Der Tod von eigener Hand: Studien zum Suizid im Alten Testament, Alten Ägypten und Alten Orient [1 ed.] 3161540557, 9783161540554

Viele Fragen zur Selbsttötung und zum gesellschaftlichen Umgang mit Selbsttötung werden aktuell in der Öffentlichkeit un

1,038 155 9MB

German Pages 381 [398] Year 2016

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Der Tod von eigener Hand: Studien zum Suizid im Alten Testament, Alten Ägypten und Alten Orient [1 ed.]
 3161540557, 9783161540554

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
Eine Sinngeschichte suizidaler Handlungen
Begriffsklärung: Selbstmord, Selbsttötung, Suizid und Freitod
Todeswunsch und Selbstmordabsicht am Beispiel von Hiob 7,15f und verwandten Texten
Erster Teil: Kultursoziologische Grundlagen Ehre, Scham und Schande in den Kulturen der Alten Welt
Zur Begriffsbestimmung von Ehre, Scham und Schande
Formen der Ehre, Scham und Schande im Alten Israel
Zusammenfassung
Zweiter Teil: Eskapistische Selbsttötungen
Zur Typologie der Sinnformen suizidaler Handlungen
Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage
Eskapistische Selbsttötungen angesichts des Scheiterns fundamentaler Lebensziele (Bilanzsuizide)
Eskapistische Selbsttötungen in gesellschaftlichen Krisenzeiten (anomische Suizide)
Eskapistische Selbsttötungen im juristischen Kontext
Dritter Teil: Aggressive Selbsttötungen
Appellative und erpresserische Selbstmorddrohungen
Selbstmord aus Rache und Heldenmut
Vierter Teil: Oblative Selbsttötungen
Selbsttötungen als Opfer: Das Selbstopfer
Selbsttötungen als Passage: Der Gefolgschaftstod
Fünfter Teil: Zusammenfassung und Ausblick
Abbildungsnachweise
Literaturverzeichnis
1. Altes Testament
2. Apokryphen und Pseudepigraphen
3. Neues Testament
4. Aramäische und phönizische Texte
5. Qumran
6. Rabbinische Literatur
7. Ägypten und Alter Orient
8. Griechische und lateinische Texte
1. Ägyptisch
2. Sumerisch
3. Akkadisch
4. Elamisch
5. Hebräisch
6. Altpersisch
7. Griechisch
8. Lateinisch
Stellenregister
Lexeme und Kontextformen
Sachund Namensregister

Citation preview

Orientalische Religionen in der Antike Ägypten, Israel, Alter Orient

Oriental Religions in Antiquity Egypt, Israel, Ancient Near East

(ORA) Herausgegeben von / Edited by Angelika Berlejung (Leipzig) Joachim Friedrich Quack (Heidelberg) Annette Zgoll (Göttingen)

19

Jan Dietrich

Der Tod von eigener Hand Studien zum Suizid im Alten Testament, Alten Ägypten und Alten Orient

Mohr Siebeck

Jan Dietrich, 2009 Promotion; 2016 Habilitation; seit 2012 Associate Professor für Altes Testament an der Universität Aarhus, Dänemark.

Zugl.: Leipzig, Univ., Habilitationsschrift, 2016. e-ISBN PDF 978-3-16-15471-9 ISBN 978-3-16-154055-4 ISSN 1869-0513 (Orientalische Religionen in der Antike) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­biblio­graphie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer­tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­papier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Für Boris und Florian

Gewöhnlich werden wir zum Selbstmord getrieben, um einem anderen Übel zu entgehen. Michel de Montaigne

Der Gedanke an den Selbstmord ist ein starkes Trostmittel: mit ihm kommt man gut über manche böse Nacht hinweg. Friedrich Nietzsche

Bezeichne den Selbstmörder immer nur als einen Unglücklichen, dann tust du recht; und damit ist alles gesagt. August Strindberg

Warum töte ich mich nicht? – Wüßte ich genau, was mich daran hindert, so müßte ich mir keine weiteren Fragen stellen, da ich auf alle geantwortet hätte. Emil Cioran

Vorwort Die Fragen zum Suizid und zum gesellschaftlichen Umgang mit Suizid werden aktuell in der Öffentlichkeit und auf verschiedenen Forschungsfeldern diskutiert, und der Suizid ist auch in der historischen Forschung in Bezug auf die klassische Antike schon umfassend behandelt worden. Eine extensive Behandlung des Themas in Hinsicht auf das Alte Testament und die Kulturen des Alten Orients, einschließlich des Alten Ägypten, stand bislang jedoch aus, und es ist das Anliegen des vorliegenden Buches, diese Forschungslücke zu schließen. Im Jahr 2007 wurde ich gefragt, ob ich für den Sammelband Tod und Jenseits im alten Israel und in seiner Umwelt einen Beitrag entweder über Hinrichtungen oder zum Selbstmord beisteuern könnte – zwei unliebsame und wenig behandelte Themen, die noch nicht besetzt waren. Nach einigem Nachdenken waren mir die Hinrichtungen zu grausam, während ich dagegen feststellte, dass das Thema Suizid in Bezug auf das Alte Testament und die antiken Kulturen aus der Umwelt des alten Israel – anders als beispielsweise in Bezug auf Griechenland und Rom – nicht nur kaum erforscht, sondern auch sowohl anthropologisch und philosophisch als auch theologisch außerordentlich bedeutsam und vielschichtig ist, weil es den Kern dessen betrifft, was Mensch und Gesellschaft für lebens- und sterbenswert halten. Der Artikel, den ich dann für den oben genannten Sammelband verfasste, wurde zu lang, um ihn an einer Stelle publizieren zu können, sodass er in zwei verschiedenen Anthologien erscheinen musste (Berlejung/Heckl, Mensch und König, Freiburg 2008; Berlejung/Janowski, Tod und Jenseits im alten Israel und in seiner Umwelt, Tübingen 2009). Dennoch war ich unzufrieden, denn es gab eine Fülle an weiterem Material, das zu bedenken und einzuarbeiten gewesen wäre. Darüber hinaus wurde mir immer deutlicher, dass die kultursoziologischen Kategorien von Ehre und Schande eine zwar nicht unumschränkte, aber doch ganz entscheidende Rolle für das Verständnis zahlreicher suizidaler Handlungen sowie alttestamentlicher und altorientalischer Textreflexionen über solche Handlungen spielten. Aus all diesen Gründen habe ich mich in den letzten Jahren noch einmal an dieses gewiss nicht leichte Thema gewagt, um ihm seinen gebührenden Platz in der alttestamentlichen sowie altorientalischen Forschung auch monograpisch zukommen zu lassen. Mein Artikel zum oben erwähnten Thema Ehre und Schande (Über Ehre und Ehrgefühl im Alten Testament, in: Janowski/Liess, Der Mensch im alten Israel, Freiburg 2009) bildet in überarbeiteter Form eine weitere Grundlage für das vorliegende Buch. Ansonsten sind die Artikel nicht nur in erheblicher Weise umgearbeitet, ergänzt, erweitert und korrigiert worden, sondern es sind auch zahlreiche neue eigenständige Kapitel und Gedanken hinzugekommen, sodass jetzt eine eigenständige Monographie zum Thema vorliegt. Nun lässt sich ein solches Thema sicherlich nicht allein durch eine ho-

X

Vorwort

he Seitenzahl gebührend behandeln. Ob es jedoch überhaupt möglich ist, diesem Thema und den Menschen, die Hand an sich legen, in vollem Umfang gerecht zu werden? Auch dieses Buch kann wohl nicht mehr als eine tastende Annäherung sein. Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2016 von der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig als Habilitationsschrift angenommen und für den Druck leicht überarbeitet. Für die hilfreichen Anregungen und Kommentare danke ich den Gutachtern, vor allem meiner langjährigen Mentorin und „Doktormutter“ Prof. Dr. Angelika Berlejung (Leipzig), meinem ebenfalls langjährigen Mentor Prof. Dr. Bernd Janowski (Tübingen) sowie Prof. Dr. Dr. Andreas Schüle (Leipzig), dem ich seit Jahren freundschaftlich verbunden bin. Für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe ORA und für konstruktive Hinweise danke ich den Herausgebern Prof. Dr. Angelika Berlejung (Leipzig), Prof. Dr. Joachim Quack (Heidelberg) und Prof. Dr. Annette Zgoll (Göttingen). Danken möchte ich auch Hannah Mogensen (Aarhus) für ihre Hilfe bei der Erstellung des Registers sowie dem Verlag Mohr Siebeck, namentlich Rebekka Zech für die verlegerische Betreuung bei der Erstellung der Druckvorlage und Dr. Henning Ziebritzki für die Aufnahme der vorliegenden Studie in das Verlagsprogramm. Schließlich möchte ich meinen Eltern danken, die mir stets meine ersten Leser waren. Aarhus, Dänemark, im Juni 2016 Jan Dietrich

Inhaltsverzeichnis Vorwort …………………………………………………………………………….. IX Abkürzungsverzeichnis ……...…………………………………………………….. XV

Einleitung Eine Sinngeschichte suizidaler Handlungen …………………………………….…….. 1 Begriffsklärung: Selbstmord, Selbsttötung, Suizid und Freitod ……….……………… 6 a) Europäische Neuzeit ……………………….………………………………….. 6 b) Antike und Alter Orient ………….………………………….………………… 9 Todeswunsch und Selbstmordabsicht am Beispiel von Hiob 7,15f und verwandten Texten .……….………………………... 12

Erster Teil: Kultursoziologische Grundlagen Ehre, Scham und Schande in den Kulturen der Alten Welt Zur Begriffsbestimmung von Ehre, Scham und Schande ………………………….… 19 Formen der Ehre, Scham und Schande im Alten Israel ……………………………… 24 a) Ehre, Scham und Schande des sozialen Leibes (Leibesehre, Leibesscham, Leibesschande) ………………..…………………. 24 b) Ehre und Schande des sozialen Status (Statusehre und Statuserniedrigung) ………………………………….………. 33 c) Die erworbene Ehre (Ruhmesehre) ………….……………………….………. 40 Exkurs: Bewusst sein Leben um des Ruhmes willen aufs Spiel setzen: Gilgamesch und Huwawa ……………..……………………….………. 42 d) Ehre und Schande des Toten (Totenehre und Totenschande) ……….………. 44 e) Die Ehre des Weisen und Demütigen ……….…………….…………………. 50 Zusammenfassung ......................................................................................................... 55

XII

Inhaltsverzeichnis

Zweiter Teil: Eskapistische Selbsttötungen Zur Typologie der Sinnformen suizidaler Handlungen ……………………………… 59 Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage ……………………. 60 A) Selbsttötungen durch das Schwert ……………………….…………………..…... 60 a) Saul ……………………………………………………….…………..……… 60 b) Abimelech ……………………………………………………..……….……. 77 c) Nabûbēlšumāti …………………………………………………………..…… 82 d) Urtak und Nabûdamiq von Elam …..……………………..………………..... 89 e) Ursā von Urartu …………………....…………………………………...….... 97 f) Razis …………….………………....……………………………..………..... 104 Exkurs 1: Suizid auf der Stele des Naram-Sin, auf einem Flachbild aus Deschasche und nach der Bihistun-Inschrift? ……..…….………..... 108 Exkurs 2: Die Selbsttötung der Einwohner von Tyros ..……..……………..... 113 g) Zusammenfassung ..……………....…………………………..…………...... 115 B) Selbsttötungen durch das Hinabstürzen von Bergklippen ……….………….…... 116 C) Selbsttötungen durch Selbstverbrennung ……………………………………….. 118 a) Simri …………….………………………………………………………….. 120 b) Mitinti von Askalon ………………….…………………………………….. 127 c) Assurbanipal (Sardanapalos), Šamaššumukīn (Sarmuge/Saosduchinos) und Sinšariškun (Sarakos) ………..…………………………………………. 129 d) Kroisos, Boges und Amilkas …….….…………………………………….... 137 Exkurs 1: Der kollektive Selbstmord in kleinasiatischen Städten …………….. 143 Exkurs 2: Der kollektive Selbstmord der Einwohner von Sidon ……..……….. 144 Exkurs 3: Der kollektive Selbstmord der Einwohner von Persepolis ...……….. 146 Eskapistische Selbsttötungen angesichts des Scheiterns fundamentaler Lebensziele (Bilanzsuizide) ………………………………………….…………………………… 147 a) Ahitofel ……………………………………………………………………... 148 b) Die Suizidgedanken Saras im Buch Tobit …………..……………………… 155 c) Der weise Seher Amenophis …………………….…..……………………… 160 d) Naneferkaptah ……………………………………………………………… 162 e) Paibēse ……………………………………………………………………… 163 Exkurs 1: Onnes, Semiramis, Thisbe und Pyramus ……..……………..……… 164 Exkurs 2: Kleopatra – ritueller Selbstmord? ..………………………………… 166

Inhaltsverzeichnis

XIII

Eskapistische Selbsttötungen in gesellschaftlichen Krisenzeiten (anomische Suizide) …………………………………….………………………….. 168 a) Die Klagen des Ipuwer ……………………………………………………... 169 b) Das Gespräch des Lebensmüden mit seinem Ba ..…..……………………… 173 c) Der sogenannte „Pessimistische Dialog“ ….…….…..……………………... 178 Eskapistische Selbsttötungen im juristischen Kontext ...…………………………… 182 a) Die Haremsverschwörung unter Ramses III. .……………………………… 182 b) Ptolemaios Makron …………………………… ..…..……………………... 188

Dritter Teil: Aggressive Selbsttötungen Appellative und erpresserische Selbstmorddrohungen ..…………………………… 195 a) Der eloquente Bauer …………………..………………………………….… 196 b) Das Zweibrüdermärchen ………………….………..………………………. 199 c) Der verwunschene Prinz ………………….………..……………………….. 201 d) Selbstmorddrohungen in altbabylonischen Briefen und verwandten Texten . 203 e) Selbstmorddrohungen der Patriarchinnen Rebekka und Rahel in der Genesis? ………..………………………….…………...…………….. 212 Exkurs: Selbstmorddrohungen in griechischen Briefen aus Ägypten ..……….. 220 Selbstmord aus Rache und Heldenmut ……………...………………………………. 222 a) Simson ………………………………………………………………………. 222 b) Eleazar Avaran/Makkabäus …………………………….…………………... 231 Exkurs: Autoaggressive Selbsttötungen im römerzeitlichen Palästina …….….. 237

Vierter Teil: Oblative Selbsttötungen Selbsttötungen als Opfer: Das Selbstopfer ……….…..……………………………. 239 a) Der Soldat, der sich in der Not für seinen Herrn in den Tod stürzt ……..…. 240 b) Das Selbstopfer des Jona …………………………..……………………….. 241 c) Die Martyriumslegenden des zweiten Makkabäerbuches ………………….. 247 Exkurs: Das Selbstopfer des Antinoos ………………………………………... 261 Selbsttötungen als Passage: Der Gefolgschaftstod .........................……………..…. 264 a) Die Königsgräber von Ur …………………………..……………………….. 266 b) Die Königsgräber von Abydos ………………………….………………….. 282 c) Die Grabtumuli von Kerma ……….……..…………………...…………….. 289

XIV

Inhaltsverzeichnis

d) Die neuassyrischen und biblischen Gefolgschaftstode …………………….. 296 Exkurs: Der Gefolgschaftstod der Tasis ………………………………………. 299

Fünfter Teil: Zusammenfassung und Ausblick Zusammenfassung und Ausblick ……………………..………….…………………. 301 Abbildungsnachweise ……………………..………….……………………………. 307 Literaturverzeichnis ……………………………………………………………… 309 Stellenregister …….……………………………………………………………… 353 Wortregister ……………………………………………………………………… 365 Sachregister ……………….……………………………………………………… 370

Abkürzungsverzeichnis Die Abkürzungen der biblischen Bücher, allgemeine Abkürzungen sowie bibliographische Abkürzungen im Literaturverzeichnis richten sich nach dem Verzeichnis der RGG4: Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaft nach RGG4, Tübingen 2007. Weitere altorientalische und ägyptologische Abkürzungen richten sich nach den Abkürzungen des RlA: Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie, Berlin (in ständiger Bearbeitung. Stand 28.10.2010), sowie nach den Abkürzungen im LÄ: Lexikon der Ägyptologie 7. Nachträge, Korrekturen und Indices, Wiesbaden 1992. Zusätzlich gelten folgende Abkürzungen: ABG ACER Aisch. Sept. Ant. Appian BC Aug. Civ. BACE BAR BG BMJ Cass. Dio Cic. Fin. Cic. Tusc. CLeO COS DCLS DCLY Dig. D.L. Eur. Iph. T. Eur. Or. Flav.Jos.Ant. Flav.Jos.Bell. Flav.Jos. c. Apion FGrHist GK Hdt. HGANT Hier. Chron. Hippokr. Acut. Hist.Aug.Hadr. Hyg.Fab. JAJ.S

Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, Leipzig The Australian Centre for Egyptology. Reports, Sydney Aischylus, Septem contra Thebas Antiphon Appian, Bella Civilia Augustin, De Civitate Dei The Bulletin of the Australian Centre for Egyptology, Sydney Biblical Archaeology Review, Washington, DC Biblische Gestalten, Leipzig British Medical Journal, London Cassius Dio Cicero, De Finibus Cicero, Tusculanae Disputationes Classica et Orientalia, Wiesbaden Hallo, W.W./Lawson, K. Jr., The Context of Scripture, Leiden 1997–2002 Deuterocanonical and Cognate Literature Studies, Berlin Deuterocanonical and Cognate Literature Yearbook, Berlin Digest Diogenes Laertius Euripides, Iphigenia in Tauris Euripides, Orestes Flavius Josephus, Antiquitates Judaicae Flavius Josephus, Bellum Judaicum Flavius Josephus, Contra Apionem Jacoby, F. (Hg.), Die Fragmente der griechischen Historiker, Berlin u.a. Gesenius, W./Kautzsch, E./Bergsträsser, G., Hebräische Grammatik, Hildesheim u.a. 281995 Herodot Berlejung, A./Frevel, C. (Hg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006/42015 Hieronymus, Chronicon Hippokrates, De Victu Acutorum Historia Augusta, Hadrianus Hyginus Mythographus, Fabulae Journal of Ancient Judaism. Supplements, Göttingen

XVI JSSEA LHB/OTS LingAeg LingAeg.SM MSU OEBL ORA Ovid Met. Pirqe REl Plato Phaid. Plaut. Trin. Plin. Nat. Hist. Plut. Alex. Plut. Ant. Plut. Them. Quint. RE S S. th. Sen. Epist. SWB Tac. Ann. Thuk. UBS Verg. Aen. WAM Xen. Anab. Xen. Hell.

Abkürzungsverzeichnis Journal of the Society of the Study of Egyptian Antiquities, Mississanya, Ontario Library of Hebrew Bible/Old Testament Studies, London Lingua Aegyptia, Hamburg Lingua Aegyptia. Studia Monographica, Hamburg Mitteilungen des Septuaginta-Unternehmens der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Göttingen Strawn, B.A. (Hg.), The Oxford Encyclopedia of the Bible and Law, 2 Bde., Oxford 2015 Orientalische Religionen in der Antike, Tübingen Ovidius, Metamorphoses Pirqe deRabbi Eli‘eser, Warschau 1852 Plato, Phaidon Plautus, Trinummus Plinius Maior, Naturalis Historia Plutarch, Alexandros Plutarch, Antonius Plutarch, Themistokles Quintilian, Institutio Oratoria Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Stuttgart Supplement Thomas Aquinas, Summa Theologica Seneca, Epistulae Crüsemann, F. u.a. (Hg.), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009 Tacitus, Annales Thukydides United Bible Societies Vergil, Aeneis Fieger, M./Krispenz, J./Lanckau, J. (Hg.), Wörterbuch alttestamentlicher Motive, Darmstadt 2013 Xenophon, Anabasis Xenophon, Hellenika

Einleitung Eine Sinngeschichte suizidaler Handlungen Es gibt ein verdrängtes, den Glauben an eine gute Schöpfung in seinen Grundfesten erschütterndes theologisches Problem: den Selbstmord.1 Der Selbstmord ist nicht nur ein entscheidendes philosophisches,2 sondern auch ein eminent theologisches Problem. Und dieses ist nicht nur eines der theologischen Anthropologie, welche die Frage zu stellen und zu beantworten hat, wie der Selbstmord des Menschen coram deo zu verstehen ist, auch nicht nur eines der Schöpfungstheologie, an der sich die Frage entzündet, ob angesichts des Selbstmords unsere Welt tatsächlich eine wohlgeordnete, gute und gerechte oder nicht doch vielmehr eine schlechte oder zumindest ambivalente und oftmals tragische sei. Darüber hinaus implizieren beide Aspekte die Theodizeefrage, ob nicht „das freiwillige Aufgeben des Lebens ein schlechtes Kompliment ist für Den, welcher gesagt hat παντα καλα λιαν?“3 Von den zahlreichen Versuchen, das Wesen des Menschen auf den Begriff zu bringen und seine differentia specifica gegenüber dem Tier zu bestimmen, ist die Definition als animal potens mortis voluntariae sicherlich die unheimlichste, philosophisch vielleicht tiefsinnigste und theologisch lange Zeit unbequemste.4 Sie gründet nicht nur auf der empirischen Beobachtung, dass Selbsttötungen bei Tieren nicht vorkommen, zumindest umstritten sind, sie geriert sich gar als brillanteste, indem die „Freiheit zum Tode“5 nicht nur dem Tier, sondern auch den Göttern als unsterblichen Wesen abgesprochen wird: „An und für sich ist die Freiheit zur Selbstvernichtung des eigenen Daseins eine spezifisch menschliche Möglichkeit. Ein notwendig existierendes Wesen wie Gott kann sich nicht selbst vernichten. Desgleichen

1

Vorarbeiten für dieses Buch stellen meine beiden Artikel in Berlejung/Heckl, Mensch und König, sowie Berlejung/Janowski, Tod und Jenseits, dar. Der in diesen beiden Artikeln behandelte Stoff ist nicht nur in erheblicher Weise umgearbeitet, ergänzt, erweitert und korrigiert worden, sondern es sind zahlreiche neue Kapitel und Gedanken hinzugekommen, sodass hiermit nun eine eigenständige Monographie zum Thema vorgelegt werden kann. 2 „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord.“ (Camus, Mythos, 9); „Warum töte ich mich nicht? – Wüßte ich genau, was mich daran hindert, so müßte ich mir keine weiteren Fragen stellen, da ich auf alle geantwortet hätte.“ (Cioran, Schöpfung, 1417) 3 Schopenhauer, Gedanken, 275. 4 Aus philosophischer Sicht meiner Einsicht nach immer noch am tiefsinnigsten: Améry, Hand; zu philosophischen und zugleich theologischen Erwägungen vgl. etwa Schneider, Selbstmord. 5 Vgl. zu derartigen Formulierungen Zarathustras Rede Vom freien Tode in Nietzsche, Zarathustra, 93–96.

2

Einleitung

kann sich ein Tier so wenig selber töten, wie es sich selbst ins Leben hervorgebracht hat; es kann nur von Natur aus verenden.“6 Ist das Leben der Götter ein stets vollendetes und gelingendes und das der Tiere ein stets natürliches, so gehört die Möglichkeit und Fähigkeit, sich selbst zu töten, zu den Auszeichnungen des nicht nur gottgleich-heroischen, sondern letztlich immer auch untröstlichen und scheiternden menschlichen Wesens: „Nur der Mensch kann leben und dabei unglücklich sein. Er kann also gerade das verfehlen, was ihm der Sinn seines Daseins zu sein scheint. Noch wenn er Selbstmord begeht, wendet er einen letzten aller seiner Kunstgriffe an: er versucht Selbsterhaltung um jeden Preis, selbst den des Lebens, um wenigstens die Möglichkeit seiner Identität nicht selbst dementieren zu müssen. […] Insofern gehört die Möglichkeit der Selbsttötung zu den Auszeichnungen eines Wesens, dem das Gelingen seines Daseins nicht zuverlässig programmiert ist.“7 Erweist sich somit nicht nur die Fähigkeit, den eigenen Tod zu reflektieren,8 sondern – darin eingeschlossen – auch die Fähigkeit, Hand an sich zu legen, als „ein Privileg des Humanen“,9 dann muss die Beschäftigung mit der Frage, wie der Mensch des Alten Israel zur Selbsttötung stand, ein zentrales Anliegen für die Anthropologie und Thanatologie nicht nur des Alten Testaments, sondern der Bibel insgesamt sein. In der kulturellen und gesellschaftlichen Semantik, in der in den Kulturen des Altertums die Selbsttötung mit Sinn oder Unsinn, mit Akzeptanz oder Verurteilung belegt wird, kommt ein Bild des Menschen wie ein Lebens- und Todesverständnis zum Vorschein, das in diese Forschungen zu integrieren ist. Bisher jedoch ist dieses Phänomen der alttestamentlichen Wissenschaft kaum eine Beschäftigung wert gewesen.10 Es werden Monographien und Sammelbände zum Menschenbild, zum Todesverständnis und zu den Jenseitsvorstellungen vorgelegt, ohne die Frage nach Selbsttötungen einzubeziehen.11 Bis auf wenige Ausnahmen existieren kaum Aufsätze, die sich übergreifend diesem Thema widmen,12 und nur wenige der theologischen Lexika führen den Begriff der Selbsttötung oder einen seiner Synonyme aus biblischer Perspektive.13 6 Löwith, Freiheit, 133. Vgl. schon Plin.Nat.Hist. 2.27: [...] ne deum quidem posse omnia – namque nec sibi potest mortem consciscere, si velit, quod homini dedit optimum in tantis vitae poenis [...]. 7 Blumenberg, Beschreibung des Menschen, 550. 8 Vgl. Assmann, Mensch, 12, der das Wissen des Menschen um seinen Tod „als spezifisches Humanum“ bezeichnet und betont: „Dieses Wissen hebt ihn aus der Tierwelt heraus.“ 9 Zum Freitod als „Privileg des Humanen“ vgl. vor allem Baechler, Tod, 45–49; Améry, Hand, 52. Siehe etwa auch Bauer/Fartacek/Nindl, Leben, 72f, unter anderem mit Hinweisen auf Karl Jaspers und Karl Löwith. 10 Nach Feldmann, Tod, 203 gilt dies auch für die Thanatologie der Sozialwissenschaften: „Die ‚normale‘ und normierende Thanatologie überlässt den Suizid der Suizidologie, einem stark entwickelten Spezialgebiet.“ Vgl. auch Ahrens, Selbstmord, 15. 11 Eine Ausnahme bilden die Ausführungen von Wächter, Tod, 89–97. Der Sammelband von Assmann, Tod, enthält immerhin einen Aufsatz zum Suizid im chinesischen Altertum (Trauzettel, Selbstmord), aber keinen aus alttestamentlicher oder altorientalischer Perspektive. 12 Zu den Ausnahmen gehören Daube, Death; Lenzen, Bibel; Galpaz-Feller, Soul; Shemesh, Suicide. 13 Bezeichnenderweise wird der Begriff im RlA (Worthington, Selbstmord), im LÄ (Schlichting, Selbstmord) und im DNP (Schiemann, Suizid) geführt. Unter den von Haus aus theologischen Lexika wird der Begriff im NBL (Lang, Selbstmord), im ABD (Droge, Suicide) und neuerdings im SWB (Schroer/Zimmermannn, Suizid), im WAM (Adam, Suizid), im OEBL (Howell, Suicide), in

Eine Sinngeschichte suizidaler Handlungen

3

Es sind zumeist Werke in moraltheologischer Absicht, die in kritischer Auseinandersetzung mit der Tradition der kirchlichen Verurteilung des Selbstmordes seit Augustin14 und Thomas von Aquin15 auch die biblischen Texte in Hinblick auf ihre moralische Stellungnahme zum Problem des Selbstmordes durchleuchten.16 Diese moraltheologischen Arbeiten müssen sich dem Problem stellen, dass die christlichen, aber auch die jüdischen Traditionen und Religionsgemeinschaften die Selbsttötung lange Zeit verurteilt haben – und es teilweise auch heute noch tun –, während eine derartige Verurteilung aus den biblischen Texten selbst nicht abzuleiten ist. „So viel ich sehe, sind es allein die monotheistischen, also jüdischen Religionen, deren Bekenner die Selbsttödtung als ein Verbrechen betrachten. Dies ist um so auffallender, als weder im alten, noch im neuen Testament irgend ein Verbot, oder auch nur eine entschiedene Mißbilligung derselben zu finden ist; daher denn die Religionslehrer ihre Verpönung des Selbstmordes auf ihre eigenen philosophischen Gründe zu stützen haben, um welche es aber so schlecht steht, daß sie, was den Argumenten an Stärke abgeht durch die Stärke der Ausdrücke ihres Abscheues, also durch Schimpfen, zu ersetzen suchen.“17 Wir werden im Laufe der Untersuchung sehen, welche Stellungnahmen die biblischen sowie die altorientalischen Texte bieten und ob sich neutrale, kritische oder heroisierende Darstellungen des Selbstmords in den Quellen finden. Wenn im Folgenden Selbsttötungen aus dem Alten Orient, dem Alten Ägypten und Alten Testament untersucht werden, so soll dies im Rahmen einer kulturgeschichtlichen Deutung des Phänomens geschehen, welche nach den Sinnformationen fragt, mit denen die Suizidanten oder die Schreiber ihrer Geschichten die der neuesten Auflage von HGANT (Kampling, Selbsttötung) sowie in wibilex (Lauer, Suizid) geführt, während RGG4, TRE und LThK unter ihrem Stichwort Suizid keinen Beitrag zum Suizid im Alten Orient und Alten Testament, in der hellenistisch-römischen Kultur, im antiken Judentum oder im Neuen Testament enthalten. 14 Vor allem gegen die Praxis der Selbsttötungen von Seiten der Donatisten gerichtet, verurteilt Augustin in Civ. I 17–27 den Selbstmord als Mord, weil seiner Ansicht nach der Selbstmord mit unter das Fünfte Gebot fällt (Civ. I 20). Die Tradition der Verurteilung des Selbstmords ist allerdings kirchengeschichtlich älter als Augustin, was häufig übersehen wird (vgl. dazu ausführlich Pedersen, Prohibition). Neben Ex 20,13; Dtn 5,17 vgl. noch die Diskussion um Gen 9,5 im rabbinischen Judentum (Bava Qamma 91b; Genesis Rabba 34,13). 15 Thomas von Aquin verurteilt – aufbauend auf Augustin und dessen Auslegung des Fünften Gebots – in S. th. II 64,5 aus individualethischer, sozialethischer und theologischer Sicht den Selbstmord (vgl. etwa Leget, Authority). Theologisch sei der Selbstmord als Sünde gegen Gott als Schöpfer des Lebens zu werten. Luther dagegen verurteilt den Selbstmörder nicht, sondern zeigt ihm gegenüber Verständnis; dennoch hat für ihn der Teufel beim Selbstmord seine Hand im Spiel, vgl. zu Luthers Stellung zum Selbstmord Krause, Stellung. 16 Von katholischer Seite besonders Lenzen, Selbsttötung, 65–137; dies., Bibel; Kuitert, Urteil, 102–116; ders., Christen, 231f. Vgl. aber auch Droge/Tabor, Death, bes. 53–84 sowie Clemons, Suicide, bes. 15–28. 17 Schopenhauer, Gedanken, 275. Schopenhauer selbst lehnt bis auf den freiwilligen Hungertod den Selbstmord ebenfalls ab, weil der Selbstmörder den Willen zum Leben letztendlich nicht verneint, sondern durch den suizidalen Akt gerade bejaht: „Der Selbstmörder will das Leben und ist bloß mit den Bedingungen unzufrieden, unter denen es ihm geworden.“ (Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung 1, 512)

4

Einleitung

Selbsttötungen belegen. Dies ist ein entscheidender Unterschied zu medizinischen und psychologischen, lange Zeit auch in der Theologie und Soziologie vorherrschenden Betrachtungsweisen, die nach den Ursachen für die Selbstmorde fragen und diese in negativ zu bewertenden Zuständen des Individuums (Krankheit; Sünde) oder in pathologischen Zuständen der Gesellschaft erblicken.18 Stattdessen wird im Anschluss an die Soziologen Jack Douglas19 und vor allem Jean Baechler20 – auf dessen Kategorisierungen in diesem Buch zurückgegriffen wird21 – nach den Motiven gefragt, zu welchem Sinn und Zweck eine suizidale Handlung ausgeführt wird.22 Diese Zwecke sind ihrerseits Teil kultureller Sinnformationen, die dem Individuum vorgeben, dass unter bestimmten Umständen eine suizidale Handlung sinnvoll oder sinnlos sein kann. Indem auf diese Weise die Selbsttötung an die Sinnfrage gekoppelt wird, erscheint jede suizidale Handlung als Versuch zur Lösung eines lebensrelevanten Problems.23 Ein weiter unten ausführlich zu besprechendes Beispiel: Anstatt Sauls Selbsttötung aus seiner Melancholie und Schwermut,24 seiner Verzweiflung und Gottverlassenheit,25 seiner Sünde und Treulosigkeit,26 seinem unbewussten Schuldgefühl,27 seiner „manisch-depressive[n] Verstim18 Zu Letzterem vgl. als den Klassiker der Soziologie Durkheim, Selbstmord, und seine Einteilung in egoistische, altruistische, anomische und fatalistische Selbstmorde. Für eine Kontextualisierung, kritische Würdigung und Weiterführung von Durkheims Werk vgl. beispielsweise Baumann, Selbsttötung; Lindner-Braun, Selbsttötung, 323–325. 19 Douglas, Meanings, bes. 235–340. 20 Baechler, Tod, bes. 54–56 sowie 59–162. 21 Siehe dazu insbesondere unten das Kapitel zur Typologie der Sinnformen suizidaler Handlungen. 22 Diese Sichtweise kann mit verhaltenstheoretischen Erklärungsmodellen verbunden werden, weil auch diese erkennen, dass suizidale Handlungen „in Richtung auf ‚wünschenswerte‘ Konsequenzen ausgeführt werden und damit wie alle Verhaltensweisen funktionalen Charakter haben“ (Erlemeier, Selbsttötung, 321. Hervorhebung im Original), „so daß suizidales Verhalten dann subjektiv durchaus als sinnvolles Problemlösungsverhalten angesehen werden kann“ (Schmidtke, Erklärungsmodell, 350). 23 Vgl. Baechler, Tod, 22: „Selbstmord bezeichnet jedes Verhalten, das die Lösung eines existentiellen Problems in einem Anschlag auf das Leben sucht und findet.“ Trotz des neuzeitlichen Begriffes „existentiell“ kann diese Definition auch auf die alttestamentlichen und altorientalischen Quellen Anwendung finden, insofern unter existentiell – hinsichtlich einer Anthropologie des Alten Testaments durchaus adäquat – „ganzheitlich“ verstanden wird, nämlich „die Gesamtheit der Situation [...], in der sich das Subjekt befindet“ (ebd. 24). Um jedoch Anachronismen zu vermeiden, wird für „existentiell“ der – im Rahmen eines ganzheitlichen Menschenbildes zu verstehende – Ausdruck „lebensrelevant“ verwendet. 24 Vgl. Schaerf, Saul, 234; Lenzen, Selbsttötung, 75–83; dies., Bibel, 88f. Zur Auslegungsgeschichte der ‫ רוח רעה‬Sauls als eines Hinweises auf eine melancholische Krankheit vgl. Kümmel, Melancholie. 25 Vgl. Lang, Selbstmord, 562. Anders verhält es sich, wenn die Gottverlassenheit Sauls zwar mit seinem Tod, aber nicht mit der Art seines Todes in Beziehung gesetzt wird. Vgl. zum Beispiel Wagner, Geist und Tora, 253, der über „Sauls Besessenheit vom bösen Geist und seiner Gottverlassenheit“ anmerkt: „Ihr Ziel findet Sauls Verwerfung in seinem Tod (1 Sam 31 bzw. 2 Sam 1), der wohl als Strafe für die dritte und gröbste Verfehlung der Totenbeschwörung in der En-DorEpisode 1 Sam 28,3–25 letztlich von Gott herbeigeführt wird.“ (253) 26 Vgl. Carmichael, Spirit, 143–149. 27 Vgl. Beilner, Totenbeschwörung, 80.

Eine Sinngeschichte suizidaler Handlungen

5

mungen“,28 seiner “psychological disintegration”29 oder seiner „Borderline-Persönlichkeit“30 als einer je krankhaften Ursache erklären zu wollen, scheint seine Handlung in der Sicherstellung der eigenen Ehre einen Sinn zu finden. Bis in die Semantik der biblischen und außerbiblischen Texte hinein lässt sich feststellen, dass die Kulturen der Alten Welt den Selbstmord fast immer unter einer Sinnperspektive und nicht unter dem Blickwinkel der Ursachenforschung interpretiert haben.31 Dabei soll die Frage nach den Ursachen keineswegs generell ausgeklammert werden.32 Aber ihr soll nur dann nachgegangen werden, wenn die Texte selbst weniger ein Interesse an der Sinndeutung als an einer ursächlichen Erklärung der Selbsttötung mitbringen. Indem Suizide vor allem als „Sinngeschichten“33 gelesen werden, gilt für sie gerade nicht: „Selbstmord ist eine Welt für sich, beherrscht von ihrer eigenen unwiderstehlichen Logik.“34 Denn anders als in der Zeit von der Spätantike bis heute ist die suizidale Handlung des Einzelnen nicht von der kulturellen und gesellschaftlichen Symbolik zu trennen, sondern als sinnbesetzte Handlung in diese eingebettet.35 Die 28

Stolz, Samuel, 110. Barrik, Saul’s Demise, 32. 30 Vgl. Hoffmann-Axthelm, Musiktherapeut, 571f. Vgl. auch Klein, David versus Saul, 110, der Saul ein „kohärente[s] Bild der Borderline-Störung“ zuschreibt. 31 Zu den wenigen Ausnahmen zählt 2 Sam 1 sowie iqqur īpuš § 56,10. Siehe dazu unten das Kapitel über die Selbsttötung Sauls. 32 Beispielsweise bringt Lifton, Broken Connection, 239ff die Sinnfrage mit der Ursachenfrage in Zusammenhang: Der Mensch versucht in einer emotionalen Situation der Verzweiflung, in der er Sinnzusammenhänge nicht mehr auf „normale“ Art und Weise herstellen kann, Sinn und bestimmte Zwecke durch eine suizidale Handlung herzustellen: “People who commit suicide may or may not be significantly depressed, but they are almost certain to be affected by despair – by a sense of radical absence of meaning and purpose” (249). “Suicide notes often reveal the struggle for meaning.” (251) “Suicide always seeks to achieve something, even if only peace or an end to pain.” (256) 33 Zur Sinnfrage in der Kulturgeschichte vgl. vor allem Assmann, Ägypten, bes. 15–24. „‚Sinn‘ heißt hier soviel wie Zusammenhang oder Kohärenz; z.B. der Zusammenhang von Mittel und Zweck, Ursache und Wirkung, Nutzen und Kosten, Teil und Ganzem.“ (Assmann, Ägypten, 17) Assmann schließt sich explizit an Luhmann, Sinn, an, der festhält, „daß der Sinnbegriff die Ordnungsform menschlichen Erlebens bezeichnet“ (31) und von dem Begriff der Information abzugrenzen ist (vgl. 39ff). So wird beispielsweise dem Sonnenlauf im Alten Ägypten ein eminent bedeutsamer Sinn zugewiesen. Während jedoch Luhmann auf die „sinnhafte Erlebnisverarbeitung“ (39) abzielt, sollte in unserem Fall diese Perspektive durch die Frage nach „sinnhaften Konstruktionsleistungen“ ergänzt werden, wenn es nicht allein um Erlebnisverarbeitung der Kontingenzen von Welt, sondern um Sinndeutungen eigenen Verhaltens geht: Individuum und Gesellschaft sprechen Verhaltensweisen einen Sinn zu, wenn diese als adäquate Versuche zur Lösung eines „Problems“ erscheinen. In einem späteren Beitrag (Assmann/Mittag, Komplexität, 453f) definiert Assmann den Sinnbegriff „als Zusammenhang und Richtung“ (ebd. 454; vgl. ders., Sinnkonstruktionen, 17) und schließt darin auch die Kategorie der Identität ein, die für Jörn Rüsen wichtig ist (vgl. etwa Rüsen/Hölkeskamp, Einleitung, 3f), „d.h. die spezifische Beitragsleistung kulturellen Sinns zu Selbstbild, Lebensentwurf, Daseinsorientierung des Einzelnen.“ (Assmann/Mittag, Komplexität, 453 Anm. 1) 34 Alvarez, Gott, 145. 35 Für die japanische Kultur hat dies Pinguet, Freitod, herausarbeiten können: Hier hat der Freitod gesellschaftliche Relevanz für das japanische Ethos der Verantwortlichkeit, das sich aus Ergebenheit und Selbstkontrolle zusammensetzt und verschiedene Formen des Freitods je nach sozialem Status zugesteht (vor allem seppuku dem Samurai) und unter bestimmten Umständen auch 29

6

Einleitung

Frage lautet daher hinsichtlich des Suizidanten, ob und auf welche Weise der Mensch des Alten Israel seine suizidale Handlung mit Sinn belegt. Sie lautet hinsichtlich der Kultur und Gesellschaft, ob und auf welche Weise Sinnwelten bereitgestellt werden, in deren Horizont suizidale Handlungen bewertet werden und als Lösungen für lebensrelevante Probleme erscheinen.36 In diesem Sinne geben wir als Definition der Selbsttötung: Unter Selbsttötung wird eine zielgerichtete und mit Sinn besetzte Handlung verstanden, mittels der sich eine Person durch eigenes oder fremdes Tun oder Unterlassen absichtlich den Tod gibt, um auf diese Weise ein lebensrelevantes Problem zu lösen.37 Die sogenannten Selbstopfer wie auch Selbsttötungen, die auf ausdrücklichen Wunsch des Suizidanten von fremder Hand geschehen („assistierte Suizide“),38 werden damit eingeschlossen und der Suizid als eine „spezifische Beitragsleistung kulturellen Sinns zu Selbstbild, Lebensentwurf, Daseinsorientierung des Einzelnen“ betrachtet.39 Dabei ist zwischen der subjektiven Perspektive des Suizidanten und der Erzählperspektive der Quellen durchaus zu unterscheiden. Weil nur in einigen wenigen Fällen (wie beispielsweise altorientalischen Briefen) die Gedanken der suizidalen Subjekte direkt und unvermittelt überliefert sind, kann die subjektive Perspektive des Suizidanten oftmals nur aus der überlieferten Handlungspraxis und ihrer konkreten Kontextualisierung in ihren subjektiven Sinndimensionen erschlossen werden, während die Schreiber suizidaler Geschichten zum Teil mit diesen Sinndimensionen übereinstimmende, zum Teil aber auch anders gelagerte Bilder und Sinnformen übermitteln können, um entweder die gesellschaftlich vorherrschenden Wertvorstellungen zum Suizid sowie die Selbst- und Fremdbilder der betreffenden Kultur oder auch um konkrete Textanliegen mit ganz spezifischen Absichten zum Ausdruck zu bringen.

Begriffsklärung: Selbstmord, Selbsttötung, Suizid und Freitod a) Europäische Neuzeit In der deutschen Sprache existiert lange Zeit kein nominaler Fachterminus zur Bezeichnung des betreffenden Phänomens. Stattdessen kommen verbale Satzkonstruktionen zur Beschreibung einer suizidalen Handlung zum Einsatz: So verwendet einfordert. Zum Suizid in der japanischen Kultur vgl. beispielsweise noch Atkins, Seppuku; Kawada, Suicide; Zöllner, „Selbsttötungskulturen“. 36 Für Kultur und Gesellschaft gilt somit nicht grundsätzlich: „Wo es einen sozialen Nomos gibt, da muß der Selbstmord auch verboten sein.“ (Ahrens, Selbstmord, 298) 37 Diese Definition erfolgt in Verbindung von Baechler, Tod, 22 mit Holderegger, Suizid, 39, einschließlich eigener kleiner Ergänzungen. Statt „lebensrelevant“ könnte wohl auch „existentiell“ gewählt werden, ohne dass dies für die biblischen und altorientalischen Welten allzu anachronistisch wäre. Denn wo der Suizid in Freiheit gewählt wird, und sei dies auch nur in eingeschränkter Weise und unter dem Horizont eigener Unfreiheiten oder sogar unter sozialem Druck, „ist es kein falsches Pathos zu sagen: Hier geht es um die veritable Existenz; der Tod von eigener Hand ist ein in hohem Maß existentielles Problem.“ (Höffe, Tod, 413) 38 Vgl. zum Begriff assistierter Suizid beispielsweise Bauer/Fartacek/Nindl, Leben, 136–141. 39 Formulierung im Anschluss an Assmann/Mittag, 453 Anm. 1.

Begriffsklärung: Selbstmord, Selbsttötung, Suizid und Freitod

7

beispielsweise der Sachsenspiegel § 31.1 die Wendung „sich selbst töten“,40 während der Ausdruck „sich selbst das Leben nehmen“ erstmals bei Gottfried von Straßburg belegt ist, der um 1210 Isoldes Ekel vor der Heirat mit dem Truchsess in einer Selbstmorddrohung enden lässt: „ê ichs gevolge, sô stich ich rehte in mîn herze ein mezzer ê, ê sîn wille an mir ergê, ich nim mir selber ê den lîp.“41 Ebenfalls noch nicht als Begriff, sondern zur Umschreibung einer suizidalen Handlung wird im Deutschen das Verb „morden“ erstmals 1514 von dem Geistlichen Thomas Murner verwendet: „Es wirt fürwar ein stundli komen das nach denen wirt gesant die lib und sel ermordet hand, sich sel beraubt irs vatterland.“ 1526 behandelt eine Landesordnung Karls V. den „Selbstumbringer“ als Religionsfrevler, Martin Luther verwendet 1527 die Formulierung „sein selbs morder“, Egidius Mecheler 1541 den Ausdruck „Entleibung seiner selbst“, Thomas Sigfrid 1590 den Begriff „Selbstmörder“ und erst Johann Conrad Dannhauer 1643 den Terminus „Selbstmord“.42 Der zusammengesetzte Begriff „Selbstmord“ hat damit seine etymologischen Anfänge im 16. Jahrhundert, tritt im 17. Jahrhundert erstmals auf und ist keineswegs – wie die etymologischen Wörterbücher suggerieren43 – eine spätere Entwicklung aus dem neulateinischen Begriff suicidium.44 Der Verwendung des Verbs „morden“ zur Beschreibung einer suizidalen Handlung ebenso wie dem Begriff Selbstmord liegt eine abwertende Semantik zugrunde, denn der Begriff „Mord“ bezeichnet von alters her den Akt des strafbaren, heimlichen und willkürlichen Totschlags. „Damit verbindet sich der Begriff ‚Mord‘ mit sozialethischer Verwerflichkeit. Man ‚verübt‘ einen Selbstmord und Straftaten. Sprachlich wird durch die Begrifflichkeit eine Straftat angedeutet; dieser Zusammenhang erhöht die Tabuisierung.“45 Hier liegt die Problematik der Verwendung des Begriffes Selbstmord in den Wissenschaften: Der Begriff Selbstmord lässt sich im rechten Sinne scheinbar nur dann verwenden, wenn mit diesem Ausdruck eine rechtlich oder moralisch zu verurteilende Tat im Blick ist. Will man eine implizite Abwertung des Phänomens schon durch die Verwendung negativ konnotierter Begriffe vermeiden, sollte man, so die Forderung, andere Begriffe vorziehen. Der Begriff Selbsttötung geht auf John Donne zurück, der im England des frühen 17. Jahrhunderts ein Werk mit dem Titel Biathanatos schrieb und den Begriff “selfhomicide” verwendet.46 Der Ausdruck scheint in Anlehnung an neulateinisch homicidium sui und occisio sui sowie französisch homicide de soi-même gebildet zu sein.47 Zeitlich in etwa parallel zu Donne verwendet Edmund Bolton 1618 den 40

Vgl. Baumann, Selbstmord, 2. Zitiert nach Baumann, Selbstmord, 2. 42 Vgl. Baumann, Selbstmord, 3–6. 43 Vgl. Paul/Rehbock/Henne, Deutsches Wörterbuch, s.v. Selbstmord; Dudenredaktion, Herkunftswörterbuch, s.v. Selbstmord; Kluge/Mitzka, Wörterbuch, s.v. Selbstmord; auch Wacke, Selbstmord, 41. 44 Vgl. Daube, Linguistics, 415. 45 Christ-Friedrich, Suizid II, 445. Hinzu kommt, dass sich das Mordmerkmal der Heimtücke nicht auf den Suizid anwenden lässt (vgl. Lauer, Suizid). 46 Donne, Suicide, 67–93. 47 Vgl. Daube, Linguistics, 420. 41

8

Einleitung

Begriff “self-killing” in Abgrenzung zu dem allzu negativ konnotierten “selfmurder”,48 während in der Mitte des 17. Jahrhunderts Thomas Browne,49 Juan Caramuel50 und Walter Charleton51 den Ausdruck “suicide” verwenden.52 Dieser Begriff zieht in Anlehnung an homicidium („Totschlag“) die Worte caedium (von caedes = wörtlich „Fällen“, häufig aber im Sinne von „Mord, Blutbad“) und sui zu suicidium zusammen53 und kann daher nicht rundweg als ein wertneutraler Ausdruck gelten. Ein (neu)lateinischer Begriff suicidium lag vordem nicht vor,54 “and indeed the formation is contrary to Latin grammar” und entspricht “the killing of a pig”, wenn man sus, suis („Schwein“) und caedium („Töten“) zusammenzieht.55 Während die Begriffe Suizid und Selbsttötung in der heutigen Forschung als wertneutrale Bezeichnung gewählt werden, ist der Begriff Freitod als strikter Gegenbegriff zum Ausdruck Selbstmord entstanden. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts scheint der Jesuit Johann Robeck vor seiner eigenen Tat den Begriff Selbstmord ausführlich problematisiert zu haben.56 In seiner Schrift Versuch über den freiwilligen Tod (1797) verwendet Karl August Bischof neben dem Begriff Selbsttötung den Ausdruck „freiwilliger Tod“.57 Ohne jemals explizite Kritik an dem Begriff Selbstmord zu üben, schreibt Friedrich Nietzsche seinem Zarathustra (1883) die Rede Vom freien Tode zu, in der es unter anderem heißt: „Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will. […] Frei zum Tode und frei im Tode, ein heiliger Nein-sager, wenn es nicht Zeit mehr ist zum Ja: also versteht er sich auf Tod und Leben.“58 Ernst Haeckel bezeichnet in Die Lebenswunder (1904) unter der Kapitelüberschrift Selbsterlösung (Autolysis) den „freiwilligen Tod“ als „Selbsterlösung“ und den Selbstmörder als „Selbsterlöser“: „Der freiwillige Tod, durch den der Mensch seinen unerträglichen Leiden ein Ende macht, ist tatsächlich ein Akt der Erlösung. Man sollte daher denselben vernünftigerweise als Selbst48

Im Deutschen tritt der Begriff Selbsttötung laut Daube, Linguistics, 430, erstmals 1743 in Zedlers Universallexikon als „Selbstertödtung“ auf. Immanuel Kant verwendet den Begriff in seiner Metaphysik der Sitten (1797) unter dem Abschnitt Von der Selbstentleibung: „Ist es erlaubt, dem ungerechten Todesurteile seines Oberen durch Selbsttötung zuvorzukommen? – selbst wenn dieser es (wie Nero am Seneca) erlaubte zu tun?“ (Kant, Metaphysik, 305) 49 Vgl. Griffin, Greece, 68. 50 Vgl. van Hooff, Autothanasia, 136f. 51 Vgl. Daube, Linguistics, 421f. 52 “The least one could say, is that the word was in the air in the middle of the century” (van Hooff, Autothanasia, 137). 53 Vgl. Wacke, Selbsttötung, -mord, 1727. 54 Siehe jedoch auch die Hinweise bei van Hooff, Autothanasia, 271 Anm. 4 sowie Bauer/Fartacek/Nindl, Leben, 19–21, die auf die Schmähschrift Contra quatuor labyrinthos Franciae (1177/78) des Walter von St. Viktor († 1180) verweisen, der den Begriff suicida erstmals verwendet habe. „Wieweit die Verwendung des Ausdrucks ‚suicida‘ in diesem Werk des Viktoriners, das nur sehr wenig Verbreitung fand, das Aufkommen des Neologismus ‚Suizid‘ in der Neuzeit beeinflusst hat, ist schwer zu sagen. Offensichtlich verschwindet das Wort über Jahrhunderte wieder aus dem Bewusstsein des wissenschaftlichen Geistes.“ (Bauer/Fartacek/Nindl, Leben, 20) 55 Daube, Linguistics, 422. Vgl. auch ebd. 428 sowie van Hooff, Autothanasia, 136f. 56 Vgl. Baumann, Selbstmord, 9f; Daube, Linguistics, 430. 57 Vgl. Baumann, Selbstmord, 10f. 58 Nietzsche, Zarathustra, 94f.

Begriffsklärung: Selbstmord, Selbsttötung, Suizid und Freitod

9

erlösung (Autolyse) bezeichnen und mit aufrichtiger Teilnahme der christlichen Nächstenliebe betrachten; nicht aber mit der pharisäischen Verachtung unserer wurmstichigen Moral als ‚Selbstmord‘ brandmarken.“59 Schließlich scheint es Fritz Mauthner zu sein, der 1906/7 erstmals den nominalen Begriff Freitod verwendet.60 Wegen dieser Freiheit „kann jene naturalistische Anthropologie nicht überzeugen, die von Philosophen wie T. Hobbes und B. de Spinoza vertreten wird. Wer wie sie den Menschen auf das Generalziel der Selbsterhaltung festlegt, vermag weder das Phänomen des Märtyrers zu verstehen: dass jemand aus religiösen, moralischen oder politischen Gründen sein Leben zu opfern bereit ist. Noch kann er im Hand-ansich-legen ein freies Handeln sehen, vielmehr sieht er dann nur Unfreiheit am Werk.“61 So richtig diese Überlegungen sachlich auch sind, letztendlich handelt es sich bei dem Ausdruck „Freitod“ nicht nur um den Versuch, die suizidale Handlung, wenn man sie auf einen Begriff bringen will, von semantisch negativen Konnotationen zu befreien. Er ist auch kein „geradezu zeichenhafter Ausdruck für die völlige Säkularisierung der religiös-sittlichen Kultur“,62 knüpft er doch an den Ausdruck mors voluntaria („freiwilliger Tod“) der klassischen Antike an, die stets nach dem Gestaltungsspielraum des Menschen in einer von Göttern belebten Welt fragt.63 Vielmehr merkt man diesem Begriff ebenso wie dem Begriff Selbstmord eine Absicht an – ein zumeist verstimmendes Moment –, freilich in diesem Fall nicht, das Phänomen zu verurteilen, sondern vielmehr es zu heroisieren. Damit erscheint der Begriff „Freitod“ jedoch als ebenso problematisch wie sein negativ konnotiertes Gegenüber: der Begriff Selbstmord. b) Antike und Alter Orient Gegenüber der oben beschriebenen Kontroverse bleibt angesichts der Textzeugnisse der Alten Welt festzuhalten: Die griechischen und lateinischen ebenso wie die hebräischen und altorientalischen Texte kennen die längste Zeit über kein Abstraktum, welches das Phänomen der Selbsttötung auf einen Begriff bringen würde. Beispielsweise werden im Griechischen und Lateinischen spezifische Verben zur Umschreibung suizidaler Handlungen verwendet,64 etwa aktivisch (ἀποκαρτερέω „nicht länger aushalten; (freiwillig) verhungern“ Hippokr. Acut. 15; αὐτοκτονέω „sich selbst töten“ Aisch. Sept. 716) oder medial (ἀπάγχομαι „sich aufhängen“ 59

Haeckel, Lebenswunder, 49f. Vgl. Baumann, Selbstmord, 16–18. 61 Höffe, Tod, 412, ohne sich jedoch auf den Begriff Freitod festzulegen. Vgl. zur Ablehnung einer naturalistischen Anthropologie im Kontext der Suiziddiskussion auch Fenner, Selbsttötung, 328; Wittwer, Selbsttötung, 51–64. 62 Baumann, Selbstmord, 32. 63 mors voluntaria könnte auf Cicero zurückgehen, vgl. Cic. Fin. 3.61 und Daube, Linguistics, 412. Zu exitus voluntarius und finis voluntarius vgl. Tac. Ann. 6.40.3 und 4.19.7. Zu θάνατος ἑκούσιος vgl. Plut. Them. 2.6. 64 Eine ausführliche Auflistung von über 300 griechischen und lateinischen Ausdrücken findet sich bei van Hooff, Autothanasia, Appendix C. Im Folgenden werden einige klassische Beispiele gegeben. 60

10

Einleitung

Thuk. 3.81.3; ἀναλίσκομαι „sich verschwenden“ Thuk. 3.81.3). Andere Verben werden speziell mit den Nomina Leben oder Tod verbunden, zum Beispiel βίον ἀπορρήγνυμι („das Leben losreißen“ Eur. Iph. T. 92365) oder mortem sibi consciscere („den Tod für sich beschließen“ Plin. Nat. Hist. 2.27). In anderen Fällen dienen Reflexivpronomina der genaueren Umschreibung einer suizidalen Handlung, etwa griechisch ἑαυτὸν ἀποκτείνω („sich selbst töten“ Plato Phaid. 61e), ἑαυτὸν διαφθείρω („sich selbst gänzlich zugrunde richten“ Xen. Hell. 7.4.19) bzw. lateinisch manus sibi afferre/inferre („Hand an sich legen“ Sen. Epist. 70.10), se occidere („sich niederhauen“ Plaut. Trin. 1.2.92), se interficere („sich niedermachen“ Hier. Chron. 194.1) oder auch se praecipitare („sich herabstürzen“ Dig. 15.1.9.7).66 Schließlich können auch Adverbien und Adjektive die betreffende Handlung genauer als eine suizidale spezifizieren, etwa αὐτοχειρί („eigenhändig“ Eur. Or. 925; 101767), αὐθέντης/αὐτοέντης („selbst vollendend“ Ant. 3.3.468; Cass. Dio 58.24), αὐθαίρετος („selbstgewählt“ Xen. Hell. 6.2.36) oder voluntarius („freiwillig“; vgl. mors voluntaria „freiwilliger Tod“ Cic. Fin. 3.61) bzw. ἑκούσιος („freiwillig“; vgl. θάνατος ἑκούσιος „freiwilliger Tod“ Plut. Them. 2.6). Die frühesten Zeugnisse für die Nominalisierung solcher Hilfskonstruktionen zu einem spezifischen Fachterminus für Suizid finden sich – von dem „Selbstmordprediger“ (Πεισιθάνατος), Hegesias von Kyrene (um 300 v.Chr.), und dessen Schrift „Der Hungerselbstmörder“ (Ἀποκαρτερῶν) einmal abgesehen69 – im ersten vorchristlichen (αὐτοχειρία „Eigenhändigkeit“ Diodor 15.54.3) und im ersten nachchristlichen Jahrhundert (αὐτοχειρία „Eigenhändigkeit“ Flav.Jos.Bell 3.369; 3.383; ἀποκαρτέρησις „freiwillliger Hungertod“ Quint. 8.5.23; Chariton 8.1.4), während αὐτοκτονία („Selbsttötung“) erstmals im 4. Jh. n.Chr. in der Clementine Homilies 12.14 auftaucht.70 Zu der Kontroverse über das „terminologische Unbehagen“71 hinsichtlich des Begriffes „Selbstmordes“ kann aus alttestamentlicher und altorientalischer Sicht ebenfalls nur schwer Stellung bezogen werden. Es existiert im Althebräischen weder ein spezielles Verb noch ein Fachterminus zur exakten Bezeichnung einer suizidalen Handlung. Stattdessen werden Umschreibungen verwendet, die zeigen, wie schwer es fällt, den Selbstmord in eine begriffliche Kategorie zu zwängen, weil es zwischen dem Sterben (‫ אסף ;מות‬Nifal u.a.) und dem Töten (‫ נכה ;קטל ;הרג‬Hifil u.a.) kein Drittes gibt. Wie in der griechischen und römischen Antike werden auch in den biblischen und altorientalischen Texten spezifische Satzkonstruktionen zur Beschreibung der Handlung verwendet, durch die der Mensch Hand an sich legt, 65

Zählung nach Hartung. Zu Letzteren vgl. Wacke, Selbstmord, 42; van Hooff, Autothanasia, Appendix C. 67 Zählung nach Hartung. 68 Zählung nach dem Korpus (= 2. Tetralogie 3.4). Dieser recht frühe Beleg weist wohl auf Selbstmord, vgl. Gernet, Droit, 29–38; Gagarin, Antiphon, 154. 69 Vgl. vor allem Cic. Tusc. 1.83f; D.L. 2.85f.93–96. Diesem Kyrenaiker soll von Ptolemaios I. Soter die Verbreitung seiner Lehre in Ägypten verboten worden sein, weil sie zahlreiche Menschen zum Suizid verleitet habe, vgl. Döring, Sokrates, 257f; ders., Hegesias. 70 Vgl. Daube, Linguistics, 408f. 71 Holderegger, Suizid, 33 Anm. 1. 66

Begriffsklärung: Selbstmord, Selbsttötung, Suizid und Freitod

11

beispielsweise durch die Verbindung eines besonderen Verbs mit dem Nomen næfæš bzw. napištu (im Akkadischen ina kakki ramanišu uqattâ napištuš „Mit seiner eigenen Waffe beendete er sein Leben.“ Fuchs Sar. Zyl. 27; im Hebräischen ‫„ תמות נפשי‬Sterben soll meine næfæš!“ Ri 16,30).72 Auch durch reflexive Stammesmodifikation des Verbums im Fall von „sich erwürgen/sich aufhängen“ (im Akkadischen ḫanāqu Dt-Stamm TCL 18.95,32 = AbB 14 149; im Hebräischen ‫חנק‬ Nifal 2 Sam 17,23; im Griechischen ἀπάγχομαι Medium 2 Sam 17,23LXX; Tob 3,10; vgl. Mt 27,5; PSI III 177) oder durch Reflexivpronomina (im Akkadischen ramanšu dâku „sich selbst töten“ iqqur īpuš § 56,10 Variante K 2809 IV 9; ramanšu akālu „sich selbst fressen“ iqqur īpuš § 56,9–10; im Ägyptischen mwt n.f Ds.f „sich selbst töten“ Pap. Jur. Turin; im Griechischen δίδωμι ἑαυτὸν „sich selbst geben“ 1 Makk 6,44; φαρμακεύω ἑαυτὸν „sich selbst vergiften“ 2 Makk 10,13; ὑποτίθημι ἑαυτῷ τὸ ξίφος „das Schwert unter sich selbst legen; sich selbst auf das Schwert stürzen“ 2 Makk 14,41) werden die Tötungshandlungen auf das Subjekt der Handlung selbst bezogen. Alternativ können im Hebräischen auch Pronominalsuffixe am Verb (‫„ מותתני‬Töte mich!“ Ri 9,54; 2 Sam 1,9; ‫„ דקרני‬Durchbohre mich!“ 1 Sam 31,4), am Nomen (‫„ תמות נפשי‬Sterben soll meine næfæš!“ Ri 16,30; ‫ויפל על חרבו‬ „Und er fiel auf sein Schwert.“ 1 Sam 31,5; vgl. im Akkadischen uqattâ napištuš „Er beendete sein Leben.“ Sar. Zyl. 27) oder an der Präposition (‫וישרף עליו את בית‬ „Und er verbrannte über sich das Haus.“ 1 Kön 16,18) Verwendung finden, um die Tötungshandlung auf das Subjekt des Sprechaktes bzw. der Handlung selbst zurückzuführen.73 In der antiken jüdischen Literatur finden sich ebenfalls zumeist nur Umschreibungen suizidaler Handlungen. Es gibt gänzlich unspezifische Beschreibungen ohne Verwendung spezifischer Verbalausdrücke. So wird in Ketubbot 103b („Er ging auf ein Dach, fiel zu Boden und starb.“), in Genesis Rabba 1,16 („Sie ging aufs Dach, stürzte sich herunter und starb.“), in Bava Mezi’a 59a („Lieber sollte man sich selbst in einen feurigen Ofen stürzen als öffentlich seinen Nachbarn beschämen.“), in Avodah Zarah 18a („Er sprang und stürzte sich ebenfalls ins Feuer.“) nur der Fortgang der Handlung geschildert. Selbst der später zum Fachterminus erhobene Ausdruck ‫„( מאבד עצמו לדעת‬wissentlich sich selbst verlieren“) umschreibt nur die freiwillig (‫)לדעת‬74 ausgeführte suizidale Handlung. Im hellenistisch-römisch geprägten Judentum verwendet Philo von Alexandrien den Verbalausdruck ὑπεξίσταμαι 72

Die Übersetzung von hebräisch næfæš mit „Seele“ ist nicht unproblematisch und dann anachronistisch, wenn man „Seele“ im dualistischen oder trichotomischen Sinne missverstehen würde. Stattdessen verweist næfæš in der Bedeutung „Leben; Lebenskraft; Person; Selbst“ auf ein ganzheitliches Menschenbild, bei dem der Mensch seine Lebenskraft aus den Beziehungen zieht, in denen er steht. Zur neuesten Literatur über næfæš vgl. jetzt Janowski, næpæš; Schüle, Soul. Zu akkadisch napištu vgl. nun Steinert, Aspekte, 201–217. 73 Vgl. im Sumerischen ZI.KUD.RU.DA „Seele/Selbst verletzen“ in einem Gebet an Marduk (BMS 12 = K. 163+15538+20155): “Its ritual instruction states that this prayer is against the following symptoms: ana ḪUL.GIG DI.BAL.A ZI.KUD.RU.DA KA.DIB.BÉ.DA KA.ḪI.KÚR. RA ana LÚ NU TE So that ‘hate’, ‘distortion of justice’, ‘self-infliction’, aphasia and dementia shall not approach a man.” (Oshima, Prayers to Marduk, 354) 74 ‫ לדעת‬bezeichnet hier weniger die bewusst und absichtlich als vielmehr die freiwillig ausgeführte Handlung, vgl. Perls, Halacha, 288.290f.

12

Einleitung

ἀβιώτου βίου (legat. 236), Flavius Josephus αὐτόχειρ τελευτάω (Ant. 18.308). Bei Josephus taucht neben diesen Verbalausdrücken mit αὐτοχειρία („Eigenhändigkeit“; Flav.Jos.Bell 3.369; 3.383) erstmals auch ein Fachterminus auf, der den Suizid auf den Begriff bringen will.75 Überblickt man die Scheu, den Selbstmord in den Kulturen der Alten Welt auf einen nominalen Fachterminus zu bringen, so scheinen in einer wissenschaftlichen Monographie zum Thema Umschreibungen wie „suizidale Handlung“, „Tod von eigener Hand“ oder „Hand an sich legen“ am angemessensten zu sein, obwohl es gegenüber den letzten beiden Umschreibungen Formen der Selbsttötung gibt, die auf eigenes Verlangen von fremder Hand durchgeführt werden (z.B. Ri 9,54; 2 Sam 1,9). Da im Alten Testament und Alten Orient die beschriebene Handlung nicht verurteilt und in den meisten Fällen auch nicht heroisiert wird,76 werden in diesem Buch in vielen Fällen die „neutralen“ Abstrakta Selbsttötung und Suizid gegenüber den Begriffen Freitod und Selbstmord bevorzugt, ohne sich dogmatisch auf einen Begriff festzulegen.

Todeswunsch und Selbstmordabsicht am Beispiel von Hiob 7,15f und verwandten Texten Eine Darstellung des Selbstmords, wie er sich in der Bibel und in ihrer Umwelt findet, ist mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Wir besitzen nur wenige Quellen, die von Selbsttötungen berichten, darüber hinaus liegen – anders als aus der griechischen und römischen Antike – keine rechtlichen oder philosophischen Stellungnahmen aus vorrömischer Zeit vor, die den Suizid explizit reflektieren.77 Die meisten Aussagen des Alten Testaments und seiner Umwelt, die ein taedium vitae zum Ausdruck bringen, sind, anders als einige römische Fälle,78 als literarische Aussagen zu lesen: Sie formulieren keine Selbsttötungsabsicht, sondern ein argumentum ad deum, um der Hoffnung auf Beendigung der Not oder des Lebens durch Gott Ausdruck zu verleihen. Diese Texte gehören deshalb nicht in eine Monographie über den Selbstmord in der Bibel. Zwischen Todessehnsucht und Selbstmordabsicht, geschweige denn dem ausgeführten Selbstmord, liegen den

75

Vgl. Daube, Linguistics, 396.402 Anm. 82 sowie 409. Zu Simson sowie den Selbstopfern im Zusammenhang mit Martyriumslegenden siehe unten die entsprechenden Kapitel. 77 Das Fünfte Gebot verbietet nicht die Selbsttötung; vgl. schon Hume, Selbstmord, 99 Anm. 4; von alttestamentlicher Seite Hossfeld, töten, 23f. Vgl. auch Daube, Linguistics, 414 Anm. 166: “the Hebrew verb in the Decalogue, rasah, is stronger than occidere: it signifies ‘to murder’ (‘thou shall not murder’) and it is never used of a person dying by his own hand.” Erste rechtliche Stellungnahmen zum Suizid stammen aus rabbinischer Zeit, vgl. Brody, Casuistry, 40–46. Eine von der antiken Philosophie beeinflusste Stellungnahme finden wir erstmals bei Josephus (Flav.Jos.Bell. 3.361–382; 7.320–388). 78 Vgl. van Hooff, Autothanasia, 122f. 76

Todeswunsch und Selbstmordabsicht am Beispiel von Hiob 7,15f und verwandten Texten

13

biblischen Texten nach Welten.79 Dies soll im Folgenden am Beispiel von Hi 7,15f und verwandten Texten deutlich gemacht werden. Hiob 7,15 steht im Zusammenhang einer Klage Hiobs über das eigene wie das allgemein menschliche Leiden und Schicksal. Angesichts des eigenen Leidens wünscht sich Hiob den Tod: Hi 7,15: Meine Seele zieht Erstickung vor, den Tod lieber als meine Knochen.

Warum impliziert dieser Todeswunsch keine Selbstmordabsicht? In der Forschung ist diese Frage kaum je ernsthaft gestellt geschweige denn argumentativ beantwortet worden.80 Auf den ersten Blick jedoch könnte Vers 15a durchaus als Selbstmordabsicht verstanden werden, denn während die meisten Forscher eine konjunktivische Übersetzung wählen, lässt sich ‫ ותבחר‬auch indikativisch übersetzen: Hebräisch ‫ בחר‬bezeichnet „ein sorgfältiges, nach den jeweiligen Bedürfnissen sich richtendes und also sehr bewußtes und an Maßstäben überprüfbares Wählen“81 – ein Verb also, das durchaus eine handlungsorientierte Wahl impliziert, wenn beispielsweise David geeignete Steine für die Schleuder aus dem Bach auswählt (1 Sam 17,40). Hiob 7,15a könnte deshalb auch übersetzt werden: „Meine Seele wählt Erstickung.“ Darüber hinaus könnte ‫ מחנק‬in Parallele zur Selbsttötung des Ahitofel (formuliert mit ‫ חנק‬Nifal in 2 Sam 17,23) auf den Wunsch nach Selbsttötung durch Erhängen hinweisen („Meine Seele wählt Selbststrangulierung.“). In diesem Fall läge ein explizierter Selbstmordwunsch vor ähnlich dem des Simson in Ri 16,30 („Sterben soll meine næfæš!“).82 Dieses Verständnis von ‫ בחר‬und ‫ מחנק‬ist jedoch keineswegs ausgemacht. ‫בחר‬ kann ebenso ein bekenntnishaftes und allgemeines Wählen bezeichnen, wenn beispielsweise Israel von Gott Leben und Tod vorgelegt bekommt und das Leben wählen soll (Dtn 30,19). Hiob 7,15a ließe sich in diesem Fall als Aussage des Leidenden lesen, der ein Bekenntnis zu den Vorzügen der Nicht-Existenz ablegt. Die Nominalform ‫ מחנק‬dürfte wegen ihres ‫מ‬-instrumentale auf den Akt des Würgens und Erstickens hinweisen, jedoch nicht auf ‫ חנק‬Nifal zurückgehen, weil sich von hier aus kein ‫מ‬-praeformativum erklären lässt. ‫ חנק‬ist hingegen auch im Piel belegt, wenn der Löwe seine Beute erwürgt (Nah 2,13 mit ‫ מחנק‬Partizip Piel). Sprachlich dürfte Hiob mit ‫ מחנק‬deshalb den Tod durch Ersticken, aber nicht den durch SelbstErhängen im Blick haben – wobei offen bleibt, welches Subjekt das Erwürgen 79 Ähnlich auch Galpaz-Feller, Samson, 225: “The Bible distinguishes between those who reach moments of crisis and only expressed a desire to die, as noted above – Moses, Elijah, Jonah, Job and others – and those who take their own lives.” 80 Nur wenige Forscher sind auf diese Frage eingegangen. So behauptet zum Beispiel Duhm, Hiob, 44: „An Selbstmord denkt Hiob nicht.“ Für Mathewson, Death, 80–82 liegen Todeswunsch und Selbstmordabsicht auf einer Linie. Er schreibt – unter anderem hinsichtlich Hi 7,15 – von Hiobs “wish for death” (66) sowie “desire for death” (82), und ist gleichzeitig mit Hinweis auf Lifton, Connection, der Ansicht: “Job’s death-in-life and life-in-death themes seem to correspond to the proximate and ultimate logic of suicide. […] As with the logic of suicide, Job envisions that to live, he has to die.” (82) 81 Seebaß, ‫בחר‬, 593. 82 Zur Übersetzung von hebräisch næfæš mit „Seele“ siehe oben Anm. 72.

14

Einleitung

vollzieht. Einiges spricht dafür, dass der Vers insgesamt als ein literarisches argumentum ad deum zu verstehen ist, was im Folgenden begründet werden soll. Die Kapitel 3–7 des Hiobbuches sind in einem Zusammenhang zu lesen.83 In Hiob 3 verwünscht Hiob wie Jeremia (vgl. Jer 20,14–18) den Tag seiner Geburt. An eine die Vergangenheit verwünschende Klage in den Versen 1–10/12 schließt sich in den Versen 11/13–19 die Erkenntnis, dass die Nicht-Existenz dem Dasein vorzuziehen wäre. Eine handlungsorientierte Folgerung, dem eigenen Leben ein Ende zu bereiten, wird aus dieser Einsicht nicht abgeleitet. Auch ein Gottesbezug kommt in dieser ersten Klage noch nicht zur Sprache – Hiob spricht ausschließlich vor seinen drei Freunden, die bislang ihre Solidarität mit Hiobs Leiden durch ihre Trauerriten und ihr Anteil nehmendes Schweigen zum Ausdruck bringen.84 Aber nachdem Hiob sein eigenes Schweigen unterbricht und zum ersten Mal gegenüber den Freunden seine Sprache wiederfindet, antwortet ihm Elifas in Hi 4f mit dem Ratschlag, seine Angelegenheit Gott darzulegen: Hi 5,8: Ich hingegen würde nach Gott suchen, und vor Gott würde ich meine Angelegenheit bringen.

In Hiobs Antwort an Elifas kommt erstmals ein – wenn auch noch wenig explizierter – Gottesbezug zur Sprache: Hi 7,7: Gedenke, dass mein Leben ein Hauch ist.

Diese Aussage richtet sich mit der Verwendung des eminent theologisch konnotierten Verbs ‫ זכר‬kaum an Elifas, sondern an Gott,85 zumal auch der in Vers 8b Angesprochene Gott sein dürfte.86 Die vielfach zum Ausdruck kommende Psalmensprache unterstützt die Interpretation von 7,15 als argumentum ad deum, denn der Tod als eine Sphäre jenseits der Gottesbeziehung wird ebenso wie der drohende Tod Hiobs Gott vor Augen gehalten, um ihn zum Eingreifen zu bewegen: Gleich im Anschluss an den „Gedenke“-Imperativ wird in Hi 7,7f ähnlich wie in den Psalmen das Auge (‫ )עין‬als Vitalitäts- und Beziehungsorgan ins Spiel gebracht, um sowohl die Lebenskraft Hiobs (7,7b; vgl. Ps 13,4b; 19,9; 38,11; 69,4; 88,10) als auch die Beziehungsfähigkeit Gottes – wie auch diejenige von Hiobs Freunden87 – zu den 83

Vgl. dazu Beuken, Imprecation. Zu den Trauerriten und zum Motiv des Schweigens der Freunde im Prolog vgl. Lux, Hiob, 136–139. Zum Motiv des Schweigens im Hiobbuch insgesamt vgl. van Oorschot, Sprachlosigkeit. 85 In Hi 10,9a richtet sich Hiobs Imperativ von ‫ זכר‬an Gott: „Bedenke doch, dass du mich wie Lehm geformt hast.“ Auch Hi 7,7 ist deshalb wohl als Aufnahme traditioneller Gebetssprache zu verstehen und dem eminent theologischen Gebrauch von ‫ זכר‬zuzuordnen (vgl. dazu Schottroff, Gedenken, 239–243). Anders Ebach, Streiten, 78, der 7,6f als Aufnahme von 4,6f versteht und deshalb den „Gedenke“-Imperativ auf Elifas bezieht. Erst im weiteren Verlauf der Rede werde deutlich, dass sich Hiob auf „Gott als den eigentlichen Adressaten seiner Worte“ beziehe. 86 Vgl. dazu Heckl, Hiob, 62f. 87 Sprachlich wird das Subjekt in 7,8a nicht näher bestimmt, weshalb auch Elifas, die Freunde oder die soziale Mitwelt insgesamt im Blick sein könnten (vgl. Gradl, Ijob, 104; Frevel, Todeswunsch, 31). Dafür spricht neben Vers 10b auch, dass im Hiobbuch sowohl ‫ שור‬als auch ‫ראה‬ Partizip fast ausschließlich (bis auf Hi 35,13) ein menschliches, aber kein göttliches Sehen beschrei84

Todeswunsch und Selbstmordabsicht am Beispiel von Hiob 7,15f und verwandten Texten

15

Lebenden anzuzeigen (7,8a; vgl. Ps 11,4; 13,4a; 32,8; 33,18; 34,16), die am Tod ihre Grenze findet (7,8b; vgl. Ps 31,32[mit ‫ ;]עין‬88,3[mit ‫)]זכר‬. Weil nach gängigen Vorstellungen Gott vor dem Tode rettet (vgl. etwa Ps 16,10f; 116,8), lautet der von Hiob bestrittene, aber zugleich eingeforderte Grundsatz: Ps 116,15: Kostbar in den Augen des Herrn ist das Sterben seiner Frommen.

Die in Hi 7,7–10 zum Ausdruck kommende Klage darüber, dass derjenige, der nicht mehr ist (Hi 7,8b), irreversibel aus der Unterwelt nicht mehr zurückkehrt (Hi 7,9b) und aller Sozialbeziehungen inklusive der Gottesbeziehung verlustig geht (Hi 7,8), kann wie diejenige in Ps 88 als argumentum ad deum verstanden werden, dass Gott einen ihn verehrenden Gläubigen zu verlieren droht und deshalb einen bevorstehenden Verlust abzuwenden hat. Dieses Argument beinhaltet keine Selbstmorddrohung – die als eine Art Appell durchaus im Alten Orient belegt ist88 –, sondern ganz ähnlich wie in einem neuassyrischen Gebet an Nabu89 einen Appell an Gott angesichts eines Lebens, das schon dem Tode zugezählt werden kann.90 Ein solches argumentum ad deum kommt sehr schön in einem mesopotamischen Gebet an Marduk zum Ausdruck: Gebet an Marduk Nr. 1, 66–69: You shall not destroy the servant, the creation of your own hands. Regarding the one who turns into mud, what is his merit? (Only) a living servant reveres his master. What can the dead dust (i.e., the dead man) add to the god(s)?91

Der Todeswunsch in Hi 7,15f ist zum Teil auf und gegenläufig zu dieser Linie zu interpretieren, aber auch in Weiterführung der vorliegenden theologischen Rhetorik: In Hi 7,11–14 klagt der leidende Hiob – ebenfalls typisch für Psalmensprache – darüber, dass Gott ihm als Feind gegenübertritt und als Verursacher seines todgeweihten Leidens erkannt wird. Angesichts dieser Feindschaft folgt in 7,16b auf den Todeswunsch von Vers 15 eine Aufforderung an Gott, die deutlich macht, wer als heimliches Subjekt von ‫( מחנק‬Hi 7,15a) im Blick ist: Hi 7,16: Ich habe verworfen! Nicht will ich auf Dauer leben. Lass ab von mir, denn Windhauch sind meine Tage.

Das ‫ מאסתי‬in 7,16aα („Ich verwerfe!“) lässt zwar ein hier fehlendes Objekt erwarten (vgl. Hi 9,21c ‫„ אמאס חיי‬Ich verwerfe mein Leben!“), doch tritt ‫ מאס‬auch in Hi 42,6 ohne Objekt auf und trägt damit einem offenen und umfassenden Deutungshorizont

ben. Die verwendete Psalmensprache lässt in jedem Fall die Gottesperspektive implizit mitschwingen. Aus 7,21b wird dann deutlich, dass zumindest 7,8b die Augen Gottes beschreiben. 88 Vgl. dazu ausführlich unten die entsprechenden Kapitel über appellative und erpresserische Selbstmorddrohungen. 89 SAA III 12. Zu diesem Text siehe unten das Kapitel über Selbstmorddrohungen in altbabylonischen Briefen und verwandten Texten. 90 Vgl. dazu Groß, Gott, 161–164; Janowski, Die Toten, 23–28. 91 Übersetzung nach Oshima, Prayers to Marduk, 163.

16

Einleitung

Rechnung.92 Lässt sich das imperfektische ‫ אמאס‬in Hi 42,6 auf das jetzt einsetzende und die Zukunft der Gottesbeziehung prägende Verwerfen aller eigenen Vorwürfe im Rechtsstreit gegen Gott verstehen, so das perfektische ‫ מאסתי‬in Hi 7,16 als das aufgrund gewonnener Leiderfahrungen und Erkenntnisse feststehende Verwerfen des eigenen Lebens93 wie auch des Rates seines Freundes Elifas, das Handeln Gottes als Züchtigung anzunehmen (Hi 5,17).94 Hi 7,16aβ („Nicht will ich auf ewig leben.“) setzt die Aussagen von Vers 15 konsequent fort: Ein Leben, das den Tod durch Erstickung der eigenen Existenz (‫)עצמותי‬95 vorzieht (Vers 15), kann schlechterdings nicht auf Dauer leben wollen (Vers 16a). Vers 16b lässt den Adressaten der Rede Hiobs ins Licht treten: Weist schon der Windhauch (‫ )הבל‬auf den Hauch (‫ )רוח‬von 7,7 und impliziert „eine Frage an Gott und eine Anklage Gottes“,96 so ist auch deutlich, wer mit dem „Gedenke“Imperativ und als heimliches Subjekt des Erstickens (‫ )מחנק‬in 7,15 angesprochen ist: Gott möge Hiob nicht als Feind gegenübertreten und mit Leid plagen, sondern ihn rasch sterben lassen (7,15) und von ihm ablassen (7,16).97 7,16 expliziert scheinbar in radikaler Umkehrung der traditionellen Psalmensprache, die in den Klagepsalmen eine Zuwendung Gottes erbittet, den Wunsch nach Gottes Abwendung. Der Vers nimmt damit einen Wunsch Hiobs auf, der schon in 6,8f zum Ausdruck kam: Hi 6,8f: Oh dass käme, wonach ich fragte und mein Verlangen Gott erfüllte, dass Gott sich entschließt und mich zermalmt, freigibt seine Hand und mich abschneidet (vom Leben).

Hiob schwebt kein Selbstmord vor Augen, sondern der Wunsch, dass Gott ihn sterben lassen möge. Sowohl 6,8f als auch 7,15f zielen auf das „Beenden des als Ausdruck einer Feindschaft verstandenen Handelns Gottes“ und damit auf das Beenden einer Situation, „die schlimmer als Strangulierung und Tod empfunden wird.“98 Der Todeswunsch erweist sich als Argument, Gott unter der Bedingung der fortgesetzten, ungerechtfertigten Bestrafung den Tod vorzuhalten, um ihn zum „Ablassen“ zu bewegen. Er enthält keine Selbstmorddrohung, sondern zielt ganz im Gegenteil auf ein Handeln Gottes, Hiob entweder sterben99 oder vom Leiden befreit leben zu lassen: „Dieser Wunsch […] ist eine Art der Anklage an Gott, denn dadurch erbittet und ersehnt er sich das Ende der Leiden, die Gott selbst verursacht hat.“100 Dabei ist zu bedenken: Hintergründiges Ziel der Argumentation ist nicht der Tod, sondern das Ablassen Gottes (‫)חדל ממני‬, das sowohl den im Leiden durchaus ersehnten Tod, aber auch das vom Leiden befreite und erhoffte neue Leben bewir92

Die vorgeschlagenen Konjekturen, beispielsweise von Duhm, Hiob, 44 (Anschluss an Vers 15b) und Fohrer, Hiob, 164 (Streichung) sind unnötig. 93 Vgl. dazu Habel, Job, 153; Clines, Job, 157. 94 Vgl. dazu Frevel, Todeswunsch, 35. 95 Zum Gebein als Metapher für den gesamten Menschen vgl. Frevel, Todeswunsch, 34. 96 Ebach, Streiten, 82. 97 Bezeichnenderweise deckt die Septuaginta das heimliche Subjekt von 7,15a in ihrer Übersetzung auf: „Du wirst abtrennen von meinem Atem meine Seele.“ (Hi 7,15aLXX) 98 Frevel, Todeswunsch, 36. 99 „Was er ersehnt, ist durch die Hand Gottes zu sterben.“ (Ha, Frage, 110) 100 Ha, Frage, 110.

Todeswunsch und Selbstmordabsicht am Beispiel von Hiob 7,15f und verwandten Texten

17

ken kann, wie die parallele Formulierung in Hi 10,20 (‫ )יחדל ישית ממני‬deutlich werden lässt, weil hier der Wunsch ausdrücklich auf ein vom Leiden befreites („heiteres“) Leben abzielt (‫)ואבליגה מעת‬. „Damit zielt der Todeswunsch im Hiobbuch nicht auf das Sterben, sondern im Gegenteil auf die Bewahrung des Lebens.“101 So erweist sich die Formulierung des Todeswunsches als ein zwar radikal formuliertes argumentum ad deum, das die Psalmensprache provozierend umkehrt, das aber dennoch hinter und mit dem Argument des Todeswunsches nicht nur den Tod angesichts des Leidens als bessere, sondern auch ein vom Leiden befreites Leben als beste Möglichkeit zu erhoffen scheint. Der Todeswunsch ist kein „Wunsch nach Selbsttötung“.102 Das literarische Motiv des Todeswunsches findet sich auf ähnliche Weise in verwandten Texten, die keine Selbstmordabsicht zum Ausdruck bringen, sondern allesamt einen Todeswunsch als argumentum ad deum formulieren (z.B. Ex 32,32; Num 11,15; 1 Kön 19,4; Jona 4,3.8f; Tob 3,6.13).103 In diesen Texten wird im Gespräch mit Gott die Erfüllung des Todeswunsches nicht der eigenen Tat anheim gestellt, sondern von Gott erbeten, um ihn auf diese Weise zum Einschreiten zu bewegen. Insbesondere Tob 3,10–15104 lässt den Unterschied zwischen Selbstmordund Todeswunsch deutlich werden: In Tob 3,10 erwägt Sara den Suizid durch Erhängen, verwirft ihn dann jedoch mit dem Gedanken an dessen soziale Folgen. Stattdessen betet sie direkt im Anschluss an die Verwerfung des Suizidgedankens zu Gott (Tob 3,11–15) und bittet ihn um die Erfüllung ihres Todeswunsches, sie sterben zu lassen (Vers 13), oder sie von ihrem Leiden zu erlösen (Vers 15). Geradezu als Gegensatz werden hier Suizidgedanken ohne Gottesbezug und Todeswunsch im Rahmen eines Gebetes einander gegenübergestellt. Ähnlich verhält es sich im Jonabuch: Jonas Selbstaufopferung für die Seeleute (Jona 1,12)105 erfolgt gerade außerhalb und unabhängig von seiner Beziehung mit JHWH als einem Gott, mit dem er, Jona, nichts weiter zu tun haben will, während der Todeswunsch Jonas in 4,3.8f gerade im Gespräch mit Gott formuliert wird.

101

Liess, Todessehnsucht, 405. So jedoch anscheinend Adam, Suizid, 379. 103 Die einzigen mir bekannten alttestamentlichen Ausnahmen sind Simson (Ri 16,28; siehe dazu unten das Kapitel über die Selbsttötung Simsons) sowie Texte aus den Makkabäerbüchern (siehe dazu unten das Kapitel über die Martyriumslegenden des zweiten Makkabäerbuches). 104 Vgl. dazu ausführlich unten das Kapitel über die Suizidgedanken Saras im Buch Tobit. 105 Vgl. dazu ausführlich unten das Kapitel über das Selbstopfer des Jona. 102

Erster Teil

Kultursoziologische Grundlagen Ehre, Scham und Schande in den Kulturen der Alten Welt Wir interpretieren den Selbstmord in diesem Buch weder rechtlich als Verbrechen noch moralisch und religiös als Sünde noch medizinisch als Krankheitsphänomen, sondern suchen nach den Sinndeutungen, welche die Menschen in den Kulturen des Alten Israel, des Alten Orients und des Alten Ägyptens dem eigenen wie fremden Selbstmord zugesprochen haben. Deshalb ist es notwendig, vorab die allgemeinen Sinnwelten vorzustellen, in denen die Menschen dieser Kulturen leben und in denen sie, ausgerüstet mit kulturellen Mustern und Orientierungen, Handlungen begehen. Der Selbstmord erweist sich in den meisten, wenn auch nicht allen biblischen und altorientalischen Fällen als ein Ehrphänomen: Hand an sich legt man um der eigenen Ehre und in den hellenistisch-jüdischen Texten auch um der Ehre Gottes willen. Wer in scheinbar auswegloser Situation die Ehre wahren und Scham und Schande entgehen will, kann Suizid üben, ohne dass ihm dies von seiner Umwelt als Verbrechen, Sünde oder Krankheit vorgehalten wird. Um den Suizid aus Ehrgefühl in den Kulturen der Alten Welt zu verstehen, werden wir in diesem ersten Teil die kulturelle Sinnwelt nachzeichnen, auf deren Grundlagen auch der Selbstmord aufbaut: Eine kulturelle Welt voller Ehre, Scham und Schande.1

Zur Begriffsbestimmung von Ehre, Scham und Schande In unserer modernen Gesellschaft prinzipiell gleichwertiger Wesen kommt einem jeden die allgemeine Würde zu, die auch jedem anderen gebührt. Aber obwohl wir als demokratische Bürger den anderen achten und tolerieren, ehren wir ihn nicht – jedenfalls nicht in dem strengen Sinne, in dem Ehre als ein soziales Phänomen zu verstehen ist, welches das Denken, Fühlen und Verhalten der Menschen steuert und mit öffentlichen rituellen Handlungen der Ehrerbietung einhergeht.2 Noch im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das anders. Hier kam dem Rang und dem Status in der Öffentlichkeit, verbunden mit zahlreichen Symbolen und Symbolhandlungen, noch eine gesellschaftstragende Funktion zu. Jeder Offizier, jeder Arzt, jeder Schulmeister verfügte über eine spezifische Form der Ehre, so dass er ein angemessenes ehrerbietiges Verhalten im alltäglichen Leben auch einfordern 1

Der folgende Teil geht auf meinen Artikel in Janowski/Liess, Mensch, zurück und wurde für den Zusammenhang dieses Buches überarbeitet und erweitert. 2 Zum Niedergang der Ehrvorstellungen in der modernen bürgerlichen Gesellschaft und zur Unterscheidung zwischen Ehre und Würde vgl. Berger/Berger/Kellner, Modernität, 75–85.

20

Kultursoziologische Grundlagen

konnte.3 Auf ähnliche Weise stellt die Ehre einen zentralen Wert in den Schriften des Alten Testaments dar. Die unterschiedlichen Formen der Ehre im Alten Testament, ihre Sichtbarkeit und die mit ihr verbundenen Rituale unterscheiden sich zwar phänomenologisch von den ritterlichen Ehren des Mittelalters oder von den soldatischen Ehren, die sich durch die deutsche Kaiserzeit ziehen, weisen aber nichtsdestoweniger eine tragende Funktion für die soziale Welt des alten Israel auf. Eine historisch-kulturelle Anthropologie4 bedarf Begriffsbestimmungen von Ehre, Scham und Schande, die ihre unterschiedlichen historischen Formen integrieren können. Der Begriff „Ehre“5 soll im Folgenden den sozialen Wert einer Person bezeichnen, der an der Anerkennung und dem Ansehen dieser Person in der Öffentlichkeit abzulesen ist: Sie wird nicht nur konstituiert durch Anerkennung als einem geistigen Akt öffentlicher Wertschätzung, sondern auch durch Ansehen als den auf äußerlichen Begebenheiten beruhenden Formen und Handlungen, die Anerkennung öffentlich, das heißt vor den Augen der anderen, dokumentieren. Das Ehrgefühl ist dementsprechend „ein Fühlen des besonderen Selbstwertes, der in der Achtung unserer Mitmenschen liegt. […] Ehre fühlen – heißt sich selbst durch das Wertungsauge der Umwelt sehen“.6 Der eigene Anspruch auf Ehre, ob berechtigt oder nicht, steht im Unterschied zum natürlichen Selbstwertgefühl in einem dynamischen Wechselverhältnis zu dem sozialen Wert, über den die jeweilige Person in der Öffentlichkeit verfügt.7 Der Anspruch auf Ehre kann in einer Entsprechung zu der tatsächlichen sozialen Anerkennung stehen oder eine Herausforderung darstellen, die es erst in soziale Tatsachen umzusetzen gilt. 3

Selbst das Duell zur Ehrenrettung war – wie vor allem Fürbringer, Ehre, und Frevert, Ehrenmänner, zeigen konnten – neben anderen Formen der Ehre wie der Berufs- und Standesehre, Soldaten-, Offiziers- und Adelsehre noch für die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts ein zentraler, wenn auch umstrittener Kulturwert. Zur abendländischen Geschichte der Ehre vom Mittelalter bis heute siehe Burkhart, Geschichte; unter Einschluss Afrikas und Anatoliens Speitkamp, Ohrfeige. 4 Zu Begriff und Programm einer historisch-kulturellen Anthropologie, die Kulturanthropologie, philosophische und historische Anthropologie zu integrieren sucht und auch Theorien zur Hominisation nicht ausschließt, vgl. Wulf, Anthropologie, 27–194. Grundsätzlich zur Aufgabe einer historischen Anthropologie des Alten Testaments vgl. Bester/Janowski, Anthropologie, 5–9.20–24; Janowski, Mensch, 145f; ders. Konfliktgespräche, 1–6; ders., Anthropologie, 378–381, und speziell in literarhistorischer Perspektive van Oorschot, Grundlegung, 22–31.36–41; in sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Perspektive Kessler, Anthropologie; Dietrich, Sozialanthropologie, sowie in kulturhistorischer Perspektive Schmitt, Perspektiven, 187–206. Zur Ehre als Thema der historischen Anthropologie vgl. Dinges, Ehre; zur Ehre als Thema der Sozialanthropologie vgl. etwa den Überblick bei Rowe, Sons or Lovers, 107–118. 5 Zur Semantik von Ehre im Hebräischen (‫הוד‬, ‫יקר‬, ‫הדר‬, ‫גדל‬, ‫ כבד‬usw.) vgl. Klopfenstein, Ehre, 485; Neumann, Ehre, 138; Hagedorn, Honor and Shame, 499f; Olyan, Honor, 203f Anm. 5f (Lit.). 6 Scheler, Scham, 149.152. 7 Vgl. auch Pitt-Rivers, Honour and Social Status, 21 (Hervorhebungen im Original): “Honour is the value of a person in his own eyes, but also in the eyes of his society. It is his estimation of his own worth, his claim to pride, but it is also the acknowledgement of that claim, his excellence recognized by society, his right to pride.” Diese Unterscheidung ist von der exegetischen Forschung übernommen worden (vgl. Malina, Welt, 42, Hervorhebungen im Original): „Ehre bedeutet den Wert, den eine Person sich selbst gibt (d.h. auf den sie Anspruch erhebt), und den Wert, den eine Person in den Augen ihrer sozialen Gruppe hat. Ehre ist also der Anspruch auf Wertschätzung verbunden mit der sozialen Anerkennung dieses Wertes.“

Zur Begriffsbestimmung von Ehre, Scham und Schande

21

Im Rahmen einer historischen Anthropologie wäre es verfehlt, wollte man die Frage nach Ehre im Alten Testament auf eine einzige Typenbeschreibung eingrenzen oder mit nur einem Theoriemodell beantworten. Grundsätzlich sind im Zusammenhang einer historischen Anthropologie des Alten Testaments eindimensionale Zuweisungen – etwa zu einer den gesamten Mittelmeerraum umfassenden einheitlichen Schamkultur8 oder zu einer von „Schuldkulturen“ strikt zu trennenden „Schamkultur“9 – wenig sinnvoll. Obwohl Ehre als ein sozialanthropologischer Grundbegriff angesehen werden kann,10 zeigt sich eine erhebliche Bandbreite an historischer und kultureller Variabilität in den unterschiedlichen Auffassungen und Vorstellungen über Ehre sowie in den Handlungen, die Ehre anerkennen, herstellen

8 Schon der obige erste Abschnitt sollte deutlich werden lassen, dass der Mittelmeerraum nicht als „Ehr- und Schamkultur“ von den nordeuropäischen „Schuldkulturen“ streng zu unterscheiden ist. Den Eindruck einer gegenläufigen Ansicht erweckt der Sammelband von Peristiany/Pitt-Rivers, Honour and Shame, passim. Die Autoren dieses Sammelbandes gehen, so die Kritik, von der Annahme aus, der Mittelmeerraum wäre “united by a pervasive and relatively uniform value system based on complementary codes of honor and shame.” (Gilmore, Shame of Dishonor, 2) Diese Sicht ist von der exegetischen Forschung übernommen worden: Honor and shame “are the core values in the Mediterranean world in general and in the Bible as well.” (Plevnik, Honor, 106; zur Kritik vgl. beispielsweise Chance, Anthropology; Avrahami, ‫ )בוש‬Selbst wenn man diese Generalisierung nicht teilt und das Spezifische „der“ mediterranen Kultur in einer besonders ausgeprägten Geschlechterehre erblickt (vgl. dazu Gilmore, Shame of Dishonor), kann dies aus historischer Perspektive kaum überzeugen, wenn man an die verschiedenen Formen der Geschlechterehre im europäischen Mittelalter und in der Neuzeit bis ins 20. Jh. hinein denkt. So war es noch zu Beginn des 20. Jh. für ein Paar unehrenhaft, vor der Heirat ein Kind zu zeugen. In Aufnahme der Kritiken (vgl. beispielsweise Herzfeld, Honour, 349: “Massive generalizations of ‘honour’ and ‘shame’ have become counterproductive”) gehen die beiden Herausgeber in ihrem zweiten Sammelband zum Thema Ehre (Peristiany/Pitt-Rivers, Honor and Grace) nun davon aus, dass jede Gruppe ihre eigentümlichen Ehrvorstellungen besitzt (ebd. 4ff), und sie erweitern ihr Forschungsfeld über den Mittelmeerraum hinaus auf die islamische und nordeuropäische Welt. 9 Zu dieser Unterscheidung vgl. neben Mead, Cooperation, 493f vor allem Benedict, Chrysantheme, 196f. Aufgenommen und auf die griechische Antike übertragen von Dodds, Griechen, besonders 15f und 17–37. Benedict selbst nimmt allerdings keine strikte Trennung zwischen Scham- und Schuldkulturen vor, sondern betont, dass auch in sogenannten Schuldkulturen Schamgefühle existieren. Diese werden von ihr aber im Vergleich zu Schuld und Gewissen auf „Taktlosigkeiten“ beschränkt, die – so ihre Ansicht – „in keiner Weise Sünde sind.“ (ebd. 196) Die Unterscheidung zwischen Scham- und Schuldkulturen ist in Bezug auf die alttestamentlichen Texte ungeeignet, da diese gerade eine enge Verschränkung der Scham- und Schuldproblematik zeigen: Die Strafe einer Schuld kann im Verlust der Ehre und in der Zufügung von Schande bestehen. So verfallen beispielsweise Menschen wegen schuldhaften Verhaltens (‫ )עון‬einem schändlichen Tod (vgl. Ez 28,17–19). Das verbindende Element zwischen Schuld und Schande scheint die Unreinheitsvorstellung zu sein. Semantisch ist der Zusammenhang zwischen Schuld und Unreinheit sowie Schuld und Schande aus Klgl 1,8f ersichtlich: Die Sünde Jerusalems (‫ )חטא‬hat Verachtung (‫ זלל‬Hifil), öffentliche Entblößung (‫ ערוה‬+ ‫ )ראה‬und Unreinheit (‫ )טמאה‬zur Folge. Laniak, Shame, 8f verwendet daher in bezug auf derartige Texte den Ausdruck “guilt-based shame”. Zur Kritik an einer strengen Unterscheidung zwischen Scham- und Schuldkulturen vgl. schon Piers/Singer, Shame, 99: “What evidence there is, tends to support the conclusion that the sense of guilt and the sense of shame are found in most cultures […].” (Hervorhebung im Original) 10 Janowski, Konfliktgespräche, 282.

22

Kultursoziologische Grundlagen

oder aberkennen wollen.11 Daher finden sich auch im Alten Testament verschiedene, zum Teil sogar sich widersprechende Formen von Ehre, die es zu differenzieren gilt. Dass es verschiedene, in einer historischen Anthropologie zu unterscheidende Ehrvorstellungen gibt, liegt an dem formal offenen Charakter der Definition von Ehre: Indem Ehre den sozialen Wert einer Person in den Augen der Öffentlichkeit anzeigt, ist noch keine Sachaussage darüber gefällt, welcher Art die Formen und Verhaltensweisen sind, die zur Ehre führen.12 Funktional zeigt sich eine Gemeinsamkeit immerhin darin, dass eine jede Kultur und Gesellschaft unter dem Deckmantel der Ehre diejenigen Ansichten, Normen und Verhaltensmuster ihrer Mitglieder ausbildet und kontrolliert, die sie zu ihrer eigenen Stabilität benötigt: „Die spezifische Leistung der Ehre ist die Internalisierung der Gruppennormen.“13 Mit einer solchen Funktionsbestimmung soll deutlich werden, dass der Begriff Ehre ein genuin sozialkultureller Begriff ist, der „das relative Maß an sozialem Ansehen bezeichnet, das eine Person zu erwerben vermag, wenn sie die kollektiven Verhaltenserwartungen habituell erfüllen kann, die ‚ethisch‘ mit ihrem sozialen Status verknüpft sind.“14 Die Ehrvorstellungen werden zu einem Habitus des Ehrgefühls geformt, der „nichts anderes als die kultivierte Disposition“ darstellt, „von einer kleinen Anzahl implizit vorhandener Prinzipien aus alle die Verhaltensformen, und nur diese, zu erzeugen, die den Regeln der Logik von Herausforderung [der Ehre, J.D.] und Erwiderung der Herausforderung entsprechen“.15 In den folgenden Kapiteln werden einige dieser Formen von Ehre typologisch unterschieden und in ihren jeweiligen historischen Ausformungen bestimmt. Die Begriffe „Scham“ und „Schande“ stellen auf je ihre Weise Gegenbegriffe zur Ehre einerseits und zum Ehrgefühl andererseits dar. Auch für die Kulturen der Alten Welt gilt: “Shame follows the conception of honour as its shadow.”16 Handelt es sich bei der Ehre um ein Phänomen im sozialen Raum, das „von außen“ durch Anerkennung und Ansehen konstituiert wird, so gilt dies auch für Scham und Schande: 11

“However, we must take care not to erase significant cultural differences between modern societies and ancient ones. It should be noted that whatever brings honor to a person or family in contemporary societies may not necessarily have brought honor in ancient societies and vice versa.” (van der Jagt, Approaches, 48) 12 „Nicht die Ehre ist veränderlich, sondern worin die Menschen ihre Ehre setzen.“ (Scheler, Scham, 153) 13 Vogt/Zingerle, Ehre, 23 im Anschluss an Simmel, Soziologie, 402–406. Simmel weist der Ehre eine Zwischenstellung zwischen dem Recht und der Moral zu: „Indem die Gesellschaft die Gebote der Ehre aufstellt und sie mit teils innerlich subjektiven, teils sozialen und äußerlich fühlbaren Konsequenzen gegen Verletzung sichert, schafft sie sich eine eigenartige Garantieform für das richtige Verhalten ihrer Mitglieder auf denjenigen praktischen Gebieten, die das Recht nicht ergreifen kann und für die die nur gewissensmäßigen Garantien der Moral zu unzuverlässig sind.“ (403) Über die Ehre als Motor zur Internalisierung von Gruppennormen schreibt er weiterhin: „Es gibt vielleicht keinen Punkt, an dem sich das Sozial- und das Individualinteresse derartig verschlingt“, so dass die Ehre „dem Menschen seine soziale Pflicht zu seinem individuellen Heile macht.“ (405) 14 Honneth, Anerkennung, 199. 15 Bourdieu, Entwurf, 31. 16 Pedersen, Israel, 242. Zur Semantik von Scham und Schande im Hebräischen (‫בוש‬, ‫קלל‬, ‫כלם‬, ‫ חפר‬usw.) vgl. Klopfenstein, Scham; ders., Ehre, 486; Neumann, Scham, 355f; Olyan, Honor, 203f Anm. 5f (Lit.); Avrahami, ‫בוש‬, 297 Anm. 9 (Lit.).

Zur Begriffsbestimmung von Ehre, Scham und Schande

23

Der Begriff „Scham“ bezeichnet als Schamgefühl das subjektive Gefühl der Angst und Scheu vor dem Ehrverlust, den die Augen der Anderen dem Subjekt zusprechen. Scham ist Sensitivität vor dem Ehrverlust.17 Scham ist immer Scham vor jemandem.18 „Ich schäme mich über mich vor Anderen“.19 Sie ist deshalb keinem solipsistischen Wesen zuzusprechen, sondern wird erst durch den Blick des Anderen hervorgerufen, wie vor allem Jean-Paul Sartre betont hat: „der Andere ist der unentbehrliche Vermittler zwischen mir und mir selbst: ich schäme mich meiner, wie ich Anderen erscheine.“20 Wie die Ehre ist sie „ihrer Natur nach Anerkennung. Ich erkenne an, daß ich bin, wie Andere mich sehen.“21 Damit ist nicht nur deutlich, dass Scham und Schande Frauen wie Männern zukommen können und nicht im Rahmen einer Geschlechterehre auf die Frau beschränkt sind,22 sondern auch, dass generell und insbesondere in solchen Kulturen, die dem Ehrglauben fest verhaftet sind, eine ethische Position fundamental ist, welche die Beschämung des Anderen zu den ethisch verwerflichsten Taten zählt: „Wen nennst du schlecht? – Den, der immer beschämen will. Was ist dir das Menschlichste? – Jemandem Scham ersparen. Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? – Sich nicht mehr vor sich selber schämen.“23 Die zum Teil grundsätzlichen, radikalen und vielfach gewalttätigen Antworten auf Ehrverletzungen sowohl in den Kulturen des Altertums als auch in einigen unserer heutigen Kulturen müssen deshalb aus dieser Verbindung zwischen Identität und Scham verstanden werden. Der Begriff Schande bezeichnet im Unterschied zur Scham den objektiv eingetretenen Zustand des Ehrverlustes, der in der sozialen Erniedrigung der betroffenen 17

Vgl. Pilch, Cultural Context, 53: “From a positive view, ‘shame’ is a sensitivity to one’s honor and honor rating.” Diese Sensitivität zeigt, dass Scham keine ausschließlich außengeleitete Reaktion auf den Blick des Anderen und seine sozialen Sanktionen darstellt, sondern über “self-judgment, an internalized evaluation” (Stiebert, Construction, 6f. Hervorhebung im Original) ähnlich Schuld und Gewissen verfügt. 18 “For shame is above all visual and public. Unlike guilt, shame requires an audience: the watchful community. In the psychic mechanism of shaming, it is the ‘eye’ of the community and the related sense of paranoic observation that are assimilated to worldview and to personality.” (Gilmore, Honor, 101. Hervorhebungen im Original) 19 Sartre, Das Sein und das Nichts, 490. Hervorhebungen im Original. 20 Sartre, Das Sein und das Nichts, 406. Hervorhebungen im Original. 21 Sartre, Das Sein und das Nichts, 406. Hervorhebungen im Original. Anders als die Ehre jedoch, die auch Gott und Göttern zukommen, ist die Scham nach Max Scheler ein spezifisch menschliches Phänomen: „Die einzigartige Stellung und Lage des Menschen im großen Stufenbau der Weltwesen, seine Lage zwischen dem Göttlichen und Tierischen, kommt in keinem Gefühl so klar, so scharf und so unmittelbar zum Ausdruck wie im Gefühl der Scham. […] Geradezu widersinnig wäre es, sich eine ‚sich schämende Gottheit‘ vorzustellen. […] Kein Gott und kein Tier vermag sich zu schämen.“ (Scheler, Scham, 67.69. Hervorhebungen im Original) 22 So jedoch Pilch, Cultural Dictionary, 36 in Bezug auf die biblischen Texte: “Following the cultural division of all reality into male and female, honor is linked with the male, and shame is linked with the female.” Vgl. auch Plevnik, Honor, 107: “The female domain is that of shame in the sense of focal concern for honor; such shame is neither won nor claimed.” Zur Kritik an diesem Modell aus anthropologischer Perspektive vgl. Wikan, Shame. Differenziertere Stellungnahmen zur Geschlechterehre im Alten Testament finden sich bei Domeris, Proverbs; Herrmann, Würde der Frau; Berlejung, Frau nach Maß, Bergant, Beloved; Janssen/Kessler, Ehre/Schande, 97. 23 Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Nr. 273–275.

24

Kultursoziologische Grundlagen

Person durch die öffentliche Wertschätzung in sozialen Formen und Handlungen dokumentiert wird.24 Schande „ist allemal öffentliche Schande, ja sie empfängt ihren Stachel gerade von ihrer Öffentlichkeit her.“25 Die sozialen Formen und Handlungen, mit denen die soziale Mitwelt einer Person Schande als einen Zustand des Ehrverlustes zuspricht, sind in den Kulturen der Alten Welt zumeist ritualsymbolischer Art. In dieser Welt stellt der Selbstmord häufig den Versuch dar, Schande zu entgehen. Da Scham und Schande wie Ehre auf positiver oder negativer Anerkennung durch Andere gründen, dienen auch Scham und Schande der Normierung von Verhaltensweisen. L.M. Bechtel erkennt in den Funktionen der Schamsanktionen drei Mechanismen: 1. Scham und Schande als soziale Kontrollmittel, die unerwünschte Verhaltensweisen unterdrücken. 2. Scham und Schande als soziale Druckmittel, welche die Gruppenkohäsion durch Ablehnung und Distanzierung von abweichenden Mitgliedern stärken. 3. Scham und Schande als soziale Druckmittel, um andere zu dominieren und zu manipulieren.26

Auch Scham und Schande sind deshalb sozialkulturelle Phänomene: Im Schamgefühl wird ein gesellschaftlich geprägter Habitus als „Ausdruck der Internalisierung von Normen“27 ausgebildet, der „einerseits für den Erwerb sozial erfolgreicher Verhaltensweisen notwendig ist, andererseits Anpassung an gesellschaftliche Normen und Konventionen und damit auch Konformität fördert“.28 Wenn der Selbstmord in der Bibel und verwandten Texten, wie noch im Einzelnen zu zeigen sein wird, oftmals verständlich wird eingebettet in eine kulturelle Welt voller Ehre, Scham und Schande und in vielen Fällen eine neutrale, in manchen Fällen sogar positive Bewertung erfährt, scheint auch der Selbstmord auf einem solchen Habitus zu gründen und eine Handlung auszuführen, die an die gesellschaftlichen Normen und Konventionen ihrer Zeit angepasst ist.

Formen der Ehre, Scham und Schande im Alten Israel a) Ehre, Scham und Schande des sozialen Leibes (Leibesehre, Leibesscham, Leibesschande) Ehre, Scham und Schande sind eminent relationale Phänomene im sozialen Raum. Ehre, Scham und Schande gibt es nicht, ohne dass man sie anerkennt. Die Leibesehre beispielsweise ist daher nicht als „Hypostasenehre“ von anderen Formen der 24

Vgl. beispielsweise Pilch, Cultural Context, 53: “Shame in a negative sense is what results when an honorable person is dishonored or fails to guard or maintain personal honor.” 25 Klopfenstein, Scham, 209. 26 Vgl. Bechtel, Shame, 53. 27 Huxel, Scham, 863. 28 Grund, „Und sie schämten sich nicht …“, 115. „Das Kind ‚schämt‘ sich seiner zerrissenen Kleider, aber auch eines neuen, auffälligen Anzuges, einer zu guten Note. Hier scheint die Scham sich gegen alles übernormale Auffallen zu wehren.“ (Scheler, Scham, 148)

Formen der Ehre, Scham und Schande im Alten Israel

25

Ehre strikt zu trennen, da auch sie stets auf Anerkennung gründen muss.29 Eine leibliche Erscheinungsform bleibt bloße Erscheinung und wird nicht zur ehrfürchtigen Aura, wenn sie nicht auf dem relationalen Aspekt der Anerkennung als Ehre gründet.30 Ehre, Scham und Schande des Leibes erweisen sich daher immer schon als Ehre, Scham und Schande des sozialen Leibes: Indem sie sich durch das Ansehen der Person in der Öffentlichkeit konstituieren,31 können sie sich nicht nur am Leib selbst, sondern ebenso an der Kleidung als der zweiten, „sozialen“ Haut des Leibes zeigen sowie an Ritualen, die am Körper oder an der Kleidung des Körpers vollzogen werden: Kleidung zielt auf die leibliche Zurschaustellung von Ehre, Scham und Schande – diese werden materiell gedacht und vorgestellt.32 “Clothing was not mere body covering, but indicated one’s role and status, and so it is best viewed in terms of the values of honor and shame”.33 Im Alten Testament ebenso wie im Alten Ägypten können sich nicht nur Emotionen aller Art,34 sondern auch Ehre und Schande im Gesicht zeigen, wobei unter „Gesicht“ sowohl das konkrete Antlitz als auch das gesamte Erscheinungsbild samt Kleidung zu verstehen ist. „Am Aussehen erkennt man einen Mann, und am Ausdruck des Gesichts wird ein Verständiger erkannt“, heißt es daher in Sir 19,29.35 Da Ehre ein relationales Phänomen ist, „bildet man ein Gesicht aus, das man den anderen zeigt, das im Blick der anderen sich formt, und das man zu verlieren fürchtet. Dieses Gesicht heißt ‚Ehre‘, und diese Furcht heißt ‚Scham‘. Scham ist die Sorge um das Erscheinungsbild, das man anderen zeigt. Es wird gefährdet, nicht durch Schuld, sondern durch Schande. Damit ist eine Entblößung, Befleckung oder sonstige Versehrung dieses Erscheinungsbildes gemeint.“36 Die von Jakob herausgestellte Ehrenstellung Esaus beispielsweise wird nicht nur an der Proskynese (Gen 33,3)

29 Zum Hypostasenaspekt der Ehre als „eine Art Aura“ vgl. Neumann, Ehre, 138. Zur Scham als „einer feinen Aura von als objektive Schranke empfundener Unverletzlichkeit und Unberührbarkeit […], die den Menschenleib sphärenhaft umfließt“ vgl. Scheler, Scham, 87. 30 Deshalb sind sämtliche Formen der Ehre unter dem Blickwinkel eines methodologischen Relationalismus zu fassen, wie ihn beispielsweise Pierre Bourdieu vertritt (vgl. dazu Bourdieu/ Wacqant, Anthropologie, 34–40), und der für die unterschiedlichen historischen Erscheinungsformen der Ehre offen ist. 31 Zu ‫„( פנה‬Angesicht“) und ‫„( לפני‬im Angesicht von“) im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Ehre im Estherbuch vgl. Laniak, Shame, 49. 32 Vgl. die Formulierung von Podella, Lichtkleid JHWHs, 3 und 42 (Hervorhebungen im Original): „Kleid(ung) zielt auf Erkenntnis!“ – nämlich des Ranges und der Ehrenstellung einer Person. „Das Kleid ist die zweite, ‚soziale‘ Haut seines Trägers.“ Vgl. auch ders., Kleid, 381. 33 Neyrey, Clothing, 22. Vgl. auch Vogelzang/van Bekkum, Clothing, 266. 34 Vgl. dazu Kruger, face. 35 Die Ehre eines Menschen ist im Alten Orient auch anhand physiognomischer Omina ablesbar (vgl. dazu Berlejung, Physiognomik, dies., Körperkonzepte). Mit Hilfe der physiognomischen Omina „wollte man im Falle eines Mannes mehr über dessen Ehre, Sozialstatus, Ansehen, Karriere, sein Abschneiden bei Konflikt- oder Wettbewerbssituationen (z.B. Prozess) sowie über den Bestand und das Schicksal seines Hausstandes, seiner Familie, seines Personals sowie Nachwuchses erfahren.“ (ebd. 8) 36 Assmann, Herrschaft, 133f.

26

Kultursoziologische Grundlagen

und den Huldigungsgeschenken (Gen 33,8–11) deutlich,37 sondern ebenso an Esaus ehrenvollem Antlitz (Gen 33,10; vgl. Ex 34,29–35).38 Genauso ist Schande am Gesicht ablesbar: Es gibt eine „Schande des Gesichts“ (‫ בשת פנים‬2 Chr 32,21; vgl. die Schandausdrücke mit ‫ פנה‬in 2 Sam 19,6; Jer 7,19; 51,51; Ez 7,18; Ps 44,16; Dan 9,7f; Esr 9,7; vgl. Hos 2,4b sowie Jer 13,26; Nah 3,5).39 Wem beispielsweise ins Gesicht gespuckt wird, der ist in Schande und muss sich schämen (Num 12,14; Dtn 25,9; vgl. Lev 15,8), ebenso wie derjenige, dem auf die Wange geschlagen wird (vgl. 1 Kön 22,4; Mi 4,14): Racc. 144,426f: [ul a]m-ḫa-as lēt(TE) lúsab-bi ki-din-nu [ul] áš-kun qa-lal-šú-nu „Nicht habe ich geschlagen die Wange der Privilegierten, [… nicht] habe ich ihre Demütigung festgesetzt.“40

Der Kodex Hammurapi legt entsprechend der Statusunterschiede genau fest, welche Strafe für das Backenschlagen (lîtam maḫâsu) wem gebührt (KH §§ 202–205):41 § 202 Wenn ein Bürger die Wange eines Bürgers, der höher gestellt ist als er, schlägt, so bekommt er in der Versammlung sechzig Schläge mit dem Ochsenziemer. § 203 Wenn ein Bürger die Wange eines (anderen) Bürgers[,] der ihm gleich steht, schlägt, so soll er eine Mine Silber zahlen. § 204 Wenn ein Palasthöriger die Wange eines (anderen) Palasthörigen schlägt, so soll er zehn Scheqel Silber zahlen. § 205 Wenn ein Sklave eines Bürgers die Wange eines Bürgers schlägt, so soll man ihm ein Ohr abschneiden.42

Ehre und Schande des Gesichts treffen selbstverständlich nicht nur den Mann, sondern ebenso die Frau. So wird beispielsweise in der mittelassyrischen Gesell-

37 Im Hintergrund steht das höfische Zeremoniell zwischen Vasall und König, das die Unterwerfung des Vasallen und die Ehrenstellung des Königs anzeigt, vgl. dazu beispielsweise Hartenstein, Exodus, 168f; ders., Angesicht JHWHs, 83–86. 38 Dass es hier um eine Ehre geht, die am Leib sichtbar wird, macht auch ein Vergleich mit Ex 33,18–23 deutlich. Auf die Frage nach dem Schauen des ‫ כבוד‬JHWH antwortet Gott bezüglich der Offenbarung seiner Schönheit (‫)טוב‬, seines (ehrenvollen) Namens (‫ )שם‬sowie seines Angesichts (‫)פנים‬. Vgl. dazu Weinfeld, ‫כבוד‬, 28–31. 39 Siehe dazu Kruger, Psychology, 85f. Der Terminus ‫ על פניך‬in Jer 13,26 und Nah 3,5 könnte auf die schmachvolle öffentliche Aufdeckung des Gesichtsschleiers zu beziehen sein, vgl. dazu Podella, Lichtkleid JHWHs, 51f. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Gegensatz, der zwischen Gen 24,65; Hhld 4,1.3; 6,7 (ehrenvolle Verhüllung des Gesichts durch einen Schleier) und Jes 47,2 (schmachvolle Aufdeckung des Gesichtsschleiers) besteht. 40 Umschrift nach Sallaberger/Schmidt, Insignien, 574. Übersetzung J.D. Zum negativen Sündenbekenntnis des babylonischen Königs vgl. vor allem noch Pongratz-Leisten, Sündenbekenntnis; Ambos, König, 135–138 sowie zu den verschiedenen Formen des Statusverlustes und der Statusbestätigung des Königs bei Neujahrsfesten ebd., vor allem 73–91 und 127–141. Zu einem Vergleich mit dem mittelassyrischen Krönungsritual vgl. Zgoll, Königslauf, 61–64. 41 Vgl. San Nicolò, Ehrverletzung, 303. 42 Übersetzung nach TUAT I/1, 68.

Formen der Ehre, Scham und Schande im Alten Israel

27

schaft die (rechtlich relevante) Ehrenstellung der Frau durch die Verhüllung oder Enthüllung des Gesichts öffentlich sichtbar dargestellt (MAG Tafel A §§ 40f).43 Die Verhüllung der Scham ist nur der bekannteste Ausdruck des Schamgefühls, das die Kleidung zur zweiten, sozialen Haut des Leibes wählt. Wie an dem eben aufgeführten Beispiel MAG Tafel A §§ 40f Ehre, Scham und Schande an der Verhüllung des Gesichts ablesbar sind, so gilt dies auch für die Verhüllung der Scham. Schon Max Scheler hat den Begriff der Leibesscham geprägt und versteht darunter die „Funktion des leiblichen Schamgefühls, das lebendige Individuum zu decken und gleichsam zu umhüllen.“44 Die Verhüllung der Scham als Ausdruck eines Schamgefühls wird am Trefflichsten in der Paradiesgeschichte zur Sprache gebracht, die unter anderem eine Genealogie der Scham erzählt und das Schamgefühl nicht aus der Bekleidung, sondern aus der reflexiven Erkenntnisfähigkeit ableitet. Heißt es noch vor dem Verzehr der Frucht der Erkenntnis in Gen 2,25 „Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und sie schämten sich nicht.“,45 so wird nach dem Verzehr dieser Frucht die erste Erkenntnisleistung des Menschen auf die schamvolle Selbstwahrnehmung bezogen. „Da wurden ihre beiden Augen geöffnet und sie erkannten, dass sie nackt waren. Da banden sie Feigenlaub zusammen und machten sich Schürze.“ Die körperliche Scham rückt von nun an als leibliche Blöße ins Selbstbewusstsein – ein Ereignis, das hebräisch ‫ ערום‬auf dreifache Weise zum Ausdruck bringt, denn ‫ ערום‬bezeichnet hier (1) nicht nur die Tatsache der Nacktheit, sondern auch (2) den sozialen Wert der Nacktheit als Blöße, Demütigung und Ehrlosigkeit46 sowie (3) durch das Wortspiel zwischen 2,25; 3,1 und 3,7.10f den intelligiblen Grund der selbstwahrnehmenden Nacktheit als „Klugheit“ (‫)ערום‬.47 Die Genealogie der Scham ist damit keineswegs abgeschlossen, sondern wird erst durch den suchenden Ruf (‫ קול‬Vers 8 sowie ‫ אל־האדם‬+ ‫ קרא‬Vers 9) und den suchenden Blick (impliziert durch ‫ מפני‬Vers 8) des Anderen (Gottes) aktualisiert, vor dem sie sich verstecken: Das schamvolle Bekleiden schon im Gottesgarten, jenseits jeder Gefahr, ist eine Art Verstecken, ein Verbergen und Verhüllen der selbstwahrgenommenen Scham als Blöße vor dem ständig präsenten Auge des Anderen. „Die Menschen haben jetzt einen Blick für den Blick des anderen, sie erleben Leibesscham und erkennen die eigene ehrlose Situation vor dem anderen und vor allem vor Gott.“48 Eine Art ritueller Gegenwelt49 zu diesem üblichen Verbergen der Scham vor den Augen der Anderen stellen Rituale der Statusminderung dar, die am Leib sichtbar 43

Vgl. Durand, Mission, 103f; Podella, Lichtkleid JHWHs, 45f. Scheler, Scham, 70. 45 Zur Frage einer reziproken versus reflexiven Deutung von ‫ בוש‬Hitpael vgl. Sasson, Implications; Hartenstein, Paradieserzählung, 286f; Grund, „Und sie schämten sich nicht“, 118. 46 Vgl. dazu etwa Winter, Nacktheit; Neyrey, Nudity, 136–138; Hartenstein, Paradieserzählung, 279.289–292. Zur Nacktheit im Alten Orient vgl. Biggs/de Martino, Nacktheit, wo Nacktheit ebenfalls „als demütigender und beschämender Zustand angesehen“ wird. Zur Nacktheit in Ägypten vgl. Behrens, Nacktheit, wo Nacktheit „zuerst einmal Statuslosigkeit“ bedeutet. 47 Vgl. dazu Kübel, Wortspiel. 48 Grund, „Und sie schämten sich nicht …“, 121. 49 Zum Begriff der Gegenwelt vgl. Stolz, Gegenwelten; ders., Grundzüge, 94–100. 44

28

Kultursoziologische Grundlagen

werden. Insbesondere Trauerrituale können als “self-shaming rituals” gelten,50 die unter anderem durch öffentliches Zerreißen der Kleider, das Scheren von Bart und Haaren, das Ablegen von Kopfbedeckungen und Schuhen sowie das Ritzen der Haut eine virtuelle Nacktheit zum Ausdruck bringen,51 die nicht nur den todesähnlichen, sondern auch den niedrigen und ehrlosen Zustand für die Zeit der Trauer öffentlich anzeigen.52 Auch die Rituale, die eine Statuserhöhung initiieren, werden zumeist am Körper des Initianden durchgeführt, weil sich auf diese Weise die Statuserhöhung sinnbildlich am eindrücklichsten darstellen lässt.53 Aus dem gleichen Grund werden Rituale, die Ehrverlust anzeigen, in vielen Fällen am Leib durchgeführt. Der zu Ehrende wird auf ehrenvolle Weise bekleidet und geschmückt, wodurch sich die Leibesehrung als Initiationsritual der Statuserhöhung und damit als Erstellen einer Differenz im sozialen Raum erweist: „Die Zeichensprache der Kleidung, die mit ihr verbundene Dialektik von Verhüllung und Enthüllung, konstituiert soziale Verortung.“54 Besonders anschaulich wird dies am Krönungsritual, da die Krönung mit besonderen Leibesehren – lassen wir die metaphorischen Beschreibungen einmal beiseite55 – nur den Ausgezeichneten im rituellen Sinne zugutekommt wie zum Beispiel dem König56 oder anderweitig Auserlesenen (vgl. etwa Ex 28,2f57; Sach 3,5; 6,11; vgl. Est 8,15). Die Leibesehrungen beispielsweise, die Mordechai auf Anfrage des Königs („Was wurde getan für Mordechai an Ansehen und Größe?“ Est 6,3a) in Est 6,6ff erfährt, zeichnen sich durch folgende Momente aus: Leibaspekt I: ehrenvolle Bekleidung (Königskleider), Leibaspekt II: ehrenvolle Positionierung (auf einem Königsross), Sozialaspekt I: ehrenvolle Begleitung (durch einen Fürsten), Sozialaspekt II: öffentliche Zurschaustellung der Ehre (auf dem Stadtplatz), Sozialaspekt III: öffentliche Verkündigung der Ehrbezeugung (Heroldsruf des Fürsten).58 Die Darstellung und Positionierung der Leibesehre im sozialen Raum zeigt soziale Differenz und Hierarchie an: Leibesehre bringt Statusunterschiede zum Aus50 Vgl. Laniak, Shame, 94 mit Hinweis auf Ps 35,13: “I put on sackcloth and humbled myself with fasting”. Hervorhebung im Original. Zum Prinzip der Gleichheit bei Trauerriten siehe auch unten das Kapitel über die Ehre des Weisen und Demütigen. 51 Vgl. Laniak, Shame, 94. 52 Zu den Trauerriten vgl. an neueren Forschungen Bail, Hautritzen; Olyan, Mourning; Pham, Mourning; Schroer, Trauerriten. Es können anstelle der genannten Riten auch gegenteilige als Trauerriten ausgeführt werden, beispielsweise anstelle des Ablegens der Kopfbedeckung oder des Scherens des Bartes das Bedecken von Kopf oder Gesicht (2 Sam 13,19; 15,30; 19,5; Jer 2,37; 14,3; Est 6,12) nicht nur als Ausdruck der Trauer, sondern auch als Ausdruck von Scham und Schande (vgl. die Semantik mit ‫ בוש‬und ‫ כלם‬in Jer 2,36f; 14,3), vgl. dazu Kruger, Psychology; zu bildlichen Darstellungen vgl. Schroer, Trauerriten. 53 Schon Pitt-Rivers, Honour and Social Status, 25 betont “in fact we should regard honorific rituals as rites of passage.” 54 Hartenstein, Paradieserzählung, 279. Hervorhebungen im Original. 55 Zu diesen vgl. Neumann-Gorsolke, Herrschen, 79–89. 56 2 Sam 12,30; 2 Kön 11,12; Ps 21,4.6; vgl. auch Hhld 3,11 und die Salbungsrituale in 1 Sam 9; 16; 2 Sam 9. 57 Zum königlichen Ornat des Priesters vgl. Podella, Lichtkleid JHWHs, 66–69. 58 Zum Thema “Honor and Clothing” im Estherbuch vgl. ausführlich Laniak, Shame, 116–121.

Formen der Ehre, Scham und Schande im Alten Israel

29

druck. Ikonographisch wird dies auf einer Elfenbeinplakette aus Megiddo (14./13. Jh. v.Chr.) anschaulich dargestellt (Abb. 1):

Abb. 1: Leibes- und Statusehren auf einem Elfenbein aus Megiddo

„Die Schande der gefesselt vorgeführten Feinde drückt sich in ihrer Nacktheit aus, die beiden bewaffneten Soldaten tragen immerhin den Hüftschurz, die Palastdiener sogar knöchellange Gewänder. Am aufwendigsten sind der König und die beiden vor seinem Thron stehenden Frauen bekleidet. [...] An der Darstellung beider Frauen ist unverkennbar, daß die direkt vor dem König stehende der anderen rangmäßig überlegen ist: Nicht nur ihre reicher dekorierte Kleidung beweist dies, sondern auch die Kopfbedeckung, unter der die Frisur verschwindet. Ranghöhe drückt sich in möglichst weitgehender Körperverhüllung aus, einem niedrigen sozialen Status entsprach ein nur partiell oder gar nicht bekleideter Körper.“59 Nicht nur die Darstellung der Leibesehre anhand der Kleidung, sondern auch die Positionierung des Leibes im sozialen Raum zeigt die hierarchisch streng gegliederte Statusehre an: Der Fürst erscheint immer erhöht (vertikale Perspektive): sitzend auf einem „Thron der Ehre“ (‫ ;כסא כבוד‬vgl. 1 Sam 2,8; Jes 22,23; Jer 14,21; 17,12) oder stehend im Streitwagen. Die Darstellung der Rangunterschiede der übrigen Personen richtet sich nach der Nähe und der Distanz zum Fürsten auf dem Thron (horizontale Perspektive): die Fürstin direkt vor dem Thron in Interaktion mit dem Herrscher, dann folgend, jeweils mit Blickrichtung auf den Fürsten, die Saitenspielerin, der Soldat und die Gefangenen. Wird Ehre am Leib sichtbar, verliert dementsprechend auch der Entehrte die besonderen Attribute seiner Leibesehre.60 Daher kann der Geschändete weder sein Gesicht (Esr 9,6) noch sein Haupt (Hi 10,15) erheben, sondern verhüllt es (2 Sam 15,30; 19,5; Jer 14,3f; vgl. auch Jer 2,36f61 und Mi 3,7) und entzieht sich den Blicken der Öffentlichkeit (Est 6,12), weil seine Schande am Leib sichtbar wird: “The shamed ‘clothes himself in his shame’”62. Unter Leibesschande ist deshalb (passiv) jenes Erleiden einer Entehrung oder (aktiv) jenes unehrenhafte Verhalten zu verstehen, das – wie ein Schandfleck – am Leib sichtbar wird und die Leibesehre 59

Weippert, Kleidung, 140. Zum sozialen Phänomen der Nacktheit und Kleidung im Alten Ägypten vgl. etwa Quack, Mädchen, 59–62. 60 Dem besiegten König von 2 Sam 12,30 beispielsweise wird als Zeichen seines Ehr- und Rangverlustes die Krone abgenommen. Zu diesem Text siehe ausführlich unten in diesem Kapitel. 61 Zu Jer 2,36f als Ausdruck der Schande siehe Kruger, Psychology. 62 Pedersen, Israel, 241.

30

Kultursoziologische Grundlagen

befleckt (vgl. die Kleidmetapher der Schande in Ps 35,26; 44,16; Ps 109,29; 132,18; Hi 8,22): “As shame, like honour, finds expression in the body, so one may cause shame by disturbing the latter.”63 Es wird in den späteren Kapiteln noch zu zeigen sein, wie einige Selbstmorde in der Bibel und in verwandten Texten begangen werden, um der Leibesschande der körperlichen Erniedrigung, Demütigung und Schändung zu entgehen. Die Saulgeschichten liefern sowohl für den Aspekt der Leibesehre wie den der Leibesschande aufschlussreiche Beispiele. Während schon Sauls Vater Kisch wegen seines Grundbesitzes und wegen seiner heldenhaften Kraft als angesehener Mann gilt (‫ גבור חיל‬Vers 1),64 zeichnet sich Saul vor allen Söhnen Israels durch seine jugendliche Schönheit sowie seine stattliche Körpergröße aus: „Der hohe Wuchs eines Mannes verschafft ihm auf den ersten Blick Hochachtung, etwa Eliab, dem älteren Bruder Davids (1 Sam 16,7), oder Saul, der ‚von der Schulter an aufwärts alles Volk überragte‘ (1 Sam 9,2; 10,23).“65 Diese leiblichen Charakteristika werden nicht einfach konstatiert, sondern in ein komparatives Verhältnis zu allen sonstigen Einwohnern Israels und damit zu möglichen Gegnern um die Fürstenwürde gesetzt: Indem Saul alle an Schönheit und um Haupteslänge überragt, deutet schon der Leib auf ein ausgezeichnetes Ansehen, das die folgende Statuserhöhung zum Fürsten zusätzlich rechtfertigt. Legitimiert wird diese weiterhin durch einen Propheten, der als angesehener Mann gilt (‫ איש נכבד‬Vers 6), auf den die am Festmahl Teilnehmenden warten müssen (Vers 13). Samuel weist Saul und seinem Knecht die Ehrenplätze unter den Geladenen zu (‫ מקום בראש‬Vers 22)66 und gibt ihnen den zurückgehaltenen besten Anteil vom Schlachtopfer (Verse 23f).67 Durch die Salbung von Sauls Haupt 63

Pedersen, Israel, 241. Das Verhüllen des Hauptes beispielsweise wird ausdrücklich mit Termini der Scham und Schande in Verbindung gebracht (vgl. etwa die Verwendung von ‫ בוש‬und ‫כלם‬ Hofal in Jer 14,3f). 64 Der ‫ גבור חיל‬ist angesehen, weil er einen Namen hat, Oberhaupt einer Großfamilie, Grundbesitzer und damit Wehrpflichtiger ist, vgl. 1 Chr 5,24. Die sich widersprechenden Thesen der Forschung (Held oder Grundbesitzer; vgl. zu den Vertretern dieser beiden scheinbar gegensätzlichen Positionen die Literaturhinweise bei Stoebe, Samuelis, 193) sind folgendermaßen zu vereinigen: ‫ גבור חיל‬ist die Bezeichnung für die besonders Angesehenen unter den wehrpflichtigen Grundbesitzern, die als tapfere Helden nicht nur über Grundbesitz verfügen, sondern sich durch ihre körperliche Kampfeskraft und sonstige militärische Fähigkeiten gegenüber den übrigen wehrpflichtigen Grundbesitzern auszeichnen; vgl. neben 1 Sam 9,1 auch Ri 11,1; 1 Chr 7,5. ‫“ חיל‬comprises mighty deeds and wealth, all that in which strength manifests itself. A ‘mighty man of valour’, gibbōr hayil, is the proper appellation for a man of honour of the old type.” (Pedersen, Israel, 230) 65 Wolff, Anthropologie, 116. Zur Leibesehre der Frau vgl. Spr 11,16. Diese Schönheit kann als Kapital eingesetzt werden, um eine besondere Statusehre zu erlangen, vgl. Est 1,11; 2,3f.9.12–18. 66 Zur Sitzordnung zugunsten des zu Ehrenden im Alten Ägypten vgl. Helck, Ehrung, 1185 mit Hinweis auf Urk. VII 30,7. 67 In den Versen 23 und 24 wird von einem Anteil (‫ )מנה‬und einer Keule (‫ )שוק‬für Saul und seinen Knecht gesprochen. Beide Wörter kommen zusammen noch in Lev 7,33 vor, wo sie den „Salbungsanteil“ (‫ משחה‬Vers 35) der Söhne Aarons mit ausmachen. Die Keule (‫ )שוק‬wird im MT von 1 Sam 9,24 (vgl. auch 4QSama) durch ‫ והעליה‬genauer spezifiziert. Möglicherweise ist dieser präpositionale Ausdruck als Angabe des fettreichen und somit besonders wertvollen Anteils von Fleischstücken zu verstehen (vgl. Ex 29,22; Lev 3,9; 7,3; 8,25; 9,19; vgl. dazu McCarter, I Samuel, 170). In jedem Fall zeigt die Keule an: “Saul is being treated as if he were a priest!” (ebd. 180)

Formen der Ehre, Scham und Schande im Alten Israel

31

mit Öl und einen Kuss endet das Ritual der Statuserhöhung (1 Sam 10,1), die durch die folgende Geschichte (1 Sam 10,2ff) als gottgewollt legitimiert wird.68 Auch in den beiden folgenden Kapiteln, die differierende Versionen der Königserhebung Sauls berichten (Losverfahren und Sieg), spielt das Thema Ehre eine herausragende Rolle: in 1 Sam 10,17ff nicht nur durch die herausgehobene stattliche Größe Sauls (Verse 23f), sondern auch dadurch, dass Saul den „verderblichen Söhnen“69 auf ihre Herausforderung seiner Königsehre keine Erwiderung gibt.70 In 1 Sam 11 setzt sich Saul als militärischer Führer durch, indem er mit Hilfe eines Schandrituals (der Zerstückelung der Rinder, Vers 7a)71 alles daran setzt, die Drohung der Leibesschande (das Ausstechen der Augen, Vers 2)72 vom Volk abzuwenden. Die Reaktion setzt denn auch sofort ein: Indem Saul die Kriegspropaganda unter den die kollektive Identität konstituierenden Aspekten Ehre und Schande führt, zwingt er das ganze Volk wie einen Mann hinter sich (Vers 7b). In 1 Sam 31 schließlich begeht Saul Selbstmord, um der (vor allem leiblichen) Erniedrigung und Demütigung zu entgehen, die er als Gefangener bei den Philistern zu erwarten hätte.73

68

Die Geschichte scheint eine typische narrative Struktur bei alttestamentlichen „Statuserhöhungsgeschichten“ darzustellen, indem sie den Übergang von einem ehrenvollen Zustand in einen demütigen und von dort in einen neuen, noch ehrenvolleren Zustand erzählt: In einem angesehenen Haus (1 Sam 9,1f) kommen der Familie des Kisch die Esel „als Reittier[e] der Vornehmen“ (Stoebe, Samuelis, 202) abhanden. Damit scheidet das Haus Kisch „scheinbar für die Übernahme von Führungsaufgaben aus“ (ebd.). Um sich aus diesem demütigen Zustand zu befreien, begibt sich Saul auf die Suche und wird von dem Gottesmann Samuel zum Fürsten gesalbt. Diese Erzählstruktur findet sich auch bei anderen „Statuserhöhungsgeschichten“ wie Josef, Daniel, Hiob, David oder Mordechai (vgl. dazu Laniak, Shame, 7–15 und passim). 69 Zu den ‫ בני בליעל‬vgl. Maag, Belija’al, mit der dort angegebenen älteren Literatur. Maag betont, „daß es sich um einen religiös bezogenen Begriff handelt.“ (ebd. Hervorhebung im Original) Dies trifft meines Erachtens nicht den Kern der Sache. Vielmehr fällt bezüglich fast aller Textstellen mit ‫ בני בליעל‬auf, dass sich diese Personen durch unehrenhafte Eigenschaften und entehrende, verächtlich machende Verhaltensweisen auszeichnen, besonders deutlich in Ri 19,22; 20,13 (vgl. 20,6.10); 1 Sam 1,16; 2,12 (vgl. 2,29f); 10,27; 25,17.25 (vgl. 25,10f.14); 2 Sam 16,7; Spr 6,12. 70 Indem Saul die Herausforderung (challenge) nicht beachtet, zeigt er an, dass er seine Widersacher nicht als gleichwertige Gegner anerkennt. Auch eine Nicht-Beachtung ist natürlich eine Erwiderung (response) auf die Herausforderung, jedoch die schärfste überhaupt: Sie straft die Verächter mit der Verachtung des Nicht-Beachtens. 71 Die Zerstückelung scheint ähnlich wie in Ri 19,29; 20,6 (die Zerstückelung der geschändeten Nebenfrau) eine gegebene oder drohende Schändung anzuzeigen, die dem kulturellen Wertesystem der altisraelitischen Gesellschaft strikt zuwiderläuft, nicht tolerierbar ist und auf die reagiert werden muss (vgl. Ri 19,30; 1 Sam 11,8; siehe auch den Hinweis auf die ‫ בני בליעל‬in Ri 19,22; 20,13). 72 Das Ausstechen der Augen (vgl. Num 16,14; Ri 16,21; 2 Kön 25,7; Spr 30,17) stellt eine Leibesschande dar (1 Sam 11,2 ‫„ חרפה‬Schmach, Schande, Beschämung“), die den heilvollen Zustand des Betroffenen auf unwiederbringliche Weise aufhebt, so dass die Beschämung und die damit angezeigte Unterwerfung ständig offen zutage liegen: Die nicht rückgängig zu machende Leibesschande zeigt den Statusverlust dauerhaft an. 73 Siehe dazu ausführlich unten das Kapitel über den Suizid Sauls.

32

Kultursoziologische Grundlagen

Die Sichtbarkeit der Ehre am Leib zeigt sich ebenso in den folgenden Davidgeschichten.74 Im Anschluss an 1 Sam 10 sei nur 2 Sam 10 erwähnt.75 Hier wird den Diplomaten Davids am Königshof der Ammoniter die Intention abgesprochen, dem verstorbenen König Nahasch die Totenehre zu erweisen (‫ כבד‬Piel Vers 3).76 So wie die Ammoniter den Israeliten schon in 1 Sam 10 mit einer Leibesschande drohten, wird eine solche nun an den Diplomaten des Königs in die Tat umgesetzt: Die Königsvertreter werden durch eine Leibesschande aufs äußerste entehrt (‫נכלמים מאד‬ Vers 5), indem man ihnen die Bärte und die Kleider bis zum Gesäß abschneidet und sie dann fortschickt (Vers 4), so dass ihre Beschämung an ihrem eigenen Leib öffentlich sichtbar vor Augen liegt.77 Mit der gewaltsamen Entblößung des Gesäßes – vgl. die ähnlich gelagerten Fälle der Entblößung der Scham und der Nacktheit (vgl. zur Entblößung der Scham Jer 13,26f; 51,51; Ez 16,36–54; Hos 2,10; Nah 3,5; zur beschämenden Nacktheit der Gefangenen Jes 20; Micha 1,8; Ez 23,29; Hos 2,5; Am 2,16 sowie oben Abb. 1)78 – werden die Diplomaten der Macht der Ammoniter unterworfen und ihres Status einschließlich ihres gesamten symbolischen Kapitals als zu ehrende Vertreter eines fremden Königs beraubt.79 Als Königsvertreter hat ihre Ehre kollektive Dimensionen, indem ihr Ehrverlust die Ehre des Königs selbst betrifft.80 Um diese wiederherzustellen, befiehlt David den Diplomaten einen Akt zur Rettung ihrer Leibesehre: Da Ehre stets einen öffentlichen Aspekt beinhaltet, muss die Leibesschande vor den Augen der Öffentlichkeit versteckt werden. Deshalb sollen die Diplomaten in Jericho bleiben, bis ihr Bart wieder gewachsen ist. Als sich dann David nach dem gewonnenen Krieg die Krone der Ammoniter aufs Haupt setzt (2 Sam 12,30), kann er seine gekränkte Königsehre nicht nur wieder74

Vgl. dazu ausführlich Stansell, Honor. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang 2 Sam 6 zu nennen: Hier prallen nach der Ansicht Michals Davids Körperverhalten und Statusehre unversöhnlich aufeinander und gereichen ihm zur Unehre. 75 Zu 2 Sam 10 vgl. auch Bechtel, Shame, 67–70; Olyan, Honor, 212f. 76 Zur Totenehre siehe unten das entsprechende Kapitel. 77 Wurde der Bart als Zeichen eines ehrenvollen Ranges gewaltsam abgeschnitten, galt dies als öffentliche Beschämung (vgl. neben 2 Sam 10,4 auch Jes 7,20), da er ansonsten nur als Zeichen der Trauer rituell entfernt wurde (vgl. Jes 15,2; Jer 41,5; 48,37; Esr 9,3). 78 Die gewaltsame Entblößung des Gesäßes ist einem gewaltsamen Aufdecken der Scham vergleichbar und stellt eine öffentliche Beschämung dar. In Jes 20,5 wird die Entblößung ausdrücklich als Schande (‫ )בוש‬gewertet. In Vers 4 wird sie als Entblößung der Scham (‫ )ערוה‬angesehen, die somit nicht nur die Frau (vgl. Jes 47,3; Ez 16,37; mit ‫ מער‬statt ‫ ערוה‬Nah 3,5), sondern genauso den Mann treffen kann (vgl. noch Gen 9,22f). Der Terminus ‫ על פניך‬in Jer 13,26 und Nah 3,5 könnte auch auf die schmachvolle öffentliche Aufdeckung des Gesichtsschleiers zu beziehen sein, vgl. dazu Podella, Lichtkleid JHWHs, 51f. Zur Nacktheit als Status der Ehrlosigkeit vgl. Winter, Nacktheit; Neyrey, Nudity, 136–138; Hartenstein, Paradieserzählung, 279.289–292. 79 Eine Ehrerbietung hätte zur gegenseitigen Anerkennung der beiden gegnerischen Seiten führen können: Indem man in der Diplomatie jemanden ehrt, ehrt man nicht nur diese Person, sondern akzeptiert und toleriert die Fremdheit dieser Person als offiziellen Vertreter eines fremden Landes. 80 Ebenso kann die Ehrung oder Entehrung einer Person die kollektive Ehre einer Gruppe betreffen. Siehe dazu besonders Gen 34 und Est 8,15. Im letzteren Fall wird die Ehrung des jüdischen Volkes mit der Leibesehrung des Mordechai begründet. Vgl. zum Phänomen der kollektiven Ehre auch Plevnik, Honor, 107: “Honor is primarily a group value. Individual members of a group share in its honor.”

Formen der Ehre, Scham und Schande im Alten Israel

33

herstellen, sondern sogar akkumulieren,81 indem er sich selbst die Königswürde der Ammoniter zuspricht. Leibes- und Statusehre gehen hier – wie so oft – zusammen, sodass letztere ausführlicher darzustellen ist. b) Ehre und Schande des sozialen Status (Statusehre und Statuserniedrigung) Einige Beispiele der Leibesehre zeigen, dass die Ehre des sozialen Leibes aufs engste mit der Ehre, die einer Person aufgrund ihres Status zukommt, verwoben ist. Dies gilt nicht für alle Formen der Leibesehre und schon gar nicht bezüglich der oben angeführten Beispiele der Leibesschande, da diese Formen für jede Person82 des alten Israel unabhängig von ihrem Status eine Schande darstellen würden. Die oben angeführten Beispiele jedoch verbinden Leibesehre und Statusehre, wie insbesondere am Phänomen der Kleidung deutlich wird: “Clothing can raise or reduce someone’s personality or status; it is […] a mark of his status in the society in which he moves. A garment is that object of material culture which takes the nearest position between man and his environment; it has therefore also an informative function. It informs us about the dignity and the function of a person in society.”83 Statusehre bezeichnet die Ehre, die einer Person aufgrund des sozialen Ranges zukommt, über den diese Person in der Gesellschaft verfügt.84 Indem sie zum Rangordnungssystem einer Gesellschaft gehört, bildet Statusehre ein „Instrument der sozialen Differenzierung“85, durch welches der soziale Rang mit „symbolischem Kapital“86 bekleidet wird. Die Ehre kann daher als Statusehre hierarchisch gegliedert werden: Sie kann nur in einem begrenzten Umfang zugesprochen werden, da ein sozialer Status sich gerade dadurch auszeichnet, dass er nicht universal, sondern exklusiv vorhanden ist. Die Statusehre zählt daher zu den begrenzten Gütern, „ganz als könne sich in Ehrensachen wie in Grundstücksgeschäften der eine nur auf Kosten des anderen bereichern.“87 Unter einem begrenzten Gut wird die subjektive Vorstellung der Mitglieder einer Kultur verstanden, dass der Vorrat an einem allseits begehrten natürlichen, ökonomischen, sozialen, kulturellen oder symbolischen 81

Zur Ehre als begrenztem Gut sowie als zu akkumulierendem Kapital siehe im Folgenden. Die Leibesschande der Entblößung kann genauso Frauen treffen (vgl. die metaphorischen Entblößungen der Frau Israel in den Prophetenbüchern), dann jedoch nicht als Entblößung des Gesäßes, sondern der Scham oder des Gesichtsschleiers (zu letzterem vgl. die These von Podella, Lichtkleid JHWHs, 51f). 83 Vogelzang/van Bekkum, Clothing, 266. 84 Hierzu gehören auch die Eltern (vgl. Ex 20,12; Lev 19,3; Dtn 5,16; 27,16; Mal 1,6; Sir 3,1– 16). Diese sind von den schon erwachsenen Söhnen, also den zu Vollbürgern gewordenen Männern, die selbst als Familienväter wirken, aufgrund ihres Status als Eltern weiterhin in Ehren zu halten – auch in Form finanzieller Unterstützung. „Das Gebot zielt somit auf die Verbundenheit der Generationen in der grundlegenden menschlichen und wirtschaftlichen Gemeinschaftsform des alten Israel, der Familie.“ (Meinhold, Verständnis des Elterngebotes, 64; vgl. auch Janssen/Kessler, Ehre/Schande, 97) 85 Giordano, Ehrkomplex, 181. 86 Zum „symbolischen Kapital“ siehe unten in diesem Kapitel. 87 Bourdieu, Sozialer Sinn, 220. Vgl. in Bezug auf das Alte Testament nur 1 Sam 2,29: Ehre und Ehrung sind nicht immer gleich bedeutsam, sondern hierarchisch gegliedert – es gibt ein „Mehr“ und ein „Weniger“ an Ehre und demnach auch an eingeforderter Ehrung. 82

34

Kultursoziologische Grundlagen

Gut nur in begrenztem Umfang vorhanden und nicht weiter zu vermehren ist.88 Das Beispiel par excellence für Statusehre als begrenztes Gut ist die Königsehre.89 Wie Gott Herrlichkeit und Pracht (‫ הוד‬und ‫ )הדר‬zukommen (vgl. etwa Ps 104,1; 111,3), so ist auch der König mit Herrlichkeit und Pracht bekleidet (Ps 21,6; 45,4), während der normale Sterbliche sich diese Ehre nicht anmaßen kann (Hi 40,10; vgl. jedoch Ps 8,690). König kann nur einer sein, und nur ihm gebührt die Königsehre. Selbst in einem Großreich mit Großkönig und Vasallenkönigen werden die Verhältnisse so geklärt, dass die Vasallenkönige dem Großkönig – unter anderem durch rituelle Unterwerfungsakte – die „wahre“ Königsehre zusprechen (Abb. 2).

Abb. 2: Jehu auf dem Schwarzen Obelisken von Salmanassar III.

Entsprechend gebührt auch dem Götterkönig die größte Ehre: Von Marduk, dem Götterkönig, heißt es beispielsweise gleich zweimal: kabtata ina ilāni rabûti – „Du bist der am höchsten verehrte unter den großen Göttern.“91 Entsprechend lautet die rhetorische Frage im Alten Testament: „Wer ist wie du unter den Göttern, Herr?“

88

Vgl. zum “Image of Limited Goods” in der anthropologischen Forschung erstmals Foster, Image, besonders 296f.300. Aufgenommen in der Exegese und angewandt auf die neutestamentlichen Texte von Malina, Welt, 88–113. Zu beachten ist, dass Foster seine These von begrenzten Gütern nicht als natürliche, ökonomische oder soziale Tatsache, sondern als Vorstellung (“Image”) von Bauern ansieht, die in einer nach außen hin abgeschlossenen bäuerlichen Welt leben. (Die These gründet auf Feldforschungen in Mexiko.) “The term ‘limited good’ is an anthropological concept and refers to whatever is regarded by society as a highly valued and scarce commodity. […] We need to consider the term ‘limited good’ symbolically.” (van der Jagt, Approaches, 48f) “‘Limited good’ is a social construct, that is, a product of human imagination and reasoning, which views the world as a zero-sum game.” (Neyrey, Limited Good, 122) Die Statusehre erweist sich als begrenztes Gut par excellence, aber Ps 8 zeigt auch, dass die Vorstellung von der königlichen Statusehre als begrenztem Gut aufgehoben und anthropologisch „vermehrt“ werden kann. Siehe dazu unten das Kapitel über die weisheitlichen Ehrvorstellungen. 89 Vgl. nur Dan 2,37. Zu Daniel 1–6 als einem „Buch der Ehrkonflikte“ vgl. ausführlich Kirkpatrick, Honor. 90 Zu Ps 8,6 und der Kritik an herkömmlichen Ehrvorstellungen siehe ausführlich unten das Kapitel über die Ehre des Weisen und Demütigen. 91 Enuma Elisch IV 3.5. Umschrift und Übersetzung im Anschluss an Lambert, Myths, 86f. Vgl. jetzt auch die neue Edition mit Übersetzung und Partitur von Kämmerer/Metzler, Weltschöpfungsepos, 200.

Formen der Ehre, Scham und Schande im Alten Israel

35

(Ex 15,11), und die Antwort: „Es gibt keinen wie dich unter den Göttern, Herr!“ (Ps 86,8) Das Gegenteil der Statusehre besteht in der Schande der Statuserniedrigung. Insbesondere die noch ausführlich zu besprechenden Fälle des sog. Bilanzsuizids können in vielen Fällen durch die erfahrene Schmach der Statuserniedrigung erklärt werden. Semantisch bringt insbesondere der alttestamentliche Terminus ‫ בוש‬zum Ausdruck, „daß jemand, eine Person, eine Stadt, ein Volk, ein Berufsstand o.ä., etwas galt und die ehemals angesehene Stellung und Geltung gestürzt ist.“92 Sachlich kann insbesondere an dem Wechsel der Kleidung nicht nur eine Statuserhöhung (vgl. dazu Ex 28,2f; Sach 3,5; 6,11; Est 6,6–11; 8,15; Bavian-Inschrift 33f93), sondern auch eine Statuserniedrigung zum Ausdruck gebracht werden. In dem sogenannten „Gottesbrief“ Assarhaddons beispielsweise kann am Wechsel der Kleidung der zur Schau gestellte Wechsel vom Status des Vasallenkönigs zu demjenigen eines Sklaven abgelesen werden: Gottesbrief Assarhaddons II: I 1–6: Als jener meine königliche Botschaft, die wie eine Flamme den Feind verbrennt, hörte, befiel (?) ihn …, war sein Herz beklommen und wankten seine Beine. Sein königliches Gewand zog er aus und bekleidete seinen Leib mit einem Sack, dem Kleide eines Büssers; sein Äusseres verunstaltete er, wurde zum Sklaven und gesellte sich zu seinen Knechten. Mit Flehen, Bitten und Demütigung kniete er auf der Mauer seiner Stadt, indem er gepresst Wehschreie ausstiess und mit geöffneten Händen meine Herrschaft anflehte.94

Da die Statusehre ein begrenztes Gut darstellt und auf ehrenvolle Weise gewonnen oder auf schändliche Weise verloren werden kann, kommt es immer wieder zu Wettbewerb und Kampf um diese Ehre in Form von Herausforderung (challenge) und Erwiderung (response) als den entscheidenden Elementen, die zum agonalen Charakter einer Kultur gehören.95 Zu einer agonalen Lebensauffassung gehört, dass 92

Seebaß, ‫בוש‬, 571. Zu Umschrift und Übersetzung vgl. Luckenbill, Sennacherib, 82: “Those men who dug that canal I clothed with brightly colored linen (?) garments. Gold rings, daggers of gold, I put upon them.” Vgl. auch Vogelzang/van Bekkum, Clothing, 271. Zum “Gold of Honour” im Alten Ägypten vgl. jetzt Binder, Rewarding. 94 Übersetzung nach Borger, Inschriften, 102f. Vgl. auch die neue englische Übersetzung bei Leichty, Inscriptions, 81. 95 Diese agonale Lebensauffassung ist keineswegs ein Spezifikum des (antik-)mediterranen Kulturraumes, wie immer wieder zu lesen ist. Schon Hegel beschreibt den „Kampf um Ehre“ im zweiten Teil seiner Schrift System der Sittlichkeit (entstanden 1802/03) als grundlegende und notwendige Konfliktsituation jeder sittlichen Gesellschaft, aus der erst eine „absolute Sittlichkeit“ entstehen kann. Auf den agonalen Charakter der Ritterehre im europäischen Hoch- und Spätmittelalter ist in diesem Zusammenhang ebenfalls zu verweisen (zur Ritterehre vgl. die schon klassischen Beschreibungen bei Schopenhauer, Aphorismen, 367ff). Auch die moderne Gesellschaft des 20. und 21. Jh. ist von einer agonalen Lebensauffassung geprägt, nur dass der Kampf jetzt auf anders strukturierten Feldern und um andere ökonomische, soziale, kulturelle und symbolische Kapitalformen geführt wird (vgl. dazu Bourdieu, Unterschiede; ders., Soziologische Fragen). Das Statusdenken als eines der letzten „Relikte“ von Ehrvorstellungen spielt heutzutage eine nicht unwesentliche Rolle – von den Olympischen Spielen als dem ἀγών par excellence mit seinen persönlichen und nationalen Ehrbezeugungen ganz zu schweigen. Es ist daher keineswegs so, dass wir keine Ehrvorstellungen mehr besäßen, nur werden diese nicht als zentrale Werte ins „kulturelle 93

36

Kultursoziologische Grundlagen

„das soziale Leben [...] als permanentes Kräftemessen, als stete Folge von Herausforderungen und Erwiderungen“ begriffen wird.96 Wichtig ist, dass diese Herausforderungen positiver (Einladungen, Geschenke) wie negativer Art sein können (Brüskieren, Provozieren).97 In der ethnologischen und exegetischen Forschung wird stets betont, dass das Spiel um Ehre mit Herausforderung und Erwiderung nur zwischen gleichwertigen Gegnern gespielt werden kann.98 „Der Bote des Königs von Akko wird mehr verehrt als [mein] Bote.“99 Die alttestamentlichen Texte nehmen diese Sichtweise an einigen Stellen nur auf indirekte Weise auf, indem eine Antwort auf eine Herausforderung dort nicht gegeben wird, wo der Herausforderer als unwürdiger Gegner erscheint (vgl. 1 Sam 10,27; 2 Sam 16,5–14; 19,16–24). Im Unterschied dazu erzählen die alttestamentlichen Texte zumeist von einer Auseinandersetzung um Ehre zwischen ungleichen Gegnern – man denke nur an die Auseinandersetzungen zwischen Hagar und Sara (Gen 16), David und Goliath (1 Sam 17) oder Mordechai und Haman (Est).100 Das letzte Beispiel eignet sich, um die enge Verknüpfung von Leibes- und Statusehre anzuzeigen. Das entscheidende Leitwort der Ehre im Esterbuch ist nicht

Bewusstsein“ gehoben, sondern eher belächelt oder verdrängt: „Die heutige Leugnung der Realität von Ehre und Ehrverletzungen ist so sehr Teil einer als selbstverständlich empfundenen Welt, daß es einer bewußten Anstrengung bedarf, dies überhaupt als Problem zu sehen.“ (Berger/Berger/ Kellner, Modernität, 76. Hervorhebung J.D.) 96 Neumann, Kultur, 36. Bezüglich des Alten Orients ist allerdings zu betonen, dass die Statusehre keinesfalls einem ständigen Wettbewerb mit Herausforderung und Erwiderung unterliegt. Dies wäre der Stabilität einer hierarchisch geordneten Gesellschaft, in der Status und ein diesem entsprechendes ehrenvolles Gebahren und Verhalten grundlegend sind, abträglich. Die Vorstellung, dass der Kampf um Ehre ein ständiger Begleiter der heutigen mediterranen, agonalen und in vielen Bereichen egalitären Kulturen sei, kann nicht in vollem Umfang auf die altorientalischen und hellenistisch-römischen Kulturen mit ihrer hierarchischen Gesellschaftsordnung übertragen werden. Das ehrerbietige Verhalten des Dieners vor dem König mit Verbeugung, Proskynese, Darbietung von Gegenständen o.ä. ist keineswegs grundsätzlich eine (positive) Herausforderung der Statusehre, die vom König (wiederum positiv) erwidert werden müsste, sondern in vielen Fällen ein wie selbstverständlich geforderter alltäglicher Umgang eines Dieners mit seinem Herrn. Der Wettbewerbscharakter um Ehre stellt sich eher in besonderen Situationen ein, etwa wenn das ehrerbietige oder provozierende Verhalten des Vasallenkönigs eine angemessene Erwiderung positiver oder negativer Art verlangt (vgl. dazu Olyan, Honor). 97 Vgl. Neumann, Kultur, 36. 98 Vgl. aus ethnologischer Perspektive etwa Bourdieu, Entwurf, 15ff; aus neutestamentlicher Perspektive Neumann, Kultur, 36f; aus alttestamentlicher Perspektive Berlejung, Sozialstatus, 57. Zur Kritik an dieser Vorstellung vgl. nun ausführlich Crook, Honor, 599–604. 99 EA 88,47. Vgl. auch einen altbabylonischen Brief (CT 2,48,26. Umschrift und Übersetzung in CAD 13, 56), in dem der Schreiber bittet, dass er von seinem Herrn ehrenvoll behandelt wird, damit er gegenüber seinen Kollegen nicht das Gesicht verliert. 100 Eine weitere Beobachtung der ethnologischen Forschung bezüglich der mediterranen Kulturen zeigt, dass der Wettbewerb um Ehre nur auf der außerfamiliären Ebene, nicht aber innerfamiliär geführt wird. Auch diese Charakteristik bestimmt nicht durchgehend die alttestamentlichen Texte, in denen – besonders in der Genesis – der Wettbewerb um Ehre innerhalb der Familien geführt wird (vgl. den Kampf um Ehre bzw. Segen bei Hagar und Sara, Jakob und Esau, Josef und seinen Brüdern und die innerfamiliären Konflikte um die Königswürde in 2 Sam 16–1 Kön 2).

Formen der Ehre, Scham und Schande im Alten Israel

37

‫כבוד‬, sondern ‫יקר‬.101 Schon das einleitende Kapitel macht deutlich, dass es im Wesentlichen um das Thema Ehre geht. Hier präsentiert der König aller Welt den Reichtum seiner Königsehre (‫ )עשה כבוד מלכותו‬und den kostbaren Schmuck seiner Größe (‫)יקר תפארת גדולתו‬102 – und wird prompt durch das Nichterscheinen der Königin Waschti in seiner Ehre gekränkt.103 Haman verfügt gleich nach dem König über den mächtigsten und deshalb ehrenvollsten Rang im Reich (Est 3,1), und dieser Komparativ seiner Ehrenstellung ist ihm selbst besonders wichtig zu betonen, da er sich so als über alle Konkurrenten erhaben auszeichnet (Est 5,11). Auf diese Weise bringt Haman einen gesellschaftlich geprägten Habitus104 mit in die Erzählung, der Ehre als höheren Machtstatus gegenüber anderen interpretiert und jedes ehrlose Verhalten als Herausforderung seiner eigenen Ehre versteht, auf die eine Erwiderung erfolgen muss. Üben demnach alle Diener des Königs vor Haman die Proskynese, muss er die Weigerung Mordechais als Anschlag auf seine Ehre begreifen, die auch noch von einem rangniederen und deshalb unwürdigen Gegner kommt. Wichtig ist, dass die Weigerung der Proskynese deshalb als Herausforderung von Hamans Ehre aufgefasst wird, weil es um Erfolg oder Misserfolg der challenge vor den Augen der Diener geht (Est 3,4). Haman reagiert nicht sofort auf die Herausforderung seines unwürdigen Gegners, sondern versucht, die Wiederherstellung seiner Ehre durch eine schändliche Hinrichtung des Mordechai vorzubereiten, indem er ihn wie die Königsumstürzler (vgl. Est 2,23) an einem Holzpfahl aufhängen lassen will (Est 5,14; 6,4).105 Doch stattdessen nimmt die Erzählung einen Lauf, wie er für späte Erzählungen alttestamentlicher Statuserhöhungsgeschichten typisch

101 ‫ יקר‬dominiert in den späten weisheitlichen Schriften und kann hier – unter anderem – ähnlich wie ‫ כבוד‬sowohl Ehre als auch Reichtum bezeichnen, vgl. Wagner, ‫יקר‬. Zu ‫ כבוד‬vgl. Westermann, ‫כבד‬, besonders 798–801. 102 Eine besondere Form der Statusehre nimmt die Ehre ein, die einer Person aufgrund ihres Reichtums zukommt: So wie die Schönheit der Frau oder des Mannes ehrenvoll ist (Spr 11,16; 1 Sam 9,2), so präsentiert der möglicherweise gar öffentlich zur Schau gestellte Reichtum – quasi als erweiterter Sozialleib – die ehrenvolle Stellung einer Person und ist sowohl der Leibesehre als auch der Statusehre zuzuordnen. Der Reichtum gilt als symbolisches Kapital, das auf die Ehrenstellung der betreffenden Person verweist (vgl. etwa Bourdieu, Sozialer Sinn, 217 und 240). Im Alten Testament kann der Reichtum daher als ‫ כבוד‬bezeichnet werden (vgl. aber auch das Wortpaar ‫ עשה‬+ ‫„ כבוד‬Reichtum und Ehre“ in 1 Kön 3,13; 1 Chr 29,28 u.a.), ebenso wie ‫ יקר‬nicht nur „Kostbarkeit, Pracht“, sondern auch „Ansehen, Ehre“ bezeichnen kann (siehe die vorherige Anmerkung). 103 Die Schönheit Waschtis wird hier mit zur Ehre/zum Reichtum (‫ )יקר‬des Königs gerechnet. Das Ausbleiben Waschtis ist nicht nur eine Herausforderung der Königsehre, sondern hat kollektive Dimensionen und betrifft die Ehre eines jeden Ehemannes (vgl. Est 1,16ff). 104 Der Habitus bezeichnet nach Bourdieu die gesellschaftlich und kulturell geprägten dauerhaften Dispositionen der Akteure im sozialen Raum und auf den sozialen Feldern, die das Verhalten unter den Bedingungen des gegebenen Kontextes erwartbar und wahrscheinlich machen, wenn auch nicht determinieren. Zum Habitus vgl. Bourdieu, Entwurf, 139–202 und zum Habitus der Ehre ebd. 142–146 sowie 189–202. Zu Habitus, Mentalitäten und Sozialcharakter in Bezug auf das Alte Testament vgl. Dietrich, Sozialanthropologie, 237–242. 105 Zum öffentlichen Aufhängen des Toten als Schandstrafe vgl. Dtn 21,22f; 8,29; 10,26f; 1 Sam 31,10ff. Zur Schandstrafe in Dtn 21,1–9 vgl. Dietrich, Schuld.

38

Kultursoziologische Grundlagen

ist:106 Mordechai, eben noch vom Tode bedroht und durch Riten der Trauer und Selbsterniedrigung entehrt (vgl. die “self-shaming rituals” in Est 4,1ff), erfährt die höchsten Leibesehren (Est 6,6ff; 8,2.16).107 Die Geschichte um Ester zeigt, dass man im Spiel um Ehre seine eigene Ehre als „symbolisches Kapital“ einbringen kann. Unter einem symbolischen Kapital wie der Ehre versteht Pierre Bourdieu108 den nutzengeleiteten Einsatz dieses Kapitals zu seiner „Profitmaximierung“ oder zur Erlangung anderweitiger ökonomischer, sozialer, kultureller oder symbolischer Ziele.109 Das ungerufene Eintreten in die Intimsphäre des Königs gilt als Verletzung seiner Ehre, die mit dem Tod bestraft wird (Est 4,11). Ester investiert daher in ihre Leibes- und Statusehre als Königin (Est 5,1; vgl. Est 2,17f),110 um ihrem ungebetenen Eintreten zum Erfolg zu verhelfen. Der König interpretiert Esters Verhalten nicht (negativ) als Herausforderung seiner Ehre, sondern (positiv) als Herausforderung zur Ehrung Esters und spricht sie als gleichwertige Königin an (Est 5,3).111 Ester spricht eine erneute Herausforderung aus, eine Einladung, die nun – als von einem gleichwertigen „Gegner“ kommend – angenommen werden muss (Est 5,5), und setzt die entehrende Tötung Hamans (Est 7) sowie die Wiedergewinnung der Ehre aller Juden (Est 8,16) durch. Statusehre ist zu einem bedeutenden Anteil mit der Vergabe eines Titels verbunden, nicht nur im europäischen Mittelalter und in der Neuzeit, sondern auch im Alten Testament – man denke nur an die Titel König, Messias, Fürst, Priester, Prophet, Ältester und andere.112 In allen diesen Fällen handelt es sich in erster Linie nicht um Berufsbezeichnungen, sondern um Titel, die der jeweiligen Person eine Ehrenstellung zukommen lassen. Besonders deutlich wird dies dort, wo die jeweiligen Titel auf ein symbolisches Kapital verweisen,113 das in einer besonderen Form der Gottesbeziehung seine Wurzeln hat und deshalb auch als „religiöses Kapital“114 bezeichnet werden kann. Das religiöse Kapital kann mit dem von Max 106 Vgl. dazu Laniak, Shame. Diese Erzählstruktur findet sich beispielsweise noch in der Josefsgeschichte, bei Daniel, Hiob, Saul und David. Siehe dazu auch oben das Kapitel über Ehre, Scham und Schande des sozialen Leibes (dort Anmerkung 68). 107 Die Leibesehren von Est 6,6ff initiieren keine Statuserhöhung, die von 8,2.16 sehr wohl. Zu den Leibesehren von Est 6,6ff siehe oben im vorhergehenden Kapitel. 108 Vgl. zum symbolischen Kapital besonders Bourdieu, Entwurf, 335–377; ders., Sozialer Sinn, 205–245. Zu den übrigen Kapitalformen (ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital) sowie ihr Verhältnis zueinander vgl. besonders Bourdieu, Kapital. Zum religiösen Kapital als einer spezifischen Form des symbolischen Kapitals vgl. ders., Feld, bes. 24–30.77–87.102f. Die Idee, Ehre als Kapital anzusehen, findet sich schon bei Schopenhauer, der Rang und Ehre als „Kredit“ bezeichnen kann (vgl. Schopenhauer, Aphorismen, 359.362.387.392f). 109 „Stoßrichtung dieser Argumentation ist die Aufhebung jener verkürzten Sicht, die nutzengeleitetes Handeln weitgehend auf den im engeren Sinne wirtschaftlichen Bereich beschränkt. Vielmehr sind alle Sphären der Sozialwelt durch ökonomische Nutzenkalküle gekennzeichnet.“ (Vogt/Zingerle, Ehre, 24) 110 Natürlich steht auch die Schönheit der Königin im Hintergrund, vgl. Est 2,7. 111 Die interessen- und nutzengeleitete Investition in die eigene Ehrenstellung als Königin hat Erfolg, und die Ehrenstellung Esters wird noch einmal vergrößert. 112 Zum Rangtitel im Alten Ägypten vgl. Helck, Ehrung, 1185 mit Anm. 13; ders., Rang. 113 Vgl. zum Titel als symbolischem Kapital Bourdieu, Unterschiede, 31–167. 114 Zum religiösen Kapital vgl. Bourdieu, Feld, bes. 24–30.77–87.102f.

Formen der Ehre, Scham und Schande im Alten Israel

39

Weber in die religionssoziologische Forschung eingebrachten Begriff des Charismas näher gekennzeichnet werden,115 sofern dieser nicht im engen Sinne auf den Propheten, sondern im weiteren auf alle „charismatischen Titel“ bezogen wird, die auf eine besondere Geistbegabung verweisen und den Empfänger mit religiössymbolischem Kapital ausstatten.116 Hierzu gehören neben dem Prophetentitel (vgl. 1 Sam 9,9; 1 Kön 22,24 und die Berufungserzählungen der Propheten)117 beispielsweise der Ältestentitel (Num 11,17.25) sowie alle die Titel, die auf eine Geistbegabung durch Salbung verweisen, also neben dem Prophetentitel (Jes 61,1; vgl. Ps 105,15) insbesondere der Fürstentitel (vgl. 1 Sam 9,16), der Königstitel (vgl. etwa 1 Kön 1,34.39.45) und der Priestertitel (vgl. etwa Ex 28,41; 40,13.15).118 Name und Titel bringen Ehre und Status einer Person zum Ausdruck, doch ebenso kann ein schändlicher Name119 die Ehrlosigkeit einer Person anzeigen. Im Alten Testament können Spottnamen in Spottrufen und Spottliedern verwendet wer115 Vgl. Weber, Wirtschaft, besonders 140ff.155ff.654ff. Zur Verbindung des Weberschen Charismakonzeptes mit dem Kapitalbegriff Bourdieus vgl. Bourdieu, Feld. 116 „‚Charisma‘ soll eine als außeralltäglich [...] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet wird.“ (Weber, Wirtschaft, 140) 117 1 Sam 9,9 ist hier mit 9,6 zu verbinden: Der Titel als Gottesmann, Seher oder Prophet gilt als angesehener Titel – ein ‫ איש אלהים‬ist ein ‫– איש נכבד‬, der der jeweiligen Person Ehre verschafft. 1 Kön 22,24 ist natürlich mit dem in 1 Kön 22 passim verwendeten Begriff des Propheten zu verbinden: Micha ben Jimla fordert die Ehre der übrigen Propheten als Propheten heraus, indem er ihnen unterstellt, dass sie vom „Lügengeist“ besessen seien. Zedekia erwidert die Herausforderung mit einer (rhetorischen) Frage, die die Ehrenstellung Michas als Propheten beschämen soll. Diese Frage wird mit einer entehrenden Geste (dem Schlagen der Backe) verbunden. Auf diese Weise wird in aller Öffentlichkeit angezeigt, dass die Frage nach der Ehrenstellung Michas noch vor der Antwort auf die (rhetorische) Frage negativ ausfallen muss. Nicht ausgeführt wird die hier aufgestellte These, dass die Kritik der Propheten in einigen wesentlichen Punkten eine Kritik an unehrenhaften Handlungen darstellt (vgl. zu Scham und Schande bei den großen Propheten Stiebert, Construction). Deutlich ist dies bezüglich der Kultkritik: Die Kultkritik insbesondere Hoseas, aber auch Jeremias und Ezechiels, kritisiert den Götzendienst im Bild der Ehe als unehrenhaftes Fremdgehen der Frau. Aber auch die Sozialkritik lässt sich als Kritik an unehrenhaftem Verhalten verstehen, wenn man die Erkenntnis Malinas (Malina, Welt, 101) auf die Sozialkritik der Propheten überträgt: „Da alle Güter begrenzt sind, ist jemand, der danach strebt, Kapital zu akkumulieren, unvermeidlich unehrenhaft. Das in diesem Zusammenhang gebrauchte Schimpfwort ist ‚Gier‘. Niemand kann Reichtum anhäufen ohne den Verlust und das Unrecht, das ein anderer erleidet.“ Die Sozialkritik der Propheten kritisiert das Verhalten der Oberschicht, begrenzte Güter zu akkumulieren, als unehrenhaft (vgl. etwa Am 2,6f; 3,9f; 4,1; 5,11f; 8,5f) und kann ein Unheil verkünden, das sie der Ehre beraubt (vgl. etwa Am 2,16; 4,2f; 7,17). So kritisiert Jesaja das Verhalten der hochmütigen Frauen als unehrenhaft und verkündet ihnen Schande (Jes 3,16–24). 118 Hier findet – innerhalb des Weberschen Systems – eine Veralltäglichung des Charismas zum Amtscharisma statt (vgl. ebd. 142ff.661ff). In diesem Zusammenhang fallen dann auch bei Weber die Begriffe Ehre und Prestige (ebd. 146). Die Veralltäglichung des Charismas zum Amtscharisma trifft allerdings nicht notwendigerweise auf den Propheten- und den Heldentitel zu. (Zum ‫גבור חיל‬ siehe das vorherige, zu den ‫ גברים‬von 2 Sam 23 siehe das folgende Kapitel.) 119 Zum Namen siehe noch ausführlicher das anschließende Kapitel sowie unten die Kapitel über Abimelech, das Gespräch des Lebensmüden mit seinem Ba sowie über die Martyriumslegenden des zweiten Makkabäerbuches.

40

Kultursoziologische Grundlagen

den (vgl. etwa ‫„ קרח‬Kahlkopf“ in 2 Kön 2,23), um Name, Ruf oder Status ins Lächerliche zu ziehen. Ebenso werden in deuteronomistischen Erzähltexten Personennamen mit „fremdländischem“ Götterbezug parodiert (vgl. etwa ‫„ איש בשת‬Mann der Schande“ in 1 Sam 2,8; 3,7 statt ‫„ אשבעל‬Mann (des Gottes) Baal“ in 1 Chr 8,33; 9,39). In Bezug auf diesen Sachverhalt gilt: Um der Schändung des eigenen Namens und Rufes zu entgehen, können die Menschen der antiken Kulturen Selbstmord begehen, wie noch ausführlich zu zeigen sein wird. c) Die erworbene Ehre (Ruhmesehre) Der Wettkampfcharakter der Ehre mit den Elementen von Herausforderung (challenge) und Erwiderung (response) zeigt sich nicht nur bei der Statusehre, sondern in weitaus stärkerem Maße120 bei der Ruhmesehre. „Der Ruhm ist der unsterbliche Bruder der sterblichen Ehre. (…) Auf Ehre hat Jeder Anspruch; auf Ruhm nur die Ausnahmen: denn nur durch außerordentliche Leistungen wird Ruhm erlangt. Diese nun wieder sind entweder THATEN, oder WERKE; wonach zum Ruhme zwei Wege offen stehn.“121 Die Ruhmesehre ist dabei keine spezifische Form der Statusehre; sie kann natürlich einen „Status“ verleihen, etwa den Status des Helden, aber dieser Status bezieht sich nicht auf einen bestimmten Rang in der hierarchischen Struktur der Gesellschaft – der berühmte Held kann ebenso armer Schlucker wie einfacher Soldat oder Heeresanführer sein, und auch eine Frau kann Ruhmesehre erlangen (Ri 4,9), weshalb die Ruhmesehre zu einem Kennzeichen aufkeimender Individualitätsvorstellungen werden kann.122 Ruhmesehre wird im Alten Testament vor allem durch Kriegstaten erfahren. “A related term for honour is tiph’ereth, glory. The warrior aquires ‘glory’ when he slays his enemy (Judg. 4,9). The glory of young men is their strength (Pr. 20,29).”123 Die Ruhmesehre als eigenständige Form der Ehre zeigt sich im Alten Testament am eindrücklichsten in der Darstellung der Helden Davids (2 Sam 21,15–20; 23,8–39): Ruhmesehre erlangt, wer sich zu außerordentlichen Taten aufschwingt, die von niemandem mit „normaler“ Ehre erwartet werden können.124 So berichten diese Heldengeschichten von Kämpfen, die die Helden in besonderer, meist unterlegener Situation gewonnen haben. Dazu gehört vor allem – quantitativ – das Erschlagen einer beeindruckenden Zahl von Feinden (2 Sam 23,8.10.12.18) oder – qualitativ – eines besonders furchteinflößenden Gegners (2 Sam 21,16.19.20; 23,21).125 In vielen Fällen geht der Heldentat Ehrverlust durch Verhöhnung voraus (1 Sam 17,41–47; 2 Sam 21,16. 120

Siehe dazu oben das Kapitel über Ehre und Schande des sozialen Status (dort Anmerkung 96). Schopenhauer, Aphorismen, 387f. 122 Zu Möglichkeiten und Grenzen von Individualität im Alten Testament, Alten Ägypten und Alten Orient, auch unter Berücksichtigung der Ruhmesehre, vgl. Dietrich, Individualität. 123 Pedersen, Israel, 237. 124 Vgl. Schopenhauer, Aphorismen, 387: „Die Ehre, nun ferner, betrifft bloß solche Eigenschaften, welche von Jedem, der in den selben Verhältnissen steht, gefordert werden; der Ruhm bloß solche, die man von Niemandem fordern darf (...).“ 125 Der junge David selbst erschlägt den riesenhaften und bis an die Zähne bewaffneten Goliat nur mit seiner Schleuder (1 Sam 17): „Den Ruhm großer Männer muß man stets an den Mitteln messen, wodurch sie ihn errungen haben.“ (La Rochefoucauld, Maximen, Nr. 157) 121

Formen der Ehre, Scham und Schande im Alten Israel

41

21)126 – eine Herausforderung der kollektiven Ehre, die erwidert werden muss.127 Der Held erhält als Zeichen seiner Ruhmesehre einen Namen (2 Sam 23,18b.22b) und wird besonders geehrt (‫ נכבד‬2 Sam 23,19.23). Diese Ehrung wird auf doppelte Weise im Komparativ formuliert (vgl. jeweils die Formel ‫ מן השלשים נכבד‬+ die anschließende Formel ‫עד השלשה לא בא‬/‫ ואל‬in 2 Sam 23,19.23): Insbesondere die Ruhmesehre ist ein begrenztes Gut und wird in hierarchischen Verhältnissen genauestens verzeichnet. Ganz ähnlich wird auch der Ruhm von Gilgamesch und Enkidu damit begründet, dass sie eine Tat vollbringen, die von keinem Sterblichen sonst erwartet werden kann.128 Dass die Ruhmesehre mit einem ehrenvollen Namen zusammenhängt, ist ein relativ typisches Phänomen, das schon daran ersichtlich wird, dass hebräisch ‫שם‬ oder akkadisch šumu nicht nur „Name“, sondern auch „Ruhm“ bedeuten kann (vgl. etwa Gen 6,4; 11,4; 2 Sam 8,13; 18,18; Jes 55,13; 56,5 oder die hebräische Version von Sir 40,19; vgl. auch das unten zitierte Gilgamesch-Epos).129 Das „Setzen“ oder „Machen“ (‫ שם‬+ [Suffix‫ ]ל־‬+ ‫עשה‬/‫)שים‬130 oder – in keilschriftlichen Texten – das „Setzen“ eines Namens (šuma šakānu)131 zum Ruhme und Nachruhme132 scheint aus der Königsideologie des Alten Orients zu stammen.133 Als Beispiel sei ein Ausschnitt aus einem Brief von Abdi-Hepat, dem König von Jerusalem, an den Pharao zitiert (EA 288,5–7; vgl. EA 287,60f): EA 288,5–7: amur šarri bēliya šakan šumšu ana mūsi šamši u erbi šamši Siehe, der König, mein Herr, hat seinen Ruhm verbreitet (wörtlich: seinen Namen gesetzt) bis zum Aufgang der Sonne und Untergang der Sonne.134 126 Zu Schmähreden und Verhöhnungen im Alten Testament und Alten Orient vgl. jetzt auch Lamb, “I Will Strike You Down”. 127 Der Ehrverlust betrifft hier bezeichnenderweise nie die persönliche Ehre des Helden, sondern stets die eines Größeren, sei es die Davids (2 Sam 21,16) oder die Israels insgesamt (2 Sam 21,21). Der Ehrverlust des Königs würde dabei ebenfalls einen Ehrverlust Israels bedeuten, weil David als König Land und Volk repräsentiert und vertritt. Der Einsatz für eine größere Sache – die kollektive Ehre – macht hier den Helden zum Helden. 128 Siehe dazu ausführlich unten den anschließenden Exkurs. 129 Vgl. ferner Gen 12,2; 2 Sam 7,9.23.26; Jes 63,12.14; Jer 32,20; Dan 9,15; Neh 9,10; 1 Chr 17,8.21 u.a. Zu ‫ שם‬als Ehre und Ruhm des Menschen vgl. van der Woude, ‫שם‬, 939.942.944f.947– 949 sowie Neumann, Name, 325: „Die ‚Größe‘ des N. [= Namens, J.D.] korrespondiert der Ehre und der Macht des Trägers.“ 130 Vgl. Gen 11,4; 2 Sam 8,13. Anders Reiterer, ‫שם‬, 171f, der die Wendung ‫( שם‬Suffix‫ עשה )ל־‬als Erringung von „Macht“ (‫ )שם‬und nicht als Erlangen von „Ehre“ (‫ )שם‬interpretiert. 131 Zu šuma šakānu siehe CAD 17/3 šumu 2c sowie insgesamt šumu 2 zu Name = Ehre; weiterhin Kraus, Lebensgefühl, 128f; Tawil, Elements, 58–60; Uehlinger, Weltreich, 386–391; Zgoll, Namen, Radner, Macht des Namens; Levtow, Inscriptions, 34–39. Zum „Setzen des Namens“ in der ägyptischen Königsideologie vgl. Staubli, „Den Namen setzen“, 94–97. Zum Bezug auf das Alte Testament vgl. ausführlich Richter, Name Theology. 132 Zum Ruhmesstreben als „altmesopotamisches Lebensgefühl“ siehe Kraus, Lebensgefühl, 127–132. 133 Vgl. etwa Ruprecht, Hintergrund, 451–454; Uehlinger, Weltreich, 380–396. Zu zahlreichen Textbelegen aus Mesopotamien, Phönizien, Syrien und Palästina vgl. Tawil, Elements, 58–60. 134 Umschrift im Anschluss an CAD 17/1, 144. Übersetzung J.D. Vgl. auch Knudtzon, ElAmarna-Tafeln, 868–872; Moran, Amarna Letters, 330–332; Richter, Name Theology, 177.

42

Kultursoziologische Grundlagen

Auch in einigen biblischen Texten versuchen die Menschen, sich aufgrund ihrer eigenen Taten und Leistungen einen Namen als ehrenvolle Auszeichnung zu erwerben. Insbesondere in der Urgeschichte wird der eigenmächtige Erwerb eines ehrenvollen Namens zum Ruhm und Nachruhm als anthropologisches Bedürfnis geschildert (Gen 6,4; 11,4), das von den Helden zu Recht befriedigt wird (vgl. 2 Sam 8,13; 23,18b.22b), während späte Texte (neben Gen 11,1–9 vgl. insbesondere 1 Makk 5,55–62) dieses Bedürfnis negativ als Ruhmessucht abqualifizieren, obwohl auch nach einigen hellenistischen Texten der Bibel der freiwillige und durchaus suizidal konnotierte Tod einiger Märtyrer im positiven Sinne Ruhm verleihen kann.135 Exkurs: Bewusst sein Leben um des Ruhmes willen aufs Spiel setzen: Gilgamesch und Huwawa Das Streben nach Ruhmesehre kann dazu führen, dass der Held den Tod auf dem Schlachtfeld sucht, um sich auf diese Weise einen ewigen Namen zu erwerben. Ob dies auch auf Gilgamesch und Enkidu zutrifft, ist zumindest diskussionswürdig. Der Ruhm von Gilgamesch und Enkidu wird damit begründet, dass sie eine Tat vollbringen, die von keinem Sterblichen sonst erwartet werden kann: In der babylonischen Version, die auf der Yale-Tafel verzeichnet ist,136 wird der bevorstehende Kampf mit Huwawa als ein solcher antizipiert, der einen durch Ruhm gekennzeichneten Unterschied zwischen den beiden Helden und den übrigen Menschen etablieren wird: Gilg. Yale 142–160: 142 a-wi-lu-tum-ma ma-nu-ú u4-mu-ša 143 mi-im-ma ša i-te-né-pu-šu ša-ru-ma (…) 148 šum-ma am-taqú-ut šu-mi lu uš-zi-iz 149 dGIŠ-mi it-ti dḫu-wa-wa da-pi-nim 150 ⌈ta⌉-qum-tam137 iš-tu (…) 160 [šu-ma ša] da-ru-ú a-na-ku lu-uš-ta-ak-na 142 Des Menschen Tage sind gezählt. 143 Alles, was er unternimmt,138 ist nur Wind. (…) 148 Wenn ich falle, habe ich mir wahrlich meinen Namen aufgestellt: 149–150 „Gilgamesch suchte den Kampf mit dem wilden Huwawa!“ (…) 160 [Einen Namen, der] ewig ist, will ich dauerhaft festsetzen!139

Die Suche nach ikonographischen Darstellungen des Gilgamesch-Epos ist in der Altorientalistik ein wichtiges und gern betriebenes Forschungsfeld.140 Bei zahlreichen ikonographischen Darstellungen eines breiten Dämonengesichts im Alten Orient könnte es sich um Huwawa handeln – auf einer Omentafel mit seiner Fratze

135 Zum Tod der Märtyrer siehe unten das Kapitel über die Martyriumslegenden des zweiten Makkabäerbuches. 136 Vgl. George, Babylonian Gilgamesh, 159–216. Für die sumerische Version vgl. Radner, Macht des Namens, 90f. 137 Bei ⌈ta⌉-qum-tam handelt es sich wohl um eine Form von tuqumtam šatû (vgl. CAD 17, 218; 18, 482; George, Babylonian Gilgamesh, 211; anders CAD 3, 105, das mit [im]-⌈ta⌉-qu-ut eine Form von maqātu angibt). 138 Die Übersetzung mit „unternehmen“ erfolgt, um den iterativen und habituellen Aspekt des Gtn-Stammes von epēšu („machen, tun“) zum Ausdruck zu bringen. 139 Umschrift nach George, Babylonian Gilgamesh, 200f. Übersetzung J.D. Zeile 160 wird in Zeile 188 noch einmal wiederholt: šu-ma ša da-ru-ú a-na-ku lu-uš-ták-nam. 140 Vgl. zuletzt Steymans, Gilgamesch.

Formen der Ehre, Scham und Schande im Alten Israel

43

ist diese Identifizierung sogar epigraphisch gesichert.141 Darüber hinaus zeigen zahlreiche Rollsiegel einen Kampf zweier Helden gegen diese oder eine ähnliche Dämonengestalt. Dabei treten die beiden Helden von rechts und links an die meist knieende Dämonengestalt heran, um mit erhobenem Arm auf sie einzuschlagen oder um ihr mit einem Messer den Kopf abzuschneiden. Bei einigen dieser Darstellungen könnte es sich tatsächlich um den ruhmesreichen Sieg der beiden Helden Gilgamesch und Enkidu über Huwawa handeln (Abb. 3).142

Abb. 3: Zwei Helden töten einen Dämonen (Huwawa?) auf einem Rollsiegel aus Assur

Jacob L. Wright hat die Kampfeslust des Gilgamesch gegen Huwawa in die Nähe eines suizidalen Todes auf dem Schlachtfeld zum Erwerb eines ewigen Namens143 gerückt, wenn er davon ausgeht, dass der Kriegsheld auf seiner faustischen Suche nach Ruhm nicht nur eine Gelegenheit zu kämpfen, sondern auch zu sterben sucht144 und anschließt: “An early witness to this warrior mentality is found in Gilgamesh and Ḫuwawa, Version A, 4–7 and 32–33. […] Gilgamesh’s reason for taking on this monster is precisely because he stands very little chance of winning or even walking away alive from the encounter. […] Gilgamesh is concerned with a name that endures his death – and indeed that he makes by his death.”145 Meines Erachtens zeigt der Text jedoch nicht, dass Gilgamesch den Tod auf dem Schlachtfeld sucht, sondern nur, dass er seinen Tod billigend in Kauf nehmen würde. Es gilt zu unterscheiden „zwischen dem Akt, den Tod nicht zu fliehen, und dem Akt, sich den Tod zu geben“.146 Es dürfte auf der Linie des Epos plausibler sein, dass Gilgamesch seinen Ruhm am liebsten als Überlebender voll auskosten würde; der Tod auf dem Schlachtfeld scheint daher für ihn nur die zweite, schlechtere Möglichkeit auf dem Weg zu ewigem Ruhm zu sein. Deshalb mag es sich zwar 141

Seidl, Gilgameš, 209f.387 Abb. 1. Lambert, Gilgamesh, 358 Abb. 7 (= Moortgat, Rollsiegel, Tafel 73 Abb. 608). 143 Zum Streben nach Ruhm durch das Setzen eines Namens (šuma šakānu) siehe ausführlich oben das Kapitel über die erworbene Ehre (Ruhmesehre). 144 Vgl. Wright, Making a Name, 138f. 145 Wright, Making a Name, 139f. Hervorhebungen im Original. 146 Landsberg, Problem, 104. Siehe dazu ausführlicher unten das Kapitel über die Martyriumslegenden des zweiten Makkabäerbuches. 142

44

Kultursoziologische Grundlagen

bei Wrights Interpretation um eine etwas überzogene Deutung handeln, doch ist es richtig, dass das eigene Streben nach einem fortdauernden Namen im kollektiven Gedächtnis der späteren Generationen, auch und gerade in ihrer negativen Form der Abwehr von Schande, ein nicht zu unterschätzendes Motiv für suizidale Handlungen sein kann. d) Ehre und Schande des Toten (Totenehre und Totenschande) Obwohl die Toten in den alttestamentlichen Texten als schwach und kraftlos gelten (vgl. etwa Jes 14,10) und aller Fähigkeiten und Möglichkeiten, die den Lebenden zukommen, beraubt sind,147 bleibt den Toten doch eines: ihre Ehre: „Ehre setzt sich als Kategorie bis in den Tod fort. Es gab Todesarten, die als würdiger Abschluss eines ehrenwerten Lebens angesehen wurden, während andere (auch auf dem Hintergrund eines ehrlosen Lebens) als schimpflich galten. Die Weise wie ein Mensch starb, wurde von allen Mitgliedern einer Kultur (d.h. auch dem Sterbenden selber) auf der Grundlage des gesellschaftlich geltenden Ehrenkodex als positiv (z.B. Entschlafen am Ende eines langen Lebens, Tod bei der Erfüllung sozialer Pflichten) oder negativ beurteilt (z.B. vorzeitiger Tod durch Hinrichtung, Mord).“148 Der Wunsch, ehrenvoll zu sterben, wird in einem mesopotamischen Brief explizit zum Ausdruck gebracht: ABL 520 Rs. 5: kî nimuttu ina šumi (MU) babbanî nimūt Wenn wir sterben müssen, wollen wir ehrenvoll (wörtlich: mit einem guten Namen) sterben.149

Schon der Erwerb eines „Namens“ kann nicht nur um des gegenwärtigen Ruhmes, sondern auch um des Nachruhmes willen geschehen. Die Schicksalsentscheidung für den toten Urnammu beispielsweise sieht vor, dass die nachfolgenden Generationen den Namen des Toten aufgrund von dessen Taten und Leistungen in Ehren halten:150 Wegen der Bautätigkeiten151 und anderer zivilisatorischer Leistungen (Kanalbauten, Trockenlegung von Fluren, Besiedelung des Umlandes) setzt die Göttin Inanna durch, dass Urnammus „erhabener Name“ stets genannt werde (Zeile 221), so dass für die nachfolgenden Generationen gilt: „Urnammu, deinen Namen [will ich] sie [immerdar] nennen lassen!“ (Zeile 230) Besteht demnach ein Zusammenhang zwischen der Ruhmesehre und der Erinnerung dieser Ehre als Nachruhm im kollektiven Gedächtnis einer Kultur, nimmt es nicht Wunder, wenn auch die übrigen bisher angeführten Formen der Ehre dem 147 Die Beraubung des Toten von allen Fähigkeiten, Kräften und Möglichkeiten, die dem lebenden Menschen zukommen, macht die Metapher vom Toten als einem gefangenen Vogel deutlich (vgl. dazu Berlejung, Tod). Diese Privation geht nach einigen Texten des Alten Testaments so weit, dass die Toten selbst der Gottesbeziehung verlustig gehen und des Vermögens zum Gotteslob beraubt werden (vgl. dazu Janowski, Die Toten). 148 Berlejung, Frau nach Maß, 54f. Hervorhebung im Original. 149 Umschrift im Anschluss an CAD 17/3, 293. Vgl. auch ABL 301 Rs. 6. Eine neuere Bearbeitung dieses Briefes findet sich bei de Vaan, Schwertklinge, 265–269. 150 Text bei Wilcke, Schicksalsentscheidung. 151 Zum Zusammenhang von Nachruhm und Bautätigkeit vgl. Uehlinger, Weltreich, 386–396.

Formen der Ehre, Scham und Schande im Alten Israel

45

Toten noch in der Unterwelt zugutekommen.152 So bleiben auch noch in der Unterwelt Helden Helden (Ez 32,21a.27), Könige Könige (Gilg. VII 4,41f.49; Jes 14,9bβ) und Priester Priester (Gilg. VII 4,45–48).153 Die Helden verfügen nicht nur im Grab, sondern auch noch in der Unterwelt über ihren vollen Waffenschmuck (Ez 32,27bα), während die Könige weiterhin ihre Kronen tragen (Gilg. VII 4,41f), auf einem Thron sitzen (Jes 14,9bβ) und in Ehren im Grab ruhen (‫שכבו בכבוד איש בביתו‬ Jes 14,18b).154 Ehrenvolle Prunkgräber, durch die sich die Eliten der Stadt von der normalen Bevölkerung deutlich unterschieden, sind darüber hinaus nun auch archäologisch in Silwan, der Ostnekropole Jerusalems, ausgegraben worden (Abb. 4).155 Möglicherweise ist es diese elitäre Form der Totenehre, die der Prophet Jesaja mit seiner Kritik am Haushofmeister Schebna im Blick hatte (Jes 22,15f).156

Abb. 4: Prunkgrab von Silwan, der Ostnekropole Jerusalems

Dass auch noch dem toten König seine Königsehre zukommt, wird durch die Darstellung der Königsehre des toten Königs Ahiram von Byblos auf seinem Sarkophag trefflich zum Ausdruck gebracht (Abb. 5a):

152

Eine gegenteilige Ansicht vertritt Psalm 49, siehe dazu das folgende Kapitel. Nach Assmann, Herrschaft, 134ff ist das Phänomen Ehre ein synchrones Phänomen, während Schuld ein diachrones darstellt und daher weitaus mehr als Ehre für die Todesvorstellungen Ägyptens relevant sei. So sei beispielsweise das ägyptische Grab im Wesentlichen als ein schuldfreier Raum anzusehen (ebd. 138f). Mögen diese Charakteristika hinsichtlich der Schuldvorstellungen des Alten Ägypten im Groben auch stimmen, bleibt dennoch fraglich, ob damit Ehrvorstellungen in diachroner Hinsicht ausgeschlossen werden. So ist es beispielsweise auch für den toten Ägypter ein Übel, wenn sein Name „stinkend“ ist, seine Ehre also nach dem Tod durch üble Nachrede geschädigt wird (vgl. Papyrus Berlin 3024,85–103). Ein „stinkender“ Name lässt den Toten das Totengericht nicht überstehen (vgl. das Totenbuch 30B). Und „das ägyptische Wort für ‚Mumie‘ bezeichnet auch Adel oder Würde und ist in erster Linie eine Statusbezeichnung.“ (Assmann, Tod, 118) Im Alten Testament gibt es zwar keine Mumifizierung, aber auch hier ist das Grab ein Ort der Ehre, vgl. Jes 14,18; 2 Chr 32,33. 153 Die in Jes 11,9 ebenfalls erwähnten königlichen Ahnen (‫ )רפאים‬weisen zusammen mit den Königen und „Führern“ (wörtlich ‫„ עתודים‬Leitböcke“) ebenfalls auf eine besondere Ehrenstellung mancher Verstorbener in der Unterwelt hin. Sie sind deshalb – zumindest an dieser Stelle – nicht einfach als Totengeister, sondern wie in den ugaritischen Texten als königliche Verstorbene anzusehen (vgl. Rouillard, Rephaim, 695f). 154 ‫ בית‬bedeutet hier „Grab“; vgl. den antithetischen Bezug zu ‫ קבר‬Vers 19a. 155 Kamlah, Grab, 283 Abb. 10b. 156 Vgl. Beuken, Jesaja, 268–275; Kamlah, Grab, 282.

46

Kultursoziologische Grundlagen

Abb.5a–b: Der tote Ahiram von Byblos und der Herrscher von Megiddo mit ihren Lotusblumen

Der tote König Ahiram von Byblos sitzt auf seinem Sphingenthron. Er hält als Zeichen seiner königlichen Würde eine Lotusblume in der Hand, und vor ihm findet eine Prozession (wahrscheinlich im Rahmen eines Totenmahls) zu seinen Ehren statt. Thron, Blume und Prozession gehören zum ikonographischen Design bei der Darstellung von Königen im Alten Orient. Die Kennzeichnung des Königs Ahiram als eines toten Königs wird nicht durch die Entfernung dieser ehrenvollen Aspekte, sondern durch die weitere Darstellung angestrebt: Während beispielsweise die Blume in der Hand Ahirams kraftlos nach unten hängt (Abb. 5a), ist sie in der Hand lebender Könige kraftvoll aufgerichtet (Abb. 5b).157 Darüber hinaus sind auf der Breitseite des Sarkophags Klageweiber im Klagegestus versammelt, die den Status des Königs als eines verstorbenen Königs noch unterstreichen. Nichtsdestoweniger wird die Totenehre des Königs mit der Ehre und Pracht zu seinen Lebzeiten dargestellt. Der tote König erscheint nicht als Verstorbener, nicht als Totengeist, sondern wird wie ein lebender Herrscher in all seiner Königsehre dargestellt: „Der Herrscher ist wiedergegeben als lebendige Erinnerung an den Verstorbenen, an sein Leben, sein Wirken und seine Position auf Erden.“158 Den Toten, zumindest den besonders Angesehenen, wird die ihnen entsprechende Leibes-, Status- und Ruhmesehre nicht nur in Form von Klageliedern (vgl. 2 Sam 1,17–27), sondern auch durch entsprechende Trauer- und Begräbnisriten (vgl. die Ehrenbezeugungen beim Tod Hiskijas in 2 Chr 32,33) in die Sheol mitgegeben. „Die Angabe der Bestattung im Grab des Vaters beendete nicht nur einen Lebenslauf, sondern proklamierte eine verdiente Ehrung des Verstorbenen aufgrund seiner 157 Vgl. zu weiteren Darstellungen von Herrschern auf dem Thron mit Lotusblume in der Hand Loud, Megiddo, Tf. 32 Nr. 160 und Wartke, Sam’al, Abb. 68f. Zur Kritik an der in diesem Buch geteilten Sicht, dass die herabhängende Lotusblume auf den Status des Königs als eines toten Herrschers verweist, vgl. Rehm, Ahiram-Sarkophag, Kap. II.3.3. 158 Rehm, Ahiram-Sarkophag, 46f.

Formen der Ehre, Scham und Schande im Alten Israel

47

Gottestreue, die sich im würdevollen, ordnungsgemäßen Bestatten in Frieden (2 Kön 22,20) artikulierte.“159 Kommt so auch noch den Toten Ehre zu, besteht entsprechend die Furcht darin, einen schändlichen Tod zu sterben und der eigenen Ehre in der Unterwelt verlustig zu gehen, wie an den beiden Spottklagen über den mesopotamischen (Jes 14) und ägyptischen König (Ez 32) ersichtlich wird. Sargon II., dem „König von Babel“ (Jes 14,4b.6–20a), wird ein unehrenhafter Tod angekündigt,160 so dass er all seiner majestätischen Hoheit (‫ )גאון‬verlustig geht (Vers 11).161 Seine Leibesschande, bestehend aus einem Kleid von (unreinen) Erschlagenen (‫ לבוש הרגים מטעני חרב‬Vers 19aβ) bzw. aus einer Decke von Würmern (Vers 11bβ),162 liegt allen sichtbar vor Augen (Vers 16a) – hingeworfen außerhalb seiner Grabstätte (‫ השלכת מקברך‬Vers 19) wie ein verabscheuungswürdiger Sprössling (‫ כנצר נתעב‬Vers 19aα)163 bzw. wie ein zu Boden getretener Leichnam ohne Begräbnis (Vers 19b; Jer 22,19). Möglicherweise wird dem König hier ein „Eselsbegräbnis“ (Jer 22,19) angedroht, bei dem der Leichnam unbestattet außerhalb der Stadt aufs Feld geworfen wird: Jer 22,19: Ein Eselsbegräbnis wird er erhalten, fortschleifen und wegwerfen wird man (ihn), fern von den Toren Jerusalems.

Dieses „Eselsbegräbnis“ „deutet auf eine Behandlung des Leichnams des Königs wie den eines Tieres hin“ und läuft auf die „respektlose Entfernung (für ‚fortschleppen‘ vgl. 15,3, dort als ‚zerren‘ der Hunde)“ des Leichnams hin.164 Möglicherweise steht aber auch eine Exhumierung und Entblößung des Leichnams im Hintergrund von Jes 14,19. Saul M. Olyan parallelisiert Jes 14,19 mit Jer 8,1f und solchen aramäisch-phönizischen Quellen, in denen die Exhumierung der Bestatteten gefürchtet wird (KAI 14,5–12; KAI 226,6–10).165 So heißt es auf der Grabesstele eines verstorbenen Priesters in Neirab:

159

Wenning, Bestattungen, 10f. Zur Identifikation des Königs mit Sargon II. vgl. Ginsberg, Sargon; Barth, Jesaja-Worte, 135–138; Uehlinger, Weltreich, 537–546; Köszeghy, Hybris, 549.552; Sweeney, Isaiah, 232f; zuletzt Frahm, Nabû-zuqup-kēnu, 86 mit Anm. 66. Kritisch dagegen Schöpflin, Blick, 312; Beuken, Jesaja, 57–60. In Assyrien ist der Tod Sargons II. als unehrenhafter Tod ohne Begräbnis gedeutet und durch eine Sünde Sargons erklärt worden (SAA III 33), vgl. Frahm, Nabû-zuqup-kēnu; ders., Family Matters; Dietrich, Traumata, 154f. 161 Zu ‫ גאון‬vgl. Kellermann, ‫גאה‬, sowie Stiebert, Construction, 88 zu ‫ גאון‬in Jesaja. Hiernach bezeichnet ‫“ גאון‬pride in one’s claim to honour” (ebd. 95). 162 Zur Totenehre gehört eine ehrenvolle Bekleidung im Grab, vgl. 1 Sam 28,14. 163 Der Begriff ‫„( נצר‬Zweig; Spross“) gehört zur Königsideologie im Alten Orient und Alten Testament und ist wahrscheinlich nicht durch ‫„( נפל‬Fehlgeburt“) zu ersetzen; vgl. Beuken, Jesaja, 50.96f; anders beispielsweise Barth, Jesaja-Worte, 123. 164 Fischer, Jeremia 1–25, 664. Hervorhebung im Original. 165 Vgl. Olyan, King. 160

48

Kultursoziologische Grundlagen

KAI 226,8–10: Wer du (auch bist): (Wenn) du vergewaltigst und mich fortschleppst, mögen Šahar und Nikkal und Nusku in Schande bringen sein Sterben, und seine Nachkommenschaft möge zugrunde gehen.166

Welche Deutung auch zutrifft: In jedem Fall geht es in Jes 14,19 und Jer 22,19 bzw. Jes 14,19 und Jer 8,1f; KAI 226,8f um einen schändenden Umgang mit dem Leichnam. Ein solcher Ehrverlust durch einen schändlichen Tod wird auch auf einigen bildlichen Darstellungen zum Ausdruck gebracht. Ein schändlicher „sozialer Tod“167 wird beispielsweise erzielt, wenn der Gefangene zur Abschreckung vor den Augen der Öffentlichkeit nackt gepfählt und jeder körperlichen Integrität beraubt wird (Abb. 6):

Abb. 6: Assyrische Misshandlung von Kriegsgegnern auf einem Relief Tiglat-Pilesars III.

„Noch entehrender ist es, wenn in Szene gesetzt wird, dass Tiere die Verletzten und Toten anfressen, ihre Körper auseinanderreißen und damit ein Maximum an körperlicher Desintegration […] hervorrufen.“168 Ein ähnliches Bild wie Jes 14 über den mesopotamischen König zeichnet die Spottklage Ez 32 über den Pharao und andere Herrscher in der Unterwelt, in der „nicht alles gleich ist.“169 Der Kadaver Pharaos wird nach einem ausführlichen Tiervergleich als ein Zeichen der Abscheu (vgl. ‫געל‬ Ez 16,5) und ähnlich dem „Eselsbegräbnis“ Jojakims (Jer 22,19)170 auf das freie Feld geworfen, den Vögeln des Himmels und den Tieren des Feldes zum Fraß (vgl. 166 Übersetzung nach KAI 226,8–10. In KAI 14,5–12 ist dagegen nur vom „Wegtragen“ an eine andere Begräbnisstätte die Rede (vgl. die Verse 5f ‫)ואל יעמסן במשכב ז עלת מכב שני‬. 167 Zum sozialen Tod vgl. von soziologischer Seite Weber, Der soziale Tod; Feldmann, Tod und Gesellschaft, 146–161; aus ethnologischer und religionswissenschaftlicher Sicht Hasenfratz, Die toten Lebenden; ders., Zum sozialen Tod; aus alttestamentlicher Perspektive Janowski, Konfliktgespräche, 47f. 168 Berlejung, Bilder von Toten, 237. 169 Pohlmann, Hesekiel, 438. Dass es in der Unterwelt unterschiedliche, positive und negative Daseinsformen gibt, macht vor allem auch Gilg. XII deutlich. 170 Auch dieses liegt außerhalb der Stadttore.

Formen der Ehre, Scham und Schande im Alten Israel

49

dazu Ez 16,5; 29,5; 33,27; 34,5.8; 39,4 sowie Dtn 28,26; 2 Kön 9,10; Jer 7,33; 16,4; Ps 79,2). Der ehrenvolle Prunk mehrerer Königshöfe (‫)המון‬171 muss auf schmähliche Weise (vgl. die Semantik von ‫ כלמה‬in V. 24f.30) in die Unterwelt, zum Teil in ihre hintersten und somit ehrlosesten Winkel hinabfahren (V. 23a.24b; vgl. Jes 14,15), „wo zuletzt alle Entehrten, und Ehrlosen, die Ermordeten sowie Hingerichteten und Unbeschnittenen landen.“172 Das Begräbnis bei den Unbeschnittenen trifft gerade die beschnittenen Ägypter173 auf schmähliche Weise, und das Ruhen bei den Schwerterschlagenen ist allem Anschein nach von dem Grab der ehrenvoll Bestatteten als „der entehrende Ort abseits“174 zu unterscheiden,175 auch wenn die Vorstellung von einem abseitigen Grab der Erschlagenen im Alten Testament ansonsten nicht belegt ist.176 Der Selbstmord in wesentlichen biblischen und neuassyrischen Texten lässt sich, wie in diesem Buch noch ausführlich aufgezeigt werden soll, aus der Furcht vor einem unehrenhaften Tod, der zum einen den Nachruhm auf der Erde, zum anderen die Ehre des Toten in der Unterwelt gefährdet, erklären. An dieser Stelle seien nur knapp Ri 9,52–54 und 1 Sam 31,4 erwähnt.177 Um einem schändlichen Tod durch die Hand einer Frau zu entgehen (vgl. dazu auch Ri 4,21.23; 5,24ff), zieht Abimelech den Tod durch seinen eigenen Waffenträger vor. Aus ähnlichen Gründen begeht Saul Selbstmord. Was damit erreicht werden soll, ist eine angemessene Ehrung des Toten, damit der Nachruhm durch das Halten der Totenklage als einer öffentlichen Darstellung der Ruhmesehre des Toten Bestand hat (vgl. 2 Sam 1,17– 27). Wichtig ist dabei zu beachten, dass dem Suizidanten weder das ordentliche Begräbnis noch die Totenehre abgesprochen wurden, wie auch an dem Beispiel Simsons und Ahitofels deutlich wird (vgl. Ri 16,31; 2 Sam 17,23).178 Wurde – aus anderen Gründen – eine ehrenvolle Bestattung durch die entehrende Zurschaustellung des Leichnams verunmöglicht (vgl. 1 Sam 31,8–10), so galt es für die Nachkommen, sekundär für ein ordentliches Begräbnis als „soziale Auferstehung“ zu sorgen (1 Sam 31,11–13; 2 Sam 21,12–14).179 Neben diesen Phänomenen der Totenehre und Totenschande gibt es andere Vorstellungen, die dem Toten jeden Status absprechen und den Tod geradezu als Statuslosigkeit verstehen. Dabei wird die Vorstellung von der Statuslosigkeit mit privativen Aussagen aller Art, vor allem aber, ebenso wie viele andere Vorstellungen von der Totenehre und Totenschande, an der Kleidung zum Ausdruck gebracht: Anstatt mit einer feinen Decke ist der Tote mit Staub bedeckt (vgl. etwa LKA 62 171

Vgl. Krieg, Todesbilder, 455; Pohlmann, Hesekiel, 438. Pohlmann, Hesekiel, 438. 173 Vgl. zur Beschneidung in Ägypten Quack, Beschneidung. 174 Zimmerli, Ezechiel, 438. 175 Vgl. schon Eißfeldt, Schwerterschlagene, 81. 176 Vgl. Greenberg, Ezechiel 21–37, 350. 177 Zu diesen Texten siehe ausführlich unten die Kapitel über Saul und über Abimelech. 178 Siehe dazu unten die entsprechenden Kapitel über Simson und Ahitofel. Dies ist freilich im Fall der neuassyrischen Beschreibungen der Suizide von Erzfeinden anders, denen auch die Leibes- und Totenehre geraubt wird. Siehe dazu unten das Kapitel über Nabûbēlšumāti sowie das daran anschließende Kapitel über Urtak und Nabûdamiq von Elam. 179 Vgl. dazu auch Schnocks, Bestattung. 172

50

Kultursoziologische Grundlagen

Rs. 16). Insbesondere das Bild vom Toten mit Flügelkleid als einem gefangenen Vogel (vgl. beispielsweise Gilg. VII 4,31–39) zeigt die Vorstellung vom Tod als Beraubung/Privation all der Fähigkeiten, Möglichkeiten und Potentiale, die dem lebenden Menschen zukommen.180 Hier geht es weniger um Ehre und Schande des Toten als um die Vorstellung vom Tod als Privation des Lebens, und Nacktheit drückt hier weniger Ehrverlust als Statuslosigkeit aus. In dem Mythos Ištars Gang in die Unterwelt wird beschrieben, wie der Pförtner der Unterwelt der Göttin Ištar sukzessive ihre Kleider und Abzeichen der Hoheit abnimmt, bis sie am Ende nackt in der Unterwelt ankommt: Ištars Gang in die Unterwelt 42–62: Das erste Tor ließ er sie durchschreiten, löste und entfernte hernach die große Krone von ihrem Haupte. „Warum, Pförtner, entferntest du die große Krone von meinem Haupt?“ „Tritt ein, meine Herrin, das ist gemäß der Herrin der Erde Brauch!“ Das zweite Tor ließ er sie durchschreiten, löste und entfernte hernach die Ringe von ihren Ohren. „Warum, Pförtner, entferntest du die Ringe von meinen Ohren?“ „Tritt ein, meine Herrin, das ist gemäß der Herrin der Erde Brauch!“ Das dritte Tor ließ er sie durchschreiten, löste und entfernte hernach die Perlen von ihrem Halse. „Warum, Pförtner, entferntest du die Perlen von meinem Halse?“ „Tritt ein, meine Herrin, das ist gemäß der Herrin der Erde Brauch!“ Das vierte Tor ließ er sie durchschreiten, löste und entfernte hernach die Gewandnadel von ihrer Brust. „Warum, Pförtner, entferntest du die Gewandnadel von meiner Brust?“ „Tritt ein, meine Herrin, das ist gemäß der Herrin der Erde Brauch!“ Das fünfte Tor ließ er sie durchschreiten, löste und entfernte hernach den Gürtel aus Gebärsteinen von ihrer Hüfte. „Warum, Pförtner, entferntest du den Gürtel aus Gebärsteinen von meiner Hüfte?“ „Tritt ein, meine Herrin, das ist gemäß der Herrin der Erde Brauch!“ Das sechste Tor ließ er sie durchschreiten, löste und entfernte hernach die Ringe von ihren Händen und Füßen. „Warum, Pförtner, entferntest du die Ringe von meinen Händen und Füßen?“ „Tritt ein, meine Herrin, das ist gemäß der Herrin der Erde Brauch!“ Das siebte Tor ließ er sie durchschreiten; löste und entfernte hernach das Prachtgewand von ihrem Leib. „Warum, Pförtner, entferntest du das Prachtgewand von meinem Leib?“ „Tritt ein, meine Herrin, das ist gemäß der Herrin der Erde Brauch!“181

Während Ištar ihrer Kleidung auf dem Weg in die Unterwelt verlustig geht, erhält sie ihre Kleider allesamt sukzessive wieder zurück, als sie, mit dem Wasser des Lebens besprengt, aus der Unterwelt in die Welt der Lebenden zurückkehrt (Z. 119– 125). Anders als die oben besprochenen Vorstellungen von der Totenehre und Totenschande wird hier der Tod als Privation allen Lebens und somit auch aller Ehre und Schande verstanden. Die bisher besprochenen Ehrvorstellungen sind im Alten Testament und Alten Orient an zahlreichen Stellen belegt, doch daneben gibt es andere Texte, in denen diese Ehrvorstellungen einer fundamentalen Kritik unterzogen werden. Dies gilt es in diesem letzten Kapitel über die kultursoziologischen Grundlagen des Selbstmords abschließend darzustellen. e) Die Ehre des Weisen und Demütigen „Unter allen Narrheiten der Welt ist die herkömmlichste und verbreitetste das Streben nach Ansehen und Ruhm […]. Wir loben ein Pferd wegen seiner Stärke und Wendigkeit, […] nicht aber wegen seines Sattelzeugs; einen Windhund wegen 180 181

Vgl. dazu Berlejung, Tod. Ištars Gang in die Unterwelt 42–62. Übersetzung nach TUAT III/4, 762f. Zeilenzählung ebd.

Formen der Ehre, Scham und Schande im Alten Israel

51

seiner Schnelligkeit, nicht wegen seines Halsbandes, einen Jagdfalken wegen der Kraft seiner Schwingen und nicht wegen seiner Riemen und Schellen. Warum beurteilen wir einen Menschen nicht genauso nach dem, was ihm eigen ist? Da hat einer ein zahlreiches Gefolge, einen schönen Palast, hohes Ansehen und große Einkünfte – aber all das ist um ihn, nicht in ihm. […] Der Sockel gehört nicht zur Statue. Meßt den Menschen ohne seine Stelzen. Lege er seine Reichtümer und Ehrentitel ab, stelle er sich im Hemd vor!“182 Ist eine Gesellschaft nie völlig homogen, so ist es auch nicht die Kultur einer Gesellschaft – einschließlich der sogenannten Schamkulturen des Mittelmeerraumes. Konnten beispielsweise in der griechischen und römischen Antike Kyniker und Stoiker Ehre und Ruhm zu den nichtigen oder bestenfalls gleichgültigen Dingen zählen, so gilt dies auch für einige Schriften und Texte des Alten Testaments. So wie in dem gerade dargebotenen Zitat Michel de Montaigne den „Ehrglauben“ seiner Zeit kritisiert, weil er sich an äußeren Dingen festmache, üben weisheitlich geprägte Schreiber alttestamentlicher Schriften eine Kritik am Ehrglauben ihrer Zeit. Eine ihrer Thesen ist, dass Ehre weder an Formen der Leibesehre noch der Statusehre, also an Äußerlichkeiten, abzulesen ist, sondern an inneren Qualitäten, zu denen insbesondere Weisheit, Demut und Gottesfurcht gehören. Der Demut183 ist ein höherer Wert beizumessen als der Ehre: Die Gottesfurcht ist Zucht der Weisheit, und vor der Ehre kommt Demut. (Spr 15,33) Vor dem Sturz will hoch sein das Menschenherz, aber vor der Ehre kommt Demut. (Spr 18,12)

Ebenso kann die Ehre als zweitrangiger Wert hinter der Demut nur durch Demut erlangt werden, wie schon die eben zitierten Sprüche implizieren, wie aber auch Spr 22,4 und 29,23 explizieren: Der Lohn der Demut (und) der Gottesfurcht sind Reichtum und Ehre und Leben. (Spr 22,4) Der Hochmut eines Menschen erniedrigt ihn, aber ein Demütiger erlangt Ehre. (Spr 29,23)

Das klassische Beispiel für die Kritik an den herkömmlichen Ehrvorstellungen der Leibes- und Statusehre ist die Wahl Davids nach 1 Sam 16,7: Weder die Leibesehre Eliabs (sein Aussehen und sein hoher Wuchs) noch seine Geburts- und Statusehre (als Erstgeborener; vgl. 1 Sam 17,13) können überzeugen, weil Gott auf die inneren Qualitäten achtet („auf das Herz blickt“) und den jüngsten – nach herkömmlichen Ehrvorstellungen also niedrigsten – seiner Brüder erwählt. In der Weisheit wird daher zwischen „peripheren“ Formen der Ehre – zu denen die oben dargestellten gehören – und „zentralen“ Formen der Ehre unterschieden.184 So gibt beispielsweise der Ölbaum von Ri 9,9 seine „wahre“ Ehre (sein Fett, für das er bei Menschen in Ehren gehalten wird) nicht auf, um die „Scheinehre“ eines Königs zu erwerben. Schließlich zeigt sich eine Kritik an herkömmlichen Ehrvorstellungen auch am Wandel des Königsbildes nach Sach 9,9: Der König, der da kommen soll, ist zwar 182

Montaigne, Essais, 132f. Zur hebräischen Semantik von Demut vgl. Preuß, Demut, 460; Mathys, Demut, 654. 184 Zu den von mir hier verwendeten Begriffen der peripheren, scheinbaren oder sekundären Ehre und der zentralen, wahren oder primären Ehre finden sich im Alten Testament keine hebräischen Äquivalente, doch treffen sie die Sache, die im Folgenden darzustellen ist. 183

52

Kultursoziologische Grundlagen

entsprechend allgemein vorherrschender Königsideologie ebenfalls gerecht und siegreich, aber auch demütig (‫ )עני‬und auf völlig unkriegerische Weise friedlich, weil er auf einem Esel anstelle eines Schlachtrosses reitet. Der Text 1 Kön 3,4–15 lebt von dem Gegensatz, der zwischen Reichtum (‫)עשר‬ und Ehre (‫( )כבוד‬Vers 13aβ) bzw. Reichtum und Sieg (‫( )נפש איביך‬Vers 11aβ) auf der einen Seite und Weisheit und Rechtshandeln auf der anderen hergestellt wird.185 Der weise König Salomo bittet um letztere als die eigentlich entscheidenden Werte; Reichtum und Ehre hingegen machen den König noch nicht zum guten (d.h. weisen und somit zum Rechtshandeln fähigen) König. Sie sind allerdings auch nicht nichtig, sondern kommen als sekundäre Werte auch dem Weisen zu: So werden Salomo nach der Vergabe der Weisheit (Vers 13a) Reichtum und Ehre zugesprochen – entsprechend den herkömmlichen Vorstellungen von begrenzten Gütern, die in hierarchischen Verhältnissen darstellbar sind (Vers 13b). Der Weise erhält wegen seiner Weisheit Ehre (vgl. Spr 3,35; 4,8), aber die Ehre ist nicht Primärziel (Das bleibt das Erlangen von Weisheit.), sondern eine sich sekundär zur Weisheit einstellende Zugabe. Die weisheitliche Ehre kann zwar auch als symbolisches Kapital eingesetzt werden, sie ist aber prinzipiell kein begrenztes Gut, sondern wird jedem zum Erwerb empfohlen (vgl. Spr 3,13–16; 4,8). Damit stellt sie ein Prinzip der Gleichheit auf, das den anderen Formen der Ehre abgeht. Das von der Weisheit aufgestellte Prinzip der Gleichheit betrifft auch die Ehrvorstellungen priesterschriftlich geprägter Texte: Gen 1,26–28; 5,1.3; 9,6 und insbesondere Ps 8,6f sprechen dem Menschen die höchste vom Menschen zu erlangende Ehrenstellung überhaupt – die Königsehre – zu,186 indem sie eine Royalisierung des Menschen vornehmen.187 Gen 1,26–28; 5,1.3; 9,6 übertragen die Vorstellung vom Pharao bzw. vom mesopotamischen und syrischen188 König als Abbild und Stellvertreter Gottes auf den Menschen,189 Ps 8,6f spricht dem Menschen königliche Ehren zu, indem Gott nicht nur wie nach traditionellen Vorstellungen den König (vgl. Ps 21,6), sondern auch den Menschen mit Ehre (‫ )כבוד‬und Pracht (‫)הדר‬ krönt.190 Indem so dem Menschen Statusehre und Leibespracht eines Königs zugesprochen werden, wird die Vorstellung von der Ehre als einem begrenzten Gut auf185 Zur Weisheit: „hörendes Herz“ ‫ לב שמע‬Vers 9aα; „Verständnis“ ‫ הבין‬Vers 11b; „weises und verständiges Herz“ ‫ לב חכם ונבון‬Vers 12aβ; zum Rechtshandeln vgl. das zweimalige Vorkommen des Verbums ‫ שפט‬mit der Näherbestimmung ‫ להבין בין־טוב לרע‬in Vers 9 sowie „um auf das Recht zu hören“ ‫ לשמע משפט‬in Vers 11b. 186 Die Königsehre ist die Statusehre, die gleich nach der der Götter kommt, vgl. Ps 8,6a. 187 Zum „königlichen“ Menschen der priesterlichen Urgeschichte Janowski, Herrschaft; ders., Statue Gottes, 189–196. Zum Begriff „Royalisierung des Menschen“ (im Gegensatz zur „Demokratisierung der Königsvorstellung“) Podella, Lichtkleid JHWHs, 252ff im Anschluss an P.-D. Miller. 188 Zu ṣælæm und demût sind jetzt auch die Selbstbezeichnungen des Königs Hadad-Yis̒ i auf seiner Statue vom Tell Fecheriye zu vergleichen, die ganz ähnlich (wenn auch ohne die entsprechenden Präpositionen) von der Statue des Königs als altaramäisch ṣlm und dmwt’ sprechen (vgl. Abou-Assaf/Bordreuil/Millard, Tell Fekherye, 23). 189 „Die Bezugnahme in Gen 9,6 auf Gen 1,26f. zeigt zudem, daß die Gottesbildlichkeit des Menschen trotz Einbruchs von Sünde und Flut nicht verloren geht, sondern erhalten bleibt und als Begründung für das Verbot eigenmächtigen Tötens eines Menschen dient.“ (Meinhold, Menschsein, 16f) 190 Zu diesen Texten vgl. Podella, Lichtkleid JHWHs, 252–264; Neumann-Gorsolke, Herrschen.

Formen der Ehre, Scham und Schande im Alten Israel

53

gehoben und Ehre als anthropologische Konstante eingeführt.191 Die Folge dieser Umwandlung ist eine Entwicklung von der Ehre zur Würde des Menschen: Da die je spezifischen Ehrvorstellungen im alten Israel an soziale Rollen und hierarchische Verhältnisse gebunden sind, löst sich die Ehrvorstellung, die Ehre als allgemeine Würde zu einer anthropologischen Konstante erhebt, von sozialen Rollen und hierarchischen Verhältnissen.192 Diese Entwicklung setzt sich im alten Israel mit dem Ende des Königtums und der vorexilischen Gesellschaftsordnung durch, als die entscheidenden Grundlagen der hierarchischen altisraelitischen Gesellschaft in der exilischen und frühnachexilischen Zeit wegfallen und sowohl eine breite Kritik an herkömmlichen Ehrvorstellungen ermöglichen als auch Vorstellungen von einer „Gattungsehre“ des Menschen aufkommen lassen.193 Wollen die genannten Texte hinsichtlich der Ehre Gleichheit herstellen, gilt dies in negativer Hinsicht auch für das Absprechen der Ehre im Tod: Blieben nach her191 Vgl. auch Hi 7,17. Die Royalisierung des Menschen nach Ps 8 spricht im strengen Sinne keine Statusehre zu, da die königliche Stellung des Menschen den exklusiven Status der Königsehre aufhebt und als allgemeines Gut einführt. Daher wird der Mensch auch nicht konkret mit Königskleidern wie etwa einer Krone bekleidet, sondern mit abstrakten Majestätsattributen ausgestattet („gekrönt“). Dieser Akt ist nur möglich durch die Hinzunahme eines Dritten in die Denkbewegung um Ehre – die Gottes. Bezeichnend nämlich bleibt, dass sich gerade die Ehre, die als anthropologische Konstante eingeführt wird, durch einen Schöpfungsakt legitimiert und legitimieren muss, um gegenüber den herkömmlichen Ehrvorstellungen – Ehre hierarchisch gegliedert und begrenzt – bestehen zu können. Die in den genannten Texten durchgeführte „Royalisierung“ stellt eine der Wurzeln für die Universalisierung der Ehre als allgemeine Menschenwürde dar – mit dem Unterschied, dass in der modernen Gesellschaft neben den Aspekt der Universalisierung derjenige der „Privatisierung“ der Ehre tritt, indem sich soziale Wertschätzung an individualisierten Eigenschaften des einzelnen ausrichtet (vgl. dazu Honneth, Anerkennung, 202ff). 192 Zur (modernen) Unterscheidung von Ehre und Würde vgl. Berger/Berger/Kellner, Modernität, 79f (Hervorhebungen im Original): „Würde, im Gegensatz zur Ehre, bezieht sich stets auf die aller auferlegten Rollen und Normen entkleidete, eigentliche Menschlichkeit. Sie gehört zum Ich als solchem, zum einzelnen ohne Rücksicht auf seine Stellung in der Gesellschaft. [...] Der Begriff der Ehre impliziert, daß die Identität intrinsisch oder zumindest in bedeutsamer Weise mit institutionellen Rollen verknüpft ist. Im Gegensatz dazu impliziert der moderne Begriff der Würde, daß die Identität intrinsisch von institutionellen Rollen unabhängig ist.“ 193 Mit Gen 1,26–28; 5,1.3; 9,6; Ps 8,6f wird (noch) keine allgemeine Menschenwürde in dem Sinne postuliert, dass sie jedem einzelnen Individuum innerhalb der Gesellschaft als einklagbares „Menschenrecht“ zukommt, sondern der Mensch als Typos und Gattungswesen wird in schöpfungstheologischer Hinsicht mit der Königswürde bekleidet und verantwortet erschaffen. Daher geschieht es aus einer anwendungsorientierten und wirkungsgeschichtlichen Perspektive, wenn man in Bezug auf Ps 8 von der Gattung auf die Individuen und von der Gleichheit vor Gott auf die Gleichheit vor dem Gesetz schließt: „Dies unterstützt auch die Aussage des Psalms, daß die Würdeausstattung der Gattung Mensch, d.h. allen Menschen zukommt, da JHWH Schöpfer der ganzen Welt ist. Insofern hat die biblische Rede von den königlichen Würden des Menschen ‚egalisierende Bedeutung‘, d.h. sie konstituiert die Gleichheit aller Menschen vor Gott. Diese Einsicht bildet einerseits die Grundlage für den Grundsatz der Gleichheit und Freiheit aller Menschen in freiheitlichen Verfassungen der Gegenwart, wie sie sich in den Menschenrechten ausdrücken. Andererseits ist die Überzeugung der verdankten Würde, die allen Menschen gilt, ein entscheidendes Argument gegen jedwede Ausschlußkriterien, die in der Debatte um Abtreibung, Euthanasie oder Sterbehilfe Föten, Säuglingen, Patienten im Koma usw. Menschenwürde und Lebensrecht absprechen.“ (Neumann-Gorsolke, Menschenwürde, 63f. Hervorhebungen im Original.)

54

Kultursoziologische Grundlagen

kömmlichen Ansichten Leibes-, Status- und Ruhmesehre auch über den Tod hinaus dem Geehrten erhalten, gibt es nicht nur eine Ehrung, sondern auch eine Ehre des Toten, werden diese Vorstellungen von der weisheitlichen Kritik quasi anthropologisch destruiert. Der Weisheitspsalm 49 spielt den Tod gegen die nichtigen Vorstellungen von Reichtum und Ehre des Menschen aus, wobei genau die Begriffe fallen, die für Ehrvorstellungen typisch sind: Reichtum (‫ עשר‬Vers 7; ‫ כבוד ביתו‬Vers 17bβ), ehrenvolle Pracht (‫ יקר‬Verse 13.21) und Ehre (‫ שם‬Vers 12b194; ‫ כבוד‬Vers 18bβ) bleiben dem Toten in der Unterwelt nicht erhalten: „Fürchte dich nicht, wenn ein Mann Reichtum erwirbt, wenn sich mehrt die Pracht seines Hauses. Denn das alles nimmt er nicht mit in den Tod, nicht steigt hinter ihm hinab seine Ehre.“ (Verse 17f) Diese Umwertung des Wertes Ehre – in diesem Sinne ein „Nihilismus hinsichtlich der Ehre“ – stellt ebenfalls Gleichheit her, doch nun nicht so, dass die Ehre – vormals ein begrenztes Gut – zu einer anthropologischen Konstante erhoben, sondern so, dass sie mit dem Tod für alle und jeden nichtig wird.195 Die weisheitliche Kritik an herkömmlichen Ehrvorstellungen kommt auch in der Vorstellung von der Ehre des Demütigen zum Ausdruck. Selbst der Reiche und Große soll in Demut wandeln (Sir 3,17f), weil die Demut der Ehre vorgeordnet wird (Spr 15,33; 18,12), und erst der Demütige wahrhaft zu Ehren kommt (Spr 22,4; 29,23).196 Letzteres macht 2 Sam 6 anschaulich: Michal verachtet David (Vers 16), weil sein öffentlich zur Schau gestellter Tanz einer ehrlosen Bloßstellung gleichkommt (Vers 20bβ; vgl. insbesondere das ironische ‫)מה־נכבד‬. Die Antwort Davids fällt weise aus: Indem er sich vor Gott demütig verhält („klein und niedrig machen/ erscheinen“, formuliert mit ‫ קלל‬Nifal und ‫ שפל‬+ ‫)היה‬, kommt er zu Ehren (‫אכבדה‬ Vers 22). Ähnliches gilt für das Buch Esther: Kann Esther als eine Novelle um Ehrgewinn und Ehrverlust (Mordechais und Hamans bzw. Esthers und Waschtis) gelesen werden,197 so werden diese Erzählaspekte durch spätere Ergänzungen einer „Richtigstellung“ unterzogen, in der allein an der Ehre Gottes festgehalten wird. Mordechai betont, dass er die Herausforderung (challenge) der Ehrenstellung Hamans nicht aus eigener Ehrsucht (φιλοδοξία) begangen habe (Est 4,17d LXX),198 194 Der Ausdruck ‫ קראו בשמותם עלי אדמות‬könnte im Zusammenhang der Ruhmesehre zu verstehen sein. Zu den Schwierigkeiten dieses Versteiles sowie zu Ps 49 insgesamt vgl. ausführlich Casetti, Psalm 49. 195 Vgl. auch Jes 14,10: Hier sprechen die Vasallenkönige dem babylonischen König seine Statusehre als Großkönig ab und die Gleichheit im Tod zu. Das Prinzip der Gleichheit kommt in negativer Hinsicht auch in den Trauerriten zum Ausdruck: Alle Personen, die Trauerriten ausüben (selbst Götter und Könige), erniedrigen sich auf eine Weise, so dass Leibes- und Statusehre für die Dauer des liminalen Zustandes der Trauer aufgehoben werden. Kruger, Rank Symbolism, 174 (vgl. auch ders., Nonverbal Communication, 154–157) rechnet daher folgende Aspekte zu den Trauerriten: “humility versus just pride of position; absence of rank versus distinctions of rank; naked or uniform clothing versus distinctions of clothing; disregard for personal appearance versus care for personal appearance; acceptance of pain and suffering versus avoidance of pain and suffering.” 196 Zur Kritik an den Demutsvorstellungen des Sprüche- und Sirachbuches als „Tugend der Reichen […] zur sich herablassenden Freundlichkeit, zur von oben gewährten Milde“ sowie als „Tugend wohlanständiger Bescheidenheit“ von „gutsituierte[n] Bürger[n]“ vgl. Wengst, Demut, 60f. 197 Vgl. dazu oben die Kapitel zur Leibes- und Statusehre sowie Laniak, Shame. 198 Die Ehrsucht wird in Est 4,17d LXX mit Hochmut (ὕβρις) und Überheblichkeit (ὑπερηφανία) in eine Reihe gestellt.

Zusammenfassung

55

sondern, um durch die Proskynese vor Haman die Ehre eines Menschen (δόξα ἀνθρώπου) nicht über die Ehre Gottes (δόξα θεοῦ) zu stellen (Est 4,17e LXX). Die Vorstellung von der Ehre als begrenztem Gut – in hierarchischen Verhältnissen darstellbar – bleibt erhalten, wird aber nun als Gegensatz zwischen Menschen- und Gottesehre ausgelegt (vgl. auch Ps 115,1; 1 Sam 2,29). Dadurch erweist sich der Erwerb von Ehre nicht nur als nichtig, sondern als götzendienerisch und unrein: Esther legt bezeichnenderweise ihre in Est 2 erworbene Leibes- und Statusehre ab (Est 4,17k LXX), um zu betonen, dass sie das Diadem als Zeichen ihrer königlichen Ehre (vgl. Est 2,17) verabscheut und zu den unreinen Dingen zählt (Est 4,17v–w LXX). Damit ist jene Ehre, die am Leib und Status ablesbar ist, mit Reinheit einhergeht und in Schande und Unreinheit ihren Gegensatz findet, ad absurdum geführt. Nun ist es die Gottesbeziehung, die den Demütigen trotz aller Anfeindung und Schmach zu Ehren kommen lässt. Diesen zuletzt genannten Aspekt zeigen vor allem die Klage- und Dankpsalmen, in denen es um Entehrung und Wiederherstellung der Ehre des Beters199 geht: In diesen ist es der Feind, der den Beter seiner Ehre beraubt und schändet (Ps 4,3; 7,6; vgl. 69,20). In einer solchen Situation hofft der Beter, dass Gott den Feind in Schande stürzen lässt (vgl. Ps 35,26; 83,18) und ihn selbst wieder zu Ehren führt (vgl. etwa Ps 3,4; 91,15). Hier sind Wiederherstellung der Ehre des Beters und Entehrung des Feindes aufs engste miteinander verbunden. Indem die Wiederherstellung der Ehre vor den Augen der Feinde geschieht, erweist sich ‫ כבוד‬als sozialanthropologischer Grundbegriff.200 Dieser wird nach einigen Texten in einen genuin theologisch-anthropologischen Relationsbegriff verwandelt, wenn es im Gottvertrauen des Beters einer Wiederherstellung der Ehre gegenüber den Feinden nicht mehr bedarf: Auch wenn der Beter in den Augen der Mitmenschen in Unehre steht – entscheidend ist, dass durch das Gebet eine Gottesbeziehung hergestellt wird, in der Gott dem Beter antwortet und ihn anblickt, so dass der Beter in den Augen Gottes zu Ehren kommt (Ps 73,24; vgl. Jes 49,5). Hier scheint eine „unsichtbare“ Ehrvorstellung auf, derer sich der Beter trotz Anfeindung, Schmach und Tod mit Hilfe seiner Gottesbeziehung versichert, da in dieser Gottesbeziehung des Menschen Ehre liegt (Ps 3,4; 62,8; vgl. 73,24) und zum Vorschein kommt (Ps 16,9; 30,13; 84,12; 91,15; 108,2).

Zusammenfassung Ehrvorstellungen verfügen über eine gemeinsame Funktion – sie dienen zur „Internalisierung der Gruppennormen“201 und zur Stabilisierung gesellschaftlicher Ord199 Vgl. dazu Janowski, Konfliktgespräche, 196ff.281–283. Die Entehrung des Beters ist nach Janowski eine der drei möglichen Formen von Missachtung im Alten Testament neben Misshandlung und Entrechtung. Zum sozialphilosophischen Hintergrund siehe Honneth, Anerkennung, 212–225. 200 Vgl. Janowski, Konfliktgespräche, 282. Die sozialanthropologische Dimension von ‫ כבוד‬ist hier nicht zwei-, sondern dreiseitig, indem es um eine Beziehung zwischen Gott, Beter und Feind geht. Die Gottesbeziehung wird in die Sozialdimensionen des Beters einbezogen. 201 Vogt/Zingerle, Ehre, 23.

56

Kultursoziologische Grundlagen

nung. Gleichwohl ermöglicht die Offenheit des Begriffes Ehre die Entstehung und Verbreitung einer Vielzahl unterschiedlicher historischer Formen dessen, „worin die Menschen ihre Ehre setzen“.202 Die beiden häufigsten Formen der Ehre im Alten Testament – Leibesehre und Statusehre – gehen vielfach eine Symbiose ein, da Rang und Status öffentlich und sinnlich wahrnehmbar vor den Augen der anderen am Leib sichtbar werden. Insoweit stützen insbesondere Leibes- und Statusehre das Gefüge der jeweils vorgegebenen Gesellschaft. Sie figurieren als ein symbolisches Kapital, das die kulturellen Werte und die sozialen Rangordnungen der Gesellschaft spiegelt, zementiert und selbst wiederum innerhalb der Spielregeln der Gesellschaft zur Erlangung anderweitiger Güter eingesetzt werden kann. Das Spiel um diese Formen der Ehre wird ermöglicht aufgrund der subjektiven Vorstellung von begrenzten Gütern, die es durch die Regeln von Herausforderung und Erwiderung zu erhalten und zu akkumulieren gilt. Der Selbstmord in den Kulturen der Alten Welt gründet – wie noch im Einzelnen zu zeigen sein wird – auf einem Habitus, der in den meisten Fällen den Ehr- und Schamvorstellungen der Alten Welt verhaftet ist und eine Handlung ausführt, die an die gesellschaftlichen Normen und Konventionen ihrer Zeit angepasst ist. Wer keinen anderen Ausweg sieht, um der öffentlichen Erniedrigung und Beschämung seines Leibes oder seines Status zu entgehen und die eigene Ehre zu wahren, kann Suizid üben, ohne dass ihm dies von seiner Umwelt als Verbrechen, Sünde oder Krankheit vorgehalten wird. Auf ganz andere Weise stellt sich die Ruhmesehre dar. Zwar wird auch sie durch die Spielregeln von Herausforderung und Erwiderung erworben. Doch der Held erwirbt eine völlig andere Form der Ehre, als es die gängigen symbiotischen Beziehungen zwischen Leibes- und Statusehre aufzeigen. Sein Ruhm gründet auf seiner Tat, die er gerade nicht in vollem Waffenschmuck – als Zeichen einer besonderen Leibes- und Statusehre –, sondern in schlichter Ausrüstung vollbringt (Ri 15,12ff; 1 Sam 17,38ff; 2 Sam 23,21 u.a.). Die außerordentliche Tat weist den Helden als jemanden aus, der seine Ehre auf grundsätzlich andere Weise erwirbt, als man es von den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft mit „normaler“ Ehre erwartet – daher sein Ruhm, der ihm nicht notwendigerweise einen bestimmten Rang, und somit eine spezifische Statusehre, in der sozialen Hierarchie einbringt. Die Totenehre umgreift alle übrigen Formen der Ehre. Nicht nur erweisen die Lebenden dem Toten Ehre, auch der Tote selbst verfügt noch über gewisse Formen der Leibesehre, sei es in Form von Schmuck im Grab oder in Form von Herrschaftszeichen in der Unterwelt. Seine Statusehre ebenso wie seine Ruhmesehre gehen ihm bei einem ehrenvollen Tod weder in der Erinnerung der Lebenden noch in der Unterwelt völlig verloren. Deshalb ist es für den Lebenden eminent wichtig, einen ehrenvollen Tod zu sterben, um dementsprechend in Ehren im Grab zu ruhen und in der Erinnerung der Lebenden in Ehren gehalten zu werden. Der Nachruhm als eine spezifische Verbindung zwischen Ruhmes- und Totenehre knüpft die ehrende Erinnerung des Toten an dessen außergewöhnliche und deshalb ruhmvolle Taten und Leistungen zu Lebzeiten. So weisen Totenehre und Nachruhm die Ehre nicht nur als 202

Scheler, Scham, 153.

Zusammenfassung

57

ein synchrones, sondern ebenso als ein diachrones Phänomen aus. In vielen Fällen kann der Selbstmord als eine Handlung verstanden werden, mittels der man einem unehrenhaften Tod entgehen will, sei es einem sozialen Tod, der das Gedenken und den Nachruhm auf der Erde gefährdet, sei es einem Tod, der die Ehre des Toten in der Unterwelt untergräbt. Die weisheitlichen Ehrvorstellungen haben zwei Seiten. Auf der einen Seite stellt die Ehre des Weisen selbst ein symbolisches Kapital dar, das im Kampf um Anerkennung und zur Erlangung eines besonderen Ranges in der gesellschaftlichen Hierarchie eingesetzt werden kann. Dies betrifft insbesondere solche Ehrvorstellungen, in denen die Einsicht des Weisen ein gelingendes Leben entsprechend den vorgegebenen kosmischen und gesellschaftlichen Ordnungen ermöglichen soll. Insoweit dienen auch diese weisheitlichen Ehrvorstellungen der Stabilisierung der sozialen Ordnung, und sie liegen dementsprechend ganz auf einer Ebene mit den übrigen Ehrvorstellungen. Auf der anderen Seite ermöglicht die weisheitliche Einsicht eine Kritik an herkömmlichen Ehrvorstellungen und damit auch an den gesellschaftlichen Ordnungszusammenhängen, die diese Formen der Ehre hervorbringen und selbst wiederum von ihrer Anerkennung abhängig sind. In diesen Fällen kann die Weisheit einen Gegensatz zwischen den gängigen Ehrvorstellungen auf der einen und den weisheitlichen auf der anderen Seite konstruieren. Der Leibes-, Status-, Ruhmes- und sogar der Totenehre wird der „anthropologische Sinngehalt“ entzogen. Die Folge ist, dass auch die Denkvoraussetzungen der herkömmlichen Ehrvorstellungen aufgehoben werden – insbesondere die Vorstellung von dem notwendigen Kampf um Ehre als einem begrenzten Gut. Diese Aufhebung wird im Alten Testament vor allem durch die Einbeziehung Gottes in das Denken über Ehre möglich: Denkt man Ehre nicht nur als soziales Phänomen unter Menschen, sondern als relationales Phänomen unter Menschen und Göttern, fällt durch die Hinzunahme einer weiteren, aber andersartigen Relationsgröße die Kritik an herkömmlichen Ehrvorstellungen leichter. Denkt man die Gottesbeziehung zu den Menschenbeziehungen hinzu, dann wird angesichts der gewonnenen Unendlichkeit die Vorstellung von den begrenzten Gütern aufgehoben: Weil vor Gott Ehre kein begrenztes Gut ist, um das gerungen werden muss, können schon durch den Schöpfungsakt jedem Menschen königliche Ehren zuteilwerden. Auf diese Weise ermöglicht die weisheitliche Kritik Denkwege, die von der Ehre als einem begrenzten Gut zur Würde als einer anthropologischen Konstante fortschreiten und eine „unsichtbare“ Ehrvorstellung aufkommen lassen, in der der Mensch nicht mehr notwendigerweise in den Augen der Mitmenschen, sondern in den Augen Gottes zu Ehren kommt. Unabhängig von den Ehren, die der Einzelne in den Augen der Mitmenschen genießt, ist es die Gottesbeziehung, in der jedes Menschen Würde liegt. Damit sind Denkwege angelegt, die in mehrtausendjähriger Geschichte immer wieder die Menschen bewegt haben, eine diesen Ehrvorstellungen entsprechende bessere Welt zu schaffen sowie an dem Prinzip der Gleichheit und der Würde des Menschen festzuhalten, auch wenn weder eine schlechte Welt noch die herkömmlichen Ehrvorstellungen mit dieser Würde im Einklang stehen. Und obwohl es im Alten Testament und Alten Orient nicht expliziert wird, enthält eine von den Weisheitstraditionen des Alten Testaments und Alten Orients geprägte Kritik am Ehrglauben auch kritische Impli-

58

Kultursoziologische Grundlagen

kationen für das Phänomen des Suizids, denn ein in Ehrvorstellungen verhafteter Suizidgedanke wird durch eine Kritik an Ehrvorstellungen ebenfalls destruiert.

Zweiter Teil

Eskapistische Selbsttötungen Zur Typologie der Sinnformen suizidaler Handlungen Spielt der Tod von eigener Hand für die Anthropologie und Thanatologie des Alten Testaments und Alten Orients bisher nur eine marginale Rolle, so gilt dies nicht für die Medizin, die Psychologie, Soziologie und Moraltheologie. In den einschlägigen Arbeiten aus diesen Fachbereichen herrscht eine Ursachenforschung vor, die nach den Gründen für die suizidalen Handlungen fragt und diese in negativ zu bewertenden Zuständen des Individuums (Krankheit; Sünde) oder in pathologischen Zuständen der Gesellschaft erblickt. Im Unterschied zu einer solchen Vorgehensweise wird in dieser Abhandlung in Anlehnung an den französischen Soziologen Jean Baechler ein anderer Weg beschritten: Anstatt nach den Ursachen wird nach dem Sinn gefragt, den Individuum und Kultur den suizidalen Handlungen zusprechen. Indem suizidale Handlungen als „Sinngeschichten“1 gelesen werden, können sie aus der kulturellen und gesellschaftlichen Semantik, in die sie eingebettet sind, verstanden und in die kulturanthropologischen Forschungen zum Alten Testament und Alten Orient integriert werden. Obgleich die Frage nach den Ursachen nicht generell ausgeklammert werden soll, wird ihr nur dann ausführlicher nachgegangen, wenn die Texte selbst ein Interesse an einer ursächlichen Erklärung des beschriebenen Suizids erkennen lassen. In den übrigen Fällen scheint dagegen die Frage nach der Sinndeutung des Geschehens nicht nur dem Blick der suizidalen Subjekte, sondern auch dem der Schreiber ihrer Geschichten weit angemessener zu sein. Jean Baechler unterscheidet in seiner Typologie der Bedeutungen des Suizids als einer sinnbesetzten und zielgerichteten Handlung vier Kategorien und elf Typen.2 Zu der eskapistischen Kategorie zählen die Typen Flucht aus einer unerträglichen Situation, Trauer um den Verlust eines lebensrelevanten Objektes und Strafe als Sühne für einen Fehler. Zu der aggressiven Kategorie zählen die Typen Rache und Verbrechen zur Bloßstellung oder Tötung von Mitmenschen sowie Erpressung und Appell zur Aufforderung an andere zu einem bestimmten Verhalten. Zur oblativen Kategorie zählen das Selbstopfer, um ein anderweitiges Gut zu erhalten, und die Passage, um in einen andersartigen Zustand zu gelangen. Zur spielerischen Kategorie schließlich gehören das Ordal, bei dem man das eigene Leben riskiert, um sich selbst zu prüfen, und das Spiel, bei dem man aus dem Reiz am hohen Einsatz sein Leben aufs Spiel setzt.3 Nicht alle diese Typen finden sich in den alttesta1

Siehe dazu ausführlich oben das entsprechende Kapitel in der Einleitung zu diesem Buch. Baechler, Tod, 59–162. 3 Klassisches Beispiel: russisches Roulette. 2

60

Eskapistische Selbsttötungen

mentlichen und altorientalischen Quellen wieder, und nicht in allen Fällen lassen sich die Quellen ausschließlich einem Typus zuordnen. Dennoch werden wir im Folgenden von der Einteilung Baechlers als einer heuristischen Hilfe ausgehen und die Quellen im Einzelnen prüfen. Um die suizidale Handlung jedoch nicht ausschließlich als sinnbesetzte Handlung des Einzelnen zu deuten, werden die kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte, in deren Sinnhorizont die Handlungen vollzogen werden, mit berücksichtigt. Schließlich können auch die verschiedenen Formen der Selbsttötung in die je unterschiedlichen Kontexte eingegliedert werden. In diesem ersten Abschnitt gehen wir den eskapistischen suizidalen Handlungen nach. Unter den eskapistischen Suizid fallen all die Selbsttötungen, „bei denen die allgemeine Bedeutung des Aktes in einer Fluchtbewegung liegt, wo also der Selbstmord als ein Mittel auftritt, um vor etwas davonzulaufen.“4 Hierzu zählen nach Baechler die Typen Flucht aus einer unerträglichen Situation, Trauer um den Verlust eines lebensrelevanten Objektes und Strafe als Sühne für einen Fehler. Während die beiden letzten Typen in den altorientalischen und biblischen Quellen selten sind,5 ist die Selbsttötung als Flucht aus einer unerträglichen Situation häufig belegt – so häufig, dass sich verschiedene Kontexte erkennen lassen, in denen die eskapistischen Suizide typischerweise auftreten. Von diesen ist die militärisch aussichtslose Lage des Feldherrn der in den biblischen und neuassyrischen Texten am häufigsten belegte Kontext eskapistischer Suizide. Die oben beschriebenen Ehr- und Schamvorstellungen spielen hier für das suizidale Verhalten eine nicht zu unterschätzende Rolle.6 Um einem schändlichen Tod auf dem Schlachtfeld oder einer schändlichen Behandlung als Gefangener zu entgehen, töten sich insbesondere Anführer in einigen Fällen selbst. Den Texten, die dieses Phänomen beschreiben, gilt in den folgenden Kapiteln unser Augenmerk.

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage A) Selbsttötungen durch das Schwert a) Saul Der zweifellos bekannteste biblische Selbstmord ist derjenige des Königs Saul, einer eminent tragischen Gestalt, denn „interessant geworden ist er dem Glauben 4

Baechler, Tod, 61. Der Suizid als Selbstbestrafung und/oder als Sühne für eigene Sünden ist meines Wissens erst in rabbinischen Quellen belegt (vgl. Avemarie, Lebenshingabe, 171–174; Goldstein, Suicide, 27–29) und liegt möglicherweise auch mit der Selbsttötung von Judas Iskariot vor (Mt 27,3–5; zu diesem Text siehe noch unten das Kapitel über Ahitofel). Diese Fälle sind meines Erachtens nicht allein als eskapistische Suizide zu deuten, weil ihnen ein Sinn über das Fluchtmotiv hinaus zukommt. Sie können daher auch zu den sogenannten aggressiven Suiziden gezählt werden, bei denen der Suizidant mittels seiner Handlung seine Mitmenschen oder sich selbst bestrafen will. Darüber hinaus geht in einigen Quellen mit der Selbstbestrafung die Hoffnung auf Eingang in eine zukünftige Welt einher, weshalb einige dieser Selbsttötungen auch als Passage gedeutet werden können. 6 “One of the important contexts within which much shaming occurred was warfare, and in particular the experience of capture at the hands of an enemy.” (Bechtel, Shame, 63) 5

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

61

doch vor allem als der Gesalbte, der Jahwes Hand entglitten ist, als der von der Bühne Abtretende und als der dem Kommenden Weichende, also als der von Gott Verlassene, als der von einem Wahn in den andern Getriebene und als der Verzweifelte, der zuletzt von einer gnadenlosen Finsternis verschlungen wird. Die Erzählungen begleiten den Weg des unglücklichen Königs bis zuletzt mit einer tiefen menschlichen Anteilnahme und entrollen eine Tragödie, die sich in ihrem letzten Akt zu feierlicher Größe erhebt. Tatsächlich hat Israel nie mehr eine dichterische Gestaltung hervorgebracht, die sich in gewissen Einzelzügen so nahe mit dem Geist der griechischen Tragödie berührt.“7 Von dem Selbstmord dieser ambivalenten und tragischen Gestalt wird in zwei parallelen Fassungen (1 Sam 31 und 1 Chr 10) sowie in einer weiteren Fassung (2 Sam 1) berichtet. Von diesen drei Fassungen ist diejenige von 1 Sam 31,3–6 wohl die bekannteste: 1 Sam 31,3–6: (3) Und schwer wog der Kampf gegen Saul, und es fanden ihn die (gegnerischen) Schützen, Männer8 mit dem Bogen, und er zitterte9 sehr10 vor den Schützen. (4) Da sagte Saul zum Träger seiner Waffen: „Zieh dein Schwert und durchbohre mich mit ihm, damit nicht diese Unbeschnittenen kommen und mich durchbohren11 und ihren Mutwillen mit mir treiben.“ Aber sein Waffenträger wollte nicht, denn er

7

von Rad, Theologie, 323. Zum Tode Sauls als eines tragischen Endes einer tragischen Gestalt vgl. beispielsweise auch Hertzberg, Samuelbücher, 184; Stoebe, Samuelis, 523; Exum/Whedbee, Isaac, 25f; Clemons, Suicide, 17; Hentschel, Saul, 186. Zu Saul als einer tragischen Figur insgesamt vgl. beispielsweise Gunn, Fate; Humphreys, Rise, 78–85; Amit, Balance, 71–74 und jetzt ausführlich Couffignal, Saül; Adam, Saul. 8 ‫ אנשים‬wird in 1 Chr 10,3 ausgelassen. Entweder ist die Formulierung in 1 Sam 31,3 „aus zwei Wahllesarten entstanden“ (Hertzberg, Samuelbücher, 183; vgl. McCarter, I Samuel, 440: “conflation of variants”), so dass entweder ‫ המורים‬oder ‫ מורים אנשים‬zu lesen ist, oder es handelt sich bei ‫ אנשים בקשת‬um eine explikative Apposition zu ‫( המורים‬vgl. Stoebe, Samuelis, 521), so dass der Masoretische Text belassen werden kann. 9 In der LXX lautet der Versteil καὶ ἐτραυματίσθη εἰς τὰ ὑποχόνδρια „Und er wurde am Unterleib verwundet.“ 1 Chr 10,3LXX καὶ ἐπόνεσεν ἀπὸ τῶν τόξων „Und er wurde bedrängt von den Bogenschützen.“ ‫ ויחל‬MT könnte nicht nur von ‫„( חיל‬beben, zittern“), sondern auch von ‫חלה‬ („kraftlos sein“; vgl. 2 Kön 1,2) oder von ‫„( חלל‬durchbohrt sein“) kommen und so einen Schwächeanfall oder eine Verwundung andeuten, vgl. auch 2 Sam 1,6aβ („Und siehe, Saul stützte sich auf seinen Speer.“); 2 Sam 1,9 („Denn ergriffen hat mich der Schwächeanfall.“). Eine Verwundung Sauls durch die Bogenschützen würde sachlich auch in Parallele zu der neuassyrischen Darstellung des assistierten Suizids von Urtak von Elam stehen, der von Pfeilen getroffen einen assyrischen Soldaten um Assistenz bittet (siehe dazu unten das Kapitel über Urtak und Nabûdamiq von Elam). ‫ ויחל‬ist als apokopierte Form von ‫ חלה‬allerdings anderweitig nicht belegt (vgl. Kreuzer/Meiser, Basileion I, 807), und im Fall von ‫ חלל‬blieben sowohl das ‫ מן‬vor ‫ מהמורים‬als auch das ‫מאד‬ unverständlich (vgl. Wellhausen, Text, 147; Stoebe, Samuelis, 521). Die Herausgeber von DJD 17 (2005), Cross u.a., Qumran Cave IV/12, 101f ergänzen den nicht zu entziffernden Abschnitt in 4Q51 in Anlehnung an die Septuaginta durch ‫ויחלו אתו אל המתנים‬. Soll ‫ ויחלו‬von ‫ חלל‬stammen, dann ist die angegebene Form problematisch, denn anderweitig belegt ist sie nicht, und zu erwarten wäre kein Qal, sondern ein Pilel oder Polel. 10 ‫ מאד‬wird in 1 Chr 10,3 ausgelassen. Siehe dazu im Folgenden. 11 In 1 Chr 10,4 fehlt das zweite ‫ודקרני‬. Nach Cross u.a., Qumran Cave IV/12, 101f ist in 4Q51 der Infinitivus absolutus ‫ והתעלל‬zumindest teilweise zu entziffern. Entsprechend nehmen die Autoren an, dass davor ebenfalls der Infinitivus absolutus ‫ ודקר‬gestanden habe. Der Umfang der Textlücke mache es unwahrscheinlich, dass ‫ דקר‬in 4Q51 wie in 1 Chr 10 ausgelassen worden sei.

62

Eskapistische Selbsttötungen

fürchtete sich sehr. Da nahm Saul das Schwert und stürzte sich auf es.12 (5) Als sein Waffenträger sah, dass Saul tot war, da stürzte auch er sich auf sein Schwert und starb mit ihm.13 (6) So starb(en) Saul und seine drei Söhne und sein Waffenträger – auch alle seine Männer an jenem Tag zusammen.

Die Parallelfassung in 1 Chr 10,3–6 ist etwas kürzer und weist einige feine Unterschiede zu 1 Sam 31 auf: 1 Chr 10,3–6: (3) Und schwer wog der Kampf gegen Saul, und es fanden ihn die Schützen mit dem Bogen, und er zitterte vor ihnen.14 (4) Da sagte Saul zum Träger seiner Waffen: „Zieh dein Schwert und durchbohre mich mit ihm, damit nicht diese Unbeschnittenen kommen und ihren Mutwillen mit mir treiben.“ Aber sein Waffenträger wollte nicht, denn er fürchtete sich sehr. Da nahm Saul das Schwert und stürzte sich auf es. (5) Als sein Waffenträger sah, daß Saul tot war, da stürzte auch er sich auf das Schwert und starb. (6) So starb(en) Saul und seine drei Söhne und sein ganzes Haus – zusammen starben sie.

Bevor wir inhaltlich auf die Sinndeutungen in den beiden verschiedenen Texten eingehen, müssen wir zuvor zumindest kurz die beiden parallelen Fassungen text- und literarkritisch vergleichen. In neuerer Zeit mehren sich die Stimmen, die nicht mehr von einer Abhängigkeit des chronistischen Textes von 1 Sam 31 ausgehen, sondern die These von einer gemeinsamen Quelle der beiden Geschichtsbücher wiederbeleben.15 Meines Erachtens begründet der von Craig Ho vorgenommene Vergleich zwischen 1 Sam 31 und 1 Chr 10 zwar nicht die These einer von beiden Geschichtsbüchern unabhängigen Vorläuferquelle,16 aber doch die These, dass die Chronik in 1 Chr 10 auf eine Samuel-Vorlage zurückgreifen konnte, die besser und ursprünglicher als die uns vorliegende zu sein scheint.17 Dennoch arbeitet die Chronik auch einige Änderungen gegenüber ihrer Vorlage in den Text ein. Gehen wir im FolgenDoch die Chronik dürfte hier gegenüber MT und 4Q51 den besseren Text bewahrt haben, siehe dazu im Folgenden. 12 Die sogenannte zweite Chronik der Samaritaner hat hier folgende Ergänzung: “Thus Saul died in his iniquity, for the Lord said in his holy laws through the lord of the prophets Moses, upon him be peace: ‘For your lifeblood I will surely require a reckoning.’” (Übersetzung nach MacDonald, Samaritan Chronicle, 128.) 13 ‫ עמו‬wird in 1 Chr 10,5 ausgelassen. Siehe dazu im Folgenden. 14 1 Chr 10,3LXX καὶ ἐπόνεσεν ἀπὸ τῶν τόξων „Und er wurde bedrängt von den Bogenschützen.“ Siehe dazu oben die entsprechende Anmerkung 9. 15 Vor allem ist hier Ho, Conjectures, zu nennen. 16 Insbesondere die folgenden Punkte sind mir bei Ho, Conjectues, nicht plausibel: Die gegenüber 1 Sam 31,9ff so kohärente Lesart von 1 Chr 10,9ff (“straightforward and coherent”; ebd. 91) zeugt wohl eher von einer späteren Glättung und Angleichung an 1 Sam 16: Der Samuel-Text bewahrt hier eine lectio difficilior. Das Gleiche dürfte auf die beschriebene Verbrennung in Samuel gegenüber dem einzig und allein beschriebenen Begräbnis in der Chronik sowie auf die Konnotation der beschriebenen Bäume zutreffen (die Eiche in der Chronik als “both a holy and royal tree which is fitting for the burial of a king”; ebd. 96). Darüber hinaus ist mir nicht einleuchtend, warum die Auffälligkeiten 1 Sam 31 mit 1 Sam 21 auf eine solche Weise zusammengehen, dass sie “very probably from the same hand” (ebd. 98) stammen, denn das Verbrennen und Vergraben passen hier nicht zusammen (einmal abgesehen davon, dass das Verbrennen in 1 Sam 31 wohl nicht als “sacrilegious to the dead as well as defiling the place where it burnt” [ebd. 95] zu deuten ist). Vgl. auch die Kritik bei Knoppers, Chronicles, 525f und Klein, Chronicles, 283. 17 Nach Knoppers, Chronicles, 517.526 war die Vorlage kürzer, doch ist dieser Ansicht m.E. nicht zu folgen (siehe unten zu 1 Chr 10,5f).

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

63

den die unterschiedlichen Lesarten bezüglich 1 Sam 31,3–6 und 1 Chr 10,3–6 kurz durch. In 1 Chr 10,3 wird ‫ אנשים‬ausgelassen. Entweder ist die Formulierung in 1 Sam 31,3 „aus zwei Wahllesarten entstanden“,18 so dass entweder ‫ המורים‬oder ‫ מורים אנשים‬zu lesen ist, oder es handelt sich – meines Erachtens wahrscheinlicher – bei ‫ אנשים בקשת‬um eine explikative Apposition zu ‫המורים‬,19 so dass in diesem Fall der Masoretische Text von 1 Sam 31,3 als lectio difficilior belassen werden kann. Des Weiteren wird ‫ מאד‬in 1 Chr 10,3 ausgelassen. Hier können sowohl die lectio brevior als auch die lectio difficilior zur Anwendung kommen: Der Chronik-Text ist nicht nur kürzer, sondern der im MT vorliegende Samuel-Text scheint mit ‫ מאד‬die schwierige Lesart verständlicher machen20 und eine Parallele zu ‫ מאד‬in Vers 4 herstellen zu wollen. In 1 Chr 10,4 fehlt ‫ודקרני‬, was wahrscheinlich die ursprünglichere Lesart ist: Im Samuel-Text bezieht sich ‫ התעללו בי‬durch das eingefügte ‫ ודקרני‬auf den Leib des toten Saul. ‫ עלל‬Hitpael bezieht sich jedoch stets auf lebende Personen (vgl. Num 22,29; Ri 19,25; Jer 38,19 mit 2 Kön 25,7; vgl. auch Ex 10,2; 1 Sam 6,6 hinsichtlich des ägyptischen Volkes). Darüber hinaus liegt im Samuel-Text das Problem vor, dass Saul durch seine Selbsttötung die Schändung seines toten Körpers gar nicht verhindern kann (1 Sam 31,8–10).21 Daher ist es wahrscheinlich, dass ‫ ודקרני‬in Parallele zum vorhergehenden Imperativ ‫ודקרני‬, dort gerichtet an den Waffenträger, entweder absichtlich oder durch Augensprung in den Text hineingekommen ist, während sich ‫ והתעללו בי‬ursprünglich auf den Mutwillen am Gefangenen bezogen haben dürfte (vgl. Ri 16,21.25; mit ‫ עלל‬Hitpael insbesondere Ri 19,25; Jer 38,19). 1 Chr 10,4 könnte hier also den besseren Text bewahrt haben. In 1 Chr 10,5 wird ‫ עמו‬ausgelassen. Diese Auslassung lässt sich nun freilich plausibel als chronistische erklären,22 denn sie ist im Zusammenhang mit der Änderung in 1 Chr 10,6 zu verstehen: Hier wird „dynastisch“ erzählt, dass Saul, seine Söhne und sein ganzes Haus sterben, während weder der Waffenträger noch die Männer Sauls aus 1 Sam 31,6 Erwähnung finden.23 Die Auslassung in 1 Chr 10,5 und die Änderungen in 1 Chr 10,6 lassen sich deswegen als chronistische erweisen, weil sie den Fokus allein auf die Dynastie Sauls, auf Sauls Tod und den seines ganzes Hauses, legen, um – typisch für die Ordnung und den Verlauf der Chronikbücher – ohne große „Abschweifungen“ rasch zum unbestrittenen Antritt der Königsherrschaft Davids zu gelangen.24 Um diesen Übergang zu gewähleisten, wird das Ende des gesamtes Hauses Saul – entgegen der Samuel-Vorlage – an dem Geschehen in 1 Chr 10 festgemacht. Entsprechend wird weder der Tod des Waffenträgers noch derjenige der übrigen Männer Sauls explizit mit dem Tod Sauls verbunden, damit die Betonung ganz auf dem ‫ בית שאול‬liegen kann.

Der Kern der Überlieferung des Textes 1 Sam 31 ist in den Versen 2–6 zu finden.25 Vers 1a ist schon in Kenntnis von Kapitel 30 entstanden, denn das Partizip von ‫לחם‬ 18

Hertzberg, Samuelbücher, 183; vgl. McCarter, I Samuel, 440: “conflation of variants”. Vgl. Stoebe, Samuelis, 521. „Da […] eine Apposition das voranstehende Nomen in der Regel spezifiziert, vgl. GK § 131a, muß ‫ בקשת‬notwendig als präpositionelle Näherbestimmung zu ihr gehören, vgl. BroS § 82b.“ (Fischer, Hebron, 27 Anm. 55). 20 Zu den verschiedenen Lesarten siehe oben die textkritische Anmerkung zu 1 Sam 31,3. 21 Zu traditionsgeschichtlichen Parallelen und Unterschieden vgl. Hunziker-Rodewald, Sauls Kopf. 22 Anders Knoppers, Chronicles, 517, der die lectio brevior auf die Auslassungen von ‫ עמו‬in 1 Chr 10,5 und ‫ ונשא כליב‬in 1 Chr 10,6 anwendet. Entsprechend stellt er die These auf, dass “the Chronicler’s source was slightly shorter than MT Samuel. The Chronicler’s Vorlage represents a briefer, typologically more primitive text of Samuel than MT 1 Sam 31.” (526. Hervorgebung im Original) 23 Vgl. dazu Willi, Auslegung, 160; Mosis, Untersuchungen, 22; Knoppers, King, 201. 24 Vgl. dazu Zalewski, Purpose, 460–466; Klein, Chronicles, 286; Bezzel, Saul, 100 mit Anm. 81. 25 Vgl. ähnlich Adam, Saul und David, 83; Klein, David versus Saul, 185f. Die These von einer ursprünglich eigenständigen Saulüberlieferung, zu der auch 1 Sam 31* gehört haben mag (*1 Sam 9–11; 13–15; 28; 31), wird hier nicht mehr vertreten. Vgl. zu dieser These beispielsweise Humphreys, Rise. Zur älteren Forschung vgl. Dietrich, David-Saul-Geschichte (Lit.); Hentschel, Saul, 16–20. Zu differierenden Positionen vgl. beispielsweise Dietrich, Königszeit, 229–273; Kratz, Komposition, 174–193. 19

64

Eskapistische Selbsttötungen

soll Gleichzeitigkeit mit dem dort berichteten Geschehen anzeigen und an Kapitel 29 anknüpfen, während Vers 1b das in 1 Sam 31 folgende Geschehen vorausnehmend zusammenfasst.26 So könnte Vers 2 ursprünglich direkt an 1 Sam 29,1.11b angeschlossen haben. Die eigentliche Erzählung vom Tod Sauls folgt in den Versen 2–6. Ob Vers 2b tatsächlich sekundär ist, weil er die Söhne Sauls namentlich zu nennen bestrebt ist,27 kann nicht sicher erwiesen werden; ebensogut kann der Versteil zur ursprünglichen Überlieferung gehören. Vers 6 schließt den Bericht über den Tod Sauls überzeugend ab, während Vers 7 den Blick über das Kampfesgeschehen hinaus mit der Nennung und Handlung neuer Subjekte auf die weitreichenden siedlungsgeschichtlichen Folgen lenkt.28 Die Verse 8–10 und 11–13 fokussieren zwar gegenüber Vers 7 wieder auf das konkrete Geschehen um Saul, doch dürften auch sie Ergänzungen darstellen, denen es um das Geschick der Leiche Sauls und um intertextuelle Bezüge insbesondere zu 2 Sam 21 geht: Während in den Versen 1–7 Saul zumindest nicht negativ dargestellt wird und sich der schändlichen Gefangennahme durch Selbtmord entziehen kann (siehe dazu im Folgenden), berichten die Verse 8–10 von der Schändung der Leiche Sauls.29 Darüber hinaus ist zum einen nicht einsichtig, warum die Philister nicht sofort, sondern erst am nächsten Morgen mit der Plünderung beginnen.30 Zum anderen besteht eine Spannung dahingehend, dass in Vers 3 die Bogenschützen Saul gefunden haben, aber in Vers 8 der tote Saul erst am nächsten Morgen gefunden wird.31 So scheint Vers 8 in Kenntnis von Vers 7 mit ‫ ויהי ממחרת‬einen Neuanfang fomulieren zu wollen, der den Fokus erneut auf das Schlachtfeld lenkt. Die Verse 11–13 scheinen eine Ergänzung darzustellen, die im Zusammenhang eines weiterreichenden Erzählfadens das Geschick des Hauses Sauls an dessen Grabtradition festmacht und eine Verbindung zu 2 Sam 21,1–14 knüpft.32 In der ursprünglichen Fassung über die Selbsttötung Sauls in den Versen *1–7 wird die situative und kulturelle Sinndimension des Geschehens von Saul selbst bzw. von den Schreibern seiner Geschichte angegeben, so dass eine Aufmerksamkeit auf den Text diese Sinndimension erschließen kann. Saul verlangt in äußerster militärischer Bedrängnis von seinem Waffenträger assistierten Suizid durch das Schwert.33 Die anschließende Begründung Sauls klärt über die kulturelle Sinndimension des Geschehens auf, die vor allem auch dann besser verständlich wird, 26

Ähnlich argumentiert Klein, David versus Saul, 186. Vgl. Adam, Saul und David, 83 im Anschluss an Vermeylen, Loi, 178–183. In diesem Fall dürfte auch ‫ שלשת‬Vers 6 sekundär sein. 28 Anders Klein, David versus Saul, 186, der Vers 7 zum „natürliche[n] Pfeiler in V4f.7“ zählt. 29 Ähnlich argumentiert Klein, David versus Saul, 185f. 30 Vgl. Cartledge, Samuel, 342. 31 Vgl. Klein, David versus Saul, 185f; Cartledge, Samuel, 342. 32 Vgl. Adam, Saul und David, 83. Vgl. auch ebd. 84f mit den Anm. 249 und 251. Anders neuerdings Bezzel, Saul, 126–131, der die Verse 8–9aLXX.10b–13 mit zur Grundschicht zählt. 33 Zum Selbstmord des Waffenträgers vgl. ausführlich unten das Kapitel über die neuassyrischen und biblischen Gefolgschaftstode. Der Waffenträger gilt als Vertrauensperson, wie unter anderem auch schon sprachlich das ‫ אמר ל־‬anstelle eines ‫ אמר אל־‬zum Ausdruck bringt, vgl. dazu Jenni, Semantische Gesichtspunkte, 134–139; ders., Rede, bes. 55.64. Zur literarischen Funktion des Waffenträgers vgl. ausführlich unten im Kapitel über Simson die textpragmatischen Überlegungen zum ‫נער‬. 27

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

65

wenn weitere biblische und altorientalische Parallelen34 herangezogen werden: Saul begründet sein Verlangen mit einem sinnerschließenden negativen Finalsatz (‫)פן־‬, der zeigt, dass der assistierte Suizid nur deshalb bevorzugt wird, um einem anderen Übel zu entgehen: „damit nicht diese Unbeschnittenen kommen und ihren Mutwillen mit mir treiben.“35 Der Ausdruck „die Unbeschnittenen“ (‫ )הערלים‬ist hier ebenso wie in den meisten Texten der Vorderen Prophetenbücher ein Schimpfwort für die Philister, das die schmähende Abgrenzung vom Feind durch das ethnische Unterscheidungsmerkmal der Beschneidung anzeigt (vgl. Ri 14,3; 15,18; 1 Sam 14,6; 17,26.36; 2 Sam 1,20).36 Der negative Finalsatz mit ‫ פן־‬zielt wie in den meisten anderen Fällen so auch hier darauf ab, „eine Befürchtung oder Besorgnis auszudrücken“,37 wobei in unserem Fall das Regens von ‫ – פן־‬also ein Ausdruck des Fürchtens oder Fürsorgens – „nur virtuell in dem übergeordneten Satz enthalten“38 ist. Ziel ist das Verhüten von etwas, das im vorliegenden Finalsatz mit dem Verb ‫ עלל‬Hitpael formuliert wird, das sich auf Saul (‫ )בי‬als Objekt der Handlung bezieht. Das Verb ‫ עלל‬Hitpael bezeichnet das mutwillige Treiben, mit dem jemand einem anderen übel mitspielt: So wie Gott an den Ägyptern nach Gutdünken handelt39 und ihnen übel mitspielt (Ex 10,2; 1 Sam 6,6), so treibt die Eselin – nach Bileams Ansicht – ihren Spott mit dem Propheten. Eine ganz ähnliche Befürchtung, wie sie in 1 Sam 31,4 zum Ausdruck kommt, wird in Jer 38,19 ebenfalls durch die Verbindung zwischen ‫פן‬-Satz und ‫ עלל‬Hitpael formuliert – wobei in diesem Fall ein Verb des Fürchtens (‫ )דאג‬explizit Verwendung findet. In diesem Text teilt der König Zidkija folgende Besorgnis dem Propheten Jeremia mit: Jer 38,19: Ich fürchte die Judäer, die zu den Chaldäern übergelaufen sind, dass sie mich nur ja nicht in ihre Hand geben und sie ihren Mutwillen mit mir teiben!

Dieselbe Befürchtung, die Saul zu seiner Tat antreibt, bewegt auch Zidkija, wenn er von der Sache her dasselbe Motiv für seine Angst wie Saul nennt: „Die Angst, die der nach der verlorenen Schlacht in die Enge getriebene König Saul vor den Philistern, seinen Feinden hat, kommt nun jener gleich, die Zidkija gegenüber einer Gruppe seines eigenen Volkes empfindet“.40 Da sich ‫ עלל‬Hitpael stets auf lebende Personen bezieht, dürfte sich auch die Formulierung ‫ התעללו בי‬in 1 Sam 31,4 (= 1 Chr 10,4) auf den lebenden Saul als Gefangenen der Philister beziehen: Saul fürchtet, lebend in die Hand der Philister zu fallen, so dass diese ihren Mutwillen mit ihm treiben können. Selbst wenn also das ‫ דקרני‬in 1 Sam 31,4 ursprünglich sein sollte,41 dürfte es keinen Tötungsakt, sondern 34 Zu den besonders engen Parallelen Ri 9,54 und Asb. A VII 28–37 siehe die anschließenden Kapitel über Abimelech und Nabûbēlšumāti. 35 Zur der textkritischen Auslassung in diesem Vers siehe oben in diesem Kapitel. 36 Vgl. Mayer, ‫ערל‬, 385. 37 GK § 152w. 38 GK § 152w. 39 Vgl. dazu Roth, ‫עלל‬, 154. 40 Fischer, Jeremia 26–52, 340. Hervorhebung im Original. 41 Wahrscheinlich ist es jedoch durch einen Augensprung dobbelt in 1 Sam 31,4 hineingekommen, zumal das zweite Vorkommen in 1 Chr 10,4 fehlt. Siehe dazu oben in diesem Kapitel.

66

Eskapistische Selbsttötungen

ein mutwilliges Treiben im Blick haben, das auch an der Schändung des lebenden Körpers nicht halt macht. Diese Leseweise wird durch weitere Texte unterstützt, die zum Teil ebenfalls mit ‫ עלל‬Hitpael formuliert sind: Nach Ri 19,25 muss die Nebenfrau des Leviten am lebendigen Leib Vergewaltigung und Schändung (formuliert mit ‫ עלל‬Hitpael; vgl. auch den Ausdruck „Schandtat“ ‫ נבלה‬in den vorhergehenden Versen 23f) erleiden.42 Die oben zitierte Befürchtung Zidkijas nach Jer 38,19 (dort formuliert mit ‫ עלל‬Hitpael) bewahrheitet sich in 2 Kön 25,5–7 bzw. Jer 52,11, wo Zidkija tatsächlich lebend in die Hände der Chaldäer fällt. Die Folge ist, dass er geblendet und in die Verbannung geführt wird, nachdem man seine Söhne vor seinen Augen getötet hat.43 Dass die biblischen Schreiber auch den Philistern derartigen Mutwillen zuschrieben, lässt sich an Simson erkennen, dem die Philister nach Ri 16,21.25 die Augen ausstechen, zu Frauenarbeit mit der Handmühle zwingen und als unfreiwilligen Clown missbrauchen.44 „Saul hat Angst davor, das Los Simsons teilen zu müssen, der den Philistern zur Belustigung diente.“45 Aus allen diesen Parallelen dürfte deutlich werden: Die Befürchtung Sauls bezieht sich auf das mutwillige Treiben der Philister am Gefangenen: “The wounded Saul expects abuse or mischief at the hands of his victorious enemies.”46 In militärisch auswegloser Lage bittet Saul seinen Waffenträger, ihn zu töten, um nicht dem Mutwillen der Sieger am gefangenen Anführer ausgeliefert zu sein. Erst als der Waffenträger sich weigert, zieht Saul es vor, sich lieber durch das Schwert selbst zu töten, als lebend in die Hände der Erzfeinde zu fallen.47 Die engste Parallele hierzu stellt neben dem 42

Vgl. dazu Groß, Richter, 837–840. Nach Jer 52,11LXX muss Zidkija ähnlich wie Simson (vgl. Ri 16,21) entehrende Frauenarbeit im Mühlhaus Babylons verrichten; vgl. Fischer, Jeremia 26–52, 644; Groß, Richter, 726. 44 „Der leidende und gefolterte Simson wird in Parallele zum ersten und zum letzten König Israels geschildert.“ (Groß, Richter, 726) Zu Simsons Selbsttötung siehe ausführlich unten das entsprechende Kapitel. 45 Berges, Verwerfung Sauls, 256. „Er will weder die Schande noch die Qual erleben, die damit verbunden ist, wenn man, wie Simson, in die Hände der ‚Unbeschnittenen‘ fällt.“ (Herzberg, Samuelbücher, 185) Vgl. auch Tsumura, Samuel, 651: “Saul did not want the uncircumcised Philistines either to shame him or to torture him, as they had done with Samson; so, he ordered his armorbearer to kill him.” (Hervorhebung im Original) 46 Auld, I & II Samuel, 349. Darüber hinaus liegt in unserem Fall das Problem vor, dass Saul durch seine Selbsttötung die Schändung seines toten Körpers nicht verhindern kann (vgl. 1 Sam 31,8–10; zu traditionsgeschichtlichen Parallelen und Unterschieden vgl. Hunziker-Rodewald, Sauls Kopf). Auch dieser Aspekt spricht dafür, dass sich die Befürchtung Sauls auf seine Behandlung als Gefangener, nicht auf die Behandlung seines Leichnams bezieht. 47 Nach Meier, Sword, wendet sich damit das Schwert Sauls gegen diesen selbst: “it is his own sword that brings death to himself. […] The king and his armor bearer are both victims of their own swords.” (ebd. 160) Meier kommt zu dieser Ansicht, weil er im Vorhergehenden einige Fälle auflistet, in denen eine Waffe gegen seinen Träger gerichtet wird, wie beispielsweise im Falle Goliaths, dem David mit dessen eigenem Schwert den Kopf abschlägt (1 Sam 17,51). Meier folgert daraus für einige biblische Berichte über Selbsttötungen: “If one hazards a guess that some of these suicides echo the notion of a weapon coming back to haunt its owner, one finds the guess not far from the mark.” (ebd. 159) In 1 Sam 31 wird jedoch nicht die Waffe von einem Dritten gegen ihren Herren gerichtet, sondern Saul und sein Waffenträger richten ihre eigenen Waffen gegen sich selbst. Saul und sein Waffenträger sind deshalb auch nicht (wie beispielsweise Goliath) passive “victims of their own swords”, sondern aktiv Handelnde, die in der Lage sind, das durchzusetzen, was sie erstreben. 43

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

67

Tod auf Verlangen bei Abimelech (Ri 9,53f)48 ein neuassyrischer Text dar (Asb. A VII 28–37), in dem der chaldäische Anführer Nabûbēlšumāti sich aus Furcht vor assyrischer Gefangenschaft von seinem Knappen töten lässt.49 Die Selbsttötung Sauls enthält weder eine „negative Note“50 noch wird sie heroisiert,51 sondern ohne weitere Bewertung als eskapistischer Akt geschildert,52 der notwendig erscheint, um einem größeren Übel zu entgehen: Sauls Selbsttötung selbst ist nicht schändlich; vielmehr soll Schande durch den Akt der Selbsttötung gerade abgewendet werden. Es ist die Tragik des Geschehens, die den König zur Abwehr von Schande zum Suizid treibt. „In letzter Konsequenz fordert die Absolutheit des Tragischen den Selbstmord.“53 Auf der Ebene der Gesamtkomposition der Saulüberlieferung kann Sauls Scheitern als König und Gesalbter sowie sein Tod auf dem Schlachtfeld zwar als Ausdruck und Folge der Verwerfung Gottes angesehen werden (vgl. besonders 1 Sam 28,16–19), doch die Art seines Todes, seine Selbsttötung, ist davon nicht betroffen. Sie dient auf der Ebene von 1 Sam 31 – ohne negative Beurteilung und ohne Bezugnahme auf 1 Sam 2854 – als Abwehr von Schande und zur Wahrung der eigenen Die suizidale Handlung Sauls ist deshalb besser durch das oben beschriebene Ehrgefühl zu verstehen als durch die mystische Subjektivierung seines Schwertes. 48 Siehe dazu unten das anschließende Kapitel über Abimelech. 49 Siehe dazu unten das entsprechende Kapitel über Nabûbēlšumāti. Auf die Selbsttötung der Knappen Sauls und Nabûbēlšumātis wird in einem eigenen Kapitel ausführlicher eingegangen. Siehe dazu unten das Kapitel über die neuassyrischen und biblischen Gefolgschaftstode. 50 So Berges, Verwerfung Sauls, 255 und Wright, Making a Name, 149f aufgrund der Parallele in Ri 9,54. Nach Berges stirbt Saul „auf schmachvolle Weise“ (ebd. 258), nach Wright “in the same wretched manner as Israel’s first failed king, Abimelech” (ebd.). Zu beachten ist aber, dass die Selbsttötung Abimelechs (siehe dazu ausführlich unten das entsprechende Kapitel) keineswegs in sich schändlich ist, sondern vielmehr die schändliche Folge ohne Selbsttötung verhindern will (vgl. 2 Sam 11,21, wo die Selbsttötung keine Rolle spielt). Außerdem ist beim „Wie seines Todes“ (Berges, Verwerfung Sauls, 258) zwischen dem Akt des Sterbens und der Behandlung des Leichnams zu unterscheiden. 51 So beispielsweise jedoch Adam, Suizid, 378: „Sauls Suizid ist eine Variante des heroischen, ehrenhaften Todes“. Vgl. auch Preston, Heroism, 37f, der Sauls Selbsttötung “for a noble reason” als heroisch-militärischen Tod auf dem Schlachtfeld von dem völlig unheroischen (“very unheroic”) Tod des alten und schwachen David abgrenzt, sowie Mobley, Glimpses, 80, der Sauls Tod als “heroic death on the heights of Gilboa” bezeichnet. Deutlich heroischer wird die Gestalt Sauls insgesamt und auch sein Suizid bei Josephus geschildert, vgl. Feldman, View; ders., Interpretation, 509–536; Begg, Death. Zur positiven Darstellung Sauls in den rabbinischen Texten vgl. Liss, King. 52 Die Bewertung des Geschehens als „völlig säkular“, weil Gott in 1 Sam 31 bzw. 1 Chr 10,1– 12 „kein einziges Mal erwähnt“ wird (Japhet, 1 Chronik, 235; zu 1 Chr 10,13f siehe unten), trifft die Sache nicht, weil eine säkulare Dimension im Alten Israel nicht zu erkennen ist. Die Selbsttötung Sauls wird nicht weiter religiös bewertet, vielmehr wird anscheinend ein Verständnis wie selbstverständlich vorausgesetzt, ist aber deswegen nicht säkular. 53 Steiner, Absolute Tragödie, 97. Der Tod Sauls kann nach Krauss/Küchler, Saul, 253 nicht als Selbstmord bezeichnet werden: „Angesichts der aussichtslosen Situation des schwerverwundeten Saul kann von einem Selbstmord kaum die Rede sein.“ Hier stehen anachronistische Freitod-Prämissen im Hintergrund. 54 Darüber hinaus würde man nach 1 Sam 28,19 eher erwarten, dass Saul durch die Hand der Philister fällt (vgl. Firth, Samuel, 313).

68

Eskapistische Selbsttötungen

Ehre. Dies ändert sich erst in der Parallelfassung 1 Chr 10,55 die den Selbstmord mit in die negative Bewertung Sauls einzuschließen scheint und damit den Weg für spätere, insbesondere christliche Interpretationen freimacht, die den Selbstmord als Ausdruck der Verwerfung und Strafe Gottes betrachten. Während die Selbsttötung Sauls in 1 Sam 31,4f angesichts der zu erwartenden Schändung des Gefangenen geschieht, kann Saul nach den (späteren) Versen 11–13 der Schändung seines Leichnams auch durch den Akt der Selbsttötung nicht entgehen.56 Das Abschlagen des Kopfes als Siegestrophäe vollzieht schon David am Philister Goliath (1 Sam 17,46.51.54.57; vgl. 2 Sam 4,7), nun müssen die Israeliten diese Schändung am Leichnam ihres Königs durch die Hand der Philister erfahren (vgl. insbesondere noch 1 Chr 10,10). In neuassyrischen Quellen stellt der abgeschlagene Kopf des Feindes, insbesondere eines gegnerischen Anführers, eine der bedeutsamsten Siegestrophäen dar, mit denen die Soldaten ihren Herren eine Freudenbotschaft überbrachten (vgl. die Formulierung mit ‫ בשר‬in 1 Sam 31,9). Régine Hunziker-Rodewald hat auf die Reliefs Assurbanipals in Niniveh verwiesen, auf denen der Sieg über den elamischen Fürsten Te-Umman eine motivgeschichtliche Parallele zu 1 Sam 31,8–10 darstellt.57 Auf diesen Reliefs wird unter anderem ikonographisch festgehalten, wie assyrische Soldaten Te-Umman den Kopf abschlagen und diesen mit der Eile des Freudenboten zu Assurbanipal bringen.58 Während in den neuassyrischen Quellen das Abschlagen des Kopfes aus der Perspektive der Sieger dargestellt wird, wird in 1 Sam 31,8–1059 das Abschlagen des Kopfes und die weitere Schändung des Leichnams aus der Sicht der Verlierer geschildert,60 so dass die Handlung der Jabeschiten in den anschließenden Versen 11– 13 als Heldentat erscheint, mit der sie ihrer Schuldigkeit gegenüber Saul nachkommen (vgl. 1 Sam 10,27–11,15) und Saul ein ehrenhaftes Begräbnis61 zukommen lassen – ein Akt, den David schließlich in 2 Sam 21,11–14 zu seinem Ende führt. 55

Zu 1 Chr 10 siehe ausführlicher unten in diesem Kapitel. “The one blow that he can still strike the enemy is that he can deprive them of a living Saul, but that has little effect on the fact that the Philistines track him down and ignominously mutilate his corpse.” (Fokkelman. Narrative Art, 627) 57 Vgl. Hunziker-Rodewald, Sauls Kopf. 58 Siehe dazu ausführlich unten das Kapitel über Urtak und Nabûdamiq von Elam. 59 Nach 1 Chr 10,9 wird der Kopf (‫ )ראש‬Sauls mitgenommen und nach 1 Chr 10,10 eben dieser Kopf (‫ )גלגלת‬im Dagontempel aufgehängt. Damit zieht der Verfasser der Chronik eine Parallele zum Aufstellen der Lade im Dagontempel nach 1 Sam 5, aber auch zu den beiden Köpfen (‫ )גלגלת‬Abimelechs und Isebels nach Ri 9,53 und 2 Kön 9,35 (vgl. Berges, Verwerfung Sauls, 278–280). 60 Auch der Blick der Sieger auf den kopflosen Rumpf ist auf den neuassyrischen Reliefs häufig zu finden und stellt daher nicht per se die Perspektive der Verlierer dar, wie Hunziker-Rodewald, Sauls Kopf, 285.294 annimmt. 61 Das Verbrennen des Leichnams stellt in diesem Fall keine unehrenhafte Handlung dar, die beispielsweise Saul mit Achan in Verbindung bringe (so Berges, Verwerfung Sauls, 257; vgl. aber auch Lev 20,14; Am 2,1): „Es geht nicht um vollständige Verbrennung, was einer Verunehrung des Verstorbenen gleichgekommen wäre, sondern um eine teilweise; die Knochen werden beigesetzt. Der genaue Vorgang des Rituals ist unbekannt. Jedenfalls erhält Saul alle Riten, die ihm gebühren – einschließlich einer siebentätigen Trauerzeit mit Fastenverpflichtung. So ist dem toten König doch noch alle Ehre erwiesen, die ihm zukommt.“ (Stolz, Samuel, 184) Ähnlich argumentieren beispielsweise auch Herzberg, Samuelbücher, 186; Gunn, Fate, 111. Fokkelman, Narrative Art, 629 nimmt 56

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

69

Während die Selbsttötung Sauls im Buch Samuel nicht negativ bewertet wird, sondern als eskapistische Handlung zur Verhinderung von Folter und Schändung verständlich wird, tritt dieser Interpretation in der Chronik eine andere Bewertung entgegen. Nachdem die Chronik im Wesentlichen ähnlich wie der Samuel-Text, aber doch mit einigen Varianten62 über den Tod Sauls berichtet hat, bewertet die nur in der Chronik vorliegende Schlussnotiz den Tod Sauls folgendermaßen: 1 Chr 10,13f: (13) So starb Saul durch seine Untreue, die er begangen hatte gegen den Herrn, und wegen des Wortes des Herrn, das er nicht bewahrt hatte, und auch weil er den Totengeist befragt hatte, um Rat zu suchen – (14) aber Rat gesucht beim Herrn hatte er nicht. So ließ er ihn sterben und übergab das Königtum David, dem Sohn Isais.

In dieser Endnotiz liefert der Chronist gleich eine Fülle an Gründen und negativen Bewertungen in Bezug auf den Tod Sauls. Vor allem geht es um eine theologische Deutung des Geschehens.63 Gleich zu Beginn lautet der zentrale Begriff zur Bewertung des Geschehens ‫„ מעל‬Untreue“, die explizit als Untreue gegenüber Gott verstanden wird.64 Hier wird eine negative Ursache zur Begründung des Todes Sauls gegeben – womit nicht nur der Tod, sondern auch die Art des Todes durch Selbstmord in schlechtem Licht erscheint. Der Begriff ‫„ מעל‬Untreue“ bezeichnet nicht nur – wie sonst üblich65 – eine einzelne konkrete Handlung des Ungehorsams, sondern das Verhältnis Sauls zu Gott insgesamt, das als eines der Treulosigkeit charakterisiert wird. Dieser Begriff wird mit den beiden folgenden allgemeinen Formeln genauer gekennzeichnet: Wenn Saul das Wort Gottes nicht beachtet habe und Gott nicht gesucht habe, dürften die in der Chronik nicht weiter aufgenommenen, aber vorausgesetzten Texte des ersten Samuelbuches insgesamt im Blick sein, in denen Sauls Ungehorsam zum Ausdruck kommt (vor allem 1 Sam 10; 13; 15; 28), weniger um eine einzelne der dort angeführten konkreten Handlungen zu beurteilen, sondern um Sauls Gottesverhältnis insgesamt negativ zu bewerten.66 Erst im Folgenden wird an, die Kremation “provided purification, an essential before the material remains of the house of Saul could properly be laid to rest in the earth.” (ähnlich auch Cartledge, Samuel, 343) Zur Kremation in Phönizien und Palästina aus archäologischer Sicht vgl. Kamlah, Grab, 289f (Lit.). 62 Siehe dazu oben in diesem Kapitel. 63 Diese Deutung hat möglicherweise zusammen mit der insgesamt merkwürdig erscheinenden Aufnahme von Kapitel 10 in die Chronik die zeitgeschichtliche Funktion, die Benjaminiten in der späten Perserzeit in Jehud mit einzubeziehen, allerdings unter judäischer Vorherrschaft (vgl. dazu Jonker, Saul Narrative). 64 Nach einer fragmentarischen Tontafelinschrift aus dem British Museum mit einem Text, der sich auf den Nachfolgeeid Assarhaddons aus dem Jahre 672 v.Chr. bezieht (SAA II 6), wird Selbsttötung als eine der Straffolgen bei Eidbruch genannt: “May Aššur, (Lord) Crown, Anu and Antu deliver him into the king’s hands, may […], may his own sword make an end of him.” (SAA II 14, II 16–18. Übersetzung nach Parpola/Watanabe, Treaties, 78) Hier tritt erneut eine Parallele zwischen den biblischen Texten über den Tod Sauls und neuassyrischen Texten des 7. Jahrhunderts v.Chr. in Erscheinung, auf die in den folgenden Kapiteln noch näher einzugehen ist. 65 Vgl. Ringgren, ‫מעל‬. 66 Japhet, 1 Chronik, spricht von einem allgemeinen „Aufgeben Gottes“; Mosis, Untersuchungen, 28–43 spricht sogar von paradigmatischen Bewertungen, mit denen „eine ‚urgeschichtliche‘ Situation Israels und seines Königs“ angesichts der Erfahrungen des Exils vorgeführt werden soll (ebd. 41f). Dennoch dürften die Handlungen Sauls, wie sie im Samuelbuch berichtet werden, ins-

70

Eskapistische Selbsttötungen

diese allgemeine Charakteristik des Gottesverhältnisses an der Totenbefragung Sauls (1 Sam 28) spezifiziert.67 Die Folge dieses Ungehorsams ist, dass zum ersten Mal im gesamten Text 1 Chr 10 (wiewohl überhaupt nicht in 1 Sam 31) Gott explizit als Subjekt ins Spiel kommt, der nach der Formulierung mit ‫ מות‬Hifil in Vers 14 Saul sterben lässt bzw. sogar selbst tötet.68 Nur hier in 1 Chr 10 also, nicht jedoch schon in 1 Sam 31, kann der Tod Sauls negativ und verurteilend als Folge von Sauls Treulosigkeit und „Gottverlassenheit“69 interpretiert werden. Dies schließt nach 1 Chr 10,14 die Art des Todes deswegen ein, weil die Formulierung „so ließ er ihn sterben“ auf die Verse 4f zurückverweist70 und es hiernach bei der Selbsttötung letztendlich Gott selbst ist, der an Saul Hand anlegt. Damit wird in diesem Fall die Art des Todes nicht etwa aus der Bewertung ausgenommen, sondern vielmehr eingeschlossen: “That is to say that taking his own life is explained as an act of the Lord, as a punishment for his sins.”71 Die Gottverlassenheit Sauls kommt eben auch in seiner Selbsttötung zum Ausdruck, durch die JHWH seinem treulosen König den Tod gibt. Der Selbstmord Sauls ist nach der Chronik kein eigenständig gewählter und durchgeführter Akt, sondern durch Gott bewirkt als Strafe für Sauls Sünden. Während der Selbstmord Sauls in 1 Sam 31 nicht als solcher negativ gewertet wird, sondern der Wahrung der eigenen Ehre auch noch im Scheitern auf dem Schlachtfeld dient, so wird er in 1 Chr 10 zu einem Ausdruck der Sünde und Strafe Gottes: 1 Chr 10 “becomes an anti-Saul document, depicting his death as God’s punishment on a leader who strayed.”72

gesamt vorausgesetzt sein: “the root m‘l in 1 Chr. x 13 must be interpreted against the background of Saul’s sins as described in Samuel” (Zalewski, Purpose, 452). Chr dürfte demnach beides im Sinn haben (vgl. Berges, Verwerfung Sauls, 281f), nämlich Sauls Fehlhandlungen aus den Samuelbüchern voraussetzen und auf eine generelle Verworfenheit Sauls abheben. “In any case, it is pertinent that Saul dies in his transgression.” (Knoppers, King, 203) 67 Zu den Differenzen zwischen 1 Sam 28 und 1 Chr 10 siehe Mosis, Untersuchungen, 40f. 68 “There is general agreement among exegetes that the unidentified subject of the Hebrew verb is Yahweh.” (Jonker, Saul Narrative, 287) Vgl. auch 1 Chr 10,14LXX (ἀπέκτεινεν αὐτὸν). 69 Bezeichnenderweise wird das Weichen des Gottesgeistes von Saul und Simson gleichlautend mit der Präposition ‫ מעל‬formuliert (Ri 16,20; 1 Sam 28,15f) und auch so die Gottverlassenheit Sauls in 10 Chr 10,13 zum Ausdruck gebracht. Olyan, Disability, 70f, diskutiert zwar weder den Selbstmord Sauls noch die Unterschiede zwischen Samuel und Chronik oder die Frage nach einer dämonischen Besessenheit Sauls (siehe dazu im Folgenden), nimmt aber bei seiner Diskussion über Sauls “mental disability” auf Ex 4,11 Bezug, “where physical disabilities such as muteness, deafness, and blindness are also traced to the deity, and other texts which assert that Yhwh is responsible for conditions such as ‘skin disease.’” 70 Ähnlich Zalewski, Purpose, 463; der Bezug ist jedoch an der Verwendung des Verbs ‫ מות‬festzumachen (Verse 4f), weniger am „Fallen auf das Schwert“ (Vers 4). 71 Zalewski, Purpose, 463. Ähnlich auch Klein, Chronicles, 291: “Saul’s defeat by the Philistines and his suicide, therefore, are transformed into Yahweh’s act of judgment upon him.” 72 Amit, Saul Polemic, 649. Diese Sichtweise ähnelt auch derjenigen der Samaritaner: Die sogenannte zweite Chronik der Samaritaner, die das Israel Sauls tendenziell abzuwerten bedacht ist, fügt in ihrem Text ebenfalls in Ergänzung zu 1 Sam 31 eine negative Ursachenerklärung hinzu: “Thus Saul died in his iniquity, for the Lord said in his holy laws through the lord of the prophets Moses, upon him be peace: ‘For your lifeblood I will surely require a reckoning.’” (Übersetzung nach MacDonald, Samaritan Chronicle, 128)

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

71

Neben diesem Aspekt tritt ein weiterer hervor: Die Chronik fokussiert in dem zusammenfassenden Vers 6 auf den Tod des gesamten Hauses Saul und lässt deshalb sowohl den Tod des Waffenträgers als auch die „Mannen Sauls“ aus 1 Sam 31,6 fort, was aus der Sicht der Chronik bedeutet: „Nach der Niederlage am Gilboa war kein lebender [saulidischer; J.D.] Anwärter auf Sauls Königswürde mehr übrig“73 – und somit der Weg frei für die davidische Dynastie, was in Vers 14 noch weiter ausgebaut wird: Indem Gott selbst den Tod Sauls und seines ganzen Hauses herbeiführt, wird David von jeder Blutschuld an Saul und den Sauliden entlastet.74 Diese chronistischen Ergänzungen sind auch deswegen wichtig, weil die Chronikbücher den Paralleltext 2 Sam 1 auslassen, der in den Samuelbüchern eine Funktion übernimmt, die in der Chronik den Versen 13f zukommt, nämlich David von jeder Blutschuld am Tod Sauls zu entlasten. 2 Sam 1 präsentiert einen weiteren – anderen – Bericht vom Ende Sauls. Nach diesem Text kommt ein Amalekiter als Bote zu David nach Ziklag und berichtet ihm Folgendes über das Kampfesgeschen auf dem Gebirge Gilboa (Verse 6–10): 2 Sam 1,6–10: (6) Da sagte der junge Mann, der ihm berichtete: Ich kam zufällig auf das Gebirge Gilboa, und siehe: Saul lehnte sich auf seinen Speer, und siehe: Die (gegnerischen) Streitwagen und die Reiter holten ihn ein. (7) Da wandte er sich um und sah mich, und er rief zu mir und ich sagte: „Hier bin ich.“ (8) Da sprach er zu mir: „Wer bist du?“ Und ich75 sagte zu ihm: „Ein Amalekiter bin ich.“ (9) Und er sprach zu mir: „Tritt doch zu mir und töte mich, denn ergriffen hat mich der76 Schwächeanfall77, obwohl78 meine Lebenskraft noch vollständig79 in mir ist.“ (10) Da trat ich zu ihm und ich tötete ihn, denn ich sah, dass er nicht weiterleben würde nach seinem Fall. Und ich nahm das Diadem, das auf seinem Haupt war, und einen80 Armreifen, der sich an seinem Arm befand, und ich brachte sie zu meinem Herrn hierher.

Dieser Bericht ist wahrscheinlich nicht einheitlich, sondern stellt ursprünglich eine kohärente Fortsetzung von 1 Sam 31 dar, die später durch Verse, die den Fokus auf Davids Unschuld an Sauls Tod legen, erweitert wurde.81 Die ursprüngliche Fassung

73

Japhet, 1 Chronik, 231. So beispielsweise auch Zalewski, Purpose, 463. 75 Lesung nach Qere. 76 Der Artikel sollte auch im Deutschen – obwohl es merkwürdig klingt – mit übersetzt werden, denn er hat möglicherweise Sinn und Bedeutung; siehe dazu im Folgenden. 77 Zu der Übersetzung und Interpretation von ‫ שבץ‬siehe im Folgenden. 78 „Das ‫ כי‬kennzeichnet entweder einen obwaltenden Gegensatz, vgl. BroS § 134a, oder die Einführung eines Konzessivsatzes, vgl. Koh 4,14 und GK § 160b; BroS § 167 mit dem Hinweis, daß die Konjunktion ‫ כי‬auch ohne die Verstärkungspartikel ‫ גם‬konzessiven Sinn tragen kann.“ (Fischer, Hebron, 29 Anm. 61) 79 Einige Lesarten besonders der Septuaginta lassen entweder ‫ כל‬oder ‫ עוד‬aus. Doch angesichts der ebenfalls emphatischen Leseweise in Hi 27,3 lassen sich die Auslassungen als „Erleichterungen“ des Textes verständlich machen (so beispielsweise auch Stoebe, Samuelis, 85). 80 Das Wort steht ohne Artikel, wahrscheinlich nicht weil der Artikel versehentlich ausgelassen wurde, sondern weil dem Armreifen nicht die Bedeutung des Diadems zukommt (anders beispielsweise Wellhausen, Text, 150). LXX liest τὸν χλιδῶνα. 81 Die umstrittene These von einer ursprünglich eigenständigen Aufstiegsgeschichte Davids (*1 Sam [15?]16–2Sam 5) wird hier nicht mehr vertreten. Zu dieser vgl. vor allem Rost, Überlieferung; Weiser, Legitimation; Grønbæk, Geschichte; Mommer, Samuel; Veijola, Dynastie. Zur 74

72

Eskapistische Selbsttötungen

dürfte sich in 2 Sam 1,1–4.11f,82 genauer 2 Sam 1,1aα.2a.3–4.11.12aα.bβ finden:83 Nach einer typischen Überleitung in Vers 1aα, die für sich ebenso in Jos 1,1 und Ri 1,1 ausreicht,84 erzählt dieser Text einfach und schlicht von der Ankunft eines namenlosen israelitischen (!) Boten bei David, von dessen knappem Bericht über Sauls und Jonathans Tod und von den Trauerhandlungen, die der Bote wie David und seine Mannen ausführen85 – ein schlichter Botenbericht, wie er sich ähnlich in 1 Sam 4,16f findet.86 Der jüngere Bericht hingegen macht aus dem Boten einen Amalekiter, der „zufällig“ aufs Schlachtfeld gerät und ähnlich wie der Waffenträger im Falle Abimelechs den König erschlägt. Die Widersprüche, die hierdurch zum Bericht in 1 Sam 31 sowie zum ursprünglichen Bericht in 2 Sam 1* in den Text kommen, nimmt der Redaktor bewusst in Kauf, um Davids Distanzierung von dem Boten und der Tötung Sauls erzählerisch in lebendigem Stil darstellen zu können87 sowie um den Amalekiter literarisch und kompositorisch als „Scharnier des Herrschaftswechsels“ einzuführen.88 Der Fokus liegt auf der demütigen Größe und Gerechtigkeit Davids, der seine Eignung zum König auch dadurch unter Beweis stellt, dass er nicht über das Ende eines Gegners frohlockt (vgl. Spr 24,17), sondern seine Solidarität mit Saul trotz aller Anfeindungen bis zum Ende aufrecht erhält – David wird selbst nicht schuldig, vielmehr ahndet er Blutschuld (vgl. auch 2 Sam 3,27–30; 4,5–12).89

älteren Forschung vgl. Dietrich, David-Saul-Geschichte (Lit.); zu differierenden Positionen vgl. beispielsweise Dietrich, Königszeit, 229–273; Kratz, Komposition, 174–193; Fischer, Hebron. 82 Vgl. zu den Thesen der älteren Quellenscheidung und zur generellen These von der Abtrennung der Verse 5–10 Tanner, Amalek, 303–307. 83 Vgl. vor allem Fischer, Hebron, 13–42; aber auch Adam, Saul und David, 88–91; Bezzel, Saul, 131–142. Ob der ursprünglichen Fassung in 2 Sam 1* Priorität gegenüber derjenigen von 1 Sam 31* eingeräumt werden muss (vgl. Vermeylen, Loi, 178–188), muss offen bleiben. Zu einer synchronen, in diesem Fall jedoch wenig überzeugenden, weil stark glättenden und die vorhandenen Spannungen harmonisierenden Deutung der Parallelüberlieferungen in ihrer Endfassung vgl. schon Flav.Jos.Ant. 6.14.7–7.1.1 sowie Arnold, Report, und neuerdings Bar-Efrat, King Saul; ders., Samuel, 9–15: Sauls versuchte Selbsttötung brachte noch nicht den endgültigen Tod. Vielmehr lebte Saul noch schwach, nachdem er sich ins Schwert gestürzt hatte, so dass der Amalekiter vollendete, was Saul begonnen hatte. In eine synchrone Leserichtung gehen auch die Deutungen, die in den Ausführungen des Amalekiters eine Lüge erblicken (vgl. zu dieser These beispielsweise McCarter, II Samuel, 59 und 63f [Lit.] sowie Schroer, Samuelbücher, 129; Tsumura, Samuel, 651). 84 Vgl. Fischer, Hebron, 13. 85 Vgl. Tanner, Amalek, 306; Fischer, Hebron, 18–23. 86 Vgl. dazu vor allem Gunn, Battle Report; Tanner, Amalek, 299–303; Fischer, Hebron, 18f (Lit.). 87 Vgl. Fischer, Hebron, 23–40. 88 Vgl. dazu ausführlich Tanner, Amalek, 297–344. „Nicht nur fällt Saul und verliert sein Königtum wegen seines nicht befehlskonformen Verhaltens im Kampf gegen Amalek, sondern er fällt sogar direkt durch die Hand Amaleks und David gelingt nicht nur ein Riesenschritt auf dem Weg zum Königtum durch seinen Sieg über Amalek, sondern Amalek überbringt ihm sozusagen [über die Königsinsignien; J.D.] Sauls verlorenes Königtum.“ (311) 89 Vgl. Adam, Saul und David, 91. Malul, David Involved, versucht auf eine allzu historisierende Weise zu zeigen, dass hinter der Oberfläche der Texte um Sauls Tod noch deutlich wird, dass “Saul did not simply fall in the war with the Philistines, but rather his death seems to have been actively machinated by David.” (518) So müsse in Bezug auf 2 Sam 1 bedacht werden, dass “the whole story of

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

73

Der von 1 Sam 31 abweichende Bericht vom Ende Sauls stellt sich dar als ein Botenbericht aus dem Munde eines Amalekiters. Deutlich ist, dass hier weniger historische Fakten als vielmehr das Kampfesgeschehen „wie auf einer Theaterbühne erscheint“,90 auf die der Amalekiter wie zufällig gerät, um Saul auf seine Lieblingswaffe – seinen Speer91 – gestützt und die feindlichen Verfolger mit Wagen und Pferden auf dem unwegsamen Gebirgsgelände zu erblicken (Vers 6). Dem Leser, Hörer bzw. Zuschauer wird auf dieser Bühne eine mehrfache, in sich schlüssige Begründung für das Ende Sauls geboten. Dass Saul sich auf seinen Speer stützt, weil er sich augenscheinlich vor Schwäche nicht mehr alleine aufrecht halten kann, passt zu der anschließenden Aufforderung an den Amalekiter, Saul endgültig zu töten (Vers 9): Schon die zweifache Verwendung des Verbs ‫ מות‬im Polel (Vers 9a.10a) bezeichnet das endgültige Töten einer Person, die schon geschwächt und nahe am Sterben, aber noch am Leben ist92 – Letzteres wird hier sogar in Vers 9b von Saul expliziert.93 Vor allem jedoch begründet Saul seine Aufforderung an den Amalekiter damit, dass ihn eine Art „Schwächeanfall“ (‫ )השבץ‬befallen habe (Vers 9a). Der Amalekiter wiederum, der dieser Aufforderung ganz entsprechend nachkommt (vgl. die parallelen Formulierungen in 9a.10a), begründet seine Handlung mit dem Hinweis, dass Saul seinen Sturz (‫ )נפלו‬nicht überlebt hätte (Vers 10a). Probleme bereitet die Begründung Sauls in Vers 9, ihn habe ‫ השבץ‬ergriffen. Dieses hapax legomenon ist von unsicherer Bedeutung, doch für ein Verständnis der Bitte Sauls um assistierten Suizid unerlässlich. „Das unbekannte Wort muß etwas meinen, was das Leben unmöglich macht, ohne doch tödlich zu sein“.94 Die Septuaginta übersetzt diesen Begriff mit σκότος δεινόν („fürchterliche Finsternis“; „schreckliches Unheil/Böses“), die Vetus Latina mit angustiae („Enge“), die Peschitta mit sawrānē („Schwindel“), der Targum mit ‫„( רתיתא‬Zittern“). Die Neuauflage des Gesenius 6,1318 sowie HAL 2,1303 verweisen auf die Wurzelverwandtschaft mit arabisch dabīs („schwach, hinfällig“), äthiopisch dabsa („schwach, hin-

the Amalekite is fabricated, and perhaps everything was worked out in advance by David.” (533) Im Unterschied dazu sollte eher bedacht werden, was die Schreiber der Texte im Blick hatten. 90 Fischer, Hebron, 25. 91 Zu dessen Speer vgl. Polak, Spear. 92 Vgl. etwa HAL 1, 533; Illman, ‫מות‬, 768; Bar-Efrat, King Saul, 275 mit Hinweis auf Ri 9,53f; 1 Sam 14,13; 17,51. Bar-Efrat, King Saul; ders., Samuel, 9–15 zieht aus dieser Erkenntis die synchrone – in diesem Fall besser synchronistische – Leseweise, dass Saul nach 1 Sam 31,4f nicht vollends gestorben war, sondern erst durch die Hand des Amalekiters in 2 Sam 1,10 endgültig zu Tode gebracht wird (zu einer solch harmonisierenden Leseweise vgl. schon Flav.Jos.Ant. 6.14.7–7.1.1). Allein aufgrund von ‫ מות‬Polel kann diese Interpretation jedoch schwerlich in 1 Sam 31 hineingelesen werden, denn hier ist offensichtlich, dass der Erzähler vom Tode Sauls berichtet und davon ausgeht, dass Saul durch seine Tat in Vers 4 tatsächlich zu Tode kommt. 93 Dem Tode nahe zu sein und gleichzeitig noch das Leben in sich zu haben, ist im Hebräischen kein unaufhebbarer Widerspruch, wie besonders an den Klagepsalmen deutlich wird, aber auch an der Beziehung, wie sie in 2 Sam 1,9 zwischen ‫ השבץ‬und ‫ נפשי‬auftritt (vgl. zu Letzterem Fokkelman, Narrative Art, 637). 94 Stoebe, Samuelis, 85. Fokkelman, Narrative Art, 637: “death spasm (?)”; Firth, Samuel, 317: “the death throes have seized me” mit der Erklärung: “Hence ‘throes of death’ as the point where death and life seem to be mixed, but death has not yet triumphed.” (319)

74

Eskapistische Selbsttötungen

fällig sein“) und dəbas („Schwäche“).95 Die Quellen ließen sich möglicherweise derart auf einen gemeinsamen Nenner bringen, dass alle eine Art Schwächeanfall im Blick haben, der in einigen Quellen als „Enge“, „Schwärze“, „Schwindel“ oder „Zittern“ genauer spezifiziert werden kann. Auf den ersten Blick mögen diese Übersetzungen auch tatsächlich plausibel und einigermaßen konsistent erscheinen, doch zwei Charakteristika des hebräischen Textes sollten beachtet werden: Der hebräische Begriff ‫ השבץ‬steht mit Artikel, und das Verb ‫ אחז‬wird mit dem betreffenden Nomen verbunden. Saul sagt: „Es hat mich der ‫ שבץ‬ergriffen.“ Der „Schwächeanfall“ erscheint als Subjekt der Handlung, der wie eine dämonische Größe von Saul Macht ergreift (‫)אחז‬: „Der Artkel läßt an eine bekannte, fast mythische Größe denken (Caspari: der Sensenmann; de Groot: der dood).“96 Die wahrscheinlich weniger mythische, sondern eher dämonische Größe, die einen Menschen in den Selbstmord treiben kann, wird in der mesopotamischen Hemerologie iqqur īpuš reflektiert,97 die Selbsttötung auf Besessenheit durch die Dämonin Lamaštu zurückführt. Zwei Zeilen sprechen davon, dass der Mensch sich selbst „auffrisst“, wenn Lamaštu von ihm Besitz ergreift: iqqur īpuš § 56,9–10: DIŠ ina Kislimmi (dDÌM.ME DIB-su) ra-man-šu KÚ[ /ik-kal) DIŠ ina Tebêti (dDÌM.ME DIB-su) ra-man-šu ik-kal(/GAZ-ak) Wenn im Monat Kislev (Lamaštu ihn ergreift), frisst er sich selbst. Wenn im Monat Tebet (Lamaštu ihn ergreift), frisst er sich selbst.98

Das akkadische Wort akālu („essen“) kann in einigen Fällen auch „verwüsten, verzehren, zerstören“ bedeuten.99 Dass es hier um Selbstmord geht, wird durch den Paralleltext K 2809 IV 9 deutlich. Die Protasis des Omens ist hier zwar zerstört, doch der Text der Apodosis lautet: […] dDÌM.ME DIB-su ra-man-šu idâk (GAZ-ak) [Wenn …] Lamaštu ihn ergreift, tötet er sich selbst.100

Mit diesen Texten liegen die äußerst seltenen Ausnahmen vor, nach denen die Menschen des Alten Orients Selbsttötung „medizinisch-dämonisch“ auf eine negativ qualifizierte Ursache zurückführen: Wenn die Dämonin Lamaštu von einem Menschen Besitz ergreift, kann es sein, dass er nicht mehr gerettet werden kann, sondern sich selbst „auffrisst“ (zerstört), das heißt sich selbst tötet. Der Eigenname Lamaštu wird im Sumerischen bzw. als Sumerogramm dDÌM.ME mit dem Gottesdetermina95

Auch akkadisch šâbu („zittern; schwanken“) könnte zu bedenken sein. Stoebe, Samuelis, 85. 97 Überblick bei Labat, Hemerologien, 321f; Maul, Omina und Orakel 57f. Die Omensammlung iqqur īpuš war über Jahrhunderte hinweg in Mesopotamien, Syrien und Anatolien bekannt. Die ältesten Textvertreter stammen aus der Späten Bronzezeit, die jüngsten aus der hellenistischen Zeit (vgl. ebd. 58). 98 iqqur īpuš § 56,9–10. Umschrift nach Labat, Calendrier, 122. Übersetzung J.D. Bei den Angaben in Klammern handelt es sich um die Varianten KAR 392,15 (iqqur īpuš § 56,9) bzw. K 2809 IV 9 (iqqur īpuš § 56,10). 99 Vgl. CAD 1 s.v. akālu 5). 100 K 2809 IV 9. Keilschrifttext bei Labat, Calendrier, Tafel XLV. Umschrift und Übersetzung J.D. 96

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

75

tiv geschrieben; Lamaštu war deshalb gemeinhin die „prominenteste göttliche Einzelgestalt, die in Mesopotamien als Unheilsbringerin galt“.101 In der variantenreichen Ikonographie102 wird sie oftmals mit einem aufrecht schreitenden Löwenkörper und mit Vogelklauen dargestellt, an ihren Brüsten die unreinen Tiere Schwein und Hund säugend (Abb. 7):

Abb. 7: Lamaštu-Amulett

Diese Dämonin ist es, die in der Protasis der Zeilen aus iqqur īpuš als Subjekt der Handlung auftritt und von dem Menschen Besitz ergreift (formuliert mit sabātu).103 Bezeichnenderweise tritt in 2 Sam 1 ‫ השבץ‬ebenfalls als Subjekt der Handlung auf, der von Saul Besitz ergreift (formuliert mit ‫)אחז‬. Nimmt man die redaktionsgeschichtliche Erwägung hinzu, dass 2 Sam 1 mit Texten einer wie auch immer zu fassenden Aufstiegsgeschichte Davids zusammenzubringen ist, die zur Legitimation Davids davon berichten, dass Saul von einem „bösen Geist“ (‫ )רוח רעה‬besessen ist, dann könnte auch das hapax legomenon ‫ השבץ‬auf einen dämonischen „Geist“ (Gottes) verweisen, der Saul letztlich in den Tod treibt: In diesem Fall läge hier ebenfalls ein seltener Text vor, der aus geschichtstheologischen Gründen die Selbsttötung Sauls „medizinisch-theologisch“ auf eine negativ qualifizierte Ursache zurückführt und – ungewöhnlich für die alttestamentlichen Texte – als eine dämonische Krankheit wertet. David kann die „aktive Sterbehilfe“ des Amalekiters nicht gutheißen, obwohl sie – nach den Worten des Amalekiters – der Aufforderung Sauls exakt entspricht und 101

Frey-Anthes, Unheilsmächte, 51. Überblick bei Farber, Lamaštu, 441–445. 103 Wahrscheinlich verliert der Betroffene auch den Verstand und verübt Suizid in einem Zustand unverantwortlichen und krankhaften Wahnsinns. Sprachlich wird das nicht nur durch sabātu, sondern auch durch ramanu unterstrichen (zum Verlust der personalen Integrität bei Wendungen mit ramanu vgl. Steinert, Aspekte, 262–268). Zu Mk 5,5 par. vgl. Howell, Suicide, 334. 102

76

Eskapistische Selbsttötungen

mit dem unwiderruflichen Todesgeschick des Sturzes (‫ )נפל‬begründet wird.104 In dem (Redeformen des Rechtslebens aufnehmenden)105 inquisitorischen Gespräch in den Versen 13–16 argumentiert David mit der Würde des Gesalbten, die Saul immer noch zukomme, um die Tat des Amalekiters als Kapitaldelikt zu verurteilen. Diese Argumentation steht einerseits in einer Linie mit Davids eigener Weigerung, Hand an den gesalbten Saul zu legen, auch wenn dieser schon in seiner Macht steht. In den vorhergehenden Kapiteln ist deshalb das Motiv der Ehrfurcht Davids vor Saul als des Gesalbten ein wesentlicher Zug, um die Treue Davids herauszustellen (1 Sam 24,7.11; 26,9.11.23). Dieses Motiv wird nun fortgeführt mit dem Ziel, David als Gegner Sauls um die Königskrone von jeder Mitschuld am Tode Sauls zu entlasten und seine ehrfurchtsvolle und treue Gesinnung gegenüber Saul herauszustellen: „Die Absicht ist wohl, die Tötung des Gesalbten Jahwes möglichst unheiligen Händen zu überlassen.“106 Diese Handlung wird von David in 2 Sam 1,13–16 entsprechend seiner Aussage in 1 Sam 26,9 bestraft. So dient die Erzählung in 2 Sam 1 in erster Linie der Darstellung von Davids bis zuletzt währender Treue, wie auch seine anschließenden Trauerriten (2 Sam 1,11f), seine Trauerklage (2 Sam 1,17–27) und der spätere Botenbericht über den Tod Ischbaals (2 Sam 4) bezeugen. 2 Sam 1 muss deshalb als ein Text gelten, der Davids Thronbesteigung als rechtens legitimieren soll: Indem David die Tat des Amalekiters verurteilt, distanziert er sich von jeder Mitschuld am Tode Sauls und stellt gleichzeitig seine Fähigkeiten als zukünftiger, gerecht richtender König unter Beweis. Andererseits soll der Abschnitt 2 Sam 1,13–16 wahrscheinlich auch eine Leerstelle interpretieren, die in 1 Sam 31 vorliegt, als der Waffenträger107 sich weigert, der Bitte Sauls um Tötung nachzukommen: Dessen Weigerung wird zwar in 1 Sam 31,4 mit seiner Furcht begründet, diese Furcht selbst wird aber nicht weiter erläutert.108 „Diese Leerstelle macht sich nun der Bearbeiter zunutze und füllt sie aus mit

104

Ob der Amalekiter ein Lügner und Leichenfledderer gewesen sei, wie die Forschung oftmals gedacht hat, um 1 Sam 31 und 2 Sam 1 auf eine logische Linie zu bringen und zu vereinheitlichen (vgl. beispielsweise Stolz, Samuel, 186f; McCarter, II Samuel, 59.62ff; dagegen schon Stoebe, Samuelis, 88: „Der Versuch […] mißlingt; denn abgesehen von den inhaltlichen Schwierigkeiten setzte er beim Boten wie bei David ein ungewöhnliches Maß von Dummheit voraus.“), lässt sich nicht endgültig aus dem Text erweisen. Diesem scheint es um anderes zu gehen: Zielpunkt der Erzählung ist nicht die Aufdeckung einer Lüge, sondern ähnlich wie in 2 Sam 4 die königsgleiche Verurteilung einer Bluttat und die Distanzierung von einem Freudenboten, dessen freudige Aufnahme David in ein schlechtes Licht rücken könnte. 105 Zu diesen vgl. allgemein Boecker, Redeformen; zu 2 Sam 1,13–16 als eine Art Gerichtsszene vgl. Macholz, Stellung, 163f; Mabee, Exoneration. 106 Budde, Samuel, 194. 107 Zum Selbstmord des Waffenträgers vgl. ausführlich unten das Kapitel über die neuassyrischen und biblischen Gefolgschaftstode. Zu seiner literarischen Funktion vgl. ausführlich unten im Kapitel über Simson die textpragmatischen Überlegungen zum ‫נער‬. 108 Sprachliche Parallelen könnten auf Ri 8,20 verweisen: So wie in 1 Sam 31,4 der Waffenträger sich aus Furcht weigert, sein Schwert zu ziehen und Saul zu erschlagen, weigert sich in Ri 8,20 der Knabe Jeter aus Furcht, sein Schwert zu ziehen und die Könige Sebach und Zalmuna zu erschlagen. Hier wird die Furcht ausdrücklich mit dem jungen Alter des Knaben begründet. Dies geschieht jedoch in 1 Sam 31,4 nicht, und der Waffenträger wird auch nicht als ‫ נער‬bezeichnet.

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

77

dem Motiv der Unantastbarkeit des Gesalbten Jahwes.“109 In 2 Sam 1 entspricht nun die Furcht des Waffenträgers in 1 Sam 31,4 (‫ )ירא‬der Anklage Davids in 2 Sam 1,14, dass sich der Amalekiter nicht gefürchtet habe (‫)לא יראת‬, Hand an den Gesalbten zu legen.110 Durch den expliziten Bezug auf die Königswürde versucht 2 Sam 1 nicht, eine allgemeine Aussage über aktive Sterbehilfe zu treffen, sondern David als zukünftigen gerechten König zu erweisen, der auch dem gefallenen Rivalen gegenüber loyal bleibt und Gerechtigkeit walten lässt. So stehen letztlich drei verschiedene Darstellungen von Sauls Selbsttötung (1 Sam 31; 2 Sam 1; 1 Chr 10) mit ihren je eigenen Fokussierungen, Sinngebungen und Wertungen nebeneinander. b) Abimelech Die Geschichte um Abimelech und sein Ende, das „sich im fließenden Grenzbereich von Tötung, Beihilfe zur Selbsttötung und Euthanasie“111 bewegt, findet sich im Richterbuch (9,1–57), obwohl weder Abimelech als Richter bezeichnet wird geschweige denn entsprechend agiert noch die Geschichte selbst durch die typisch deuteronomistischen Rahmenformeln den Richter- und Rettererzählungen des Buches angeglichen wurde. Stattdessen wurde die Abimelecherzählung nur recht unbeholfen mit der Gideon-Erzählung verbunden und an sie angehängt. Dies erfolgte vor allem durch die Gleichsetzung Gideons mit Jerubbaal, dem Vater Abimelechs (6,32; 7,1) sowie durch die Überleitungen in 8,29–35. Die Abimelecherzählung enthält erhebliche Spannungen und Widersprüche, die auf ein geschichtliches Wachstum des Textes hinweisen und sich nur durch literarund überlieferungskritische Erwägungen plausibel erklären lassen. Eine holistische nacherzählende „Interpretation“, wie man sie besonders im englischsprachigen Raum findet, verschleiert in diesem Fall die bestehenden Schwierigkeiten und kann die bestehenden Spannungen nicht erklären. Leider sind jedoch auch die literarkritischen Untersuchungen zur Abimelecherzählung im Detail nicht konsensfähig.112 Deshalb werden nur die folgenden generellen literarkritischen Überlegungen vorgestellt, die im Wesentlichen als konsensfähig gelten können.113 Die Geschichten von Abimelech als Eroberer von Sichem und Tebez (9,22.23b. 43–54) sowie die ursprünglich unabhängige Gaal-Geschichte (9,26–41) bilden den ältesten Erzählkranz um Abimelech (verbunden durch Vers 42), der Abimelech keineswegs in einem negativen Licht erscheinen lässt. In diese Geschichten sind später die ursprünglich ebenfalls unabhängige Jotam-Fabel (9,8–15a) sowie wahrscheinlich mehrschichtige redaktionelle Ergänzungen eingefügt worden, um die Geschichten miteinander zu verbinden und ein negatives Abimelech-Bild zu zeichnen. 109

Fischer, Hebron, 35. Vgl. Fokkelmann, Narrative Art, 640. 111 Lenzen, Selbsttötung, 87. Selbsttötungen, die auf ausdrücklichen Wunsch des Suizidanten von fremder Hand geschehen („assistierte Suizide“; vgl. Ri 9,54; 2 Sam 1,9), werden nach der zu Beginn dieses Buches gegebenen Definition ebenfalls in die Diskussion mit einbezogen. 112 Vgl. etwa die Versuche bei Richter, Untersuchungen, 246–318; Fritz, Abimelech; Becker, Richterzeit, 184–206; Würthwein, Abimelech; Jans, Abimelech, 62–131; Groß, Richter, 485–494. 113 Vgl. die m.E. überzeugenden Überlegungen bei Groß, Richter, 485–494. 110

78

Eskapistische Selbsttötungen

Die Geschichten über Abimelech als Eroberer von Sichem und Tebez (9,22.23b. 43–54) schildern Abimelech noch nicht als illegitimen König und Mörder seiner Brüder, sondern als aktionsfreudigen, kampfeswilligen und listenreichen Herrscher und Feldherrn, „der Aufruhr bestraft, bei Kampfhandlungen fällt und im Tod durch entschlossene Reaktion Schande vermeidet“114 bzw. zu vermeiden sucht.115 In dem letzten Abschnitt über das Ende Abimelechs (9,50–54) zieht der bislang erfolgreiche Feldherr gegen die ansonsten unbekannte Stadt Tebez.116 Nach erfolgreicher Einnahme der äußeren Stadtbereiche dringt Abimelech gegen ihre Zitadelle (‫)מגדל‬ vor, die – anders als der Wehr- und Wachturm von Sichem, der offensichtlich außerhalb Sichems liegt (9,46–49) – als Akropolis und „Befestigungswerk im Innern der Stadt“117 eine Zufluchtsburg bildet. Während Feuer an dessen Eingangstor gelegt wird, wirft eine nicht weiter benannte und beschriebene Frau118 Abimelech einen Reibstein gegen den Kopf und zerschmettert ihm den Schädel. Tödlich verwundet bittet Abimelech daraufhin seinen Waffenträger um den letzten Schwertstreich: Ri 9,53–54: (53) Da warf eine Frau einen oberen Mühlstein gegen den Kopf Abimelechs und zerschmetterte seinen Schädel. (54) Da rief er eilends nach dem Knappen, dem Träger seiner Waffen, und sagte zu ihm: „Zieh dein Schwert und töte mich vollends, damit sie nicht über mich sagen: ‚Eine Frau hat ihn erschlagen.‘“ So durchbohrte ihn sein Knappe, und er starb.

Die Frau bleibt in dieser Erzählung namenlos: Der Blick richtet sich nicht auf sie als aktionsreiche Heldin, sondern einzig auf die Bedeutung ihrer Tat als Frau für Abimelech.119 Bei dem Mühlstein, den sie wirft, handelt es sich um einen Reibstein, den oberen Mühlstein einer Handmühle (vgl. Dtn 24,6), zumeist aus dem hartem Basalt des Hauran120 und von 45,7 bis 91,4 cm Länge sowie 1,8–4,1 kg Gewicht,

114

Groß, Richter, 523. Anders die zahlreichen, besonders im englischsprachigen Raum vorherrschenden Auslegungen, die den gesamten Text flächig von den (redaktionellen) Versen 23f.56f her interpretieren, ihr Augenmerk allein auf den Tun-Ergehen-Zusammenhang richten und Abimelech ausschließlich negativ interpretieren. Entsprechend parallelisieren sie trotz der sprachlicheren Differenz den Reibstein (‫ )פלח רכב‬in 9,53 mit dem Stein (‫ )אבן‬in 9,5 (“Even though the Hebrew words for ‘stone’ differ, both are stones.”; Ryan, Judges, 76) und blenden die bestehenden Parallelen zu 1 Sam 31 und die nicht negativ gekennzeichneten Aspekte bei Abimelech aus (beispielsweise Boogaart, Stone for Stone; Janzen, Woman; Bluedorn, Yahweh, bes. 257–260; Heller, Abimelek; ähnlich negativ auch Klein, Triumph, 69–80; Oeste, Legitimacy). So kann man auch erst vom Endtext und aus redaktioneller Perspektive schreiben, dass die Frau von 9,53 ein “agent of YHWH” sei und betonen: “it is God who brings the millstone to crush Abimelech’s head” (O’Connell, Rhetoric, 167.169). 116 Zur Identifikation mit dem heutigen Ort Ṭūbās etwa 15 km nordöstlich von Sichem vgl. Gaß, Ortsnamen, 333f. 117 Kellermann, ‫מגדל‬, 643. 118 Die Verwendung von ‫ אחד‬dient gerade der expliziten Nicht-Determinierung der Frau (vgl. GK § 125b). 119 “absence of a name is intended by the narrative to highlight the unexpected identity of Abimelech’s assailant.” (Oeste, Legitimacy, 111 Anm. 201) 120 Vgl. Kellermann, Mühle, 232. 115

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

79

der sich gut in die Hand nehmen und schleudern lässt.121 Von einem solchen Reibstein tödlich verwundet, bittet Abimelech seinen Waffenträger um den Todesstoß, und zwar ausdrücklich um den Todesstoß mit dem Schwert. Das Schwert steht hier im Gegensatz zu dem Reibstein der Handmühle, denn während es sich bei Letzterem um das typische Arbeitsgerät einer Frau handelt,122 stellt Ersteres das typische Kriegsgerät des Mannes dar. Auch in der vorliegenden Erzählung sind Gerät und Berufsstand auf typische Weise verbunden, wenn die Frau den Reibstein wirft, aber der Waffenträger den Schwertstreich führt. Nicht genug mit diesen impliziten Hinweisen, werden die zugrundeliegenden Ehr- und Schandvorstellungen des Alten Israel durch den anschließenden Begründungssatz von Abimelech expliziert: Der Todesstoß soll Abimelech auf dem Schlachtfeld durch die Hand eines Kriegsmannes umkommen lassen und verhindern, dass er eines schändlichen Todes durch die Hand einer Frau stirbt und die Menschen verächtlich über ihn reden. Die später im Umlauf befindliche, nahezu sprichwörtliche militärische Erfahrung und Warnung in 2 Sam 11,21:123 2 Sam 11,21: Wer hat Abimelech, den Sohn Jerubbaals, erschlagen? Warf nicht eine Frau einen oberen Mühlstein von der Mauer herab auf ihn, so dass er in Tebez starb? Warum seid ihr an die Mauer herangerückt?

zeigt gerade, wie gut und realistisch Abimelech die Gefahr einschätzt.124 Er versucht mit letzter Kraft, die Rede über seinen Nachruhm und die Meinung der Menge positiv zu beeinflussen. Dass ihm dies letztendlich nicht gelingt, liegt nicht daran, dass er seine Lage falsch einschätzen würde, sondern an dem eindrücklichen Bild des unüblichen und entehrenden Geschehens, das nur schwer aus den Köpfen der Leute zu vertreiben ist und tatsächlich in einem gewissen Sinne zutrifft, weil Abimelech ohnehin seiner Kopfwunde erlegen wäre125 und deswegen den Waffenträger nur auffordern kann, ihn „vollends“ zu töten (‫ מות‬Polel; vgl. 1 Sam 14,13; 17,51 sowie vor allem die Parallele zu Saul in 2 Sam 1,9f).126 Abimelech versucht, dem entehrenden Bild des Todes durch die Hand einer Frau das ehrenhafte Bild des Schwerttodes auf dem Schlachtfeld gegenüberzustellen, so dass zwei Bilder in dieser Geschichte und im kulturellen Gedächtnis des Alten Israel konkurrieren. Auf 121 Vgl. dazu jetzt Herr/Boyd, Watermelon. Es ist unnötig anzunehmen: “She probably had help, but it suits the narrator’s purpose to mention only her, for what is being described (and relished) is Abimelech’s utter humilation.” (Webb, Judges, 293) 122 “the weapon, the millstone, is a contemptible tool, which women use for grinding grain (Exod. 11.5; Isa. 47.2; Job 31.10, and elsewhere).” (Galpaz-Feller, Soul, 319) 123 Vgl. dazu Ryan, Judges, 75. Allerdings ließ sich die Eroberung von Städten kaum anders als durch die Überwindung der Stadtmauern erreichen, wie es zahlreiche neuassyrische Kriegsreliefs darstellen. Möglicherweise kannte, inkorporierte und adaptierte der Autor von 2 Sam 11 den Text von Ri 9 (vgl. Shalom-Guy, Three-Way Intertextuality). 124 Vgl. auch die Tradition über den suizidalen Königsmörder Simri, die in 2 Kön 9,31b durchscheint. Siehe dazu ausführlich unten das entsprechende Kapitel über Simri. 125 “he would have died in any case” (Daube, Death, 83). Ob Abimelech aufgrund seiner Kopfwunde nicht mehr in der Lage war, sich selbst zu töten und deshalb seinen Waffenträger um Assistenz bitten muss (so Shemesh, Suicide, 158), lässt sich vom Text her nicht endgültig erweisen, zumal die Parallele zu Saul (1 Sam 31,4) auch das Gegenteil denkbar erscheinen lässt. 126 Siehe dazu oben das Kapitel über Saul.

80

Eskapistische Selbsttötungen

ähnliche Weise und mit engen sprachlichen Parallelen zu Ri 9,54127 versuchen selbst noch die beiden gefangenen Midianiterkönige Sebach und Zalmuna das Bild ihres Todes günstig zu beeinflussen: Nach dem nicht gewagten Todesstoß von Seiten des verängstigten Knaben Jeter128 wird der Feldherr und quasi königsgleiche Gideon aufgefordert, selbst Hand an die Könige zu legen (Ri 8,20–21ab.α): Ri 8,20–21ab.α: Und er (Gideon) sprach zu Jeter, seinem Erstgeborenen: „Steh auf, erschlage sie!“ Aber der Knabe zog sein Schwert nicht, denn er fürchtete sich, weil er noch ein Knabe war. Da sprachen Sebach und Zalmuna: „Steh du auf und stoß uns nieder! Denn wie der Mann, so seine Kraft.“ Da stand Gideon auf und erschlug Sebach und Zalmuna.

Das entehrende Bild vom Tod durch die Hand einer Frau stellt den Tod Abimelechs in eine Reihe mit dem schändlichen Tod von Sisera (Ri 4,21f) und Holofernes (Judit 13,6–15; 14,18; vgl. 9,10), die beide durch die Hand einer Frau den Tod finden. Auch ihr Tod bleibt als ein schändlicher im kulturellen Gedächtnis haften und wird sogar in Liedern besungen (Ri 5,24–27; Judit 16,5f).129 Das ehrenhafte Bild eines durch das Schwert auf dem Schlachtfeld gefallenen Feldherrn stellt dagegen den Tod Abimelechs in eine Reihe mit dem Schwerttod Sauls auf dem Schlachtfeld von Gilboa. Weil diese Parallelen sprachlich und sachlich sehr viel enger sind als diejenigen zu Sisera und Holofernes und zwei verwandte Geschichten über den Suizid eines Feldherrn auf dem Schlachtfeld darstellen, die sich gegenseitig auslegen, müssen sie im Folgenden ausführlicher behandelt werden.130 Zwischen Abimelech und Saul zieht schon der redaktionelle Verfasser von 9,23 Parallelen, indem er einen bösen Geist (‫ )רוח רעה‬nicht über Abimelech, aber zwischen ihn und die Herren von Sichem sendet und so die folgenden Auseinandersetzung nicht menschlicher Willkür, sondern entsprechend des Tun-Ergehen-Zusammenhangs dem Vergeltungsplan Gottes unterstellt: Durch diese Notiz ist der gottgewirkte Beginn dafür gesichert, dass die Blutschuld beider Parteien auf ihr je eigenes Haupt zurückfällt. Abgesehen von diesem späten Textverweis bestehen vor allem sprachliche und sachliche Paral127

Vgl. Bluedorn, Yahweh, 250. “Gideon’s order to Jether to kill Zeba and Zalmunah may be a rite of initiation that will mark Jether’s transition in status from non-combatant to combatant and boy to man.” (Bosworth, Jether, 194). Andere Erklärungsmöglichkeiten bei Leeb, House, 79 (Lit.) und 106, die in generellem Zusammenhang davon spricht, dass “being a ‫ נער‬seems to be a liminal state, at the threshold between two realities.” (92) 129 In Jdt 14,18 wird der Tod durch die Hand einer Frau ausdrücklich als „Schande“ (αἰσχύνη) bezeichnet. 130 Gunn, Patterns, 297–301 geht darüber hinaus noch auf die sprachlichen und sachlichen Parallelen ein, die zwischen Ri 8,20f; 9,54; 1 Sam 22,17f; 31,4 (= 1 Chr 10,4) und 2 Sam 1,9f.15 bestehen. Diese Parallelen sind tatsächlich eindrücklich: In jedem dieser Texte ruft ein Feldherr/König eine nahe beistehende Person oder Gruppe durch Imperative zu einer Tötungshandlung auf und begründet diese Handlung (mit Ausnahme von Ri 8,20f) mit einem Finalsatz, woraufhin die Handlung durchgeführt oder mit Hinweis auf die Furcht des Angesprochenen auf den Feldherrn/König selbst zurückgeworfen wird. Allerdings ist nur in Ri 9,54 und 1 Sam 31,4 der Angesprochene der Waffenträger, nur hier beginnt die Aufforderung mit ‫שלף חרבך‬, nur hier findet sich ein Finalsatz formuliert mit ‫פן־‬, und nur hier lässt sich (einmal abgesehen von 2 Sam 1; siehe zu diesem Text das voraufgehende Kapitel) von suizidalen Handlungen sprechen. 128

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

81

lelen zwischen Abimelech und Saul hinsichtlich ihrer suizidalen Handlungen. Diese Parallelen beweisen keine redaktionellen Abhängigkeiten, aber eine in beiden Fällen ähnliche „Erzähllogik“, wenn das Ende eines herausragenden Feldherrn in aussichtsloser Situation auf dem Schlachfeld beschrieben werden soll. Auf der Endtextebene von Ri 9 muss das Scheitern Abimelechs als König und sein Tod auf dem Schlachtfeld als Ausdruck der Strafe Gottes gelten, doch wie im Falle Sauls ist die Art des Todes, Abimelechs assistierter Suizid, diachron betrachtet ursprünglich nicht in diese Bewertung einzuschließen, sondern muss als legitimer Akt zur Wahrung der eigenen Ehre gelten: „Obwohl lebensgefährlich verwundet, ist er immer noch Herr der Lage und fähig, seine Situation zu reflektieren.“131 Eigenmächtig erteilt Abimelech seinem Knappen den Befehl, ihn zu töten, und hält dadurch bis zuletzt an seiner Rolle als ehrbare Führungspersönlichkeit fest.132 Auch auf der Ebene des Endtextes muss die Art des Todes durch die Hand einer Frau, nicht jedoch der assistierte Suizid, als negatives Schicksal und Schmach gelten. Gleichzeitig öffnet jedoch auf der Ebene des Endtextes die negative Beurteilung von Abimelech als insgesamt scheiternde und von Gott verworfene Gestalt (Ri 9,56) die Tür für nachbiblische und exegetisch ansonsten unbegründete Deutungen, die den Tod auf Verlangen mit in die negative Beurteilung einbeziehen. Obwohl im Falle Abimelechs ein „assistierter Suizid“133 und im Falle Sauls ein eigenhändig ausgeführter Suizid vorliegen, sind die Parallelen zwischen beiden Handlungsweisen in sprachlicher und sachlicher Hinsicht doch bezeichnend.134 Beide Fälle zeichnen sich durch eine Fluchtbewegung aus: Durch die Selbsttötung wird ein letztmöglicher Ausweg gesucht und gefunden, um einer militärisch aussichtslosen und kulturell schändlichen Situation zu entkommen. In beiden Texten wird eine Begründung für die Selbsttötung geliefert wird, die im Hebräischen mit einem Finalsatz (‫ )פן־‬strukturiert ist und auf diese Weise der suizidalen Handlung explizit einen Sinn verleiht (Ri 9,54; 1 Sam 31,4/1 Chr 10,4). Beide Darstellungen sind bis in die Wortwahl, die Personenkonstellationen135 und die Sinngebung parallel konstruiert: Nachdem eine Frau dem Abimelech bei der Belagerung von Tebez einen Mühlstein gegen den Schädel geworfen hat, sagt Abimelech seinem Waffenjungen (‫)הנער נשא כליו‬, dass er sein Schwert ziehen und ihn töten solle (‫)שלף חרבך ומותתני‬, „damit sie nicht über mich sagen: ‚Eine Frau hat ihn getötet!‘“ (Ri 9,54) Während die Philister Sauls Heer besiegen, seine drei Söhne töten und ihn selbst möglicherweise verwunden,136 sagt Saul seinem Waffenträger (‫)נשא כליו‬, dass er sein Schwert ziehen und ihn durchbohren solle (‫)שלף חרבך ודקרני בה‬, „damit nicht diese Unbe131

Gillmayr-Bucher, Welten, 132. Vgl. Gillmayr-Bucher, Welten, 132. 133 Vgl. zu diesem Begriff oben das Einleitungskapitel zur Sinngeschichte suizidaler Handlungen. 134 Gegen Irwin, Not Just Any King, 447 Anm. 17: “If the author of Judges wished to draw a parallel between the deaths of Abimelech and Saul, then it is odd that the two episodes do not correspond more closely in vocabulary or action.” 135 Zur literarischen Funktion des Waffenträgers, dessen Aufgabe darin besteht, einen Monolog der Hauptperson zu ermögichen und so das Geschehen einsichtig zu machen, siehe ausführlich unten im Kapitel über Simson die textpragmatischen Überlegungen zum ‫נער‬. 136 Siehe dazu oben das Kapitel über die Selbsttötung Sauls (Anmerkung 9). 132

82

Eskapistische Selbsttötungen

schnittenen kommen und ihren Mutwillen mit mir treiben!“ (1 Chr 10,4)137 In beiden Fällen erfolgt der (assistierte) Suizid in aussichtsloser Lage, in beiden möchte sich der Suizidant lieber von seinem eigenen Waffenträger töten lassen, als von einem verachtenswerten Gegner getötet zu werden (‫ אשה‬bzw. ‫)הערלים‬. In beiden Fällen erfolgt der Suizid im Hinblick auf ein gefürchtetes Verhalten Dritter: Ist es im Fall Abimelechs das nicht spezifizierte, anonyme „man“, dessen verächtliche Rede über den Getöteten (‫ )יאמרו לי‬unterbunden werden soll, so sind es im Falle Sauls die Philister, deren mutwilliges Treiben am Gefangenen (‫ )התעללו בי‬zu verhindern ist. In beiden Fällen ist der Sinn der Selbsttötung die Verhinderung des „sozialen Todes“138 und die Wahrung der eigenen Ehre. Die Selbsttötung erfolgt zur Abwehr einer Schande, die im Fall Abimelechs in einem schändlichen Ruf in der Öffentlichkeit (2 Sam 11,21; vgl. Ri 5,24–27; Judit 14,18; 16,5f) und im Falle des gefangenen Sauls in öffentlicher Verspottung durch die Philister (vgl. Ri 16,25.27) und der Schändung seines Leibes (vgl. Ri 1,7; 16,21; 2 Kön 25,7) besteht. Im ersten Fall steht es dem Suizidanten nicht frei, zwischen Leben und Tod, sondern nur, zwischen einem ehrenvollen und einem verächtlichen Tod zu wählen,139 im zweiten besteht die Wahl zwischen einem schändlichen Leben mit baldiger Todesfolge140 und einer sofortigen Tötung auf eigenes Verlangen.141 Die Wahl fällt auf Letzteres, denn im Rahmen der Ehr- und Schandvorstellungen der Alten Welt gilt: “public humiliation is a fate worse than death.”142 c) Nabûbēlšumāti Die engste Parallele zu den Selbsttötungen in der Konstellation zwischen Knappe und Kriegsmann, wie wir sie biblisch in Ri 9,54 und 1 Sam 31,4f finden, stellt eine neuassyrische Inschrift Assurbanipals zum Tod des chaldäischen Anführers Nabûbēlšumāti von Bīt Jakīn dar. Dieser wandelt sich im Zuge der Revolte von Šamaššumukīn (652–648 v.Chr)143 von einem loyalen Vasallen Assurbanipals, der im Süden Babyloniens an der Grenze zu Elam in der Stadt Šapî-Bēl residiert, zu einem mächtigen Gegner, der jahrelang mit Unterstützung Elams Raubzüge in assyrisches Hoheitsgebiet unternimmt.144 Dies gelingt ihm deshalb vorzüglich, weil die Elamiter

137 In 1 Sam 31,4 wird noch ‫ ודקרני‬vor ‫ והתעללו בי‬gesetzt, doch ‫ והתעללו בי‬dürfte sich ursprünglich auf den Mutwillen am Gefangenen bezogen haben (siehe dazu oben die Textkritik zu 1 Sam 31 und 1 Chr 10 im Kapitel über die Selbsttötung Sauls). 138 Zum sozialen Tod siehe oben das Kapitel über Ehre und Schande des Toten sowie passim. 139 So auch Daube, Death, 83. 140 Im Hinblick auf die im Folgenden zu besprechenden neuassyrischen Quellen mit ihren engen Parallelen zu 1 Sam 31,4 enden Schändungen immer mit dem Tod des Gefangenen. Die Alternative besteht nicht zwischen Schändung mit oder ohne Todesfolge, sondern zwischen Schändung mit Todesfolge und Begnadigung ohne jegliche Schändung. 141 Ähnlich Daube, Death, 84. 142 Plevnik, Honor, 108. 143 Zum Tod von Šamaššumukīn siehe unten das entsprechende Kapitel über Šamaššumukīn. 144 Zum Hintergrund siehe Dietrich, Aramäer, besonders 36–38.119–125; ders., Chaldeans, 176– 178; Malbran-Labat, Nabû-bêl-šumâte; Millard, Nabû-bēl-šumāte; Brinkman, Empire, 93–104.

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

83

die wichtigsten Bundesgenossen der Revolte von Šamaššumukīn waren145 und Nabûbēlšumāti wiederholt Zuflucht gewährten, so dass er in der Lage war, von Elam aus seine Feldzüge zu beginnen. Nachdem er zahlreiche bedeutende Gefangene (unter anderem den assyrischen General Marduk-šar-usur) machen kann,146 setzt Assurbanipal ein Kopfgeld “dead or alive” in Höhe seines Körpergewichtes in Gold auf ihn aus (ABL 292).147 Letztlich bringt das Scheitern der Revolte von Šamaššumukīn auch Elam und Nabûbēlšumāti in Bedrängnis. Mehrmals fordert Assurbanipal die in dieser Zeit häufig wechselnden elamischen Könige auf, Nabûbēlšumāti auszuliefern.148 Zwei Feldzüge gegen Elam und den elamischen König Ummanaldaš (Ḫumban-Ḫaltaš III.) untermauern diese Forderung. Zwar kann Ummanaldaš jedesmal vor Assurbanipal in das Bergland fliehen, doch Elam und (auf dem zweiten Feldzug) insbesondere Susa werden dem Erdboden gleichgemacht.149 Land und Stadt werden verwüstet, die Tempel zerstört, die Götterbilder entfernt, die Königsgräber entweiht und ganze Landstriche durch Deportation entvölkert.150 Die Bevölkerung wird gezwungen, die Gräber der Ahnen zu schänden, und das gesamte Land wird symbolisch durch das Bestreuen mit Salz und Dornen in einen unzivilisierten, wüsten Zustand zurückversetzt. Angesichts solcher Gewalttaten kommt Ummanaldaš Assurbanipals Forderung nach Auslieferung Nabûbēlšumātis entgegen. In einem Brief an Assurbanipal zitiert der Truppenkommandant des Meerlandes, Bēl-ibni,151 Ummanaldaš dahingehend, dass er durchaus bereit wäre, Nabûbēlšumāti auszuliefern, wenn dadurch ein weiterer Feldzug Assurbanipals gegen Elam verhindert werden kann.152 ABL 281 Vs. 23–Rs. 3: Am Tage, da Ummaḫaldāšu in Madaktu einzog, hat er, nachdem er seine Anhänger gesammelt hatte, die Klagen mit ihnen besprochen mit den Worten: „War nicht dies mein Wort, das ich, bevor ich floh, zu euch gesprochen habe: ‚Nabû-bēl-šumāte will ich ergreifen und dem König Assyriens ausliefern! Er soll seine Truppen nicht gegen uns schicken!‘ Seid mir gegenüber klug (= Haltet zu mir). Auf mein Wort könnt ihr euch verlassen!“ Nun, wenn es dem Herrn der Könige, meinem Herrn, beliebt, möge man eine gesiegelte Tafel des Königs für das Ergreifen von Nabû-bēl-šumāte an Ummaḫaldāšu bringen lassen, dann werde ich sie heimlich an Ummaḫaldāšu weiterleiten.153

145 Vgl. dazu den Überblick bei Frame, Babylonia, 182–186. „Die Kriege Assurbanipals mit Elam und der Bruderkrieg sind untrennbar miteinander verknüpft.“ (Mayer, Politik und Kriegskunst, 404) 146 Marduk-šar-usur wird später von dem gestürzten elamischen König Tammarītu, der bei Assurbanipal Zuflucht sucht, wieder zurückgebracht, andere werden etwa gleichzeitig von dem Usurpator Indabigaš freigelassen, um einigen von Assurbanipals Forderungen entgegenzukommen (vgl. Millard, Chronicle Text, 27f). 147 Übersetzung von ABL 292 bei Malbran-Labat, Nabû-bêl-šumâte, 22. 148 Siehe dazu ausführlicher im Folgenden. 149 Vgl. Brinkman, Empire, 102; Mayer, Politik und Kriegskunst, 407. 150 Nach Esra 4,9f unter anderem auch nach Samaria. 151 Zu diesem vgl. Dietrich, Aramäer, 99ff; de Vaan, Schwertklinge. 152 Die genaue Chronologie der im Folgenden zitierten Briefe ist unsicher; vgl. Waters, Letter, 79 und passim. 153 Übersetzung nach de Vaan, Schwertklinge, 245. Zur Umschrift siehe ebd. 243f. Vgl. auch Stolper, šarnuppu; Gerardi, Campaigns, 211f; Malbran-Labat, Nabû-bêl-šumâte, 32f.

84

Eskapistische Selbsttötungen

In ABL 281 Rs. 13–27 berichtet Bēl-ibni davon, dass Nabûbēlšumāti von den šarnuppū gefangengenommen wurde, um geraubte Rationen zurückzugeben, während Ummanaldaš Nabûbēlšumāti anscheinend nicht aus ihren Händen befreite.154 Nach dem Brief ABL 792 des Bēl-ibni an Assurbanipal ist Ummanšibar – wahrscheinlich handelt es sich bei diesem um den Vorsitzenden der Ältesten von Elam155 – dazu bereit, Nabûbēlšumāti an Assyrien auszuliefern, wenn auch widerwillig und unter Protest. Dieser Widerwille und Protest dürfte im Zusammenhang mit den anderen Briefen deutlich machen, dass sich die Ältesten von Elam einerseits und der König Ummanaldaš (Ḫumban-Ḫaltaš III.) von Elam andererseits bezüglich der Auslieferung von Nabûbēlšumāti keineswegs immer einig waren.156 Während Ummanaldaš eher bereit war, Nabûbēlšumāti auszuliefern, konnten sich die Ältesten von Elam offensichtlich nur schwer mit dieser Option anfreunden. In dem Brief ABL 792 heißt es: ABL 792 Vs. 9–14: Am sechsten Tag des Monats Šabaṭu hat Ummanšibir Bēl-upaḫḫir, den Sohn von Marduk-zēra-ibni, seinen Freund, dessen Worte ich in Gegenwart des Königs, meines Herrn, gemeldet habe, heimlich zu mir geschickt mit der157 Nachricht: „Jetzt hat Elam ihren Boten zum König von Assyrien geschickt mit der158 Nachricht: ‚Was für eine Sünde ist es, die wir Ihnen gegenüber begangen haben, wofür sie dies alles über uns gebracht haben?‘ Und weiter schrieb er mir: ‚Elam ist zum Ausliefern von Nabû-bēlšumāte an das Land Assur bereit, allerdings unter Protest (= aber in Scham).‘159

Nach dem erst vor gut 10 Jahren publizierten Brief BM 132980 antwortet Assurbanipal auf die Botschaft des Ummanšibar unter anderem folgendermaßen: BM 132980 Vs. 1–9 und Rs. 14–20: Word of the King to the elders of Elam: I and all of Assyria are well. With regard to that (message) which you proffered secretly: “Why does Assyria treat us like this?” Do you really not know why you have been treated like this? And even now you continue to ask! (It is) on account of Nabû-bēl-šumāti, Nabû-qātē-ṣabat, and Kiribtu that you have been treated like this. (…) Now then, I am writing to you: Send to me Nabû-bēl-šumāti and those with him, and then I myself will send to you your gods and make peace. However, if you delay or do not comply, by Aššur and my gods, I swear that under the aegis of the gods I will make your future become your past.160

In dem teils fragmentarischen Brief ABL 1286 des Bēl-ibni an Assurbanipal zitiert Bēl-ibni die Nachricht des Königs Ummanaldaš, dass Nabûbēlšumāti gefangengenommen wurde und Ummanaldaš der weiteren Befehle Assurbanipals harrt: ABL 1286 Rs. 5–9: Es ist aus Liebe zum König, meinem Herrn, daß ich schrieb. Nabû-bēl-šumāte habe ich aus dem Gebirge hinuntergebracht. Unter Bewachung läuft er bei mir herum, damit er nicht wieder ins Gebirge flüchten kann. Au[f eine Antw]ort des Königs, meines Herrn, werde ich hören.161

154

Umschrift und Übersetzung bei de Vaan, Schwertklinge, 244.246. Vgl. Waters, Letter, 85f. 156 Vgl. Waters, Letter, 86. 157 de Vaan schreibt „dem“. 158 de Vaan schreibt „dem“. 159 Übersetzung nach de Vaan, Schwertklinge, 285. Zur Umschrift siehe ebd. 284. Vgl. auch Gerardi, Campaigns, 211. 160 Übersetzung nach Waters, Letter, 82. Zur Umschrift ebd. 81f. Vgl. auch ders., Survey, 75. 155

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

85

Nach diesem Brief ist Nabûbēlšumāti zwar gefangengenommen, aber offensichtlich noch nicht an Assyrien ausgeliefert worden. Diese Auslieferung droht dann tatsächlich nach dem Brief ABL 879. In diesem Brief an Assurbanipal berichtet Ummanaldaš davon, dass er Nabûbēlšumāti in Gewahrsam genommen habe, um der Forderung nach Auslieferung zu entsprechen: ABL 879,7–9: You sent forces saying: “Send Nabu-bel-shumate to me.” I have seized162 Nabu-bel-shumate (and) I have sent him to you.163

Dieser drohenden Auslieferung entgeht Nabûbēlšumāti, indem er und sein Knappe sich gegenseitig töten, sei es noch direkt vor Reiseantritt während der Gefangenschaft bei Ummanaldaš164 oder auf dem Reiseweg hin zu Assurbanipal165 – “apparently preferring this to flaying and decapitation at the hands of the Assyrians”.166 Dieses Geschehen wird auf dem Assurbanipal-Prisma folgendermaßen aus der Perspektive des Siegers beschrieben: Assurbanipal-Prisma A VII 28–37: (28) I-dingirmuati // I-dingir+AG-en-mu-meš dumu dumu I-dingiramar-utu // I-dingiršú-a-AŠ(A1 usw.) // sumna(A5 usw.) (29) a-lak lúa kin-ia šá // ša qé-reb kur elam-maki (30) e-ru-bu iš-{me}-e-ma (31) ik-ku-ud šà-ba-šú ir-šá-a {na}-kut-tu (32) na-piš-ta-šú pa-nu-uš-šú ul e // i-qir-ma (33) iḫ-šu-ḫa mi // me -tu -ø // ú -tu // tú (34) a-na lúki-ze-e ra-{ma-ni-šú} iq-bi-ma (35) um-ma ra-ø // as-si-ban-ni {ina} gištukul-ø(A1, A3) // meš(A2, A5, A15, A31) (36) šu-u! // ú lúki-zu-šú ina // Ø(BM 123420) gír-an-bar(patar) šib-bi-šúnu (37) up-ta-at // ø-te // ti-ḫu (A5 ú-ra-si-bu) a-ḫa-meš (28) Nabûbēlšumāti, der Enkel Merodachbaladans, (30) erfuhr (29) das Kommen meines Boten, der Elam (30) erreicht hatte. (31) Sein Herz wurde ängstig, er bekam Angst, (32) seine Seele wurde wertlos in seinen Augen, (33) er sehnte sich nach dem Tode. (34) Zu seinem eigenen Knappen sprach er (35) folgendermassen: Erschlage mich mit der Waffe // den Waffen. (36) Er (und) sein Knappe (37) durchbohrten einander.167

Ähnlich wie in Ri 9,54; 1 Sam 31,4f wird von einer Selbsttötung in der Konstellation von Knappe und Kriegsmann in aussichtsloser Lage berichtet.168 Auch hier 161 Übersetzung nach de Vaan, Schwertklinge, 309. Zur Umschrift siehe ebd. 308. Vgl. auch die französische Übersetzung bei Malbran-Labat, Nabû-bêl-šumâte, 35. 162 Gerardi, Campaigns, 212, schreibt “siezed”. 163 ABL 879,7–9. Übersetzung nach Gerardi, Campaigns, 212. Vgl. auch die französische Übersetzung bei Malbran-Labat, Nabû-bêl-šumâte, 35f. 164 Nach Hdt. I 213 tötet sich auch Spargapises, der Königssohn der Massageten, in der Gefangenschaft unter Kyros. 165 Brinkman, Empire, 103 Anm. 514 sieht in dem Brief ABL 879 einen Widerspruch zu Asb. A VII 28–37 (zu diesem Text siehe im Folgenden), weil Nabûbēlšumāti, so Brinkman, nach ABL 879 lebend zu Assurbanipal geschickt wurde. Diese Annahme ist jedoch nicht notwendig, denn weder sagt der Brief eindeutig, dass Nabûbēlšumāti als lebender Gefangener den Reiseweg angetreten hat noch schließt er die Möglichkeit der Selbsttötung auf dem Reiseweg aus (vgl. Waters, Survey, 79). In dem fragmentarischen Brief ABL 1284, in dem der Name Nabûbēlšumāti mehrmals fällt, wird zudem die Aufforderung ausgesprochen, einen Leichnam in Salz einzulegen (vgl. ebd. 79 Anm. 56). 166 Potts, Archaeology, 285. 167 Asb. A VII 28–37. Umschrift und Übersetzung nach Borger, Inschriftenwerk, 59 und 243. 168 Die Parallelen sind meines Erachtens so eng, dass motivgeschichtliche Abhängigkeiten und die Entstehung von 1 Sam 31 in der zweiten Hälfte des 7. Jh. v.Chr. wahrscheinlich sind.

86

Eskapistische Selbsttötungen

erfolgt eine Aufforderung (rassibanni) an den Knappen (kizû), Nabûbēlšumāti mit der Waffe (kakku), genauer dem Schwert oder Dolch (patru) zu erschlagen. Und ähnlich wie in 1 Sam 31,4f finden Knappe und Kriegsmann gemeinsam den selbst gewählten Tod. Die Deutung des Geschehens ist jedoch eine gänzlich andere: Asb. A VII 28–37 interpretiert zwar die Selbsttötung Nabûbēlšumāti als letztmögliche Flucht vor einer ansonsten unausweichlichen Auslieferung. Auch dies ist eine Deutung der Selbsttötung als eines eskapistischen Phänomens, doch wird sie hier im Gegensatz zu Ri 9,54; 1 Sam 31,4f nicht positiv oder zumindest neutral, sondern negativ gewertet, indem die Angst und Verzweiflung (Asb. A VII 31: ikkud libbašu iršâ nakuttu) vor der Auslieferung betont werden: Die Selbsttötung erfolgt nicht aus Ehrgefühl, sondern aus Feigheit. Diese psychologische Interpretation dient in erster Linie der machtpolitischen Konstruktionsleistung, die Assurbanipal in seinen Inschriften vornimmt: Indem er den Handlungen seines Feindes ihren positiven Sinn raubt und den Gegner als Feigling darstellt, erscheint der Sieg Assurbanipals als ein totaler und das Treiben des Feindes als ein nicht nur militärisch, sondern auch sozial scheiterndes. Und so soll wohl jeder Gegner wie Nabûbēlšumāti letztendlich einsehen, dass das eigene Leben wertlos ist (Asb. A VII 32: napištašu pānuššu ul ēqirma), wenn man sich mit dem assyrischen Großkönig anlegt. Assurbanipal gibt damit einen Sinnhorizont in seinen Inschriften vor, der die Selbsttötung des Gegners im Rahmen seines gesamten frevelhaften Treibens als feige und wertlos erscheinen lässt. Damit dient die Angabe einer Ursache (die Feigheit des Gegners) der Sinndeutung des Geschehens. Historisch jedoch dürfte ein ähnliches Phänomen wie im Falle Sauls vorliegen: Angesichts der bevorstehenden Rache des Siegers ist es besser, diese nicht erleben zu müssen. In seinen Inschriften berichtet Assurbanipal mehrfach davon, dass er gefangene Gegner schinden und ihnen bei lebendigem Leib die Haut abziehen ließ.169 So ist es nachzuvollziehen, wenn Nabûbēlšumāti angesichts seiner Auslieferung einen selbstgewählten Tod vorzieht. Auf einem Relieffragment aus dem Palast Assurbanipals in Niniveh (Raum M) ist zu sehen, wie angesichts der bevorstehenden Kapitulation ein babylonischer Soldat seinen Landsmann erschlägt, der den Tod bewusst mit erhobenen Armen in Kauf nimmt (Abb. 8).170 Die Kontextualisierung ist deutlich: Der Kampf gegen Assurbanipal ist aussichtslos, und mit dem „assistierten Suizid“ will man es mit letzten Mitteln umgehen, lebend in die Hand des gefürchteten Gegners zu fallen.

169

Vgl. beispielsweise Asb. B VI 83–89; Asb. C IX 42–44.11’–12’.56’–66’. Vgl. auch Schaudig, Wahnsinn, 416: „Der eine der Männer hält mit beiden Händen den Dolch in Höhe des Bauches, der andere stürzt sich mit schwingenden Armen hinein“. Zu einer möglicherweise vergleichbaren bildlichen Darstellung einer gegenseitigen Selbsttötung vom Tell Halaf (meist als Zweikampf ausgelegt) vgl. von Oppenheim, Tell Halaf, 54f mit Tafel 35b Abb. A 3,49. In dem fragmentarischen Text K 2524 Vs. 14 (vgl. Van De Mieroop, Madness, 33f) heißt es, dass sich die elamischen Feinde selbst getötet hätten: […]x ina iṣkakki ram-ni-šú-nu ú-qat-tu-u na[p]-[ša]t-[s]uun „[…] mit ihren eigenen Waffen enden sie [i]hr L[ebe]n.“ (Umschrift und Übersetzung nach Bauer, Inschriftenwerk, 74f). 170

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

87

Abb. 8: Assistierter Suizid angesichts bevorstehender Kapitulation

Ähnlich wie im Falle Sauls (vgl. 1 Sam 31,8–10) ist die Rache des Siegers so schrecklich, dass auch noch der Leichnam des Verlierers geschändet wird. Nachdem die Leiche Nabûbēlšumātis für den „Versand“ in Salz eingelegt worden ist,171 behandelt sie Assurbanipal bei Ankunft in Niniveh folgendermaßen: Assurbanipal-Prisma A VII 45–50: (45) adda-šú a-a-din (A1, A5) // a-a ad-din (A2, A9) a-na qé-bé-ri (46) ugu šá // ša maḫ-ri mi // me-tuus-su ut-tir-ma (47) sag-du-su ak-kis ina gú I-dingirmuati // I-dingir+AG-šu-min(lies: qātī = meine Hand)-sabat (48) lú-dingirsin-ma-gir I-dingirgiš-nu11-mu-gi-na (49) šeš nak-ri // šá // ša it-ti-šú (50) a-na šum-ku-ri kur elam-maki il-li-ku a-lul (45) Seine Leiche gab ich nicht zur Beerdigung frei, (46) ich machte ihn noch toter als zuvor. (47) Seinen Kopf schlug ich ab (50) und hängte ihn (47) an den Nacken des Nabûqātīṣabat, (48) des simmagir Šamaššumukīns, (49) des feindlichen Bruders, welcher mit ihm (50) ausgezogen war, um Elam (mit mir) zu verfeinden.172

Bedeutsam an dieser Darstellung ist die Aussage, dass Assurbanipal seinen Gegner „noch toter als zuvor gemacht“ habe (Asb. A VII 46: eli ša maḫri mītūssu uttirma) – eine Aussage, welche die soziale und kulturelle Dimension der Schändung anzeigt: Mit der Schändung soll der „soziale Tod“ über den physischen hinaus, die Ver171 Asb. A VII 38–44. Umschrift und Übersetzung bei Borger, Inschriftenwerk, 59f und 243. Vgl. auch den sehr fragmentarischen Brief ABL 1284 (Übersetzung bei Gerardi, Campaigns, 212). 172 Asb. A VII 45–50. Umschrift und Übersetzung nach Borger, Inschriftenwerk, 60 und 243.

88

Eskapistische Selbsttötungen

achtung des Toten in den Augen der Öffentlichkeit und die Entmutigung weiterer Gegner angesichts des geschändeten Toten erzielt werden,173 denn der „soziale Tod“174 erweist sich als noch grundsätzlicher („toter“) als der physische Tod. Die Schändung ist nicht einfach nur sinnlose brutale Gewalt, sondern enthält einen „Sinngehalt“, nämlich den totalen, weil nicht nur physischen, sondern auch sozial vernichtenden Sieg über den Gegner anzuzeigen – ähnlich wie die „Kopfjagd“ bei der Schlacht am Ulai175 und die angesprochenen Vergeltungsmaßnahmen symbolischer Natur bei der Verwüstung Elams (die Entweihung der Königsgräber, der auferlegte Zwang, die Knochen der Ahnen zu mahlen, das Bestreuen des Landes mit Salz und Dornen) den vollständigen Sieg über den Feind auf allen Ebenen des Daseins und für alle Zeiten anzeigen.176 Dazu dient auch die Beschreibung des Selbstmords von Seiten des Feindes. In der Inschrift vom Ištar-Tempel von Niniveh wird wahrscheinlich ganz ähnlich wie im Falle von Nabûbēlšumāti und seinem Knappen von der Selbsttötung des Gutäers und „Gebirgler-Königs“ Tugdammī und dessen Knappen berichtet:177 ITT 159–162: (159) na-[mu-rat ? gištukul-meš a]n-šár en-ia is-ḫup // ḫúp-šú-ma maḫ-ḫu-tíš il-lik-ma [i]na mì-qit ṭè-[em]e (160) ú-na-áš // ø-šak rit⌉-[t]i-šú mut-ta-as-⌊su] [i]m-ma-šid-ma si-iḫ-lu iš-[šá-kin ina šà-bi-šú e]mešú im-mar-ta-ma (161) im-qut gìš-šú ina za-a-bi u ḫa-a-li u8-a a-a iq-ta⌋-ti na-piš-tuš […..] (162) ina ḫ[at-t]i ra-ma-ni-šú-nu [urassibū ? a]-ḫa-meš ina gištukul-meš i-dal-la-lu ta-nit-ti an-šár en gal-[e en]-iºa Der furchtbare Glanz [der Waffen] Assurs, meines Herrn, überwältige ihn, er wurde wahnsinnig und biss sich in Verzweiflung in die Hände. Eine seiner Körperhälften wurde vom Schlag getroffen und ein Stachel entstand [in seinem Innern]. Seine Zunge wurde ge…t und sein Glied wurde schlaff. Unter Zergehen und Zerfliessen, Ach und Weh neigte sich seine Seele dem Ende zu. [Er und sein Knappe] [erschlugen] einander aus innerer Angst mit (ihren) Waffen, dabei den Ruhm Assurs, des grossen Herrn, meines [Herrn], preisend.178

Auch nach diesem Text ist die neuassyrische Propaganda unverkennbar: Die suizidalen Handlungen des Feindes werden auf dessen Angst und Verzweiflung zurückgeführt, die angesichts des göttlichen Schreckensglanzes den Gegner sogar in den Wahnsinn führen.179 Durch diesen „Schlag des Verstandes“ (ina miqit tēmi)180 neigt sich das Leben bzw. die „Seele“ (napištu) von Tugdammī dem Ende zu, und angesichts dieser Situation, so ist dem fragmentarischen Text wohl in Analogie zu Nabû173 Dies hat im Falle des Botschafters Nabûdamiq Erfolg, denn dieser sticht sich mit dem Schwert selbst in den Unterleib, als er den abgeschlagenen Kopf seines Kriegsherrn Te-Umman in Niniveh erblickt (siehe dazu unten das Kapitel über Urtak und Nabûdamiq von Elam). 174 Zum sozialen Tod siehe oben das Kapitel über Ehre und Schande des Toten sowie passim. 175 Siehe dazu ausführlich unten das Kapitel über Urtak und Nabûdamiq von Elam. 176 Zu den Strafmaßnahmen der Assyrer vgl. ausführlich Fuchs, Assyrer. Zu deren bildlicher Darstellung vgl. Berlejung, Bilder, passim. 177 Vgl. Rollinger, Extreme Gewalt, 607, Schaudig, Wahnsinn, 415. 178 Umschrift und Übersetzung nach Andreas Fuchs in Borger, Inschriftenwerk, 287f.295. 179 Zum Wahnsinn in Mesopotamien vgl. nun ausführlich Schaudig, Wahnsinn. 180 Zu dieser Formulierung siehe ausführlicher unten in dem Kapitel über Mitinti von Askalon. Auch die Formulierung über die Panik des Königs und seines Knappen (ina ḫ[at-t]i ra-ma-ni-šú-nu) scheint den „Wahnsinn“ des Tugdammī zu unterstreichen (zum Verlust der personalen Integrität bei Wendungen mit ramanu vgl. Steinert, Aspekte, 262–268).

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

89

bēlšumāti zu entnehmen, töten sich der gutäische König und sein Knappe gegenseitig (aḫāmeš), während sie ganz im Sinne assyrischer Propaganda den Nationalgott Assur preisen. Die negative Deutung des Suizids, seine Rückführung auf Angst, Verzweiflung und Wahnsinn, dient in der Propaganda Assurbanipals dazu, den Gegner verächtlich zu machen und den Sieg über den Feind nicht nur als einen totalen hervorzuheben, sondern auch als einen solchen, der die Einsicht des Feindes in seine eigene Niederlage hervorkehrt, indem der Feind an seinem Lebensende die Macht des assyrischen Nationalgottes preisend und rühmend anerkennen muss. Diese suizidale Einsicht des Feindes in seine eigene Niederlage kommt auch in der folgenden Quelle über Urtak von Elam sehr deutlich zum Ausdruck. d) Urtak und Nabûdamiq von Elam Auf ähnliche Weise wie in den bisher besprochenen Quellen ist ein ikonographischer Beleg einer Selbsttötung auszulegen. Die Darstellung, ursprünglich in Raum 33 im Südwestpalast Assurbanipals in Niniveh angebracht, nun im British Museum, gehört zu einer Bilderserie im „kontinuierenden Stil“181 von der Schlacht Assurbanipals am Ulai gegen Te-Umman von Elam. Unter Assurbanipal hatten sich die Beziehungen Assyriens zu Elam verschlechtert. Noch zu Beginn der Zeit Assurbanipals herrschten friedliche, sogar freundschaftliche Beziehungen vor, ablesbar an den Hilfslieferungen, die Assurbanipal während einer Hungersnot an Urtak von Elam sandte.182 Diese Lage änderte sich schlagartig, als Urtak – angestachelt von Gegnern Assurbanipals – in Babylonien einmarschierte. Er konnte zwar nach einiger Zeit zurückgeschlagen werden, doch nach seinem kurz darauf folgenden Tod „vor seiner Zeit“ (ina ūme lā šīmtišu) eroberte Te-Umman (Tepti-Ḫumban-Inšušinak) durch eine Revolte den Königsthron und setzte die antiassyrische Politik seines Vorgängers fort. Wiederholt forderte er durch Boten183 von Assurbanipal die Auslieferung der Königsfamilien seiner Vorgänger, die zu Assurbanipal geflüchtet waren.184 Im Jahre 653 v.Chr.185 kam es am Fluss Ulai (elamisch Ulā; akkadisch Ūlāya; hebräisch Ulai; griechisch Eulaios = Choaspes; wahrscheinlich der heutige Fluss Karḫa)186 zur entscheidenden Schlacht, in der die Assyrer aufgrund ihrer überlegenen Kriegsführung187 siegten. Der Sieg der Assyrer wurde später im sogenannten Raum 33 von Assurbanipal in Sanheribs Südwestpalast in Niniveh auf mehreren Reliefs in “the finest large-scale composition in Assyrian art”188 festgehalten. Auf diesen Reliefs ist zu sehen, wie von links die Assyrer nahe der Stadt Til-Tuba die Elamiter auf einer Anhöhe angreifen und 181

Vgl. dazu Watanabe, Style. Überblicke z.B. bei Carter/Stolper, Elam, 49f; Brinkman, Empire, 91f; Frame, Babylonia, 119–122; Potts, Archaeology, 275–280. 183 Zu den Boten Te-Ummans gehörte auch Nabûdamiq, auf dessen Selbsttötung unten in diesem Kapitel einzugehen ist. 184 Zu den Flüchtlingen vgl. Potts, Archaeology, 276f. 185 Vgl. J. Mayr in Piepkorn, Prism Inscriptions, 105–109; Grayson, Chronology, 236. 186 Vgl. Potts, Elamite Ulā; Bagg, Ulai. 187 Vgl. dazu Córdoba, Schlacht. 188 Curtis/Reade, Art and Empire, 72. 182

90

Eskapistische Selbsttötungen

bis zum Ulai zurückdrängen. Hier am Fluss werden einzelne Szenen im Schlachtgetümmel besonders herausgestellt, oftmals weiterhin hervorgehoben durch Inschriften, die direkt über den entsprechenden Szenen eingekeilt wurden und diese kommentieren.189 Zentrales Motiv stellt die Niederlage und Enthauptung des elamischen Anführers Te-Umman dar.190 In einer ersten Darstellung zerbricht der Wagen und begräbt TeUmman und seinen Sohn Tammaritu unter sich.191 Die beigegebene Inschrift hält darüber hinaus fest, dass Te-Umman verwundet wurde und sich im Wald versteckte. Daraufhin wird gezeigt, wie Tammaritu seinen Vater bei der Hand nimmt und wegführt. In einer dritten Szene sind Te-Umman und sein Sohn von Assyrern umzingelt. Te-Umman kniet schon von einem Pfeil verwundet am Boden, während sein Sohn neben ihm steht. Die beigebene Inschrift hält fest, dass Te-Umman seinen Sohn „in Verzweiflung“ auffordert, seinen Bogen zu erheben; dem kommt Tammaritu in der Darstellung auch nach.192 In der anschließenden Szene wird Te-Umman von einem assyrischen Soldaten enthauptet, während der Körper seines Sohnes schon enthauptet über ihm liegt. Die beigegebene Inschrift fasst die letzten Szenen zusammen und hält fest, dass Assurbanipal mit Hilfe der Götter Te-Umman und Tammaritu nicht nur getötet, sondern auch den Kopf abgeschnitten habe (Abb. 9).193

189

Zu den verschiedenen Typen von Reliefinschriften (einzelne Worte; „anāku-Reliefinschriften“; deskriptive Reliefinschriften) vgl. Gerardi, Epigraphs. Die acht Inschriften auf den Reliefs zur Schlacht am Ulai sind den deskriptiven Reliefinschriften zuzuordnen: “They no longer contain the name and titles of the king, and rather than describing the entire scene depicted and adding additional information, they tend to focus on the activity of one small moment in the narrative. They are usually composed in the third person and generally involve the capture, surrender, or punishment of the enemy.” (ebd. 9) 190 Ausführliche Darstellung bei Barnett/Bleibtreu/Turner, Sculptures, Tafel 286–320; Kaelin, Bildexperiment; Russel, Writing on the Wall, 166–181; Watanabe, Style. Vgl. auch Gerardi, Campaigns, 135–153. Zur Geschichte der Ikonographie der Enthauptung in Syrien und Mesopotamien seit dem 3. Jt. v.Chr. vgl. Dolce, Head of the Enemy. Vgl. auch dies., Beyond Defeat, zur „psychologischen Vernichtung“ und zum sozialen Tod des Feindes im Alten Orient. 191 “Both the king and the son are presented as objects of ridicule” (Watanabe, Style, 107). 192 Die Übersetzung der Reliefinschrift als Bitte um Beihilfe zum Selbstmord (also analog zur Urtak-Inschrift) mit “Teumman who, in the collapse of his reason, said to his son, ‘Shoot me with the bow’.” (so beispielsweise noch Bahrani, The King’s Head, 116) ist weder durch den Text (su-lee GIŠ.BAN) noch durch die Ikonographie gedeckt, denn Tammaritu erhebt seinen Bogen eindeutig gegen die feindlichen Assyrer, nicht gegen seinen Vater. Die Übersetzung muss daher lauten: „TeUmman sagte in einer Panikattacke zu seinem Sohn: ‚Nimm den Bogen auf‘ (= um damit zu schießen)!“ (vgl. Weidner, Beschreibungen, 178f; Gerardi, Epigraphs, 30). Zu der Formulierung mit ina miqit tēmi siehe auch unten das Kapitel über Mitinti von Askalon. 193 Vgl. auch die neuere Abbildung in Barnett/Lorenzini, Skulpturen, Tafel 144.

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

91

Abb. 9: Die Enthauptung von Te-Umman

In den weiteren Szenen der Reliefs sehen wir, wie assyrische Soldaten als „Freudenboten“ zwei Köpfe in der Hand wegtragen. Die beiden Köpfe erscheinen daraufhin in einer Szene, in der die Soldaten in ihrem Lager die abgeschlagenen Köpfer der Feinde auf einem Haufen sammeln. Anschließend sieht man einen Soldaten auf einem Wagen davonfahren, den Kopf Te-Ummans als Trophäe hochhaltend. Die beigegebene Inschrift hält in den Worten Assurbanipals fest, dass einer seiner gemeinen Soldaten Te-Umman enthauptet habe und den Kopf nun als Teil der „Freudenbotschaft“ (bussurtu)194 zu Assurbanipal nach Assyrien bringe. Assurbanipal selbst vollzieht dann an Te-Ummans Haupt mehrere rituelle Handlungen,195 indem er dem Kopf die Haut abzieht, ihn öffentlich bespuckt, beim triumphalen Einzug in Arbela und Niniveh über dem Kopf Libationshandlungen vollzieht196 und ihn dem gefangenen Dunanu als Zeichen seiner Demütigung um den Hals hängt. Schließlich erscheint Te-Ummans Haupt wieder auf einer vom Reliefzyklus unabhängigen Darstellung, in der Assurbanipal in seiner „Gartenlaube“ diniert, während Te-Ummans 194

Vgl. Gerardi, Epigraphs, 29 (slab 1). Vgl. dazu Bonatz, Headhunt, 94–98. Assurbanipal scheint geradezu dieses „Ritual der Kopfjagd“ erfunden zu haben und verbindet in ihm die Symbolik von politisch-militärischer Macht, religiöser Mission und ritueller Tradition (vgl. ebd. 99f). Kritisch zur Interpretation von Bonatz Fuchs, Assyrer, 98 mit Anm. 84. 196 Die Libationshandlung erinnert an diejenige von Assurbanipals königlicher Löwenjagd: “Thus, the public image of the triumphant king as headhunter and as lion hunter merged into a single figure” (Bonatz, Headhunt, 96). 195

92

Eskapistische Selbsttötungen

Kopf von einem Baum herabhängt (Abb. 10).197 “We may notice how the head of Te-Umman had become a lasting trophy signifying that Ashurbanipal had actively and permanently gained control over his enemies.”198

Abb. 10: Assurbanipal in der Weinlaube

Für unsere Fragestellung ist eine weitere Szene auf Relief 2 von Interesse. Hier sieht man Urtak von Elam, den Schwiegersohn des Te-Umman, von zwei Pfeilen getroffen auf dem Boden sitzen, seinen Bogen neben sich. Während er sich einem in seinem Rücken stehenden Soldaten mit dem Kopf zuwendet, richtet er seinen linken Unterarm mit der Hand, wahrscheinlich eine Schneidebewegung symbolisierend, an seinen Hals (Abb. 11).199 Darüber ist eine Inschrift eingekeilt, die diese Szene in Worte fasst: ur-⌈ta⌉-ku ḫa-ta-nu mte-um-man šá ina [us-s]i muḫ-ḫu-su la iq-tú-u ZI.MEŠ a-na ⌈na⌉-[k]as SAG.DU ra-ma-ni-šú DUMU KUR AŠ+ŠUR i-šá-si-⌈ma⌉ um-ma al-ka SAG.DU KU5-is IGI LUGAL EN-ka i-ši-⌈ma⌉ le-e-qi MU SIG5-tim m

Urtak, der Schwiegersohn des Te-Umman, der durch einen Pfeil verwundet war, ohne dass das Leben zu einem Ende kam, zum Abschneiden seines eigenen Kopfes rief er einen Assyrer folgendermaßen: „Komm! Den Kopf schneide (mir) ab! Vor den König, deinen Herrn, bringe (ihn)200 und mache (dir) einen guten Namen!“201

197

Vgl. auch die neuere Abbildung in Barnett/Lorenzini, Skulpturen, Tafel 168. Bonatz, Headhunt, 98. 199 Vgl. auch die neuere Abbildung in Barnett/Lorenzini, Skulpturen, Tafel 140. 200 Oder auch: Vor dem König, deinem Herrn, erhebe (ihn). 201 Reliefbeischrift im Südwestpalast von Niniveh, Raum 33, Relief 2, unteres Register. Umschrift nach Gerardi, Epigraphs, 30. Übersetzung J.D. 198

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

93

Abb. 11: Das Ende des Urtak von Urartu

Zu den Reliefinschriften gibt es Parallelen auf Tontafeln (CT 35), wobei das Verhältnis zwischen den Reliefbeischriften und den Tontafeln bislang nicht sicher geklärt werden konnte. Vielleicht waren die Tontafeln Textvorlagen für die später angebrachten Reliefinschriften.202 Die Reliefinschrift zum Schicksal von Urtak scheint jedenfalls ihre Textvorlage auf einer dieser Tontafeln zu haben, denn hier wurde der Platz für den Einsatz des Namens Urtak noch frei gelassen: I

Leerraum ša i[na u]s-si muḫ-ḫu-su la iq-tu-u z[ia-na na-kas s[a]g⌋-du ra-me-ni-šú dumu-meš kur aš-šurki i-šá-⌈as]-[si] um-ma al-kºa sag-du-mu kud-is-ma ma-ḫar lugal en⌉-[ka] i-ši-ma le-e-qé mu sig5-t[im] [Urtak], der durch einen Pfeil verwundet war, ohne dass das Leben zu einem Ende kam, zum Abschneiden seines eigenen Kopfes rief er Assyrer folgendermaßen: „Komm! Meinen Kopf schneide ab und vor den König, deinen Herrn, bringe (ihn)203 und mache (dir) einen guten Namen!“204

202 Vgl. Weidner, Beschreibungen, 176; Kaelin, Bildexperiment, 40f.60–63; vgl. beispielsweise auch Russel, Writing on the Wall, der Text A für ein “draft program for a relief series” (193) und “an early full version of the program for the reliefs” (198) hält. 203 Oder auch: Vor dem König, deinem Herrn, erhebe (ihn). 204 K 2674+ II 4–7 (CT 35 Tf. 10). Umschrift nach Borger, Inschriftenwerk, 302. Übersetzung J.D. Vgl. auch Weidner, Beschreibungen, 182f sowie Streck, Assurbanipal, 314f; Kaelin, Bildexperiment, 46.118f.

94

Eskapistische Selbsttötungen

Wie im Falle Abimelechs (Ri 9,53) und Sauls (vgl. 1 Sam 31,3bLXX; 1 Chr 10,3b LXX; 2 Sam 1,6) wird die Verwundung eines Kriegsherrn gezeigt, der – schon kraftlos zu Boden gesunken – einen schnellen Tod dem weiteren, von vornherein zum Scheitern verurteilten Kampfesgeschehen und dem späteren Mutwillen der Sieger vorzieht. Und ähnlich wie in den bisher behandelten Fällen wird kein Tod von eigener Hand dargestellt, sondern ein Sprachgeschehen vor die Tötung geschaltet, in welcher der Kriegsmann eine andere Person zur „Tötung auf Verlangen“ auffordert. Auf diese Weise soll das Geschehen deut- und interpretierbar werden. Während auch hier ein eskapistischer Sinn der Selbsttötung vorliegt, geben die Künstler und Schreiber der Szene eine zusätzliche Deutung, indem sie ein gängiges Kriegsphänomen in Bild und Inschrift unterbringen: das Abschlagen der Köpfe feindlicher Anführer durch einfache assyrische Soldaten und den eiligen Transport des Kopfes im Kriegswagen zum Großkönig. Indem Urtak selbst zu seiner eigenen Enthauptung auffordert, liegt der Schwerpunkt der Darstellung auf der Einsicht des Feindes in seine totale Niederlage.205 Dass es dabei um Ehre und Schande geht, macht neben dem offensichtlichen ikonographischen und epigraphischen Bezug zum Schicksal Te-Ummans sprachlich vor allem der letzte Satz der Inschrift „mache (dir) einen guten Namen!“ (le-e-qé mu sig5-t[im]) deutlich.206 Sich einen „guten Namen“ zu machen, das heißt die Ehre, die Freudenbotschaft und das Haupt des Gegners dem König vorführen zu können – dazu fordert ausgerechnet der unterlegene elamische Urtak seinen assyrischen Feind auf.207 Die letztlich ehrenvolle Möglichkeit, einen Gefährten oder Knappen um „Beihilfe“ zu bitten – wie im Falle Abimelechs, Sauls, aber auch Nabûbēlšumātis208 – wird in dieser Darstellung nicht gewährt. Die Propaganda dieser Szene ist deutlich: Die Macht des Großkönigs ist absolut und weitere Aufstände sind sinnlos, wenn sogar die Feinde ihr eigenes Scheitern einsehen, ihrem assyrischen Gegner die siegreiche Ehre zusprechen und den Feind zu einem entehrenden „Tod auf Verlangen“ durch Enthauptung auffordern müssen. Diese Einsicht in die eigene Niederlage wird im Rahmen des vorliegenden Reliefzyklus und seiner Beischriften unter anderem auch an zwei Gesandten TeUmmans am Hofe Assurbanipals in Niniveh demonstriert, die zuvor regelmäßig „freche“ Botschaften Te-Ummans an Assurbanipal überbracht hatten (AssurbanipalPrisma B IV 87–98). Beide mussten miterleben, wie der Kopf Te-Ummans in Niniveh öffentlich zur Schau gestellt wird, indem Danunu, dem gefangenen König der Gambuläer, der Kopf Te-Ummans umgehängt wird, während dessen Bruder Samgunu den Kopf des elamischen Vizekönigs Ištarnandi um den Hals tragen muss. 205

Dies wird im Akkadischen auch durch das Wort ramanu untermauert, welches hervorhebt, dass Urtak in reflektierter Weise handelt und für die folgende Handlung und ihre Konsequenz bewusst die Verantwortung übernimmt (zur Reflexion und Eigenverantwortung bei Wendungen mit ramanu vgl. Steinert, Aspekte, 257–262). 206 „šum damiqti leqû (so zu lesen) = ‚Ehre einheimsen‘“ (Landsberger, Das „gute Wort“, 315); vgl. AHW 1275; CAD 17/3, 293 s.v. šumu 2b; zum Phänomen siehe oben das Kapitel über die erworbene Ehre (Ruhmesehre). 207 Deshalb ist die Ansicht von Radner, Macht des Namens, 93, dass Urtak in der assyrischen Darstellung „durch Heldenhaftigkeit“ ausgezeichnet und als „der heroische Urtakku“ gezeichnet wird, gerade nicht korrekt. 208 Zu diesem siehe das vorhergehende Kapitel.

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

95

Angesichts dieser Situation, so die Annalen Assurbanipals, raufte sich der eine Gesandte Te-Ummans, Umbadarā, seinen Bart aus, während der andere, Nabûdamiq, einen Suizid(versuch) vor Trauer und Verzweiflung unternimmt, indem er sich mit seinem Dolch in den Bauch sticht: Assurbanipal-Prisma B VI 57–65 = C VII 55–62: Umbadarā und Nabûdamiq, die Botschafter Teummans, des Königs von Elam, durch deren Hand Teumman mir eine freche Nachricht geschickt hatte, welche ich vor mir zurückgehalten hatte und die auf meine Anordnung warteten – sie sahen den abgeschlagenen Kopf Teummans, ihres Herrn, in Ninive und verloren den Verstand. Umbadarā raufte seinen Bart aus. Nabûdamiq stach sich mit seinem Gürtelschwert in den Bauch.209

Der Einzug Assurbanipals in Niniveh, das Umhängen der Köpfe Te-Ummans und Ištarnandis um den Nacken von Danunu und Samgunu sowie die Reaktion der beiden Gesandten Umbadarā und Nabûdamiq war wahrscheinlich auf Register I in Raum 33 des Südwestpalastes dargestellt, doch leider ist das Register derart zerstört, dass die Szenen verloren sind.210 Immerhin besitzen wir zwei – ebenfalls fragmentarische – Tontafeln, die wohl als Vorschläge für die nicht mehr erhaltene Reliefbeischrift gedient haben: Tafel E Vs. 10–13: 2; Ich (bin) Assurbanipal, der König der Gesamtheit, der König von Assyrien. Nabûdamiq (und) [ Um]badarā, die Vornehmsten [ ] [frec]hen [ ] ABGEBROCHEN [ ] ? ABGEBROCHEN211 Tafel A2 I 4’–10’: [ ] Vornehmsten des Teumman [ die e]r schickte [ in vo]llem Zorn über ihren Herrn [ ] hielt er sie zurück. [ ], den man vor mich gebracht hatte, sahen sie. [ ] raufte seinen Bart. [ ] durchbohrte [m]it seinem Gürtelschwert seinen Bauch.212

Auch diese Texte aus den Annalen und auf den Tontafeln sind ganz im Sinne assyrischer Propaganda verfasst. Insbesondere der Annalentext ist hier aufschlussreich: Angesichts des abgeschlagenen Kopfes ihres Anführers und Königs, für den sie in Niniveh als Diplomaten agieren, verlieren die beiden Gesandten Umbadarā und Nabûdamiq den Verstand (e-mu-ru-u šá-né-e ṭè-e-me iṣ-bat-su-nu-ti „Sie sahen und ein veränderter Verstand ergriff sie.“),213 sodass die Beschreibung der folgenden Handlungen – Handlungen der Trauer und Verzweiflung – den Charakter von irrsinnigen Taten erhalten: Dass sich vor allem Nabûdamiq mit dem Dolch in den Bauch sticht (I-dingirmuati ina gír-an-bar(patar) šib-bi-šú is-ḫu-la ka-ra-as-su „Nabûdamiq durch209

Übersetzung nach Borger, Inschriftenwerk, 227. Zur Umschrift siehe ebd. 106f. Vgl. Kaelin, Bildexperiment, 53. 211 Übersetzungen nach Kaelin, Bildexperiment, 53.124. 212 Übersetzungen nach Kaelin, Bildexperiment, 53.120. 213 Prisma B VI 63. Umschrift nach Borger, Inschriftenwerk, 107. 210

96

Eskapistische Selbsttötungen

bohrte mit dem Dolch seines Gürtels seinen Bauch.“) erscheint aus dieser Perspektive wie eine geistesgestörte Handlung. Die übliche negative Charakterisierung des Selbstmords in den neuassyrischen Quellen setzt sich deshalb auch hier fort: Selbstmord begehen allein die Gegner, deren suizidalen Handlungen eine negativ bewertete mentale Ursache unterstellt wird: Feigheit oder geistige Verwirrung.

Abb. 12a–b: Nabûdamiq und Umbadarā vor urartäischen Gesandten

Dass Nabûdamiq seinen Suizidversuch überlebte oder aber dass hier möglicherweise sogar nur bloße Propaganda ohne historische Tatsachen vorliegt, ist daraus ersichtlich, dass Nabûdamiq zusammen mit seinem Kollegen Umbadarā ein erneutes Auftreten zugewiesen bekommt: Auf einem Relief Assurbanipals und einer entsprechenden Beischrift im Südwestpalast Sanheribs von Niniveh werden beide in Arbela – nach dem Geschehen in Niniveh – mit ihren „frechen“ Botschaften vor zwei urartäische Diplomaten geführt, um diese einzuschüchtern (Abb. 12a-b).214 Die beiden Urartäer werden von einem assyrischen Soldaten vor ihnen und dreien hinter ihnen vorgeführt. Nabûdamiq und Umbadarā stehen vor ihnen und einer von beiden hält eine Tontafel, offenbar mit ihrer „frechen“ Botschaft, in der Hand. Hinter Nabûdamiq und Umbadarā stehen wiederum zwei assyrische Soldaten vor dem Wagen des Königs, auf dem sich der König, der Wagenlenker und der Schirmträger befinden, sodass Elamer und Urartäer vollständig von Assyriern umgeben sind. Auf der entsprechenden Reliefbeischrift über der Szene lautet der Text: [I]ch (bin) Assurbanipal, der König der Gesamtheit, der König von Assyrien, [der] mit dem Beistand Assurs und der Ištar, meiner Herren, meine [Feinde] überwältigte. Ich erreichte alle meine Wünsche. [Ru]sa, der König von Urar[tu], hörte von der Macht Assurs, meines Herrn, und die Furcht vor meinem Königtum warf ihn nie[der], und er sandte seine Vornehmsten, nach Arbela um sich nach meinem

214

Vgl. auch die neuere Abbildung in Barnett/Bleibtreu/Turner, Sculptures, Tafel 312.

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

97

Wohlbefi[nden] zu erkundigen. Nabûdamiq und Umbadarā, die Vornehmsten von Elam, stellte ich mitsamt den Tafeln mit der frechen [Bot]schaft vor ihnen auf.215

Es ist daher keineswegs sicher, ob Nabûdamiq tatsächlich Selbstmord begangen oder zumindest einen Suizidversuch unternommen hat – oder ob ihm ein Suizid bzw. Suizidversuch von den assyrischen Schreibern untergeschoben wird, um den vollständigen Sieg Assurbanipals, die rituelle Zurschaustellung von Te-Ummans Kopf sowie die Einsicht der Feinde in ihre eigene Niederlage eindrücklich vor Augen zu stellen. Wie wir im nächsten Abschnitt über den Selbstmord Ursās von Urartu sehen werden, ist der Suizidversuch Nabûdamiqs keineswegs der einzige, an dem historische Zweifel aufkommen. e) Ursā von Urartu Die letzten in diesem Kapitel zu besprechenden neuassyrischen Quellen sind diejenigen über die Selbsttötung Ursās von Urartu, der angesichts seiner endgültigen militärischen Niederlage gegen Sargon II. und angesichts der Verschleppung der Hauptgötter Urartus, Ḫaldi und Bagbartu, Selbstminderungsriten und schließlich Selbstmord verübt haben soll. Urartu war einer der bedeutsamsten Gegner Assyriens zur Zeit von Sargon II.216 Auf seinem achtem Feldzug im Jahre 714 v.Chr. zog Sargon gegen Urartu und brachte dem Land und seinem König Rusā/Ursā I. eine empfindliche Niederlage bei. Er besiegte nicht nur Ursā in einer offenen Gebirgsschlacht, sodass dieser erst nach Turušpa, dann weiter ins Gebirge fliehen musste, sondern er marschierte unter anderem auch gegen die Stadt Muṣaṣir, die zwar außerhalb des Kernlandes Urartus lag und über die ein eigener Fürst namens Urzana herrschte, aber anscheinend mit ihrem Tempel des Gottes Ḫaldi und seiner Paredra Bagbartu den nationalen Hauptkultort und Krönungssitz auch der Königsdynastie von Urartu stellte (Abb. 13).217 Über den Feldzug Sargons gegen Urartu und Muṣaṣir sowie über den anschließenden Suizid Ursās von Urartu berichten mehrere neuassyrische Quellen: der sogenannte Gottesbrief Sargons aus Assur sowie die Inschriften Sargons aus Dur Šarrukin/Khorsabad.218 Zusammengenommen lassen diese Quellen die neuassyrische Propaganda und Rhetorik sowie die historische Fragwürdigkeit von Ursās Suizid deutlich werden.

215

Übersetzungen nach Kaelin, Bildexperiment, 30.56. Vgl. auch den Tontafelvorschlag auf Tafel E Rs. 9’–13’ einschließlich Rand 1–2 (Kaelin, Bildexperiment, 56.124) sowie den Annalentext Assurbanipal-Prisma C VII 76–84 (Borger, Inschriftenwerk, 147.227f). 216 Zum allgemeinen geschichtlichen Hintergrund siehe etwa Edzard, Geschichte, 207–213; Mayer, Politik, 324–334, ders., Assyrien und Urarṭu, 21–76. Zur aktuellen Forschungsdiskussion um Rusā Sarduri, Rusā Argišti und Rusā Erimena siehe im Folgenden. 217 Zur Lage und Bedeutung Muṣaṣirs auch für Urartu vgl. Radner, Between a Rock, 245–254. Vgl. auch Kravitz, Revision, 91f. 218 Hinzu kommen noch Inschriften aus Kalḫu/Nimrud (vgl. Gadd, Prisms).

98

Eskapistische Selbsttötungen

Abb. 13: Plünderung des Ḫaldi-Tempels

In der neuesten Forschung zu Urartu besteht über die chronologische Einordnung der urartäischen Könige Rusā/Ursā I.–III.219 und somit auch über die Frage, welcher urartäische König nach den neuassyrischen Quellen Selbstmord begangen haben soll, ein anregender wissenschaftlicher Disput. Die neuassyrischen Quellen selbst sind daran nicht unschuldig, lassen sie doch nicht immer durch die Angabe von Vatersnamen deutlich werden, welchen Rusā/Ursā sie im Blick haben. Es scheint sich meines Erachtens in der neuesten Forschung bei allen Kontroversen abzuzeichnen, dass die traditionelle Chronologie, die mit Lehmann-Haupt beginnt220 und in Mirjo Salvini ihren bedeutsamsten aktuellen Verfechter hat,221 von den meisten Fachleuten nicht mehr vertreten wird, sondern Rusā Erimena – der traditionell als zuletzt auftretender Rusā/Ursā III. betrachtete Rusā – früher und jedenfalls vor Rusā Argišti (dem traditionell betitelten Rusā II.) zu datieren ist.222 Als Gründe für diese Umdatierung können unter anderem die Datierung der Stilgruppen von den königlich-urartäischen Stier- und Löwendarstellungen herangezogen werden, wie sie Ursula Seidl vorgelegt hat.223 Methodische Probleme bestehen hier meines Erachtens nur darin, dass mit einlinigen künstlerischen und anderen Geschichtsentwicklungen gerechnet wird, obwohl weder Geschichte einlinig verlaufen noch Künstler vor beabsichtigten Rückgriffen oder Stilbrüchen Halt machen müssen. Doch die Tatsache, dass neben den kunstgeschichtlichen auch noch weitere Argumente sowie Probleme der traditionellen Datierung ins Feld geführt werden können, spricht im Ganzen gesehen meines Erachtens für die neueren Datierungsversuche, die Rusā Erimena auf 219

In den assyrischen Quellen wird der Name sowohl Ru-sa-a als auch Ur-sa-a geschrieben, im urartäischen Ru-sa-a (vgl. Salvini, Rusa, 464). 220 Vgl. zur Forschungsgeschichte Roaf, Thureau-Dangin. 221 Vgl. Salvini, Rusa; ders., Argišti; ders., Corpus. 222 Die Diskussion begann mit dem Aufsatz von Kroll, Urartus Untergang, aus dem Jahre 1984. 223 Vgl. Seidl, Bronzekunst, 122–124; dies., Rusaḫinili, dies., Rusa son of Erimena.

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

99

die eine oder andere Weise vor Rusā Argišti oder noch früher datieren.224 Angesichts der aktuellen und noch nicht abgeschlossenen Diskussionslage neige ich dazu, der „radikalsten“ Lösung Glauben zu schenken, die Michael Roaf in mehreren Artikeln vorgeschlagen hat, weil dessen Vorschlag die Probleme meines Erachtens am einfachsten löst und am wenigsten Schwierigkeiten verbleiben.225 Michael Roaf geht davon aus, dass Rusā Erimena als Rusā I. der eigentliche Gegner Sargons auf dessen achtem Feldzug war, der erst nach einem Attentat von Rusā Sarduri abgelöst wurde, sodass auch der nach neuassyrischen Quellen berichtete Selbstmord Rusās/ Ursās eben diesem Rusā Erimena zugeschrieben werden müsste – wenn er denn historisch ist. Die folgende Diskussion legt sich jedoch angesichts der aktuell divergierenden Diskussionslage nicht auf einen bestimmten Rusā fest, sondern ist sowohl für die Festlegung auf Rusā Sarduri als auch Rusā Erimena offen. Nach der ältesten Quelle über den achten Feldzug Sargons gegen Urartu, dem Gottesbrief Sargons an Assur aus dem Jahr des Feldzugs (714 v.Chr.), begeht Ursā keinen Selbstmord, legt sich aber eine sich selbst beigebrachte Bestrafung auf.226 Der Gottesbrief ist so angelegt, dass bei der Beschreibung der einzelnen Feldzüge und Schlachten die Ereignisse um die Schlacht gegen Ursā auf dem Berg Uauš, etwa in der Mitte des Briefes (Zeile 91–166), und die Einahme von Muṣaṣir am Ende des Briefes (Zeile 309–414) als die beiden aufeinander bezogenen Höhepunkte des achten Feldzugs erscheinen.227 Nachdem Ursā die Schlacht auf dem Berg Uauš verloren hat, flieht er erst in seine Festung Ṭušpā und dann weiter ins Gebirge, wo er sich verkriecht: Sargons Gottesbrief 148–151: Rusā, ihr Fürst, der Grenzen von Šamaš und Marduk übertreten und den Eid bei Aššūr, dem König der Götter, nicht geehrt hat, fürchtete das Getöse meiner mächtigen Waffen und wie einem Steinhuhn, das vor dem Adler flieht, schlug sein Herz. Wie einer, der Blut vergossen hat, gab er Ṭušpā, seine Residenz, auf und nahm wie ein ruheloser Flüchtling Zuflucht in einem Winkel seines Landes. Wie eine Wöchnerin war er auf das Bett geworfen, verweigerte Speise und Wasser und erlegte sich selbst eine Krankheit ohne Gesundung auf.228

Nach diesem Ereignis erscheint Ursā für längere Zeit nicht mehr auf der Bühne des Geschehens des Gottesbriefs. Erst gegen Ende des Gottesbriefs hat er erneut ein Auftreten, als die Wirkung der schlechten Nachricht von der Einnahme von Muṣaṣir auf ihn geschildert wird: Sargons Gottesbrief 411–414: Rusā hörte davon und fiel zu Boden. Er zerriß seine Mäntel und seine Kraft verließ ihn. Er riß seinen Turban herunter, riß sich sein Haar aus und bestrafte seinen Leib immer wieder mit seinen beiden (Händen). Er fiel auf sein Gesicht. Sein Herz blieb stehen und seine Leber brannte. Aus seinem Mund

224 Zur aktuellen Diskussionslage vgl. die Beiträge in Acta Iranica 51, vor allem Salvini, Corpus; Fuchs, Urarṭu; Seidl, Rusa son of Erimena; Kroll, Rusa Erimena; Roaf, Rusa son of Erimena. 225 Vgl. Roaf, Thureau-Dangin; ders., Suicide; ders., Rusa son of Erimena. 226 Hurowitz, Enemy, 116f, spricht von “self-inflicted punishment”. 227 Editionen bei Thureau-Dangin, Huitième Campagne; Mayer, Sargons Feldzug; ders., Assyrien und Urartu. 228 Übersetzung und Hervorhebungen nach Mayer, Assyrien und Urartu, 111.

100

Eskapistische Selbsttötungen

wurden Schmerzensschreie ausgestoßen. Im ganzen Gebiet von Urarṭu habe ich Trauergeschrei erschallen lassen und Wehklage habe ich ertönen lassen für alle Zukunft im Lande Na’iri.229

Ursā begeht nach dem Gottesbrief (noch) keinen Selbstmord. Doch die typischen neuassyrischen Feindbeschreibungen treten auch hier schon in Erscheinung. Die in den Zeilen 148–151 beschriebene Furcht Ursās vor den Waffen Sargons, seine Herzensangst, die mit derjenigen eines Beutevogels verglichen wird, die Charakterisierung Ursās als flüchtiger Mörder sowie seine Feminisierung auf dem Krankenbett dienen der Verächtlichmachung des Gegners.230 Darüber hinaus wird Ursā in den Zeilen 411–413 unter anderem wohl deswegen erneut erwähnt, um das in Zeile 414 erwähnte allgemeine, im ganzen Land vorherrschende Trauer- und Wehklagen über die Einnahme Muṣaṣirs an Sargons wichtigstem Gegner beispielhaft vorzuführen. Kathryn F. Kravitz hat vorgeschlagen, dass die späten dreimaligen Erwähnungen Urartus und Ursās in der Schilderung über die Einnahme Muṣaṣirs nachgetragen sind,231 um dem Geschehen um Muṣaṣir Bedeutung auch für das Geschick des wichtigeren Urartu und seines Königs Ursā zu geben.232 Wie dem auch sei, zumindest ist deutlich, dass es dem Schreiber daran gelegen war, Ursā von Urartu bei der Einnahme von Muṣaṣir erneut zu erwähnen, um die militärisch eigentlich wichtigere Schlacht am Uauš und die Auseinandersetzung mit Urartu in den Schlussszenen des Gottesbriefes nicht aus den Augen zu verlieren, sondern auch an Muṣaṣir den Sieg über Ursā anzuzeigen. Entsprechend ist die Szene, in der Ursā sich seine königliche Kopfbinde (kubšu) vom Haupt reißt (Zeile 411–413), zusammen mit den Krönungshinweisen (Zeile 336–343) nicht nur als allgemeine Trauergeste zu interpretieren, sondern als eine in Trauer und Schmerz an sich selbst vorgenommene “De-coronation”,233 während die Deportation Ḫaldis weniger in ihrer Bedeutung für Uzana und Muṣaṣir, sondern für Ursā und Urartu herausgestellt wird.234 “In ideological terms, Sargon’s sack of Muṣaṣir and capture of Ḫaldi had stripped the Urarṭian kingship of its divine legitimation. Though Rusa himself had escaped, his kingship had been deprived of its effective existence.”235 Dies gilt umso mehr, als Ḫaldi wohl auch die Bedeutung eines Kriegsgottes hatte, der nach der Darstellung auf einem Schild aus Anzaf die anderen Götter in den Krieg führt (Abb. 14).

229 Übersetzung und Hervorhebungen nach Mayer, Assyrien und Urartu, 139. In den beiden zitierten Abschnitten wird unter anderem auch medizinische Sprache aus Omentexten aufgenommen, vgl. Van De Mieroop, Madness, 24.27–29. 230 Für einen ausführlichen Vergleich der verwendeten Formulierungen mit anderen altorientalischen Texten vgl. jetzt Van De Mieroop, Madness, 23–29. 231 Es handelt sich hierbei nach Kravitz um die Krönungshinweise in Zeile 336–343, die Herausführung Ḫaldis zum Stadttor in Zeile 345–349 sowie Ursās Reaktion in Zeile 411–413. 232 Vgl. Kravitz, Revision. 233 Vgl. Kravitz, Revision, 88. 234 Der Tempel von Ḫaldi in Muṣaṣir hatte tatsächlich die Bedeutung eines Nationalheiligtums auch für Urartu, vgl. Kravitz, Revision, 91f; Radner, Between a Rock, 245–254. 235 Kravitz, Revision, 91.

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

101

Abb. 14: Ḫaldi auf einem Schild aus Anzaf

Wichtig für unser Interesse an dem Bericht im Gottesbrief über die Reaktion Ursās auf die Plünderung Muṣaṣirs ist darüber hinaus, dass die beschriebenen Selbstminderungsriten, die Ursā an sich vornimmt, zum Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für die spätere Zuschreibung suizidaler Handlungen an Ursā werden: Aus den Selbstminderungsriten im Gottesbrief wird in den Inschriften die Selbsttötung Ursās, um Sargons Sieg weiter zu verklären. Die erst nach dem Gottesbrief niedergeschriebenen Inschriften236 kontextualisieren den Selbstmord Ursās ebenfalls nach der Einnahme Muṣaṣirs und als direkte Reaktion auf die Wegführung des Hauptgottes.237 Im Unterschied zum älteren Gottesbrief wird so auf der Prunkinschrift aus Khorsabad aus den Selbstminderungsriten die Selbsttötung Ursās: Sargons Prunkinschrift 76–78: (Als) Ursā, der König des Landes Urarṭu, von der Zerstörung Muṣaṣirs (und) der Wegführung seines Gottes Ḫaldia hörte, da machte er von eigener Hand mit dem Schwert an seinem Gürtel seinem Leben ein Ende (i-na qātī(šuII) ra-ma-ni-šú ina patar(gír.AN.BAR) šib-bi-šú na-piš-ta-šú ú-qat-ti). Über das Land Urarṭu in seiner gesamten Ausdehnung brachte ich die Trauerriten, den Leuten, die dort wohnten, lud ich Jammer und Klage auf.238

Diese Inschrift ist nicht die einzige Sargons über die Selbsttötung Ursās. Während in dieser die Ursache für dessen Suizid in der militärischen und religiösen Nieder236 Vom Selbstmord Ursās berichtet ertmals die Tonzylinderinschrift aus dem neunten Regierungsjahr Sargons (713 v.Chr.; vgl. Fuchs, Urarṭu, 136). Tadmor, Campaigns, 31 Anm. 79 und 36, sowie Maniori, campagne, 36–38.43–45 datieren die Annalen und die Prunkinschrift in das Jahr 707 v.Chr. Einen guten Überblick über die hier relevanten Rusa-Passagen bietet jetzt auch Van De Mieroop, Madness, 18–22. 237 Zu den Lösungsversuchen, mit denen die Menschen auf den Verlust von Tempeln und Götterbildern in Kriegen reagierten, siehe Berlejung, Notlösungen, insbes. 208 zu Ursā. Für unsere Fragestellung ist entscheidend, dass hier die Selbsttötung Ursās im Zusammenhang mit anderen Bewältigungsformen als Notlösung und somit sinnhaftes Geschehen interpretiert wird. 238 Umschrift und Übersetzung nach Fuchs, Inschriften, 215.347. Das Wort ramanu unterstreicht hier, möglicherweise auch in den drei folgenden Texten, dass Ursā in reflektierter und bewusst eigenverantwortlicher Weise handelt (zu diesem Aspekt von ramanu vgl. Steinert, Aspekte, 257–262).

102

Eskapistische Selbsttötungen

lage gesehen wird (militärisch in der Einnahme Muṣaṣirs, religiös im Raub der Hauptgötter des Tempels), geben drei andere Inschriften eine psychologische Deutung des Phänomens, indem sie wie im Falle Nabûbēlšumātis239 die Angst Ursās betonen240 und in einem Fall sogar hervorheben, dass Ursā sich wie ein Schwein umgebracht habe: Sargons Tonzylinderinschrift 27: (Sargon,) der das Land Urarṭu verwüstete und das Land Muṣaṣir ausplünderte, wegen dem Ursā, der König des Landes Urarṭu, in seiner großen Angst mit seiner eigenen Waffe seinem Leben ein Ende machte; (ina pu-luḫ-ti-šu rabīti(gal-ti) ina giškakki(tukul) ra-ma-ni-šú ú-qa-ta-a na-piš-tuš)241 Sargons Stierinschrift 15–17: (Sargon,) der das Land Urarṭu (und) die Stadt Muṣaṣir verwüstete, wegen dem Ursā von Urarṭu in seiner großen Angst mit seiner eigenen Waffe seinem Leben ein Ende machte; (i-na pu-luḫ-ti-šú rabīti(gal-ti) ina giškakki(tukul) ra-ma-ni-šú ú-qat-ta-a na-piš-tuš)242 Sargons Annalen 164–165: Ursā von Urarṭu jedoch schmetterte der furchterregende Glanz Assurs, meines Herrn, nieder: mit seinem eigenen Schwert durchbohrte er sein Herz so, wie (man) ein Schwein (absticht), und machte seinem Leben ein Ende. (i-n{a˼ [gišpatar(gír.AN.BA]R)} ra-ma-ni-šu kīma(gim) šaḫi(šaḫ) lìb-ba-[{š]u} is-[ḫ]uul-ma napišta(zi)-šu [{iq}-t]i)243

Überblickt man die Inschriften, so werden drei miteinander zusammenhängende Gründe für Ursās Selbstmord244 angeführt: die Zerstörung Muṣaṣirs und Deportation Ḫaldis, der furchterregende Schreckensglanz Assurs sowie die eigene Angst (puluḫtu) Ursās.245 Sie führen dazu, dass Ursā, wie die Annalen es ausdrücken, sich selbst wie einem Schwein (šaḫû) das Herz durchbohrt.246 Die Theriomorphisierung und Feminisierung aus dem Gottesbrief werden hier ganz auf die Theriomorphisierung enggeführt. Dabei ist die Situation Ursās keine militärisch derart ausweglose Lage, dass Ursā im aktuellen Kampfgeschehen verwundet wäre oder kurz vor der Gefangennahme stünde. In seinem Fall scheint der Sinn der Handlung, von denen die Inschriften berichten, in der Flucht aus einer Situation zu bestehen, die nicht anders als ein vollkommenes Scheitern des eigenen Lebensplanes zu interpretieren ist: Muṣaṣir eingenommen und den Beistand der eigenen Götter verloren! Ursās Selbsttötung ist daher zwar ebenfalls ein eskapistischer Suizid in militärisch aussichtsloser Lage, kann aber ebenso den „privaten“ Bilanzsuiziden zugerechnet werden, 239

Zu diesem siehe oben das entsprechende Kapitel. Vgl. dazu noch das Nimrud-Prisma III 38–41 (Gadd, Prisms, 177f) sowie das Fragment ND. 3411 Zeile 23f (ebd. 199f). 241 Umschrift und Übersetzung nach Fuchs, Inschriften, 36.291. 242 Umschrift und Übersetzung nach Fuchs, Inschriften, 63.303. 243 Umschrift und Übersetzung nach Fuchs, Inschriften, 117.322. 244 Ich verwende in den Kapiteln über die neuassyrischen Selbsttötungen häufiger den Begriff Selbstmord als in den übrigen Kapiteln, weil in diesen Quellen eine negative Bewertung des Suizids vorherrschend ist. Zur Begriffsproblematik siehe oben das entsprechende Kapitel zur Begriffsklärung. 245 Vgl. Roaf, Suicide, 774. 246 In dem fragmentarischen Assurbanipal-Text K 2524 Vs. 10–14 (Bauer, Inschriftenwerk, 74f) werden die Feinde ebenfalls mit Schweinen verglichen, bevor von ihnen berichtet wird, dass sie sich selbst getötet hätten, vgl. Van De Mieroop, Madness, 33f. 240

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

103

die im weiteren Verlauf dieses Buches genauer zu untersuchen sind.247 Die Selbsttötung Ursās wird jedoch im vorliegenden Kapitel behandelt, weil sie „als Spätfolge der militärischen Katastrophe interpretiert wurde“248 und deshalb im Zusammenhang mit den übrigen bislang behandelten neuassyrischen Texten den Deutungshorizont des Siegers verständlich macht: Wie Assurbanipal nutzte auch schon Sargon die Selbsttötung seines Gegners, um diesen als verächtlichen Feigling hinzustellen und mit Hilfe des Selbstmords die totale Niederlage seines Gegners zu veranschaulichen. Dabei hatte Ursā wahrscheinlich gar keinen Suizid verübt, und entsprechend ist im Gottesbrief „nur“ von Selbstminderungsriten des urartäischen Königs die Rede. Nach dessen Tod jedoch bietet sich in den späteren Inschriften der literarische Umbau der Selbstminderungsriten zum Suizid an, weil die Selbsttötung die Einsicht des Feindes in seine eigene Niederlage am klarsten zum Ausdruck bringt und den Sieg des Königs am besten zu verklären vermag – gerade auch deshalb, weil die Gefangennahme des Feindes missglückt war. Dass es sich bei der Schilderung der Selbsttötung Ursās wahrscheinlich um eine literarische Fiktion handelt,249 wird nicht nur daran deutlich, dass insbesondere die Prunkinschrift und die Annalen vom Suizid Ursās direkt im Anschluss an die Einnahme und Plünderung Muṣaṣirs berichten und somit die Selbstminderungsriten Ursās aus dem Gottesbrief durch den Suizid Ursās ersetzen, sondern auch daran, dass nach einem neuassyrischen Brieffragment möglicherweise eben dieser Ursā von Urartu einem Attentat erlegen war: SAA V 93,1–12: (Beginning destroyed) His magnates [sur]rounded him in […, at the ou]tskirts of Wai[si], and they killed him. The right-hand commander-in-chief, of the family [of Sar]duri, [……] but has [not y]et entered Ṭu[rušp]â.250

Der Text ist zu fragmentarisch, um Sicheres erschließen zu können, aber es ist durchaus denkbar und gemessen an anderen Deutungsmöglichkeiten nicht unplausibel, dass Ursā/Rusā Erimena als der Gegner Sargons auf dessen achtem Feldzug letzten Endes durch ein Attentat seiner eigenen Leute ums Leben kam und durch Ursā/Rusā Sarduri ersetzt wurde.251 Ein abschließender Vergleich zwischen den biblischen und neuassyrischen Parallelen ergibt folgendes: In allen Fällen liegt der Sinn des Geschehens in der Flucht aus einer militärisch ausweglosen Lage. Selbsttötungen erscheinen hier als sinn247

Siehe dazu unten die entsprechenden Kapitel. Fuchs, Urarṭu, 136f. 249 Vgl. schon die Überlegungen bei Thureau-Dangin, Huitième Campagne, IX. Neuerdings ausgeführt von Roaf, Suicide, 777f; ders., Rusa son of Erimena, 207. 250 Übersetzung nach Lanfranchi/Parpola, Correspondence, 76. 251 So die These von Roaf, Suicide, 777f; ders., Rusa son of Erimena, 207.214. Selbst wenn diese Hypothese hinfällig sein sollte und an Ursā/Rusā Sardini als Gegner Sargons festzuhalten wäre, besteht das Problem, dass nach anderen assyrischen Quellen (Fuchs, Inschriften: Annalen 198–200; Prunkinschrift 29–31) ein Ursā schon wieder 713 v.Chr. als Verbündeter des Ambaris von BītPurutaš erwähnt wird und deshalb keinen Suizid als Spätfolge von Sargons achtem Feldzug begangen haben kann (vgl. etwa Salvini, Rusa, 464; Roaf, Rusa son of Erimena, 201; zur Kontextualisierung vgl. Fuchs, Urarṭu, 137). 248

104

Eskapistische Selbsttötungen

besetzte Handlung, indem das scheiternde Subjekt angesichts einer unausweichlichen lebensvernichtenden und entehrenden Niederlage aus dem Leben flieht. Alle behandelten Fälle sind eskapistische Phänomene. Die Unterschiede in der weiteren Darstellung des Phänomens sind aus der Perspektive von Sieger und Verlierer zu verstehen, welche die Selbsttötung je unterschiedlich deuten: Während im Alten Testament die Selbsttötung eine zumeist neutrale bis positive Sinngebung aus der Innenperspektive des Subjektes und aus der Erzählperspektive der Verlierer erfährt (der Suizid zur Verhinderung des sozialen Todes und zur Wahrung der eigenen Ehre), wird in den neuassyrischen Inschriften eine negative Bewertung aus der Außenperspektive des Siegers vorgenommen (der Suizid als Zeichen der Feigheit und der Einsicht des Unterlegenen in seine eigene Niederlage), um den Gegner nicht nur des physischen, sondern auch des sozialen Todes zu überführen. f) Razis Eine weitere Selbsttötung durch das Schwert, die in einer gewissen Parallele zu den oben behandelten Fällen der Selbsttötung zur Wahrung der eigenen Ehre in militärisch auswegloser Lage steht, liegt mit dem Suizid des Razis aus 2 Makk 14,37–46 vor. Diese Geschichte aus dem zweiten Makkabäerbuch, auf dessen Einleitungsfragen in einem späteren Kapiel ausführlicher einzugehen ist,252 spielt zu einer Zeit um 162/161 v.Chr., nachdem Demetrios I., der Sohn von Seleukos IV. und Neffe von Antiochus IV., aus seiner Geiselhaft in Rom fliehen, den Kinderkönig Antiochus V. sowie den Regenten Lysias ermorden lassen und selbst den Thron ergreifen konnte. Dies führt zusammen mit den Intrigen des Hohepriesters Alkimus gegen Judas Makkabäus zu einer erneuten klimaktischen Bedrohungssituation. Auf der Ebene der Buchkomposition wird in der Bedrohungssituation unter Antiochus IV. die Wende zum Guten durch den Tod der Märtyrer in 2 Makk 6–7 herbeigeführt. Ganz ähnlich wird in der nun vorliegenden Bedrohungssituation die Wende zum Guten durch den Suizid Razis ermöglicht, denn erst nach dessen Tod wird Nikanor besiegt. Sowohl der Tod der Märtyrer in 2 Makk 6–7 als auch der Suizid des Razis in 2 Makk 14 bilden deshalb ein Scharnier zwischen der jeweiligen Bedrohungssituation und dem anschließenden Sieg in 2 Makk 8–10 bzw. 2 Makk 15.253 Die Freundschaft, die sich zwischen Nikanor und Judas entwickelt hatte, wird durch die Verleumdungen Alkimus zerstört, der Demetrios I. dazu bewegen kann, den Frieden(svertrag) aufzuheben und Nikanor zu befehlen, Judas gefangen zu nehmen. Als Nikanor dies nicht gelingt, erhebt er seine rechte Hand gegen den Tempel und schwört, bei Nicht-Herausgabe des Judas werde er Tempel und Altar niederreißen und an ihrer Stelle einen Dionysostempel errichten.254 Damit ist eine klimak252

Siehe dazu unten das Kapitel über die Martyriumslegenden des zweiten Makkabäerbuches. Zur Buchkomposition siehe ausführlich unten das Kapitel über die Martyriumslegenden des zweiten Makkabäerbuches. 254 Zur erzählerischen Charakterisierung Nikanors vgl. Nicklas, Fratze. „Dass Razis durch seinen Suizid, mit dem er der zu erwartenden Hinrichtung vorgreift, im Grunde – zumindest aus der Sicht des Erzählers – zum Märtyrer wird, stellt aber nicht nur diesen an die Seite der in den Kapiteln 6 253

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

105

tische Bedrohungssituation erreicht, wie sie der unter Antiochus IV. zumindest ähnelt. In dieser Situation setzt der Text über den Suizid des Razis ein: 2 Makk 14,37–46: (37) Ein gewisser Razis aber von den Ältesten Jerusalems wurde bei Nikanor angezeigt. Er war ein gegenüber seinen Mitbürgern liebevoller Mann in bestem Ruf, welcher dem Wohlwollen (das er genoss) entsprechend „Vater der Juden“ genannt wurde. (38) Er hatte nämlich in den vorherigen Zeiten der Spaltung ein Rechtsverfahren für das Judentum eingebracht und mit aller Ausdauer Leib und Leben für das Judentum eingesetzt. (39) Nikanor aber, der ganz deutlich machen wollte, welchen Hass er gegenüber den Juden hegte, schickte mehr als 500 Soldaten aus, um ihn festzunehmen. (40) Er glaubte nämlich, dass er, wenn er jenen festnahm, diesen ein Unglück bewirkte. (41) Als aber die Massen drohten, den Turm einzunehmen, die Hoftüre bedrängten und befahlen, Feuer heranzuschaffen und die Türen in Brand zu setzen, stürzte er sich, als er schon von allen Seiten umringt war, in das Schwert. (42) Lieber wollte er (nämlich) ehrenhaft sterben, als den Frevlern in die Hände zu fallen und der eigenen guten Abstammung unwürdig geschändet zu werden. (43) Da er aber im Eifer des Gefechts den Stoß nicht genau gesetzt hatte und die Haufen (schon) durch die Tore hinein einfielen, lief er mutig auf die Mauer empor und stürzte sich wie ein Mann in die Haufen hinab. (44) Da sie aber unvermittelt zurückwichen, fiel er, weil ein Zwischenraum entstand, mitten in einen freien Raum. (45) Noch atmend und brennend vor Zorn, raffte er sich auf und durchquerte, obwohl das Blut gleich einer Quelle hervorströmte und die Verletzungen schwer waren, im Lauf die Menschenhaufen und kam auf einem steil abschüssigen Felsen zum Stehen. (46) Fast schon verblutet riss er sich die Eingeweide heraus, nahm sie in beide Hände, schleuderte sie den Haufen entgegen, rief den über das Leben und den Atem Herrschenden an, er solle ihm diese wieder zurückgeben, und verschied auf diese Weise.255

In diesem Text sind, ähnlich wie in den bisher besprochenen Texten über den Suizid durch das Schwert in militärisch auswegloser Lage, die Kategorien von Ehre und Schande unverkennbar, die Denken und Handeln des Protagonisten bestimmen. Eingangs wird Razis, dessen ansonsten unbekannter Name vielleicht eine Anspielung auf Jes 24,16 darstellt,256 als vornehmer Bürger eingeführt, der als Ältester Jerusalems257 ein „liebevoller“ Mann (ἀνήρ φιλοπολίτης) von sehr gutem Rufe sei (σφόδρα καλῶς ἀκούων), den Ehrentitel „Vater der Juden“ trägt (2 Makk 14,37)258 und auch schon vorher Leib und Leben für die jüdische Sache riskiert habe (Vers 38).259 Als Nikanor ihn verhaften lassen will, sieht sich Razis einer ausweglosen, quasi-militärischen Situation gegenüber: Während die Truppen den (Wohn-)Turm (τὸν πύργον) bestürmen,260 die Turmtür zum Hof (αὐλαίαν θύραν) überwinden und 7 gezeichneten Gestalten, sondern schafft eine erneute Verbindung zwischen Nikanor und Antiochus Epiphanes.“ (ebd. 148) 255 Übersetzung Septuaginta Deutsch. 256 Vgl. Goldstein, II Maccabees, 491f. 257 Als πρεσβύτερος ist Razis wohl Mitglied der γερουσία, vgl. Schwartz, Maccabees, 487. 258 Der Ehrentitel „Vater der Juden“ (πατήρ τῶν Ιουδαίων) dürfte auf den römischen Ehrentitel pater patriae anspielen (vgl. van Henten, Martyrs, 206–208), könnte aber auch innerhalb der jüdischen Tradition Texte wie Ps 68,6; Hi 29,16 aufnehmen und als Ehrentitel auf Razis übertragen (vgl. von Dobbeler, 1/2 Makkabäer, 243; Hieke, Makkabäer, 984). 259 παραβάλλω „danebenwerfen“ hier im Sinne von „sein Leben einsetzen, riskieren“, vgl. van Henten, Martyrs, 202f. Über das „Rechtsverfahren“ ist schwerlich genaueres zu erfahren, und auch schon die gegebene Übersetzung von κρίσιν εἰσηνεγμένος ist unsicher. 260 Es ist nicht ganz klar, ob mit dem Turm (πύργος) ein Wach- und Festungsturm im Blick ist, in dem sich Razis zufällig gerade aufhält, oder, wahrscheinlicher, Razis einstöckiges hellenistisches Wohnhaus mit zugehörigem Wohnturm (vgl. Michaelis, πύργος).

106

Eskapistische Selbsttötungen

sowie die (übrigen) Türen (καὶ τὰς θύρας) in Brand setzen, weiß Razis sich von allen Seiten umzingelt (περικατάλημπτος) und stürzt sich wie einst Saul in das Schwert (ὑπέθηκεν ἑαυτῷ τὸ ξίφος 14,41).261 Dieser suizidalen Handlung wird direkt im Anschluss an die Szene durch einen Begründungssatz ein Sinn verliehen, der inhaltlich mit den ‫פן‬-Sätzen von Ri 9,54 und 1 Sam 31,4 in eine Reihe zu stellen ist: „Denn er wollte lieber auf ehrenvolle Weise sterben (εὐγενῶς θέλων ἀποθανεῖν) als den Frevlern in die Hände fallen und wegen der eigenen edlen Herkunft auf unwürdige Weise misshandelt werden (τῆς ἰδίας εὐγενείας ἀναξίως ὑβρισθῆναι).“ (14,42) Damit ähnelt Razis Suizid deutlich den bisher behandelten Formen des Suizids durch das Schwert, in denen der Suizidant der schändlichen Gefangennahme in militärisch auswegloser Lage zu entgehen und seine eigene Ehre zu bewahren sucht.262 Doch neben diesen bekannten Aspekten und Sinnvorhaben, die sich schon in vorhellenistischer Zeit finden, kommen mit dem Suizid des Razis zwei weitere Sinndimensionen hinzu, von denen zumindest die letztere erst in der hellenistischen Zeit aufzukommen scheint und neu ist. Weil der Suizidversuch mit dem Schwert und die beigefügten Verwundungen263 nicht tödlich sind, unternimmt Razis einen weiteren Suizidversuch, indem er sich von der Mauer auf die unten im Hof stehenden Truppen stürzt (14,43f). Dieser Sturz von der Mauer steht nicht in einer Linie mit den eskapistischen Suizidversuchen durch den Sturz vom Hausdach, der auch anderweitig im Alten Orient und Alten Testament belegt ist,264 sondern scheint ein Moment des Selbstopfers und der Rache zu enthalten, dessen Ziel es ist, mit dem Suizid den Gegner mit in den Tod zu nehmen. Auch wenn diese Sinndimension nicht explizit im Text benannt wird, scheint sie dennoch zumindest einen Nebenaspekt der Handlung auszumachen, denn Jan Willem van Henten konnte plausibel machen, dass Razis spezielle Handlung als eine Form der devotio zu verstehen sein könnte, mit der sich der Suizidant inmitten seiner Feinde opfert, um Rettung für seine Stadt bzw. sein Volk und den Untergang für die Feinde herbeizuführen. Jan Willem van Henten nennt in diesem Zusammenhang den Suizid von Kreons Sohn Menoikeus aus Euripides Tragödie Die Phönikerinnen (ca. 409 v.Chr.) als nächste Parallele.265 Hier berichtet der Schildknappe des Eteokles Iokaste von der Belagerung Thebens unter anderem:

261 Die konkrete Wortwahl in 2 Makk 14,41 ist zwar von 1 Sam 31,4 bzw. 1 Sam 31,4LXX verschieden (hier mit ῥομφαία und ἐπιπίπτω formuliert), von der Sache und dem Bildcharakter her jedoch ganz ähnlich. 262 Hyrkanos, der Tobiade, soll sich bei Amtsantritt von Antiochus IV. und angesichts der Größe von Antiochus’ Armee so sehr vor einer Gefangennahme gefürchtet haben, dass er sein Leben eigenhändig beendet habe (τελευτᾷ τὸν βίον αὐτόχειρ αὐτοῦ γενόμενος Flav.Jos.Ant 12.236). 263 Nicht nur 14,41, auch δυσχερῶν τῶν τραυμάτων ὄντων in 14,45 erinnert an 1 Sam 31 (ἐτραυματίσθη 1 Sam 31,3LXX). 264 Siehe dazu ausführlich unten das Kapitel über die Selbstmorddrohungen in altbabylonischen Briefen und verwandten Texten. 265 Zu dieser Parallele sowie zahlreichen anderen griechisch-römischen Parallelen vgl. van Henten, Martyrs, 144–150.

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

107

Eur. Phönikerinnen 1090–1092: ἐπεὶ Κρέοντος παῖς ὁ γῆς ὑπερθανὼν πύργων ἐπ’ ἄκρων στὰς μελάνδετον ξίφος λαιμῶν διῆκε τῇδε γῇ σωτήριον Als auf den Zinnen Kreons Sohn für uns Das schwarzumwundne Schwert in seinen Hals Versenkte als der Retter dieses Lands266

Jan Willem van Henten ist über diesen Text hinaus der Ansicht, dass die spätere Beschreibung von Menoikeus Suizid in Statius’ Thebais 10.756–779 (zweite Hälfte des 1. Jh. n.Chr.)267 nicht nur engste Parallelen zum Tod Razis aufweist, sondern auch als eine Form der römischen devotio zu verstehen ist,268 bei der ein Heerführer sein Leben den Göttern opfert und den eigenen Tod in den Reihen der Feinde sucht, um diese mit in den Tod zu nehmen und das Vaterland zu retten. Diese Parallelen, so Jan Willem van Henten, lassen auch den Suizid Razis wie eine Form der devotio erscheinen: “The epitomist probably interpreted Razis’ suicide as a kind of devotio. […] Because of his self-sacrifice, Nicanor’s soldiers cannot avoid their defeat against Judas Maccabaeus.”269 Razis Suizid würde, aus der Perspektive dieser Parallelen gelesen, auch in eine Linie mit den aggressiven Suiziden des Simson (Ri 16) und des Eleazar (1 Makk 6) zu stellen sein, die ebenfalls mit ihren suizidalen Handlungen den Feind mit in den Tod nehmen wollen,270 aber auch mit den Formen des Selbstopfers, bei denen der Suizidant ebenso wie Eleazar (1 Makk 6) den eigenen ehrenvollen Tod zur Rettung des Vaterlandes herbeizuführen beabsichtigt.271 Dem würde auch die Scharnierfunktion von Razis Suizid in der Buchkomposition von 2 Makk entsprechen.272 Doch während die aufgezeigten Parallelen zwischen dem Suizid Razis und demjenigen Sauls deutlich vor Augen liegen, ist die Sinndimension der devotio nur ein Nebenaspekt von Razis multidimensionalem Suizid. Ihre Sinndimension wird, anders als die eskapistische zur Wahrung der eigenen Ehre in 2 Makk 14,42 und die im Folgenden zu besprechende Sinndimension in 2 Makk 14,46, im Text selbst nicht 266 Text und Übersetzung nach Buschor, Euripides, 418f. Zum „freiwilligen Opfertod“ und speziell „patriotischen Selbstmord“ bei Euripides vgl. etwa Schmitt, Opfertod; Hirzel, Selbstmord, 21–26. 267 Zum Selbstopfer des Menoikeus in Statius’ Thebais vgl. etwa Vessey, Menoeceus. 268 Zur devotio siehe vor allem Versnel, Roman devotio; ders., Self-Sacrifice. Vgl. auch ders., Quid Athenis, 185–193. 269 van Henten, Martyrs, 146–150, hier: 149f. Hervorhebung im Original. Der „Epitomator“ dürfte, so van Henten, die Tragödien des Euripides “directly or indirectly” gekannt haben (ebd. 299). 270 Siehe zu diesen ausführlich unten die beiden entsprechenden Kapitel über Simson und Eleazar Avaran/Makkabäus. “Is this very different from what suicide-bombers nowadays try to achieve, using their exploding body as a weapon in order to destroy as many enemy bodies as possible? In any case, we should keep in mind that Razis was a prominent Jew, whose death is clearly presented as heroic by the author of 2 Maccabees.” (van Henten, Noble Death, 89) 271 Auch die beschriebenen Kategorien von Ehre und Schande würden dem entsprechen. Vgl. die klassische Bemerkung von Bacon, Essays, 242: „Es bleibt noch ein Ehrentitel übrig, der unter die höchsten gerechnet werden müßte und selten vorkommt: er gebührt denjenigen, die sich zum Wohle ihres Vaterlandes dem Tode und der Gefahr weihen, wie M. Regulus und die beiden Decii.“ 272 Siehe dazu oben in diesem Kapitel sowie ausführlich unten das Kapitel über die Martyriumslegenden des zweiten Makkabäerbuches.

108

Eskapistische Selbsttötungen

weiter expliziert und reflektiert, sondern muss aus Handlungsparallelen erschlossen werden. Anders verhält sich dies mit der im Text selbst explizierten dritten Sinndimension von Razis Suizid nach 2 Makk 14,46, der wir uns abschließend zuwenden. Weil auch noch der zweite Suizidversuch nicht sofort tödlich endet und die Truppen des Nikanor dem Sturz Razis ausweichen, schleppt sich dieser auf einen nahe stehenden Felsvorsprung. Verblutend reißt er sich die Eingeweide aus dem Leib, schleudert sie auf die Menge und ruft dabei Gott als „Herrn über Leben und Geist“ an (14,46). Im Unterschied zu den bisher besprochenen Selbsttötungen wird mit dieser blumig-blutigen Schilderung dem Suizid Razis über das Ehr- und Rachemotiv hinaus noch ein weiterer Sinn verliehen, denn die suizidalen Handlungen beschließt eine Zeichenhandlung, die vom Glauben an eine leibliche Auferstehung in Zeiten der Verfolgung Zeugnis ablegt. Indem Razis Selbsttötung den Sinn eines Glaubenszeugnisses erhält, tritt sie neben die Märtyrerdarstellungen, die später noch ausführlicher zu besprechen sind und die dem Leser Mut zum Widerstand und Hoffnung auf eine leibliche Auferstehung in Zeiten der Bedrängnis zusprechen wollen.273 Alle drei aufgezeigten Sinndimensionen von Razis Suizid zeigen, dass es hier nicht um den eigenen Tod als Selbstzweck und auch nicht um eine allgemeine Rechtfertigung des Freitods überhaupt geht, sondern dass der Suizid Razis in dieser besonderen Situation Mittel zum Zweck ist, um andere Ziele zu erreichen, sei es die Wahrung der eigenen Ehre, die Vernichtung des Feindes und Rettung des Vaterlandes oder um der Hoffnung auf Auferstehung in Zeiten der Bedrängnis gebührenden Ausdruck zu verleihen. In diesem Sinne wird der Suizid des Razis von dem Verfasser des Textes tatsächlich als „gerechtfertigt“ angesehen.274 Exkurs 1: Suizid auf der Stele des Naram-Sin, auf einem Flachbild aus Deschasche und nach der Bihistun-Inschrift? Im Folgenden ist eine umstrittene Darstellung auf der berühmten, gut zwei Meter hohen Siegesstele des Naram-Sin aus rosa Sandstein zu besprechen, die sich heute im Louvre befindet. Naram-Sin regierte im 23. Jahrhundert v.Chr. als König von Akkad. Seine Siegesstele wird hier nur in Form eines Exkurses besprochen, weil sie entgegen bisweilen zu hörender Forschermeinung keinen Suizid abbildet. Auf der Stele präsentiert sich der König Naram-Sin in Übergröße und mit der Hörnerkrone der Götter, wie er unter zwei Sonnenscheiben des Sonnengottes Šamaš im iranischen Gebirgsland des Zagros die Lullubäer besiegt. In den Händen trägt er Pfeil und Bogen, und vor ihm kniet ein Lullubäer im Todeskampf und fasst den Schaft eines Pfeils oder Speeres, der ihm aus dem Hals bzw. Unterkopf ragt (Abb. 15):

273

Vgl. Daube, Death, 89: “The belief in bodily resurrection now makes of death something less irremediable than it used to be.” Zu den oblativen Selbsttötungen als Glaubenszeugnissen siehe unten das Kapitel über die Martyriumslegenden des zweiten Makkabäerbuches. 274 Die Donatisten beriefen sich in ihrem Streit mit Augustin um die Rechtfertigung des Selbstmords vor allem auch auf diesen Text, vgl. etwa Goldstein, II Maccabees, 493; Habicht, Makkabäerbuch, 275; von Dobbeler, 1/2 Makkabäer, 243f.

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

109

Abb. 15: Naram-Sin im Kampf gegen die Lullubäer

In der älteren Forschung wurde zum Teil die Ansicht vertreten, dass es sich bei dieser Darstellung um die Selbsttötung des Königs der Lullubäer handelt. So beschrieb Hans Heinrich Schaeder die Szene folgendermaßen: Nahe der kahlen Bergkuppe steht der König Naram-Sin, mit der Hörnerkrone eines Gottes geschmückt, in der Rechten waagrecht die Lanze, mit der Linken den Bogen haltend, den linken Fuß auf einen toten Lullu gestellt. Rechts von ihm entleibt sich ein feindlicher Anführer, wöhl König Satuni darstellend, mit der Lanze selbst.275

Diese Beschreibung ist mit einigen Problemen behaftet. Zum einen ist es recht sicher, dass die „Lanze“, die der König in der rechten Hand tragen soll, passend zum Kompositbogen in seiner Linken tatsächlich einen Pfeil von etwa 70 cm darstellt.276 Entsprechend fasst der Naram-Sin gegenüber knieende Lullubäer keinen Speer, sondern den Schaft eines ebensolchen Pfeiles, den auch der König in seiner 275 276

Schaeder, Kultur, 13. Vgl. auch Aigner, Selbstmord, 29f. Vgl. Westenholz, Old Akkadian Period, 66 mit Hinweis auf Korfmann, Schleuder, passim.

110

Eskapistische Selbsttötungen

Linken hält. Die auf dieser Stele eindrücklich zum Ausdruck kommende „diagonale Bildgestaltung“ und die damit einhergehende Dynamik277 machen deutlich, dass es der König Naram-Sin ist, der mit seinem Kompositbogen Pfeile abschießt und so auch den vor ihm knieenden Lullubäer mit einem Pfeil tödlich getroffen hat. Der Lullubäer durchbohrt sich deshalb nicht selbst mit einem Pfeil oder einer Lanze seinen eigenen Hals, sondern der König hat einen Pfeil auf den feindlichen Lullubäer abgeschossen. Dieser sinkt „von seinem Pfeil getroffen, vor ihm zu Boden“278 und versucht in seinem Todeskampf, den Pfeil des Naram-Sin aus seinem Hals oder Unterkopf zu ziehen. Dies wird dadurch unterstrichen, dass Naram-Sin mit seinem linken Fuß nicht nur auf einen weiteren Feind, sondern auch auf den rechten Fuß des betreffenden knieenden Feindes tritt. Lorenzo Nigro konnte darüber hinaus zeigen, dass das geometrische Raster der Darstellung diesen Fuß des Lullubäers mit dem linken, den Kompositbogen haltenden Oberarm des Königs verbindet und die verlängerte Achse des Pfeils, den der Lullubäer im Hals bzw. Unterkopf hat, auf das obere Ende von Naram-Sins Kompositbogen trifft (Abb. 16–18).279

Abb. 16–18: Siegesstele des Naram-Sin mit verschiedenen Kontaktpunkten

Aus all diesen Gründen ist deutlich, dass die Darstellung ihren Fokus auf die Tatsache richtet, dass der Lullubäer vom Pfeil des Königs getroffen zu Boden sinkt, aber nicht sich selbst mit einem Pfeil oder Speer den Hals durchbohrt. “The arrow he has in the throat indicates Naram-Sin as the author and the origin of his death. His constrained dynamism is concentrated on the foot again trampled on by the king.”280 277

Vgl. dazu Hrouda, Kunst, 338. Amiet, Flachbildkunst, 196f. 279 Vgl. Nigro, Visual Role. 280 Nigro, Visual Role, 290. 278

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

111

Auf noch größere Schwierigkeiten trifft die These, dass auf einem altägyptischen Flachbild aus Kalkstein aus der späten 5. Dynastie vom Grab des Jntj im öberägyptischen Deschasche, auf dem die Belagerung einer asiatischen Stadt zu sehen ist,281 der asiatische Herrscher auf seinem Thron sitzend Suizid begehen wolle, indem er sich einen Gegenstand an den Kopf führe (Abb. 19).282 Hugo Gressmann beschreibt die nur noch schwer zu erkennende Szene des zweiten Registers auf der rechten Bildhälfte folgendermaßen: Rechts naht eine Frau zusammen mit einem Greise und einem Kinde, die sich auf denselben hohen Stab stützen, einer thronenden Gestalt, die nur den Stadtkönig darstellen kann; er führt einen Gegenstand zum Kopfe, und Sethe (mündlich) vermutet wohl richtig, daß er Selbstmord begehen will.283

Heribert Aigner diskutiert ebenfalls diese Darstellung als möglichen Suizid, obwohl „doch dem beschriebenen Gestus die nötige Eindeutigkeit“ fehlt.284 Tatsächlich ist die Geste des Königs völlig ausreichend als Trauergeste zu bestimmen,285 zumal die Darstellung einer Selbsttötung in militärisch aussichtsloser Lage in den altägyptischen Quellen meines Wissens ansonsten nicht belegt ist.

Abb. 19: Ägyptische Belagerung einer asiatischen Stadt auf einem Flachbild aus Kalkstein 281

Dies ist zusammen mit einer weiteren Darstellung aus der späten 5. Dynastie von Saqqara die älteste ägyptische Darstellung eines Feldzugs. Beide Darstellungen zeigen möglicherweise denselben Feldzug und werden in zwei Gräbern gezeigt, deren Grabherrn auf eben diesem Feldzug eine militärische Führungsrolle ausgeübt haben dürften (vgl. Kanawati, Re-excavating, 47). 282 Abbildung Gressmann, Bilder, Tafel XV Abb. 39. Vgl. auch Petrie, Deshasheh, Tafel 4; Kanawati/McFarlane, Deshasha, Tafel 26; Kanawati, Re-excavating, 46 Abb. 2; Saretta, Perceptions, 79f mit Tafel IX. 283 Gressmann, Bilder, 14. 284 Aigner, Selbstmord, 31. 285 Ähnlich Kanawati, Re-excavating, 49: “The chief(?) of the city and one woman tear their hair in desperation”.

112

Eskapistische Selbsttötungen

Ebenfalls höchst umstritten und aller Wahrscheinlichkeit nach kein Selbstmord ist der Tod des Kambyses nach der Behistun-Inschrift an der Felswand des Berges Bīsutūn zwischen Kirmānšāh und Hamadān/Ekbatana, auf der sich König Darius als neuer König und rechtmäßiger Nachfolger von Kyros und Kambyses darstellt und legitimiert.286 Zuerst wurde das Relief mit der Darstellung der „Lügenkönige“ und den entsprechenden elamischen Reliefbeischriften in die Felsfläche gehauen. Sukzessive kamen der elamische, der babylonische und schließlich der altpersische Inschriftentext hinzu.287 Obwohl der altpersische Inschriftentext gemeinhin als der jüngste gilt und altpersisch bis zur Zeit des Darius weder Schrift- noch Kanzleisprache war, geht man gleichzeitig davon aus, dass das Altpersische die Originalsprache der Inschrift darstellt, indem Darius den Schreibern den Text auf altpersisch diktierte und die Schreiber das Diktat ins Elamische übertrugen.288 Wie dem auch sei, der Tod des Kambyses ist nach der Behistun-Inschrift in vier Sprachen – altpersisch, elamisch, babylonisch und aramäisch – überliefert. Im Folgenden wird zunächst eine Übersetzung des altpersischen Abschnittes über den Tod des Kambyses zitiert. Im Anschluss daran werden die verschiedenen Textversionen zu dem umstrittenen Satz über den Tod des Kambyses kurz angeführt: Behistun 35–43 (§ 11): Es kündet Darius der König: Darauf war ein Mann, ein Magier namens Gaumata, der empörte sich von Paischyachvada aus, von einem Berge namens Arakadrisch. Im XII. Monat am 14. Tage empörte er sich. Er belog das Volk so: „Ich bin Smerdis, der Sohn des Kyros, der Bruder des Kambyses.“ Darauf fiel das ganze Volk von Kambyses ab, zu jenem ging es über, Persien wie auch Medien und die sonstigen Länder. Die Königsherrschaft ergriff er. Im IV. Monat am 9. Tage ergriff er die Königsherrschaft. Danach starb Kambyses seines eigenen Todes.289

Die hier angeführte Übersetzung des letzten Satzes „Danach starb Kambyses seines eigenen Todes.“ ist schon eine neuere Übersetzung der umstrittenen und nur schwer zu erklärenden Stelle. Ältere Übersetzungen haben den Sinn der Aussage als Hinweis auf einen Selbstmord des Kambyses gedeutet und beispielsweise „Darauf starb Kambyses durch eigene Hand.“290 übersetzt. Die neuere Forschung ist sich allerdings mit Ausnahmen291 zumindest darin einig, dass die Ausdrücke uvamṛšiyuš

286

Zum allgemeinen Hintergrund der Inschrift vgl. Wiesehöfer, Persien, 33–43; Dandamaev, Persien, 1–90. 287 Zudem gibt es Fragmente einer aramäischen Übersetzung unter den Papyri von Elephantine, die mit der akkadischen Fassung und hier insbesondere mit den Fragmenten aus Babylon eng verwandt ist (vgl. Greenfield/Porten/Yardeni, Bisitun Inscription). 288 Vgl. beispielsweise Dandamaev, Persien, 79; Walser, Tod des Kambyses, 14; Borger/Hinz, Behistun-Inschrift, 419. 289 Übersetzung Borger/Hinz, Behistun-Inschrift, 425. 290 Weißbach, Keilinschriften, 17, allerdings schon mit dem Hinweis (ebd): „Ob K. vorsätzlich Selbstmord beging, oder ob er an einer Verletzung, die er sich unabsichtlich beigebracht hatte, starb, läßt sich aus den Ausdrücken der Inschrift nicht erkennen.“ Zu weiteren älteren Übersetzungen des entsprechenden Ausdrucks als Selbstmord vgl. den Überblick bei Walser, Tod des Kambyses, 9f (Lit.). Für die ältere Forschung galt: “uvāmaršiyuš seemed to indicate suicide, something like Greek αὐτοθάνατος.” (Puhvel, Death of Cambyses, 170) 291 Vgl. etwa CAD 10/2, 144: “Cambyses killed himself”.

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

113

amariyatā im Altpersischen292 und hal-pi ˹du˺-hi-e-ma hal-pi-ik im Elamischen293 sowie mi-tu-tu ra-˹ma˺-ni-šú mi-i-ti im Akkadischen294 nicht auf Suizid verweisen, sondern „seinen eigenen Tod sterben“ bedeuten und entsprechend zu übersetzen sind.295 Dennoch sind die gewählten Ausdrücke ungewöhnlich und können nicht als übliche Varianten zur Bezeichnung eines natürlichen Todes gelten. Ob sie dennoch schwerfällige Umschreibungen für einen natürlichen Tod des Kambyses sind oder aber auf einen ungewöhnlichen Tod des Kambyses verweisen – welcher Art auch immer –, kann in diesem Buch nicht geklärt werden.296 In jedem Fall ist es wahrscheinlich, dass Kambyses weder nach der Behistun-Inschrift noch nach den griechischen Quellen sowie Pap. BN 215 durch Suizid ums Leben gekommen ist.297 Exkurs 2: Die Selbsttötung der Einwohner von Tyros Eine legendenhafte Darstellung der Eroberung von Tyros durch Alexander den Großen liefert der römische Schriftsteller Curtius Rufus. Über Alexanders Feldzüge durch Syrien und Phönizien gegen die Perser berichten verschiedene antike Schriftsteller,298 doch nur bei Curtius Rufus finden wir den Hinweis auf eine Selbsttötung der Tyrer in militärischer Notlage.299

292

Umschrift nach Schmitt, Bisitun Inscriptions, 51. Umschrift nach Grillot-Susini/Herrenschmidt/Malbran-Labat, Version Élamite, 22. 294 Umschrift nach Voigtlander, Bisitun, 15; Malbran-Labat, Version Akkadienne, 94. 295 Vgl. Schulze, Tod des Kambyses; Brandenstein/Mayrhofer, Handbuch des Altpersischen, 149f; Puhvel, Death of Cambyses; Hinz, Behistan-Inschrift, 124; Dandamaev, Persien, 146–153; Voigtlander, Bisitun, 15.55; Walser, Tod des Kambyses; Balcer, Herodotus, 95–99; Malbran-Labat, Version Akkadienne, 109; Schmitt, Bisitun Inscriptions, 51; Bae, Studies, 92. 296 Nach Dandamaev, Persien, 150, wäre für die Beschreibung eines natürlichen Todes ein anderer Ausdruck gewählt worden, und er schlägt vor, dass „der Ausdruck uvāmaršiyuš amariyatā eine sanfte Anspielung darauf dar[stellt], daß aus Darius’ Sicht Kambyses starb, ohne der Strafe für die von ihm begangenen Untaten zu entgehen.“ Nach Dandamaev kann man nicht nur in der Behistun-Inschrift eine gewisse Feindseligkeit des Darius gegenüber Kambyses erkennen, und die Vorstellung des Todes als Strafe für Vergehen habe dann auch die entsprechende Ausformung dieser Idee bei Herodot bewirkt (ebd. 150–153). Walser, Tod des Kambyses, 15–23, geht von der Darstellung des Herodot aus (Hdt. III 64–66): Seiner Ansicht nach starb Kambyses an Wundbrand, nachdem ihm beim Aufspringen auf sein Pferd die Spitze des Akinakes-Kurzschwertes in den rechten Oberschenkel gedrungen war. Dagegen betrachtet Balcer, Herodotus, 95.99 aufgrund der Parallelen zum Tod des Apis-Stieres (Hdt. III 27–29) sowie zum Tod des Miltiades (Hdt. VI 134– 136) Herodots Beschreibung von Kambyses’ Tod als “literary techniques rather than secure historical observations” (95) und überlegt, ob der schleierhafte Ausdruck der Behistun-Inschrift vielleicht darauf zurückzuführen sei, dass Darius Kambyses ermordert hat oder ermorden ließ (99f). 297 Zu Herodots Darstellung vgl. Bichler, Herodots Welt, 269–277; Walser, Tod des Kambyses, 15–23. Zu Pap. BN 215 Vs. 7 „Er starb auf dem Weg, bevor er seine Heimat erreichte.“ vgl. jetzt Quack, Datum, 233–236. 298 Vgl. Rutz, Tyrus, passim; Atkinson, Books 3 and 4, 315–319. 299 Dasselbe gilt für die Eroberung von Persepolis. Siehe dazu unten den entsprechenden Exkurs zum kollektiven Selbstmord der Einwohner von Persepolis. Es wird zwar nicht berichtet, ob die Selbsttötungen im Fall von Tyros durch das Schwert oder durch Verbrennung erfolgen. Weil jedoch Selbstverbrennungen von Curtius Rufus bei der Eroberung von Persepolis explizit erwähnt werden, scheint Curtius im Fall von Tyros an Selbsttötungen durch das Schwert zu denken. 293

114

Eskapistische Selbsttötungen

Zum Konflikt kommt es, als die Einwohner erst den Wunsch Alexanders ablehnen, in Tyros dem Stadtgott zu opfern, und sodann auf ein erneutes Friedensgesuch hin seine Gesandten töten. In gottloser Selbstverblendung legen die Tyrer die Prodigien zu ihren Gunsten aus und suchen den militärischen Konflikt. Als die Stadt erobert wird, legen viele Kämpfer Hand an sich selbst: Curtius Rufus 4.4.12: Iamque crebris arietibus saxorum compage laxata munimenta defecerant et classis intraverat portum et quidam Macedonum in turres hostium desertas evaserant, cum Tyrii tot simul malis victi alii supplices in templa confugiunt, alii foribus aedium obseratis occupant liberum mortis arbitrium, nonnulli ruunt in hostem haud inulti tamen perituri, magna pars summa tectorum obtinebat saxa et quidquid fors in manus dederat ingerentes subeuntibus. Und schon waren unter den zahlreichen Widderstößen, die das Steingefüge gelockert hatten, die Schanzen ins Wanken geraten; schon war die Flotte in den Hafen eingedrungen, und schon hatten einige Makedonen die vom Feind geräumten Türme bestiegen, da flüchteten, von soviel Unglück zugleich überwältigt, die Tyrier teils unter Bittgebeten, teils gaben sie sich hinter verriegelten Türen den Freitod, solange sie noch die Wahl hatten; einige stürzten sich auf den Feind, um wenigstens nicht ungerächt zu enden; ein großer Teil hielt sich noch auf den Dächern und schleuderte Steine und, was der Zufall ihnen in die Hand gab, auf die drunten Vorgehenden.300

Die Darstellung der Eroberung von Tyros ist bei Curtius Rufus „besonders stark aus dem Flusse der Erzählung herausgehoben“.301 Der Autor, den man eher als Schriftsteller denn als „ernsthaften“ Historiker bezeichnen kann,302 “mixes his sources, alters the sequence of events and invents details to produce a more dramatic narrative.”303 Ein wichtiger Erzählzug des Curtius ist seine Darstellung der Massen und sein Interesse für massenpsychologische Phänomene – und zwar auch dann, wenn er zu ihrer Darstellung die historischen Tatsachen verfälschen muss. Gerade das „Aufflammen von Angst“ in der Masse und die „Psychologie des gemeinen Soldaten“ sind hervorstechende Kennzeichen seiner Erzählkunst.304 In diesem Zusammenhang ist wohl auch die Schilderung der Selbsttötung der Tyrer zu verstehen: Aufstieg und Fall der Stadt werden durch den verblendeten Hochmut und die gottlose Verzweiflung der Tyrer anschaulich gemacht, und die Schilderung der Selbsttötung dient wie auch diejenige der Kamikaze-Aktionen letztlich der massenpsychologischen Schilderung des selbstverschuldeten Untergangs. Sie ist ebenso wie die Art, sich auf den Feind zu stürzen, in diesem militärischen Kontext „hinter verriegelten Türen“ kaum anders als mit der Waffe zu denken. Auch in dieser Schilderung wird das eskapistische Moment hervorgehoben: Solange sie noch die Wahl haben, töten sich die Tyrer selbst, um nicht in die Hände der Feinde zu fallen. Ein

300

Übersetzung nach Müller, Geschichte, 111.113. Rutz, Tyrus, 371. 302 Vgl. Rutz, Tyrus, 370. Vgl. auch Atkinson, Historiae, 3469, der Curtius betrachtet “as a literary figure rather than as a serious historian”. 303 Atkinson, Books 3 and 4, 315. 304 Vgl. Rutz, Erzählkunst, 2351f. 301

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

115

letzter Akt der Freiheit lässt die Tyrer vor Gefangenschaft, Tod und Zwang in den selbstgewählten Tod flüchten.305 g) Zusammenfassung Betrachtet man Suizide als sinnbesetzte und zielgerichtete Handlungen und fragt dementsprechend weniger nach krankhaften Ursachen als nach den Motiven, nach Sinn und Zweck suizidaler Handlungen, dann eröffnet sich die Möglichkeit, die alttestamentlichen und altorientalischen Berichte über Selbsttötungen im Zusammenhang mit kulturgeschichtlichen Forschungen zur Anthropologie und Thanatologie des Alten Testaments zu betrachten. Selbsttötungen können dann als Handlungen zur Lösung eines „existentiellen“ Problems verstanden werden. Als „Sinngeschichten“ wurden in diesem ersten Abschnitt Berichte über Suizide in militärischen Situationen untersucht. Hier gilt es, zwischen der subjektiven Perspektive des Suizidanten und der Erzählperspektive der Quellen zu unterscheiden. Während wir die subjektive Perspektive des Suizidanten nur aus der überlieferten Handlungspraxis und ihrer konkreten Kontextualisierung in ihren subjektiven Sinndimensionen erschließen können, vermitteln uns die Schreiber suizidaler Geschichten zum Teil mit diesen übereinstimmende, zum Teil aber auch anders gelagerte Bilder und Sinnformen, die als Ausdruck der Selbst- und Fremdbilder der betreffenden Kultur und ihrer Werte gelten können. In allen Fällen erweisen sich die Selbsttötungen als eskapistische Phänomene, als Flucht aus einer ansonsten ausweglosen Lage. Es handelt sich zumeist um ambivalente, scheiternde, tragische Gestalten, militärische Anführer,306 welche die eigene Ehre vor drohender Schande zu bewahren suchen und einen schnellen Tod durch eigene Hand einem qualvollen Ende durch die Hand des Feindes vorziehen. Während der Sinn dieser Handlungen sowohl aus der Perspektive der Handelnden als auch aus der Erzählperspektive der biblischen Autoren keineswegs negativ bewertet wird, dominiert in den neuassyrischen Texten eine Erzählperspektive aus der Sicht des Großkönigs, welche den Sinn der Handlung durch die Angabe einer Ursache negativ qualifiziert. Diese Angabe ist nun keine medizinische (Krankheit) oder religiöse (Sünde), sondern wie die Sinndeutung selbst eine kulturelle, indem die suizidalen Handlungen unter das Verdikt der Feigheit gestellt werden: Es sind hier durchweg die Aufrührer, die als scheiternde Gestalten mit ihrem Suizid die Sinnlosigkeit des gesamten Aufstandes anzeigen. Letztlich erweist sich auch dies als eine Sinndeutung des Geschehens, die keineswegs den Sinn der Flucht aus der militärischen Notlage, aber den Sinn des militärischen Aufstandes selbst anzweifelt. Auch im Falle Sauls kann sich die ursprünglich positive Erzähl305

Aus römischer Zeit liegt eine Aufforderung zur Selbsttötung in militärisch aussichtsloser Lage an Josephus vor, die vermutlich als eine solche mit dem Schwert zu denken ist: Die Juden von Jotapa fordern Josephus in auswegloser Lage auf, sich nicht Nikanor zu ergeben, sondern sich selbst zu töten. Der Sinn dieser Selbsttötung liegt ihrer Ansicht nach in der Wahrung der eigenen wie der kollektiven Ehre, da Josephus als Feldherr das Volk der Juden repräsentiert: „Wenn du freiwillig (ἑκὼν) stirbst, dann als Feldherr der Juden, wenn aber unfreiwilllig (ἂκων), dann stirbst du als Verräter.“ (Flav.Jos.Bell. 3.359f) 306 Zum Gefolgschaftstod der Waffenträger von Saul und Nabûbēlšumāti siehe unten das Kapitel über die neuassyrischen und biblischen Gefolgschaftstode.

116

Eskapistische Selbsttötungen

perspektive, die mit einem Ehrerweis Jabesch-Gileads und einem entsprechend ehrenvollen Begräbnis schließt (1 Sam 31,11–13), in eine negative wandeln, indem eine Ursache für die Selbsttötung (ein Schwächeanfall, 2 Sam 1,9) oder zumindest für den Tod (Sauls Treulosigkeit, 1 Chr 10,13) angeführt wird. In diachroner Perspektive schließlich ergänzen die hellenistischen Texte, die von Selbsttötungen berichten, das Motiv der Ehre um die Deutung des Geschehens als eines Glaubenszeugnisses. Im Zusammenhang mit den oblativen Typen des Suizids wird dem – neben anderen Sinndeutungen – noch ausführlicher nachzugehen sein. B) Selbsttötungen durch das Hinabstürzen von Bergklippen Die im Folgenden zu besprechende Quelle beschreibt solche Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage, in denen ähnlich wie im Falle des Suizids durch das Schwert auf dem Schlachtfeld keine Zeit und keine Mittel für andere Formen der Selbsttötungen bleiben, vor allem nicht für Selbstverbrennungen bei Belagerungen im eigenen Palast.307 Stattdessen wird auf der assyrischen Kurch-Monolithinschrift Salmanassars III. von einfachen Soldaten des Feindes berichtet, dass sie sich während der verlorengehenden Schlacht von den Bergfelsen gestürzt hätten.308 Die Hintergründe für diese Schlacht werden im Folgenden kurz dargelegt, bevor wir uns den beschriebenen Selbsttötungen zuwenden. Salmanassar III. (858–824 v.Chr.) unternahm in noch größerem Umfang als seine Vorgänger Feldzüge über die bisherigen Grenzen des assyrischen Reiches hinaus: neben Feldzügen nach Osten gegen Urartu insbesondere auch zahlreiche Feldzüge über den Euphrat hinaus gen Westen bis an die Mittelmeerküste. Unter diesen Feldzügen stechen neben der Schlacht von Qarqar drei Feldzüge gegen Bit-Adini hervor. Das aramäische Fürstentum Bit-Adini309 in Syrien am oberen Euphrat mit seiner Hauptstadt Til-Barsip konnte in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts eine gewisse Vorherrschaft über Nordsyrien entfalten und war in mehrere Aufstände gegen Assyrien verwickelt, bevor es unter Salmanassars Vater Assurnasirpal II. erneut tributpflichtig gemacht wurde und Assurnasirpal die Kontrolle über die Nachbarregionen Bit-Adinis zurückgewinnen konnte.310 Bit-Adini jedoch setzte unter seinem König Aḫuni die Widerstände fort, die dann in mehreren Kampagnen Salmanassars III. aus den frühen Jahren 857–855 v.Chr. endgültig gebrochen wurden.311 Insbesondere der 307

Zu Letzteren siehe ausführlich unten die anschließenden Kapitel über Selbsttötungen durch Selbstverbrennung. 308 Josephus berichtet davon, dass sich die Einwohner von Gamla angesichts ihrer Niederlage gegen die Römer in die stadtnahe Schlucht zu Tode gestürzt hätten (Flav.Jos.Bell. 4.79f; vgl. zu den Priestern im Jerusalemer Tempel 63 v.Chr. Flav.Jos.Bell. 1.150f; zu einem Mann mit sieben Söhnen in Arbela Flav.Jos.Bell 1.312f; Flav.Jos.Ant. 14.429f; zu den Einwohnern von Gadara Flav.Jos.Ant. 15.358f; zu einem gewissen Eleazar im Herodion Flav.Jos.Bell. 4.519). Zu den zahlreichen von Josephus beschriebenen Selbsttötungen siehe außerdem noch unten S. 281 Anm. 215 sowie passim. 309 Zu Bit-Adini vgl. Honigmann, Bit-Adini; Lipiński, Arammaeans, 163–194. 310 Vgl. den Überblick bei Yamada, Construction, 70f. 311 Vgl. die Rekonstruktion der Abläufe bei Yamada, Construction, 137–143; Lipiński, Arammaeans, 183–194; Weippert, Textbuch, 250–252; Bryce, Neo-Hittite Kingdoms, 223–225; ders., Ancient Syria, 119–123.

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

117

Kurch-Monolith aus dem Jahre 853–852 v.Chr. beschreibt diese Ereignisse ausführlich.312 Unter ihnen ist die Beschreibung des letzten Feldzugs gegen Bit-Adini auf dem Kurch-Monolith für uns von besonderem Interesse.313 Bevor die Schreiber jedoch von dieser Kampagne berichten, fügen sie direkt davor ein Resümee der früheren Feldzüge gegen Aḫuni ein, unter anderem wohl deshalb, um zum einen die Ereignisse um Bit-Adini zusammenzufassen und ihre Bedeutung hervorzukehren, zum anderen um die Verlagerung des Kampfplatzes von Til-Barsip zum Berg Šitamrat314 verständlich zu machen.315 Nach diesem Resümee folgt dann die Beschreibung der letzten Schlacht, in der sich einige der feindlichen Soldaten von den Felsklippen geworfen haben sollen: RIMA III 2 ii 66b–75a: (ii 66b–67a) As for Ahuni, son of Adini, who since (the days of) the kings my fathers, had incessantly conducted himself with obduracy [and] violence; in the beginning of my reign, in the eponym year of my own name, I departed from Nineveh (and) besieged Til-barsip, his fortified city. (67b–68a) I let my warriors surround it, set a battle in its midst, cut down its orchard (and) rained fire (and) arrows upon it. (68b) He became frightened before the brilliance of my weapons (and) the splendour [of] my lordship and abandoned his city. (69a) He crossed the Euphrates to save his life. In another year, in the eponym year of Ashur-bunaya-uṣur, I pursued after him. (69b–70a) He had made as his stronghold Mt. Shitamrat, the mountain peak on the bank of the Euphrates, which, like a cloud, hangs from the sky. (70b–71a) By the command of Ashur, the great lord, my lord, and Nergal who goes before me, I approached Shitamrat, into which none of the kings, my fathers, came. For three days the hero (= Shalmaneser) explored the mountain. His proud heart yearned for battle (71b–72a) He climbed up (the mountain) and trampled (it) down with his (own) foot (lit. feet). Ahuni trusted in his widespreading hosts and came out against me. He drew up the battle line. (72b–73a) I hurled the weapons of Ashur, my lord, against them, (and) inflicted their defeat. I cut off the heads of his warriors. With the blood of his fighters, I dyed the mountain. Many of his (men) threw themselves off (lit. to) the cliffs of the mountain. (73b–74a) I fought a fierce battle in the midst of his city. The awesome splendour of Ashur, my lord, overwhelmed them. They came down to me (and) seized my feet. (74b–75a) I brought to my presence Ahuni, with his armies, (his) chariots, his cavalry, and much property of his palace, the weight of which is immeasurable. I carried (them) off across the Euphrates (text: Tigris), brought (them) to my city Ashur, (and) counted them as the people of my land.316

Die Selbststilisierung des Königs als kämpferischer Held, der in Bereiche vordringt, in die selbst seine Vorgänger nicht vorgedrungen waren (Zeile 70–71), und die Stilisierung der Feinde als zwar generell starke und mutige, angesichts Assurs und des Königs jedoch von Furcht ergriffene Gegner ist deutlich: Aḫuni kämpfte zwar schon immer mit Gewalt und Stärke (Zeile 66), doch angesichts der Belagerung TilBarsips flieht er in Angst und Schrecken über den Euphrat (Zeile 68–69). Die totale Niederlage des Gegners bei der späteren Schlacht in der Bergregion von Šitamrat wird durch die Aussage hervorgehoben, dass Salmanassar die Köpfe der Feinde abschlug und mit dem Blut der Kämpfer die Berge feuerrot färbte (Zeile 73). Diese 312

Zum Text vgl. Grayson, Rulers, 11–24; Yamada, Construction, 342–379. Zu den weiteren Quellen, die von dieser Kampagne berichten, vgl. den Überblick bei Yamada, Construction, 130–143. 314 Zur umstrittenen Lage dieses Berges vgl. Bagg, Šitamrat. 315 Zu weiteren möglichen Gründen für dieses unübliche Resümee vgl. Yamada, Construction, 131f. 316 Übersetzung nach Yamada, Construction, 376f. 313

118

Eskapistische Selbsttötungen

totale Niederlage wird daraufhin im selben Vers nochmals durch den Hinweis auf den Suizid zahlreicher Gegner unterstrichen und dabei impliziert, dass die Soldaten ihre aussichtslose militärische Lage einsahen und sich von den Bergklippen warfen, um nicht selbst ebenfalls enthauptet und entehrt zu werden:317 eine eskapistische suizidale Handlung angesichts der Einsicht in die eigene Niederlage und in die überlegene Allmacht des Gegners, unternommen in einer Situation auf dem bergigen Schlachtfeld, in der sich ein Sturz von den Bergklippen als nächstliegende Gelegenheit zur Selbsttötung anbot: RIMA III 2 ii 73: SAG.DU.MEŠ muq-tab-li-šu ú-na-kis ÚŠ.MEŠ mun-dah-ṣi-šú KUR-ú aṣ-ru-up ma-’-du-ti-šú a-na ka-api šá KUR-e i-ta-na-qu-tu-ni Die Köpfe seiner Krieger schlug ich ab. (Mit dem) Blut seiner Kämpfer färbte ich das Gebirge feuerrot. Viele (Kämpfer) von ihm stürzten sich einer nach dem anderen318 von der Klippe des Berges.319

Angesichts dieser Situation werden die Überlebenden vom Schreckensglanz Assurs erfasst – eine Zusammenfassung und Schlussfolgerung aus der zuvor im Einzelnen beschriebenen Niederlage – und ergeben sich. Aḫuni und seine Mitstreiter werden nach Assur deportiert, wo sich ihre Spuren verlieren. Dass ihre Identität aufgehoben ist, wird durch die Aussage unterstrichen, dass Salmanassar sie fortan zu den „Leuten meines Landes“ (UN.MEŠ KUR-ia; Zeile 75) rechnet. Der hier verwendete Gtn-Stamm des Verbs „sich stürzen“ (ittanaqqutuni) stammt von dem Verbum maqātu, einem Verb, das bei der Beschreibung suizidaler Handlungen im Akkadischen häufiger begegnet: Wir werden in einigen altbabylonischen Briefen, in denen Menschen damit drohen, sich vom Hausdach zu stürzen,320 sowie in den nun folgenden Kapiteln erneut darauf stoßen, wenn es darum geht, sich zur Selbstverbrennung in ein Feuer zu stürzen. C) Selbsttötungen durch Selbstverbrennung In militärisch aussichtsloser Lage gibt es im Wesentlichen zwei verschiedene Formen der Selbsttötung: die nun schon behandelten Selbsttötungen durch das Schwert und diejenigen durch Verbrennung. Die Selbsttötungen durch das Schwert erfolgen zumeist in akuten militärischen Notsituationen auf dem Schlachtfeld: Hier töten sich Einzelne, vornehmlich Anführer, Könige, Fürsten und Würdenträger, teils mit ihren engsten Gefolgsleuten, um die Schmach der Misshandlung in der Hand des Feindes nicht erleben zu müssen. In diesen Notsituationen ist es nicht möglich, auch noch dem schändlichen Umgang mit der Leiche zu wehren. So entgeht beispielsweise Saul einer Misshandlung, wie sie der gefangene Simson am eigenen Leib erfahren muss, doch kann auch Saul nicht verhindern, dass die Philister ihren Mutwillen mit seinem Leichnam treiben. Haben jedoch militärisch bedrängte Menschen 317

Zur Bedeutung des Kopfabschneidens in den neuassyrischen Feldzügen siehe oben das Kapitel über Urtak und Nabûdamiq von Elam. 318 Oder: immer wieder (Gtn-Stamm). 319 Umschrift nach Yamada, Construction, 366. 320 Siehe dazu unten das Kapitel über Selbstmorddrohungen in altbabylonischen Briefen und verwandten Texten.

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

119

mehr Zeit als auf dem Schlachtfeld, können sie eine unwiederbringlichere Form der Selbstvernichtung wählen: die der Selbstverbrennung. Insbesondere in Belagerungssituationen, wenn der übermächtige Feind vor den Toren der Stadt steht, entschließen sich die Belagerten häufig kollektiv zu suicides obsidionaux,321 um sich, ihre Familien und ihr Habe zu verbrennen und auf diese Weise weder lebend noch tot in die Hand des Feindes zu fallen. Diese Handlung hat noch weit mehr als die Selbsttötung durch das Schwert eine öffentlichkeitswirksame Funktion: Es wird dem Feind sowie bei kollektiven Selbstverbrennungen den Zögerlichen unter den Einheimischen angezeigt, dass man die Selbstverbrennung der eigenen und familiären Schändung, Versklavung oder Tötung vorzieht und dem Feind keine Beute zu überlassen gedenkt. „Der Angreifer soll um seine Befriedigung an Frauen und Kindern, Hab und Gut des Besiegten geprellt werden – auch um den Preis des Lebens; und dazu kommt die Angst vor Vergewaltigung und Versklavung, die kaum eigens ausgesprochen werden muß.“322 Auffallend ist allerdings bei den im Folgenden zu behandelnden Quellen, dass ihre Mehrzahl Legenden aus „fremdländischer“, nämlich griechischer und römischer Feder bilden, während einheimische Berichte über Selbstverbrennungen zwar existieren, aber die Minderheit bilden.323 In den Fällen von Simri, Mitinti, Assurbanipal (Sardanapal), Šamaššumukīn (Sarmuge/Saosduchinos), Sinšariškun (Sarakos), Semiramis,324 Kroisos, Boges und Amilkas handelt es sich um Selbstverbrennungen, bei denen eine einzelne Führergestalt im Vordergrund steht, während es bei den Belagerungen von einigen kleinasiatischen Städten sowie von Sidon, Persepolis und später Massada zu kollektiven Selbstverbrennungen kommt.325 Aus der Perspektive der Handelnden impliziert diese Selbstverbrennung im Alten Orient keine vollständige Selbstvernichtung wie in Ägypten.326 Der Weg des Toten in die Unterwelt kann auch von dem Verbrannten genommen werden – dieser muss keineswegs wegen seiner Todesart ein Dasein als Totengeist in der Welt der Lebenden fristen. Darauf weisen auch die Kremationen hin, die wir archäologisch vor 321

Vgl. van Hooff, Autothanasia, 57. Bichler, Alpinarum gentium feritas, 22. 323 Zu den indischen Formen der Selbstverbrennung (satī), auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, siehe beispielsweise Fisch, Rituale; Harlan, Truth. 324 Die Selbstverbrennung der Semiramis wird an anderer Stelle behandelt (siehe unten den Exkurs über Onnes, Semiramis, Thisbe und Pyramus), weil die Form der Selbstverbrennung zwar ähnlich zu den hier dargestellten ist, Kontext und Sinngehalt aber andere sind. 325 Die Selbstverbrennungen der Mutter der jüdischen Märtyrer (4 Makk 17,1) wird im Kontext der Märtyrertode und der oblativen Selbsttötungen behandelt (siehe dazu unten das Kapitel über die Martyriumslegenden des zweiten Makkabäerbuches). Auf Massada sollen sich laut Josephus die Juden in auswegloser militärischer Lage und angesichts der befürchteten Schändung von Frauen und Kindern dafür entschieden haben, auf schöne und freie Weise zu sterben (καλῶς καὶ ἐλευθέρως ἀποθανεῖν Flav.Jos.Bell. 7.325) und im Feuer (πῦρ) verbrannt zu werden. Zu weiteren Aspekten von Massada siehe noch unten den Exkurs über autoaggressive Selbsttötungen im römerzeitlichen Palästina, das Einleitungskapitel über Selbsttötungen als Opfer sowie den Exkurs über die Passage in ein besseres Jenseits nach römerzeitlichen jüdischen Texten. Unter den zahllosen Beiträgen zu Massada seien nur genannt Flusser, Judaism, 76–106; Klawans, Josephus, 115–119.129–134; Netzer, Masada; Newell, Forms. Vgl. auch Goodblatt, Suicide; Swoboda, Tod, passim. 326 Siehe dazu unten das Kapitel über das Gespräch des Lebensmüden mit seinem Ba. 322

120

Eskapistische Selbsttötungen

allem auf den Friedhöfen in Phönizien, aber auch in Syrien, Anatolien und Palästina finden.327 a) Simri Der einzige Selbstmord durch Selbstverbrennung, von dem im Alten Testament erzählt wird, ist die Selbstverbrennung des nordisraelitischen „Königs“ Simri in seinem Palast in Tirza etwa 882 v.Chr. Der Bericht über seine Selbstverbrennung steht im ersten Buch der Könige und ist Teil der synchronistischen Berichte, die der oder die Verfasser der Königebücher über die Herrscher des Nord- und Südreiches mitteilen. Leider besteht über die Genese dieser Bücher in der aktuellen Forschung kein Konsens, und die These von einem wie auch immer zusammenhängenden deuteronomistischen Geschichtswerk, das die Bücher Deuteronomium bis zweite Könige umfasse, wird mit zum Teil guten Gründen von vielen Forschern in Zweifel gezogen. Auf die Kontroversen zur Entstehung der Königebücher kann hier nicht im Detail eingegangen werden, doch deutlich und für unseren Zusammenhang wichtig scheint zu sein, dass ihre Verfasser aus älteren Königslisten, Annalen und anderen Quellen schöpfen konnten,328 selbst aber nach neuassyrischen und neubabylonischen Vorlagen329 das synchronistische Schema erstellten,330 nach dem von den Königen des Nord- und Südreiches in einer zusammenhängenden Darstellung berichtet werden konnte, und dieses Schema durch eigene Texte weiter anreicherten, die entweder von derselben Hand stammen oder spätere Ergänzungen sind. Das bedeutet, dass das vorliegende Rahmenschema in seiner synchronistischen Form nicht älter als seine engste neuassyrische Parallele (etwa 810–783 v.Chr.) sein dürfte, wahr-

327

Vgl. Bieńkowski, Cremation; Aubet, Begräbnissitten; Kamlah, Grab, 289f (Lit.). Deren „historische Zuverlässigkeit wird durch außeralttestamentliche Quellen, etwa zum Palästina-Feldzug von Pharao Schischak I., prinzipiell bestätigt“ (Gertz, Tora und Vordere Propheten, 303). „Die Quellen hoben sich vermutlich sogar von der Sicht des dtr Redaktors ab. Denn sie bezeugen auch jenen Königen ‚Tüchtigkeit‘, die in den Augen des Redaktors gerade nicht vorbildlich waren (1 Kön 16,5.27).“ (Hentschel, Königsbücher, 308) 329 Hier sind vor allem die neuassyrische synchronistische Chronik zu nennen (Grayson, Chronicles, 51–6.157–170; Glassner, Chronicles, 176–183), deren Abfassungszeit kurz nach dem Tode Adad-neraris III. (810–783 v.Chr.) veranschlagt wird und von der wir drei Kopien aus der Bibliothek Assurbanipals (668–ca. 630 v.Chr.) besitzen (Grayson, Chronicles, 53.157), sowie die neubabylonische Chronik (ebd. 14–17.69–87; Glassner, Chronicles, 193–202), die die Zeit von Nabunasir (747–734 v.Chr.) bis Šamaššumukīn (668–648 v.Chr.) umfasst und von der die besterhaltene Kopie aus dem 22. Regierungsjahr von Darius stammt (500/499 v.Chr.). Adam, Saul und David, 177–180 geht darüber hinaus noch auf die synchronistische Königsliste (Grayson, Königslisten, 116–121) sowie auf die Weidner-Chronik (Grayson, Chronicles, 43–45.145–151; Glassner, Chronicles, 263–268) ein, die hinsichtlich ihrer formalen Aspekte jedoch keine derart engen Parallelen zum Rahmenschema der Königsbücher darstellen wie die beiden zuvor genannten. 330 Ob dieses Schema auf eine eigenständige Quelle zurückgeht, die in der Forschung als „synchronistische Chronik“ bezeichnet wird (vgl. nach Lewy, Chronologie, vor allem Jepsen, Quellen, 30–40 und in neuester Zeit Adam, Saul und David, 169–211), oder (m.E. wahrscheinlicher) von dem ersten Verfasser/Redaktor des Königebuches selbst erstellt worden ist (vgl. Kratz, Komposition, 164; Blanco Wißmann, „Er tat das Rechte …“, 38), kann hier nicht im Detail diskutiert werden. 328

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

121

scheinlich jedoch aus neubabylonischer Zeit oder später331 stammt, weil sich in der neuassyrischen synchronistischen Chronik anders als in der neubabylonischen Chronik sowie in den Königebüchern keine synchronen Jahresangaben beim Herrschaftsantritt finden, sodass die neubabylonische Chronik mit ihrer synchronistischen Darstellung und ihren theologischen „Frömmigkeitsurteilen“ die engste Form- und Sachparallele zum Rahmenschema in den Königebüchern darstellt332 und sehr wahrscheinlich die Vorlage für die Synchronismen in den Königebüchern bildet: „Der Königsrahmen in den Königebüchern beruht auf einer Rezeption der neubabylonischen Chroniken.“333 Im Falle des Königs Simri sowie seiner Vorgänger und Nachfolger dürften die Verfasser des Rahmenschemas auf die Annalen der Könige von Israel (1 Kön 14,19) zurückgegriffen und Simri nach den Annalen der Könige von Juda (1 Kön 15,7) mit den Regierungsdaten des Königs Asa korreliert haben.334 Dabei haben sie die vorgefundenen Angaben über Simri zwar in das neu erstellte synchronistische Rahmenschema eingeordnet, aber – wie in 1 Kön 15–16 insgesamt335 – nur in begrenztem Maße mit neuem Erzählstoff und bewertenden Formulierungen befrachtet. Simri spielt in zwei aufeinander folgenden und äußerst knappen, gleichzeitig aber außerordentlich dramatischen Textabschnitten336 die entscheidende verbindende Rolle. Der erste Abschnitt betrifft die Chronik über seinen Vorgänger Ela, in der vor allem über Simris Verschwörung gegen Ela berichtet wird (1 Kön 16,8–14): 1 Kön 16,8–14: (8) Im 26. Jahr von Asa, dem König Judas, wurde Ela, der Sohn Baschas, König über Israel in Tirza für zwei Jahre. (9) Dann verschwor sich gegen ihn sein Knecht Simri, der Oberste der Hälfte der Streitwagen, als er in Tirza trank, berauscht im Hause Arzas, des Hausvorstehers in Tirza. (10) Und Simri kam und erschlug ihn. Er tötete ihn im 27. Jahr von Asa, des Königs von Juda, und er wurde König an seiner statt. (11) Und es geschah bei seinem Königsantritt, sobald er auf seinem Thron saß, erschlug er das ganze Haus Bascha, von ihm ließ er keinen übrig, der gegen die Wand pisst, weder seine Rächer noch seine Freunde. (12) So tilgte Simri das ganze Haus Bascha nach dem Wort des Herrn, das er gegen Bascha gesprochen hatte durch die Hand Jehus, des Propheten, (13) wegen all der Sünden Baschas und der Sünden Elas, seines Sohnes, die sie begangen hatten und mit denen sie Israel verführt hatten, um den Herrn, den Gott Israels, mit ihren Götzen zu reizen. (14) Und das Übrige der Geschichten Elas und alles, was er tat, ist es nicht verzeichnet im Buch der Annalen von den Königen Israels?

Der zweite Textabschnitt über Simri besteht in der Chronik über seine nur sieben Tage337 währende Regierungszeit und vor allem in einem kurzen Bericht über sein Ende (1 Kön 16,15–20): 331

Die besterhaltene Kopie der babylonischen Chronik (Chronicle 1) stammt aus dem 22. Regierungsjahr von Darius (vgl. Grayson, Chronicles, 69). 332 Vgl. dazu ausführlich Blanco Wißmann, „Er tat das Rechte …“, 34–37.213–223. 333 Blanco Wißmann, „Er tat das Rechte …“, 213. 334 Zu den teils rechnerisch unmöglichen Synchronismen vgl. Sweeney, Kings, 43. 335 Vgl. Kratz, Komposition, 162. 336 Zur Dramatik gehören hier “regicide, coup, multiple murders, counter-coup, and suicide” (Branch, Zimri, 381). 337 „Die LXXB hat ‚Jahre‘ statt ‚Tage‘, wahrscheinlich gleichfalls eine Folge der Verschreibung von ‚Ambri‘ in ‚Zambri‘“ (Bösenecker, Basileon III, 933 im Anschluss an Hughes, Secrets, 132). Die „sieben Tage“ dürften eher eine literarische als eine exakte historische Angabe sein: Simri hat

122

Eskapistische Selbsttötungen

1 Kön 16,15–20: (15) Im 27. Jahr von Asa, dem König Judas, wurde Simri sieben Tage König in Tirza, während das Volk gegen Gibbeton lagerte, das zu den Philistern gehörte. (16) Als das Volk, das im Kriegslager war, hörte: Simri hat eine Verschwörung angezettelt und sogar den König erschlagen, da machte ganz Israel Omri, den Obersten des Heeres, am gleichen Tag im Lager zum König über Israel. (17) Und von Gibbeton zog Omri hinauf, und ganz Israel mit ihm, und sie belagerten Tirza. (18) Und es geschah, als Simri sah, dass die Stadt eingenommen worden war, ging er in den Wohnturm des Königspalastes und verbrannte über sich das Königshaus im Feuer und starb (19) wegen seiner Sünde,338 die er begangen hatte, indem er das Böse in den Augen des Herrn tat, indem er wandelte auf dem Weg Jerobeams und in dessen Sünde, die der begangen hatte, um Israel zur Sünde zu verführen. (20) Und das Übrige der Geschichten Simris und seine Verschwörung, die er angezettelt hat, sind sie nicht verzeichnet im Buch der Annalen von den Königen Israels?

Dieser Text über König Simri (Der Name bedeutet wahrscheinlich „JHWH hat beschützt/verteidigt.“)339 enthält nicht viel mehr als das übliche Rahmenschema mit den synchronistischen Regierungsdaten, der Angabe zur Regierungsdauer, dem Frömmigkeitsurteil und dem Verweis auf die Annalen.340 Da Simri in seinem Palast verbrennt, fehlt die typische Sterbe- und Begräbnisnotiz, und weil auf seine Regierungszeit ein Bürgerkrieg folgt, fällt auch die typische Angabe über einen direkten Nachfolger auf dem Thron fort (vgl. dann Vers 22b). An die Angabe zu den Regierungsdaten schließt sich der kurze Bericht über das Gegenkönigtum Omris, die Belagerung Tirzas und Simris Ende an. Dieser knappe Bericht in 1 Kön 16,15–20 entstammt wahrscheinlich – wenn auch nicht unbedingt seinem Wortlaut, so zumindest seinem Informationsgehalt nach – ebenso wie die Angaben zu den Regierungsdaten den Annalen, wie wohl auch aus dem Hinweis in Vers 20 zu entnehmen ist und wie es auch den übrigen kurzen Berichten innerhalb des Rahmenschemas der Königebücher sowie neuassyrischen und neubabylonischen Parallelen entspricht. Das anschließende Frömmigkeitsurteil in Vers 19 hingegen dürfte wie das Frömmigkeitsurteil des Rahmenschemas überhaupt nicht schon in den „Tagebüchern“ gestanden haben, sondern von dem „deuteronomistischen“ Verfasser oder Redaktor341 selbst stammen, denn im Falle Simris steht das Frömmigkeitsurteil nicht wie üblich hinter den Regierungsangaben, sondern „an der falschen Stelle“342 (vgl. auch 1 Kön 16,13) und hat mit dem Hinweis auf den „Weg“ und die „Sünde“ des Königs weniger „ein konkretes Ereignis, sondern unbestimmter eine Verhaltensweise“ im Blick, die ein „Desinteresse an der konkreten Vergangenheit bekundet“343 und stattdessen recht schematisch das Verhalten Simris

nur eine sehr kurze Zeit regiert, was mit Hilfe der sieben Tage bzw. einen Woche zum Ausdruck gebracht wird. 338 Die Übersetzung folgt dem Ketib. Qere und andere Lesarten haben den Plural und gleichen somit an das übliche Frömmigkeitsurteil an (vgl. etwa 1 Kön 16,13). 339 Vgl. Olyan, Jehu as Zimri, 203.205. 340 “Zimri’s reign is given the standard treatment despite the fact that the usurper ruled for only seven days.” (Suriano, Politics, 133f Anm. 19) 341 So beispielsweise Noth, Könige, 349f. 342 Kratz, Komposition, 164. 343 Weippert, Beurteilungen, 330.

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

123

mit den Religionsvergehen Jerobams in Beziehung setzt.344 „Man sieht, wie mechanisch oft der Redaktor seinen Satz von Sünde und Strafe anwendet.“345 In der Zeit vor der Etablierung der Dynastie Omri kann sich im Nordreich Israel keine Dynastie dauerhaft etablieren; stattdessen kommt es zu wiederkehrenden Revolten und Königsumstürzen, die möglicherweise mit Rivalitäten der Stämme untereinander,346 wahrscheinlicher jedoch mit der Bedeutung des Militärs und entsprechenden persönlichen machtpolitischen Interessen von Königsanwärtern aus dem Militär zu tun haben.347 Nach der „Abspaltung“ des Nordreichs unter Jerobeam I. erfolgt zwar mit Jerobeams Sohn Nadab der Versuch einer Dynastiebildung, doch wird Nadab von dem Usurpator Bascha erschlagen. Unter Bascha und seinem Sohn Ela erfolgt erneut der Versuch einer Dynastiebildung, die jedoch wiederum durch einen Königssturz vereitelt wird, als der Kommandeur Simri Ela erschlägt. Es ist nicht eindeutig, ob die Hintergründe für den Königssturz Simris (1 Kön 16,9) historisch oder fiktiv sind und zur Strategie der „deuteronomistischen“ Autoren gehören, das Nordreich Israel in schlechtem Licht erscheinen zu lassen. Nach dem Text in 1 Kön 16,9 jedenfalls scheint Simri für seinen Königsumsturz Gründe gehabt zu haben: Während Israel gegen die Philister Krieg führt (16,15), befindet sich Israels König Ela keineswegs als verantwortungsvoller Kriegsherr im Lager, sondern wird als dekadenter König dargestellt, der sich in seiner Residenz beim Gastmahl betrinkt.348 Die Tatsache, dass sich auch der Kommandeur eines Teils der Kriegswagentruppe nicht auf dem Kriegsschauplatz aufhält, wird zwar nicht weiter kommentiert, zeigt aber, wie sehr sich der Blick vom Kriegsgeschehen weg hin zu den politischen Ereignissen in Tirza bewegt. Möglicherweise nutzt Simri als einer der beiden Kriegswagenanführer, die wahrscheinlich selbst wiederum dem „Feldmarschall“ Omri unterstanden,349 die Gelegenheit zum Königsumsturz, als sich das Hauptheer mit Omri im Feldlager befindet, aber der König angetrunken in seiner Residenz weilt.350 Simri erhebt sich nach dem Königssturz in Tirza selbst zum König und lässt – nach dem Zusatz in Vers 12 verstanden als Erfüllung der prophetischen Unheilsankündigung von 16,1–4 – sämtliche männliche Verwandte und Freunde Elas töten, um mögliche Königsprätendenten aus dem gestürzten Herrscherhaus auszuschalten 344

Da man den Zusatz in Vers 19 recht deutlich absetzen kann, dürfte der Bericht in den Versen 16–18 zumindest seinem Informationsgehalt nach aus den Annalen stammen (anders Fritz, Könige, 158f, der den gesamten Bericht als deuteronomistischen Einschub betrachtet, der zwischen die Rahmenformeln eingefügt wurde). 345 Benzinger, Könige, 103. 346 Vgl. Sweeney, Kings, 196. 347 Vgl. Niemann, Herrschaft, 61f. 348 Das spricht gegen die These von Sweeney, dass der Bericht über Elas Ermordung dazu diene, “unchecked violence” im Nordreich Israel zu porträtieren (vgl. Sweeney, Kings, 196). Nicht so sehr Simris Gewalttat und Königsumsturz kommen hier schlecht weg, sondern der dekadente König Ela. 349 Vgl. Sweeney, Kings, 202. 350 So auch schon Benzinger, Könige, 102. Simri als „Kanaaniter“ und „Exponent kanaanäischer Interessen“ und Omri als Anführer über den „israelitischen Heerbann“ zu betrachten (Hentschel, Könige, 100f), bleibt den heute fragwürdig gewordenen Gegenüberstellungen von Kanaanäern und Israeliten verhaftet.

124

Eskapistische Selbsttötungen

und seine eigene Herrschaft zu festigen.351 Diese Strategie nützt ihm letztendlich nichts, weil die Legitimität seines Königtums auch von anderer Seite angezweifelt wird und es noch weitere gefährliche Akteure im politischen Spiel gibt, die selbst Ansprüche auf den Thron geltend machen: Das Heer ruft seinen Heerführer Omri zum Gegenkönig aus, wobei die Ortsangabe Gibbeton („Tell el-Melāt etwa 9 km nördlich von Ekron“352) wahrscheinlich aus 15,27 ohne historischen Hintergrund übertragen wurde, um Omri nachträglich zu lokalisieren.353 Jedenfalls scheint Omri anders als Simri einen Großteil des Heeres hinter sich gehabt zu haben und beginnt die Belagerung der Residenz Simris. Die Angaben über Simris Verteidigung und Tod in Vers 18 sind mehr als eine bloße Notiz innerhalb des Rahmenschemas, nämlich ein knapper narrativer Bericht,354 der Simris Erkenntnis und Folgehandlung beschreibt und zusammen mit den Versen 16–17 über Omris Königserhebung und Kriegszug eine kurze historische Erzählung innerhalb des Rahmenschemas darstellt. Der Selbstmord Simris erfolgt, als Simri gewahr wird, dass seine Residenz und sein Königtum, wohl auch sein Leben, nicht zu retten sind. Die Wortwahl mit einer Infinitivkonstruktion von ‫ ראה‬drückt einerseits ein wörtlich zu verstehendes „Sehen“ im Sinne von „MitAnsehen“ aus: Simri sieht mit eigenen Augen, wie seine Residenzstadt eingenommen wird und dass sie (vgl. die anschließende Perfekt-Formulierung) tatsächlich eingenommen ist. „Das kann bedeuten, daß ‚die Stadt‘ zunächst noch ohne den königlichen Palast bereits in die Hände der Belagerer gefallen war, oder aber, daß sie potentiell erobert, d.h. praktisch schon verloren war.“355 Darüber hinaus beinhaltet diese Formulierung mit ‫ ראה‬auch einen Erkenntnisaspekt: Simri sieht ein, dass die Stadt verloren ist.356 Seine nachfolgende Handlung resultiert aus dieser Erkenntnis: Wie im Falle Ahitofels und von Sauls Waffenträger erfolgt die Selbsttötung als Antwort auf ein „Realisieren“ (‫ )ראה‬unglücklicher Umstände.357 Der Teil des Palastes (‫)ארמון‬, in den Simri sich daraufhin zurückzieht und den er über sich anzündet, dürfte wohl eine Art Wohnturm oder Hofburg/Zitadelle als letzte Zuflucht innerhalb des Palastkomplexes gewesen sein.358 Anstatt sich wie Saul mit dem Schwert zu töten, zieht Simri die Selbstverbrennung mitsamt seines Palastes vor, wahrscheinlich deshalb, damit der Königspalast nicht in die Hände des Feindes fällt – eine Selbsttötung, die neben ihrer Intention, nicht lebend in die Hände des Feindes zu fallen, auch noch als ein letzter Schlag gegen den Feind geführt wird.359 351

Die Notiz über die „Ausrottung“ des Hauses Bascha hält Werlitz, Könige, 155 für eine theologische Konstruktion. Historisch kann aber dennoch der Versuch sein, sich von Königsprätendenten aus der Dynastie Bascha zu befreien. 352 Fritz, Könige, 155. 353 Vgl. Fritz, Könige, 158. 354 Vgl. deVries, 1 Kings, 199. 355 Noth, Könige, 349. 356 So auch schon Noth, Könige, 349. 357 Vgl. Shemesh, Suicide, 166. 358 Vgl. etwa Benzinger, Könige, 103; Kittel, Bücher, 131; Noth, Könige, 349; Würthwein, Könige, 197. 359 Vgl. Shemesh, Suicide, 166, die aus dieser Handlung Simris ähnlich wie im Falle Simsons eine Kombination aus Selbstmord und Rache erkennen will. Branch, Zimri, 385 geht so weit, Simri

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

125

Die anschließende Selbstverbrennung wird auf eine Weise beschrieben, in der rein grammatisch nicht ganz klar ist, wer das Subjekt des Satzes ist, der das Anzünden des Palastes betreibt.360 Es ließe sich übersetzen: 1 Kön 16,18: Und es geschah, als Simri sah, dass die Stadt eingenommen worden war, da ging er in den Wohnturm des Königspalastes, und er/man verbrannte über sich/ihm das Königshaus im Feuer, und er starb.

Theoretisch ist es möglich, den Satz so zu lesen, dass nicht Simri selbst den Palast angezündet hat, sondern entweder ein Bediensteter361 oder einer der Feinde aus dem Heerlager Omris. Doch ist dies grammatisch und sachlich plausibel? Grammatisch ist Simri das zuletzt explizit genannte Subjekt (Vers 16aα), der auch in dem nachfolgenden Satz „Da ging er in den Wohnturm des Königspalastes.“ (Vers 16aβ) Subjekt sein muss. Daher ist es unwahrscheinlich, dass in dem anschließenden Satz „Da verbrannte er/man über sich/ihm das Königshaus im Feuer.“ (Vers 16bα) ein anderes Subjekt als Simri impliziert sei, zumal in dem Folgesatz „Und er starb.“ (Vers 16bβ) wiederum Simri Subjekt sein muss. Auch sachlich spricht nichts gegen diese Annahme, denn dass jemand seinen Palast selbst anzündet, ist aufgrund von Holzbalken im Mauerwerk sowie Holzverkleidungen und Möbeln praktisch durchaus möglich,362 und von vergleichbaren Selbstverbrennungen wird auch in anderen Fällen berichtet.363 Ob Simri den Palast nun selbst anzündete oder ähnlich wie Kroisos seinen Scheiterhaufen von einem Bediensteten anzünden ließ – in beiden Fällen „gibt [er] sich angesichts seiner hoffnungslosen Lage selbst den Tod, indem er das Gebäude in Brand steckt bzw. durch Bedienstete anzünden lässt“.364 Bewertung und Deutung der Selbstverbrennung Simris aus der Perspektive des Alten Testaments werden von der Forschung nicht nur sehr unterschiedlich, sondern geradezu gegensätzlich betrachtet. Volkmar Fritz beispielsweise behauptet, dass die Selbstverbrennung Simris negativ konnotiert sei und „sein schmähliches Ende“365 zum Ausdruck bringe: „Ob er ihn [den Palast; J.D.] selbst angezündet hatte, wie der Text behauptet, läßt sich nach dem Stand der Dinge nicht mehr feststellen; wahrscheinlich wurde hier dem bösen Feind die böse Tat zugeschrieben. Das schmähals “a sort of ancient equivalent of a modern-day ʽsuicide bomberʼ” zu bezeichnen, wofür es meines Erachtens, anders als im Falle Simsons (siehe dazu unten das Kapitel über Simson), keinen Grund gibt. 360 Vgl. Gray, Kings, 365; Noth, Könige, 349; Fritz, Könige, 158. 361 So Noth, Könige, 349. Dass dies im Rahmen von Selbstverbrennungen durchaus möglich ist, macht vor allem das Beispiel des Kroisos nach der Myson-Amphora und dem Bakchylides-Lied deutlich (siehe dazu unten das Kapitel über Kroisos, Boges und Amilkas). 362 Anders Noth, Könige, 349. Insbesondere Tempel und Paläste konnten in Syro-Palästina über horizontale und vertikale Holzbalken im Mauerwerk (vgl. etwa Naumann, Architektur, 88–104; Edelman, Earthquakes, 225–233) sowie über hölzerne Wandverkleidungen und hölzerne Möbel verfügen. Dieses Holzwerk dürfte recht leicht in Brand zu setzen sein. Vgl. auch Rehm, Könige, 162, der betont, dass Simri das „Holzwerk“ des Palastes in Brand gesetzt habe. 363 Zu den Legendenerzählungen über die Selbstverbrennung von Sarmuge bzw. Sardanapalos/ Sarakos siehe unten das Kapitel über Assurbanipal (Sardanapalos), Šamaššumukīn (Sarmuge/Saosduchinos) und Sinšariškun (Sarakos). 364 Würthwein, Könige, 197. 365 Fritz, Könige, 158.

126

Eskapistische Selbsttötungen

liche Ende unterstreicht die Unrechtmäßigkeit dieses Versuches, das Königtum an sich zu reißen, die mit seiner Erfolglosigkeit manifestiert ist.“366 Auf der anderen Seite erkennt Mordechai Cogan zwar an, dass die siebentätige Regierungszeit Simris ausschließlich in der Verteidigung seines Königsumsturzes besteht und von den Verfassern/Redaktoren als sündenbeladen charakterisiert wird,367 doch trifft diese Bewertung seiner Ansicht nach nicht auf den Akt der Selbstverbrennung zu. Hier nimmt Cogan explizit die Tradition über die Selbstverbrennung von Sinšariškun und Šamaššumukīn auf und bewertet die Selbstverbrennung Simris als Heldentat: “A hero-like end for one whose deeds lived on in folk memory (cf. 2 Kgs 9:31).”368 Eine positive Deutung gewinnt auch deVries der Selbstverbrennung Simris ab: “Zimri showed bravado in his death, burning to death, where all could see, in the fire he himself had set.”369 Um hier Klarheit zu gewinnen, ist zunächst der Bericht über Simris Selbstverbrennung für sich zu betrachten, und weiterhin könnte ein Blick auf die Abschlussnotiz in 16,20 und auf die Aufnahme von Simris Königsumsturz in 2 Kön 9,31 hilfreich sein. Der Bericht in 16,18 über Simris Selbstverbrennung ist ganz in einem knappen berichtenden Stil verfasst: Weder wird die Tat mit der Verwendung pejorativer Worte oder Ausdrücke beschrieben noch als eine heldenhafte Tat gepriesen. Der anschließende Vers 19 hingegen ist nicht nur ein späterer Zusatz, sondern auch ein Vers, der sich auf das Faktum von Simris Scheitern und Tod zurückbezieht, nicht jedoch auf die Art seines Todes. Wir sollten deshalb Vers 18 mit der Frage nach der Bewertung der Tat nicht überfrachten: Offensichtlich erschien der Selbstmord den Verfassern des Textes durchaus erwähnenswert, aber keineswegs überaus negativ oder positiv. Er scheint vielmehr Ausdruck von dem zu sein, was die Verfasser hervorzuheben wünschen, nämlich Ausdruck von Simris Scheitern und Folge der Erkenntnis seines Scheiterns. Der Selbstmord durch Selbstverbrennung erscheint hier deshalb weder als Heldentat noch als schmähliches Ende, sondern als kulturell akzeptierte und nachvollziehbare, eskapistische Folge aus der Erkenntnis des eigenenen militärischen Scheiterns. Die Abschlussnotiz über die Annalen zu Simri bestätigt dieses Bild: Sie enthält neben dem üblichen Hinweis auf die „Geschichten“ des Königs auffallenderweise vor allem den Hinweis auf seine Verschwörung: Die Erinnerung an diesen „König“ geht ganz in dessen Tätigkeit als kurzlebiger Königsverschwörer auf. Sein Scheitern drückt sich daher auch in seiner Selbstverbrennung aus. In aussichtsloser militärischer Lage verbrennt sich Simri in seinem Palast – angesichts seines eigenen Scheiterns und wohl auch, um nicht lebend in die Hand des Feindes zu fallen.370 366

Fritz, Könige, 158. Vgl. Cogan, 1 Kings, 414. 368 Cogan, 1 Kings, 413. Diese Deutung ist allerdings nicht unproblematisch, weil die (Selbst-) Verbrennungen von Šamaššumukīn bzw. Sinšariškun in den Quellen keineswegs positiv erscheinen; siehe dazu unten das Kapitel über Assurbanipal (Sardanapalos), Šamaššumukīn (Sarmuge/Saosduchinos) und Sinšariškun (Sarakos). 369 deVries, 1 Kings, 200. 370 „Um aber nicht lebend in die Hände des Siegers zu fallen, zog er sich in den Wohnturm (s. 2 Kön 15,25) des Palastes zurück, steckte dessen Holzwerk in Brand und fand den Tod.“ (Rehm, 367

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

127

Etwa 45 Jahre nach Simris Verschwörung und Tod zettelt Jehu eine Verschwörung gegen die Omriden an, tötet König Joram und lässt alle Königssöhne hinrichten (2 Kön 9f). Isebel, die Königsmutter, lässt er aus dem Fenster stürzen. Der Grund für Letzteres könnte neben der Absicht Jehus, sich eines mächtigen politischen Gegners zu entledigen, sowie der narrativ-theologischen Absicht der Textverfasser, Isebel ihrer gerechten Strafe zuzuführen, auch in den verhöhnenden Worten Isebels zu finden sein, wenn sie sich königlich schminkt, aus dem Fenster schaut und Jehu mit den folgenden Worten verspottet: 2 Kön 9,31b: Ist Wohlergehen Simri, dem Mörder seines Herrn?

“Jezebel’s words imply that Jehu, like Zimri before him, will fail: he will not last more than a week, and the people will not accept him, just as they did not accept Zimri.”371 Simri konnte seinen Platz im kollektiven Gedächtnis Israels nur in der negativen Gestalt als Königsmörder finden. Als eigentlicher König ist er nicht in Erinnerung geblieben, wohl deshalb, weil seine Herrschaft zu kurz währte und auch die Verfasser der Königebücher nur seine Verschwörung und sein Scheitern festhalten. Bei ihrem Hinweis auf die Annalen und die „Geschichten Simris“ gehen sie zudem nur auf die Verschwörung als einziges besonders zu erwähnendes Ereignis ein: Sowohl nach 1 Kön 16,8–20 als auch nach 2 Kön 9,31 gilt Simri als Königsumstürzler und Königsmörder: “Zimri shines, albeit in a negative fashion.”372 Es ist deshalb wenig wahrscheinlich, dass sein Selbstmord in den Flammen als besonders heldenhaft angesehen und als heroisches Ende erinnert wurde. Der Selbstmord wird im Falle Simris wie auch im Falle von Abimelech (Ri 9) und Saul (1 Sam 31) zwar selbst nicht moralisch abwertend beurteilt, aber als dramatischer und erzählenswerter – sowie kulturell durchaus akzeptierter und nachvollziehbarer – eskapistischer Ausdruck des eigenen vollständigen und endgültigen Scheiterns auf ganzer Linie bewertet. b) Mitinti von Askalon Mit dem Ende des Mitinti von Askalon begeben wir uns in die Zeit Tiglat-Pilesers III. und des syrisch-efraimitischen Krieges. Nach dem Königsantritt des assyrischen Herrschers Tiglat-Pileser (744–727 v.Chr.) mussten sich die umliegenden Staaten darauf einrichten, Assyrien nicht nur Tribut zu zahlen, sondern auch annektiert und als Provinz in das assyrische Reich integriert zu werden. Die Herrschaft TiglatPilesers III. gilt deshalb als „Wasserscheide“, in der die militärische Außenpolitik Assyriens von der Politik des Überfalls und Tributs zu einer Politik der Annexion Könige, 162) Vgl. auch Cogan, 1 Kings, 414: “Rather than be taken captive, he took his own life in the flames of his burning palace.” 371 Olyan, Jehu as Zimri, 204. 372 Branch, Zimri, 381. Branch kennzeichnet Simri vor allem aufgrund von ‫( עבד‬1 Kön 16,9) und Spr 19,10 sowie 30,21f als einen „Sklaven“, der durch seinen Königsumsturz auf den Thron gelangt. Dabei bezieht er auch den Selbstmord Simris mit in seine Argumentation ein: Unter anderem “the rarity of suicide as a means of death in the biblical text, and Jezebel’s mocking slur on his name that equates her assassin to him all lead me believe that Zimri lived and died a slave.” (390)

128

Eskapistische Selbsttötungen

weiterentwickelt wurde.373 So war am Ende der Kampagnen der Jahre 734–732 das gesamte philistäische und phönizische Küstengebiet unter assyrischer Herrschaft.374 In den Annalen Tiglat-Pilesers von 738 v.Chr. sowie auf der sogenannten Iran-Stele werden unter anderem auch Rezin von Damaskus (mRa-ḫi-a-nu kurŠá-imēri-šu-a+a) und Menachem von Israel (mMe-ni-ḫi-im-me uruSa-me-ri-na-a+a) als Tributleistende gelistet.375 Nachdem Tiglat-Pileser 734 v.Chr. einen Feldzug gegen die philistäischen Küstenstädte (a-na kurPi-liš-ti)376 unternommen hatte, leistete neben Gaza, Moab, Ammon und Juda unter anderem auch Mitinti von Askalon (mMi-ti-in-ti kur As-qa-lu-na-a+a) Tribut, während Israel und Damaskus nicht mehr unter den Tributleistenden erwähnt werden.377 Diese schlossen sich zumindest mit Hiram II. von Tyros,378 vielleicht aber auch mit philistäischen Küstenstädten einschließlich Askalons sowie ostjordanischen Staaten und arabischen Stämmen379 zu einer antiassyrischen Koalition zusammen und zettelten den sogenannten syrisch-efraimitischen Krieg an, um Juda gewaltsam in ihre Koalition zu zwingen. In den Jahren 733–732 schlug Tiglat-Pileser den Aufstand nieder, annektierte Aram-Damaskus sowie große Teile Israels380 und wandte sich anschließend unter anderem gegen Mitinti von Askalon.381 Das Ende dieses Herrschers ist auf zwei voneinander unabhängigen382 Inschriften Tiglat-Pilesers III. überliefert. Im Folgenden geben wir den leider nur fragmentarisch erhaltenenen Text der Annalen Nr. 18383 wieder: Ann. 18,8’–9’: […mMi-ti-in-ti kur]As-qa-lu-na-a+a ina a-de-[e…] […] […mRa]-ḫi-a-ni e-mur-ma ina mi-qit […] […] Mitinti von Askalon wurde eid[brüchig] […] [Das Schicksal von Re]zin sah er und in die Flamme384 [des Feuers sprang er?].385

373

Vgl. Tadmor, Inscriptions, 9. Vgl. Mayer, Kriegskunst, 308. 375 Vgl. Donner, Geschichte, 334f; Galil, Inscriptions, 516. 376 Eponymenkanon Cb,1; vgl. Dubovsky, Campaigns, 157. 377 Vgl. Ehrlich, Philistines, 98f; ders., Coalition Politics, 51; Galil, Inscriptions, 518. 378 Vgl. Weippert, Syrienpolitik, 397. 379 Vgl. Na’aman, Forced Participation, 92; Ehrlich, Coalition Politics, 55f. Zur Forschungsgeschichte bezüglich der Diskussion, ob es sich um (eine) tatsächliche Koalition(en) oder nur um jeweils einzelne und lokale Revolten gehandelt habe, vgl. ebd. 52ff; Dubovsky, Campaigns, 154f. 380 Vgl. Berlejung, Geschichte, 110. 381 Vgl. Weippert, Syrienpolitik, 397f; Ehrlich, Philistines, 99f; ders., Coalition Politics, 56; Dubovsky, Campaigns, 158. 382 Vgl. Tadmor, Inscriptions, 32.80.220f; Galil, Inscriptions, 514f. 383 Zählung nach Tadmor, Inscriptions (= Tadmor/Yamada, Inscriptions, Nr. 22). 384 Wörtlich „Schlag“ = das aufflammende, brennende Feuer. 385 Umschrift nach Tadmor, Inscriptions, 82. Vgl. auch Tadmor/Yamada, Inscriptions, 63. Übersetzung J.D. Der Paralleltext Annalen Nr. 24,12’–15’ lautet (Umschrift nach Tadmor, Inscriptions, 82; vgl. Tadmor/Yamada, Inscriptions, 61. Übersetzung J.D.): mMi-ti-in-ti kur⌈As⌉-[qa-lu-naa+a] [ina a-de-e…] it-ti-ia ⌈it⌉(sic)-ta-[bal-kit…] […mRa-ḫi-a-ni] e-mur-ma ù ip-⌈laḫ⌉ [libbašu…] ḫa-at-ti ra-ma-ni-[šú imqussu…]. „Mitinti von As[kalon wurde eidbrüchig], gegen mich rebellierte er. [Das Schicksal von Rezin] sah er und es fürchtete sich [sein Herz…]. [Sein] eigener Schrecken [befiel ihn…].“ 374

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

129

Leider ist der Text dermaßen fragmentarisch erhalten, dass nicht sicher zu entziffern ist, wie das Ende des Mitinti von Askalon konkret ausgesehen hat. Im Wesentlichen gibt es zwei verschiedene, sich allerdings nicht widersprechende Möglichkeiten: Entweder liest man ina miqit [išāti] (wörtlich: „durch den Schlag [des Feuers]“) oder ina miqit [tēmi] (wörtlich: „durch den Schlag des Verstandes“).386 Ersteres impliziert Selbstverbrennung, zweiteres eine Panikattacke. Nach Tadmor kann man in beiden Fällen von Selbstmord ausgehen.387 In neuerer Zeit bevorzugen Ehrlich und die Übersetzungen in ANET und TUAT ina miqit [tēmi], während Dubovsky und CAD ina miqit [išāti] lesen.388 Meines Erachtens ist ina miqit [išāti] zu favorisieren, weil diese Lesart in den Annalen Tiglat-Pilesers eine Formulierung vorgeben würde, die sich etwas später wortgleich in den Annalen Assurbanipals wiederfindet,389 denn bezeichnenderweise stirbt Šamaššumukīn hier ebenfalls ina miqit išāti: In den Annalen Assurbanipals heißt es mehrfach, die Götter hätten das Leben des Šamaššumukīn durch einen Fall ins Feuer (ina mi-qit dingirgìra) vernichtet.390 So dürfte Mitinti von Askalon auf eine Weise gestorben sein, wie möglicherweise auch Šamaššumukīn sein Leben beendet. Dessen Lebensende gehen wir im nun folgenden Kapitel nach. c) Assurbanipal (Sardanapalos), Šamaššumukīn (Sarmuge/Saosduchinos) und Sinšariškun (Sarakos) Die wirkungsgeschichtlich bedeutsamste Tradition von der Selbstverbrennung eines altorientalischen Königs ist die Geschichte von der Verbrennung des Šamaššumukīn, die im Laufe der Legendenbildung und über verschiedene Zwischenstationen in altorientalischen und antiken Texten zur Selbstverbrennung des „letzten“ assyrischen Königs Sardanapalos führt. Wir versuchen im Folgenden, diese Legendenbildung nachzuzeichnen. Nach dem Tode Asarhaddons (669 v.Chr.), dem assyrischen König weit über die engen Grenzen Mesopotamiens hinaus, bestieg dessen Sohn Assurbanipal den Thron Assyriens, während sein älterer Bruder Šamaššumukīn König von Babylon wurde. Die Oberherrschaft über beide Länder hatte Assurbanipal inne; sein Bruder schien de facto eine Art besonders privilegierter Vasall zu sein, bis er sich in einem mehrjährigen Aufstand (652–648 v.Chr.) von ihm lossagte.391 In dieser Revolte führte Šamaššumukīn mit Hilfe zahlreicher Verbündeter teils erfolgreiche Feldzüge gegen seinen Bruder, doch an ihrem Ende stand der Untergang der Rebellen und der Tod des babylonischen Königs. Die mesopotamischen Texte, die über diesen Tod 386

Vgl. Tadmor, Inscriptions, 83; Ehrlich, Philistines, 100 (Lit.). Vgl. Tadmor, Inscriptions, 83. 388 Vgl. Ehrlich, Philistines, 100 (Lit.); Dubovsky, Campaigns, 169. 389 Siehe dazu das anschließende Kapitel. Vgl. aber auch eine der Reliefinschriften zur Schlacht am Ulai, in der Te-Umman „durch den Schlag des Verstandes“ (ina miqit tēme) zu seinem Sohn sagt: „Nimm den Bogen auf (= um damit die feindlichen Assyrer zu beschießen)!“ (Weidner, Beschreibungen, 178f; Gerardi, Epigraphs, 30). Zu Te-Umman siehe oben das Kapitel über Urtak und Nabûdamiq von Elam. 390 Zu diesen Texten siehe das anschließende Kapitel. 391 Vgl. Brinkman, Empire, 85–104; Frame, Babylonia, 131–190; ders., Šamaš-šuma-ukīn. 387

130

Eskapistische Selbsttötungen

des Šamaššumukīn berichten, berichten zwar allesamt von einem Tod in den Flammen, doch die Legende von der Selbstverbrennung scheint vielleicht nicht von Beginn an festgestanden zu haben. Leider besitzen wir keine Quellen aus babylonischen Archiven über den Aufstand geschweige denn über den Tod des Königs.392 Stattdessen sind wir auf assyrische Quellen und deren zum Teil propagandistische Sicht auf die Dinge angewiesen. Wolfram von Soden wies 1972 auf ein neuassyrisches Brieffragment hin, in dem augenscheinlich nicht davon berichtet wird, dass Šamaššumukīn Selbstmord durch Selbstverbrennung beging, sondern von seinem eigenen Funktionär in die Flammen gestoßen wurde: ABL 972: md Nábû-qātēII-sa-bat ša bēl-šú [a-na] i-šá-a-ti ik-ru-ur-u-ni […… ina?] pānī-ka iz-zi-zu-ni Nabû-qātē-ṣa-bat, der seinen Herrn [ins] Feuer geworfen hatte [und …………] vor dich hingetreten war.393

Nach diesem Brieffragment scheint eine Person namens Nabûqātēṣabat den babylonischen König ins Feuer geworfen zu haben.394 Eine Person dieses Namens ist nach anderen Quellen als ein hoher Beamter (simmagir) unter Šamaššumukīn belegt.395 Aus dem zitierten Brieffragment wird nicht ganz klar, ob Nabûqātēṣabat seinen König auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin oder gegen dessen Wunsch ins Feuer gestoßen hat.396 Beides ist möglich. Läßt sich aus der anschließenden Bemerkung, dass der Beamte nicht als Gefangener vor Assurbanipal geführt wird, sondern selbst vor den assyrischen König tritt (formuliert mit der Formel [ina] pānī izuzzum), ein genauer Hinweis gewinnen? Natürlich ist es gut denkbar, dass Nabûqātēṣabat seinen König gegen dessen Wunsch ins Feuer gestoßen hat, in der Hoffnung, angesichts der militärisch aussichtslosen Lage seine eigene Haut zu retten und vielleicht sogar einen Lohn von Assurbanipal zu erhalten, wenn er Hochverrat an seinem König begeht. Aber auch die Möglichkeit, dass er auf ausdrücklichen Wunsch seines Königs hin diesen ins Feuer stieß, ist nicht auszuschließen, um Šamaššumukīn das grausame Schicksal zu ersparen, das Assurbanipal Aufständischen angedeihen ließ.397 Diese zuletzt genannte Möglichkeit schließt die Hoffnung auf einen Lohn nicht aus, wie ein Vergleich mit der Begegnung zwischen David und dem Amalekiter (2 Sam 1,1–16)398 zeigt: Der Amalekiter behauptet, König Saul auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin getötet zu haben, wohl ebenfalls in der Hoffnung, von David belohnt zu werden. Weder diese noch die Rechnung des Nabûqātēṣabat gingen auf: David ließ den Amalekiter töten, und wir wissen ebenfalls, dass 392

Vgl. Frame, Šamaš-šuma-ukīn, 619. Umschrift und Übersetzung nach von Soden, Funktionär, 85. 394 Zurückhaltender Brinkman, Emipre, 100 Anm. 503: “this does not seem a necessary inference from the texts […], though it is a possible interpretation.” 395 Vgl. von Soden, Funktionär, 84f; CAD 15,272 s.v. simmagir a). Kritisch dazu Frame, Babylonia, 154 mit Anm. 101. Zu Nabûqātēṣabat im Kontext der Selbsttötung des Nabûbēlšumāti siehe oben das Kapitel über Nabûbēlšumāti. 396 So auch Steiner/Nims, Ashurbanipal, 62. 397 Vgl. etwa Asb. A IV 66–76; C IX 43f. 398 Zu diesem Text siehe auch ausführlich oben das Kapitel über Saul. 393

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

131

Assurbanipal Nabûqātēṣabat zwar nicht häuten,399 sondern eine Weile am Leben ließ, ihn aber weiterhin zu den Aufständischen zählte, denn etwas später hängte er ihm in einem entehrenden Ritual den Kopf des Rebellen Nabûbēlšumāti um den Hals (Asb. A VII 47–50).400 Letztendlich können wir aus dem Brieffragment ABL 972 nicht endgültig schließen, ob Šamaššumukīn freiwillig oder unfreiwillig vom Feuer verzehrt wurde. Jedenfalls scheint mit dem sehr konkreten Hinweis, dass es ein hoher babylonischer Funktionär war, der seinen König ins Feuer stieß, der Beginn einer Tradition vorzuliegen, die sich über verschiedene Zwischenstufen bis hin zur Legende von der Selbstverbrennung des letzten assyrischen (!) Königs entfaltet. In seinen Inschriften berichtet Assurbanipal selbst von diesem Vorgang – allerdings auf bezeichnend andere Weise, denn in seinen Prismen wird der Vorgang durch Überhöhung des Sieges ins Religiöse propagandistisch legitimiert: Es sind die Götter Assyriens, die Assurbanipal zum Sieg verholfen haben. Diese Überhöhung des Sieges ins Religiöse rechtfertigt den Sieg des einen Bruders über den anderen und entlastet Assurbanipal von dem Vorwurf, selbst den Tod seines Bruders verschuldet zu tun haben. In der Assurbanipal-Inschrift Prisma C ist der Hauptgott des Pantheons, Assur, dafür verantwortlich, dass Šamaššumukīn ins Feuer fällt: Asb. C IX 24–28: I-dingir giš-nu11-mu-gi-na šeš nak-ri ša a-na kur aš-šurki ik-pu-du ni-ir-tú ù e-li an-šar dingir ba-ni-ia iq-buu šil-la-tu gal-tu mu-u-tu lem-nu i-šim-šu-ma ina mi-qit dingirNE-GI(gìra) id-di-šu-ma ú-ḫal-li-qa nap-šatsu Šamaššumukīn, dem feindlichen Bruder, der gegen Assyrien Mord geplant, und gegen Assur, den Gott, meinen Erzeuger eine grosse Unverschämtheit gesprochen hatte, ihm bestimmte er (d.h. Assur) einen schlimmen Tod, er warf ihn in den „Fall des Gira“ (d.h. Feuersbrunst?) und vernichtete seine Seele.401

Der Tod des Šamaššumukīn ist nach diesem Text ausdrücklich keine freiwillige und heroische Selbstverbrennung, sondern ein „böser Tod“ (mutu lemnu), den der Gott dem König bestimmt. Doch wie ist das zu verstehen, wenn der Gott den König ins Feuer wirft? Trotz der sehr anthropomorphen Vorstellung von Göttern in Mesopotamien dürfte die Formulierung kaum wörtlich zu verstehen sein – dass also Assur in personam neben dem König erscheint und ihn mit seiner eigenen Hand ins Feuer stößt. So bleibt die Frage, wie Assur seine Regieanweisung durchsetzt. Im Prinzip gib es hier drei Möglichkeiten: 1) Šamaššumukīn wird von einer irdischen Person ins Feuer gestoßen, 2) Šamaššumukīn fällt wie zufällig ins Feuer oder 3) Šamaššumukīn springt freiwillig in die Flammen. Die erste Möglichkeit wird durch das oben zitierte Brieffragment abgedeckt, doch es ist bezeichnend, dass die Assurbanipal-Inschrift gerade keine irdische Person explizit zu nennen bereit ist. Die zweite Möglichkeit entfällt aufgrund der Formulierung des Textes: Es liegt eine aktive Handlung vor. Die dritte Möglichkeit ist die wahrscheinlichste, denn sie wird 399

Vgl. zu diesem Schicksal der Aufständischen beispielsweise Asb. C IX 43f. Vgl. von Soden, Funktionär, 84. „Was mit dem simmagir des Šamaš-šum-ukīn nach dieser entehrenden Behandlung geschah, wird nicht gesagt.“ (ebd.) Zur Selbsttötung des Nabûbēlšumāti siehe ausführlich oben das entsprechende Kapitel. 401 Umschrift und Übersetzung nach Borger, Inschriftenwerk, 231. 400

132

Eskapistische Selbsttötungen

vom Text gedeckt, weil die Suffixe von ina mi-qit dingirNE-GI(gìra) id-di-šu-ma úḫal-li-qa nap-šat-su sowohl auf Assur als auch auf Šamaššumukīn hin durchsichtig sind: Da die Suffixe nicht eindeutig zugeordnet werden können, könnte die Formulierung ina mi-qit dingirNE-GI(gìra) id-di-šu-ma ú-ḫal-li-qa nap-šat-su ebenso bedeuten: „In das brennende Feuer warf er (Šamaššumukīn) sich und zerstörte sein (eigenes) Leben.“402 Für diese Leseweise könnte auch die Formulierung mit ina miqit sprechen, denn nach dem oben besprochenen Text Tiglat-Pilesars III. (Ann. 18,8’– 9’) dürfte auch Mitinti von Askelon seine Revolte durch Selbstverbrennung oder andersartigen Selbstmord beendet haben, wie aus der Formel ina miqit [išāti] oder ina miqit [tēmi] abgelesen werden könnte.403 Zum besseren Verständnis des Sachverhalts muss als Paralleltext die Assurbanipal-Inschrift Prisma A herangezogen werden. Hier wird unmissverständlich davon gesprochen, dass die Götter Šamaššumukīn ins Feuer werfen: Asb. A IV 46–62: an-šár dingirsin dingirutu dingiriškur dingir+en dingir+!AG dingirXV šá ninaki dingiršar!-rat-kid-mu-ri dingirXV šá uru límmu-dingir dingirmaš dingiru-gur dingirnuska ša ina maḫ-ri-ia il-li-ku i-na-ru ga-re-ia I-dingirgiš-nu11-mugi-na šeš nak-ri šá i-gi-ra-an-ni ina mi-qit dingirgiš-bar(gíra) a-ri-ri id-du-šú-ma ú-ḫal-li-qu nap-šat-su ù un-meš šá a-na I-dingirgiš-nu11-mu-gi-na šeš nak-ri ú-šak-pi-du ep-še-e-tú an-ni-tú ḫul-tú le-mut-tu e-pušú ša mi-tu-tu ip-la-ḫu nap-šat-su-nu! pa-nu-uš-šú-un te-qir-u-ma it-ti I-dingirgiš-nu11-mu-gi-na en-šú-nu la im-qu-tú ina dingirgiš-bar(gíra) ša la-pa-an ni-kis gír-an-bar(patri) su-un-qí bu-bu-ti dingirgiš-bar(gíra) a-riri i-še-tu-u-ni e-ḫu-zu mar-qí!-i-tú sa-par dingir-meš gal-meš en-meš-ia šá la na-par-šu-di is-ḫu-up-šúnu-ti e-du ul ip-par-šid Assur, Sin, Šamaš, Adad, Bēl, Nabû, Ištar-von-Ninive, Šarrat-Kidmuri, Ištar-von-Arbela, Ninurta, Nergal und Nuska, die vor mir hergingen und meine Gegner töteten, warfen Šamaššumukīn, den feindlichen Bruder, der sich mir entgegengestellt hatte, in den brennenden „Fall des Gira“ (d.h. Feuersbrunst?), sie vernichteten seine Seele. Und die Leute, die den Šamaššumukīn, den feindlichen Bruder, angetrieben hatten, so dass er diese böse Tat beging, die den Tod fürchteten, deren Seele in ihren Augen (allzu) kostbar war und die nicht zusammen mit Šamaššumukīn, ihrem Herrn, sich in Gira (d.h. ins Feuer) gestürzt hatten, die dem Gemetzel des Schwertes, dem Mangel, der Hungersnot und dem brennenden Gira (d.h. Feuer) entkommen waren, und eine Zuflucht genommen hatten – das unentrinnbare Netz der grossen Götter, meiner Herren, warf sie nieder, keiner kam davon.404

In diesem Text sind die Verben eindeutig und lassen sich nicht auf Šamaššumukīn beziehen: Es sind die wichtigsten Götter des Landes, die Šamaššumukīn ins Feuer stoßen. Aber auch mit dieser Formulierung bleibt zunächst offen, wie man sich das vorzustellen hat. In den folgenden Versen gibt es den interessanten Hinweis auf die Gefolgsleute des Šamaššumukīn, denen ihr Leben zu teuer ist und die deshalb „nicht mit Šamaššumukīn, ihrem Herrn, in das Feuer fallen“ (it-ti I-dingirgiš-nu11-mugi-na en-šú-nu la im-qu-tú ina dingirgiš-bar(gíra)). Wörtlich bedeutet la im-qu-tú ina dingir giš-bar(gíra) „nicht fielen sie ins Feuer“, sodass eine suizidale Handlung sprachlich weder durch die Verwendung eines t-Stammes noch durch ramanu angezeigt wird. Doch Borgers reflexive Übersetzung von maqātu mit „sich stürzen“ ist in diesem Fall dennoch überzeugend, weil vom Kontext her notwendig: Die Hin402

So auch CAD 6,39. Vgl. Tadmor, Inscriptions, 83; Ehrlich, Philistines, 100 (Lit.). Zu diesem Text siehe oben das Kapitel über Mitinti von Askelon. 404 Umschrift und Übersetzung nach Borger, Inschriftenwerk, 234f. 403

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

133

weise auf die Wertvorstellungen der Gefolgsleute machen ansonsten keinen Sinn. So scheinen die beiden Assurbanipal-Inschriften die Selbstverbrennung des feindlichen Gegners zu belegen, aber der Hand der Götter zuzuschreiben. Auf diese Weise wird der Selbstmord des Šamaššumukīn nicht als freiwillige Tat heroisiert, sondern als endgültiges und von den Göttern bestimmtes Schicksal interpretiert.405 Die von den assyrischen Texten ausgehende Tradition von der Selbstverbrennung eines mesopotamischen Königs findet sich für uns fassbar erstmals in einem aramäischen Text in demotischer Schrift wieder,406 der in einem Tonkrug nahe Theben gefunden wurde und dessen Datierung zwischen dem Ende des 7. Jh. und dem 2. Jh. v.Chr. schwankt.407 Der Text selbst umfasst ganz unterschiedliche Texteinheiten. Neben einem Hymnus, der Parallelen zu Psalm 20 aufweist, findet sich am Ende des Textes die Geschichte von den beiden feindlichen Brüdern Sarbanabal (= Assurbanipal) und Sarmuge (= Šamaššumukīn). Im Wesentlichen wird die Geschichte von der Revolte des babylonischen Königs gegen seinen Bruder neu nacherzählt, vor allem tritt die Schwester Sarit (= Šerua-ētirat) auf,408 die auf Geheiß Sarbanapals nach Babylon zu Sarmuge reist, um ihn von seinem Aufstand abzubringen. Als Sarmuge nicht einlenkt, antwortet sie ihm mit folgenden Worten: Papyrus Amherst 63 XX 6–11: If you will not listen to my words, and if you will not give heed to my remarks, go from the house of Bel, away from the house of Marduk. Let there be built for you a bower (lit., a house of boughs); a booth (lit., a house of sticks) do constr. Throw down tar and pitch and sweet-smelling/Arabian perfumes. Bring in your sons and your daughters and your doctors who have made you act brashly. When you see how (low) they have sunk on you (= to your detriment), let fire burn you together with your sons and your daughters and your doctors who have made you act ⌈bra⌉shly.409

Nims und Steiner übersetzen und interpretieren den Text so, dass Sarit ihrem Bruder angesichts dessen Uneinsichtigkeit und aussichtsloser Situation vorschlägt, sich zusammen mit seiner Familie und seinen Gefolgsleuten410 selbst zu verbrennen.411 Als

405 Möglicherweise ist auch der Tod des Mussi von Tabal auf diese Weise zu verstehen (vgl. Rollinger, Extreme Gewalt, 607), vom dem es in der Inschrift vom Ištar-Tempel heißt: „Assur (aber), der grosse Berg, dessen Grenzen nicht überschritten werden, bemächtigte sich seiner und liess mit (dem) lodernden Feuer(gott) seinen Leib verbrennen.“ (IIT 143f. Übersetzung nach Andreas Fuchs in Borger, Inschriftenwerk, 295. Zur Umschrift siehe ebd. 285.) 406 Vgl. die Überblicke bei Nims/Steiner, Version; Vleeming/Wesselius, Studies; Kottsieper, Papyrus Amherst. 407 Steiner, Text, 310 datiert die Ursprünge der Sarmuge-Tradition in das Ende des 7. Jh. v.Chr., Kottsieper, Aufnahme, 288f in das 6. Jh. v.Chr. Die Handschrift datieren Vleeming/Wesselius, Hymn, 501 und Kottsieper, Papyrus Amherst, 59f in das 4. Jh. v.Chr., während Nims/Steiner, Version, 261 das 2. Jh. v.Chr. präferieren. 408 Zu dieser vgl. Kottsieper, Aufnahme, 285f. 409 Übersetzung nach Steiner, Text, 325. Zu den Umschriften vgl. Nims/Steiner, Ashurbanipal, 75f. 410 Es ist unklar, ob hier Ärzte, Ahnen oder Beamte gemeint sind; vgl. Kottsieper, Aufnahme, 287 Anm. 20. 411 Vgl. Nims/Steiner, Ashurbanipal, 64; Frahm, Images, 38*f. Kottsieper, Aufnahme, 287 geht von einer „rite durchgeführte[n] Feuerbestattung“ aus, welche die Angehörigen an Sarmuge vollziehen sollen. Er führt nicht weiter aus, von welcher Annahme er dabei ausgeht: ob die Feuerbestattung an dem toten oder dem lebenden Sarmuge vollzogen werden soll. Vleeming/Wesselius,

134

Eskapistische Selbsttötungen

die Truppen des assyrischen Königs vor Babylons Toren stehen, setzt Sarmuge genau das um, was seine Schwester Sarit ihm geraten hatte: Papyrus Amherst 63 XXI 7–11: Sarmuge went from the house of Bel, away from the house of Marduk. He {will have} built for himself a bower (lit., a house of boughs); a boot⌈h⌉ (lit., house of stic⌈ks⌉) he did con⌈stru⌉ct. He threw down tar and pitch [and] sweet-smel⌈ling⌉/Ara⌈bian⌉ [pe]rfumes. He brou⌈ght⌉ in his sons and ⌈his⌉ daughters ⌈and⌉ [hi]⌈s⌉ doc⌈tors⌉ ⌈who⌉ had made him act brashly. Wh⌈en⌉ he [s]aw ⌈how⌉ (low) they had sunk on h⌈im⌉ (= to his detriment), … ⌈burned h⌉im … with hi[s] sons [and his daughters] and his doc[tor]s who had made h⌈im⌉ act brashly.412

Nach diesem Abschnitt scheint Sarmuge angesichts der feindlichen Truppen vor seinen Toren die Anweisung seiner Schwester umzusetzen und die eigene Selbstverbrennung inklusive diejenige seiner Angehörigen und Gefolgsleute vorzubereiten. Ob Sarmuge am Ende tatsächlich den Tod in den Flammen findet, ist aus dem anschließend nur bruchstückhaft überlieferten Text nicht sicher zu erschließen.413 Der Text selbst jedenfalls scheint wie die Assurbanipal-Prismen assyrische Propaganda zu verbreiten und den Sinn zu haben, den assyrischen König von jeder Schuld am Tod seines Bruders zu entlasten:414 Sarbanabal (= Assurbanipal) ist nicht Schuld am Tod seines Bruders Sarmuge (= Šamaššumukīn). Wie die Namen der Könige, aber auch der Inhalt des Textes von der nun schon ausgestalteten Selbstverbrennung des Königs zeigen, stellt Papyrus Amherst einen zentralen Text dar, der als Zwischenglied fungiert, um die traditionsgeschichtlichen Verbindungen zwischen den altorientalischen Traditionen vom Tod des babylonischen Königs im Feuer hin zur griechischen Legende von der Selbstverbrennung des assyrischen Königs Sardanapalos aufzuzeigen. Die griechischen Legenden nehmen einige Änderungen an der vorgegebenen Tradition vor. Vor allem scheint es ihnen wichtig, den Anfang und das Ende des assyrischen Reiches mit bedeutsamen und legendenhaften Königen (und Königinnen) auszumalen. Deshalb beginnen nicht nur Ninos und Semiramis den Reigen der assyrischen Könige, sondern Sardanapalos (= Assurbanipal) gilt auch als letzter assyrischer König, in dessen Person die griechischen Legenden verschiedene Traditionen verschmelzen lassen. In unserem Zusammenhang sind vor allem diejenigen von Šamaššumukīn und Sinšariškun zu nennen. Diese beiden treten in den griechischen Texten zwar auch unter den Namen Saosduchinos415 und Sarakos416 als eigenständige Personen auf, doch in den wichtigsten Quellen zu unserem Thema sind sie mit Assurbanipal zum letzten assyrischen König Sardanapalos verschmolzen, der sich angesichts des Untergangs seines Reiches selbst verbrennt.

Studies, 36f gehen anscheinend davon aus, dass der tote Sarmuge in einem zu errichtenden Totenhaus die Totenehren von seinen Angehörigen erhalten soll. 412 Übersetzung nach Steiner, Text, 326. Zu den Umschriften vgl. Nims/Steiner, Ashurbanipal, 78f. 413 Nims/Steiner, Ashurbanipal, 64 gehen davon aus, dass ein schwer verletzter Sarmuge von dem babylonischen General nach Niniveh gebracht wird, aber auf dem Weg dorthin verstirbt. 414 Vgl. dazu Kottsieper, Aufnahme, 287–289; Steiner, Papyrus Amherst, 204; ders., Text, 310. 415 Vgl. Weißbach, Σαοσδούχινος. 416 Vgl. Weißbach, Sarakos; zur Selbstverbrennung des Sarakos siehe im Folgenden.

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

135

Der bedeutsamste Zeuge für die neu entstehende Legendenbildung von der Selbstverbrennung des Sardanapalos ist Ktesias von Knidos.417 Dieser „Romanschriftsteller“418 war in den Jahren um 400 v.Chr. Leibarzt des persischen Großkönigs Artaxerxes II. Mnemon (404–359/8 v. Chr.). Ktesias erzählt in seinem Werk Persika nicht nur die Geschichte der Perser, sondern im ersten Teil (Assyriaka) auch die Geschichte der Assyrer und Meder. Ktesias’ Werk ist verloren, doch Auszüge werden bei Diodor, Photios und Nikolaus von Damaskus sowie anderen Autoren zitiert. Sein Interesse ist dabei weniger ein historisches – heftig polemisiert Ktesias gegen Herodot – als vielmehr ein literarisches, so dass er als „einer der Väter des historischen Romans“,419 aber auch als Satiriker gelten kann, der „zum Amüsement eines verständigen Publikums“ die historischen Traditionen absichtlich verformt.420 „Heute sind die ‚historischen‘ Angaben völlig zu vernachläßigen[!], doch lassen die Sagen und Anekdoten wichtige Rückschlüsse auf das antike Nachleben der altoriental[ischen] Geschichte und ihre Umdeutung zu.“421 Ktesias stellt Sardanapalos als „Idealtyp des dekadenten Schwelgers“422 dar und berichtet, dass der letzte assyrische König ein weibischer und verweichlichter König gewesen sei (vgl. schon dessen Namen „weichlicher Sardan“),423 der einen weibischen Lebenswandel führt (βίον ἔζησε γυναικός),424 von dem Meder Arbakes besiegt wird und sich daraufhin zusammen mit seinen Frauen und Eunuchen auf unehrenhafte Weise (αἰσχρως κατέστρεψε τὸν βίον)425 im Feuer verbrennt: Diodor 2.27.2: ἵνα δὲ μὴ τοῖς πολεμίοις ὑποχείριος γένηται, πυρὰν ἐν τοῖς βασιλείοις κατεσκεύασεν ὑπερμεγέθη, καὶ τόν τε χρυσὸν καὶ τὸν ἄργυρον ἅπαντα, πρὸς δὲ τούτοις τὴν βασιλικὴν ἐσθῆτα πᾶσαν ἐπὶ ταύτην ἐσώρευσε, τὰς δὲ παλλακίδας καὶ τοὺς εὐνούχους συγκλείσας εἰς τὸν ἐν μέσῃ τῇ πυρᾷ κατεσκευασμένον οἶκον ἅμα τούτοις ἅπασιν ἑαυτόν τε καὶ τὰ βασίλεια κατέκαυσεν. Damit er aber nicht seinen Feinden in die Hände falle, ließ er in der Residenz einen riesigen Scheiterhaufen aufschichten, und warf auf diesen alles Gold und Silber, dazu sämtliche königlichen Gewänder. In ein Gebäude, das er mitten auf dem Scheiterhaufen errichtet hatte, sperrte er alle seine Kebsweiber und Eunuchen und verbrannte zusammen mit diesen auch sich selbst und die Residenz.426

417 Zu diesem vgl. Röllig, Ktesias; Högemann, Ktesias. Zu den Quellen des Ktesias vgl. Rollinger, Medischer Logos, 335–343. 418 Högemann, Ktesias, 874. 419 Jacoby, Ktesias, 2045. Vgl. auch Auberger, Ctésias Romancier. 420 So Bichler, Ktesias „korrigiert“ Herodot, 107. Vgl. auch ders., Kingdoms, 505f. 421 Röllig, Ktesias, 254. 422 Bichler, Ktesias spielt mit Herodot, 29. 423 Vgl. schon den griechischen Namen Sardanapalos, der sich „evtl. aus aram. srbnbl, vgl. ’snpr Esra 4,10 zu griech. *Σαρδαν απαλος ‚weichlicher Sardan‘“ zusammensetzt (Röllig, Sardanapal(l)os, 37). Allerdings könnte auch „im ersten Teil des Wortes sar-dan- das assyrische šarru dannu ‚der mächtige König‘ stecken“ (König, Persika, 42). 424 Diodor 2.23.1. 425 Diodor 2.23.4. 426 Übersetzung nach Veh/Frigo, Weltgeschichte, 164.

136

Eskapistische Selbsttötungen

Vom Ende des Sardanapalos berichten zahlreiche griechische Schriftsteller,427 unter anderem auch Athenaios, der den Akt der Vorbereitung zur Selbstverbrennung mit der Herrichtung des Holzverschlages auf dem Scheiterhaufen noch erheblich ausbaut und am Ende – anders als Ktesias – trotz allen weibischen Lebenswandels des Königs in dessen Selbstverbrennung einen ehrenvollen Tod erblickt: Athenaios 12.529d: ὁ μὲν οὖν Σαρδανάπαλλος ἐκτόπως ἡδυπαθήσας ὡς ἐνῆν γενναίως ἐτελεύτησεν. Nachdem nun also Sardanapalos auf außerordentliche Weise ein wollüstiges Leben geführt hatte, starb er, wie es möglich war, auf edle Weise.428

Offensichtlich verschmelzen in der Person des letzten assyrischen Königs Sardanapalos mehrere historische Persönlichkeiten. Name und Bedeutung von Sardanapalos (*Σαρδαν απαλος „weichlicher Sardan“) könnten auf die berühmte Darstellung des assyrischen Königs Assurbanipal in der Weinlaube zurückgehen429 (vgl. Abb. 10) und die Selbstverbrennung auf die Tradition von der (Selbst-)Verbrennung von Assurbanipals Bruder, des babylonischen Königs Šamaššumukīn.430 Doch wie kommt es zu der Vorstellung, dass sich der letzte assyrische König beim Fall von Niniveh (= Ninos) selbst verbrannt habe, also im Jahre 612 v.Chr. – nach der Zeit der beiden Brüder? Als letzter assyrischer Herrscher galt vielerorts Sinšariškun (= Sarakos), ein Sohn Assurbanipals. Dieser soll sich einer weniger bekannten Überlieferung nach angesichts der Eroberung von Niniveh ebenfalls selbst verbrannt haben, wie vor allem Berossos nach Synkellos berichtet: FGrHist 680 F 7d: ὁ Σάρακος ἑαυτὸν σὺν τοῖς βασιλείοις ἐνέπρησε. Sarakos zündete sich selbst samt dem Königspalast an. 431

Ob diese Überlieferung von derjenigen über den Tod des Šamaššumukīn unabhängig ist oder auf sie zurückgeht, ist nur noch schwer zu ermitteln. Letztlich sind es die Überlieferungen über die drei assyrisch-babylonischen Könige Assurbanipal, Šamaššumukīn und Sinšariškun, die von den griechischen Schriftstellern zur sagenhaften Legende von der Selbstverbrennung des letzten assyrischen Königs Sardanapalos verschmolzen wurden.

427

Vgl. den Überblick bei Weißbach, Sardanapal. Vgl. beispielsweise Euseb, Armenische Chronik (Übersetzung Karst), 32.12–15: „Thonnos Konkoleros, der auf griechisch Sardanapalles heißt, hat, nachdem er die Niederlage erlitten von Varbakes und von Belesios, sich selbst dem Feuer überliefert; von welchem bis auf die erste Olympiade es 40 Jahre sind.“ Das Bild vom Selbstmord des ausschweifenden Sardanapal „blieb bis in die Spätantike wirkmächtig, da noch der Verfasser der ‚Historia Augusta‘ in der Vita Elagabals (218–222) von angeblichen Plänen des römischen Kaisers wissen wollte, sich von einem aus edelsteinbesetzten Tischen errichteten Turm in den Tod stürzen zu wollen.“ (Heller, Babylonien, 147f) 428 Übersetzung J.D. 429 Vgl. Röllig, Sardanapal(l)os, 37. 430 Vgl. beispielsweise Macginnis, Ktesias and the Fall of Niniveh. 431 Übersetzung J.D. Vgl. auch den Bericht des Abydenos nach Euseb, Armenische Chronik (Übersetzung Karst), 18.23–25.

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

137

d) Kroisos, Boges und Amilkas Um das Ende des lydischen Königs Kroisos ranken sich zahlreiche Legenden. Sicher ist, dass sein Königreich um die Mitte des 6. Jh. v.Chr., wahrscheinlich zwischen 550 und 539 v.Chr.,432 von dem persischen König Kyros unterworfen und dem persischen Reich einverleibt wurde, doch das Ende des Herrschers Kroisos ist aus den historischen Quellen nicht sicher zu erschließen: “Historical tradition failed, and myth and legend stepped into the void.”433 Immerhin liegen mit der NabonidChronik, der Myson-Amphora und dem Bakchylides-Gedicht drei bedeutsame Quellen vor, die älter sind als der allseits bekannte Bericht des Herodot und recht nahe an die Ereignisse des lydischen Untergangs heranreichen. Die Bedeutung der Nabonid-Chronik für den Untergang von Sardis und das Schicksal des Kroisos ist allerdings umstritten, denn der betreffende Text ist an zentraler Stelle leider zerstört: Nabonid-Chronik II 15–18: ina itiBár IKu-raš šàr kurPar-su érin-šú id-ke-e-ma šap-la-an uruAr-ba-’-il idIdigna i-bir-ma ina itiGU4 ana

Lu-ú-[di434 il-li]k lugal-šú gaz bu-šá-a-šú il-qí šu-lit šá ram-ni-sú 435 lu ú-še-li-[iš]436 egir šulit-su ù šar-ri ina šà gálši Im Monat Nisan bot Kyros, König von Persien, seine Armee auf und unterhalb von Arbela überschritt er den Tigris und im Monat Ayyaru [marschier]te er gegen [Lydien?]. Seinen König tötete er, seine Besitztümer nahm er, seine eigene Garnison stationierte er tatsächlich (dort). Anschließend waren seine Garnison und der König im Zentrum.437

Der Text dieser Chronik ist leider mit einigen Schwierigkeiten behaftet.438 Schon allein aufgrund der Textzerstörung ist nicht sicher, ob sich die Chronik überhaupt auf den Feldzug gegen Lydien bezieht. Diese Interpretation hängt ab von der Lesung [lu-ú-di] oder Ähnliches439 für Lydien, wobei selbst die Zeichen lu-ú- nicht sicher zu entziffern sind.440 Für diese Lesung (oder auch für išparda = Sardis) 432

Vgl. Haider, Lydien, 86; Cahill/Kroll, coin finds, 605–608; Kerschner, Sardeis, 38. Evans, Croesus, 39. 434 Diese Lesung ist sehr unsicher. Siehe dazu ausführlich Cargill, Nabonidus Chronicle, und im Folgenden. Es sollte wohl besser [Lu-ú-di?] geschrieben werden. 435 Schreibfehler. 436 Caplice schlägt nach Cargill, Nabonidus Chronicle, 112 Anm. 16 -[ma] vor. 437 Umschrift nach Glassner, Mesopotamian Chronicles, 236. Vgl. jedoch insbesondere auch Cargill, Nabonidus Chronicle, 99 mit seinen Anmerkungen ebd. 111f Anm. 11–22 sowie neuerdings Oelsner, Rezension, 378–380; Haider, Lydien, 86; Rollinger, Median “Empire”, 315 Anm. 128; Schaudig, Inschriften, 25 Anm. 108. 438 Vgl. insbesondere Cargill, Nabonidus Chronicle; Rollinger, Babylonischer Logos, 194–197; Bichler, Herodots Welt, 214.251f mit Anm. 137; Asheri/Lloyd/Corcella, Commentary, 141f; Oelsner, Rezension, 378–380. Die Nabonid-Chronik wurde in der Forschung lange als historische Quelle für die Tötung des Kroisos angesehen, vgl. von altphilologischer Seite zuletzt neben Weißbach, Kroisos, 462f noch Burkert, Ende des Kroisos, 7, die beide zur Unterstützung ihrer These die armenische Version der Chronik des Euseb 33.8f (Übersetzung Karst) anführen: „Kroisos wurde getötet durch Kyros, der die Lyderherrschaft beseitigte.“ Burkert nimmt an, dass Euseb hier auf orientalische Quellen, vor allem Berossos, zurückgreift. 439 Zu weiteren Vorschlägen siehe die Forschungsüberblicke bei Cargill, Nabonidus Chronicle, 99ff und bei Rollinger, Babylonischer Logos, 188ff. 440 Vgl. die ausführliche Kritik bei Cargill, Nabonidus Chronicle. 433

138

Eskapistische Selbsttötungen

spricht die allgemeine historische Erwägung, dass die Nabonid-Chronik vor allem diesen Feldzug zwischen diejenigen des Kyros gegen Astyages und Babylon einordnen dürfte.441 Ein Feldzug gegen ein anderes Gebiet wäre zwar möglich, aber weniger wahrscheinlich, denn in diesem Fall müsste erklärt werden, warum die Chronik einen bedeutsamen Sieg über den Lyderkönig nicht, aber dafür einen offensichtlich unbedeutenderen erwähnt. Damit wäre die Lesung [lu-ú-di] “suggested by historical probability rather than any clear indication from the traces.”442 Allerdings sind diese Erwägungen hinfällig, wenn die neue Lesung von Oelsner richtig sein sollte, der nach eigener Kollation der Tafel nun ana kur⌈Ú⌉-[raš-tu il-li]k liest und den Feldzug als einen gegen Urartu interpretiert.443 Auch die Tötung des fraglichen Königs ist keineswegs so sicher, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, denn das akkadische Verb dâku kann sowohl „töten“ als auch „besiegen“ bedeuten.444 Letzteres ist gerne als Argument angebracht worden, um Herodot mit der NabonidChronik zu harmonisieren.445 Für die Bedeutung „töten“ spricht, dass gerade die Chroniken für „töten“ üblicherweise dâku und für „besiegen“ üblicherweise šakānu oder sabātu verwenden.446 Allerdings sind dies quantitative Analogieschlüsse, die nur dann eine gewisse Überzeugungskraft entfalten, wenn kontextuelle Argumente zu keinem eigenständigen Schluss führen. Für die Bedeutung „besiegen“ spricht jedoch, dass Zeile 18 einen šarru nicht vor, sondern nach der Garnison des Kyros erwähnt.447 Das könnte bedeuten, dass mit šarru hier nicht der Großkönig, sondern der besiegte König im Blick ist.448 Für die Bedeutung „besiegen“ spricht letztlich auch die allgemeine historische Erwägung, dass Kyros gegnerische Könige üblicherweise nicht töten, sondern am Leben ließ und sich in ihrem und dem Dank des ganzen Landes sonnte. Fassen wir zusammen: Nach traditioneller Auffassung ist die Nabonid-Chronik eine zentrale Quelle über den Feldzug des Kyros gegen Lydien und berichtet über den Tod des Kroisos. Ob der König von Kyros getötet wird, ist umstritten. Nach neueren Lesungen jedoch berichtet die Chronik gar nicht über einen Feldzug gegen Lydien, sondern über einen Feldzug gegen Urartu. Nach dem jetzigen Stand der

441

Vgl. Burkert, Ende des Kroisos, 6. Grayson, Chronicles, 282. 443 Vgl. Oelsner, Rezension, 378–380. Auch hier muss allerdings beachtet werden, dass nur noch „Reste des teilweise abgebrochenen Zeichens“ (ebd. 379) zu lesen sind. 444 Vgl. CAD 3,35–43; Tadmor, dâku. 445 Kritisch dazu vor allem Rollinger, Babylonischer Logos, 194–197. 446 Vgl. Grayson, Chronicles, 8 Anm. 3; Schaudig, Inschriften, 25 Anm. 108. So bedeutet auch im näheren Kontext der Chronik in III 14 dâku mit Sicherheit „töten“ (vgl. Burkert, Ende des Kroisos, 6). 447 Die Lesung sarru „falsch, verbrecherisch, feindlich, diebisch“ von Oelsner, Rezension, 380, ist wenig plausibel; vgl. Rollinger, Median “Empire”, 315 Anm. 128. 448 Vgl. dazu Cargill, Nabonidus Chronicle, 107f. Kyros wird in der Chronik durchweg mit Namen genannt und zum Teil über den Königsbegriff hinaus noch weiter tituliert. Die einzige Ausnahme betrifft III 23, doch hier ist nicht Kyros selbst, sondern seine Frau im Blick (vgl. ebd. mit Anm. 69–72). 442

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

139

Forschung muss deshalb auf die Nabonid-Chronik verzichtet werden, wenn nach dem Tod des Kroisos gefragt wird.449 Die beiden ältesten griechischen Quellen zum Tod des Kroisos erzählen von der Selbstverbrennung des Königs auf dem Scheiterhaufen (πυρά) in militärisch auswegloser Lage. Die attische, rotfigurige Bauchamphora des Myson aus dem Beginn des 5. Jh. v.Chr. zeigt Kroisos auf der πυρά sitzend (Abb. 20):

Abb. 20: Kroisos auf dem Scheiterhaufen

Kroisos erscheint auf dieser Amphora ganz wie ein König in all seiner Macht und Pracht:450 Der lorbeerbekränzte und bärtige Kroisos sitzt in Chiton und Mantel „auf einem mit Palmetten und äolischen Kapitellen verzierten lehnenlosen Thron.“451 Er hält in der Rechten eine Libationsschale und in seiner Linken ein langes Zepter. Unter ihm ist der Scheiterhaufen wohlsortiert aufgeschichtet. Sein halbnackter Diener Euthymos bückt sich, um die πυρά mit zwei Fackeln anzuzünden. Die Namen ΚΡΟΕΣΟΣ und ΕΥΘΥΜΟΣ sind auf der Vase verzeichnet. „Die Interpretation ist evident: Kroisos ist im Begriff, sich selbst zu verbrennen.“452 Diese berühmte Vase ist nicht die einzige zum Ende des Kroisos. Im Jahre 1955 publizierte J.D. Beazley Fragmente einer attischen rotfigurigen Hydria, die stilistisch und zeitlich derjenigen des Myson direkt nachzufolgen scheinen.453 Auf einem 449

Ähnlich Schaudig, Inschriften, 25 Anm. 108. Vgl. Segal, Croesus, 43. 451 Simon, Vasen, 107. 452 Burkert Ende des Kroisos, 8. 453 Vgl. Beazley, Hydria-Fragments, Tafel 85. Beazley datiert die Fragmente zwischen 480 und 450 v.Chr. (ebd. 309). 450

140

Eskapistische Selbsttötungen

dieser Fragmente (Fragment A) ist der Oberkörper einer persischen Gestalt mit Bart und Kidaris zu sehen, der sich über einem brennenden Scheiterhaufen erhebt.454 Auf einem anderen Fragment (Fragment C) sieht man eine andere orientalische Gestalt mit kürzerem Bart, der mit seiner rechten Hand seine etwas kleinere Kidaris “in a gesture of astonishment and dismay” ergreift.455 Auf einem weiteren Fragment (Fragment E) ist neben einer orientalischen Gestalt, die möglicherweise in Parallele zu derjenigen von Fragment C steht, ein junger griechischer Flötenspieler zu sehen.456 Dieser zeigt an, dass es sich bei dem Vasenbild um die Szene aus einem griechischen Theaterstück handelt.457 Beazley erwägt, dass es sich um eine Tragödie handeln könnte, welche das Ende des Kroisos nachspielt, doch verwirft er diese Möglichkeit wieder, weil Kroisos auf der Amphora des Myson griechisch und nicht persisch gekleidet ist.458 Andere Autoren haben die Fragmente dennoch auf Kroisos bezogen und die Bedenken wegen der persischen Kleidung zurückgewiesen.459 Je nachdem, ob die griechischen Quellen Kroisos als Freund oder Feind der Griechen interpretieren, stellen sie Kroisos als Griechen oder Perser dar: „Jedenfalls kann man, trotz Beazley, den Orientalen auf dem Scheiterhaufen Kroisos nennen und sicher sein, dass auf der Athener Bühne vor 450 eine Kroisos-Tragödie gespielt ist.“460 So ist es gut möglich, dass die Scherben der Hydria eine Kroisos-Tragödie darstellen, wie sie ähnlich später Herodot berichtet, denn in diesen beiden Fällen erscheint der Herrscher „als Barbar und Gegner der Griechen.“461 Ebenfalls noch vor Herodot, nämlich in das Jahr 468 v.Chr. ist das Siegeslied des Bakchylides zu datieren. Der Dichter Bakchylides stammte von der Insel Keos und besang unter anderem den beim Wagenrennen 468 v.Chr. errungenen olympischen Sieg des Tyrannen Hieron I. von Syrakus, der anscheinend immer wieder von Krankheiten geplagt wurde und kurz nach seinem Sieg 467 verstarb. Ähnlich wie viele andere Epinikien einen Mythos mit einbeziehen, so nimmt Bakchylides in seinem Siegeslied auf Hieron die Legende vom Ende des Orientalen Kroisos auf,462 um ehrenvolle Parallelen zwischen Kroisos und Hieron zu ziehen: Beide sind Herrscher über Stadtstaaten, beide verfügen über sagenhafte Reichtümer, beide verehren Apollon und stiften Weihegeschenke nach Delphi, beide sind Reitergestalten, und beiden stehen die Götter auch angesichts des Todes bei.463 Umrahmt von zwei Lobliedern auf Hieron, wird das Ende des Kroisos im Zentrum des Gedichts besungen: 454

Vgl. Beazley, Hydria-Fragments, 305f. Beazley, Hydria-Fragments, 307. 456 Vgl. Beazley, Hydria-Fragments, 307f. 457 Vgl. Beazley, Hydria-Fragments, 309ff und Tafel 86ff. 458 Vgl. Beazley, Hydria-Fragments, 319. 459 Vgl. Page, Early Tragedy; Snell, Gyges und Kroisos; Maehler, Bakchylides, 35f. 460 Snell, Gyges und Kroisos, 204. 461 Maehler, Bakchylides, 36. 462 “Croesus qualifies for a quasi-mythical narrative by virtue of his distance in place, which corresponds to the mythical distance in time” (Hutchinson, Poetry, 337). Kroisos wird bei Bakchylides nicht als Grieche, sondern als Orientale dargestellt: “It is certainly evident that Croesus is being cast very much as an ‘Oriental’ here; he is not for that reason despised.” (ebd. 340). 463 Zu Parallelen und Unterschieden zwischen Hieron und Kroisos vgl. ausführlich Reichel, Bakchylides 3. 455

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

141

Bakchylides 3,29–37.47–62: [ὁ δ᾽ ἐς ἄ]ελπτον ἆμαρ μολὼν πολυδ[άκρυον] οὐκ ἔμελλε μίμνειν ἔτι δ[ουλοσύ]ναν: πυρὰν δὲ χαλκοτειχέος π[ροπάροι]θεν αὐ[λᾶς ναήσατ᾽, ἔνθα σὺ[ν ἀλόχῳ] τε κεδνᾷ σὺν εὐπλοκάμοις τ᾽ ἐπέβαιν᾽ ἄλα[στον θυγατράσι δυρομέναις: χέρας δ᾽ ἐς αἰπὺν αἰθέρα σφετέρας ἀείρας γέγω]νεν: (…) τὰ πρόσθε δ᾽ ἐχθρὰ φίλα: θανεῖν γλύκιστον. τόσ᾽ εἶπε, καὶ ἁβροβάταν κέλευσεν ἅπτειν ξύλινον δόμον. ἔ[κλαγ]ον δὲ παρθένοι, φίλας τ᾽ ἀνὰ ματρὶ χεῖρας ἔβαλλον: ὁ γὰρ προφανὴς θνατοῖσιν ἔχθιστος φόνων: ἀλλ᾽ ἐπεὶ δεινοῦ πυρὸς λαμπρὸν διάϊ[σσεν μέ]νος, Ζεὺς ἐπιστάσα[ς μελαγκευ]θὲς νέφος σβέννυεν ξανθὰ[ν φλόγα. ἄπιστον οὐδέν, ὅ τι θ[εῶν μέ]ριμνα τεύχει: τότε Δαλογενὴς Ἀπόλλων φέρων ἐς Ὑπερβορέους γέροντα σὺν τανισφύροις κατένασσε κούραις δἰ εὐσέβειαν, ὅτι μέγιστα θνατῶν. ἐς ἀγαθέαν ἀνέπεμψε Πυθώ. Als jenen der unerwartete Tag ereilte, da wollte er nicht noch tränenreiche Knechtschaft erwarten, sondern einen Scheiterhaufen vor dem erzummauerten Palasthof ließ er aufschichten; dort stieg er hinauf, mit der vertrauten (Gattin) und den schöngelockten Töchtern, die herzzerreißend jammerten. Da erhob er seine Hände zum steilen Himmel und rief: „(…) Was einst verhaßt war, ist willkommen: Sterben ist süß.“ So sprach er, und den leise gehenden Diener hieß er den Holzbau entzünden. Aufschrien da die Mädchen, und warfen die Hände empor zur Mutter. Der Tod, den man kommen sieht, ist ja für den Sterblichen der bitterste. Doch als des schrecklichen Feuers glühende Kraft hindurchfuhr, führte Zeus eine schwarzverhüllende Wolke herauf und löschte die gelbe Flamme. Nichts ist unglaublich, was der Götter Wille schafft: damals trug der Delos-geborene Apollon den Greis zu den Hyperboreern, mitsamt den schlankfüßigen Töchtern, und gab ihnen neue Wohnstatt, seiner Frömmigkeit wegen, weil er von allen Menschen die reichsten Spenden zur heiligen Pytho geschickt hatte.464

“In Ode 3 we see Croesus on his funeral pyre, commanding his own death.”465 Kroisos lässt aus eigenem Entschluss die πυρά aufschichten, steigt hinauf und gibt Befehl zum Anzünden. Ausdrücklich wird der eskapistische Sinn der Handlung hervorgehoben: Sie erfolgt, um der Knechtschaft (δουλοσύνη) zu entgehen. “In this not ‘enduring’ (μίμνειν) a humiliating fate, he is like a Homeric warrior whose pride and τιμή will accept death rather than the taint of κακία.”466 Angesichts dieser Gefahr kommt der bis dato verehrte und reiche König zu der zentralen, ein schmachvolles Leben ablehnenden Ansicht: „Was früher verhasst war, ist willkommen: Sterben ist süß.“ (Zeile 47) Kroisos entscheidet sich aus freien Stücken, sich selbst auf der πυρά verbrennen zu lassen. Mit dem „Pathos dieser Rede, genau im Mittelpunkt der Mythenerzählung […] ist der dramatische Höhepunkt der Erzählung erreicht.“467 Doch die Geschichte endet bei Bakchylides glückselig. Der Tod, der sich da durch das Feuer nähert und wegen der Wolke des Zeus doch nicht kommt, wird durch die apollinische Entrückung zu den Hyperboreern – “the happiest of all people”468 – ersetzt. Die Parallele, die der Dichter hier zwischen Hieron und Kroisos zieht, soll Mut spenden: So wie die Götter Kroisos erretten, so werden sie auch Hieron letztlich nicht im Stich lassen.469 Herodot scheint die ältere Tradition von der (versuchten) Selbstverbrennung des Kroisos, vielleicht sogar konkret das Siegeslied des Bakchylides, gekannt zu haben.470 Seine berühmte Schilderung von der Rettung des Kroisos (Hdt. I 86–87) än464

Text nach Jebbs, Bacchylides, 256–260. Übersetzung nach Maehler, Bakchylides, 63.65. Lefkowitz, Victory Ode, 140. 466 Segal, Croesus, 41. 467 Maehler, Bakchylides, 49f. 468 Bridgman, Hyperboreans, 158. 469 Vgl. Maehler, Bakchylides, 37. 470 Vgl. Segal, Croesus, 39; Burkert, Ende des Kroisos, 12f; West, Reprieve, 419f. 465

142

Eskapistische Selbsttötungen

dert jedoch diese Tradition ab und ist im Zusammenhang seiner Historien insgesamt zu lesen, in denen Herodot Geschichten vom Aufstieg und Fall, von der Hybris und dem Schicksal orientalischer Könige mit einem gewissen moralischen Impetus erzählt.471 „Herodot gestaltet die Figur des Königs zur ersten in einer Reihe dramatischer Persönlichkeiten, die fast wie auf der Bühne ein Stück tragischer Verstrickung in ein komplexes Gefüge aus schicksalhafter Not und persönlicher Schuld vorführen, zugleich aber auch ein Paradigma kalkulierbaren politischen Handelns und Scheiterns darbieten.“472 Die „subtile Kritik willkürlicher Königsmacht“473 am Beispiel des Kroisos beginnt und endet unter anderem mit Solon. Der überaus reiche und verblendete Kroisos, der sich selbst für den allerglücklichsten Menschen auf Erden hält, verachtet die weisen Worte Solons über die Unbeständigkeit des Glücks. Er missinterpretiert das delphische Orakel und verliert die Schlacht gegen Kyros. Anders als in der vorhergehenden Tradition will sich Kroisos daraufhin nicht selbst verbrennen, sondern wird von Kyros gefesselt auf die πυρά zur Verbrennung gezwungen. Als der bislang schweigende Kroisos den Namen „Solon“ ausruft, will Kyros den Grund erfahren. Der durch sein Scheitern einsichtig gewordene Kroisos berichtet daraufhin von den weisen Worten Solons, dass niemand vor seinem Tode glücklich genannt werden könne, wird von Kyros begnadigt und schließlich durch eine Gewitterwolke Apolls vor dem Feuer gerettet. Auch wenn Herodot seinen Protagonisten keinen Versuch der Selbstverbrennung unternehmen lässt, sondern als erster die ihm nachfolgende Tradition bestimmt, ist seine Schilderung für unsere Frage nach Selbstverbrennungen deswegen interessant, weil er trotz seiner Abweichung von der vorgegebenen Tradition von mehreren anderen Selbstverbrennungen auf der πυρά in militärisch auswegloser Lage berichtet: Nach Hdt. VII 107 wird der Perser Boges in Eion an der Mündung des Struma von den Griechen belagert, lässt in auswegloser Lage einen Scheiterhaufen aufschichten und verbrennt sich und seine Familie: Hdt. VII 107: ὡς δ᾽ οὐδὲν ἔτι φορβῆς ἐνῆν ἐν τῷ τείχεϊ, συννήσας πυρὴν μεγάλην ἔσφαξε τὰ τέκνα καὶ τὴν γυναῖκα καὶ τὰς παλλακὰς καὶ τοὺς οἰκέτας καὶ ἔπειτα ἐσέβαλε ἐς τὸ πῦρ, μετὰ δὲ ταῦτα τὸν χρυσὸν ἅπαντα τὸν ἐκ τοῦ ἄστεος καὶ τὸν ἄργυρον ἔσπειρε ἀπὸ τοῦ τείχεος ἐς τὸν Στρυμόνα, ποιήσας δὲ ταῦτα ἑωυτὸν ἐσέβαλε ἐς τὸ πῦρ. Als es keine Lebensmittel mehr im Kastell gab, schichtete er einen großen Scheiterhaufen auf, schlachtete seine Kinder, seine Gattin, seine Kebsweiber und Diener und warf sie in das Feuer. Dann schüttete er alles Gold und Silber, das sich in der Stadt befand, von der Mauer herab in den Strymon, und endlich sprang er selber in die Flammen. 474

Bei Boges kommt der Selbstmord als suicide obsidionaux475 klar zum Ausdruck: Boges zieht die Selbstverbrennung der eigenen und familiären Schändung, Verskla471 Die Unterschiede zwischen Bakchylides und Herodot behandelt ausführlich Segal, Croesus; vgl. auch West, Reprieve, 419f. Laut Ktesias soll sich die Mutter von Krösus’ Sohn von der Mauer geworfen haben, nachdem sie die Tötung ihres Sohnes mit ansehen musste (Frgm. 9.4 nach Photius). 472 Bichler/Rollinger, Herodot, 86. 473 Bichler/Rollinger, Herodot, 87. 474 Übersetzung nach Horneffer, Herodot, 474. 475 Vgl. van Hooff, Autothanasia, 57.

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

143

vung oder Tötung vor476 und entzieht dem Feind seine potentielle Beute, indem er sie in den Strom wirft. Allerdings hätte er zu Beginn des Kampfes die Möglichkeit gehabt, das Angebot der Griechen zur freien Heimkehr anzunehmen, doch er entscheidet sich für den heroischen Kampf und zuletzt für den Selbstmord. Diese Tat wird von einer Ruhmesvorstellung geleitet, die mehrmals in VII 107 zum Tragen kommt. Es handelt sich um eine Ruhmesvorstellung, welche die Selbstverbrennung nicht wie selbstverständlich erwartet; vielmehr wird die Selbstverbrennung als eine außerordentliche Tat anerkannt, die Boges vor allen anderen auszeichnet und die seinen Ruhm begründet: οὕτω μὲν οὗτος δικαίως αἰνέεται ἔτι καὶ ἐς τόδε ὑπὸ Περσέων („Darum preist man ihn in Persien mit Recht bis zum heutigen Tage.“).477 Herodots Darstellung enthält schließlich noch einen weiteren Bericht über eine Selbstverbrennung, den er von den „Phöniziern“ übernommen hat: den Bericht in Hdt. VII 167 über die Selbstverbrennung des Karthagers Amilkas: Hdt. VII 167: ἔστι δὲ ὑπ᾽ αὐτῶν Καρχηδονίων ὅδε λόγος λεγόμενος, οἰκότι χρεωμένων, ὡς οἱ μὲν βάρβαροι τοῖσι Ἕλλησι ἐν τῇ Σικελίῃ ἐμάχοντο ἐξ ἠοῦς ἀρξάμενοι μέχρι δείλης ὀψίης (ἐπὶ τοσοῦτο γὰρ λέγεται ἑλκύσαι τὴν σύστασιν), ὁ δὲ Ἀμίλκας ἐν τούτῳ τῷ χρόνῳ μένων ἐν τῷ στρατοπέδῳ ἐθύετο καὶ ἐκαλλιερέετο ἐπὶ πυρῆς μεγάλης σώματα ὅλα καταγίζων, ἰδὼν δὲ τροπὴν τῶν ἑωυτοῦ γινομένην, ὡς ἔτυχε ἐπισπένδων τοῖσι ἱροῖσι, ὦσε ἑωυτὸν ἐς τὸ πῦρ οὕτω δὴ κατακαυθέντα ἀφανισθῆναι. Bei den Karchedoniern selber wird erzählt – und das klingt glaubwürdig –, daß Amilkas, während die Barbaren mit den Hellenen vom Morgen bis in den späten Abend kämpften – so lange soll diese Schlacht sich hingezogen haben –, im Lager blieb und auf einem großen Altar opferte, indem er die ganzen Opfer verbrannte, dann, als er die Seinigen fliehen sah, sich selber, während er noch beim Opfern beschäftigt war, in die Flammen stürzte. So sei er verbrannt und verschwunden.478

Ähnlich wie im Falle des Boges berichtet Herodot im Anschluss noch von dem späteren Nachruhm des Helden, in diesem Fall von seinen Gedenksteinen und seinen Opfern, die ihm von den Karthagern dargebracht werden: Amilkas Selbstverbrennung gilt den Karthagern als eine ruhmvolle Tat, die über das „normale“ ehrenvolle Verhalten hinausgeht, das von jedem erwartet werden kann.479 Exkurs 1: Der kollektive Selbstmord in kleinasiatischen Städten Die griechischen und römischen Schriftsteller berichten über weitere kollektive Selbstverbrennungen in militärisch aussichtsloser Lage bei der Eroberung von Städten im kleinasiatischen Raum, auf die wir hier nur jeweils kurz eingehen können.480 Neben dem Bericht über die kollektive Selbstverbrennung der Einwohner von Milet bei der Belagerung durch die Perser (Marcellinus 28.1.3) wird vor allem von den Einwohnern der lydischen Stadt Xanthos mehrfach berichtet, dass sie den Tod durch Selbstverbrennung der Versklavung oder dem Tod durch die Hand des 476

Thuk. 1.98.1 berichtet, dass die Griechen die Bewohner von Eion zu Sklaven machten. Hdt VII 107. Übersetzung nach Horneffer, Herodot, 474. Zur Unterscheidung zwischen Ehre und Ruhm siehe oben das Kapitel über die erworbene Ehre (Ruhmesehre). 478 Hdt. VII 167. Übersetzung nach Horneffer, Herodot, 498. 479 Zum Ruhm siehe oben das entsprechende Kapitel über die erworbene Ehre (Ruhmesehre). 480 Vgl. Pritchett, The Greek State at War, 219–223 und Ehrlich, Suicide in the Roman Empire, 2–20 mit weiteren Beispielen aus dem europäischen Raum. 477

144

Eskapistische Selbsttötungen

Feindes vorziehen. Schon Herodot (Hdt. I 176) berichtet, dass unter Kyros II. der persische General Harpagos die Stadt belagert, woraufhin die Bürger ihren gesamten Haushalt mit Kindern, Frauen und ihrem Habe in der Zitadelle verbrennen – allerdings suchen sie laut Herodot anschließend den Tod im Kampfgetümmel. Appian berichtet von derselben Stadt (BC 4.80; vgl. Cass. Dio 47.34.3), dass die Einwohner bei der Belagerung erst durch den Meder Harpagos, dann durch Alexander481 und zwei Jahrhunderte später durch Brutus in allen drei Fällen um ihrer Freiheit willen (ἐλευτερίας οὕνεκα) ihre Angehörigen töten und diese sowie sich selbst auf der πυρά in ihren Häusern verbrennen. Unter den Belagerungen durch Perdikkas sei es laut Diodor und Justin zu jeweils einer weiteren Selbstverbrennung in Kleinasien gekommen. Von Isaura berichtet Diodor (18.22), dass sich die Einwohner bei der Belagerung der Stadt durch Perdikkas angesichts von Tod und Sklaverei zu einer heroischen und denkwürdigen Tat entschließen: Sie schließen sich mit ihren Verwandten in ihren Häusern ein und setzen diese selbst in Brand. Von einer weiteren kollektiven Selbstverbrennung in Kappadokien berichtet Justin (13.6): Als Perdikkas die Kämpfer des Königs Ariarathes in ihre Stadt zurückdrängt, tötet jeder seine Frau und Kinder, zündet sein Haus an und wirft sich mit seinen Sklaven hinein. Der Sinn dieser Handlung wird expliziert: Es gilt, dem Feind die Möglichkeit zum Beutemachen zu nehmen („keinen Lohn außer Wunden und Gefahren“; nihil praemii praeter vulnera et pericula), damit ihm außer dem Anblick der Feuersbrunst nichts vergönnt bleibt (ut nihil hostis victor suarum rerum praeter incendii spectaculo frueretur). Exkurs 2: Der kollektive Selbstmord der Einwohner von Sidon Über den kollektiven Selbstmord der Einwohner von Sidon in der späten Perserzeit besitzen wir mit Diodor 16.40–45 nur eine griechische Quelle. Dieser Selbstmord resultierte aus dem gescheiterten Aufstand der Sidonier gegen Artaxerxes III., der neben Diodor immerhin noch durch Isokrates (Rede an Philipp 101–104)482 und die Babylonische Chronik ABC 9483 belegt ist. Um 347/346 v.Chr. sagt sich Sidon, mit militärischer Unterstützung Ägyptens und nach Diodor in Absprache mit anderen phönizischen Städten, von den Persern los: Die Einwohner zerstören den persischen königlichen Park (paradeisos) und töten die verhassten persischen Stadtbeamten. Einen ersten Angriff der persischen Satrapen Belesys und Mazaios kann König Tennes mit Hilfe der von Nektanebos II. geschickten griechischen Söldner abwehren, doch angesichts des anrückenden persischen Heeres unter dem Großkönig verrät Tennes laut Diodor seine Stadt: Er liefert die hundert angesehensten Bürger (τοὺς ἐπιφανεστάτους τῶν πολιτῶν ἑκατὸν) und die fünfhundert führenden Sidonier 481

“this is obviously wrong, cf. Arr. Anab. i. 24.4” (How/Wells, Commentary, 135). Übersetzung bei Isokrates, Werke, 102f. 483 Text bei Kuhrt, Persian Empire, 412f. Ob der biblische Text Jes 23 auf Aufstand und Untergang Sidons während der Tennes-Revolte anspielt (so Kaiser, Jesaja, 136f), ist nicht mehr mit letzter Sicherheit zu ermitteln, weil auch andere Ereignisse in den Text hineingelesen werden können (vgl. Beuken, Jesaja, 290–293, der die unterschiedlichen Positionen darstellt und sich letztlich für eine neuassyrische Datierung entscheidet). 482

Eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage

145

(πεντακοσίων δὲ τῶν πρώτων Σιδωνίων) Artaxerxes aus, der sie allesamt töten lässt.484 Das Ende der Revolte und der kollektive Selbstmord der Sidonier wird anschließend von Diodor folgendermaßen berichtet: Diodor 16.45.4–6: οἱ δὲ Σιδώνιοι πρὸ μὲν τῆς παρουσίας τοῦ βασιλέως ἐνέπρησαν ἁπάσας τὰς ναῦς, ὅπως μηδεὶς δύνηται τῶν κατὰ τὴν πόλιν ἐκπλεύσας ἰδίᾳ σωτηρίαν πορίζεσθαι: ἐπειδὴ δὲ τὴν πόλιν ἑώρων καὶ τὰ τείχη κατειλημμένα καὶ πολλαῖς μυριάσι στρατιωτῶν περιεχόμενα, συγκλείσαντες ἑαυτοὺς καὶ τὰ τέκνα καὶ γυναῖκας εἰς τὰς οἰκίας ἐνέπρησαν. φασὶ δὲ τοὺς ὑπὸ τοῦ πυρὸς τότε διαφθαρέντας σὺν τοῖς οἰκετικοῖς σώμασι γεγονέναι πλείους τῶν τετρακισμυρίων. […] τὰ μὲν οὖν κατὰ Σιδῶνα συμβάντα δυστυχήματα τοιαύτην ἔσχε τὴν καταστροφήν, αἱ δ᾽ ἄλλαι πόλεις καταπλαγεῖσαι προσεχώρησαν τοῖς Πέρσαις. Die Sidonier aber hatten noch vor dem Eintreffen des Königs ihre sämtlichen Schiffe in Brand gesteckt, damit niemand aus der Stadt fortzusegeln und sich allein zu retten vermochte; als sie nun die Stadt und ihre Mauern besetzt und von vielen zehntausend Soldaten umschwärmt sahen, schlossen sie sich, ihre Kinder und Frauen in die Häuser ein und suchten den Tod in den Flammen. Wie es heißt, sollen damals, die Sklaven mitgerechnet, mehr als vierzigtausend Menschen im Feuer umgekommen sein. […] In eine solche Katastrophe mündeten also die Heimsuchungen von Sidon; die übrigen Städte aber schlossen sich in äußerster Bestürzung wieder den Persern an.485

Dieser Bericht über den Aufstand Sidons ist allerdings in Einzelheiten fragwürdig.486 Zum einen scheint Diodor seine Quellen in eine falsche Chronologie gebracht zu haben,487 zum anderen den Aufstand zu einem phönizischen stilisiert zu haben, obwohl er sehr wahrscheinlich von Sidon allein ausgegangen ist.488 Vor allem jedoch könnte der Bericht über die kollektive Selbstverbrennung der Einwohner “as an act of suicide”489 überzeichnet sein, weil gefangene Sidonier nach der Babylonischen Chronik ABC 9 nach Babylon und Susa deportiert werden und weil Sidon schon kurze Zeit später wieder über politische und wirtschaftliche Handlungsmacht verfügt (Arrian 2.15.6; 19.6; 20.1).490 Darüber hinaus stellt die kollektive Selbstverbrennung bei Diodor und anderen griechischen und römischen Autoren ein gängiges Erzählmotiv in Kriegsschilderungen dar.491 Die von Diodor beschriebene kollektive Selbstverbrennung scheint auch in der hier behandelten Erzählung vom Untergang Sidons als romanhaftes Klischee verwendet zu werden, um der Schilderung der Ereignisse den nötigen tragisch-heroischen Glanz zu verleihen. Dennoch ist bezeichnend, dass der Selbstmord auf der Erzählebene am besten erklärt werden kann, 484

Ob Tennes tatsächlich Verrat und nicht bloß Kapitulation begangen hat, bleibt fraglich, weil er von Artaxerxes ebenfalls getötet wird; vgl. Veh/Frigo, Weltgeschichte, 145. 485 Übersetzung nach Veh/Frigo, Weltgeschichte, 66. 486 Zustimmend allerdings zu den Angaben Diodors über die administrative Struktur Phöniziens und über Sidon als Hauptstadt einer eigenen, von Syrien unabhängigen Satrapie Jigoulov, Phoenicia, 33–35. 487 Vgl. Veh/Frigo, Weltgeschichte, 142; Kuhrt, Persian Empire, 411 Anm. 1; Briant, From Cyrus to Alexander, 683; Ruzicka, Trouble, 165. 488 Vgl. Briant, From Cyrus to Alexander, 684f ; Kuhrt, Persian Empire, 411 Anm. 4; Grabbe, Excavations, 132. 489 Grabbe, Excavations, 130. 490 Vgl. Veh/Frigo, Weltgeschichte, 145; Kuhrt, Persian Empire, 412 Anm. 18 ; Ruzicka, Trouble, 173f. 491 Vgl. Ellinger, La Légende Nationale Phocidienne, 278–296; Pritchett, The Greek State at War, 219–223.

146

Eskapistische Selbsttötungen

wenn er vor dem Hintergrund des Schicksals verstanden wird, das den Sidoniern vor Augen stand und das sie mit gutem Recht fürchteten: wie schon ihre Würdenträger zuvor auf erbarmungslose Weise getötet oder aber deportiert zu werden. Wie schon der Akt der Schiffsverbrennung wohl nicht nur den Sinn hatte, einzelne Sidonier an der Flucht zu hindern, so hatte wohl auch die kollektive Selbstverbrennung samt Hab und Gut den Sinn, dem persischen Großkönig in einem letzten heroischen Akt so gut wie möglich zu schaden und Beute seinen Händen zu entziehen. Exkurs 3: Der kollektive Selbstmord der Einwohner von Persepolis So wie es zahlreiche antike Legenden über den Alexanderzug gibt, so existieren auch legendenhafte und zum Teil widersprüchliche Schilderungen über die Eroberung und Verwüstung von Persepolis durch Alexander. „Wie so viele Episoden des Alexanderzuges ist auch der Brand von Persepolis immer weiter ausgeschmückt worden […].“492 Im Wesentlichen lassen sich zwei Darstellungen unterscheiden: Nach Plut. Alex. 38 und anderen Schriftstellern wie Diodor 17.72 und Curtius Rufus 5.7 habe die Hetäre Thais die vom Festessen betrunkenen Makedonen angehalten, den Palast in Flammen zu setzen. Arrian 3.18 dagegen erwähnt Thais mit keinem Wort, sondern berichtet, dass Alexander aus Rachsucht für die Zerstörung Athens den Palast in Brand gesteckt hat (ähnlich auch Strabon 15.3.6), obwohl Parmenion ihm davon abgeraten habe. Der Bericht Arrians ist wohl am wenigsten historisch, denn zum einen widerspricht er sowohl dem Selbstbild Alexanders, das Erbe der Achämeniden anzutreten, als auch der mehrfach bezeugten Reue Alexanders über die Brandstiftung,493 zum anderen ist die Absicht Arrians durchschaubar, sowohl die spätere Frau des Ptolemaios als auch den nach gegenteiligen Quellen betrunkenen Alexander in Schutz zu nehmen und die Tat als eine bewusst intendierte hinzustellen.494 Allerdings sind auch die Schilderungen von Plutarch, Diodor und Curtius Rufus mit Vorsicht zu genießen, denn sie fußen allesamt auf Kleitarch,495 dessen Einfallsreichtum schon in der Antike gelobt, dessen mangelnde Wahrheitsliebe hingegen getadelt wurde (Quint. 10.1.75).496 Darüber hinaus finden wir nur bei Curtius Rufus eine Schilderung über den Selbstmord der Einwohner bei Einnahme der Stadt durch Selbstverbrennung: Curtius Rufus 5.6.7: Neque avaritia solum sed etiam crudelitas in capta urbe grassata est: auro argentoque onusti vilia captivorum corpora trucidabant, passimque obvii caedebantur, quos antea pretium sui miserabilis fecerat. Multi ergo hostium manus voluntaria morte occupaverunt, pretiosissima vestium induti e muris semetipsos cum coniugibus ac liberis in praeceps iacientes. Quidam ignes, quod paulo post facturus hostis videbatur, subiecerant aedibus, ut cum suis vivi cremarentur.

492

Demandt, Alexander, 206. Vgl. Demandt, Alexander, 206. 494 Vgl. O’Brian, Alexander, 108. 495 Vgl. etwa Hammond, Sources, 73. 496 Vgl. Demandt, Alexander, 206. Auffallend ist beispielsweise, dass bei dem Festessen Hetären anwesend waren – eine griechische, aber keine makedonische Tradition (vgl. Hammond, Sources, 72 Anm. 38). 493

Eskapistische Selbsttötungen angesichts des Scheiterns fundamentaler Lebensziele

147

Und nicht nur Habgier, sondern auch Grausamkeit wütete in der eroberten Stadt; mit Gold und Silber beladen ermordeten sie die nun billig gewordenen Gefangenen: weit und breit wurde erschlagen, wer ihnen in den Weg kam – nachdem man sie vorher geschont hatte, weil sie einen lohnenden Kaufpreis darstellten! Viele kamen darum den Feinden zuvor und legten lieber freiwillig Hand an sich: kostbar gekleidet stürzten sie sich mit Frauen und Kindern von den Mauern herab zu Tode. Manche legten auch Feuer an ihre Häuser – was ja doch bald der Feind selbst tun würde! – um mit den Ihren lebend zu verbrennen.497

Wie schon bei der Schilderung über die Eroberung von Tyros durch Alexander498 ist der Schriftsteller, weniger der Historiker Curtius Rufus insbesondere an massenpsychologischen Vorgängen interessiert und schildert mit Vorliebe die Angst des gemeinen Soldaten.499 Und wie wohl schon der Selbstmord der Tyrer ein erdachtes Motiv seiner Erzählkunst bildet, so dient wohl auch der Selbstmord der Einwohner von Persepolis der spannungsgeladenen und die Psyche der Massen schildernden Darstellungsweise des Curtius.500 Wir erfahren hier mehr über die Massenpsychologie des Historikers als über die tatsächlichen Geschehnisse, doch auch dieser Aspekt ist mentalitätsgeschichtlich bedeutsam: Der Selbstmord, insbesondere derjenige der Selbstverbrennung, gilt gemeinhin als nachvollziehbare eskapistische Handlung, um bei Eroberungen und Plünderungen von Städten dem Tod durch Feindeshand zu entfliehen. Auffallend ist darüber hinaus, dass Curtius bei der Eroberung von Tyros zwar die Selbsttötung der Einwohner, aber nicht die Form der Selbstverbrennung schildert, während er bei der Eroberung von Persepolis Selbstverbrennungen mit Hinweis auf den späteren Palastbrand ausdrücklich hervorhebt: Hier dient die Schilderung der Selbstverbrennung im Kriegsverlauf der künstlerischen Vorwegnahme anschließender Ereignisse.

Eskapistische Selbsttötungen angesichts des Scheiterns fundamentaler Lebensziele (Bilanzsuizide) Anders als in den militärischen Situationen, in denen der Feldherr den letzten ehrenvollen Ausweg im frei gewählten, aber letztlich doch unentrinnbaren Tod sucht, stellen sich die eskapistischen Selbsttötungen dar, mittels derer ein Mensch sich in Situationen des Scheiterns fundamentaler Lebensentwürfe das Leben nimmt. Diese Lebensentwürfe entsprechen in den altorientalischen Gesellschaften kulturell bereitgestellten Lebensbildern und Vorgaben, die der Mensch in der sozialen Rolle, die ihm gegeben ist, für sich selbst übernommen hat. In den scheinbar privaten, gleichzeitig jedoch sozial und kulturell erfahrenen Lebensniederlagen zieht der Mensch Bilanz, ob der ihm vorgegebene und von ihm angenommene Lebensentwurf als gescheitert zu gelten hat. In einigen Fällen entsprechen diese Selbsttötungen dem Typus, den Jean Baechler als eskapistischen Suizid aus Trauer über den Verlust 497

Übersetzung nach Müller, Geschichte, 255. Siehe dazu oben den Exkurs über die Selbsttötung der Einwohner von Tyros. 499 Vgl. Rutz, Erzählkunst, 2351f. 500 “Thus this detail in Curtius’ account of the sack of Persepolis is surely fictitious.” (Atkinson, Books 5 to 7,2, 115) 498

148

Eskapistische Selbsttötungen

eines geliebten Objektes oder als Selbstbestrafung und Sühne für eigene Fehler bezeichnet hat,501 insofern das betreffende „Objekt“ bzw. der betreffende „Fehler“ auch Lebensentwürfe und soziale Werte (wie beispielsweise die eigene Ehre) beinhalten kann. Während sich der Feldherr durch Schwert oder Feuer den Tod in aussichtsloser militärischer Lage gibt, wählt der Mensch in Situationen privaten Scheiterns den Tod durch Erdrosseln. Zu diesen Selbsttötungen zählen biblisch 2 Sam 17,23; Tob 3,10; Mt 27,05. Darüber hinaus sind nach einigen griechischen und römischen Legenden die Selbsttötungen des sagenhaften syrischen Provinzverwalters Onnes sowie diejenigen von Semiramis, Thisbe und Pyramus zu erwähnen sowie nach einigen ägyptischen Quellen die Bilanzsuizide des weisen Amenophis sowie diejenigen von Naneferkaptah, Paibēse und Kleopatra zu besprechen.502 a) Ahitofel Der Vers 2 Sam 17,23 über die Selbsttötung Ahitofels ist Teil der Erzählung über den Abschalomaufstand (2 Sam 15–19). Dieser wird traditionellerweise als integraler Bestandteil eines Literaturwerks betrachtet, das Leonhard Rost schon 1926 als Thronnachfolge Davids beschrieben hat und das 2 Sam 9–20 und 1 Kön 1f umfasst haben soll.503 Die Annahme eines solchen Literaturwerks ist in der neuesten Forschung umstritten, und nur noch wenige Forscher gehen von einem Literaturwerk im Sinne der Rostschen Thronnachfolge aus.504 Weil zudem von einer eigentlichen Thronfolge erst in 1 Kön 1f mit Salomos Thronbesteigung erzählt wird, zieht man heutzutage den Begriff Jerusalemer Hofgeschichten vor.505 Der Plural „Hofgeschichten“ weist darauf hin, dass wir es eher mit einzelnen, ursprünglich vielleicht voneinander unabhängigen Erzählungen zu tun haben, die sich in die Geschichten über Amnon, Abschalom und Scheba (2 Sam 13f; 15–19; 20) sowie über die Geburt und Thronfolge Salomos (2 Sam 11f; 1 Kön 1f) einteilen lassen.506 Wichtige Erkenntnisse zur Textgenese von 2 Sam 15–19 und insbesondere des Abschnitts über den Wettstreit der beiden Ratgeber Ahitofel und Huschai verdanken wir Ernst Würthwein.507 Ihm fiel auf, dass Ahitofel in 2 Sam 16,21ff „zwei Ratschläge gibt, die sich widersprechen“,508 nämlich einerseits zu Davids Haremsdamen „einzugehen“ (2 Sam 16,21–23), andererseits aber sofort die Verfolgung Davids aufzunehmen (2 Sam 17,1–4). Während der zweite Ratschlag Ahitofels ursprünglich ist, muss der Passus über den ersten Ratschlag der (späteren) Batseba501

Siehe dazu oben das Kapitel zur Typologie der Sinnformen suizidaler Handlungen. Zum Bilanzsuizid des Ursā von Urartu nach dessen militärischer Niederlage siehe oben das entsprechende Kapitel. Zum Bilanzsuizid des Ptolemaios Makron siehe unten das entsprechende Kapitel. Nach Apg 16,27 will sich der Kerkermeister von Philippi in sein Schwert stürzen, weil er seine Gefangenen entkommen glaubt (vgl. etwa Clemons, Suicide, 24f; Howell, Suicide, 336). 503 Vgl. Rost, Thronnachfolge. 504 Vgl. beispielsweise die Diskussionen in de Pury/Römer, Thronfolgegeschichte. 505 Vgl. beispielsweise Kratz, Komposition, 182. 506 Vgl. beispielsweise Hentschel, Samuelbücher, 296f. 507 Vgl. auch die ähnlichen Überlegungen bei Langlamet, Ahitofel et Houshaï; Vermeylen, Loi, 361–373. 508 Würthwein, Thronfolge, 56. 502

Eskapistische Selbsttötungen angesichts des Scheiterns fundamentaler Lebensziele

149

Natan-Novelle zugerechnet werden. Zudem wird der zweite Plan Ahitofels in 2 Sam 17,4 angenommen und drohte nach 2 Sam 17,15f sowie 2 Sam 17,21f auch umgesetzt zu werden. Damit wird Ahitofels Plan ursprünglich nicht durch Huschais gegenläufigen Ratschlag, sondern durch dessen von David initiierte Spionage (vgl. 15,34f) und den Verrat von Ahitofels Plan an David und seine Gefolgsleute untergraben.509 Deshalb ist neben dem Passus 2 Sam 16,21–23 auch derjenige 2 Sam 17,5–14 als späterer Einschub anzusehen, an die jeweils am Ende eine theologische Begründung angeschlossen wird.510 Die Notiz über die Selbsttötung Ahitofels in 2 Sam 17,23 stammt nach Würthwein ebenfalls aus der Hand des Bearbeiters, denn die Angabe, dass Ahitofels Plan nicht ausgeführt wurde, kann nach dieser Analyse erst der Redaktionsschicht, nicht jedoch der ursprünglichen Erzählung über die Annahme und Vereitlung von Ahitofels Ratschlag entstammen.511 In der neuesten Forschung512 nach Würthwein wird zudem der Kern der Erzählung von einigen Forschern in dem Schlachtenbericht 2 Sam 18,1–19,9a* gesehen und der Flucht- und Heimkehrbericht samt seinen späteren Ergänzungen in 2 Sam 15–17 und 19,9bff für sekundär erachtet: „Die Erzählung umfaßte ursprünglich nur 15,1–6.13; 18,1–19,9a und ist weitgehend unversehrt überliefert.“513 Der Fluchtund Heimkehrbericht einschließlich der Ratgeber-Erzählung stammt somit schon in seiner frühesten Fassung aus späterer, nämlich exilischer oder nachexilischer Zeit. Denn wie die Angabe in 2 Sam 18,6 nahelegt, wird die Schlacht um das Königtum im ursprünglichen Kernbestand der Erzählung nicht im Ostjordanland, sondern in Efraim im Westjordanland geschlagen.514 Indem sie mit dem Fluchtbericht Davids ins Ostjordanland verlegt wird, wird Davids Flucht und Heimkehr nach Osten „als eine literarische Vorabbildung entworfen, die den Weg ins Exil paradigmatisch in die Gründerzeit einzeichnet.“515 Auf diese Weise muss die Ratgeber-Erzählung insgesamt als spätere Bearbeitung gelten. In ihrer ursprünglichen Fassung umfasste sie im Anschluss an Würthwein den angenommenen zweiten Ratschlag Ahitofels und dessen Verrat durch die Spionagetätigkeit Huschais, während das Harem-Motiv, die Lade-Notiz, der Ratschlag Huschais sowie der Suizid Ahitofels (2 Sam 15,16b.24– 26.29.31; 16,21–23; 17,5–14.23) Ergänzungen darstellen.516 Das Thema dieser Ergänzungen scheint unter anderem „eine theologische Anthropologie angesichts der 509

Vgl. Würthwein, Thronfolge, 61f. Vgl. Würthwein, Thronfolge, 62f. 511 Vgl. Würthwein, Thronfolge, 63; Rudnig, Davids Thron, 228f. 512 Zur neuesten Forschung an den Samuelbüchern insgesamt vgl. den Forschungsüberblick bei Dietrich, Von den ersten Königen, sowie zur Forschungslage speziell zu 2 Sam 15–19 ders., Fünfte Kolonne, 109–114 (Lit.). 513 Kratz, Komposition, 181. Eine sehr viel radikalere Quellenscheidung vertritt Rudnig, Davids Thron, der von dem Schlachtenbericht nur 18,1a.6.9b.15aαb.16a.17a zusammen mit 15,1aβγb.12b; 17,22abα zur Grundschicht zählt. 514 Vgl. Fischer, Flucht und Heimkehr Davids, 49–51. 515 Fischer, Flucht und Heimkehr Davids, 65. Zitat im Original kursiv. 516 Auch hier vertritt Rudnig, Davids Thron, eine radikalere Position, wenn er von der RatgeberErzählung nur den Ratschlag Ahitofels in 17,1–3a.4 zusammen mit den Ahitofel-Notizen 15,12a; 16,15.20 als „den ältesten Bestand im Ratgeber-Geflecht“ (223) anerkennt und den übrigen Text in zahlreiche weitere Redaktionsschichten untergliedert. 510

150

Eskapistische Selbsttötungen

‚Machbarkeit‘ von Wirklichkeit durch selbstbestimmtes menschliches Handeln“ zu sein.517 Betrachten wir im Folgenden den Selbstmord Ahitofels auf der Basis des Endtextes mit seinen theologisch-anthropologischen Perspektiven. Der Abschalomaufstand wird insbesondere anhand von Einzelschicksalen erzählt. Dies trifft insbesondere auch auf die Kapitel 16–17 und den „Wettstreit“ (Budde) der beiden Ratgeber Ahitofel und Huschai zu. Dass Abschalom nach Ahitofel sendet, um ihn als Ratgeber an seinen neu in Jerusalem eingerichteten Hof zu holen, gehört zu den geschickteren Schachzügen Abschaloms, denn Ahitofel kann Abschalom mit seiner Autorität, Erfahrung und Weisheit maßgeblich unterstützen.518 Entsprechend wird er als einziger unter den Empörern von Hebron namentlich genannt (2 Sam 15,12a) und der nachfolgende Hinweis auf die so erfolgte Verstärkung der Verschwörung auf den Beitritt Ahitofels zurückbezogen (2 Sam 15,12b). Der Leser erfährt zunächst nicht viel über den Charakter Ahitofels, aber einiges über die Qualität seiner Ratschläge und seine Stellung in der Öffentlichkeit als “political heavyweight”.519 Ahitofel wird als ein Mann gezeichnet, der ganz in seiner Rolle als Ratgeber aufgeht: Rat und Ratgeber bilden eine Einheit,520 und es bleibt alles, was Ahitofel unternimmt, „bis hin zu seinem Suizid, abhängig vom Scheitern in der Funktion als Berater.“521 Er verfügt zudem über einen herausragenden Ruf als Ratgeber am Hofe, so dass es einem Gottesorakel gleichkommt, wenn man seinen Rat einholt (2 Sam 16,23). So erweist sich der erste Ratschlag an Abschalom nicht nur als symbolpolitischer Schachzug, der den Besitzanspruch Abschaloms auf den Harem des Vaters und somit auch das Königtum unterstreicht (vgl. 1 Kön 2,22), sondern auch als göttlich inspirierter Ratschlag, weil sich durch den orakelgleichen Ratschlag Ahitofels das Natanorakel 2 Sam 12,11f erfüllt.522 Nicht nur der erste, sondern auch der zweite Ratschlag Ahitofels gehört in die Kategorie der guten Ratschläge. Beide sind rhetorisch betrachtet nüchtern, präzise, praktikabel und zielorientiert. Sie zeigen Ahitofel als einen ebenso nüchtern, präzise, praktikabel und zielorientiert agierenden Charakter,523 der „besonnen und maßvoll“ auftritt und „Ahithophel als echten Weisen“ auszeichnet.524 Weil seine Ratschläge nahezu die Autorität von Gottesorakeln besitzen, ist er sicherlich nicht daran gewöhnt, dass seinen Ratschlägen widersprochen wird oder dass man diese sogar ablehnen könnte.525

517

Gertz, Tora und Vordere Propheten, 298. Hervorhebung im Original. Zum Weisheitsaspekt in der Erzählung vgl. nun Park, Wisdom; Müllner, Ahitofel. 519 Fokkelman, Narrative Art, 204. 520 Vgl. Stoebe, Samuelis, 389f. 521 Müllner, Ahitofel, 334. 522 Deshalb ist es anachronistisch, Ahitofel wegen dieses Ratschlags einen „grenzenlosen moralischen Tiefstand“ (Bar-Efrat, Samuel, 169f) oder aufgrund der Batseba-Affäre “a more personal vendetta against the king” und “an element of malignancy” (Bodner, Motives, 68.70) zu attestieren. Diese psychologischen Eisegesen übersehen „dass Ahitofel selbst keine Bewegung zu Abschalom hin macht, sondern dieser nach dem Ratgeber schickt.“ (Müllner, Ahitofel, 333) 523 Vgl. Fokkelman, Narrative Art, 213: “a sober politician, nay a wise statesman”. 524 Stolz, Samuel, 262. 525 Vgl. Bodner, Motives, 69. 518

Eskapistische Selbsttötungen angesichts des Scheiterns fundamentaler Lebensziele

151

Jan P. Fokkelman hat die Struktur des Rededuells als “double change of counsellor” bezeichnet und eine chiastische Struktur ausgemacht:526 A Abschalom – Huschai: Treue geprüft/vorgetäuscht B Ahitofels erste Rede, den Harem betreffend → Nebenbemerkung: Mitteilung des Erzählers B’ Ahitofels zweite Rede: Kriegsplan A’ Huschai – Abschalom: Alternative befürwortet/akzeptiert → Nebenbemerkung: Enthüllung des Erzählers

16,16–19 16,20–22 16,23 17,1–4 17,5–14b 17,14cd

“Paragraphs B’A’ lead down to a nadir, the destruction of the Ahitophel factor.”527 Das Kapitel 2 Sam 17 über das Rededuell der Ratgeber erzählt trotz oder besser gegen den herausragenden Ruf Ahitofels die Geschichte seines Scheiterns, weil er und sein Ratschluss einen steten Statusverlust in der Öffentlichkeit („vor aller Augen“) hinnehmen müssen: Gilt der zweite Ratschlag Ahitofels zu Beginn der Beratung noch „in den Augen Abschaloms und in den Augen aller Ältesten Israels“ als „recht“ (‫ ויישר‬V. 4), so wird ihm erstmals von Huschai angelastet, dass sein Rat dieses Mal „nicht gut“ sei (‫ לא־טובה העצה‬V. 7).528 Den Wettstreit mit dem redegewandten Huschai verliert Ahitofel, so dass nicht nur Abschalom und – wie analog zu V. 4 zu erwarten wäre – die Ältesten, sondern Abschalom „und jeder Mann von Israel“ (‫ וכל־איש ישראל‬V. 14aα) zu dem Schluss kommen: „Besser ist der Rat Huschais, des Arkiters, als der Rat Ahitofels.“ (V. 14aβ) Gründlicher ist das Scheitern eines politischen Ratgebers, dessen Statusrolle im Ansehen seiner Person in den Augen des Beratenen wie der Öffentlichkeit zu messen ist, nicht zu denken.529 Daher kommt es auch nicht darauf an, ob der Ratschlag tatsächlich gut oder schlecht ist, entscheidend bleibt, wie er in den Augen der Öffentlichkeit erscheint. Die endgültige Niederlage Ahitofels und sein sozialer „,Tod‘ durch Stellungsverlust bei Hofe“530 wird sodann in der konkreten Ausführung des Planes Huschais ersichtlich, die Ahitofel noch abwartet (V. 23aα). Daraufhin wird knapp und neutral berichtet, dass Ahitofel seine Stellung am Hofe verlässt, in sein Haus zurückkehrt, dieses bestellt, sich erhängt und im Grab seines Vaters bestattet wird: 2 Sam 17,23: Ahitofel aber erkannte, dass sein Rat nicht ausgeführt wurde. Da sattelte er seinen Esel und brach auf und ging in sein Haus, in seine Stadt, und er bestellte sein Haus. Dann erhängte er sich und starb und wurde begraben im Grab seines Vaters.

Mit dem zeitigen Überqueren des Jordan durch David ist Ahitofel endgültig genötigt einzusehen, dass sein Ratschlag nicht ausgeführt wurde und gescheitert ist. Mit der Einsicht (formuliert mit hebräisch ‫„ ראה‬sehen“) gibt der Erzähler einen, wenn 526

Fokkelman, Narrative Art, 204. Fokkelman, Narrative Art, 205. 528 Die nüchterne Rede Ahitofels und die sprachgewaltige Rede Hushais wurden von Fokkelman, Narrative Art, 209–222 und Bar-Efrat, Samuel, 167–177 ausführlich analysiert; vgl. darüber hinaus auch Mann, “You’re Fired”; Park, Wisdom; Müllner, Ahitofel. 529 Vgl. auch Droge/Tabor, Death, 56: “Later, when Ahitophel’s plan for attacking David’s forces was rejected in favor of an alternative strategy, he was humilated and crushed.” 530 Dietrich, Stellungsverlust, in Bezug auf den sozialen Tod durch Stellungsverlust bei Hofe in Mesopotamien. 527

152

Eskapistische Selbsttötungen

auch nur kurzen, Einblick in das existentielle und epistemologische Moment des folgenden Geschehens, denn die Einsicht in das eigene Scheitern steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem anschließenden Suizid. Dieser wird im Folgenden weder verurteilt noch heroisiert. Vielmehr wird sein Sinn als einsehbar und den kulturellen Vorgaben nicht widersprechend akzeptiert.531 Er lässt sich kaum als Flucht vor abzusehender Unehre und Hinrichtung angesichts eines bevorstehenden Sieges Davids deuten.532 Indem die Geschichte Ahitofels als eine Geschichte des stetigen Rollen- und Statusverlustes erzählt wird (V. 1→4→7→14→23), wird seine Selbsttötung als konsequentes Ende seines Scheiterns angesichts eingetretener öffentlicher Erniedrigung und somit angesichts seines „sozialen Todes“ verständlich.533 Die Ablehnung seines Rates bedeutet auch sein eigenes soziales Ende, denn: „Der Ratgeber und sein Rat sind so sehr eine Einheit, daß mit dessen Verwerfung jener selbst verworfen ist und keine Existenz mehr hat.“534 Aufgrund des Scheiterns in der Öffentlichkeit („vor aller Augen“) erfolgt der Suizid Ahitofels abseits öffentlicher Plätze, was die räumliche Bewegung und die Art des Suizids in Vers 23 zum Ausdruck bringen: Ahitofel kehrt seinem öffentlichen Platz am Hofe den Rücken und wendet sich heimwärts, hin zu seinem zu bestellenden Haus, um letzte Ordnung in die Dinge zu bringen, die er verlässt.535 Und auch der Akt des Erhängens (formuliert mit ‫ חנק‬Nifal; im Griechischen vielfach mit ἀπάγχομαι)536 wird typischerweise in privaten Kontexten abseits öffentlicher Plätze durchgeführt (vgl. Tob 3,10; Mt 27,5 sowie die Selbstmorddrohungen in AbB 14 149; PSI III 177).537 531 „Aus der Erwähnung der würdevollen Beisetzung im väterlichen Grab spricht Ehrerbietung für den Toten.“ (Lenzen, Bibel, 89) 532 So allerdings (im Anschluss an Flav.Jos.Ant. 7.228–229) ein Großteil der Forschung, vgl. etwa Nowack, Richter, 219f; Daube, Death, 87; Herzberg, Samuelbücher, 285f; Wächter, Tod, 92; Rosner, Suicide, 28; Fokkelman, Narrative Art, 229; Bar-Efrat, Samuel, 180; Alter, David Story, 301; Schroer, Samuelbücher, 181; Cartledge, Samuel, 589; Galpaz-Feller, Soul, 323; dies., Samson, 226f; Groß, Sterben und Tod, 470f. Dies kann am Ende zu anachronistischen Annahmen führen, so wenn Firth, Samuel, 466 die Ansicht vertritt, Ahitofels Suizid sei “narrated in advance of its occurrence relative to other events since he would have hanged himself after the defeat in the forest.” (vgl. auch ebd. 470) 533 Zum sozialen Tod siehe oben das Kapitel über Ehre und Schande des Toten sowie passim. Zu beachten ist, dass der soziale Tod vor, aber auch nach dem physischen Tod eintreten kann (zu Letzterem siehe oben die Deutung der Schändung der Leichen Sauls und Nabûbēlšumātis in den beiden entsprechenden Kapiteln über Saul und Nabûbēlšumāti). 534 Stoebe, Samuelis, 389f. Ahitofel tötet sich selbst “rather than to live with the shame of having his renowned counsel rejected.” (Cartledge, Samuel, 589) „Er ist gescheitert und scheidet aus dem Leben.“ (Stolz, Samuel, 263) Müllner, Ahitofel, 337 spricht von einer „existenzielle[n] Erschütterung“, die aufgrund der „identitätsstiftende[n] Verbindung“ zwischen Ratgeber und Ratschlag Ahitofel in den Selbstmord treibt. 535 Siehe dazu im Folgenden. 536 Bezeichnet ‫ חנק‬im Piel den Tötungsakt des Erstickens, wenn der Löwe seinem Opfer in die Kehle beißt (Nah 2,13), so im Nifal den suizidalen Akt durch Erwürgen, der kaum anders als durch Erhängen praktikabel ist. Daher richtig die Übersetzung der Septuaginta mit ἀπάγχομαι (vgl. auch Tob 3,10; Mt 27,5). 537 Zu Mt 27,5 siehe im Folgenden. Zu Tob 3,10 siehe das anschließende Kapitel über die Suizidgedanken Saras im Buch Tobit; zu AbB 14 Nr. 149 siehe unten das Kapitel über die Selbstmorddrohungen in altbabylonischen Briefen und verwandten Texten; zu PSI III 177 siehe unten den Exkurs über Selbstmorddrohungen in griechischen Briefen aus Ägypten. Siehe außerdem noch unten

Eskapistische Selbsttötungen angesichts des Scheiterns fundamentaler Lebensziele

153

Die räumliche Bewegung und die Durchführung des Suizids abseits öffentlicher Plätze spiegeln die Ruhe und Überlegung, mit der Ahitofel seinen Suizid vorbereitet und durchführt. Fokkelman präsentiert eine narrative Analyse von Vers 23, den er als “one of the most impressive jewels of biblical narrative art”538 bezeichnet, weil er Raum und Zeit lässt, um die Heimwendung mit vier parallelen Ausdrücken zu beschreiben (seinen Esel satteln; in sein Haus/in seine Stadt gehen;539 sein Haus bestellen) und den Suizid mit seinen Folgen durch vier Suffixe (sein Haus; seine Stadt; sein Haus; das Grab seines Vaters) zusammenzuhalten.540 Die Ruhe, die durch diese Wiederholungen und den raumzeitlichen Abstand in die Erzählung hineinkommt, machen Ahitofel zu einer auch noch in seinem Suizid nüchtern und sachlich agierenden Gestalt: “Ahitophel is not in panic, he is not in a hurry, but puts everything in order in respect of his possessions and his family. He settles his affairs, acting just as soberly and rationally as on those several days when his life was not under intense pressure or historically relevant. The iron consequence of this thought lasts to the final moment and makes Ahitophel a particularly great and lonely figure.”541 Ahitofel handelt aber wohl weniger freiwillig als es Fokkelman betont,542 sondern eher mit der Einsicht (‫ ראה‬Vers 23) in das unabweisbare Handeln, das vor ihm liegt und das aus seiner Perspektive auf das eigene Scheitern folgen muss, denn die Formulierung „Da sattelte er seinen Esel.“ entspricht der Formulierung in Gen 22,3, als Abraham seinen Esel sattelt, um seinen Sohn zu opfern.543 Der Suizid Ahitofels ist deshalb zwar nicht als eine Verzweiflungstat geschildert, „sondern als Sterben eines Weisen, der seine ausweglose Situation überlegen überblickt und die Konsequenzen zieht“,544 aber eben die für ihn schicksalhaft notwendigen Konsequenzen: Ahitofel ist eine tragische Gestalt.545 Der Suizid des Judas Iskariot nach Mt 27,3–5 (anders Apg 1,18),546 dürfte literarisch nach dem Vorbild Ahitofels stilisiert sein. Auch seine Selbsttötung ist als Flucht aus der unerträglichen Situation vollständigen Scheiterns verständlich: Die Tat, der Judas mit Reue (Vers 3) und Sündenbewusstsein (Vers 4) den Exkurs über Onnes. Zum Erhängen im juristischen Kontext (Archias und Pentaweret) siehe unten das Kapitel über die Haremsverschwörung unter Ramses III. sowie das Kapitel über Ptolemaios Makron. 538 Fokkelman, Narrative Art, 229. 539 „‚Seine Stadt‘ bildet eine Klammer um das Auftreten Ahitofels. Von dort wird er geholt (15,12), dorthin kehrt er zurück, um zu sterben (17,23).“ (Müllner, Ahitofel, 332) 540 Vgl. Fokkelman, Narrative Art, 230. 541 Fokkelman, Narrative Art, 230. 542 Vgl. Fokkelman, Narrative Art, 231; vgl. auch Auld, I & II Samuel, 538. Die Überbetonung des freien Willens überspannt auf der Erzählebene (Es gibt wohl keinen Suizid Ahitofels außerhalb des Textes; siehe dazu oben zur literarischen Genese des Textes.) auch deshalb den Bogen, weil die zugesprochene Freiwilligkeit durch den Erzählerkommentar in 2 Sam 17,14b problematisch erscheint, denn nach diesem Vers hält Gott die Fäden des Geschehens hintergründig in der Hand, und David wird mit dem Suizid Ahitofels von seinem gefährlichsten Widersacher befreit (siehe dazu ausführlicher im Folgenden). 543 Vgl. Bodner, Motives, 73f. 544 Stolz, Samuel, 263. 545 So auch Müllner, Ahitofel, 351. 546 Zwei rabbinische Beschreibungen von Selbsttötungen durch Erhängen finden sich in Avodah Zarah 18b und Chullin 94a.

154

Eskapistische Selbsttötungen

gegenübersteht, läuft seinem eigenen Welt- und Selbstverständnis so sehr zuwider, dass er sein Dasein als gescheitert betrachten muss. Er vollzieht ähnlich wie in 2 Sam 17,23 und Tob 3,10 eine Bewegung fort von der sozialen Mitwelt (ἀπελθὼν V. 5) und erhängt sich wie Ahitofel (ἀπάγχομαι V. 5; vgl. 2 Sam 17,23LXX; Tob 3,10).547

Auf der Endtextebene von 2 Sam 15–17 ist der anthropologische und theologische Zusammenhang zu beachten, der 15,31 mit 17,14 verbindet548 und auch 2 Sam 17,23 umschließt. David bittet in 15,31 Gott darum, den Plan Ahitofels töricht erscheinen zu lassen (‫ כסל‬Piel). Mit dieser Bitte steht die spätere Erklärung nach dem Ratgeber-Wettstreit in Zusammenhang, dass JHWH den eigentlich guten Rat Ahitofels (‫ את־עצת אחיתפל הטובה‬17,14b) von vornherein zum Scheitern (‫ )להפר‬verurteilt hat. Unter dem Horizont dieser hier vorliegenden „theologische[n] Anthropologie angesichts der ‚Machbarkeit‘ von Wirklichkeit durch selbstbestimmtes menschliches Handeln“549 hat der Suizid Ahitofels erzählerisch dienende Funktion. So wie die erzählten Ereignisse insgesamt „die Steigerung im Ansehen Davids und die Stärkung seiner Position“ zum Ziel haben, so ist auch der „Tod Ahitofels, seines gefährlichsten Feindes, […] ebenfalls ein für David ermutigendes Zeichen.“550 Gott zieht im Hintergrund der Ereignisse die Fäden und lässt quasi direkt im Anschluss an Davids Gebet zur Vereitelung von Ahitofels gutem Plan Huschai als „AntiAhitofel“551 erscheinen (2 Sam 15,30–37), der Ahitofels Pläne zu durchkreuzen hilft.552 Weil JHWH den eigentlich richtigen Ratschlag Ahitofels um Davids Willen zum Scheitern verurteilt (2 Sam 17,14b), erweist sich der Tod Ahitofels als letztes äußeres Zeichen dafür, dass der Plan Davids und Huschais gelingt, denn der vorliegende Suizid bringt als Bilanzsuizid das Scheitern dieses Ratgebers zu einem letzten Ausdruck. Die Verlustgeschichte Ahitofels endet mit einem Bilanzsuizid und findet ihren Sinn zum einen in der Flucht Ahitofels aus einer schmachvollen Situation existentiellen Scheiterns, zum anderen in dem damit zum Ausdruck kommenden, gottgewollten Sieg Davids über einen seiner gefährlichsten Feinde. “With Ahithophel’s death, the narrative closes off the battle of counsel. What is next is the battle of armies.”553 Der nachfolgende Kampf ist allerdings durch das Scheitern Ahitofels und seines Ratschlages im höheren Sinne schon entschieden. Ahitofels literarische Rolle besteht so gesehen darin, Stärke und Scheitern Abschaloms anzu547

Daube, Death, 88 deutet die Selbsttötung darüber hinaus als Selbstbestrafung. Dies ist von der Hervorhebung der Reue und des Sündenbewusstseins Judas her möglich. In diesem Fall läge ein eskapistischer Suizid als Selbstbestrafung angesichts einer verschuldeten Situation existentiellen (und eschatologischen) Scheiterns vor. Zum Suizid als Selbstbestrafung und Sühne für eigene Sünden nach rabbinischen Quellen vgl. Avemarie, Lebenshingabe, 171–174; Goldstein, Suicide, 27–29. Zur Diskussion um den Suizid des Judas Iskariot vgl. vor allem Benoit, Death; Klassen, Judas, bes. 160–176; Nortjé, Motive; Reed, Judas; Robertson, Death; Saari, Deaths; Viviano, Potter’s Field; Walsh, Versions, bes. 26f.45f.59f; Whelan, Suicide. 548 Dazu schon von Rad, Geschichtsschreibung, 183f. 549 Gertz, Tora und Vordere Propheten, 298. Hervorhebung im Original. 550 Bar-Efrat, Samuel, 178. 551 Mann, “You’re Fired”, 323. 552 Vgl. zu diesem in der Forschung schon oftmals festgestellten Phänomen beispielsweise BarEfrat, Samuel, 162; Mann, “You’re Fired”, 324; Gilmour, Representing, 204f. 553 Campbell, 2 Samuel, 155.

Eskapistische Selbsttötungen angesichts des Scheiterns fundamentaler Lebensziele

155

zeigen und vorwegzunehmen.554 Während Ahitofel aus seiner Heimatstadt kommt, um Abschaloms Verschwörung zu stärken, als diese an Kraft gewinnt (15,12), kehrt er angesichts seines eigenen Scheiterns in seinen Heimatort zurück, um sich zu erhängen (17,23), und weist damit literarisch auf das Scheitern des Aufstandes selbst und den Tod Abschaloms voraus, der später, hilflos an einem Baum hängend, erschlagen wird (18,9–15). Ahitofels suizidale Tat selbst jedoch ist zwar letzter Ausdruck seines Scheiterns am Königshof, stellt in sich aber gerade keine entehrende Handlung dar. Zu fliehen vor dem Rollen- und Statusverlust in Jerusalem und in der Heimat Hand an sich zu legen bedeutet für ihn, mit den erwartbaren Ehren im Grab seines Vaters bestattet zu werden und sich die Familienehre zu erhalten. b) Die Suizidgedanken Saras im Buch Tobit Bilanzsuizide treten bezeichnenderweise gehäuft in den hellenistischen und römerzeitlichen biblischen und außerbiblischen Texten auf, und es scheint so, als ob nicht nur die Häufigkeit der Bilanzsuizide in dieser späteren Zeit zunimmt, sondern als ob sich auch ihre historischen Ausprägungen und Sinndimensionen auf andere kulturelle Sachverhalte hin verlagern. Im Buch Tobit ist eine Verlagerung hin zu moralischethischen Abwägungen festzustellen, die den Selbstmord erstmals in einem sozialethisch problematischen Licht erscheinen lässt. Das Buch Tobit ist, von späteren Fassungen abgesehen, durch drei unterschiedliche griechische Versionen bezeugt, von denen die durch den Codex Sinaiticus bezeugte Langfassung (GII) wohl die älteste, nahezu vollständig erhaltene Version darstellt und den älteren Textfragmenten aus Qumran am nächsten steht.555 Die Datierung dieser „romanhaften theologischen Lehrerzählung“556 ist nicht unumstritten, doch wird Tobit heutzutage zumeist in die hellenistische Zeit um 200 v.Chr. datiert, wobei mögliche Vorstufen des Buches557 aus der späten Perserzeit nicht aus-

554

Vgl. Shemesh, Suicide, 165. Eine gegenseitige Beeinflussung zwischen GI und GII in der weiteren Textüberlieferung ist dabei durchaus wahrscheinlich, vgl. Schüngel-Straumann, Tobit, 40. Für einen Überblick zur Textgeschichte insbesondere des griechischen Tobitbuches vgl. Hanhart, Textgeschichte, sowie dessen Edition des griechischen Textes in der Göttinger Septuaginta 8,5 (speziell zu GIII vgl. noch Weeks, Texts). Die älteren Qumrantexte in ihrer aramäischen und hebräischen Fassung (4Q197–199 sowie 4Q200) bieten leider einen nur sehr fragmentarischen Text. Von ihnen scheint 4Q199 das älteste Fragment zu sein und aus der Zeit von etwa 100 v.Chr. zu stammen. Für einen Überblick zur Textgeschichte insbesondere der Qumranfragmente des Tobitbuches vgl. Fitzmyer, Tobit, 8–11 sowie dessen Edition der Fragmente in DJD 19. Für einen neueren Überblick zur Textgeschichte des Tobitbuches insgesamt vgl. Hallermayer, Text. Zu einer Synopse der Textversionen vgl. Wagner, Polyglotte; Weeks/Gathercole/Stuckenbruck, Tobit. 556 Die Gattung des Tobitbuches auf einen Nenner zu bringen ist nicht einfach, weil das Buch verschiedene Gattungen aufnimmt und auch mischt. Die Bezeichnung „romanhafte theologische Lehrerzählung“ (Engel, Tobit, 358) scheint den Charakter der Gattung am besten zu treffen; vgl. ähnlich auch Deselaers, Tobit, 261–279; Schüngel-Straumann, Tobit, 38; Nicklas, Tobit/Tobitbuch; Kaiser, Apokryphen, 32f; Miller, Marriage, 25–29. 557 Oder zumindest der „Stoff“ der Erzählung, vgl. Nicklas, Tobit/Tobitbuch. 555

156

Eskapistische Selbsttötungen

zuschließen sind558 und „nach oben die Entstehung des Jonabüchleins ein terminus a quo ist, nach unten die Zeit der Makkabäeraufstände, die offensichtlich im Tob keinerlei Spuren hinterlassen haben.“559 Das Tobitbuch lässt sich grob nach der Überschrift in 1,1f in die drei Teile Exposition (1,1–3,17), Hauptteil (4,1–14,1a) und Epilog (14,1b–15) gliedern.560 Die Suizidgedanken Saras finden sich im letzten Teil des Prologs, der sich durch einen parallelen Aufbau der Bittgebete und Todeswünsche Tobits und Saras auszeichnet, denn nach der „autobiographischen“ Beschreibung der Not Tobits folgt in 3,1–6 ein Gebet Tobits, das mit dem anschließenden Gebet Saras in 3,7–15 kompositionell auf verschiedenste Weise verklammert ist: Auch wenn die beiden Protagonisten dieser Abschnitte, Tobit und Sara, auf den ersten Blick kaum etwas gemein haben (Niniveh vs. Ekbatana, Ehemann vs. Tochter, Erblindung vs. Eheverhinderung), so werden ihre Schicksale doch durch den mehrfachen Hinweis auf die Gleichzeitigkeit des Geschehens, durch die erlittenen Schmähungen, durch ihre beiden Bittgebete und den jeweils darin enthaltenen Todeswunsch literarisch verbunden.561 Dieser Zusammenhang wird noch dadurch verstärkt, dass im Anschluss an die beiden Bittgebete der allwissende Erzähler hervorhebt, dass beide Gebete erhört werden und Rafael ausgesandt ist, um sowohl Sara als auch Tobit von ihrer Not zu heilen. Die Exposition hat demnach mit Helmut Engel562 den folgenden Aufbau: A 1,3–3,6 B 3,7–15 C 3,16–17

Bericht über Tobit in einer Selbstvorstellung (Ich-Form) und sein Gebet Bericht über Sara in Ekbatana: ihre Situation und ihr Gebet Die Erhörung der Gebete beider: die Aussendung des Rafael (Gott heilt)

Trotz dieser eindrücklichen Parallelen gibt es jedoch kleine und durchaus entscheidende Unterschiede zwischen der Darstellung Tobits und Saras. Einer dieser Unterschiede betrifft die Suizidgedanken Saras und ihre Verwerfung, die trotz des gemeinsamen, jeweils an Gott gerichteten Todeswunsches bezeichnenderweise nur von Sara, nicht jedoch von Tobit erzählt werden. Im Folgenden zitieren wir eine Übersetzung von Saras Suizidgedanken und Bittgebet, bevor wir uns um ein tieferes Verständnis von Saras Suzidgedanken bemühen:

558 Vgl. Gertz, Tobitbuch, 554; Engel, Tobit, 359. Nach Schmid, Literaturgeschichte, 210, ist das Tobitbuch dagegen „sicher nicht vorhellenistisch“. 559 Schüngel-Straumann, Tobit, 39; vgl. auch Ego, Buch Tobit, 899: „Als Terminus a quo gilt die Kanonisierung der Propheten als Heilige Schrift (vgl. Tob 14,4) und aufgrund der Wendung ‚nach dem Gesetz des Mose‘ (Tob 6,13; 7,11.12.13) die Abfassung der Chronik. Terminus ad quem ist die Makkabäerzeit mit ihrer strengen antiheidnischen Haltung, die in dieser Rigidität im Tobitbuch keine Entsprechung findet (vgl. Tob 13,11; 14,6–7).“ Siehe auch Moore, Tobit, 40–42; Miller, Marriage, 10f. Weil das Jonabuch selbst heutzutage schon vielfach in die hellenistische Zeit datiert wird (siehe dazu unten das Kapitel über Jona), verliert entsprechend auch die These von der Entstehung des Tobitbuches in der späten Perserzeit weiter an Plausibilität. 560 So nach Engel, Tobit, 352; vgl. auch Gertz, Tobitbuch, 550f. 561 Vgl. Engel, Tobit, 352f sowie umfassend Deselaers, Tobit, 62–103. 562 Vgl. Engel, Tobit, 352f (Hervorhebungen im Original). Für eine Feingliederung der entsprechenden Abschnitte vgl. Deselaers, Tobit, 102.

Eskapistische Selbsttötungen angesichts des Scheiterns fundamentaler Lebensziele

157

Tobit 3,7–15 (Langfassung): (7) Am selben Tag widerfuhr es Sarra, der Tochter Raguels in Ekbatana in Media, dass auch sie Schmähungen von einer der Mägde ihres Vaters hören musste. (8) Sie war nämlich sieben Männern (zur Frau) gegeben worden, aber der Böse Dämon Asmodaios hatte sie getötet, ehe sie mit ihr sein konnten, wie man es bei Frauen üblicherweise tut. Und die Magd sagte zu ihr: Du bist es, die deine Männer tötet. Siehe, du wurdest schon sieben Männern gegeben, und nicht nach einem von ihnen wurdest du benannt. (9) Was züchtigst du uns wegen dieser deiner Männer, da sie gestorben sind? Geh doch mit ihnen, und wir wollen in Ewigkeit nicht Sohn oder Tochter von dir sehen! (10) An jenem Tag wurde sie betrübt in ihrer Seele und weinte und stieg hinauf in das Obergemach ihres Vaters und wollte sich erhängen. Und wiederum dachte sie bei sich und sagte: Niemals sollen sie meinen Vater schmähen und zu ihm sagen: Du hattest nur eine einzige, geliebte Tochter, und die hat sich aus Unglück erhängt. Und ich werde die grauen Haare meines Vaters mit Schmerz in die Unterwelt hinabbringen. Es ist besser für mich, mich nicht zu erhängen, sondern den Herrn zu bitten, dass ich sterbe und niemals mehr in meinem Leben Schmähungen hören werde. (11) In diesem Augenblick streckte sie die Hände aus zum Fenster und betete und sprach: Gepriesen bist du, barmherziger Gott, und gepriesen (ist) dein Name in Ewigkeiten, und es sollen dich preisen alle deine Werke in Ewigkeit. (12) Und nun habe ich mein Angesicht und meine Augen zu dir erhoben. (13) Befiehl, dass ich von der Erde erlöst werde und dass ich nicht länger Schmähungen hören muss. (14) Du weißt, Herrscher, dass ich rein bin von jeder Verunreinigung mit einem Mann (15) und dass ich weder meinen Namen noch den Namen meines Vaters im Lande meiner Gefangenschaft befleckt habe. Ich bin das einzige (Kind) meines Vaters, und er hat kein anderes Kind, dass es ihn beerben könnte, noch hat er einen nahen Bruder oder Verwandten, dass ich mich ihm als Frau erhalten müsste. Schon sieben sind mir umgekommen. Und wozu dient mir noch das Leben? Und wenn es dir nicht gefällt, mich sterben zu lassen, Herr, so höre nun hin auf meine Schmach.563

Die Suizidgedanken Saras kommen auf, als Sara über ihr Leben Bilanz zieht, nachdem sie von einer Magd564 ihres Vaters „in allen drei Dimensionen ihres Daseins verspottet [wird]: Als Tochter ihres Vaters, als Ehefrau und als mögliche Mutter [...].“565 Als Ehefrau (hinsichtlich ihrer Vergangenheit) erfährt sie Schmähungen (ὀνειδισμοὺς),566 dass sie für den Tod ihrer sieben Ehemänner in der Hochzeitsnacht verantwortlich und nach keinem ihrer Ehemänner benannt sei – und daher über keine soziale Identität verfüge (3,8), als Tochter ihres Vaters (hinsichtlich ihrer Gegenwart), indem sie jeglicher sozialen Integration beraubt wird, weil sie die Mägde mit ihren Problemen nicht quälen, sondern besser zusammen mit ihren Männern sterben solle (3,9), und schließlich als potentielle Mutter (hinsichtlich ihrer Zukunft), dass man weder Sohn noch Tochter von ihr zu Gesicht bekommen mag (3,9).567 In diesen Schmähungen kommt über alle Polemik hinaus eine existenzbedrohende „Wahrheit“ zum Ausdruck: das totale Scheitern Saras in ihren gesamten Daseinsbezügen als Tochter, Ehefrau und Mutter. Saras problematische Situation ist zwar allen bewusst, doch wird sie erst angesichts öffentlicher Schmähungen zum 563

Übersetzung Septuaginta Deutsch, 642f. „Wenn in G I mehrere Mägde Sarra schmähen, so findet sich hier eindeutig eine Tendenz zur Dramatisierung.“ (Ego, Tobit, 1330) 565 Schüngel-Straumann, Tobit, 85. 566 „ὀνειδισμός mehrfach bei Tob 3,4.6.7.10.13.15; 8,10 ist ein ganz zentrales Wort in der LXX und bezieht sich auf den Verlust der Ehre.“ (Schüngel-Straumann, Tobit, 89 Anm. 48) 567 Die Schmähungen der Magd haben nahezu Fluchcharakter. „Wirkungsvoll ist die Formel εἰς τὸν αἰῶνα an das Ende gesetzt. Sie unterstützt die Intention der Rede, gibt ihr fast einen sakralen Charakter.“ (Deselaers, Tobit, 89) 564

158

Eskapistische Selbsttötungen

Ausdruck totalen Scheiterns, denn nun ist auch jeder soziale Halt verloren.568 „Ich habe von manchem Leid gelesen, aber ich zweifle, ob irgendwo sich ein Leid findet, so tief wie das im Leben dieses Mädchens.“569 Saras Reaktionen sind ähnlich wie im Falle Ahitofels, der sich in sein Haus zurückzieht, privater Natur: „Sie trauert in ihrer Seele und weint und steigt hinauf in das Obergemach ihres Vaters.“ (3,10 S).570 Diesem privaten Rückzug entspricht die Art der (überdachten) Selbsttötung durch Erhängen (jeweils formuliert mit ἀπάγχομαι 2 Sam 17,23LXX; Tob 3,10).571 Die Selbsttötung würde im Falle Saras wie im Falle Ahitofels aufgrund des Scheiterns des eigenen Lebensentwurfes („wegen ihres Unglücks“ 3,10) erfolgen und ihren Sinn in der Flucht aus einer unerträglichen Situation existentiellen Scheiterns haben. Der vorgegebene kulturelle Sinnhorizont ist hier jedoch ein anderer: Während im Fall Ahitofels keine Bewertung der Selbsttötung erfolgt, diese also als verständliche sinnvolle Handlung keines Kommentars, aber auch keiner Heroisierung bedarf, erfolgt im Tobitbuch eine negative Bewertung: Der Suizid würde nicht Sara selbst, wohl aber ihrem Vater Schmähungen, Vorwürfe, Beschämungen und Trauer bringen (3,10).572 Hier wird – durchaus in den Kategorien von Ehre und Schande – das Problem bedacht, dass auch die vermeintlich solipsistische Tat des Selbstmörders soziale Auswirkungen auf die nächsten Verwandten hat: Der Suizid erscheint als eine Tat, die man aufgrund der Beziehungen zu seinen Nächsten besser unterlassen sollte.573 Der Grund hierfür liegt zum einen in der Trauer der Verwandten, zum anderen in den zu erwartenden Schmähungen gegen die Verwandten, bedacht aus der Perspektive einer Tochter, deren eigene Ehre in die Familienehre des Vaters eingebettet ist. Doch eine Alternative tut sich auf: Sara kann und will zwar keinen Suizid verüben, aber sie kann Gott bitten, sie sterben zu lassen (3,10). Diese Art von Bitte erweist sich, wie wir schon in einem der ersten Kapitel dargelegt haben,574 als implizites argumentum ad 568 “We should note that both Tobit and Sarah prayed for death only after hearing angry and cutting remarks made by members of their own households. Such remarks are all the more hurtful coming as they do from persons who should, instead, be sources of consolation and comfort.” (Di Lella, Prayers, 99) 569 Kierkegaard, Furcht und Zittern, 116. Zu Kierkegaards Interpretation der Saragestalt vgl. Pyper, ‘Sarah is the Hero’. 570 Möglicherweise hat die Vulgata mit dem Hinweis, dass Sara drei Tage und Nächte im Obergemach bleibt, Saras Suizidgedanken und ihr Gebet mit Jonas Selbstopfer und Gebet verbinden wollen. Zu Jonas Selbstopfer siehe unten das entsprechende Kapitel. 571 Im Hebräischen mit ‫ חנק‬2 Sam 17,23 bzw. ‫ תלה‬Tob 3,10 nach 4Q200,1 ii 3 (vgl. Fitzmyer, Tobit, 153). Zum Suizid des Ahitofel siehe oben das entsprechende Kapitel. 572 Vgl. Daube, Death, 100: “In the original, there is no rejection of suicide as such, it is rejected only because it would reflect on the father’s reputation – he could not look after his daughter, the people would say – and would pine away.” Dass Sara darauf bedacht ist, ihren Vater nicht in die Unterwelt/den Hades (εἰς ᾅδου) zu bringen, schließt an Gen 42,38LXX an (vgl. Beyerle, Belief, 83 mit Anm. 51 im Anschluss an Fitzmyer, Tobit, 153). 573 Eine ähnliche Bewertung findet sich bei Paulus in Phil 1,21–26. Zur Diskussion, ob Paulus in dieser Passage suizidalen Gedanken nachhängt, vgl. Bormann, Reflexionen; Croy, Gain; Droge, Lucrum; ders., Paul, sowie neuerdings Howell, Suicide, 337; Smit, Paulus; Wansink, Chained, 96–125. 574 Siehe dazu oben das Kapitel über Todeswunsch und Selbstmordabsicht am Beispiel von Hiob 7,15f und verwandten Texten.

Eskapistische Selbsttötungen angesichts des Scheiterns fundamentaler Lebensziele

159

deum, nicht das Leben, sondern die Not zu beenden, wie es denn Sara selbst mit ihrer an Gott gerichteten Bitte, entweder ihr Leben zu beenden oder auf ihre Klage zu hören, auch selbst ausdrücklich formuliert (3,15).575 Aus dem Unglück sollen keine Suizidgedanken, sondern soll, wie schon bei Tobit (3,1–6), das Gebet erwachsen: „Und ich war tieftraurig und begann zu weinen, und in dieser Traurigkeit begann ich zu beten“ (Tob 3,1).576 Sara nimmt nicht den „Weg“ (ὁδός) des Suizids, sondern den des Gebets.577 Ihre Familiensolidarität lässt sie den Weg des Lobpreises wählen.578 Vergleicht man die Suizidüberlegungen Saras mit dem Todeswunsch Tobits, wie er in dessen Gebet (Tob 3,1–6) zum Ausdruck kommt, so findet zwar in beiden der Ausspruch „Besser ist der Tod als ein bitteres Leben, und ewige Ruhe als ständige Krankheit.“ (Sir 30,17) eine konkrete individuelle Aktualisierung, doch ein wesentlicher Unterschied zwischen Sara und Tobit besteht nicht nur darin, dass in Tobit keine Suizidgedanken aufkommen, sondern dass die sozialethischen Erwägungen Saras nicht als streng allgemeingültige präsentiert werden, sondern aus der Verantwortung der Frau für die Familie verstanden werden müssen. Während sich nämlich im Gebet Saras „familienethische“ Erwägungen über den Gram und die Ehre des Vaters (ὄνομα bzw. ‫ ;שם‬3,11.15)579 ins Bewusstsein drängen, so sind es im Gebet des Tobit übergreifende nationale Aspekte – das Schicksal und die Sünde Israels –, die zur Sprache kommen.580 Wie auch sonst das Tobitbuch soziale Rollen nach Geschlechtern aufteilt und beschreibt, so scheinen auch die beiden Gebete Saras und Tobits mit ihrem jeweils spezifischen Todeswunsch nach Geschlechterrollen aufgeteilt und formuliert worden zu sein.581 Es ist Sara als Tocher und einziges Kind, die ihre Suizidgedanken mit Rücksicht auf ihren Vater und die Familienehre in ein Gebet mit Todeswunsch transformiert. Die Rücksicht des Sohnes auf die Mutter hinsichtlich des eigenen Todes scheint erst später denk- und formulierbar geworden zu sein: „Bei der Vorstellung von meinem eigenen Tod (so wie sie jeder hat) fügte ich der Gleichheit, der Angst, zu früh zu sterben, die des unerträglichen Leids hinzu, das ich ihr antun würde.“582

575

“Implicit in her prayer is a theology that the Lord does indeed hear the prayers of his people and knows how he will respond in the best possible way to their complaints about the intractable grief and sorrow they experience.” (Di Lella, Prayers, 114) 576 Übersetzung nach Schüngel-Straumann, Tobit, 77. 577 ὁδός ist ein Leitwort im Buch Tobit, vgl. Deselaers, Tobit, 343–348. 578 Solidarisches Handeln und Lobpreis sind zwei weitere Grundmotive des Buches, vgl. Deselaers, Tobit, 348–362. 579 ‫ שם‬ist auch im aramäischen Fragment 4Q196,6,10 zu Tob 3,15 rekonstruierbar; vgl. Fitzmyer, Tobit, 155. 580 Vgl. jedoch auch Tobits familienethische Gebote an seinen Sohn, die Mutter stets zu ehren (Tob 4,3f). 581 Vgl. Bow/Nickelsburg, Patriarchy, bes. 129f.134.138f.141; Moore, Tobit, 153; SchüngelStraumann, Tobit, 90 mit Hinweis auf Griffin, Prayer, 135f. Vgl. auch Di Lella, Prayers, 110.112. Zu einem Vergleich von GI und GII im Hinblick auf das Endogamiethema vgl. Nicklas, Marriage. 582 Barthes, Tagebuch der Trauer, 257 (Hervorhebung im Original) in Hinblick auf seine Mutter.

160

Eskapistische Selbsttötungen

c) Der weise Seher Amenophis In den ägyptischen Texten, die von Bilanzsuiziden berichten, ist bezeichnend, dass zwei von ihnen den Bilanzsuizid aus der Weigerung resultieren lassen, eine verheerende Botschaft über ein Unglück persönlich zu überbringen, für welches der Protagonist ganz oder zumindest teilweise selbst verantwortlich ist. Einen bevorstehenden Untergang muss der weise Amenophis am Hofe des Pharao Amenophis III. (1390–1352 v.Chr.) für sich und seinen König vorhersehen, wie die Legende583 Manethos bei Josephus584 (c. Apion. I 26 §§ 232–236) berichtet. Josephus hatte in seinem Buch Contra Apionem den ägyptischen Priester und Historiographen Manetho (4./3. Jh. v.Chr.)585 und dessen Aigyptiaka anfangs positiv als Zeuge für das hohe Alter des Judentums angeführt, nun jedoch setzt er sich kritisch mit den „Anschuldigungen und Verleumdungen“ (τὰς διαβολὰς καὶ τὰς λοιδορίας; I 24 § 219) des Judentums auseinander, die er auch schon bei Manetho vorzufinden glaubt.586 Tatsächlich jedoch bezieht sich Josephus auf eine von späteren Bearbeitern revidierte Version der Aigyptiaka, und die Identifizierung des aussätzigen Priesters Osarsiphos mit Mose findet sich wahrscheinlich nicht schon bei Manetho, sondern erst in „diesem antijüdisch gefälschten Manethon.“ 587 Hinzu kommt das Problem, dass Josephus den Abschnitt über den Selbstmord des Sehers Amenophis nicht wörtlich zitiert – wie den direkt anschließenden Text (§§ 237ff)588 –, sondern frei paraphrasiert. Das macht es umso schwieriger, in diesem Abschnitt zu entscheiden, welche Inhalte und Formulierungen von Manetho, von einem späteren Bearbeiter oder gar von Josephus selbst stammen. König Amenophis589 teilt seinem weisen Seher Amenophis, dem Sohn des Paapios,590 den Wunsch mit, die Götter zu schauen. Der Seher antwortet ihm, dass 583

Ihr historischer Wert ist gering; vgl. Siegert, Josephus, 41. Zu den zahlreichen von Josephus beschriebenen Selbsttötungen vgl. etwa die Überblicke bei Droge/Tabor, Death, 86–96; Hankoff, View; ders., Transition; Newell, Suicide Accounts, 352–359; ders., Forms; außerdem noch Swoboda, Tod, passim. Literatur zu Einzeldarstellungen von besonderen Suiziden bei Josephus wird in den thematisch entsprechenden Kapiteln gesondert angegeben. 585 Vgl. zu Manethos Leben und Werk Verbrugghe, Manetho, 95–115. Zu den von Manetho wahrscheinlich verwendeten Quellen vgl. Krebsbach, Manetho, 104–107. Kritische Reflexionen zu der Frage nach den Quellen und Überarbeitungen bei Quack, Reiche, 16–18. Dillery, History, versucht, die Gattung einer ägyptischen Königsnovelle in Manethos Erzählung zu erschließen. In der vorliegenden Erzählung scheint Manetho die narrativen Formen der Königsnovelle und der Chaosbeschreibung miteinander verbunden zu haben (vgl. ders., Manetho, 48f). Kritisch zum Begriff der Königsnovelle Quack, Hofstaat, 282–286. 586 Vgl. dazu van Henten/Abusch, Depiction; Labow, Josephus, 220ff. 587 Siegert, Josephus, 45; vgl. auch Verbrugghe, Manetho 115–118; Gmirkin, Manetho, 195; Labow, Josephus, 247. Van Henten/Abusch, Depiction, 289 entwickeln die These, “that in Egypt the Jews were stereotypically depicted as worshippers of Seth-Typhon. […] the Jews are identified as foreigners who should be removed from Egypt in order to safeguard Egyptian or Graeco-Egyptian society.” (289) 588 Dieser wird eingeleitet mit den Worten κἄπειτα κατὰ λέξιν οὕτως γέγραφεν. 589 Tatsächlich dürfte Amenophis III. (1390–1352) die historische Figur sein, die Manetho im Blick hatte; vgl. Helck, Untersuchungen, 40.43f; Labow, Josephus, 251.255 Anm. 29. Kritisch zu dieser weit verbreiteten These Gmirkin, Manetho, 198. 584

Eskapistische Selbsttötungen angesichts des Scheiterns fundamentaler Lebensziele

161

er nur bei Reinigung des Landes von den Aussätzigen die Götter schauen könne. Nachdem der König alle körperlich Verstümmelten einschließlich der aussätzigen Priester in Steinbrüchen zusammengepfercht hat, fährt der Text fort: Flav.Jos.cAp. I 26 § 236: τὸν δὲ Ἀμένωφιν ἐκεῖνον, τὸν σοφὸν καὶ μαντικὸν ἄνδρα, ὑποδεῖσαι πρὸς αὐτόν τε καὶ τὸν βασιλέα χόλον τῶν θεῶν, εἰ βιασθέντες ὀφθήσονται. καὶ προσθέμενον εἰπεῖν, ὅτι συμμαχήσουσί τινες τοῖς μιαροῖς καὶ τῆς Αἰγύπτου κρατήσουσιν ἐπ᾽ ἔτη δεκατρία, μὴ τολμῆσαι μὲν αὐτὸν εἰπεῖν ταῦτα τῷ βασιλεῖ, γραφὴν δὲ καταλιπόντα περὶ πάντων ἑαυτὸν ἀνελεῖν, ἐν ἀθυμίᾳ δὲ εἶναι τὸν βασιλέα. Jener Amenophis aber, der weise und weissagende Mann, habe für sich selbst und den König den Zorn der Götter befürchtet, wenn sie [sc. die Götter] sähen, dass ihnen [sc. den Priestern ebenfalls] Gewalt angetan würde. Und er habe hinzugefügt, dass sich irgend welche (anderen) mit den Unreinen verbünden und 13 Jahre über Ägypten herrschen würden, aber nicht gewagt, dies dem König selbst zu sagen, und daher einen Brief über alles hinterlassen und sich selbst getötet; mutlos aber sei (da) der König geworden.591

Josephus selbst versucht, den Bericht des Manetho zu widerlegen, indem er unter anderem auch Personen und Darstellungen um den König Amenophis und seinen Seher diskreditiert. Josephus hält den König Amenophis für einen „erschwindelten Namen“ (ψευδὲς ὄνομα; § 230), den Manetho hier nur eingeschoben habe (εἰσποιήσας ἐμβόλιμον; § 232), um ihm irgendwelche Dichtungen (τινὰς μυθολογίας; § 230) anzuhängen. Auch der für ägyptische Verhältnisse merkwürdige Wunsch des Königs, die Götter zu „schauen“, wird von Josephus nicht nur kritisiert, sondern auch karikiert (§§ 254f).592 Der weise Seher Amenophis bekommt von Josephus ebenfalls sein Fett weg: Wenn der Mantiker593 so weise gewesen wäre, hätte er doch sowohl seinen Selbstmord als auch das Scheitern des ganzen Projektes voraussehen müssen (§§ 256–259).594 Vor allem: Für völlig unvernünftig hält Josephus die Furcht vor zukünftigem Unglück, das man selbst nicht mehr erlebt, und Schlimmeres als den eigenen Tod kann man doch kaum erleiden (§ 259). Hier missversteht Josephus jedoch den Text, den er selbst paraphrasiert, und misst die beschriebenen Handlungen des Sehers an seinen eigenen Maßstäben: Denn für den Seher gibt es ein Unglück, das größer ist als sein eigener Tod, und dieses betrifft das Scheitern aller Bestrebungen, für die sein König und er selbst eingetreten sind, und eine Zukunft, die nur als Chaos und Gottesferne in das Blickfeld 590 Wahrscheinlich steht hier die historische Figur des Schreibers sowie Bau- und Festleiters Amenḥotep, Sohn des Ḥapu, Pate; vgl. etwa Waddel, Manetho, 122f Anm. 1 (Lit.); Helck, Amenophis; Wildung, Imhotep und Amenhotep. 591 Übersetzung nach Labow, Josephus, 259. Für eine ebenfalls neue englische Übersetzung vgl. Barclay, Against Apion, 135f. 592 Üblicherweise wird dieser Wunsch dahingehend interpretiert, dass die Götter Ägypten verlassen haben; vgl. beispielsweise Dillery, History, 107f. Dillery, Josephus, interpretiert diesen Wunsch im Zusammenhang mit dem griechischen Begriffs θεατὴς und den König Amenophis entsprechend als “contemplator of the gods”. Van Henten/Abusch, Depiction, 277 Anm. 16 halten diesen Wunsch für eine mögliche Erfindung des Josephus, um seinen Gegner umso leichter zu widerlegen. 593 Der Begriff μάντις wird von Josephus dem Seher beigelegt; vgl. Labow, Josephus, 270 Anm. 95. 594 Die Prophezeiung des Sehers ist wohl in Parallele zu den in gräko-ägyptischer Literatur umlaufenden Prophezeiungen zu lesen wie beispielsweise dem sogenannten Töpferorakel (dazu Quack, Einführung, 178–181 mit weiterer Literatur).

162

Eskapistische Selbsttötungen

gerät. Um dieses Scheitern und diese Zukunft nicht erleben zu müssen, flieht der Seher aus dem Leben – das eskapistische Moment der beschriebenen Handlung ist deutlich: Der Seher sieht angsterfüllt (ὑποδεῖσαι) den Zorn (χόλος) der Götter gegen sich und den König sowie das Scheitern aller Bemühungen um die Reinigung des Landes voraus. Seine Reaktion ist ähnlich wie im Falle Ahitofels, Saras und Judas ein Rückzug aus der Öffentlichkeit und eine anschließende Selbsttötung: Angesichts des ausweglosen, von den Göttern erzwungenen Scheiterns von König, Wesir und Land vermeidet Amenophis die persönliche Überbringung der Botschaft an den Pharao, hinterlässt statt dessen das Orakel auf Papier und tötet sich selbst (ἑαυτὸν ἀνελεῖν). Eine solche Weigerung zur persönlichen Überbringung einer verheerenden Botschaft findet sich auch in der folgenden Erzählung über Naneferkaptah.595 d) Naneferkaptah Auf einem demotischen Papyrus der ptomeläischen Zeit ist die sogenannte Erste Setnegeschichte über den Hohepriester Setne, einen Sohn von Ramses II. (1279– 1212 v.Chr.) überliefert.596 Teil dieser Geschichte ist eine Erzählung über den weisen und zauberkundigen, aber auch „faustische[n], nach Schriften süchtige[n] und wissensdurstige[n]“597 Prinzen Naneferkaptah, der das Zauberbuch des Schreiberund Weisheitsgottes Thot aus dem „Meer“ von Koptos birgt und dafür auf eine Weise bestraft wird, dass er keinen anderen Ausweg sieht, als einen Bilanzsuizid zu begehen. Setne gelangt auf der Suche nach ebendiesem Zauberbuch in das Grab des Naneferkaptah. Dessen ebenfalls verstorbene Frau Ahure erzählt Setne die Geschichte des Scheiterns ihres Mannes, dessen Suche nach dem Zauberbuch mit dem Untergang seiner Familie und seinem eigenen Tod endet: Nachdem der Prinz das Buch aus dem Meer geborgen hat, erzürnt Thot dermaßen, dass er in Absprache mit Re, der „allein derartige Todesurteile autorisieren kann“,598 zur Strafe einen Dämonen gegen Naneferkaptah und seine Familie ausschickt. Folglich wird berichtet, dass erst Naneferkaptahs einziger Sohn und sodann seine Frau Ahure (die Erzählerin der Geschichte) vom Schiff ins Meer fallen und ertrinken. Daraufhin bilanziert der Prinz sein Scheitern und kommt zu folgendem Entschluss: Erste Setnegeschichte 4,17–20: Er sprach mit seinem Herzen: „Werde ich nach Koptos gehen können, und werde ich dort wohnen? Oder wenn ich nach Memphis gehe – sowie Pharao mich nach seinen Kindern fragt, was ist das, was ich ihm sagen werde? Werde ich sagen können: ‚Ich nahm deine Kinder zu dem Gau von Theben. Ich habe sie getötet, während ich lebe. Ich bin sogar nach Memphis gekommen, während ich lebe.‘?“ Er ließ ein Band von ihm gehörendem Byssos vor sich bringen. Er machte es als …-Binde. Er band das Buch (fest). Er gab es an seinen Leib. Er ließ es fest sein. Naneferkaptah kam unter dem Schatten(dach) des shre.tSchiffes Pharaos heraus. Er fiel in den Fluß. Er ertrank. Alle Leute, die an Bord waren, schrien alle,

595

Zu Beziehungen zwischen Manetho und Naneferkaptah vgl. Dillery, History, 109f. Zur historischen Gestalt des Prinzen vgl. Gomaà, Chaemwese. 597 Stadler, Weiser und Wesir, 77. 598 Quack, Gerechtigkeit, 141. Zu Re als Rechtsgott vgl. Barta, Re, 160f. 596

Eskapistische Selbsttötungen angesichts des Scheiterns fundamentaler Lebensziele

163

sagend: „Großes Weh! Böses Weh! zurückkehren, der gute Schreiber, der Gelehrte, wie welcher kein anderer gewesen ist?“599

Mit dem Selbstmord kommt Naneferkaptah dem Schicksal entgegen, das Thot in seinem Zorn Naneferkaptah und seiner Familie zugedacht hat. Anstatt unbeabsichtigt, wahrscheinlich durch den Dämon getrieben, in den Fluss zu fallen und zu ertrinken wie Sohn und Frau, wählt Naneferkaptah eben diesen Tod durch Ertrinken bewusst – möglicherweise auch deshalb, um die Tat vor Thot und Re zu sühnen: Naneferkaptah “realizes the gravity of what he has done (as does Setne, more or less), and pays the penalty with his own life, thus apparently making amends for his crime against Thot.”600 Für das Verständnis des Textes ist jedoch noch wichtiger zu verstehen, dass das Bilanzieren des eigenen Scheiterns dieses Scheitern in Hinsicht auf einen Anderen bedenkt: den Pharao mit seinen Ansprüchen. Vor seinem Vater zu scheitern, grämt den Sohn dermaßen, dass er keinen anderen Ausweg sieht, als sich im Fluss zu ertränken. Bezeichnenderweise nennt Naneferkaptah das eigene (und einzige) Kind „seine Kinder“ – also diejenigen Pharaos. Im Hintergrund steht das Wissen um den Wunsch des Vaters zu Beginn der Erzählung, die Königsfamilie über Naneferkaptah und Ahure hinaus zu vergrößern. Der Tod von Sohn und Frau zerstört deshalb auch die Vorsorge um den königlichen Familienbestand und bedroht die Dynastie. Letztlich resultiert der Bilanzsuizid Naneferkaptahs aus der Weigerung, dem Vater die verheerende Botschaft persönlich zu überbringen – ganz ähnlich wie der weise Amenophis sich weigert, seine verheerende Prophezeiung dem Pharao persönlich zu unterbreiten: „Naneferkaptah begeht Selbstmord“601 auf eine Weise, die ihn dasselbe Schicksal erleiden lässt wie seinen Sohn und seine Frau: den Tod durch Ertrinken, der allerdings nicht in der Gefahr des endgültigen Todes durch Auflösung des Leichnams steht, weil der zauberkundige Prinz in der Lage ist, die Leichname von sich und seiner Familie wieder an die Oberfläche zu holen, um sie ein angemessenes Begräbnis finden zu lassen. Und am Ende der Erzählung jubeln alle drei darüber, dass Setne mit einem gegabelten Stock in der Hand und einem Feuerbecken auf seinem Haupt (vgl. Spr 25,21f; Röm 12,20)602 das geraubte Buch zurückbringt603 und die drei Verstorbenen in einem Grab zusammenführt. e) Paibēse Die hier nur kurz zu besprechende Selbsttötung eines Richters ist zwar auf älteren Quellen als die beiden vorhergehenden überliefert, doch hat sie sich zu späterer Zeit 599 Übersetzung nach Hoffmann/Quack, Anthologie, 144. Eine neue Bearbeitung mit Umschrift und Übersetzung findet sich bei Goldbrunner, Gelehrte, 14f. Vgl. auch Griffith, Stories, 28.112– 115; Lichtheim, Literature 3, 132. 600 Jasnow, Pharaoh, 75. Bezeichnenderweise heißt es auch wörtlich zum Ertrinken von Sohn, Frau und Prinz, dass sie zu solchen werden, die den Sonnengott loben. Anders Botta, Sin, 239 und 241: “Naneferkaptah prefers to keep the Book and kill himself than to attempt any sort of reconciliation with Thot. […] Naneferkaptah persisted in his obstinate attitude.” 601 Quack, Gerechtigkeit, 140. Vgl. Botta, Sin, 236: “Naneferkaptah commits suicide”. 602 Dazu Morenz, Kohlen auf dem Haupt. 603 Kritisch zur Rückgabe des Buches Botta, Sin, 241.

164

Eskapistische Selbsttötungen

zugetragen: zur Zeit der später noch ausführlich zu besprechenden Haremsverschwörung unter Ramses III. (1186–1154 v.Chr.).604 Die Verschwörung gegen den Pharao wird entdeckt, und es kommt zu einem Prozess gegen die Verschwörer. Anschließend töten sich nicht nur einige der hochrangigen Verschwörer, um der drohenden Todesstrafe zu entgehen, sondern auch einer der Richter. Dieser Richter war während des Prozesses zusammen mit einem Schreiber, einem Soldaten und einem Polizeichef in ein Gelage mit den Verschwörerinnen verwickelt, weshalb ihnen Nase und Ohren als Schandstrafe605 abgeschnitten wurden. Interessanterweise kann nur der erstgenannte der Geschändeten, auffälligerweise ein hochrangiges Mitglied des Richterkollegiums, diese Schandstrafe nicht ertragen und tötet sich selbst: Pap. Jur. Turin VI 1f: Persons who were punished by cutting off their noses and ears, because they had ignored the good instructions given to them. The women had gone. They had reached them at the place where they were. They had revelled with them and with Pais. Their crime caught up with them. The great criminal Pabes, who had been a butler.606 The punishment was carried out on him: he was left (alone), and he took his own life (Ïw.tw w#H.f Ïw.f mt n.f Ds.f).607

Wie in den Beschreibungen der Suizide der hochrangigen Verschwörer werden auch in diesem Fall ganz ähnlich die Formeln Ïw.tw w#H.f („er wurde sich überlassen“) und Ïw.f mt n.f Ds.f („er starb durch sich selbst“) verwendet.608 Der Charakter des Bilanzsuizids ist in diesem speziellen Fall jedoch offensichtlich: Eben noch ein wichtiges und hochrangiges Mitglied im Richterkollegium, begeht Paibēse ein unverzeihliches Sakrileg, indem er sich als Richter während des Prozesses auf ein Gelage mit den Verschwörerinnen einlässt. Die Schandstrafe des Abschneidens von Nase und Ohren beraubt ihn jeder Ehre und stellt seinen schändlichen Zustand unwiderruflich für alle Zeiten der Öffentlichkeit vor Augen. Dieser ehrlosen Situation entflieht Paibēse durch Selbsttötung. Seine Entscheidung ist jedoch eine individuelle, denn seine Mitangeklagten, denen die gleiche Strafe widerfährt, entfliehen ihrer Situation allem Anschein nicht durch einen Bilanzsuizid.609 Exkurs 1: Onnes, Semiramis, Thisbe und Pyramus Von einer weiteren Selbsttötung durch Erhängen im syrisch-palästinischen Raum berichtet eine griechische Legende, die Ktesias von Knidos (4. Jh. v.Chr.) überliefert, nämlich die Selbsttötung des syrischen Generals und Provinzverwalters Onnes610 unter dem sagenhaften ersten König Ninos von Assyrien: Onnes hatte die

604 Siehe dazu ausführlich unten das Kapitel über die Haremsverschwörung unter Ramses III. Dort auch ausführliche Angaben zu Quellen und Literatur. 605 Zur Bedeutung von Schandstrafen siehe oben das Kapitel über Ehre und Schande des sozialen Status (Statusehre und Statuserniedrigung). 606 Außerdem wird Paibēse vorher im Text (II 2) als Mitglied des Richterkollegiums angeführt. 607 Umschrift und Übersetzung nach Peden, Inscriptions, 206–209. 608 Zu diesen Formeln und ihren Varianten siehe unten das Kapitel über die Haremsverschwörung unter Ramses III. 609 Pap. Jur. Turin VI 3; vgl. II 3. 610 Onnes ist ein phrygischer Name, vgl. Zwicker, Ὄννης, 482.

Eskapistische Selbsttötungen angesichts des Scheiterns fundamentaler Lebensziele

165

überaus schöne Semiramis611 geheiratet – deren göttliche Mutter Derketo von Askalon versucht hatte, sich im See zu ertränken612 – und sollte sie unter Androhung von Blendung an Ninos abtreten. Onnes musste sich Ninos beugen,613 und aus Furcht sowie aus Liebe zu Semiramis soll sich der „fou d’amour“614 in Manie einen Strick um seinen Hals gebunden und erhängt haben: Diodor 2.6.10: Ό dὲ Ὄννης ἅμα μὲν τὰς τοῦ βασιλέως ἀπειλάς δείσας, ἅμα δὲ διὰ τὸν ἔρωτα περιπεσὼν λύσσῃ τινὶ καὶ μανίᾳ, βρόχον ἑαυτῷ περιθεὶς ἀνεκρέμασεν.615 Onnes aber, teils weil er die Drohungen des Königs fürchtete, teils weil er aus Liebe zu seiner Frau in eine Art Manie verfiel, legte sich selbst einen Strick um und erhängte sich.

Diese Erzählung ist stark griechisch geprägt, denn gerade die Griechen (und später die Römer) kultivierten die Erzählung von Selbstmorden im Kontext des verzweifelten Liebeslebens. Deshalb wird hier auch nicht einfach nur Bilanz gezogen, so als wenn die Unmöglichkeit, die eigene Frau zu halten, für den Ehemann eine solch negative Bilanz des eigenen Lebens wäre, dass er freiwillig aus ihm scheidet. Vielmehr wird hier eine Ursache benannt, die typisch ist für die griechisch-römische Vorliebe für Erzählungen über affektive Verstrickungen im Liebesleben: Es ist nicht der resümierend Bilanz ziehende, sondern der manisch verliebte Onnes, der sich aus Furcht und Verzweiflung über den Verlust seiner geliebten Semiramis erhängt. Semiramis wird daraufhin die Königsgattin des Ninos und entfaltet – so die zahlreichen Legenden616 – ihre Fähigkeiten als Königin, selbst noch über den Tod ihres Gemahls hinaus. Über ihren Tod herrscht unter den antiken Autoren fast Einigkeit: „In fast allen Überlieferungen stirbt Semiramis durch die Hand ihres Sohnes.“617 Der römische Schriftsteller Hyginus Mythographus (ca. 2. Jh. n.Chr.) erwähnt jedoch in einer Liste über Selbstmord begehende Frauen, dass Semiramis sich wegen des Todes ihres geliebten Pferdes auf der πυρά verbrannt habe:

611 Bei Semiramis handelt es sich ursprünglich wohl um die neuassyrische Königin und Königinmutter Sammuramât, die Frau von Šamši-Adad V. (ca. 824–811 v.Chr.) und Mutter von Adad-nirari III. (ca. 811–783 v.Chr.). Vgl. dazu Frahm, Semiramis, 378 und ausführlich Pettinato, Semiramis, 24–44; kritisch dazu Rollinger, Semiramis, 385 (Lit.). 612 Die Fruchtbarkeitsgöttin Derketo habe laut Ktesias Verkehr mit einem syrischen Jüngling gepflegt, eine Tochter (Semiramis) geboren und sich dann aus Scham in den See gestürzt, wo ihr Leib in einen Fisch verwandelt wurde (Diodor 2.4.2f). 613 Vgl. Comploi, Semiramis, 224, die zu Recht betont, dass Ninos und nicht Semiramis die treibende Kraft hinter der Eheschließung zwischen Ninos und Semiramis ist. 614 Auberger, Ctésias Romancier, 61. 615 Text nach Lenfant, Ctésias, 31f. 616 Pettinato, Semiramis, 10 unterscheidet zwischen einer griechisch-persischen Legende (überliefert von Ktesias/Diodor), einer griechisch-ägyptischen Legende (überliefert im Ninos-Roman) und einer armenischen Legende (überliefert von Moses von Chorene). „Rund um diese drei Hauptstränge der Überlieferung finden die Aussagen ihren Platz, die über Semiramis in der griechischen und lateinischen Literatur gemacht werden.“ 617 Pettinato, Semiramis, 271. „Die Umstände des Todes von Sammuramat, der geschichtlichen Semiramis, sind gänzlich ins dunkel getaucht.“ (ebd. 269. Hervorhebung im Original)

166

Eskapistische Selbsttötungen

Hyg.Fab. 243.8: Semiramis in Babylonia equo amisso in pyram se coniecit. Semiramis, in Babylonien, hat sich auf den Scheiterhaufen geworfen, nachdem das Pferd verlustig ging.

Selbstverbrennungen werden zumeist Anführern und Königen zugeschrieben, die sich in militärisch aussichtsloser Lage befinden.618 Dass hier dennoch von einer Selbstverbrennung der Semiramis berichtet wird, liegt wohl an ihrer Gestalt als legendäre Königin. Der Kontext ist allerdings ein völlig anderer als bei den oben berichteten Selbstverbrennungen, denn in der hier vorliegenden Notiz geht es wohl um einen Bilanzsuizid aus Trauer um den Verlust ihres geliebten Pferdes. Der Hinweis auf das Pferd der Semiramis stellt Semiramis einerseits in die Nähe der PferdeGöttin Anat, Astarte oder Ištar,619 lässt andererseits aber auch den Vorwurf der Sodomie anklingen, wie vor allem Plinus der Ältere ausführt (equum adamatum a Samiramide usque in coitum Iuba auctor est; Nat. Hist. 8.64). In jedem Fall findet sich auch hier ein typisch griechisch-römisches Moment bei berichteten Bilanzsuiziden im Gegensatz zu denen der Bibel und des Alten Orients: Während dort das eigene Leben in seinem Scheitern auf ganzer Ebene bilanziert wird, steht bei den Bilanzsuiziden der klassischen Antike das Liebesunglück im Vordergrund. So auch bei der römischen Erzählung über das in den altorientalischen Quellen nicht bekannte babylonische Liebespaar Thisbe und Pyramus, über das vor allem Ovid berichtet (Met. 4.55–166), das aber auch von dem eben zitierten Hyginus Mythographus erwähnt wird – und zwar direkt vor dem Hinweis auf den Selbstmord der Semiramis in derselben Liste über Suizid begehende Frauen: Thisbe Babylonia propter Pyramum, quod ipse se interfecerat („Thisbe von Babylonien wegen Pyramus, weil er sich selbst getötet hatte.“ Hyg.Fab. 243.8). Ähnliches gilt von Dido, der sagenhaften ersten Königin von Karthago, die sich aus Liebe für Aeneas selbst tötet (Dido Beli filia propter Aeneae amorem se occidit. Hyg.Fab. 243.8), um der Ehe mit Iarbas zu entgehen (vgl. Justin 18.6; Verg. Aen 4.659ff).620 Exkurs 2: Kleopatra – ritueller Selbstmord? Bei der Selbsttötung Kleopatras stehen wir vor der Schwierigkeit, keine ägyptischen, sondern nur römische – und wohl stark fabulierende – Quellen zu besitzen, die von ihrem Tod berichten. Kleopatras Selbsttötung lässt sich nach diesen Quellen sowohl als eine solche in militärisch aussichtsloser Lage als auch angesichts des Scheiterns sämtlicher Lebensziele begreifen, denn nach der Niederlage gegen Octavian bei der Seeschlacht von Actium, der Kapitulation des Landheeres und der Eroberung Alexandrias (31/30 v.Chr.) verweigert Octavian ihr und ihren Kindern die Herrschaft über Ägypten – das endgültige Scheitern der Gründung einer neuen römisch-ptolemäischen Dynastie – und droht, sie im Triumphzug in Rom des sozialen Todes zu überführen: „auf die Gefangennahme der K[leopatra], die seinen Tri618 Siehe dazu oben die entsprechenden Kapitel über eskapistische Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage. 619 Vgl. beispielsweise Weinfeld, Semiramis, der allerdings anstelle von Ištar neben Anat und Astarte vor allem die Göttinnen Aphrodite und Ascherah in Betracht zieht. 620 Vgl. auch schon Timaios von Tauromenion (FGrHist 566 F 82).

Eskapistische Selbsttötungen angesichts des Scheiterns fundamentaler Lebensziele

167

umphzug schmücken sollte, hatte Octavian es abgesehen.“621 Um einer Schande zu entgehen, wie sie einst ihre Schwester Arsinoë unter Caesar erlitten hatte, wählt Kleopatra, nach Plutarch zusammen mit ihren Dienerinnen Iras und Charmion (Plut. Ant. 85.4),622 lieber einen Suizid als einen sozialen Tod durch demütigende Zurschaustellung im Triumph und anschließendes Exil oder möglicherweise sogar als ein unrühmliches Ende von fremder Hand im Tullianum. „Auf die Information, sie solle nach Rom gebracht und im Triumphzug Oktavians mitgeführt werden, beging Kleopatra wohl am 10. August 30 im Alter von 39 Jahren Selbstmord, wahrscheinlich im Grabmonument, das sie für sich selbst hatte errichten lassen und in dem nun schon ihr Geliebter ruhte.“623 Dabei ist die Drohung des Augustus, Kleopatra in seinem Triumph vorzuführen, wohl keine leere Drohung gewesen, wie die später tatsächlich mitgeführte Statue der Kleopatra im Triumphzug erkennen lässt.624 Über die Art des Todes streiten die antiken Quellen und die Historiker. Die bekannteste Version ist der ehrenvolle und symbolträchtige Suizid Kleopatras durch Schlangenbiss. Zwar ist dieses Ende historisch umstritten625 und Kleopatra wohl eher durch eine Giftinjektion626 oder einen Gifttrank627 ums Leben gekommen, „so hat doch Augustus durch die in seinem Triumphzuge mitgeführte Statue der Königin mit der Schlange dem Schlangentode der Kleopatra die amtliche Beglaubigung gegeben, zu der sich auch Horaz in seiner Triumph-Ode (1.37) bekannt hat.“628 Horaz 1.37: Sie hat die Stirn, betritt noch mit heiterem Blick / Die nun in Trümmer sinkende Königsburg / Greift kühn dann zum Gezücht der Nattern, / Tränkt ihre Brust mit dem schwarzen Gifte, / In freiem Tode

621 Stähelin, Kleopatra, 774. Anders beispielsweise Grant, Kleopatra, 310: „Der Bericht, Octavian wollte die Königin in seinem Triumphzug mitführen, ist wahrscheinlich falsch.“ 622 Zum Phänomen des Gefolgschaftstodes siehe unten die entsprechenden Kapitel. 623 Schäfer, Kleopatra, 247f. 624 Es ist die Frage, ob Octavian tatsächlich eine Frau hätte hinrichten oder nicht doch eher ins Exil schicken lassen. Immerhin gilt es zu bedenken, dass Octavian Antyllos und Caesarion töten ließ, um gar nicht erst Hoffnungsschimmer auf eine Weiterführung der Ptolemäerdynastie bestehen zu lassen. Hätte er Kleopatra im Exil leben lassen können, ohne Widerstand aufkeimen zu lassen? Am Ende kam der Selbstmord Kleopatras Octavian wahrscheinlich sehr gelegen – möglicherweise hat er ihn bewusst in Kauf genommen und Kleopatra Gelegenheit zum Suizid gegeben. 625 Zur Kritik vgl. beispielsweise Grant, Kleopatra, 313: „Die Version, daß sie an einem Schlangenbiß gestorben ist, hat sich durchgesetzt. Aber vielleicht gab man dieser Legende den Vorzug, weil auf der Statue der Göttin Isis oft eine Schlange zu sehen war. Das trifft auch auf Statuetten zu, die man in Rom gefunden hat. Die Statue Kleopatras, die im Triumphzug mitgeführt wurde (Properz hat sie mit eigenen Augen gesehen), ist vielleicht ein Götterbild der Isis oder der als Isis gekleideten Kleopatra gewesen. Das könnte die Zuschauer zu dem Glauben veranlaßt haben, eine Schlange habe den mysteriösen Tod der Königin verursacht.“ 626 Schäfer, Kleopatra, 248 ist der Ansicht, dass die Königin den Tod durch Schlangenbiss inszenierte, tatsächlich aber an einer Giftinjektion starb: „Die Königin starb, so attraktiv der Schlangenbiss auch für Kunst und Literatur sein mag, wohl eher an einer Injektion in den Arm. Sie hat aber mit Blick auf die religiösen Vorstellungen ihrer Untertanen ihren Tod offenbar so inszeniert, als ob sie von einer Schlange gebissen worden sei.“ 627 Aus rechtsmedizinischer Perspektive hält Dietrich Mebs einen Gifttrank aus Schierling und Opium für am Wahrscheinlichsten (vgl. Mebs, Schlangenbiss). 628 Spiegelberg, Kleopatra, 3. Vgl. auch Stähelin, Kleopatra, 778 mit den antiken Quellenangaben.

168

Eskapistische Selbsttötungen

selbst noch von höchster Art; / Denn sie versagt den römischen Seglern stolz, / Sie schmachvoll, bar der Königswürde / Welch eine Frau! – im Triumph zu zeigen.629

Die Uräusschlange gilt in Ägypten seit alters als ein göttliches und königliches Schutzsymbol. Typisch ist beispielsweise die Darstellung einer kleinen, sich aufbäumenden Uräusschlange an der Stirn von Göttern und Pharaonen zur Abwehr der Feinde. Mit dem Tod durch Schlangenbiss inszeniert Kleopatra deshalb bis zuletzt ihren Status als Königin: “Her death was, therefore, a true suicide, albeit in a manner especially befitting an Egyptian queen.”630 Plutarch unterstreicht diese Perspektive in seiner Darstellung: Die ebenfalls sterbende Dienerin Charmion631 versucht noch in ihrem eigenen Sterben, das Diadem an der Stirn Kleopatras zurechtzurücken und begründet ihr Handeln mit den Worten, dass solches freilich schön und schicklich für einen Nachkommen von so vielen Königen sei (κάλλιστα μὲν οὖν […] καὶ πρέποντα τῇ τοσούτων ἀπογόνῳ βασιλέων; Plut. Ant. 85.4). Wie auch immer Kleopatra tatsächlich gestorben ist, Octavian und die Nachwelt wollten dieses Ereignis als einen sinnträchtigen und symbolträchtigen Selbstmord im kollektiven Gedächtnis verankern: „Oktavian gewährte Kleopatra in der römischen Öffentlichkeit, so könnte man es deuten, den Ruhm des quasi rituellen ägyptischen Selbstmords.“632

Eskapistische Selbsttötungen in gesellschaftlichen Krisenzeiten (anomische Suizide) Eskapistische Selbsttötungen erscheinen nicht nur als letzter Ausweg aus militärischen Notlagen oder aus Situationen privaten Scheiterns, sondern auch aus gesellschaftlichen Krisenzeiten. Schon Emile Durkheim hat die These aufgestellt, dass Selbstmorde in Krisenzeiten, zu denen nicht nur wirtschaftlicher Verfall, sondern alle Symptome gehören, die auf eine grundsätzliche Normlosigkeit in sozialen Fragen des Lebens hinweisen, zunehmen.633 Auch in diesen Fällen geht es um soziale Anerkennung. Soziale Anerkennung in einer geregelten Welt mit vorgegebenen Rollen und entsprechendem Ansehen verschafft Daseinsberechtigung. Die Anthropodizee der eigenen Existenz konstituiert sich durch den Akt der Anerken629

Übersetzung nach Baumann, Kleopatra, 120. Griffiths, Cleopatra, 115. Vgl. auch Clauss, Kleopatra, 102. Darüber hinaus könnte diese Form der Selbsttötung auch eine tragische Inszenierung (von Kleopatra, Augustus, späteren Schreibern?) implizieren, denn gerade das apotropäische Symbol, das die Feinde abwehren soll, führt in den eigenen Tod auf eine Weise, als ob die verzweifelten und hybriden Versuche der Kleopatra, sich als Königin der Könige zu etablieren und eine neue königliche Dynastie zu gründen, sich gegen sie selbst richten und tragisch scheitern. 631 Zum Phänomen des Gefolgschaftstodes siehe unten die entsprechenden Kapitel. 632 Baumann, Kleopatra, 119. Zum rituellen Aspekt dieses Selbstmords vgl. auch Clauss, Kleopatra, 102. Dieser rituelle Aspekt würde noch verstärkt, wenn möglicherweise nicht eine, sondern zwei Uräen den Todesbiss durchführen, was an die ägyptische Krone mit Doppeluräus insbesondere aus der Spätzeit und der griechisch-römischen Zeit anspielen würde (zu dieser Hypothese Griffiths, Cleopatra, 116–118). 633 Vgl. Durkheim, Selbstmord, 273–318. 630

Eskapistische Selbsttötungen in gesellschaftlichen Krisenzeiten

169

nung durch andere, durch das Gefühl, „für die anderen zu zählen, für sie, also an sich wichtig zu sein und in diesem permanenten Plebiszit in Form von ständigen Interessebezeugungen – Anfragen, Erwartungen, Einladungen – eine Art dauernde Daseinsberechtigung zu finden.“634 Deshalb sind die Menschen vor dem Selbstmord „um so sicherer, je besser sie als Gatte, Vater, Mutter usw. über eine anerkannte soziale Identität verfügen (das heißt, daß Eheleute sicherer leben als Unverheiratete, Eheleute mit Kindern sicherer als solche ohne Kinder usw.).“635 Entsprechend nimmt die Tendenz zum Selbstmord zu, je intensiver die gegenwärtigen Lebensverhältnisse als soziale Krisen erlebt werden und eine grundsätzliche Normlosigkeit die bis dahin gültigen sozialen Spielregeln zunichte macht. In solchen gesellschaftlichen Krisenzeiten kann der Suizid auch im Alten Ägypten als letzter Ausweg erscheinen. Hierbei sind die literarischen Aussagen der Texte so konzipiert, dass die suizidale Absicht oder Handlung nicht als Passage in ein besseres Jenseits verstanden werden kann, sondern als Versuch, den endgültigen, sogenannten „zweiten“ Tod herbeizuführen, indem mit dem Suizid die Zerstörung des Leichnams durch Ertrinken, Gefressenwerden oder Verbrennen herbeigeführt werden soll. a) Die Klagen des Ipuwer Die traditionell Admonitions oder Mahnworte des Ipuwer genannten Aussprüche lassen sich inhaltlich am besten als Klagen charakterisieren,636 die ursprünglich möglicherweise aus der Totenklage stammen und einer Sprechsitte Ausdruck verleihen.637 Es handelt sich vor allem um Klagen über den gegenwärtigen heillosen Zustand der ägyptischen Gesellschaft, die in weiten Teilen durch den Topos von der verkehrten Welt638 charakterisiert wird: Ipuwer C 17–19: Seht, der Reiche schläft durstig, wer aber sich seine Neige erbitten mußte, ist jetzt Besitzer von Starkbier. Seht, die Besitzer von Kleidern sind in Lumpen; wer aber nicht für sich weben konnte, ist Besitzer von „Seide“. Seht, wer nicht für sich ein Boot zimmern konnte, ist nun der Besitzer einer Flotte. Ihr Herr sieht sie, aber sie gehört ihm nicht mehr.639

634

Bourdieu, Meditationen, 309. Hervorhebung im Original. Bourdieu, Meditationen, 309. 636 Vgl. Junge, Welt der Klagen; Quack, Klage. Vgl. auch Parkinson, Poetry, 206. Darüber hinaus können die Klagen des Ipuwer „zu den dezidiert weltanschaulichen bzw. (in weiterem Sinn) weisheitlichen Texten“ gezählt werden (Morenz, Geschichte, 137). Wenn Enmarch, Dialogue, den Text neuerdings als Dialog tituliert, dann legt er den Fokus auf die hinteren Abschnitte des Textes und lässt die langen monologartigen Klagen außen vor. 637 Vgl. dazu Seibert, Charakteristik. 638 Vgl. dazu in der Ägyptologie vor allem Seibert, Charakteristik, 20–24; Schenkel, Sonst-jetzt; Morenz, Geschichte, 119–130. Zu diesem Topos im gesamten Alten Orient vgl. nun Kruger, Disaster, sowie grundsätzlich zum kulturellen Umgang mit Katastrophen im Altertum Dietrich, Katastrophen. Zur Verwendung dieses Topos sowohl in den ägyptischen Klagen des Ipuwer als auch in den sumerischen Stadtklagen vgl. Quack, Klage, 347–349. 639 Übersetzung nach Helck, Admonitions, 35. 635

170

Eskapistische Selbsttötungen

Dieser Topos von der verkehrten Welt ist ein klassisches literarisches Stilmittel, um die chaotischen Zustände der „Gegenwart“ der idealen Ordnung der Vergangenheit oder der erhofften Zukunft als einer Welt, wie sie eigentlich sein sollte, gegenüberzustellen. Die heillose „Gegenwart“ in der sogenannten pessimistischen Literatur des Alten Ägypten ist dabei selbst ein literarischer Topos: Sie verweist keineswegs auf die realen Zeitumstände des Autors, sondern dient als literarischer Horizont, in dem der Verfasser sein Werk ansiedelt, um die stete Aktualität und Gültigkeit seiner Aussagen zu erweisen. Die ägyptische Literatur des Mittleren Reiches orientiert sich dabei an der sogenannten Ersten Zwischenzeit, die den Zeitraum von der Auflösung der Reichseinheit seit dem Ausgang der 6. Dynastie (um 2150 v.Chr.) bis zur Reichseinigung unter Mentuhotep II. (um 2040 v.Chr.) umfasst. Die Zustände der Ersten Zwischenzeit gelten in der Literatur als die Zeit, in der die Reichseinheit verloren geht und die daraus folgenden chaotischen Zustände eine grundsätzliche Normlosigkeit bewirken und letztlich auch den Selbstmord auf den Plan rufen. Die literarischen Beschreibungen in den Klagen des Ipuwer, ob ihre Anfänge nun in der Ersten Zwischenzeit oder im Mittleren Reich liegen, müssen dabei nicht völlig unhistorisch sein.640 Doch ihr Interesse ist keine historistische Darstellung dessen, wie es eigentlich gewesen ist,641 sondern die in relativer literarischer Freiheit642 dargestellte Zeit einer schlechten Welt, die stets die reale Gegenwart bedroht und die es immer wieder neu zu überwinden gilt.643 „Obwohl aus der Distanz formuliert, signalisieren sie den Zusammenbruch einer Ordnung, die bis dahin als unumstößliches Fundament und Maßstab des Gemeinwesens gegolten hatte, freilich oft unabhängig davon, wie er sich im einzelnen tatsächlich vollzogen hat. Es gibt aber keinen 640

Als völlig unhistorisch werden die Admonitions keineswegs schon von Luria, Die Ersten, 9– 15 ausgelegt (anders Burkard/Thissen, Einführung, 132), denn Luria entdeckt „zwei selbständige, einander ausschließende Schilderungen“ (13): einerseits die Darstellung einer völligen Zerrüttung des Landes, andererseits den Topos der verkehrten Welt. Letzterer ist unhistorisch, doch hinsichtlich der Darstellung der vollständigen Zerrüttung des Landes wird festgehalten: „dieses Bild kann gewiß für gewisse Epochen eine übertriebene Darstellung der realen Wirklichkeit sein, doch darf man dabei von keinem sozialen Umsturz reden.“ (13f) Auch Junge, Klagen, 281 spricht den Admonitions wie den Prophezeiungen des Neferti „den Abglanz historischer – wenn auch nicht notwendig aktueller – Erfahrung“ zu. Von „Reflexe[n] der Ersten Zwischenzeit in den Mahnworten“ spricht auch Morenz, Geschichte. 641 Historistisch werden die Klagen des Ipuwer beispielsweise von Barta, Erste Zwischenzeit, ausgelegt. Zu den Datierungsfragen vgl. den Forschungsüberblick bei Enmarch, World Upturned, 18–24. Ein wesentliches Problem jeder historistischen Leseweise stellt die Tatsache dar, dass “the proposed historical features identified as specific to intermediate periods could also have characterized other times” (ebd. 19). Wollte man zwischen Primär- und Sekundärquellen unterscheiden und diese Unterscheidung am zeitlichen Abstand der Quelle von den historischen Gegebenheiten, nach denen man fragt, festmachen, dann könnte man mit Assmann, Sinngeschichte, 18–24.102–131 zwischen archäologischen Spuren sowie epi- und ikonographischen Botschaften einerseits und späteren literarischen Erinnerungen andererseits unterscheiden. Zum Versuch einer linguistischen Datierung der Texte des Mittleren Reiches vgl. jetzt Stauder, Linguistic Dating. 642 Vgl. dazu auch die Anmerkungen bei Blumenthal, Reich, 133. 643 Die Admonitions dienten „untergründig der Überredung bzw. der Bestätigung von Werten, den Leitlinien des Landes (sšm.w n t#, Adm. 15,1)“ (Morenz, Geschichte, 137. Hervorhebung im Original).

Eskapistische Selbsttötungen in gesellschaftlichen Krisenzeiten

171

Grund zu bezweifeln, daß die Wurzeln für die Formulierung des Entsetzlichen in die erste umfassende Krise Ägyptens in der 1. Zwischenzeit hinabreichen. […] Die Not hatte dichten gelehrt, und dieser Impuls wirkte offenbar über Generationen hinweg.“644 Die Zustände im Lande Ägypten sind dermaßen chaotisch, dass sogar der implizite Autor ein Ende des Menschengeschlechts herbeisehnt: Ipuwer B 45: Ach wäre doch ein Ende unter den Menschen, keine Empfängnis und keine Geburt! Dann schwiege die Erde vom Lärm und es gebe keinen Streit.645

Auf diese chaotischen Zustände im Land reagieren die Menschen mit einer Todessehnsucht, die nicht einfach als traditionelles argumentum ad deum abgetan werden kann: Ipuwer B 28: Wahrlich, Groß und Klein Ich wünschte, ich wäre tot. Schon die Kleinkinder sagen: Man hätte (mich) nicht leben lassen sollen.646

Mit diesem Motiv der Todessehnsucht liegt eher eine literarische Aussage über die bestehenden Leiden denn eine Aussage über konkrete suizidale Absichten vor.647 Doch im Kontext der Darstellung einer allumfassenden chaotischen und schlechten Gesellschaft wird an anderer Stelle auch vom Selbstmord der Ägypter berichtet: Ipuwer B 14: Wahrlich, die Krokodile ‚rülpsen‘ an dem, was sie erbeutet haben, denn die Menschen kommen von selbst zu ihnen. Verderben ist das für das Land.648

Im Zusammenhang der Bilder vom Zustand Ägyptens erscheint der beschriebene Suizid als weiteres literarisches Mittel, um die heillosen Zustände im Land Ägypten anzuzeigen. Die in ihr Gegenteil verkehrten Zustände einer ursprünglich durch Wahrhaftigkeit649 und Gerechtigkeit ausgezeichneten Schöpfungswelt zeitigen dermaßen heillose Folgen, dass die Menschen in eine Form des Suizids getrieben werden, der auch noch das Weiterleben nach dem Tod unmöglich macht: „Für den alten Ägypter wird ein Weiterleben im Jenseits durch die Zerstörung oder den Verlust 644

Blumenthal, Reich, 133.135. Übersetzung nach Helck, Admonitions, 26. 646 Übersetzung nach Helck, Admonitions, 17. 647 So jedoch Schlichting, Selbstmord, 829. 648 Übersetzung nach Helck, Admonitions, 10. Die Lesung von msḥw [ḥr]-bfp und die Übersetzung von bfp mit „rülpsen“ sind unsicher. Enmarch, Dialogue, 23.25 sowie ders., World Upturned, 81 liest msḥw [ḥr(?)]-#fj(t). Er schlägt hinsichtlich #fj “a garbled writing of #fo (‘be greedy’, Wb. I, 9.17; cf. Kagemni 1.8)” vor und übersetzt entsprechend “the crocodiles gorge”. Günter Burkard in Burkard/Thissen, Einführung, 127 übersetzt: „Wahrhaftig, die Krokodile sind übersättigt(?) von ihrem Fang, die Menschen gehen freiwillig zu ihnen: das ist eine Zerstörung zum Nichts(??)“. Gardiner, Admonitions, 29 übersetzt: “Forsooth, crocodiles are glutted(?) with what they have captured.” Vgl. auch die Erklärung von Gardiner, Admonitions, 29: “The crocodiles have more than enough to feed upon; men commit suicide by casting themselves into the river as their prey.” 649 Der Begriff der Wahrheit ist meines Erachtens dann besser durch den Begriff der Wahrhaftigkeit zu ersetzen, wenn gegenüber einem metaphysisch-ontologisch-göttlichen oder gar einem philosophisch-erkenntnistheoretischen Wahrheitsverständnis der Beziehungsaspekt im Ma‘at-Verständnis hervorgehoben werden soll. 645

172

Eskapistische Selbsttötungen

seines Leichnams unmöglich. Darum gehört das Ertrinken (mhj, hrp, #go) bzw. der Wassertod durch typhonische Mächte neben dem Feuertod zu den gefürchtetsten Todesarten.“650 In einer heilvollen, durch die Ma‘at geprägten Welt begeht der Ägypter weder Suizid noch ersehnt er den endgültigen Tod. Der Verfasser der Admonitions verstärkt seine Klagen über eine verkehrte Welt durch die Beschreibung anomischer Suizide, welche den eigentlich grundverkehrten Wunsch nach einem endgültigen Tod zum Ausdruck bringen: „Selbstmord durch Ertrinken soll vielleicht die Fortsetzung eines unglücklichen Lebens nach der Wiedergeburt unmöglich machen.“651 Das gute Leben des Ägypters ist zu einem großen Teil darauf ausgerichtet, nach dem Tod das Jenseitsgericht zu überstehen und, seit dem Neuen Reich, nicht von der „Fresserin“, einem mythischen Mischwesen mit Krokodilskopf sowie Löwen- und Nilpferdleib652 verschlungen zu werden und auf diese Weise dem zweiten, endgültigen Tod zu verfallen.653 In den Klagen des Ipuwer wird auf den endgültigen Tod angespielt, wenn der Totendienst wirkungslos ist (B 49) und die Menschen sich von den Krokodilen fressen lassen. Das Krokodil654 gilt den alten Ägyptern vor allem als typhonisches Tier (km „Finsternis“ wird mit einer Krokodilschuppe geschrieben.), das ein Weiterleben des Toten verhindert, wenn es dessen Leib frisst. “The crocodile devours its prey completely, as Ammut devours hers body and soul.”655 Amenemope 22,9f (Kapitel 21): Das Krokodil, das gar keine Zunge hat, vor dem hat man von jeher Furcht.656

Selbst der Tote muss sich noch im Jenseits vor dem Krokodil fürchten und das Krokodil durch Zaubersprüche abwehren. Nach Kapitel 31 des Totenbuches (vgl. auch Tb 32) beispielsweise muss der Tote seinen magischen Schutz vor dem Krokodil durch folgenden Spruch bewahren: Tb 31: Zurück du, kehr um! Zurück du, Krokodil! Nahe mir nicht, denn ich lebe von meinem Zauber – […] O du mit geknüpftem Rückgrat, dessen Auge gegen meinen Zauber hier gerichtet ist – nimm ihn nicht fort, du Krokodil, das vom Zauber lebt!657

Es gehört zur Heillosigkeit der verkehrten Welt des Ipuwer, wenn der Mensch ihr nicht nur durch Selbstmord zu entfliehen sucht, sondern durch die Art des Selbstmords auch noch die eigentlich heilvollen Jenseitshoffnungen negiert: Auch noch das Jenseits ist Teil der heillos verkehrten Welt, der man zu entfliehen sucht. Auf 650

Strauß, Ertrinken/Ertränken, 17. Strauß, Ertrinken/Ertränken, 18. 652 Seeber, Darstellung, 163–184. 653 Zum Jenseitsgericht vgl. Assmann, Ma‘at, 122–159; ders., Tod, 100–115. 654 Vgl. Brunner-Traut, Krokodil. 655 Eyre, Fate, 113. 656 Übersetzung nach Brunner, Weisheitsbücher, 252. Für eine neue französische Übersetzung vgl. Laisney, L’enseignement. 657 Übersetzung nach Hornung, Totenbuch, 98f. 651

Eskapistische Selbsttötungen in gesellschaftlichen Krisenzeiten

173

eine ähnliche, letztlich aber doch andersartige Sichtweise treffen wir in dem nun im Folgenden zu besprechenden Gespräch eines Lebensmüden mit seinem Ba. b) Das Gespräch des Lebensmüden mit seinem Ba Zwischen dem Gespräch des Lebensmüden mit seinem Ba und den Klagen des Ipuwer bestehen einige enge sachliche Zusammenhänge. Wie bei den Klagen hat man auch beim Lebensmüden traditionellerweise angenommen, dass die Erfahrungen der Ersten Zwischenzeit in diesem Literaturwerk verarbeitet werden.658 Gemeinsam ist den Texten auch ihre Zweiteilung zwischen kurzen Strophen und längeren Reden sowie die simple Untergliederung der Strophen durch einfache Einleitungsformeln.659 In beiden Fällen enthält der Text Dialoge: In den Klagen finden sich Dialoge zwischen Ipuwer und dem König oder Schöpfergott, im Lebensmüden zwischen dem „Ich“ und seiner „Seele“.660 In beiden Texten wird das zerrüttete zwischenmenschliche Beziehungsgeflecht beklagt. In beiden kommen Todessehnsucht und Selbstmord zur Sprache. Der Lebensmüde tritt in einen Dialog mit seiner „Seele“, ägyptisch Ba.661 Der Ba, obgleich „Freiseele“, gehört zum Leib-Selbst des Menschen662 und personifiziert seine vitalen Energien, insbesondere das Vermögen des Verstorbenen, als dessen alter ego663 die Mumie zu verlassen und zurückzukehren. Ziel ist es, dass sich Ba und Leib nach dem Tod trennen, aber auch wieder vereinigen können.664 Angesichts der Bedrohung dieses Beziehungsgeflechtes sucht in unserem Text ein „Lebensmüder“ den Dialog mit seinem Ba. Die Ansichten und Standpunkte, die der Ba im Laufe dieses Dialoges vertritt, scheinen zu wechseln,665 oder präziser formuliert: Der Ba macht eine Entwicklung durch, er kann sich immer stärker auf den Mann einlassen. Im ersten, eigentlichen Dialogteil vertritt der Mann die traditionelle altägyptische Ansicht, dass der Mensch den Tod nicht zu suchen, sondern sein Leben als Vorbereitung auf das fortdauernde Leben im Jenseits einzurichten hat. Der Mann empfindet zwar selbst eine Todessehnsucht (die im weiteren Verlauf des Gesprächs

658

Vgl. beispielsweise Barta, Erste Zwischenzeit, 51f. Zur Kritik an der traditionellen Datierung von Texten, die mit dem Topos der verkehrten Welt arbeiten, in die Erste Zwischenzeit, siehe oben das voraufgehende Kapitel über die Klagen des Ipuwer. 659 Vgl. Enmarch, A World Upturned, 34.36. 660 Vgl. Enmarch, A World Upturned, 34. Gegen beispielsweise Tobin, Re-assessment, 342f und Shupak, Dispute, 321, die das Gespräch des Lebensmüden mit seinem Ba als einen (dramatischen) Monolog verstehen wollen, ist am Dialogcharakter des Textes festzuhalten. 661 Zum Ba vgl. Žabkar, Ba Concept; Assmann, Tod, 116–131. 662 Vgl. Assmann, Tod, 118–120. 663 Vgl. Žabkar, Ba, 589. 664 Vgl. Assmann, Tod, 120–131. 665 Diese Sicht ist meiner Ansicht nach immer noch plausibler und dem Text angemessener als die nahezu verzweifelt harmonisierenden Versuche, dem jeweiligen Sprecher nur eine Perspektive belassen zu wollen. Dass sich in den Dialogen der alten Kulturen tatsächlich die Ansichten und Positionen ändern können, die Dialogpartner also einen Erkenntnisprozess durchleben, wird beispielsweise auch in der Babylonischen Theodizee (hier ändert der Freund gegenüber dem Dulder seine Ansicht) und im Buch Hiob deutlich (hier ändert Hiob gegenüber Gott seine Ansicht).

174

Eskapistische Selbsttötungen

noch deutlicher zutage treten wird), doch der Gedanke an den vorzeitigen Tod durch vorzeitige Trennung von Mensch und Ba ist ihm unerträglich. Der Ba hingegen ist bereit, den Mann und das Leben sofort zu verlassen und vertritt deshalb für den Ägypter „die schockierendste und brutalste Negierung höchster Werte, die sich denken lässt.“666 Zu Beginn des Gesprächs, der leider in weiten Teilen verloren ist, behauptet der Ba „unparteiisch ist ihre Zunge“ (n nmo ns.sn), ein Ausdruck, der sehr wahrscheinlich auf die göttlichen Richter im Jenseitsgericht anspielt. Möglicherweise droht hier schon der Ba mit Selbstmord, um – ähnlich wie im Fall des Beredten Bauern667 – das Gericht der Götter anrufen zu können.668 Unterdessen klagt der Mann, dass der Ba damit droht, das Ich zu verlassen und fortzugehen (šmj Zeile 7) und sich davonzumachen (rwj Zeile 10) in den Tod. Diese Klage kulminiert in der Aussage, dass der Ba den Mann zum Selbstmord durch Verbrennung treibt669 – eine Todesart, die ähnlich wie in den Klagen des Ipuwer ein Weiterleben nach dem Tod unmöglich machen würde:670 Lebensmüder 11–13: mTn b#.j Hr thj.t.j n sDm.n.j n.f Hr st#s.j671 r mt n jjt(.j) n.f Hr X#o(.j) Hr Xt r sm#m.t.j (…) Seht, weil mein Ba falsch an mir handelt, höre ich nicht auf ihn. Weil er mich zum Tode zieht, bevor (ich) zu ihm gekommen bin. Weil er (mich) auf das Feuer wirft, um mich zu verbrennen (…)672 Meiner Ansicht nach ist an der Einsicht Ermans festzuhalten, dass „die drei Infinitive mit Hr als Praedikate zu dem gemeinsamen Subjekt iXwi [besser b#.j, J.D.] ‚meine Seele‘ gehören; sie geben an,

666

Assmann, Sinngeschichte, 201. Siehe dazu ausführlich unten das Kapitel über den eloquenten Bauern. 668 Vgl. Assmann, Sinngeschichte, 199. 669 Diese berühmten Verse werden traditionellerweise in diesem Sinne interpretiert; vgl. Erman, Gespräch, 7f.22f; Scharff, Streitgespräch, 12.15f; Thausing, Betrachtungen, 262.267; Lanczkowski, Religionsgeschichte, 2.10f; Faulkner, Life, 21; Williams, Dispute over Suicide, 405. Vorsichtiger ders., Reflections, 53 und Jacobsohn, Seele, 14.17f. Vgl. auch Kadish, Complaints, 86, der vom Lebensmüden als “potential suicide” spricht. Die Selbstmordthese wird beispielsweise abgelehnt von Hermann, Gespräch, 347f.351; Goedicke, Report, 95; Barta, Gespräch, 98; Tobin, Re-assessment, 342f; Arp, Interpretation, 409–416. Brunner-Traut, Lebensmüde, 8.10f vertritt die Ansicht, dass der Ba den Leichnam des Mannes verbrennen möchte; Allen, Debate, 33f.134.141.159 versteht die Zeile 13, in der von der Verbrennung die Rede ist, als ausschließlich metaphorischen Ausdruck des allgemeinen Todeswunsches, nicht jedoch einer konkreten Selbstmordabsicht. Herrmann, Untersuchungen, 71–74 und Lohmann, Gespräch, 212–215.234 deuten die betreffenden Verse im Rahmen der Opferterminologie als Verbrennungsopfer. 670 Auch hier gilt die schon zitierte Aussage: „Für den alten Ägypter wird ein Weiterleben im Jenseits durch die Zerstörung oder den Verlust seines Leichnams unmöglich. Darum gehört das Ertrinken (mHj, hrp, #g˓) bzw. der Wassertod durch typhonische Mächte neben dem Feuertod zu den gefürchtetsten Todesarten.“ (Strauß, Ertrinken/Ertränken, 17) Die Verbrennung gehört nicht zu den offiziellen Hinrichtungsarten im Alten Ägypten wie die Pfählung, sondern tritt wie Enthaupten, Ertränken oder dem Krokodil Vorwerfen in literarischen Texten auf (vgl. Müller-Wollermann, Vergehen, 197; dies., Todesstrafe, 149; anders Leahy, Death by Fire). 671 Es steht hier (wie in Zeile 70) das ungewöhnliche Verb st#s. Dies wird gemeinhin jedoch als eine Form von sT# verstanden. “Since the verb is transitive, st#s.j must be the infinitive with pronominal object, as it is commonly understood.” (Allen, Debate, 32) 672 Übersetzung J.D. 667

Eskapistische Selbsttötungen in gesellschaftlichen Krisenzeiten

175

was die Seele Unrechtes an dem Menschen getan hat.“673 Bezieht man alle drei Infinitive auf den Ba, folgt man einem strengen Prinzip, folgt man diesem nicht, erscheinen die Zuordnungen der Infinitive zu einem wechselnden Subjekt recht willkürlich. Die erste Infinitivkonstruktion Hr thj.t.j bezieht sich eindeutig auf den Ba. Wie nicht nur die grammatikalische Stringenz, sondern auch der nähere Kontext der Verse nahelegt, dürfte auch die zweite Infinitivkonstruktion Hr sT#.j674 r mt nicht den Mann, sondern – ebenso wie die ähnlich formulierte Zeile 18 – den Ba zum Subjekt haben: Es ist zu Beginn des Dialogs der Ba, der sich vorzeitig von dem Mann trennen will. mt bezeichnet deshalb an dieser Stelle kaum den erwünschten Tod des Mannes675 (Es wäre dann eher der Begriff jmnt „Westen“ zu erwarten.676), sondern den unerwünschten, vorzeitigen und endgültigen Tod ohne traditionelle Vorbereitung,677 den der Mann nicht akzeptieren kann. X#o ist kein üblicher Opferterminus, sondern bezeichnet schlicht das (auch verächtliche) Werfen und Wegwerfen einer Sache, weshalb ich der Interpretation von Lohmann nicht folgen kann, die diese Zeilen als Vorbereitung des Mannes zum Brandopfer versteht.678 Vielmehr werden hier die Handlungen des Ba konsequent durch die Infinitivkonstruktion fortgeführt. sm# heißt zwar eigentlich schlicht „töten; schlachten“, wird hier aber durch das Determinativ entweder als „verbrennen“ spezifiziert oder als eigenständiges Verb „verbrennen“ ausgewiesen.679 Dabei mag die Formulierung über die (Selbst-)Verbrennung eine Metapher sein,680 doch eine, die sich auf einen Selbstmordwunsch und nicht nur auf einen allgemeinen Todeswunsch beziehen kann, denn diese Metapher ist zu konkret und speziell, um als Ausdruck für einen allgemeinen Todeswunsch verwässert zu werden. In letzterem Fall hätte man andere, bessere und geläufigere Bilder zur Hand gehabt, und es bleibt die Erklärungsnot, warum gerade von einer Verbrennung gesprochen wird. Diese ist am besten im Sinne eines Selbstmordwunsches des Ba verständlich, der im Gegensatz zum Mann den endgültigen Tod herbeisehnt. Die Zeilen 11–13 und 148–153 verfügen zwar über explizite literarische Verbindungen durch die Terminologie des Verbrennens, bringen aber gerade dadurch den Positionswechsel des Ba und zwei verschiedene Todesvorstellungen zum Ausdruck: Während der Ba den Menschen anfangs zum sofortigen und endgültigen Tod (mt) durch Selbstverbrennung zieht, so gesteht er ihm am Ende zu, zu opfern und den „Westen“ (jmnt) später zu erreichen.

Odette Renaud hat noch 1991 die These aufgestellt, dass es sich bei dem Lebensmüden um die erste Neurose der Weltgeschichte handeln würde („La premiere neurose de l’histoire“).681 Angesichts der in dieser Arbeit ins Auge gefassten Hermeneutik haben wir auch hier eine abzulehnende, aber gängige medizinisch-psychologische Erklärung vorliegen, um die Lebensmüdigkeit auf eine krankhafte Ursache zurückzuführen, die fest im Individuum verankert sei. Die These von der ersten Neurose der Weltgeschichte reiht sich so ein in andere medizinisch-psychologische Erklärungen, welche Lebensmüdigkeit und Selbstmord in antiken Texten auf krankhafte Ursachen zurückführen, beispielsweise wenn der Selbstmord Sauls durch dessen Melancholie oder “psychological disintegration”682 erklärt wird.

673

Erman, Gespräch, 22. Siehe hierzu oben Anmerkung 671. 675 So Lohmann, Gespräch, 214. 676 Vgl. Parkinson, Poetry, 219. 677 So auch Barta, Gespräch, 40. 678 Vgl. Lohmann, Gespräch, 211.213f.227. 679 “The ‘fire’ determinative identifies sm#mt.j as a form of caus. 2-lit. s#m ‘burn’ rather than of 3-lit. sm# ‘kill’” (Allen, Debate, 34). 680 So Allen, Debate, 33f.134.141.159. 681 Vgl. Renaud, Dialogue, 46–49. 682 Barrik, Saul’s Demise, 32. Siehe dazu ausführlich oben das Einleitungskapitel zur Sinngeschichte suizidaler Handlungen sowie das Kapitel über die Selbsttötung Sauls. 674

176

Eskapistische Selbsttötungen

Im Folgenden soll der Dialog des Lebensmüden jedoch nicht medizinisch oder psychologisch als Krankengeschichte, sondern kulturanthropologisch als Sinngeschichte gelesen werden. Die betreffenden Verse im Lebensmüden stehen im Kontext eines Dialogs, der die Normlosigkeit in sozialen Angelegenheiten und die Sinnlosigkeit in religiösen anspricht. Es geht hier weniger um psychische Desintegration als um religiöse und soziale. Zwar klagt der Mann über den Wunsch des Ba, den Weggefährten baldmöglichst zu verlassen, aber auch das Gespräch selbst zwischen Mann und Ba ist eher im Sinne eines gefährdeten sozialen als innerpsychischen Beziehungsgeschehens zu lesen: Die religiöse und soziale Desintegration, die der Mann beklagt, wird unter anderem auch auf der Ebene des Gesprächs zwischen Selbst und „Seele“ durchgespielt. Die in der gesellschaftlichen Gegenwart des Mannes vorherrschende soziale Desintegration kommt in vielen Teilen des Gesprächs zum Ausdruck. Zitiert sei hier aufgrund seiner Bedeutung das zweite Lied des Mannes in voller Länge: Lebensmüder 103–130: Zu wem kann ich heute reden? Die Brüder sind böse, die Freunde von heute, sie lieben nicht. Zu wem kann ich heute reden? Die Herzen sind habgierig, jedermann nimmt die Habe seines Nächsten.

Der Milde geht zugrunde, der Gewalttätige ist herabgestiegen zu jedermann. Zu wem kann ich heute reden? Das Gesicht der Bosheit ist zufrieden, das Gute ist überall zu Boden geworfen. Zu wem kann ich heute reden? Der Zorn erregen sollte durch seine Schlechtigkeit, er bringt alle zum Lachen, auch wenn sein Frevel schlimm ist. Zu wem kann ich heute reden? Raub herrscht, jedermann bestiehlt seinen Nächsten. Zu wem kann ich heute reden? Der Verräter ist ein Vertrauter, der Gefährte ist zum Feind geworden. Zu wem kann ich heute reden? Man erinnert sich nicht des Gestern, man handelt nicht für den, der gehandelt hat heutzutage. Zu wem kann ich heute reden? Die Brüder sind böse, man nimmt Zuflucht zu Fremden für Zuneigung des Herzens. Zu wem kann ich heute reden? Die Gesichter sind abgewandt, jedermann wendet den Blick zu Boden gegenüber seinen Brüdern. Zu wem kann ich heute reden? Die Herzen sind habgierig, nicht gibt es ein Herz, auf das man sich verlassen kann. Zu wem kann ich heute reden? Es gibt keine Gerechten, das Land ist den Frevlern überlassen. Zu wem kann ich heute reden? Es mangelt an einem Vertrauten, man nimmt Zuflucht zu einem Unbekannten, um ihm zu klagen. Zu wem kann ich heute reden? Es gibt keinen Zufriedenen; den, mit dem man ging, gibt es nicht mehr. Zu wem kann ich heute reden? Ich bin beladen mit Elend aus Mangel an einem Vertrauten.

Eskapistische Selbsttötungen in gesellschaftlichen Krisenzeiten

177

Zu wem kann ich heute reden? Unrecht zieht durchs Land, und sein Ende ist nicht abzusehen.683

Wie in den Klagen des Ipuwer scheinen auch hier zerrüttete Verhältnisse im sozialen Bereich auf, die zum Teil ebenfalls durch den Topos der verkehrten Welt dargestellt werden. Inhaltlich beklagt der Lebensmüde in diesen Versen ähnlich wie Ipuwer die Vorherrschaft von Kommunikationsverlust und Gewalt.684 Angesichts derartiger Zustände überfällt den Mann eine Todessehnsucht, die auch in den Mahnworten zum Ausdruck kommt. Zitiert sei aufgrund seiner Berühmtheit weit über die Grenzen der Ägyptologie hinaus auch das dritte Lied des Mannes in seiner vollen Länge: Lebensmüder 130–141: Der Tod steht heute vor mir (wie) wenn ein Kranker gesund wird, wie das Hinaustreten ins Freie nach dem Eingesperrtsein. Der Tod steht heute vor mir wie der Duft von Myrrhen, wie das Sitzen unter einem Segel an einem windigen Tag. Der Tod steht heute vor mir wie der Duft von Lotusblumen, wie das Sitzen am Ufer der Trunkenheit. Der Tod steht heute vor mir wie das Abziehen des Regens (oder: wie ein betretener Weg), wie wenn ein Mann von einem Feldzug heimkehrt. Der Tod steht heute vor mir wie wenn sich der Himmel enthüllt, wie ein Mann, der aufgeklärt wird (??) dort in bezug auf das, was ihm unbekannt war. Der Tod steht heute vor mir wie ein Mann sich danach sehnt, sein Haus wiederzusehen, nachdem er viele Jahre in Gefangenschaft verbracht hat.685

Wenn der Mann eine solche Todessehnsucht empfindet, bedeutet dies noch nicht, dass er zum Selbstmord neigt. Wie zu Beginn dieses Buches ausgeführt wurde, sind Todessehnsucht und Selbstmordwunsch nicht in allen Fällen auf eine Stufe zu stellen.686 Dies gilt für manche Texte aus dem Alten Ägypten umso mehr, weil hier der Todeswunsch traditionellerweise die Sehnsucht nach einem besseren Leben im Jenseits zum Ausdruck bringt, während der Selbstmord auch den endgültigen, sogenannten zweiten Tod ins Auge fassen kann, der kein Leben im Jenseits mehr im Blick hat. Im Dialog des Lebensmüden jedenfalls bedeutet es keinen gedanklichen Bruch, wenn der Mann einerseits eine Todessehnsucht empfindet und andererseits sein diesseitiges Leben mit der Herrichtung eines Grabes usw. als Vorbereitung auf sein besseres Leben jenseits der Todesschwelle einrichtet.687 Es ist vielmehr der Ba, der sich von den Klagen des Mannes letztendlich bewegen lässt und seinem Gesprächspartner entgegenkommt. 683

Übersetzung nach Assmann, Sinngeschichte, 204f. Vgl. Assmann, Ma‘at, 82–84. 685 Übersetzung nach Assmann, Sinngeschichte, 206. 686 Siehe dazu oben das Kapitel über Todeswunsch und Selbstmordabsicht am Beispiel von Hiob 7,15f und verwandten Texten. 687 Dass eine übermächtige diesseitige Jenseitsvorsorge das soziale Leben zu vernachlässigen droht, wird nach Arp, Interpretation, 409–416 zum Hauptproblem des Dialogs. 684

178

Eskapistische Selbsttötungen

Der Wandel in der Einstellung des Ba, der wie der Freund in der Babylonischen Theodizee letztendlich seinem Gegenüber folgt, wird erst ganz am Ende des Dialogs expliziert. Bezeichnenderweise werden hier Vokabeln verwendet, die nicht nur einen Bezug zu der traditionellen Todesvorstellung des Mannes, sondern auch zu den „Selbstmordversen“ erkennen lassen: Lebensmüder 148–153: So gib denn dein Klagen auf, du mein Nächster, mein Bruder! Mögest du ein Brandopfer darbringen und dich an das Leben anschmiegen wie du es siehst. Liebe mich >hier