehrere tausend Seiten umfassende Korrespondenz ergänzt das Bild. Von dieser Warte aus läßt sich ein Verständnis des Balzacschen CEuvre gewinnen. Balzac wollte vollbringen, was er auf die Degenscheide seiner Napoleonstatue geschrieben hat: „Was er mit dem Degen nicht hat durchführen können, werde ich mit der Feder vollenden." ΗοηοΓέ de Balzac. Seine Herrschaft währte 100 Jahre. Erst in den letzten Jahrzehnten, da eine Gruppe neuer Romanciers ihre Angriffe auch gegen Balzac vorträgt, scheint er von seinem Sockel herabzusteigen; doch noch immer besitzt sein Werk eine Strahlungskraft von besonderer Art. Wer war dieser Balzac, der auszog, die Welt zu erobern? Ein Phänomen an Willenskraft und Energie — ein creator mundi, der in dem permanenten Spannungszustand seines Willens, seines Gehirns, seiner Sensibilität Werk um Werk schuf, um in dem Zyklus seiner etwa 90 Romane und Novellen die französische Gesellschaft seiner Zeit darzustellen, und

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Mönch, Franz. K u l t u r

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mehr als das: den Mythus dieser Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu schaffen. Damit ist gesagt, daß er Soziologe, engagierter Schriftsteller und Künstler war. Er lebte in einer Zeitenwende. 1799, im Jahre des Staatsstreiches Bonapartes geboren, wuchs er in der Kaiserzeit Napoleons heran, schrieb sein Werk in der Restauration, der Epoche des brutalen, wirtschaftlichen Existenzkampfes der aufsteigenden Bourgeoisie, und starb 1850, als ganz Europa von einer neuen Welle der Revolution erfaßt worden war, zwei Jahre nach Marx' und Engels Kommunistischem Manifest, und am Vorabend des Staatsstreiches von Louis Napoleon (1851). Daß dieser hellsichtige Kopf an der Schwelle der demokratischen Ära Europas sich zu den politischen und religiösen Gedanken eines Bossuet, de Bonald und de Maistre bekannte, also zu den reaktionären monarchistisch-katholischen Ordnungsformen des gesellschaftlichen Lebens, setzt zunächst in Erstaunen; schon in seinem Äußeren erscheint er eher wie ein Mann des Volkes als ein alter Aristokrat. Man muß sich indessen vergegenwärtigen, daß seine Äußerungen gegen die Demokratie und den Sozialismus sich nicht nur aus der Gedankenwelt jener Adelsschichten speisen, zu denen er hochblickte — der Madame de Berny, „la dilecta", der Adelsklasse des Faubourg Saint-Germain, der Marquise de Castries, der Madame Eveline Hanska aus ältestem polnischen Adel —, sondern daß dieser Zug zu einem Elite-Ideal sich auch aus dem Superioritätsgefühl eines die Masse überragenden Menschen erklärt. Balzac war durchaus kein frühreifer Junge, aber ein großer Leser juristischer, philosophischer, historischer, naturwissenschaftlicher, theologischer Literatur. Die Schriftsteller-Laufbahn schien ihm wie ein Priestertum, darin dachte er wie Victor Hugo. Er wagte das freie Leben eines Ecrivain, weil er seiner Berufung folgen mußte. Hatte er nicht Vorbilder? Tacitus, Calvin, Voltaire, Rousseau, Chateaubriand, Constant, Madame de Stael? Er zählt sie auf. Kann ein Schriftsteller nicht einem Staatsmann ebenbürtig werden? „ . . . et, peut-etre, sup&ieur ϊ. l'homme d'Etat"? . . . und er nennt Schriftsteller, denen Politik ethisches Anliegen war: Machiavelli, Hobbes, Bossuet, Leibniz, Kant, Montesquieu . . . So groß also kann man werden! Dafür ist kein Preis zu hoch. Aber seine Familie hielt ihn knapp. Er verbrachte 4 Jahre lang in einer Dachstube, stand um Mitternacht auf, bewältigte hinter geschlossenen Fensterläden eine Tagesration von 18 Arbeitsstunden, in einen Dominikanermantel gehüllt — in scheinbar mönchischer Einfachheit, und dennoch von einem Bedürfnis nach Luxus

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bedrängt. Er trug, wie uns Taine berichtet, um seinen Leib einen Gürtel von venezianischem Gold, an den Füßen Pantoffeln von rotem, goldbordiertem Maroquin und sammelte wertvolle Bücher, altertümliche Stühle, kunstvolle Rahmen, ausgewählte Gemälde, Meißner Porzellan, kostbare Tapeten. Sein ganzes Leben hindurch lebte er über seine Verhältnisse, unrealistisch, unwirtschaftlich, romantisch. Ein Phantast: Um unabhängig zu werden, stürzt er sich in Unternehmungen, die am Ende fehlschlugen. Sein erster Versuch, durch eine Druckerei und Schriftgießerei zu Geld zu kommen, wurde ein d έ s a s t r e . . . Aber da liegen doch auf Sardinien noch einige Schlacken Silber in den von den Römern benutzten Minen. Andere Ausbeuter kommen ihm zuvor. Dann glaubt er, ein Patent f ü r neuartige Herstellung von Papier erwerben zu können. Er experimentiert. Das Ergebnis sind weitere Schulden. Sie belaufen sich alsbald insgesamt auf etwa 100 000 Francs. Um diesen Berg abzutragen, mußte er das Leben über wie eine Dampfmaschine arbeiten. Als er es endlich geschafft hatte, sein Glück in den Armen der begehrten und geliebten Frau Hanska zu genießen, foderte die Natur, die e r überiordert hatte, ihr Recht zurück: das Triebwerk zerbrach. Sein Werk verblüfft zunächst durch den unermeßlichen Reichtum an beobachteter Welt. Beobachtungsgabe und Gedächtnis erscheinen überdimensioniert. Er selbst wußte es, vergleicht seine Einbildungskraft einem Spiegel, der stets jungfräulich, unberührt ist, eben ein Spiegel, den keines der von ihm reflektierten Bilder trübt. Dieser Spiegel war sein Hirn, das durch die Oberfläche der Dinge hindurch ein zweites Gesicht wahrnahm. Man kann bei Balzac von einer Allgegenwart des jemals Erschauten sprechen. „Bei mir verjährt nichts. Alles, was mich je bewegte, ist wie von gestern." Alles Sehbare, Faßbare, Riedlbare, Schmeckbare, Hörbare lag in einem ungeheuren Gedächtnis aufbewahrt und stand ihm als Wirklichkeitsmasse f ü r die Arbeit an den Romanen zur Verfügung. Jedes Detail der aufgespeicherten Realität hatte seine Bedeutung, und jedes vermochte er mit jedem zu verknüpfen. Dazu gehörte die Kraft visionärer Phantasie. Sie vor allem hat Baudelaire an Balzac hervorgehoben. Es wunderte ihn, daß just die Beobachtungsgabe als Balzacs größter Ruhmestitel angesprochen wurde . . . „Mir hat es immer geschienen, daß sein hauptsächliches Verdienst das Visionäre war; er war ein leidenschaftlicher Visionär." Baudelaire hat damit auf das spezifische Künstlerwesen Balzacs hingewiesen und ist dem Urteil Thiophile Gautiers nahe gekommen, in dessen ausgezeichneten Seiten über Balzac zu lesen steht: „Balzac f u t un voyant." 32»

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Das dritte Charakteristikum ist sein Ehrgeiz, durch ein intuitives u n d analytisches Verfahren in die platonische Ideenschicht aller Weltund Menschheitserscheinungen vorzudringen. Staat, Gesellschaft, Religion, Wirtschaft, P o l i t i k . . . alle Wissensbereiche, alle sinnlichen, geistigen, moralischen Phänomene wie Liebe, Leidenschaft, Philosophie, Kunst werden von seinem Geist umgriffen, befragt, durchforscht, verknüpft, — und nicht anders als Schellings Bemühen mutet uns das Balzacsche an: die Riesenklammer um die Welt des Geistes und der Materie zu legen. „Die erste Idee der Comedie humaineschreibt er im Avant-propos, „war •wie ein Traum, wie eins jener unmöglichen Vorhaben, das wir umschmeicheln und dann entgleisen lassen." „Aber", so fährt er fort, „die Chimäre verwandelt sich in Wirklichkeit. Sie beherrscht uns und übt ihre Tyrannei über uns aus, und wir müssen nachgeben." Den Plan, ein zyklisches Werk aufzubauen, wird in dem Sammeltitel der 1834 und 1835 erscheinenden 4 Bände Etudes de mceurs au dix-neuvieme siecle sichtbar. Neben diesen Sittenstudien schrieb er vor und nach diesem Datum philosophische Romane und Erzählungen, die er als Etudes philosophiques 1840 herausbrachte. Als er ein Jahr später eine erste Gesamtausgabe seiner Werke veranstaltete, war der Titel da: La Comedie humaine. Man kann bei dem Wort „con^die" ebenso an Lafontaines Fabelwerk der „con^die ä cent actes divers", an das in Tierverkleidung dargestellte Gesellschaftsbild Frankreichs, denken wie auch an Vignys „Je sens passer sur moi la com£die humaine" aus der „Maison de Berger". Aber näher liegt bei dem Dante-Kenner Balzac der Gedanke an die „Divina Commedia": Die diesseitige Welt der Balzacschen Comedie wäre dann das moderne Gegenstück zu den Jenseitsreichen der Commedia des mittelalterlichen Dante. Das Gesamtwerk gliedert sich in drei Hauptteile: die Etudes de mceurs, die Etudes philosophiques und die Etudes analytiques. So wie bei Dantes epischem Gedicht sich unser Hauptinteresse auf das Inferno richtet, — sofern wir nicht als Dantespezialisten an den Schönheiten des Purgatorio und des Paradiso unser künstlerisches Vergnügen oder religiöse Erbauung finden, — so vernachlässigen wir bei Balzac zumeist die philosophischen, mystischen Studien, — sofern wir nicht als Kenner platonisch-plotinischer Metaphysik und swedenborgscher Mystik gerade diesem Teil seines Werkes unsere Aufmerksamkeit schenken. Die Hölle hat die Eigenart, uns Menschen anzuziehen — und einige Figuren der Sitten-Etüden sind Aus-

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geburten der Hölle, daß es uns bei der Berührung mit ihnen schaudert. Andere holt der moderne Dante wie scheußliches Geschmeiß aus den Kloaken von Paris ans Licht, Leute wie Cobot, R&nonencq, M me Nourrisson, F r a i s i e r . . . ein ganzes Naturalienkabinett, das er mit den giftigsten, abscheulichsten Gestalten der Unterwelt ausstaffiert. Ihn interessieren die seltsamen, kranken, verworfenen Geschöpfe; er läßt sie in dem Schlamm der Großstadt wimmeln und zappeln, dringt in die Existenzweise der Spieler, Kupplerinnen, Wucherer, Mörder, Spione und aller Arten von Gaunern und Schuften ein, stellt eine faszinierende Galerie von Abnormitäten vor uns auf, eine Verbrecherserie von sexualpathologischen und — kriminellen Fällen, die wir in unverkennbarer Nachbarschaft der Bas-fonds der Sueschen Romanwelt und anderer Produkte der „Infra-Literatur" beobachten. Balzacs Typen aber sind so eigentümlich lebendig und ihre Handlungen so ganz aus ihrem Wesen und Dasein selbst in sich konsequent entworfen, daß wir von ihrer Lebensechtheit gepackt sind und eigentlich vergessen, daß ihr Schöpfer Typologie treibt, wie es der Naturwissenschaftler seiner Zeit verlangte. Mit der Umkehrung des Taineschen Gedankens, daß ein „Naturalienkabinett keine Kunstsammlung ist" (in einer Balzac-Studie), möchten wir sagen, daß Balzacs exzentrische Exemplare durch seinen doppelten methodischen Handgriff, nämlich seine naturwissenschaftlich-anatomische Methode und seine surrealistisch-dichterische Vision der Realität eben in dem Leichensaal des Anatomen durch seine Künstlerhand zu vollem Leben erweckt worden sind. Gleich zu Beginn fällt ein Satz des Avant-propos auf: Als Balzac vom Streit zwischen Cuvier und Geoffroi Saint-Hilaire spricht, welch letzteren er sehr bewundert, sagt er, daß die Gesellschaft der Natur ähnele, er meint dem Tierreich: „La Societe ne fait-elle pas de l'homme, suivant les milieux ou son action se d^ploie, autant d'hommes diff^rents qu'il y a de v a r i c e s en Zoologie?"

Er bekennt, daß die Idee seiner Con^die humaine sich an einem Vergleich zwischen der Tier- und Menschenwelt, der „comparaison entre l'Humanite et l'Animaliti" entzündet hat. Er sieht die Welt als Biologe und Moralist, als Naturwissenschaftler und Soziologe. Es wird seine Aufgabe sein, die Besonderheiten der zoologischen Arten (esp£ces zoologiques) mit denen der sozialen Arten (esp£ces sociales) in Beziehung zu setzen. Zum Naturwissenschaftler und Moralisten gesellt sich der Soziologe. Warum sollte er nicht der Buff on des 19. Jahrhunderts werden? . . . „une

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ceuvre de ce genre k faire pour la societe"? Wie zwischen dem Löwen, dem Wolf, dem Esel, dem Raben, dem Haifisch, dem Schaf usw. so gibt es freilich schwerer zu fassende Unterschiede zwischen den Berufen, Ständen, Klassen, zu denen jeweils die Arbeiter, Soldaten, Anwälte, Gelehrte, Müßiggänger, Dichter, Kaufleute, Politiker, Geistliche, Banquiers, Dirnen und Kurtisanen gehören. Balzac zieht also audi die Frauenwelt in seinen gesellschafts-zoologischen Garten hinein. Sehr mit Bedacht; denn durch die Spezies der Frau wird die menschliche Gesellschaft differenzierter und interessanter. Dazu kommt noch zweierlei ins Spiel, erstens, was Balzac den „hasard" nennt, das Unberechenbare, wodurch gerade in der freien Schöpfung des Romans die Besonderheit der individuellen Erscheinung und ihres Schicksals sich behauptet; zweitens ist der Mensch nicht nur ein Stück Natur, sondern immer auch ein Stück menschlicher Gesellschaft; und die Gesellschaft ist nicht nur ein soziales Menschheitsgebilde, sondern immer auch ein Stück Natur. Von hier ist das erkenntnisschwere Wort Balzacs zu verstehen: „L'Etat Social a des hasards que ne se permet pas la Nature, car il est la Nature plus la Societe." — „Der Gesellschaftszustand hat Zufälle, welche sich die Natur nicht gestattet; denn er ist Natur plus Gesellschaft." (Avant-propos) Es fällt auf, daß mit den Namen Cuvier und Geoffroi Saint-Hilaire, Vertretern aktueller Naturwissenschaft, auf derselben Seite mystische Denker wie Swedenborg, Saint-Martin und später Leuwenhoec, Swammerdam, Spallanzani, Reaumur, Haller u. a. angesprochen werden. Balzac war Kind einer Zeit, in der die Menschen sich von dem Phänomen des Magnetismus verzaubern ließen. Die 3 Philosophischen Etüden: „Les Proscrits" (1831), „Louis Lambert" (1832), „Seraphita" (1833) bekunden, wie ernsthaft Balzac sich um die Prinzipien seines philosophischen Weltbildes bemüht hat. In den „Proscrits" erzählt er eine Episode aus Dantes angeblichem Aufenthalt in Paris. Wir wohnen einer Vorlesung des Mystikers Siger von Brabant bei. Seine Darlegungen von dem unendlichen Kreislauf der Schöpfung von Gott zu den Kreaturen und von den Kreaturen zu Gott zurück, machte auf Dante, der sich erst später zu erkennen gab, einen tiefen Eindruck. Die Erzählung ist sensationell aufgemacht, unkünstlerisch, aber interessant als ein früher Ausdruck der spekulativen Alleinheitslehre, wie sie weiter im „Louis Lambert" ausgeführt wird. Mit 14 Jahren zählt Louis Lambert bereits zu den Gelehrten. Mit einem Akt der Innenschau — „je rentre en moi-meme", beginnt das

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Drama mystischen Erkennens. Lambert begegnet Madame de Stael, liest ihre Auslegungen von Kant, Fichte, Schelling, Hegel, macht sich mit der Naturwissenschaft seiner Zeit vertraut, berauscht sich an den Arbeiten Mesmers, Lavaters, Galls, und versucht, in das Phänomen der Synästhesien zu dringen. Er studiert die Weltliteraturen und sieht in dem Schrifttum der Inder, Hebräer und Griechen den geistigen Gesamtschatz der Menschheit. In der Liebe zu einer Frau, Pauline Salomon, einer reichen und schönen Jüdin, die ihm wie ein Engel aus der Welt Swedenborgs erscheint, offenbart sich ihm der Zusammenhang der Weltreligionen, die er als Entfaltungen einer Urreligion erkennen will. Mit einem Blick überschaut er den monde materiel und den monde spirituel in ihrer „ramification originelle et consequentielle". Religionen und Weltanschauungen orientalisch-gnostischen und mystischen Ursprungs taumeln durcheinander und verschwimmen in einer Alleinheitslehre, in welcher der Poeta-Vates die beiden Prinzipien, um die sein Denken kreist: Spiritualismus und Materialismus, in dem System des εν και παν zusammenschmelzen will. Der dritte Roman der Serie „Seraphita" ist ganz mit swedenborgschen Themen komponiert. Im Mittelpunkt der Begebenheiten steht die mysteriöse Geschichte eines seltsamen Wesens, 5έΓ8ρ1ιίηΐ8-5έ^ρ1ιϊια. Es erscheint dem einen als Mann, dem andern als Mädchen, ein engelgleiches Wesen, aus dessen Munde die beiden Liebenden, Minna und Wilfried, eine vollständige Erklärung des swedenborgschen Systems der „Arcana coelestia" erfahren. Der mystische Grundgedanke ist in dem Satz zusammengefaßt: „Tout est U N comme Dieu." Damit kongruiert der andere Gedanke: „La science est une et vous l'avez partagee". Des Menschen höchstes Streben ist sein Wille zur tinio mystica mit Gott. Seraphita ist Balzacs religiöses Bekenntnisbuch: „Der Swedenborgianismus", schreibt er Frau von Hanska am 31. Mai 1837, „ist meine Religion." Das mystische Weltbild der Balzacschen Romane der „Etudes philosophiques" erscheint wie eine Renaissance des antiken Gnostizismus, der schon in den eigenen Anfängen ein buntes Bild orientalischer und griechischer Motive darbietet. Er hat besonders in Frankreich seit dem 18. Jahrhundert als magische Welt- und Überweltvorstellung groteske Blüten getrieben. Bei der Abfassung seiner philosophischen Romanserie schwebte dem Schriftsteller als Ziel vor, „die Poesie dieser Mystik dem Ruhmeskranz der französischen Literatur einzuflechten." Die Helden in den eben dargestellten Romanen — denen man noch die „Recherche de l'Absolu" hinzufügen muß — suchen nach der verborgenen Urweisheit als der Quelle

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aller Weltreligionen; sie sind von dem gnostischen Streben erfüllt, hinter der Mannigfaltigkeit und Vielheit der Erscheinungen die Einheit zu sehen. „L'univers est done la vari£t£ dans l'unit£. La fin est le retour de toutes choses k l'unite, qui est Dieu", schreibt Louis Lambert nieder. So auch ist die Auffindung der allem Geschaffenen gemeinsamen Ursubstanz, mit einem Wort des „Absoluten", für Balthasar Claes aus der „Recherche de PAbsolu", sowohl der naturwissenschaftliche Sinn seiner chemischen Analysen als auch der metaphysische Sinn seiner religiösen Spekulationen. In diesem Weltbild steht jedes Detail mit dem Ganzen, das Ganze mit jedem Detail in Verbindung. Darum bedient sich Balzacs Sprache vor allem der Metapher; denn diese rhetorische Figur ermöglicht es, daß eine Sache für eine andere — nach dem Gesetz der Analogie — vergleichend eingesetzt werden kann. Balzac war kein Philosoph; aber sein philosophisches Sehen, das ein Erschauen von Zusammenhängen war, hatte das Intuitive eines Dichters. Von daher führt eine Linie zu den Symbolisten, welche die Neigung, geheime Entsprechungen zwischen der Welt der Realitäten und der Überwelt zu enthüllen, weiter getrieben haben. Von dort, über Rimbaud, geht dann folgerichtig der Weg zu den Surrealisten des 20. Jahrhunderts. *

Wie aber kommt es, daß Balzac uns weniger ein Vorläufer dieser Linie der französischen Literatur dünkt als vielmehr ein Wegbereiter des Realismus und Naturalismus? Wir sprachen von seiner Beobachtungsgabe, die, wie sein Gedächtnis, ans Wunderbare grenzte. Er beobachtete als Anatom, Physiologe und Psychologe Gestalt und Leben der mannigfaltigen Menschengattung. Er kündigte im Avant-propos seine Absicht an, eine Naturgeschichte des Menschen zu schreiben. Ein Naturforscher aber kümmert sich nicht grundsätzlich um Schönheit, übersinnliche Bedeutung der Gegenstände, sondern er seziert, wie Taine in seinem Balzac-Essay sagte, ebenso gern eine Seespinne wie einen Elephanten, und analysiert ebenso gern einen Portier wie einen Minister. In seinen Augen gilt eine Kröte soviel wie ein Schmetterling, und eine Fledermaus interessiert ihn vielleicht mehr als eine Nachtigall. Audi Balzac beschrieb die Dinge wie sie sind, ohne zu verschönern oder zu verhüllen. Entscheidend war der Zeitpunkt, an dem Balzac seine Comedie humaine abfaßte. Die französische Gesellschaft war seit der Großen Revolution nicht stehen geblieben. Balzac erlebte als Dreißigjähriger die JuliRevolution; er beobachtete mit unbestechlichem Blick den Wirtschafts-

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kämpf, eine epische „ru£e vers 1'or", und erkannte, daß Geld die Triebkraft des modernen Lebens geworden war. Wäre nur die Umsetzung dieser Erkenntnis in sein Romanwerk sein einziger literarischer Ruhmestitel, er müßte als Gründer und Vollender des sozialen Realismus gefeiert werden. Gewiß, Balzac hat sich als gläubiger Katholik bekannt; aber das hinderte ihn nicht an der Erkenntnis, daß seine Zeit einem andern, uralten Gotte huldigte: dem Mammon. Sein eigenes Leben ist der Tyrannei dieses Gottes ausgesetzt gewesen. Es kränkte ihn, daß Eugene Sue für seine „Myst^res de Paris" und seinen „Juif-errant" 310 000 Franken kassierte, während es sich für ihn darum handelte, 120 000 Franken Schulden zu begleichen! „Und wenn ich diesen Leierkastentriumphator — (er meint Paul de Kode, den literarischen Großverdiener) — audi um nichts beneide, so müssen Sie mir doch erlauben, bedauerlich zu finden, daß man ihm für seine Bände 10.000 Franken bezahlt, während ich für die meinen nur 3.000 bekomme." (Brief vom Sept 1844 an Hanska)

Balzac beobachtete mit dem geschärften Auge eines von Geldnot heimgesuchten Schriftstellers die brutale Herrschaft des neuen Messias. Das große Ereignis der Neuzeit war nicht allein die Revolution von 1789, sondern der Untergang der Naturalwirtschaft und die Machtergreifung durch den Bourgeois, der die Grundbesitzer als Kaste ablöste und den gesunden, natürlichen Erwerbstrieb des Menschen bis zum Paroxysmus der Geldgier hypotrophierte. Das Geld nivellierte die Seelen im Tanz um das goldene Kalb. Geld, das jedermann, wenn er die Begabung dazu hatte, erwerben konnte, war das demokratische Vehikel für jede Art sozialen Aufstiegs; denn es konnte ohne Ansehen des Standes und der Bildung erworben werden. Neue Denkformen gewannen Macht. Wir erkennen sie im naturwissenschaftlichen Forschen wie auch in der neuartigen Geldwirtschaft. Intuitiv hat Balzac solche Zusammenhänge erfaßt. Zwischen dem plutokratischen Regime der damaligen Gesellschaft und der aufkommenden Lehre von der Erhaltung der Energie ist eine Verwandtschaft unverkennbar, worauf Friedeil hingewiesen hat. Licht, Elektrizität, Magnetismus, Phänomene, für die sich Balzac, wie wir sahen, leidenschaftlich interessierte, sind nur verschiedene Formen einer und derselben Lebensenergie. Auch Schopenhauer war in seiner Willensmetaphysik zu jener Zeit auf der Suche nach dieser Lebensenergie. Qualitäten werden, naturwissenschaftlich gesehen, zu Quantitäten. Bezieht man diese Formel auf die vom Gelddenken beherrschte Gesellschaft, so ergibt sich, daß alle Werte durch Geld ausdrückbar sind: der Reichste gilt als der Glücklichste, der Ärmste

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als der Elendeste; das Schicksal der Menschen, ihr Glück, ihr Leid, ihr Aufstieg und ihr Fall, alles das ist dann nur Formwandel der urtümlichen Geldkraft. Wenn das Metaphysische aus der Rechnung gestrichen wird und Gott keinen Platz mehr in der Welt hat, dann bleibt ein Realismus und Naturalismus übrig, wie sie der Schöpfer der Sittenstudien analysiert hat. Balzacs großartigstes Exemplum ist der weltberühmte Roman um „Eugenie Grandet". Der Vater Grandel betet das Geld an, weil es wie eine Gottheit anbetungswürdig ist. Mit dem alten Grandet verglichen, ist Molieres Harpagon aus dem „Avare" ein lächerliches Geschöpf, über das wir lachen können, ein niedriger Geizhals als reicher Bürger, ein Wucherer, der Lichtstumpfe sammelt und mit Essen spart, dessen Sohn sich in Schulden verstrickt, der sein Geld versteckt, der galant sein und sich verheiraten will, indessen ihm sein Geld und seine Geliebte genommen und er selbst zum Narren wird. Aber Balzacs Harpagon, der alte Grandet, ist tragisch in seiner Dämonie. Er ist ein Herrscher in seinem Reich. Vor ihm zittern seine Leute, seine Familie, seine Freunde. Seine kräftige Dienstmagd hat er zum Lasttier erniedrigt, seine fromme Frau hat er seinem Willen unterworfen, aus der kindlichen Tugend seiner Tochter Ε ^ έ η ϊ β zieht er Nutzen: er beraubt sie der Erbschaft. Dabei spielt er den Großmütigen, wird von den Geldhungrigen hofiert und respektiert, während er sie alle überlistet und sein bescheidenes Anfangskapital von 200 Louis d'or auf 17 Millionen erhöht. „Der verherrlichte Geiz läßt sich auf den Erfolg nieder wie auf einen Thron." (Taine im Balzac-Essay) Sein Laster kennt kein Maß, es zerbricht alles und zertritt das Glück der andern. Er wächst mit seinem Kult des Mammon zu unheimlicher Dämonie: „Was nutzt es euch, alle drei Monate sechsmal den lieben Gott zu essen, wenn ihr das Geld eures Vaters einem Nichtstuer gebt?" Und als ihn seine Frau in Gottes Namen anfleht, ruft er ihr nur zu: „Der Teufel hole deinen lieben Gott!" Das Geld ist der neue Gott, vor dem der alte Grandet die Knie beugt. Die Szene, da die Tochter das Dokument unterzeichnet, durch das sie auf die Erbschaft ihrer Mutter verzichtet, steigert sich ins Mythische: Grandet erbleicht, Schweiß bricht ihm aus den Poren, fast ohnmächtig sinkt er nieder, umarmt sein Kind, daß er es im Paroxysmus seiner Lust fast erstickt: „O, mein Kind, du schenkst deinem Vater das Leben. So sollen Geschäfte erledigt werden. Das Leben ist ein Geschäft. Ich segne dich!" Das ist kein einfacher Materialismus mehr, das ist die Prostration vor einem geistigen Prinzip, wie der Teufel eines ist. Grandets Augen heften

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sich Stunden und Stunden auf den Goldhaufen und nähren sich an seinem Schimmer. — Es war die Bourgeoisie, die, von dem Goldrausch befallen, dem neuen Gott seine Heiligtümer errichtete, Banken und Börsen genannt. Die Schar der Gläubigen wallfahrte zu den Tempeln und vernahm „in heiliger Scheu die unverständlichen Beschwörungsformeln einer fremden Sprache"; das Credo verwandelte sich in Credit. (Friedell, Kulturgeschichte III) Balzac sah den Niedergang der aristokratischen Lebensformen und die Heraufkunft der geldwirtschaftlichen Epoche des Bürgertums. „Die Epochen färben die Menschen, die durch sie hindurchgehen, ab", heißt es in „La vieille Fille". Das „deteindre" (lat. tingere) ist die färbende Wirkung der Zeit; das „depeindre" (lat. pingere) ist Aufgabe des Schriftstellers, der die Zeit im Bilde festhalten will, ist Balzacs große Aufgabe gewesen. Die französische Gesellschaft, lesen wir im Avant-propos, sei der Historiker, er selbst nur ihr Sekretär; er würde das Inventar der Laster und Tugenden aufstellen, würde die Charaktere abbilden, würde die wesentlichen sozialen Ereignisse f ü r seine Zwecke auswählen und durch Zusammenfassung homogener Züge eine Typologie begründen — und käme vielleicht auf diesem Wege zu der von den Historikern vernachlässigten Geschichte der Sitten. Er würde also für das Frankreich des 19. Jahrhunderts d a s Buch schreiben, das wir bei den Indern, Persern, Griechen, Römern in ihrer Zeit schmerzlich vermissen, nämlich die Bücher über die Zivilisation. Balzac hat seine Aufgabe fast vollendet, wenn auch der von ihm entworfene Katalog der Comedie humaine Titel enthält, die nicht mehr ausgeführt wurden: eine „Anatomie des Corps enseignants", eine „Pathologie de la Vie sociale", eine „Monographie de la Vertu" und ein „Discours philosophique et politique sur la Perfection du X I X " βϊέΰΐε". Ein dreifach geschichteter Bau ist vor uns aufgeführt: Das Fundament ist die in allen ihren Teilen umrissene Sozialgeschicbte Frankreichs der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts. Die zweite Schicht will die Ursachen der Erscheinungen erklären. Auf einer dritten aber forscht er nach den Prinzipien, d. h. Balzac will „die Gründe oder den Grund der sozialen Wirkungen erforschen, will dem geheimen Sinn dieser Unmasse von Gestalten, Leidenschaften, Ereignissen auf die Spur kommen." (ib.) Wenn nun trotz aller Typisierung keine wissenschaftliche Soziologie, kein naturwissenschaftliches Werk, keine ernst zu nehmende Philosophie herausgekommen ist, sondern ein Romanwerk, so ist der Grund darin zu

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finden, daß Balzac weder Soziologe, noch Naturwissenschaftler, noch Philosoph war, sondern ein Schriftsteller, d. h. ein Künstler, der mit dem Material des Wortes Welt schuf. „Ainsi, partout, j'aurai donne la vie: au type, en l'individualisant, a l'individu, en le typisant." (Lettres I, 205/6)

Also Leben hat er eingehaucht: dem Typus, indem er ihn individualisierte, dem Individuum, indem er es typisierte. In der Novelle „Le chefd'oeuvre inconnu" steht der programmatische Satz, der wohl f ü r alle Kunst schlechthin Gültigkeit hat: „La mission de l'art n'est pas de copier la nature, mais de l'exprimer." — und das bedeutet in einem echt „expressionistischen" Sinne: das Unsichtbare sichtbar zu machen. Alle Kunst beruht auf Beherrschung des Handwerks. Alle Kunst folgt einem Gesetz der Beschränkung. Alle Kunst, wenn sie groß ist, weist über die Gegenwart in die Zukunft. In diesem dreifachen Sinne war Balzac ein großer Künstler. Er lernte das Metier des Romanschreibers, indem er als junger, armer Hungerleider unter einem Pseudonym eine Menge Geschichten und Romane im romantisch-melodramatischen Stil der Zeit fabrizierte, bevor er, fast dreißigjährig, seinen ersten großen Roman, die „Chouans", abfaßte. Dann kam mit der Idee einer enzyklopädischen Com^die humaine die Gefahr der Entgrenzung und Überspannung seines Künstlerwillens herauf. Er bannte sie, indem er den Traum von einer Menschheitssoziologie in die erfahrbare Wirklichkeit der aktuellen Geschichte überführte und seinen Blick als Soziologe und Kulturhistoriker auf den Gesellschaftsaspekt der französischen Zustände in der Restaurationszeit und der Juli-Monarchie eingrenzte. Und wie jedes geniale Werk wirkte Balzacs Romanensemble über die Grenzen seiner Zeit hinaus. H ä t t e wohl Zola gewagt, sich der Riesenaufgabe seiner Rougon-MacquartRomane zu unterziehen und der so andersartige Marcel Proust ein Stück Soziologie der Grande Bourgeoisie und der dekadenten Adelsklasse seiner Zeit zu schreiben? Und doch ist Balzac in allem 19. Jahrhundert, ein Jahrhundert, das, wie Thibaudet sagt, 1789 beginnt und 1914 endet. Er war ein Koloß und sein Kunstgriff war es, die materiellen und geistigen Massen, welche er in dem Gesamtraum seiner sprachlichen Darstellung zu bewegen hatte, zu Romanen, Romangruppen und einem Romanzyklus zu organisieren. Man muß zunächst nicht die Details betrachten, „die Flöhe in der Mähne des Löwen" suchen (Victor Hugo). Selbst bei solchem Spiel würde uns Balzac noch ehrwürdiger erscheinen „als die untadeligen Ziseleure des

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literarischen Kunstgewerbes" (E. R. Curtius) Man muß bei ihm einen Blick für das Ganze haben und einen Sinn für die großen Formen. Dann werden wir auch die Familienähnlichkeit gewahr, die ihn mit den Epikern des 19. Jahrhunderts verbindet, Trägern riesiger, epischer Lasten, von mannigfacher Materie, weswegen wir nicht nur an Dickens, Perez Galdös, den Hugo der „ Μ ΐ β έ ^ ΐ ε β " und an Tolstoi denken sollten, sondern auch an Richard Wagners Zyklen, an Michelets historische Monumente und an Taines „Origines de la France contemporaine".

Flaubert

(1821—1880)

oder die intellektuelle Redlichkeit des Schriftstellers Unter den legitimen Erben Balzacs steht Gustave Flaubert in der Generation von 1850 als einer der ragenden Gipfel der französischen Romanliteratur vor uns. Aber die Flaubertsche Romanwelt ist kein Kosmos wie die Comedie humaine, und Flaubert selbst war ein anderer Schriftstellertyp wie Balzac. Was beide verbindet, ist der Fanatismus der Arbeit, aber ihre Absichten sind so verschieden wie ihr Künstlertemperament und das Volumen ihrer schriftstellerischen Produktion. Das äußere Leben Flauberts ist uninteressant. Er führte ein seßhaftes Dasein, das nur von einer frühen Reise nach Korsika und einer späteren nach Afrika unterbrochen wurde, fuhr gelegentlich nach Paris und Rouen und verbrachte sonst sein Leben auf einem kleinen Besitztum in Croisset bei Rouen. Dieser Provinzler stand in freundschaftlicher Verbindung mit Gautier, dem älteren Sainte-Beuve, den Brüdern Goncourt, dem Lithographen Gavarni, den Kulturhistorikern Taine und Renan, dem jüngeren Zola und Guy de Maupassant, in dem er seinen eigentlichen Fortsetzer gesehen hat. Von allen Frauen, die ihm etwas bedeuteten: Elisa Schlesinger, Louise Colet, genannt „La Muse", Jeanne de Tourbey, „La Dame aux Violettes", Madame Sabatier, der „tr£s belle, träs bonne, tr£s d ^ r e " Baudelaires, der Journalistin Amalie Bosquet, der von ihm fast vergöttlichten Mademoiselle Leroyer de Chantepie und manchen anderen, war es Georges Sand, die mütterlich-fraulichste der Frauen, die seine letzten Jahre durch ihre verstehende Freundschaft lichter und leichter machte. Als sie ihm genommen wurde, schrieb er: „II m'a sembli que j'enterrais ma m£re une seconde fois." Er nannte sich einen Normannen, nach der Herkunft seiner Mutter; sein Vater, ein hochgeachteter und geschätzter Arzt, stammte aus der

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Champagne. In seiner Jugend, so wird uns gesagt, muß er kraftvoll und schön wie ein Gott gewesen sein, von hohem Wuchs, breiten Schultern, einer hohen und breiten Stirn, grauen Augen, ein Herrenmensch aus altem Wikingerblut. Solchen Eindruck machte er auf den jungen Anatole France. Vielleicht haben ihn unter seinen Altersgenossen die Goncourt und Taine am besten verstanden. Die einen schreiben: „Tief in ihm gähnt der Überdruß, schreit der Zorn eines Mannes, der vergeblich versucht hat, den Himmel zu stürmen." Und der andere: „Er spürt Kraft in sich, er bejaht seine wilde, aufschießende K r a f t . . . (aber) er hat sein Gehirn ermüdet, hat es wie eine Zitrone ausgepreßt. Dabei ist er reizbar wie eine Frau geworden." (In: Flaubert in Selbstzeugnissen, Rowohlt) Dann hat ihn der psychologische Blick Nietzsches durchleuchtet. Nietzsche sagt zunächst von sich selbst im „Fall Wagner": „Wenn idi etwas von allen Psydiologen voraus habe, so ist es das, daß mein Blick geschärfter ist für jene schwierigste und verfänglichste Art des Rückschlusses, in der die meisten Fehler gemacht werden — des Rückschlusses vom Werk auf den Urheber, von der Tat auf den Täter, vom Ideal auf den, der es nötig hat, von jeder Denk- und Wertungsweise auf das dahinter kommandierende Bedürfnis."

Dann sagt er von Flaubert: „Flaubert, eine Neuausgabe Pascals, aber als Artist, mit dem Instinkturteil auf dem Grunde: ,Flaubert est toujours haissable, l'homme n'est rien, l'ceuvre est t o u t ' . . . Er torturierte sich, wenn er dichtete, ganz wie Pascal sich torturierte, wenn er dachte — sie empfanden beide unegoistisch . . . .Selbstlosigkeit' — das decadence-Prinzip, der Wille zum Ende in der Kunst wie in der Moral."

Schärfer hat niemand die eigentliche Problematik von Mensch und Werk in Flaubert gesehen. Nietzsche hat die einfache Frage gestellt: Was ist jeweils schöpferisch in den Künstlern jeder Art geworden? „Der H a ß gegen das Leben oder der Überfluß an Leben?" Es ist ganz eindeutig bei Flaubert der Haß, in der besonderen Form des Hasses auf die Dummheit des Bourgeois. Dieser normannische Redte war krank, von epileptischen Anfällen heimgesucht, die aller Wahrscheinlichkeit nach seelische Ursachen hatten, welche ihrerseits nicht ohne kausalen Zusammenhang mit seiner körperlichen Verfassung waren. Er lebte nach seinen eigenen Worten wie ein Asket, und liebte wie ein solcher „das härene Gewand, das ihm den Bauch kratzt" (An Louise Colet 1852). Dazu paßt, was er 7 Jahre später als seine drei Lebensideale hinstellt: „Dreiviertel des Jahres auf dem Lande leben"; „ohne Frauen, ohne Freunde, ohne Pferde, ohne Hunde,

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kurz ohne die gewöhnlichen Attribute des menschlichen Lebens"; „so kann ich alles, was außerhalb meiner eigentlichen Arbeit steht, als nichtig betrachten." (An E. Feydau, Mai 1859) Er führte einen Kampf gegen das eigene Naturell. Sein Naturell war ein Hang zu bestimmten hintergründigen Seiten der Romantik: zu allem Geheimnisvollen, Traumhaften, Kranken; es bekundete und steigerte sich in der Traumlust an Abenteuern in exotischen Ländern. Man schreibt nicht ungestraft eine „Salammbo" und die „Versuchung des hl. Antonius" und träumt von wilder afrikanischer Schönheit, Leidenschaft, Erotik. Man wächst auch nicht ungestraft in einer literarischen Atmosphäre heran, die von Chateaubriands Rene durchtränkt und den Nachklängen des Weltschmerzes durchzogen ist. Sonst schreibt man nicht mit 25 Jahren: „Niemals habe ich ein Kind gesehen, ohne mir vorzustellen, daß es einmal ein Greis werden wird; niemals eine Wiege, ohne an ein Grab zu denken. Im Anblick einer nackten Frau träume ich von ihrem S k e l e t t . . . Als ich noch eine Familie hatte, wünschte ich mir oft, keine zu haben, um freier zu sein, nach China zu gehen oder zu den Wilden. Jetzt, da ich keine mehr habe, sehne ich midi nach ihr und klammere midi an die Wände, um den noch verbliebenen Sdiatten zu fassen." (An Louise Colet 8. Aug. 1846)

Flaubert hat den Kampf seines Lebens an zwei Fronten aufgenommen: den Kampf gegen die Dummheit des Bourgeois, den er systematisch mit dem „Dictionnaire des Idees rejues" (Gemeinplätzen des Denkens) beginnt und bis in sein Spätwerk, den Spießbürgerroman von Bouvard et Pecuchet, fortsetzt; und zum andern den Kampf gegen den romantischen Feind, der sich in seinem eigenen Herzen verschanzte. Flauberts Sieg über ihn heißt die Education sentimentale, vielleicht das größte literarische Ereignis des 19. Jahrhunderts neben Baudelaires lyrischen Fleurs du Mal; der Roman ist zum mindesten der gewagteste Durchbruch zu einer neuen Konzeption der Gattung. Während der Kampf gegen das Bürgertum — dieses im Sinne einer Lebenshaltung und Lebensansicht auf den Gebieten der Politik, der sozialen Ideen, des Wissenschafts- und Fortschrittsglaubens verstanden — vermutlich hoffnungslos ist, hat Flaubert seine Kräfte für die intellektuelle Redlichkeit eines neuen Realismus in der Literatur nicht umsonst eingesetzt. Man könnte die Tendenz des Flaubertschen Realismus auch eine Liquidierung der Romantik nennen. Eine neue Haltung wird sichtbar: Flaubert verzichtet auf jegliches Engagement, zu dem sich viele Romantiker, von Chateaubriand, Madame de Stael, Constant angefangen bis zu Lamartine

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und Victor Hugo verpflichtet gefühlt haben. Er aber ist an der politischen Welt und einem sozialen Engagement uninteressiert — was ihm ein Sartre ankreiden sollte, wenn er Flaubert einen „besseren großbürgerlichen Rentenempfänger" nennt. Sein Verhältnis zur Wirklichkeit ist von anderer heroischer Art: er ringt seine Emotionen, Sympathien, Antipathien nieder; er mißtraut als Künstler der Inspiration; er will das Angeschaute, wie ein Naturwissenschaftler, zu reiner Darstellung bringen. „Idi glaube, daß die große Kunst wissenschaftlich und unpersönlich ist. Man muß sich in einem Akt geistiger Anstrengung in die (Roman-)personen versetzen und nidit umgekehrt diese zu sidi ziehen." (An Georges Sand 1866) Was bleibt als Ziel einer solchen Selbstüberwindung, die keinen gesellschaftspolitischen Intentionen dient? Die künstlerische Form, und das ist der Stil. Man wird solche Entscheidungen, durch psychische Zwänge hervorgerufen, bei einem Künstler von der Mächtigkeit und Redlichkeit eines Flaubert zu respektieren haben. *

Stil: das tiefste Anliegen des Schriftstellers, die herkulische Arbeit, die er sich auferlegte. Vor ihm liegt ein weißes Blatt Papier. Ist er Zeichner oder Maler, der zunächst einen Umriß entwirft? Die verschiedenen Manuskripte, nebeneinander gestellt, ermöglichen einen Vergleich mit Skizzenblättern und lassen erkennen, wie er arbeitet, kürzt, entwickelt, verändert. Die Beschreibung von Rouen umfaßte ursprünglich eine volle Seite, nach 6 Korrekturen nur noch 10 Zeilen. Nichts Wesentliches ging dabei verloren; es tritt im Gegenteil hervor. Korrektur als Konzentrat und Konzision, das heißt Befolgung eines der ersten Gesetze Boileaus. Flaubert stöhnt unter der Fron: „Sie wissen nicht, was das heißt, einen ganzen langen Tag, den Kopf in den Händen, dazusitzen, sein elendes Gehirn auszupressen, um ein Wort zu finden . . . Oh, idi weiß um die Schrecken des Sils!" Ah, je les aurai connus les affres du style —. Dazu sei einiges bemerkt. 1. Das Material der Sprache ist das Wort, das richtige, einzige, treffende Wort finden, den angemessenen Ausdruck. Flaubert hat in La Bruy^res „Caracteres" gelesen — konnte den Gedanken aber auch in Banville finden —, daß unter verschiedenen Ausdrücken, die unsern Gedanken wiedergeben können, nur einer der gute, richtige sein kann. Es muß ihn geben; es gilt, ihn zu finden; die andern können einen homme d'esprit nicht befriedigen. Flaubert zitiert die Stelle.

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2. Das Auffinden des angemessenen Wortes ist nur ein erster Schritt. Die Worte sind ihm leicht zur Hand, und ebenso leicht fällt ihm die K o m position der Worte, die zu Sätzen gerinnen, zu Sätzen ä la Hugo: „hugolatrische, schillernde, schreiende Phrasen". E r wird sie erbarmungslos lichten, ein „travail d'imondement" vollbringen, und sollten selbst die schönsten Metaphern oder die kühnsten Adjektiva geopfert werden müssen. D a ß eine solche Askese im Endergebnis nur zur Annahme der „^pitl^tes excellement bonnes de tout le monde" führen kann, haben die Goncourt und Huysmans mit Besorgnis gesehen. 3. Die zu Sätzen verbundenen Worte werden von einem Rhythmus getragen. Erinnern wir uns, was sein hervorragender Jünger, Guy de Maupassant, über dieses Kapitel seines Meisters sagt: Jeden Augenblick sei er aufgestanden, habe das Blatt Papier in Augenhöhe gehalten, sich auf einen Ellenbogen gestützt und mit einer ätzenden und lauten Stimme das Niedergeschriebene deklamiert. E r horchte auf den Rhythmus, hielt um eines flüchtigen Klangbildes willen inne, suchte nach neuen Tonkombinationen, merzte Assoziationen aus und setzte mit Gewissenhaftigkeit die Kommata gleichsam wie Haltepunkte auf dem langen W e g e . . . Es gibt interessante Untersuchungen über den Flaubertschen Satzrhythmus, ζ. B. von Hennequin. Häufig läßt sich die Abfolge symphonischer Strukturen beobachten: Allegro — Andante — Presto. Das Allegro, geformt aus kurzen Stakkato-Sätzen von verhaltenem Schwung, in denen die akzenttragenden Silben den tonschwachen die Waage halten; das Andante schwingt in längeren Phrasen, enthält Enumerationen und hat häufig den Charakter eines Cantabile molto moderato; das Presto, die Schlußperiode, in ihm bricht die Fülle aller Klangformen in scharfer Tempoführung und starker rhythmischer Akzentuierung hervor. 4. Flaubert hat Maupassant empfohlen, „de regarder les dioses assez longtemps et avec assez d'attention pour decouvrir un aspect qui n'ait έΐέ vu ou dit par personne." (zit. bei Dumesnil) Eine solche Empfehlung zu visueller Tätigkeit werden wir bei V a l i r y wiederhören und lesen sie schon in Goethes Maximen: durch beharrliches und wiederholtes Hinschauen etwa auf ein zunächst unverständliches Bild ergeben sich Erkenntnisse: „ . . . an den Dingen", heißt es da bei Goethe, „werd' ich neue Eigenschaften und an mir neue Fähigkeiten gewahr." Flauberts Überzeugung war von gleicher A r t : „II y a en tout de Ι'ϊηεχρΙοΓέ" (an Maupassant), und seine Forderung: „Voir mieux que les autres." Das ist die visuelle Durchdringung der Gegenstandswelt. 33

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5. Es ist ein Flaubertscher Leitgedanke, daß es weder schöne noch gemeine Gegenstände als Themen der Schriftstellerkunst gibt, d. h. die Kunst ist von jeglicher moralischen Wertung und weltanschaulichen Prägung f r e i . . . „Man könnte, wenn man sidi auf den Standpunkt der reinen Kunst erhöbe, das Axiom aufstellen, daß es überhaupt derartiges (wie schöne oder häßlidie Sujets) nidit gibt, da allein der Stil eine absolute Art und Weise ist, die Dinge zu sehen." (An Colet 16. Jan. 1852)

6. Flaubert entfernt sich in dem Maße von Balzac, wie er darauf verzichtet, nach den Principia der Welt, der menschlichen Handlungen und der Gesellschaft zu suchen. Er fragt nicht nach dem Grund, warum die einen das Leben lieben, die andern es hassen und gibt weder im Text noch vorher noch hinterher einen Kommentar etwa zu dem Schicksal der Madame Bovary. Er s i e h t sie einfach, schildert mit der erdenklichsten Sorgfalt für alle Details auf 400 Seiten den Fluß des alltäglichen Lebens, von dem sie getragen wird. Er deduziert nicht von vorgefaßten Ideen, er induziert durch die getreueste Darstellung audi der geringsten Kleinigkeiten, bis der Leser am Ende das Bild der Bovary vor sich hat, ein Bild, das rein aus der intellektuellen und künstlerischen Redlichkeit realistischer Betrachtung und allein durch die Kompositionsmittel der Sprache gestaltet worden ist. Wenn das erreicht wird, ist das „Schöne" erreicht — auf dem Wege eines ethischen Realismus, wenn man die Prozedur so bezeichnen darf: „Le but de l'art, c'est le beau avant tout", aber: „il faut partir du r£alisme pour aller jusqu'ä la beaute." 7. Seine Ausdruckskraft setzt den Glauben an eine Konsubstanzialität von Wort und Gedanke voraus. Es gibt für ihn keine „schönen Gedanken" ohne „schöne Formen" und umgekehrt. In seiner realistischen Sprechweise spricht Flaubert von der Schönheit, die „von der Form her in die Welt der Kunst hineinschwitzt" — „la beaute transsude de la forme dans le monde de l'art" — und: je mehr sich der Ausdruck dem Gedanken nähert, je mehr das Wort sich darauf „leimt", desto schöner ist das Ganze. Man hat seine Bücher kaum verstanden, die Bovary, die Salammbo, die Education, die Tentation. Er selbst aber hat in seiner Korrespondenz manche Motive anklingen lassen, die dem Verständnis dieser vier Werke dienen. Am bekanntesten ist wohl immer noch, sei es durch eigene Lektüre, sei es durch Verfilmung oder lyrische Dramatisierung die tragische Geschichte der Madame Bovary. der Roman einer jungen Frau, die von einer romantischen Unruhe gequält, von Wunschbildern der Liebe bedrängt, nach den bittersten Erfahrungen der Wirklichkeit keinen andern Ausweg

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findet, als ihrem Leben selbst ein Ende zu bereiten. Sie hatte als Mädchen Chateaubriand, Walter Scott, Lamartine gelesen, war dem jungen, schüchternen Studenten Lion Dupuis begegnet; alles aber war bei einer platonischen Freundschaft geblieben: sie sprachen von der Schönheit der Natur und schwärmten von der deutschen romantischen Musik, und als Leon zur Beendigung seines Studiums nach Rouen gezogen war, verzehrte sich Emma von neuem in der Trostlosigkeit ihres nichtigen Daseins an der Seite ihres Gatten. Auch daß sie Mutter wurde, änderte wenig an ihrer seelischen V e r f a s s u n g . . . eile attendait un ivinement . . . Das ersehnte Ereignis kam: In den Armen Rodolphe Boulangers, eines erfahrenen Frauenkenners, öffnete sich ihr eine Welt, die diese noch unerfahrene Frau nicht kannte. Wenn aber für den Geliebten das Abenteuer mit Charles Bovarys Gattin nur eine unverbindliche Episode seines Lebens war, bedeutete i h r diese Liebe die ganze Welt, alles, eine Liebe, der sie willig Mann und Kind opferte. Als der Geliebte sich ihr aber entzog, brach sie unter den Schlägen seines Verrats und ihrer Enttäuschung zusammen. Vergeblich suchte sie in einer mystisch-religiösen Anwandlung und Aufwallung einen neuen Lebensgrund. Als sie eines Tages im Theater von Rouen ihrem einstigen Freund Lion Dupuis wiederbegegnete, wurde ihr das Wiedersehen zum Verhängnis. Sie gab sich ihm hin, und der Aufschwung ihrer Seele ins Übersinnliche verkehrte sich zum Absturz in das neue, vermeintliche Glück einer sinnlichen Liebe, die sie in der Umarmung Lions auskostete. Mit dämonischer Lust erfand sie Listen und Ausreden, mit denen sie den ahnungslosen Gatten betrog. Aber die Schulden häuften sich, die Lügen verstrickten sie immer fester in ihre Maschen, ihr Haushalt wurde verpfändet. Um ihre Schulden zu tilgen, erniedrigte sie sich bei ihrem einstigen Geliebten Rodolphe; der aber schlug ihr Anliegen ab, und als sie auch von Lion verlassen wurde, weil sie seinem Fortkommen im Wege stand, hatten sich die Mauern um ihr Leben geschlossen. Als Charles eines Tages nach Hause kam, fand er Emma, die zum Arsen gegriffen hatte, in Todeskrämpfen. Es gab keine Rettung mehr für sie. Nach Monaten trostloser Einsamkeit fand er die Briefe, die seine Frau mit Lion und Rodolphe getauscht hatte. Der „Fall Bovary" ist in doppeltem Sinne „Fall". Ihr Lebensmorgen begann mit romantischen Träumen . . . sie sog das Gift ein . . . la lamentation sonore des milancolies r o m a n t i q u e s . . . Klagen, die sich in allen Echos der Erde und der Ewigkeit brachen . . . Mit welch sprachlicher Verführungskunst weiß Flaubert das noch gegenstandslose Sehnen des Mädchens in die berauschende Melodie solcher Sätze & la Chateaubriand einzu33»

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fangen! Es dämmert wie eine erste Warnung auf, und wir vermeinen Flaubert zu hören, aber es ist Schopenhauer, der schreibt: „Gaukelnde Bilder eines geträumten, unbestimmten Glücks schweben, unter kapriziös gewählten Gestalten, uns vor, und wir suchen vergebens ihr Urbild . . . (es gesdiieht), daß meistens uns das Leben früher durch die Dichtung als durch die Wirklichkeit bekannt wird. Die von jener geschilderten Szenen prangen im Morgenrot unserer Jugend vor unserm Blick, und nun peinigt uns die Sehnsucht, sie verwirklicht zu sehen, — den Regenbogen zu fassen."

So träumt Emma Rouault von Liebe und Wehmut, von Nachtigallen und Küssen, von Rittern, wild wie Löwen und zahm wie Lämmer. Welch eine Ironie k la Schopenhauer! Dieser ersten Stufe folgt die zweite: Die junge Frau, in ihrer Liebe unerfüllt — denn Charles Bovarys Liebe bedeutet ihr nichts — fixiert den konturlosen Traum auf die wirkliche Gestalt Lions. Würde er ihr Träumen, ihre Sehnsüchte verstehen, sie erfüllen? Die Schwärmerei steigert nur die Bereitschaft zu ehebrecherischer H i n gabe. Erst auf der dritten Stufe ihres „Falles" läßt sie sich von allen Opiaten der Wollust überwältigen. Von dieser dritten Illusion umfangen, glaubt sie noch immer, wenn sie sich genießend und aus freiem Willen dem Geliebten schenkt, endlich den Roman ihres Lebens zu leben. Schon steht sie an der Schwelle ihrer vierten und letzten „Erniedrigung": ihre Liebe aus N o t anzutragen, weil sie Geld braucht. Aber bevor sie diesem Kreise ganz verfällt, läßt Flaubert sie freiwillig aus dem Leben gehen. Ein profunder Pessimismus umhüllt das Geschehen wie eine fatale Atmosphäre. Flaubert nähert sich dem älteren, weisen Schopenhauer. Der hatte gleichsam das Thema angeschlagen, und die aus dem Urphänomen des erotischen Lebenswillens hervorbrechende Macht der Schopenhauerischen Illusion ist der „Bovarysme" Flauberts geworden. Auf die „Madame Bovary" folgte die „Salammbo". Im April 1858 reiste Flaubert nach Afrika, um an O r t und Stelle die Lokalitäten seines neuen Romans zu besichtigen. Ermüdende Gelehrtenarbeit zur wissenschaftlichen Dokumentation war vorausgegangen. Darüber gibt uns der Anhang zum Roman genügend Auskunft (Dezember 1862). Salammbo ist die Tochter des Hamilkar, Chefs des karthagischen Heeres; sie wird von Matho, dem Anführer der gegen Karthago rebellierenden Söldnerheere, geliebt. Der Roman berichtet den Kampf beider Mächte und die grausame Vernichtung des Söldnerheeres. H ä t t e nicht gerade ein Flaubert den Roman geschrieben, wer wollte ihn heute noch lesen: die Episoden aus der karthagischen Geschichte, die

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uns Polybios überliefert hat? Damals war die Kuriosität an der Geschichte durch die Arbeiten der großen französischen Historiker und Archeologen •wachgerufen worden und spiegelte sich seit den historischen Romanen der Romantiker auch in jüngeren Romanschöpfungen wie etwa Gautiers „Le Roman de la Momie" wider. Aus der Kontroverse über die „Salammbo", die Sainte-Beuve in seinen Artikeln vom 8., 15. und 22. Dezember 1862 im Constitutionnel begann, sei nur hervorgehoben, daß Flaubert in seiner Verteidigung seine antiromantische Romankonzeption derjenigen der „Martyrs" von Chateaubriand „diametral entgegensetzte". Wir wollen den Streit weder weiter verfolgen noch entscheiden, sondern nur fragen, ob in der Tradition jener historischen Romane, welche die menschliche Grausamkeit dokumentieren, und die doch von einer düsteren Schönheit durchstrahlt sind, n a c h den religiös-romantischen „Martyrs" und seinem Gegenbild, dem realistisch-antik-heidnischen der „Salammbo", die Linie weitergelaufen ist. Da ließe sich auf die Condition humaine von Malraux verweisen: Garine, Kyo, Katow sind Figuren unserer Welt des 20. Jahrhunderts, aber könnten 2000 Jahre alt sein: Die Grausamkeit der Geschehnisse, das sie umhüllende Fatum, haben die antike Wucht und Größe, die uns in Spendius oder Matho beeindrucken. Das eigentlich künstlerische Anliegen, das Chateaubriand, Flaubert, Malraux miteinander verbindet, ist der Versuch, in ihren Romanen die Bewegungen der aufgerufenen Massen durch und in der Struktur des jeweiligen Werkes zu bändigen; es ist dabei von geringerer Bedeutung, ob es sich thematisch um die Gegensätze von Heidentum und Christentum bei Chateaubriand, um Rom und die Söldnerheere bei Flaubert, oder um die Volksmassen der chinesischen Revolution handelt. Vielleicht war die Kritik Sainte-Beuves an der „Salammbo" heilsam. Denn Flaubert nahm seine erste Education wieder auf und schrieb seine zweite, die er selbst für sein Meisterstück hielt. Der Roman spielt in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts. Der „Held" ist die junge Generation der Achtundvierziger. Die Bühne, auf der eigentlich 600 Seiten lang nichts geschieht, ist die Welt der Politiker, der Sozialisten, der Aristokraten, Finanzleute, Kunsthändler, Künstler, Literaten und des Theaters; die Welt auch der Liebenden, der Boheme, der mondänen und bürgerlichen Frauen. In einem gewissen Sinne ist solch ein Gesellschaftsbild Balzacscher Provenienz: Milieuschilderung wie im „Pere Goriot" oder den „Illusions perdues", Analyse wie im „Lys de la Vallee". Aber das Bild ist grau in grau gemalt. Außerdem fehlt die Perspektive und eine scharfe Konturierung.

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Flaubert weiß, daß der Leser die Anwendung solcher hergebrachter Kompositionsmittel von einem richtigen Roman erwartet, aber er weiß auch, daß es im Leben nicht so ist. Nun hat er in der „Education sentimentale" eine Prozedur gewagt, welche die Grenzen alter Grundsätze überschritten hat. Seine Künstlerredlichkeit, es ganz anders, ganz neuartig zu machen, hat den Sieg davon-, aber ihm selbst keinen Ruhm eingetragen. „N'importe! je crois que personne n'a pousse la probite plus loin . . . " Durch Hunderte von Details und Alltagserlebnissen, durch eine lange Kette von Liebesaffairen, ehrgeizigen Plänen, politischen Diskussionen einer aufbegehrenden, idealistischen und hernach ernüchterten Jugend, spinnt sich der Faden weiter. Das Leben der jungen Leute wie die Ereignisse der Tage und Jahre verlieren sich im Nichts, von einer Etappe der Enttäuschung geht es in die andere. Die Charaktere nivellieren sich, die Kräfte verpuffen sinnlos, die Ideale scheitern, sobald sie in die Atmosphäre der Wirklichkeit treten. Es ist ein deprimierendes Schauspiel. Lächerlich erscheinen die in alten Vorurteilen verhafteten Adelskreise um Dambreuse; lächerlich die Utopien der gläubigen Sozialisten, die ihr Gehirn mit Ideen aus Mably, Louis Blanc, Saint-Simon, Enfantin, Fourier, Comte, Cabet, Wronski und Leroux vollstopfen. Rousseau und Malthus werden diskutiert, ein „id^al de democratic vertueuse" ausgedacht, erträumt; aber in Wirklichkeit ist es eine Art amerikanischen Spartas (une sorte de Lacidimone amiricaine), wo das Individuum nur in der Funktion einer „omnipotenten, absoluten, unfehlbaren Gesellschaft" existieren soll. Die Jugend aber speist sich mit den Schlagworten der „egal^", der „juste repartition des produits", der „souverainet£ nationale" . . . vergeblich ist ihr Kampf gegen die „id6es rejues", die tradierten, festgefahrenen, gedankenlos hingenommenen und zu törichten Schlagwörtern geronnenen Ideen; vergeblich auch ihr Kampf gegen die Institutionalisierung des flutenden, geistigen, künstlerischen Lebens... „il fallait attaquer l'Academie, l'Ecole Normale, le Conservatoire, la Com£die-Franfaise... Die jungen Künstler, enttäuscht von der Juli-Monarchie, wettern gegen die Regierung Louis-Philipps, da Frankreich „unter den Stiefeln der Polizei" und unter dem Regiment der Soutanen alles, was ihnen wert ist, einbüßt: die Kunst, die Philosophie, das Recht, sogar die freie Luft des Himmels. — Es wird getrunken, und man träumt vom „Morgenrot der Demokratie", von der Erhebung des Proletariats und vom Ende der Monopolwirtschaft, der Autorität des Staates. Das geht hin und her und über die Barrikaden hinweg . . . Am Ende steht die tiefe Enttäuschung der beiden Protagonisten

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des Romans: Fr£d£ric Moreau und Deslauriers. Deslauriers, der begeisterte Demokrat, war an der Dummheit, Trägheit, Undankbarkeit der Arbeitermassen zerbrochen . . . „assez de ces cocos-la, se prosternant tour a tour devant l'^chafaud de Robespierre, les bottes de l'Empereur, le parapluie de L o u i s - P h i l i p p e . . F r £ d £ r i c mußte seinerseits den Wahn seines gesellschaftlichen Ehrgeizes, seiner Liebesafiären, seiner Sentimentalitäten einsehen. Traurigkeit und Öde waren zurückgeblieben... „Iis ^sumaient leur vie. Iis l'avaient manqu^e tous les deux, celui qui avait rev£ l'amour, celui qui avait rev£ le pouvoir." Das ist das Fazit, das der Autor dieses pessimistisch-schopenhauerischen Romans aus den Anschauungen und Erfahrungen seiner Zeit gezogen hat. Das außerordentliche Werk ist, auch in seiner technischen Struktur und der weit ausgesponnenen thematischen Durchführung, der erste, wirklich „moderne" Roman des 19. Jahrhunderts, bedenkt man, daß er Strukturelemente ins Spiel bringt, die sich erst mit Gides „Faux-Monnayeurs" oder Musils „Mann ohne Eigenschaften" durchgesetzt haben. Es scheint, daß Flaubert nach der „realistischen" Ausschöpfung des Education-Themas sich noch einmal ganz „romantisch" sättigen wollte. E r versenkte sich in eine orientalische Traumwelt, stieg in sie hinab, beladen mit einem außerordentlichen Wissen um die antiken Religionen und Philosophien. Schon den Vierundzwanzigjährigen hatte die „Versuchung des hl. Antonius" von Breughel, die er im Museum von Genua gesehen hatte, beeindruckt; aber er hatte auf Anraten seines Freundes Bouilhet das aus diesem Erlebnis entstandende Buch unveröffentlicht gelassen. Nun greift er es wieder auf und legt es dem Publikum in veränderter Form 1874 vor. Wenn in dem ßiW««giroman der Education das „Vor"-Bild des Wilhelm Meister sichtbar wurde, dann ist die Tentation de Saint-Antoine" ein eigen konzipiertes und stilisiertes Gegenbild zum „Faust". D a spukt es in sonderbarem Mummenschanz wie in der klassischen Walpurgisnacht über die Bühne, und Mephisto treibt sein Wesen durch das ganze Drama hindurch. Schon als Gattung ist das Werk höchst merkwürdig, ein Gemisch aus Drama und Roman, eine Art dramatischer Monolog in 6 Teilen. Der hl. Antonius von Theben sitzt in seiner Hütte. E r erzählt, wie er zum Einsiedler wurde. In seiner erhitzten Phantasie tauchen allerlei schemenhafte Gebilde vor sein Gesicht und versuchen, ihn zu verführen. E r träumt von gutem Essen und Trinken, von Reichtum, Macht und Ehren, sieht sich im Traum als Premierminister bei Kaiser Konstantin. Als er den Trug seiner geheimen Wunschträume erkennt, kasteit er sich, aber die Wunden

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steigern seine Sinnlichkeit zu rasendem Verlangen. D a erscheint ihm die Königin von Saba in ihrer Pracht und Herrlichkeit. Sie bietet ihm ihren Reichtum, ihre Liebe, ihren Leib zum Genüsse an. Antonius aber widersteht der Verführung, und das Trugbild verschwindet. Nach diesem Traumspuk findet Antonius ein Kind auf der Schwelle seiner Hütte. Es wächst, wird groß und ist niemand anders als Hilarius, Antonius' alter Schüler. In einem Zwiegespräch enthüllt Hilarius die Widersprüche der vier Evangelien und erweckt in dem Meister Zweifel an der absoluten Wahrheit der hl. Schrift. — Es wird deutlich, wie Flaubert der Generation angehört, die nach der Aufklärungsliteratur des 18. Jahrhunderts nun mit Taine und Renan die wissenschaftliche Bibelkritik zur Höhe führt. In der Gefährdung durch Wissenschaft und Kritik ist eine geistige Stufe der Verführungssymbole erreicht. Die folgende Szene spielt sich in einer ungeheuren Basilika ab. Dort reden die alten Philosophen. Mani entwickelt sein dualistisches Weltbild. Kirchenväter treten auf, unter ihnen Origenes. Wir hören von der neuplatonischen Emanationslehre, von den Logos-Spekulationen, den Schulweisheiten der Alexandriner, der Kabbala und von Hunderten religiöser Sekten jener aufgewühlten Zeit. Tertullian tritt auf und räumt den Haufen der Sektierer zur Seite. Arius verteidigt seine Stellung gegen Athanasius und Sabellicus. Alle schwatzen durcheinander, die Versammlung erweckt den Eindruck eines Irrenhauses, und als es zu der Frage kam: wer Jesus war, schreit es in hundert Antworten durcheinander... D a erscheint Simon Magus mit einem Mädchen, Helena, die aber gleichzeitig Dalila, Lukrezia und die Hure aller Völker, Könige und Verbrecher ist. Antonius gerät in große Versuchung. Wie im Märchen, fast an Novalis erinnernd, ziehen Gespräche und Bilder an unsern Augen und Ohren v o r ü b e r . . . Apollonius zu Damis: „ . . . wir ziehen nach dem Süden, hinter die Berge und die mächtigen Fluten und suchen in den Düften geheimnisvollen Grund der Liebe. Du wirst einsaugen den Duft der Myrthe, an dem die Schwachen sterben. Deinen Leib wirst du baden in dem Rosensee der Insel Junonia. Wenn du in den Schlüsselblumen schläfst, wirst du die Eidechse sehen, die alle hundert Jahre erwacht, wenn, zur Reife gelangt, der Karfunkel von ihrer Stirne f ä l l t . .

Im 5. Akt setzt die Götterdämmerung ein: ein Defile der Gottheiten aller primitiven Kulturen, phantastische Gestalten in Tierformen. Endlich tritt Buddha auf, erzählt von seinem Leben, seinen Versuchungen, die Antonius als die seinigen erkennt, so daß er nachdenklich und stillschwei-

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gend dem Inder lauscht — eine ungeheure Verführung für den christlichen Einsiedler . . . Ihm folgen Oannes, der „Zeitgenosse des Uranfangs", und die Götter der Perser, Ormuz und Ahriman, die schwarze Diana von Ephesus und Kybele, die sich nach der Vereinigung mit dem jungen Atys sehnt. Isis leitet die nächste Szene ein. Der Götterhimmel Griechenlands wird sichtbar, und Antonius kann sich des Ausrufs nicht erwehren: „Comme c'est beau, comme c'est beau!" Die große Szene der griechischen Götterdämmerung beginnt. Die Götter verlieren ihre Embleme: Zeus seinen Adler, Athene ihre Lanze, Herakles sein Löwenfell; der Dreizack Poseidons hat nicht mehr die Kraft, den Ozean aufzuwühlen. Artemis geht dahin und Ares, Dionysos taumelt in entfesselter Sinnlichkeit, und Aphrodite s t i r b t . . . Es versinken ganze Generationen der Götter in den Abgrund, und als der Gott der Juden, „le Dieu des Armees", sein Schicksal erzählt, bricht die Nacht herein, und das Schweigen ruht über dem Nichts. D a ertönt eine Stimme: „Ii reste moi." Hilarius war es, groß und schön von Ansehen, strahlend wie die Sonne. E r spricht: „Mein Reich ist von der Dimension des Alls, und mein Begehren kennt keine Grenzen. Idi schreite vorwärts, befreie den Geist und wäge die Welten, ohne Haß, ohne Furcht, ohne Mitleid, ohne Liebe, und ohne Gott. Ich heiße Wissenschaft."

Der so zu Antonius spricht, ist der Teufel. E r fliegt mit ihm durch den unendlichen Weltenraum. Antonius sieht, wie die Erde kreist und die Sonne nicht untergeht, erkennt, wie die antiken Weltbilder reine Phantasiegestalten waren . . . Sie gelangen in die Milchstraße . . . Ist Gott diese Unendlichkeit? Das personale Gottesbild erscheint ihm lächerlich, und pantheistische Motive werden zu neuen Versuchungen. Als Antonius wieder allein ist, erscheint ihm ein altes Weib, und zugleich ein junges, schön und üppig wie seine einstige Geliebte Ammonaria. Noch einmal spürt er die Macht der sinnlichen Versuchung. Die Alte aber, der Tod, und die Junge, die Wollust, ergreifen seine Schultern, wollen ihn zu sich ziehen, ihn besitzen, und Antonius sieht beide in eins zusammen: ein Weib mit rosengekröntem Totenkopf, und es ist wiederum nichts anderes als der Teufel in der Doppelgestalt der Hure und des Todes. Ein Walpurgisnachtspuk hebt an. Als er vorüber ist, beginnt aus allen Keimen neues Leben aufzubrechen. Der Tag verscheucht die Wolken und enthüllt die Tiefe des Himmels. In der Sonnenscheibe strahlt das Antlitz des E r lösers. Antonius macht das Zeichen des Kreuzes und betet. Schon die resümierende Inhaltsangabe läßt erkennen, welch eigenarti-

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ges Gemisch die Tentation darstellt: Reminiszenzen aus Voltaires Micromegas (das Geschwätz der Metaphysiker in der Basilika), Erinnerungen an „Faust" und seine magischen Szenen und die Figur des Mephistopheles, Einflüsse aus der Märchenwelt eines Tieck, Hoffmann, Novalis, und manch andere „Quellen" wären zu nennen, vielleicht auch Nachwirkungen aus Hugos reidiem, metaphorisch-metaphysischem Arsenal; all das vermischt sich mit dem philosophischen Gedankengut des Piatonismus, der Gnosis, des Neuplatonismus, das sich als Erbschaft der Romantik eindringlich kundtut: „ . . . par-dessus toutes les formes, plus loin que la terre, audelä des cieux... le monde des Idees tout plein du Verbe..." — dazu ein profundes Wissen um die antiken Religionen, die Flaubert ins Dämmerlicht des Göttersterbens rückt — eine seltsame Parallele zur zeitgenössischen „Götterdämmerung" von Walhall. Wenn schließlich die zahlreichen, in der Tentation verstreuten Züge positivistischer Religionswissenschaft und die von der Bibelkritik erweckten Zweifel an der Berechtigung des christlichen Absolutheitsanspruchs auf die Tradition Simon—Voltaire—Diderot—Feuerbach—Marx—Strauß und Renan weisen, so konnte der Schluß des Dramas, der fast im Geiste biologischer Wissenschaft geschrieben wurde, erst in einer Generation entstehen, die das epochale „On the origin of species" (1859) von Darwin erscheinen sah. — Von einem Gemälde Breughels kam die Inspiration zu diesem kuriosen Werk; in dem surrealistischen Gemälde des hl. Antonius von Salvador Dali lebte die Tentation von neuem auf; zwischen beiden gestaltete Flaubert seinen barock-romantisch-surrealistischen Bilderbogen von der Versuchung des Heiligen. Und darf die Vermutung ausgesprochen werden, daß von der seltsamen Mischung positivistisch-naturwissenschaftlichen Denkens und dem eigenartig metaphysisch-christologischen Schluß etwas in dem Weltbild Teilhard de Chardins zu spüren ist? Zola (1840—1902) oder die naturalistische Epik im Dienst an der sozialistischen Gesellschaft der Zukunft „Gustave Flaubert est une des personnalites les plus hautes de notre litterature contemporaine. On s'incline respectueusement devant lui. Toute la generation l'accepte comme un maitre . . . "

So schrieb Emile Zola (La R6forme 15. September 1878). Wer war diese „junge Generation", die Flaubert als ihren Meister verehrte? Es waren die jungen Leute, die um 1860 etwa 20 Jahre alt waren, also im

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Zeitraum der Dritten Republik auf Flaubert folgten, wie Flaubert seinerzeit auf den Balzac der Juli-Monarchie gefolgt war. Die politischen Einschnitte, sagt Thibaudet, fielen hier ziemlich genau mit den Etappen der Roman-Evolution zusammen. Die beiden Goncourt — 10 bis 20 Jahre älter als Zola — haben den Weg zum Naturalismus vorbereitet. Alphonse Daudet hingegen, wie Zola aus der Provence stammend, ist sein genauer Altersgenosse, und mit Cezanne war Zola in einer Klasse, als er in Aixen-Provence zur Schule ging. Auguste Renoir und Claude Monet wurden ebenfalls 1840 geboren. Die Impressionisten sind Zolas Zeitgenossen. Eine seiner mutigsten polemischen Schriften ist über Edouard Manet (geb. 1832) geschrieben; darin rühmt Zola die jungen französischen Maler auf Kosten der Romantiker. In der Musik lösten Bizet (1838—1875), der Schöpfer der „Carmen" und der „Arl£sienne", Emmanuel Chabrier (1841—1894), der wagnerisierende Komponist der „Gwendeline", Jules Massenet (1842 bis 1912), Komponist des „Werther" und der „Manon", der „Cid"- und „Phädra"-Musik, und Gabriel Faure (1845—1924), Schöpfer des „Prometheus" und der „Penelope" die alte Generation von Charles Gounod (1818—1893), Cέsar Franck (1822—1890), Edouard Lalo (1832—1892) und Saint-Saens (1835—1921) ab. Sie wurden die Wegbereiter von Debussy (1862—1918) und Ravel (1875—1937). Eine neue Zeit war im Aufbruch — in der Literatur, in der Malerei, in der Musik Frankreichs. Emile Zola, Edouard Manet, Alfred Bruneau, der „naturalistische" Musiker, der Texte nach Romanen Zolas komponierte, gehören zusammen. Als Zola und seine Altersgenossen 30 Jahre alt waren, brach das Empire im Deutsch-Französischen Kriege zusammen. Das Debakel dieses äußerlich so glanzvollen Reiches unter Napoleon III. hat Zola in dem Roman „La Dέbäcle" geschildert, eines Reiches, das sich mit der zügellosen Spekulationssucht der hohen Schichten und ihrer Verachtung der sozialen Probleme an den Abgrund des Verhängnisses gebracht hat. Mit der Bereicherung wuchs die Genußsucht und Lebensgier, die blind und rücksichtslos gegenüber denen war, die im Schatten vegetieren mußten. Im Schatten lebten die Massen, dunkle Menschenmassen, die man Proletarier nannte, und die der reiche Bürger mit ängstlicher Neugier betrachtete. Diese Masse erwachte, drängte vorwärts. Konnte der Sozialist Zola nicht eine neue Aufgabe als Schriftsteller darin sehen, die neue Bewegung im Romanwerk zu gestalten, die Massen ans Licht zu führen, Prophet der Zukunft zu werden? Dann wäre es nicht damit getan, Ausnahmegestalten, die einen Künstler wohl immer reizen,

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in ein literarisches Kunstwerk zu bannen, es wäre nicht damit getan, in romantischen Gefühlen und vagen, fernen Zukunftsvisionen zu schwelgen — wie es der junge Zola noch in Tausenden von Versen getan hatte. Nein: „Fort mit dem aristokratischen Künstlerstil!" Zola suchte seinen Weg. Aber wie kann man nach Balzac noch solche Massen bewältigen, wie nach Flaubert noch tiefer in die Analyse des Alltäglichen gehen? Zola hat es aus dem Geist einer neuen Zeit, aus dem Glauben an den Sieg der Demokratie, von der weder Balzac noch Flaubert etwas wissen wollten, gewagt — und hat es in einer neuen Sprache gewagt. Mit 28 Jahren entschließt er sich, für seine Epoche, das Zweite Kaiserreich, das zu tun, was Balzac für die seine getan hat: ein Riesenceuvre aufzurichten, eine zweite Comedie humaine. Sie trägt den Titel: „Les Rougon-Macquart, Histoire naturelle et sociale d'une Familie sous le Second Empire". Das Ganze war auf 10 Bände beredinet, aber wuchs in etwa 20 Jahren auf 25 Bände an. Im Gegensatz zu Balzac arbeitete Zola gleich nach einem vorgefaßten Plan, den man sich als einen Familienstammbaum vorzustellen hat. Die Stammutter ist Adέlaide Fouque. Einige Hauptpersonen aus dem Zweig der Rougon sind der Doktor Pascal, Aristide, Sidonie, Marthe, Clotilde, Angelique . . . , aus dem Zweig der Macquart F r a n c i s Mouret, Jean Mouret, Gervaise Macquart, Etienne Lantier . . . Etwa 1000 Personen bevölkern den „roman-cite". Das Werk gedieh auf dem Boden der zeitgenössischen Philosophie und Naturwissenschaft: es nährte sich an Taines Determinismus, an Darwins Evolutionstheorie, an Dr. Lucas' Vererbungslehre, an Claude Bernards methodischer Experimentalforschung und an Karl Marx' historischem Materialismus, in dem die Theorien der französischen Sozialisten „aufgehoben" waren. Zola war mit den wesentlichen Forschungsmethoden und der wissenschaftlichen Literatur vertraut. Merkwürdig ist, daß der 1. Band der Familiengeschichte des Zweiten Kaiserreichs gerade geschrieben war, als das Empire zusammenbrach. Der 1. Band: „La Fortune des Rougon" erschien erst 1871. Mit andern Worten: Die gesamte Serie der RougonMacquart-Romane gehört ihrer zeitlichen Abfassung nach in die Dritte Republik, so wie Balzacs „Comedie humaine" in der Juli-Monarchie geschrieben ist, aber den Ereignissen nach, so wie sie in den Romanen verdichtet sind, zum überwiegenden Teil in die Restauration gehört. In den 5 Generationen der Rougon-Macquart — Adelaide Fouque stirbt hundertjährig — hat sich das Astwerk des Stammbaums über alle sozialen Schichten Frankreichs verzweigt: das Provinzleben (Fortune des Rougon),

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die Lebewelt (Nana), die Welt der Arbeiter (L'Assommoir, Germinal, Bete humaine), der Bürger (Pot-Bouille), der Geschäftsleute und Finanzmänner (Ventre de Paris, Au Bonheur des Dames, La Curee, L'Argent), der Militärs (La Debacle), der Geistlichkeit (La Faute de l'Abbi Mouret), der Politiker (Son Excellence Eugene Rougon), der Ärzte (Docteur Pascal)... Um ein solches Monument aufzuführen, bedurfte es nicht nur eines durchdachten Planes, sondern auch einer festen Methode, eines robusten Arbeitswillens, vor allem einer tragenden Idee, in der sich der Geist des Werkes zusammenfaßte. Zolas ungeheure SchafFensenergie speiste sich aus seinem unerschütterlichen Glauben an die kommende Demokratie, an die Aufwärtsentwicklung der Arbeitermassen aus dem Schlamm ihrer Existenz zur bestimmenden Rolle in einem würdigen sozialen Leben. Die Republik war für ihn das Ideal der Wahrheit und Freiheit. Je politischer sein Werk wurde, um so menschlicher wurde es. Literatur und Politik waren für ihn untrennbar. Was er in der Jugend sah, war der Kapitalismus im Rohzustand, ein System, das noch keine soziale Gesetzgebung kannte; was er sah, waren das Bacchanale der Gründerzeit und die auszehrende Genußsucht der führenden Klassen. Und was er auf der andern Seite sah, war das unvorstellbare Elend der Pariser Slums, eine Not ohne Maß und Scham, das Elend der Arbeiterquartiere, wo zusammengepfercht Väter und Töchter, Brüder und Schwestern hausten, wo die Not die Arbeitslosen oder Arbeitsunfähigen zu tierhaftem Leben degradierte und sie über den Alkohol ins Verbrechen trieb. Zola hatte Augen zu sehen und er verschloß sie nicht. Sein Sehen aber wurde Vision. Sein anti-idealistischer Feldzug gegen die Autoren, die ihre Werke im Nebelreich der Phantasie und Metaphysik auf keinen festen Grund zu stellen vermochten, war eine Kampfansage gegen die Verächter experimenteller Methoden, also gegen jene „Idealisten", die dafür halten, daß die Wahrheit in ihnen und nicht in den Dingen selbst liege. Er weiß zwar, daß sein eigenes Experimentierfeld in der Romanschriftstellerei erst Sinn und Bestand durch einen allgemeinen Wandel vom metaphysischen zum naturwissenschaftlichen Denken bekommen wird, aber die aufblühende naturalistische Literatur, die es nicht mehr mit einem homme abstrait, einem homme metaphysique, sondern dem homme naturel zu tun habe, trägt schon die Zeichen des „modernen" wissenschaftlichen Zeitalters. Und wenn dem so ist, dann „arbeiten wir gemeinsam mit dem ganzen Jahrhundert an dem großen Werk der Eroberung der Natur." (Roman experimental)

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Zola war von der Lektüre des „Traiti de l'H£r£diti naturelle" (1847—1850) von Dr. P. Lucas sehr beeindruckt. Er fand durch eigene Beobachtungen bestätigt, daß die vererbten Anlagen einen großen Einfluß auf die geistigen und psychischen Verhaltensweisen des Menschen haben. Zugleich aber wies er auf die andere Komponente, die Bedeutung des Milieus, hin: der Mensch lebt nicht isoliert, sondern in einem sozialen M i l i e u . . . „et d£s lors pour nous, romanciers, ce milieu social modifie sans cesse les phenon^nes". (ib.) Wenn es dann weiter heißt, unsere große Aufgabe als Romanschriftsteller bestehe darin, die Wechselwirkung von Gesellschaft und Individuum zu erhellen, fühlt man sich an Madame de Staels sozialpolitische Studie „De la Literature consid£r£e dans ses rapports avec les Institutions sociales" erinnert. Zola nimmt das Thema auf und erweitert es: Er will 1. aus der Analyse des physiologischen Mechanismus im Menschen auch das Räderwerk der psychischen und geistigen Motorik erkennen; er strebt 2. danach, die Erkenntnisse dir erbbiologischen Forschung mit seinen eigenen Sozialstudien so zu verbinden, daß aus der Synthese beider Forschungen ein reales, fundiertes Bild des Menschen gewonnen werden kann, des Menschen, „der in einem Milieu lebt, das er selbst geschaffen hat, das er alle Tage verändert, und durch das er seinerseits beständig verändert wird." (ib.)

Damit ist die Frage des „Experimentellen Romans" in den Bereich der Soziologie gerückt. Zola hatte schon in seinem ersten Roman von 1867, der „Therese Raquin", gezeigt, daß er an Problemen wie Verbrechen—Wahnsinn— Genie in psychoanalytischer Sicht Interesse hatte, und er wird später der Frage, in welchem Maße seelische Störungen von sozialen Einflüssen abhängig sind, ein immer stärkeres Gewicht beilegen. Mit der Erkenntnis, daß psychische und physische Störungen oft nicht nur als Krankheiten eines Individuums, sondern als soziales Krankheitsbild einer ganzen Gruppe zu deuten sind, wird Zola modern. Worauf er am Ende abzielt, ist nicht die psychoanalytische oder naturwissenschaftliche Erkenntnis um ihrer selbst willen, sondern sein Ziel als Schriftsteller ist, Literatur in Tat umzusetzen, und zwar in zweifacher Richtung: durch die Verbindung der Literatur mit der Naturwissenschaft den „roman experimental" selbst zu einem Instrument der Erkenntnis werden zu lassen, zum andern mit der Literatur eine praktische Soziologie zu fördern, welche ihrerseits die Menschheit zu Freiheit und Gerechtigkeit, mit einem Wort, zu ihrem gesellschaftlichen Glück führen soll. „In diesem Sinn betreiben wir prak-

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tische Soziologie, und unsere Arbeit dient damit den Sozialwissenschaften." (ib.) Zola stand fest in dem Glauben, daß es in Zukunft den vereinten K r ä f t e n der sich engagierenden Schriftsteller, der volkswirtschaftlich orientierten Politiker und der f ü r die irdischen Wahrheiten kämpfenden N a t u r wissenschaftler gelingen werde, gegen die Widerstände der andern drei vereinigten Mächte der Metaphysiker, der Theologen und der reaktionären Politiker die Menschheit auf den Weg der Wahrheit und des diesseitigen Glücks zu führen. Das ist „notre role de moralistes expέrimentateurs