De oratore  Über den Redner. Lateinisch - Deutsch
 3760817459, 9783760817453

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SAMMLUNG

TUSCULUM

Wissenschaftliche Beratung: Gerhard Fink, Niklas Holzberg, Rainer Nickel, Bernhard Zimrrtermann

MARCUS

TULLIUS

CICERO

DE O R A T O R E

ÜBER DEN R E D N E R

Lateinisch - deutsch

Herausgegeben und übersetzt von Theodor Nüßlein

ARTEMIS & W I N K L E R

Bibliographische Information der Deutschen Narionalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2007 Patmos Verlag G m b H & Co. K G Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf Alle Rechte vorbehalten. Druck und Verarbeitung: Friedrich Pustet, Regensburg I S B N 978-3-7608-1745-3 www.patmos.de

INHALT

TEXT U N D ÜBERSETZUNG Liber primus • Erstes Buch Liber secundus · Zweites Buch Liber tertius · Drittes Buch

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ANHANG Überlieferung und Textgestaltung Einführung Inhaltsübersicht Erläuterungen

429 441 449 459

Abriss der antiken Rhetorik Verzeichnis der Eigennamen Literaturhinweise

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DE O R A T O R E Ü B E R DEN R E D N E R

LIBER

PRIMUS

Cogitanti mihi saepenumero et memoria Vetera repetenti perbead fuisse, Quinte frater, illi videri solent, qui in optima re publica, cum et honoribus et rerum gestarum gloria florerent, eum vitae cursum tenere potuerunt, ut vel in negotio sine periculo vel in otio cum dignitate esse possent. Ac fuit tempus illud, cum mihi quoque initium requiescendi atque animum ad utriusque nostrum praeclara studia referendi fore iustum et prope ab o m nibus concessum arbitrarer, si infinitus forensium rerum labor et ambitionis occupatio decursu h o n o r u m etiam aetatis flexu constitisset. Q u a m spem cogitationum et consiliorum m e o r u m cum graves c o m m u n i u m temporum tum varii nostri casus fefellerunt. N a m qui locus quietis et tranquillitatis plenissimus fore videbatur, in eo maximae moles molestiarum et turbulentissimae tempestates extiterunt, neque vero nobis cupientibus atque optantibus fructus otii datus est ad eas artis, quibus a pueris dediti fuimus, celebrandas inter nosque recolendas. N a m prima aetate incidimus in ipsam perturbationem disciplinae veteris et consulatu devenimus in medium rerum o m n i u m certamen atque discrimen et hoc tempus omne post consulatum obiecimus iis fluctibus, qui per nos a communi peste depulsi in nosmet ipsos redundarent. Sed tarnen in eis vel asperitatibus rerum vel angustiis temporis obsequar studiis nostris et, quantum mihi vel fraus inimicorum vel causa amicorum vel res publica tribuet otii, ad scribendum potissimum conferam. Tibi vero, frater, neque hortanti deero neque roganti; nam neque auctoritate quisquam apud me plus valere te potest neque voluntate.

Ac mihi repetenda est veteris cuiusdam memoriae non sane satis explicata recordatio, sed, ut arbitror, apta ad id, quod requiris, ut cognoscas, quae viri omnium eloquentissimi clarissi-

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(1) Oftmals denke ich an die alten Zeiten und rufe sie mir ins Gedächtnis zurück, mein lieber Bruder Quintus; dabei scheinen mir gewöhnlich diejenigen Männer sehr glücklich gewesen zu sein, welche, da sie sich ihrer Ehrenämter und des Ruhmes ihrer Taten in hohem Maße erfreuten, in dem besten Staat einen solchen Lebensweg einschlagen konnten, dass sie entweder bei ihren Amtsgeschäften ohne Gefahr oder in ihrer Muße mit Würde leben konnten. Und es gab eine Zeit, da ich glauben durfte, es sei gerechtfertigt und beinahe von allen zugestanden, dass auch ich mich allmählich ausruhte und den herrlichen Studien zuwendete, die wir beide betreiben, wenn nach dem Durchlaufen der Ehrenämter mit dem Höhe- und Wendepunkt des Lebens auch die unendliche Mühe der Verpflichtungen auf dem Forum und die Inanspruchnahme durch Wahlkämpfe zum Stillstand gekommen sei. (2) Diese hoffnungsvollen Gedanken und Pläne machten die schweren Wechselfälle der allgemeinen Zeitverhältnisse und besonders mein persönliches mannigfaches Missgeschick zunichte. Denn in dem Lebensabschnitt, der mir ganz von Ruhe und innerem Frieden erfüllt zu werden schien, entstanden die größten bedrückenden Widerwärtigkeiten und bewegtesten Stürme, und mir wurde nicht der Lohn der Muße, den ich so innig wünschte, zuteil, dass ich die Wissenschaften, denen ich mich von Jugend an gewidmet habe, betreiben und mit dir wieder hätte pflegen können. (3) Denn in meiner Jugend geriet ich mitten in die Umwälzung der alten Ordnung, während meines Konsulates musste ich mitten hinein in den alles entscheidenden Kampf, und die ganze Zeit nach dem Konsulat stemmte ich mich den Fluten entgegen, die, durch mich zurückdrängt, zwar der Allgemeinheit kein Verderben brachten, aber sich auf mich selbst ergießen sollten. Aber dennoch will ich in diesen rauen Verhältnissen und misslichen Zeiten meinen wissenschaftlichen Studien nachgehen und, soviel mir die Tücke meiner Feinde, die Sache meiner Freunde oder der Staat an Muße lässt, vornehmlich auf das Schreiben verwenden. (4) Dir aber, mein lieber Bruder, werde ich mich weder entziehen, wenn du mich ermahnst, noch wenn du mich bittest; denn niemand hat größeren Einfluss auf mich als du durch sein Ansehen und auch nicht durch seinen Wunsch. Und so muss ich nun die freilich nicht genügend deutliche, aber wie ich meine, für das, wonach du fragst, geeignete Erinnerung an ein Ereignis früherer Zeit wieder auffrischen, damit du erkennst, was die beredtesten und

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mique senserint de de omni ratione dicendi. Vis enim, ut mihi saepe dixisti, quoniam, quae pueris aut adulescentulis nobis ex commentariolis nostris incohata ac rudia exciderunt, vix hac aetate digna et hoc usu sunt, quem ex causis, quas diximus, tot tantisque consecuti sumus, aliquid isdem de rebus politius a nobis perfectiusque proferri, solesque non numquam hac de re a me in disputationibus nostris dissentire, quod ego eruditissimorum hominum artibus eloquentiam contineri statuam, tu autem illam ab elegantia doctrinae segregandam putes et in quodam ingenii atque exercitationis genere ponendam.

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Ac mihi quidem saepenumero in summos homines ac summis ingeniis praeditos intuenti quaerendum esse visum est, quid esset, cur plures in omnibus artibus quam in dicendo admirabiles extitissent. Nam quocumque te animo et cogitatione converteris, permultos excellentis in quoque genere videbis non mediocrium artium, sed prope maximarum. Quis enim est, qui, si clarorum hominum scientiam rerum gestarum vel militate vel magnitudine metiri velit, non anteponat oratori imperatorem? Quis autem dubitet, quin belli duces ex hac una civitate praestantissimos paene innumerabiles, in dicendo autem excellentis vix paucos proferre possimus ? Iam vero consilio ac sapientia qui regere ac gubernare rem publicam possent, multi nostra, plures patrum memoria atque etiam maiorum extiterunt, cum boni perdiu nulli, vix autem singulis aetatibus singuli tolerabiles oratores invenirentur. Ac ne qui forte cum aliis studiis, quae reconditis in artibus atque in quadam varietate litterarum versentur, magis hanc dicendi rationem, quam cum imperatoris laude aut cum boni senatoris prudentia comparandam putet, convertat animum ad ea ipsa artium genera circumspiciatque, qui in iis floruerint quamque multi; sic facillime, quanta oratorum sit et semper fuerit paucitas, iudicabit. Neque enim te fugit laudandarum artium omnium procreatricem quandam et quasi parentem earn, quam φιλοσοφίαν Graeci vocant, ab hominibus doctissimis iudicari, in qua difficile est numerare, quot viri quanta scientia quantaque in suis studiis varietate et copia fuerint, qui non una aliqua in re separatim elaborarint, sed omnia, quaecumque

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berühmtesten Männer über die gesamte Redekunst gedacht haben. (5) Du wünschst nämlich, wie du mir oft gesagt hast, dass ich gerade über dieses Thema ein ausgefeilteres und vollkommeneres Buch veröffentliche; denn was ich als Knabe oder Jugendlicher darzulegen versucht habe und was aus meinem flüchtigen Entwurf im Rohzustand entschlüpft ist, ist kaum meinem jetzigen Alter und der Erfahrung, die ich aus den so vielen bedeutenden Prozessen, die ich führte, gewonnen habe, angemessen. Und bisweilen pflegst du in unseren Gesprächen über dieses Thema eine andere Meinung als ich zu vertreten, weil ich der Ansicht bin, die Beredsamkeit sei wesentlich bedingt durch die theoretischen Kenntnisse hochgebildeter Männer, du aber glaubst, man müsse sie von der Feinheit theoretischer Lehre trennen und gewissermaßen auf eine bestimmte Art von Begabung und Übung gründen. (6) Und wenn ich nun oftmals meinen Blick auf sehr bedeutende hochbegabte Männer richtete, glaubte ich fragen zu müssen, was der Grund dafür sei, warum es mehr bewundernswerte Vertreter in allen anderen Fachgebieten gegeben hat als in der Redekunst. Denn wohin auch immer man sich aufmerksam und nachdenklich wendet, wird man sehr viele herausragende Männer in jeder Art nicht der unbedeutenden, sondern beinahe der wichtigsten Disziplinen finden. (7) Wer nämlich wird, wenn er das Wissen berühmter Männer an dem Nutzen oder der Größe ihrer Taten messen wollte, nicht dem Feldherrn vor dem Redner den Vorzug geben? Wer aber könnte bezweifeln, dass wir in der Lage wären, allein aus unserem Staat unzählige vortreffliche Heerführer anzuführen, in der Redekunst dagegen kaum ein paar wenige Männer von Rang? (8) Und ferner sind Männer, die überlegt und klug den Staat regieren und lenken können, in unserer Zeit zahlreich und noch zahlreicher zur Zeit unserer Väter und auch der Vorfahren aufgetreten; gute Redner dagegen fanden sich sehr lange überhaupt keine, erträgliche aber kaum vereinzelt in den einzelnen Generationen. Und damit nicht etwa jemand glaubt, die Redekunst dürfe man eher mit anderen Studien, die sich mit entlegenen Wissensgebieten und verschiedenen Arten von Wissenschaften befassen, vergleichen als mit dem Ruhm eines Feldherrn oder mit der Klugheit eines tüchtigen Senators, möge er seine Aufmerksamkeit gerade auf diese Zweige der Wissenschaft richten und sich umschauen, welche Männer sich darin ausgezeichnet haben und wie viele; so wird er sehr leicht beurteilen, wie gering die Anzahl der Redner ist und immer war. (9) Und dir entgeht es ja auch nicht, dass die Wissenschaft, welche die Griechen Philosophie nennen, von den gelehrtesten Männern geradezu für die Schöpferin und Mutter aller rühmenswerten Wissenschaften gehalten wird; und doch wäre es schwierig, aufzuzählen, wie viele Männer mit enorm großem Wissen und enorm großer Vielfalt und Fülle in ihren wissenschaftlichen Bestrebungen es auch bei ihr gegeben hat, die nicht in einem einzelnen Fachgebiet allein arbei-

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essent, vel scientiae pervestigatione vel disserendi ratione comprehenderint. Quis ignorat, ii, qui mathematici vocantur, quanta in obscuritate rerum et quam recondita in arte et multiplici subtilique versentur? Quo tamen in genere ita multi perfecti homines extiterunt, ut nemo fere studuisse ei scientiae vehementius videatur, quin, quod voluerit, consecutus sit. Quis musicis, quis huic studio litterarum, quod profitentur ei, qui grammatici vocantur, penitus se dedidit, quin omnem illarum artium paene infinitam vim et materiem scientia et cognitione comprehenderit? Vere mihi hoc videor esse dicturus ex omnibus iis, qui in harum artium liberalissimis studiis sint doctrinisque versati, minimam copiam poetarum et oratorum egregiorum extitisse. Atque in hoc ipso numero, in quo perraro exoritur aliquis excellens, si diligenter et ex nostrorum et ex Graecorum copia comparare voles, multo tamen pauciores oratores quam poetae boni reperientur. Quod hoc etiam mirabilius debet videri, quia ceterarum artium studia fere reconditis atque abditis e fontibus hauriuntur, dicendi autem omnis ratio in medio posita communi quodam in usu atque in hominum more et sermone versatur, ut in ceteris id maxime excellat, quod longissime sit ab imperitorum intellegentia sensuque diiunctum, in dicendo autem vitium vel maximum sit a vulgari genere orationis atque a consuetudine communis sensus abhorrere. Ac ne illud quidem vere dici potest aut pluris ceteris artibus inservire aut maiore delectatione aut spe uberiore aut praemiis ad perdiscendum amplioribus commoveri. Atque ut omittam Graeciam, quae semper eloquentiae princeps esse voluit, atque illas omnium doctrinarum inventrices Athenas, in quibus summa dicendi vis et inventa est et perfecta, in hac ipsa civitate profecto nulla umquam vehementius quam eloquentiae studia viguerunt. Nam posteaquam imperio omnium gentium constituto diuturnitas pacis otium confirmavit, nemo fere laudis cupidus adulescens non sibi ad dicendum studio omni enitendum putavit. Ac primo quidem totius rationis ignari, qui neque exercitationis ullam viam neque aliquod praeceptum artis esse arbitrarentur, tantum, quantum ingenio et cogitatione poterant, consequebantur. Post autem auditis oratoribus Graecis cognitisque eorum litteris adhibitisque doctoribus incredibili

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teten, sondern alle wissenschaftlichen Disziplinen, welche auch immer es waren, durch wissenschaftliche Erforschung oder methodische Erörterung erfassten. (10) Und die, welche man Mathematiker nennt - wer wüsste nicht, mit welch dunklem Gebiet und mit welch abgelegener, vielschichtiger und gründlicher Wissenschaft sie sich beschäftigen? Und doch sind in diesem Fach so viele vollkommene Männer hervorgetreten, dass fast niemand sich um das Wissen davon stärker bemüht zu haben scheint, der nicht auch erreicht hätte, was er wollte. Wer hat sich der Musik, wer dem Studium der Texte, zu dem sich die Männer, die man Philologen nennt, bekennen, ganz und gar gewidmet, ohne den gesamten nahezu unbegrenzten Umfang und Stoff jener Fachgebiete durch wissenschaftliche Forschung zu erfassen? (11) Mit Recht glaube ich zu sagen, dass unter all denen, die sich mit dem so edlen Studium der zuletzt genannten Wissenschaften beschäftigt und sie gelehrt haben, nur eine sehr geringe Zahl herausragender Dichter und Redner hervorgetreten ist. Und unter diesen, bei denen nur höchst selten ein herausragender Geist hervortritt, wird man, wenn man sie sorgfältig nach ihrer Anzahl bei uns und bei den Griechen vergleichen will, trotzdem noch viel weniger gute Redner als Dichter finden. (12) Dies muss auch umso verwunderlicher erscheinen, weil man ja beim Studium der übrigen Wissenschaften aus beinahe abgelegenen, verborgenen Quellen schöpft, die gesamte Redekunst aber vor aller Augen liegt und auf der allgemeinen Erfahrung, dem Verhalten und Reden der Menschen beruht. Bei den übrigen Wissenschaften ragt das am meisten hervor, was am weitesten von der Einsicht und dem Empfinden von Laien entfernt ist, beim Reden aber ist es der allergrößte Fehler, von der gebräuchlichen Redeweise und von der gewohnten Art der allgemeinen Empfindung abzuweichen. (13) Dabei kann man nicht einmal zu Recht sagen, dass die Mehrzahl der Menschen sich den übrigen Wissenschaften widmet oder durch größeren Genuss, reichere Hoffnung oder reichlichere Belohnungen zum gründlicheren Lernen veranlasst wird. Und um Griechenland zu übergehen, das immer die führende Rolle in der Beredsamkeit einnehmen wollte, und Athen, die Erlinderin aller Gelehrsamkeit, wo die wirksamste Art der Rede entwickelt und vollendet wurde: In diesem unserem Staat selbst standen in der Tat niemals irgendwelche Studien kräftiger in Blüte als das Studium der Beredsamkeit. (14) Denn nachdem die Herrschaft über alle Völker errichtet war und dadurch lang anhaltender Friede die Muße festigte, gab es fast keinen ruhmbegierigen jungen Mann, der nicht der Meinung gewesen wäre, er müsse sich mit ganzem Eifer um die Redekunst bemühen. Anfangs glaubten sie zwar in Unkenntnis des ganzen theoretischen Systems, es gebe weder einen Weg der Übung noch irgendeine wissenschaftlich begründete Vorschrift, und so erreichten sie nur soviel, wie sie durch ihre Begabung und durch Nachdenken fertig brachten. Später aber, nachdem sie griechische Redner gehört, deren

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quodam nostri homines discendi studio flagraverunt. Excitabat eos magnitudo ac varietas multitudoque in omni genere causarum, ut ad earn doctrinam, quam suo quisque studio consecutus esset, adiungeretur usus frequens, qui omnium magistroram praecepta superaret. Erant autem huic studio maxima, quae nunc quoque sunt, exposita praemia vel ad gratiam vel ad opes vel ad dignitatem; ingenia vero, ut multis rebus possumus iudicare, nostrorum hominum multum ceteris hominibus omnium gentium praestiterunt. Quibus de causis quis non iure miretur ex omni memoria aetatum, temporum, civitatum tam exiguum oratorum numerum inveniri? Sed nimirum maius est hoc quiddam, quam homines opinantur, et pluribus ex artibus studiisque collectum. Quid enim quis aliud in maxima discentium multitudine, summa magistrorum copia, praestantissimis hominum ingeniis, infinita causarum varietate, amplissimis eloquentiae propositis praemiis esse causae putet, nisi rei quandam incredibilem magnitudinem ac difficultatem? Est enim et scientia comprehendenda rerum plurimarum, sine qua verborum volubilitas inanis atque inridenda est, et ipsa oratio conformanda non solum electione, sed etiam constructione verborum et omnes animorum motus, quos hominum generi rerum natura tribuit, penitus pernoscendi, quod omnis vis ratioque dicendi in eorum, qui audiunt, mentibus aut sedandis aut excitandis expromenda est. Accedat eodem oportet lepos quidam facetiaeque et eruditio libero digna celeritasque et brevitas et respondendi et lacessendi subtili venustate atque urbanitate coniuncta. Tenenda praeterea est omnis antiquitas exemplorumque vis neque legum ac iuris civilis scientia neglegenda est. Nam quid ego de actione ipsa plura dicam, quae motu corporis, quae gestu, quae vultu, quae vocis conformatione ac varietate moderanda est? Quae sola per se ipsa quanta sit, histrionum levis ars et scaena declarat, in qua cum omnes in oris et vocis et motus moderatione elaborent, quis ignorat, quam pauci sint fuerintque, quos animo aequo spectare possimus? Quid dicam de thesauro rerum omnium, memoria? Quae nisi custos inventis cogitatisque rebus et verbis adhibeatur, intel-

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Schriften kennen gelernt und ihre Lehrer herbeigeholt hatten, entbrannten unsere Landsleute in ganz unglaublichem Eifer für die Redekunst. (15) Dabei regte sie die Bedeutung, Vielfältigkeit und große Zahl jeder Art von Prozessen an, so dass zu der theoretischen Bildung, die sich jeder durch seinen eigenen Eifer angeeignet hatte, ständige praktische Erfahrung hinzukam, welche mehr wert ist als die Vorschriften aller Lehrer. Es waren aber, wie jetzt auch, sehr große Belohnungen hinsichtlich Einfluss, Macht und Würde ausgesetzt; doch die Begabung unserer Landsleute übertraf, wie wir aufgrund vieler Umstände beurteilen können, bei weitem die der übrigen Menschen aller Völker. (16) Wer möchte sich aus diesen Gründen nicht mit Recht wundern, dass sich in der ganzen Geschichte aller Generationen, Epochen und Staaten nur eine so geringe Anzahl von Rednern findet? Aber freilich ist das etwas Größeres, als die Menschen vermuten, und setzt sich aus einer größeren Zahl Wissenschaften und Studienfächern zusammen. Denn bei der übergroßen Zahl der Lernenden, bei der Uberfülle der Lehrer, bei den herausragenden Begabungen der Menschen, bei der unermesslichen Vielfältigkeit der Rechtsfälle, bei den überreichen Belohnungen, die für die Beredsamkeit ausgesetzt sind - welchen anderen Grund für diese Tatsachen möchte da jemand annehmen als die geradezu unglaubliche Bedeutung und Schwierigkeit der Sache ? (17) Man muss sich nämlich die Kenntnis sehr vieler Dinge aneignen, ohne welche die bloße Fertigkeit im Reden hohl und lächerlich wäre, und die Rede selbst darf man nicht durch die Wahl der Worte, sondern man muss sie auch durch deren Verbindung gestalten, und alle Gemütsregungen, welche die Natur dem Menschengeschlecht gegeben hat, muss man genauestens erforschen, weil alle Kraft und Methode der Rede sich in der Besänftigung oder Erregung der Zuhörer entfalten muss. Dazu sollen eine gewisse Liebenswürdigkeit und ein gewisser Witz treten, eine eines freien Mannes würdige Bildung und Schlagfertigkeit und Kürze beim Antworten und Herausfordern, verbunden mit Anmut und geistreichem Scherzen. (18) Außerdem muss man die gesamte alte Geschichte kennen und einen Vorrat an Beispielen; auch die Kenntnis der Gesetze und des bürgerlichen Rechts darf man nicht vernachlässigen. Was soll ich über den Vortrag selbst ausführlicher sprechen, der durch die Körperbewegung, der durch die Gestik, der durch das Mienenspiel und der durch die Modulation und Abwechslung im Tonfall harmonisch abgemessen werden muss ? Wie wichtig dieser schon für sich allein ist, zeigt die unbedeutende Kunst der Schauspieler und die Bühne deutlich; obwohl sich hier alle um den richtigen Gesichtsausdruck und Tonfall und die rechte Bewegung bemühen, weiß doch jeder, wie wenige Schauspieler es gibt und gegeben hat, denen wir gelassen zuschauen können. Was soll ich über die Schatzkammer aller Dinge, das Gedächtnis, sagen? Wenn es nicht als Wächter für die erfundenen und erdachten Argumente und

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legimus omnia, etiam si praeclarissima fuerint in oratore, peritura. Q u a m ob rem mirari desinamus, quae causa sit eloquentium paucitatis, cum ex iis rebus universis eloquentia constet, quibus in singulis elaborare permagnum est, hortemurque potius liberos nostras ceterosque, quorum gloria nobis et dignitas cara est, ut animo rei magnitudinem complectantur, neque eis aut praeceptis aut magistris aut exercitationibus, quibus utuntur omnes, sed aliis quibusdam se id, quod expetunt, consequi posse confidant. Ac mea quidem sententia nemo poterit esse omni laude cumulatus orator, nisi erit omnium rerum magnarum atque artium scientiam consecutus. Etenim ex rerum cognitione efflorescat et redundet oportet oratio; quae nisi subest res ab oratore percepta et cognita, inanem quandam habet elocutionem et paene puerilem.

Neque vero ego hoc tantum oneris imponam nostris praesertim oratoribus in hac tanta occupatione urbis ac vitae, nihil ut iis putem licere nescire, quamquam vis oratoris professioque ipsa bene dicendi hoc suscipere ac polliceri videtur, ut omni de re, quaecumque sit proposita, ornate ab eo copioseque dicatur. Sed quia non dubito, quin hoc plerisque immensum infinitumque videatur, et quod Graecos homines non solum ingenio et doctrina, sed etiam otio studioque abundantis partitionem iam quandam artium fecisse video neque in universo genere singulos elaborasse, sed seposuisse a ceteris dictionibus earn partem dicendi, quae in forensibus disceptationibus iudiciorum aut deliberationum versaretur, et id unum genus oratori reliquisse, non complectar in his libris amplius, quam quod huic generi re quaesita et multum disputata summorum hominum prope consensu est tributum. Repetamque non ab incunabulis nostrae veteris puerilisque doctrinae quendam ordinem praeceptorum, sed ea, quae quondam accepi in nostrorum hominum eloquentissimorum et omni dignitate principum disputatione esse versata, non quod ilia contemnam, quae Graeci dicendi artifices et doctores reliquerunt, sed cum ilia pateant in promptuque sint omnibus

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Worte herangezogen würde, müssten wir feststellen, dass alles, auch wenn es sich noch so herrlich beim Redner gefunden hat, verloren geht. (19) Deshalb wollen wir aufhören, uns verwundert zu fragen, was der Grund dafür sei, dass es nur wenige beredte Männer gibt! Denn die Beredsamkeit besteht aus der Gesamtheit der Eigenschaften, auf die einzeln seine Aufmerksamkeit zu richten schon eine sehr schwierige Aufgabe ist. Wollen wir statt dessen lieber unsere Kinder und die übrigen Menschen, deren Ruhm und Würde uns teuer ist, auffordern, die Größe des Gegenstandes in ihrem ganzen Umfang geistig zu erfassen und darauf zu vertrauen, dass sie die erstrebten Ziele nicht mit Hilfe derjenigen Vorschriften, Lehrer und Übungen, deren sich alle bedienen, erreichen, sondern mit ganz anderen! (20) Und nach meiner Meinung wenigstens kann niemand ein mit allem Ruhm überhäufter Redner sein, ohne sich Kenntnisse von allen bedeutenden Gegenständen und Wissenschaften angeeignet zu haben. Aus der Kenntnis der Gegenstände muss ja auch die Rede erblühen und sich ergießen; liegt nicht ein vom Redner voll erfasster und erkannter Gegenstand zugrunde, so beherrscht er nur leeres und beinahe kindisches Geschwätz. (21) Aber nicht will ich eine so große Last zumal unseren Rednern bei ihrer so großen Beanspruchung durch das Leben in Rom aufbürden, dass ich glaubte, es sei ihnen überhaupt nicht gestattet, etwas nicht zu wissen; gleichwohl scheint das Wesen des Redners und der Anspruch, gut zu reden, das auf sich zu nehmen und zu verheißen, dass er über jedes Thema, welches auch immer ihm gestellt wird, mit reichem Schmuck und wort- und gedankenreich sprechen kann. (22) Aber ich zweifle ja nicht daran, dass das sehr vielen als eine unermessliche und grenzenlose Aufgabe erscheint, und ich sehe, dass schon die Griechen, die nicht nur Geistesgaben und theoretische Bildung, sondern auch Muße und eifriges wissenschaftliches Streben im Uberfluss besaßen, eine gewisse Teilung der Wissenschaften vorgenommen haben; der einzelne hat sich nicht auf dem gesamten Fachgebiet abgemüht, sondern sie haben von den übrigen Vorträgen die Art der Rede, die sich mit öffentlichen Gerichtsverhandlungen und beratenden Versammlungen auf dem Forum beschäftigt, abgesondert und diese Gattung allein dem Redner vorbehalten. Deshalb will ich in diesen Büchern nicht mehr zusammenfassen als das, was dieser Gattung nach gründlicher Untersuchung und Erörterung der Sache mit fast einhelliger Zustimmung der bedeutendsten Männer zugeteilt worden ist. (23) Ich will auch nicht wieder von den ersten Anfängen unseres Schulunterrichts an eine Reihe von Vorschriften bringen, sondern das wiedergeben, was, wie ich einst vernommen habe, in einem Gespräch der beredtesten und in jedem Staatsamt hervorragendsten Männer unseres Volkes abgehandelt wurde, nicht weil ich das gering schätzte, was griechische Theoretiker und Lehrer der Redekunst hinterlassen haben; da aber ihre Lehren

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neque ea interpretatione mea aut ornatius explicari aut planius exprimi possint, dabis hanc veniam, mi frater, ut opinor, ut eorum, quibus summa dicendi laus a nostris hominibus concessa est, auctoritatem Graecis anteponam. C u m igitur vehementius inveheretur in causam principum consul Philippus Drusique tribunatus pro senatus auctoritate susceptus infringi iam ac debilitari videretur, dici mihi memini ludorum Romanorum diebus L. Crassum quasi colligendi sui causa se in Tusculanum contulisse; venisse eodem, socer eius qui fuerat, Q . Mucius dicebatur et Μ. Antonius, homo et consiliorum in re publica socius et summa cum Crasso familiaritate coniunctus. Exierant autem cum ipso Crasso adulescentes et Drusi maxime familiares et in quibus magnam tum spem maiores natu dignitatis suae conlocarent, C. Cotta, qui tum tribunatum plebis petebat, et P. Sulpicius qui deinceps eum magistratum petiturus putabatur. Hi primo die de temporibus deque universa re publica, quam ob causam venerant, multum inter se usque ad extremum tempus diei collocuti sunt. Q u o quidem in sermone multa divinitus a tribus illis consularibus Cotta deplorata et commemorata narrabat, ut nihil incidisset postea civitati mali, quod non inpendere illi tanto ante vidissent. E o autem omni sermone confecto tantam in Crasso humanitatem fuisse, ut cum lauti accubuissent, tolleretur omnis illa superioris tristitia sermonis eaque esset in homine iucunditas et tantus in iocando lepos, ut dies inter eos curiae fuisse videretur, convivium Tusculani.

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Postero autem die, cum illi maiores natu satis quiessent, in ambulationem ventum esse dicebat; tum Scaevolam duobus spatiis tribusve factis dixisse: 'Cur non imitamur, Crasse, Socratem ilium, qui est in Phaedro Piatonis ? N a m me haec tua platanus admonuit, quae non minus ad opacandum hunc locum patulis est diffusa ramis quam ilia, cuius umbram secutus est Socrates, quae mihi videtur non tarn ipsa acula, quae describitur, quam Piatonis oratione crevisse, sed quod ille durissimis pedibus fecit, ut se abiceret in herba atque ita ilia, quae philosophi di-

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der Öffentlichkeit vorliegen und allen zugänglich sind und durch meine Wiedergabe weder schmuckvoller entwickelt noch deutlicher ausgedrückt werden können, wirst du mir, wie ich glaube, erlauben, mein lieber Bruder, das Vorbild derer, denen von unseren Landsleuten der höchste Ruhm in der Redekunst zuerkannt wurde, den Griechen vorzuziehen. (24) Zu der Zeit also, als der Konsul Philippus gegen die Sache der führenden Männer immer leidenschaftlicher vorging und das Tribunat des Drusus, das er zur Unterstützung des Ansehens des Senats angetreten hatte, entkräftet und geschwächt zu werden schien, begab sich - so wurde mir gesagt, wie ich mich erinnere - Lucius Crassus an den Tagen der Römischen Spiele, gewissermaßen um sich zu erholen, auf sein Tusculanum; dorthin seien auch sein Schwiegervater Quintus Mucius und Marcus Antonius gekommen; letzterer teilte die politischen Ansichten des Crassus und war ihm in enger Freundschaft verbunden. (25) Zusammen mit Crassus selbst aber waren zwei junge Männer hinausgegangen, sehr enge Freunde des Drusus, auf welche die Alteren sehr große Hoffnung hinsichtlich der Wahrung ihres Einflusses setzten, Gaius Cotta, der sich damals um das Volkstribunat bewarb, und Publius Sulpicius, der sich, wie man glaubte, im Anschluss an Cotta um dieses Amt bewerben würde. (26) Diese Männer unterhielten sich am ersten Tag ausführlich über die Zeitumstände und die gesamte politische Lage, bis der Tag zu Ende ging; deswegen waren sie auch gekommen. Während dieses Gespräches nun beklagten und erwähnten die drei Konsulare, wie Cotta erzählte, vieles in prophetischer Weise, so dass später kein Unheil über den Staat hereinbrach, das jene Männer nicht schon lange über ihrem Haupt hätten schweben gesehen. (27) Nach Beendigung des ganzen Gespräches aber habe Crassus eine solche menschliche Überlegenheit gezeigt, dass alle traurige Stimmung des vorherigen Gespräches verschwunden sei, als sie sich nach dem Bade zu Tisch begeben hatten; der Mann habe eine solche Freundlichkeit und beim Scherzen eine solche Liebenswürdigkeit gezeigt, dass man den Eindruck gewonnen habe, den Tag hätten sie in der Kurie verbracht, zum Gastmahl seien sie in Tusculum gewesen. (28) Am folgenden Tag aber, als sich die älteren Männer genug ausgeruht hatten, sei man, wie Cotta erzählte, in die Allee gegangen; da habe Scaevola, nachdem man zwei- oder dreimal auf- und abgegangen sei, gesagt: »Warum, mein Crassus, machen wir es nicht ebenso wie Sokrates in Piatons Pbaidrosl Denn daran hat mich deine Platane erinnert, die nicht weniger weit ausladende Äste hat, um Schatten zu spenden, als jene, deren Schatten Sokrates aufgesucht hat; letztere scheint mir nicht so sehr durch das Bächlein selbst, das beschrieben wird, als durch Piatons sprachliche Gestaltung gewachsen zu sein. Aber was Sokrates trotz seiner ungemein abgehärteten Füße tat, dass er sich nämlich ins Gras warf und so jene Worte sprach, die nach Aus-

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vinitus ferunt esse dicta, loqueretur, id meis pedibus certe concedi est aequius.' Tum Crassum 'immo vero commodius etiam' pulvinosque poposcisse et omnis in lis sedibus, quae erant sub platano, consedisse dicebat. Ibi ut ex pristino sermone relaxarentur animi omnium, solebat Cotta narrare, Crassum sermonem quendam de studio dicendi intulisse. Q u i cum ita esset exorsus non sibi cohortandum Sulpicium et Cottam, sed magis utrumque conlaudandum videri, quod tantam iam essent facultatem adepti, ut non aequalibus suis solum anteponerentur, sed cum maioribus natu compararentur, 'neque vero mihi quicquam' inquit 'praestabilius videtur, quam posse dicendo tenere hominum mentis, adlicere voluntates, impellere quo velit, unde autem velit deducere. Haec una res in omni libera populo maximeque in pacatis tranquillisque civitatibus praecipue semper floruit semperque dominata est. Q u i d enim est aut tarn admirabile quam ex infinita multitudine hominum existere unum, qui id, quod omnibus natura sit datum, vel solus vel cum perpaucis facere possit? Aut tam iucundum cognitu atque auditu quam sapientibus sententiis gravibusque verbis ornata oratio et polita? Aut tam potens tamque magnificum quam populi motus, iudicum religiones, senatus gravitatem unius oratione converti? Q u i d tam porro regium, tam liberale, tam munificum quam opem ferre supplicibus, excitare adflictos, dare salutem, liberare periculis, retinere homines in civitate? Q u i d autem tam necessarium quam tenere semper arma, quibus vel tectus ipse esse possis vel provocare improbos vel te ulcisci lacessitus ? Age vero, ne semper forum, subsellia, rostra, curiamque meditere, quid esse potest in otio aut iuncundius aut magis proprium humanitatis quam sermo facetus ac nulla in re rudis ? H o c enim uno praestamus vel maxime feris, quod conloquimur inter nos et quod exprimere dicendo sensa possumus. Q u a m ob rem quis hoc non iure miretur summeque in eo elaborandum esse arbitretur, ut quo uno homines maxime bestiis praestent, in hoc hominibus ipsis antecellat? Ut vero iam ad ilia summa veniamus, quae vis alia potuit aut dispersos homines unum in locum congregare aut a fera agrestique vita ad hunc humanum

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sage der Philosophen mit göttlicher Eingebung ausgesprochen wurden, das darf meinen Füßen sicher mit größerer Berechtigung zugestanden werden.« (29) Darauf habe Crassus erwidert: » G e w i s s doch! Wir können es noch bequemer haben.« Er habe Sitzkissen bringen lassen und alle hätten sich, berichtete Cotta, auf diese Sitzgelegenheiten unter der Platane niedergelassen. Dort habe C r a s s u s , damit sich alle von dem vorausgehenden Gespräch erholten, pflegte Cotta zu erzählen, ein ganz besonderes Gespräch über die Redekunst begonnen. (30) Er fing seine Rede mit der Bemerkung an, Sulpicius und Cotta brauche er nicht zu ermuntern, sondern er glaube eher, beide loben zu können, weil sie schon eine solche Fähigkeit erlangt hätten, dass sie nicht nur ihren Altersgenossen vorgezogen, sondern sogar mit Älteren verglichen würden. » U n d mir scheint in der Tat nichts vorzüglicher«, fuhr er fort, »als die Fähigkeit, durch die Rede die Gedanken der Menschen zu fesseln, ihre Zuneigung zu gewinnen, sie dorthin zu bringen, wohin man will, und sie abzubringen, wovon man will. D a s ist es, was in jedem freien Volk und vor allem in friedlichen und ruhigen Staaten immer in besonders hohem Ansehen stand und eine führende Rolle hatte. (31) Was nämlich ist s o bewundernswert, wie wenn aus einer unbegrenzten Anzahl von Menschen ein Einzelner hervortritt, der das, was allen von der N a t u r gegeben ist, entweder allein oder mit ganz wenigen zusammen verwirklichen kann? O d e r was ist für Geist und Ohr so angenehm wie eine mit weisen Gedanken und gewichtigen Worten geschmückte und ausgefeilte Rede? O d e r was s o mächtig und großartig, wie wenn die Emotionen des Volkes, die Bedenken der Richter und die Strenge des Senats durch die Rede eines Einzigen umgestimmt werden? (32) Was ist ferner so königlich, so edel, so rühmlich, wie wenn man Flehenden Hilfe bringt, Niedergeschlagene aufrichtet, ihnen Rettung bringt, sie aus Gefahren befreit, Menschen im Staat zurückhält? Was aber ist s o notwendig, wie immer Waffen zu besitzen, mit denen man sich selbst schützen oder Schurken herausfordern oder, wenn man herausgefordert wird, sich rächen kann? U n d weiter, u m nicht immer an das Forum, an Richterbänke, Rednerbühne und Kurie zu denken, was kann in der Muße angenehmer sein oder dem Menschen mehr entsprechen als ein geistreiches und in keiner Weise ungebildetes Gespräch? In diesem einen Punkt nämlich übertreffen wir die Tiere am allermeisten, dass wir miteinander reden und dass wir unsere Empfindungen durch Sprache ausdrücken können. (33) Wer sollte deshalb diese Fähigkeit nicht mit Recht bewundern und es nicht der größten Anstrengung wert halten, dass er sich dadurch, worin allein die Menschen die Tiere am meisten übertreffen, vor den Menschen selbst auszeichnet? U m aber endlich zum wichtigsten Punkt zu k o m m e n : Welche andere Macht konnte die verstreut lebenden Menschen an einem O r t versammeln oder von ihrem wilden und

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cultum civilemque deducere aut iam constitutis civitatibus leges, iudicia, iura describere? Ac ne plura, quae sunt paene innumerabilia, consecter, comprehendam brevi: sic enim statuo perfecti oratoris moderatione et sapientia non solum ipsius dignitatem, sed et privatorum plurimorum et universae rei publicae salutem maxime contineri. Quam ob rem pergite, ut facitis, adulescentes, atque in id Studium, in quo estis, incumbite, ut et vobis honori et amicis utilitati et rei publicae emolumento esse possitis.'

Tum Scaevola comiter, ut solebat, 'cetera' inquit 'adsentior Crasso, ne aut de C. Laeli soceri mei aut de huius generi aut arte aut gloria detraham, sed ilia duo, Crasse, vereor, ut tibi possim concedere: unum, quod ab oratoribus civitates et initio constitutas et saepe conservatas esse dixisti, alterum, quod remoto foro, contione, iudiciis, senatu statuisti oratorem in omni genere sermonis et humanitatis esse perfectum. Quis enim tibi hoc concesserit aut initio genus hominum in montibus ac silvis dissipatum non prudentium consiliis compulsum potius quam disertorum oratione delenitum se oppidis moenibusque saepsisse ? Aut vero reliquas utilitates aut in constituendis aut in conservandis civitatibus non a sapientibus et fortibus viris, sed a disertis ornateque dicentibus esse constitutas? An vero tibi Romulus ille aut pastores et convenas congregasse aut Sabinorum conubia coniunxisse aut finitimorum vim repressisse eloquentia videtur, non consilio et sapientia singulari? Quid? in Numa Pompilio, quid? in Servio Tullio, quid? in ceteris regibus, quorum multa sunt eximia ad constituendam rem publicam, num quod eloquentiae vestigium apparet? Quid? exactis regibus, tametsi ipsam exactionem mente, non lingua perfectam L. Bruti esse cernimus, sed deinceps omnia nonne plena consiliorum, inania verborum videmus? Ego vero si velim et nostrae civitatis exemplis uti et aliarum, plura proferre possim detrimenta publicis rebus quam adiumenta per homines eloquentissimos importata; sed ut reliqua praetermittam, omnium mihi videor exceptis, Crasse, vobis

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rohen Leben zu dieser unserer menschlichen und bürgerlichen Lebensweise geleiten oder nach der Gründung von Staaten Gesetze, Gerichte und Rechte fesdegen? (34) Und um nicht noch mehr Gesichtspunkte, deren es fast unzählige gibt, zu verfolgen, will ich kurz zusammenfassen. Ich vertrete nämlich folgende Überzeugung: Durch die weise Führung des vollkommenen Redners ist nicht nur seine eigene Würde wesentlich bedingt, sondern auch das Wohlergehen sehr vieler Privatpersonen und des gesamten Staates. Deswegen fahrt fort, ihr jungen Leute, mit dem, was ihr tut, und betreibt das Studium, in dem ihr steht, energisch, damit ihr euch Ehre, den Freunden Nutzen und dem Staat Vorteil bringen könnt.« (35) Darauf erwiderte Scaevola freundlich, wie gewohnt: »In den übrigen Punkten stimme ich dem Crassus zu, um nicht der Kunst und dem Ruhm meines Schwiegervaters Gaius Laelius oder meines Schwiegersohnes hier Abbruch zu tun, aber ich fürchte, mein Crassus, zweien deiner Aussagen kann ich nicht beipflichten. Erstens deiner Aussage, von Rednern seien die Staaten anfangs gegründet und oft erhalten worden; zweitens deiner These, abgesehen von Forum, Volksversammlungen, Gerichtsverhandlungen und Senat sei der Redner auch in jeder Art Gespräch und menschlicher Bildung vollkommen. (36) Wer möchte dir nämlich darin beipflichten, dass das Menschengeschlecht, das verstreut in Bergen und Wäldern lebte, anfangs nicht eher vom Rat kluger Männer dazu getrieben, sondern bezaubert durch die Ansprache redegewandter Männer sich in Städten und hinter Mauern eingeschlossen habe? Oder gar, dass die übrigen nützlichen Einrichtungen bei der Gründung oder Erhaltung von Staaten nicht von weisen und tapferen, sondern von redegewandten und mit reichem Redeschmuck sprechenden Männern geschaffen worden seien? (37) Oder glaubst du wirklich, der große Romulus hätte durch Beredsamkeit und nicht durch planende Überlegung und seine einzigartige Weisheit die Hirten und zusammengelaufenen Fremdlinge zu einem Volk vereinigt, Ehen mit den Sabinern geknüpft oder die Gewalt der Nachbarn zurückgedrängt? Zeigt sich etwa bei Numa Pompilius, etwa bei Servius Tullius, etwa bei den übrigen Königen, die viel Hervorragendes zur Staatsgründung beigetragen haben, auch nur eine Spur von Beredsamkeit? Und weiter: Nachdem die Könige vertrieben waren - wir sehen selbstverständlich, dass die Vertreibung selbst durch den Verstand und nicht durch die Zunge des Lucius Brutus zustande gebracht wurde - , bemerken wir nicht, dass danach alle Menschen gute Ideen in Fülle hatten, doch keinen Wert auf Worte legten? (38) In der Tat, wenn ich Beispiele aus unserem Staat und anderen Staaten anführen wollte, so könnte ich mehr Verluste anführen, die den Staatswesen durch die redegewandtesten Männer gebracht wurden, als Unterstützung; doch um das Übrige zu übergehen: Ich habe - ausgenom-

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duobus eloquentissimos audisse Ti. et C. Sempronios, quorum pater, homo prudens et gravis, haudquaquam eloquens, et saepe alias et maxime censor saluti rei publicae fuit. Atque is non accurata quadam orationis copia, sed nutu atque verbo libertinos in urbanas tribus transtulit; quod nisi feeisset, rem publicam, quam nunc vix tenemus, iam diu nullan haberemus. At vera eius filii diserti et omnibus vel naturae vel doctrinae praesidiis ad dicendum parati, cum civitatem vel paterno consilio vel avitis armis florentissimam accepissent, ista praeclara gubernatrice, ut ais, civitatum eloquentia rem publicam dissipaverunt. Quid? Leges veteres mosque maiorum, quid? auspicia, quibus ego et tu, Crasse, cum magna rei publicae salute praesumus, quid? religiones et caerimoniae, quid? haec iura civilia, quae iam pridem in nostra familia sine ulla eloquentiae laude versantur, num aut inventa sunt aut cognita aut omnino ab oratorum genere tractata? Equidem et Ser. Galbam memoria teneo, divinum hominem in dicendo, et Μ. Aemilium Porcinam et C. ipsum Carbonem, quem tu adulescentulus perculisti, ignarum legum, haesitantem in maiorum institutis, rüdem in iure civili; et haec aetas vostra praeter te, Crasse, qui tuo magis studio quam proprio munere aliquo disertorum ius a nobis civile didicisti, quod interdum pudeat, iuris ignara est.

Quod vero in extrema oratione quasi tuo iure sumpsisti, oratorem in omnis sermonis disputatione copiosissime posse versari, id nisi hie in tuo regno essemus, non tulissem multisque praeissem, qui aut interdicto tecum contenderent aut te ex iure manum consertum vocarent, quod in alienas possessiones tam temere inruisses. Agerent enim tecum lege primum Pythagorei omnes atque Democritii ceterique in iure sua physici vindicarent, ornati homines in dicendo et graves, quibuscum tibi iusto Sacramento contendere non liceret. Urguerent praeterea philo-

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men ihr beide, mein C r a s s u s , die redegewandtesten Männer von allen - die Sempronier Tiberius und Gaius gehört, deren Vater, ein kluger und würdevoller, aber keineswegs beredter Mann, oft auch in vielen anderen Fällen, am meisten aber als Zensor das Wohlergehen des Staates förderte. Dieser hat nicht durch eine sorgfältig ausgearbeitete und wort- und gedankenreiche Rede, sondern durch einen Wink und ein Wort die Freigelassenen in die städtischen Stimmbezirke gebracht; hätte er das nicht getan, besäßen wir den Staat, den wir jetzt nur mit Mühe erhalten, schon lange nicht mehr. Dagegen haben aber seine redegewandten und mit allen natürlichen und wissenschaftlichen Hilfsmitteln z u m Reden ausgerüsteten Söhne, obwohl sie den Staat dank der planenden Vernunft ihres Vaters und der Waffen ihres Großvaters in höchster Blüte übernommen hatten, durch diese herrliche Staatslenkerin, wie du sie nennst, die Redegewandtheit, den Staat zertrümmert. (39) Etwa die alten Gesetze und die Sitten der Vorfahren, etwa die Auspizien, die ich und du, mein C r a s s u s , gar sehr zum Wohle des Staates leiten, etwa die religiösen Gebräuche und Zeremonien, etwa unsere bürgerlichen Rechte, mit denen wir uns in unserer Familie schon lange ohne irgendeinen R u h m der Beredsamkeit beschäftigen - wurde dies alles wohl von dem Stand der Redner erfunden, erforscht oder überhaupt behandelt? (40) Ich wenigstens erinnere mich daran, dass Servius Galba, ein begnadeter Redner, dass Marcus Aemilius Porcina und Gaius C a r b o selbst, den du als ganz junger Mann in Grund und Boden geredet hast, die Gesetze nicht kannten, sich in den Grundsätzen der Vorfahren verhedderten und ungebildet im bürgerlichen Recht waren; auch diese eure Generation - ausgenommen du, mein C r a s s u s , der mehr aus eigenem Interesse als wegen des eigentlichen Rednerberufes das bürgerliche Recht von mir gelernt hast - kennt das Recht nicht; dafür könnte man sich allerdings manchmal schämen.

(41) Was du dir aber am Ende deiner Rede, als ob du einen Rechtsanspruch darauf hättest, herausgenommen hast mit der Behauptung, ein Redner könne sich in jeder Art sprachlicher Erörterung höchst gedanken- und wortreich ausdrücken, das hätte ich nicht ertragen, wenn wir nicht hier in deinem Reich wären, und ich hätte vielen die Formel vorgesprochen, die dich entweder mit einem Einspruch bekämpften oder auf dem Rechtsweg gegen dich vorgingen, weil du so ohne weiteres in fremden Besitz eingedrungen seist. (42) Klage erheben gegen dich würden nämlich aufgrund eines Gesetzes zuerst alle Pythagoreer, und auch die Anhänger Demokrits und die übrigen Naturphilosophen würden vor dem Prätor Ansprüche auf ihr Eigentum geltend machen, Männer, die schön und nachdrucksvoll reden können; mit ihnen könntest du dich nach Hinterlegung der Kaution nicht mit Erfolg gerichtlich auseinandersetzen. Bedrängen würden dich außerdem Scharen von

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sophorum greges iam ab illo fonte et capite Socrate, nihil te de bonis rebus in vita, nihil de malis, nihil de animi permotionibus, nihil de hominum moribus, nihil de ratione vitae didicisse, nihil omnino quaesisse, nihil scire convincerent. Et universi in te impetum fecissent, tum singulae familiae litem tibi intenderent. Instaret Academia, quae, quicquid dixisses, id te ipsum negare cogeret; Stoici vero nostri disputationum suarum atque interrogationum laqueis te inretitum tenerent. Peripatetici autem etiam haec ipsa, quae propria oratorum putas esse, adiumenta atque ornamenta dicendi, a se peti vincerent oportere, ac non solum meliora, sed, etiam multo plura Aristotelem Theophrastumque de istis rebus quam omnis dicendi magistros scripsisse ostenderent. Missos facio mathematicos, grammaticos, musicos, quorum artibus vestra ista dicendi vis ne minima quidem societate coniungitur. Quam ob rem ista tanta tamque multa profitenda, Crasse, non censeo. Satis id est magnum, quod potes praestare, ut in iudiciis ea causa, quamcumque tu dicis, melior et probabilior esse videatur; ut in contionibus et in sententiis dicendis ad persuadendum tua plurimum valeat oratio; denique ut prudentibus diserte, stultis etiam vere videare dicere. Hoc amplius si quid poteris, non id mihi videbitur orator, sed Crassus sua quadam propria, non communi oratorum facultate posse.'

Tum ilie 'non sum' inquit 'nescius, Scaevola, ista inter Graecos dici et disceptari solere. Audivi enim summos homines, cum quaestor ex Macedonia venissem Athenas florente Academia, ut temporibus illis ferebatur, cum earn Charmadas et Clitomachus et Aeschines optinebant. Erat etiam Metrodorus, qui cum illis una etiam ipsum ilium Carneadem diligenter audierat, hominem omnium in dicendo, ut ferebant, acerrimum et copiosissimum; vigebatque auditor Panaetii illius tui Mnesarchus et Peripatetici Critolai Diodorus. Multi erant praeterea clari in philosophia et nobiles. A quibus omnibus una paene voce repelli oratorem a gubernaculis civitatum, excludi ab omni doctrina rerumque maiorum scientia ac tantum in iudicia et contiunculas tamquam

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Philosophen, angefangen von ihrem Urheber und Stifter Sokrates, und sie würden dir nachweisen, dass du nichts über die guten Dinge im Leben, nichts über die schlechten, nichts über die Gemütsregungen, nichts über die Sitten der Menschen, nichts über ihre Lebensweise gelernt und sie überhaupt nicht untersucht hast und nichts darüber weißt. Und wenn sie alle zusammen dich angegriffen hätten, würden die einzelnen Schulen getrennt einen Rechtsstreit gegen dich anstrengen. (43) Zusetzen würde dir die Akademie, welche dich zwänge, alles zu leugnen, was du gesagt hast; unsere Stoiker gar würden dich in den Schlingen ihrer kniffligen Fragestellungen verstrickt halten. Die Peripatetiker aber würden beweisen, dass man selbst die Stützen und den Schmuck der Rede, die du für das Eigentum der Redner hältst, von ihnen erbitten müsse, und sie würden darauf hinweisen, dass Aristoteles und Theophrast nicht nur Besseres, sondern auch viel mehr über dieses Thema geschrieben haben als alle anderen Redelehrer. (44) Ich übergehe die Mathematiker, Philologen und Musiker, mit deren Fächern diese eure Redekunst auch nicht durch die geringste Gemeinsamkeit verbunden ist. Deshalb, mein Crassus, bin ich der Meinung, man dürfe nicht so große und viele Worte machen wie du. Bedeutend genug ist, wofür du dich verbürgen kannst, dass nämlich bei Gerichtsverhandlungen die Sache, die du gerade vertrittst, besser und wahrscheinlicher zu sein scheint, dass in Volksversammlungen und bei Abstimmungen deine Rede die stärkste Überzeugungskraft hat und schließlich, dass du bei klugen Menschen den Eindruck erweckst, du sprächest redegewandt, bei dummen, du sprächest auch wahr. Wenn du mehr als dies vermagst, dann vermag das, wie mir scheint, nicht der Redner, sondern Crassus durch eine speziell ihm eigene, aber nicht allen Rednern gemeinsame Befähigung.« (45) Darauf erwiderte jener: »Ich weiß sehr wohl, mein Scaevola, dass diese Meinungen gewöhnlich bei den Griechen ausgesprochen und erörtert werden. Ich hörte nämlich die bedeutendsten Männer, als ich als Quästor aus Mazedonien nach Athen gekommen war, wo, wie man zu jener Zeit sagte, die Akademie in Blüte stand unter der Leitung des Charmadas, Kleitomachos und Aischines. Dort war auch Metrodor, der mit ihnen zusammen auch den berühmten Karneades selbst aufmerksam gehört hatte, den der Uberlieferung nach scharfsinnigsten und wortgewaltigsten Redner von allen; in hohem Ansehen standen auch der Hörer deines großen Panaitios, Mnesarchos, und Diodor, der Schüler des Peripatetikers Kritolaos. (46) Noch viele andere in der Philosophie berühmte und angesehene Männer waren da. Von diesen allen wurde, wie ich sah, der Redner fast einstimmig vom Steuerruder der Staaten verdrängt, von jeder gelehrten Bildung und höheren Wissenschaft ausgeschlossen und nur in die Gerichte und unbedeutende Volksversammlungen wie in eine Stampfmühle hinabgestoßen und verdrängt.

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in aliquod pistrinum detrudi et compingi videbam. Sed ego neque illis adsentiebar neque harum disputationum inventori et principi longe omnium in dicendo gravissimo et eloquentissimo Platoni, cuius tum Athenis cum Charmada diligentius legi G o r gian; quo in libro in hoc maxime admirabar Platonem, quod mihi in oratoribus inridendis ipse esse orator summus videbatur. Verbi enim controversia iam diu torquet Graeculos, homines contentionis cupidiores quam veritatis. N a m si quis hunc statuit esse oratorem, qui tantummodo in iure aut in iudiciis possit aut apud populum aut in senatu copiose loqui, tamen huic ipsi multa tribuat et concedat necesse est. Neque enim sine multa pertractatione omnium rerum publicarum neque sine legum, moris, iuris scientia neque natura hominum incognita ac moribus in iis ipsis rebus satis callide versari et perite potest. Qui autem haec cognoverit, sine quibus ne ilia quidem minima in causis quisquam recte tueri potest, quid huic abesse poterit de maximarum rerum scientia? Sin oratoris nihil vis esse nisi composite, ornate, copiose loqui, quaero, id ipsum qui possit adsequi sine ea scientia, quam ei non conceditis. Dicendi enim virtus, nisi ei, qui dicet, et ea, quae dicet, percepta sunt, extare non potest. Q u a m ob rem, si ornate locutus est, sicut et fertur et mihi videtur, physicus ille Democritus, materies ilia fuit physici, de qua dixit, ornatus vero ipse verborum oratoris putandus est. Et si Plato de rebus ab civilibus controversiis remotissimis divinitus est locutus, quod ego concedo, si item Aristoteles, si Theophrastus, si Carneades in rebus iis, de quibus disputaverunt, eloquentes et in dicendo suaves atque ornati fuerunt, sint eae res, de quibus disputant, in aliis quibusdam studiis, oratio quidem ipsa propria est huius unius rationis, de qua loquimur et quaerimus. Etenim videmus isdem de rebus ieiune quosdam et exiliter, ut eum, quem acutissimum ferunt Chrysippum, disputavisse neque ob earn rem philosophiae non satis fecisse, quod non habuerit in hac dicendi arte aliena facultatem. Quid ergo interest? Aut qui discernes eorum, quos nominavi, ubertatem in dicendo et copiam ab eorum exilitate, qui hac dicendi varietate et elegantia non utuntur? Unum erit profecto, quod ii, qui bene dicunt, adferant proprium: compositam orationem et ornatam et artificio quodam et expolitione distinctam. Haec autem oratio, si res

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(47) Aber ich stimmte weder ihnen zu noch dem ersten Erfinder dieser gelehrten Erörterungen, dem bei weitem gewichtigsten und wortgewandtesten aller Redner, Piaton, dessen Gorgias ich damals in Athen mit Charmadas recht aufmerksam gelesen habe; bei diesem Buch bewunderte ich Piaton am meisten darin, dass er, während er die Redner verspottete, selbst der bedeutendste Redner zu sein schien. Wortgezänk nämlich quält schon lange die armen Griechen, die begieriger nach einem Wortgefecht als nach der Wahrheit sind. (48) Denn wenn man die Meinung vertritt, nur wer in der Vorverhandlung vor dem Prätor, vor den Richterkollegien, vor dem Volk oder im Senat wort- und gedankenreich sprechen kann, sei ein Redner, dann muss man doch schon diesem viel einräumen und zugestehen. Denn ohne gründliche Beschäftigung mit allen öffentlichen Angelegenheiten, ohne Kenntnis der Gesetze, der Sitte, des Rechts, ohne Wissen um die Natur der Menschen und ihre Sitten kann er schon in diesen Dingen nicht schlau berechnend genug vorgehen. Wer sich aber diese Kenntnis angeeignet hat, ohne die keiner auch nur den geringsten Schutz in Rechtsfällen richtig bieten kann, was kann dem noch an Kenntnis der wichtigsten Dinge fehlen ? Wenn man aber vom Redner weiter nichts verlangt, als dass er wohlgeordnet, mit reichem Redeschmuck und wort- und gedankenreich spricht, dann frage ich, wer denn gerade dieses Ziel erreichen kann ohne das Wissen, das ihr ihm nicht zugesteht. Meisterhafte Redekunst kann sich nämlich nur finden, wenn der Redner das, was er sagt, voll erfasst hat. (49) Wenn deshalb der bekannte Naturphilosoph Demokrit, wie berichtet wird und wie auch ich glaube, mit reichem Redeschmuck gesprochen hat, dann war der Stoff, über den er gesprochen hat, der eines Naturphilosophen, der Redeschmuck als solcher aber muss für das Eigentum des Redners gehalten werden. Und wenn Piaton über Themen, die von den politischen Auseinandersetzungen weit entfernt sind, göttlich gesprochen hat, was ich zugebe, wenn ebenso Aristoteles, wenn Theophrast, wenn Karneades bei den Themen, über die sie sprachen, beredt und im Besitz einer angenehmen und schmuckvollen Sprache waren, mögen die Themen, die sie erörtern, zu anderen Wissenschaften gehören, ihre Redeweise als solche gehört aber zu der Kunst allein, über die wir sprechen und die wir untersuchen. (50) Wir sehen ja auch, dass manche Philosophen trocken und dürftig über dieselben Themen gesprochen haben, wie der nach der Überlieferung sehr scharfsinnige Chrysipp, der trotzdem genug für die Philosophie geleistet hat, auch wenn er in der ihm fremden Redekunst keine Fähigkeit besaß. Worin besteht also der Unterschied? Oder wie würdest du den Reichtum und die Fülle der Rede der Männer, die ich genannt habe, von der Dürftigkeit derer unterscheiden, die über keine solche Nuancierung und keinen solch gewählten Ausdruck verfügen? Es ist in der Tat das Eine, was diejenigen, die gut reden, als ihr Eigentum anführen: eine wohlgeordnete Rede mit

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non subest ab oratore percepta et cognita, aut nulla sit necesse est aut omnium inrisione ludatur. Q u i d est enim tarn furiosum quam verborum vel optimorum atque ornatissimorum sonitus inanis, nulla subiecta sententia nec scientia? Quicquid erit igitur quacumque ex arte, quocumque de genere, orator id, si tamquam clientis causam didicerit, dicet melius et ornatius quam ipse file eius rei inventor atque artifex. N a m si quis erit, qui hoc dicat esse quasdam oratorum proprias sententias atque causas et certarum rerum forensibus cancellis circumscriptam scientiam, fatebor equidem in illis magis adsidue versari hanc nostram dictionem; sed tamen in iis ipsis rebus permulta sunt, quae isti magistri, qui rhetorici vocantur, nec tradunt nec tenent. Q u i s enim nescit maxime vim existere oratoris in hominum mentibus vel ad iram aut ad odium aut dolorem incitandis vel ab hisce isdem permotionibus ad lenitatem misericordiamque revocandis ? Q u a e nisi qui naturas hominum vimque omnem humanitatis causasque eas, quibus mentes aut incitantur aut reflectuntur, penitus perspexerit, dicendo, quod volet, perficere non poterit. Atqui totus hie locus philosophorum proprius putatur, neque orator me auctore umquam repugnabit; sed cum illis cognitionem rerum concesserit, quod in ea solum illi voluerint elaborare, tractationem orationis, quae sine ilia scientia nulla est, sibi adsumet; hoc enim est proprium oratoris, quod saepe iam dixi: oratio gravis et ornata et hominum sensibus ac mentibus accommodata. Quibus de rebus Aristotelen et Theophrastum scripsisse fateor. Sed vide, ne hoc, Scaevola, totum sit a me! N a m ego quae sunt oratori cum illis communia, non mutuor ab illis; isti, quae de his rebus disputant, oratorum esse concedunt. Itaque ceteros libros artis suae nomine, hos rhetoricos et inscribunt et appellant. Etenim cum illi in dicendo inciderint loci, quod persaepe evenit, ut de dis immortalibus, de pietate, de concordia, de amicitia, de communi civium, de hominum, de gentium iure, de aequitate, de temperantia, de magnitudine animi, de omni virtutis genere sit dicendum, clamabunt, credo, omnia gymnasia

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reichem Redeschmuck, verfeinert durch Kunstfertigkeit und feinen Pinselstrich. Wenn aber einer solchen Rede kein Thema zugrunde liegt, das vom Redner erfasst und erkannt ist, ist es eben - und das ist unabänderlich - keine Rede oder sie wird von allen verlacht und verspottet. (51) Was ist nämlich so unsinnig wie ein hohles Tönen noch so guter und schmuckvoller Worte, wenn keinerlei Sinn oder Wissen zugrunde liegt? Um welches Thema aus welchem Fachgebiet es auch immer geht und von welcher Art es ist - wenn der Redner es studiert hat wie den Fall eines Klienten, wird er besser und wort- und gedankeinreicher sprechen als der Erfinder und Kenner dieser Themen selbst. (52) Denn wenn jemand sagen sollte, es gebe bestimmte den Rednern vorbehaltene Gedanken und Fälle und das Wissen über bestimmte Themen, das durch die Schranken des Forums begrenzt ist, will ich meinerseits zugeben, dass unser rednerischer Vortrag häufiger bei diesen verweilt, aber dennoch gibt es selbst bei diesen Themen sehr vieles, was diese deine Lehrer, die sich Rhetoren nennen, nicht lehren und nicht einmal selbst beherrschen. (53) Wer wüsste nämlich nicht, dass die Kraft des Redners sich am meisten darin entfaltet, dass er die Gemüter der Menschen zu Zorn, Hass oder Ärger aufstachelt oder sie von diesen Leidenschaften zu Sanftmut und Mitleid zurückholt? Nur wer die Natur der Menschen und das ganze Wesen der menschlichen Psyche kennt und die Ursachen, durch die das Gemüt erregt oder wieder besänftigt wird, ganz und gar durchschaut hat, wird durch die Rede das, was er will, erreichen können. (54) Freilich hält man diesen ganzen Bereich für das Gebiet der Philosophen und kein Redner wird sich jemals, wenn ich ihm raten soll, dem widersetzen; aber wenn er auch jenen die Erkenntnis der Welt einräumt, weil sie sich nur darum bemühen wollten, wird er die rednerische Behandlung, die es ohne jene Kenntnis überhaupt nicht gibt, für sich in Anspruch nehmen; denn das ist, wie ich schon oft gesagt habe, die dem Redner eigene Fähigkeit: eine gewichtige, schmuckvolle Rede, angepasst an die Gesinnungen und Empfindungen der Menschen. (55) Ich gebe zu, dass darüber schon Aristoteles und Theophrast geschrieben haben. Aber sieh zu, mein Scaevola, dass dies nicht durchaus für mich spricht! Denn was ein Redner mit ihnen gemeinsam hat, entlehne ich nicht von ihnen; sie räumen ein, dass für das, was sie zu diesem Thema erörtern, die Redner zuständig sind. Daher benennen sie ihre übrigen Bücher mit dem Namen ihrer jeweiligen Wissenschaft, diesen aber geben sie den Titel »Uber die Rhetorik« und bezeichnen sie auch als solche. (56) Wenn allerdings in der Rede, was sehr oft der Fall ist, ja auch jene verbreiteten Themen anfallen, dass man über die unsterblichen Götter, über Frömmigkeit, über Eintracht, über Freundschaft, über das allgemeine Recht der Bürger, über das der Menschen, über das der Völker, über Billigkeit, über Mäßigung, über hochherzige Gesinnung, über jede Art von Tugend sprechen muss, werden, glaube

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atque omnes philosophorum scholae sua esse haec omnia propria, nihil omnino ad oratorem pertinere. Q u i b u s ego, ut his de rebus in angulis consumendi oti causa disserant, cum concessero, illud tarnen oratori tribuam et dabo, ut eadem, de quibus illi tenui quodam et exiguo sermone disputant, hie cum omni iucunditate et gravitate explicet. Haec ego cum ipsis philosophis tum Athenis disserebam. Cogebat enim me M. Marcellus hie noster, qui nunc aedilis curulis est et profecto, nisi ludos nunc faceret, huic nostra sermoni interesset; ac iam tum erat adulescentulus his studiis mirifice deditus. Iam vero de legibus instituendis, de bello, de pace, de soeiis, de vectigalibus, de iure civium generatim in ordines aetatesque descripto dicant vel Graeci, si volunt, Lycurgum et Solonem quamquam illos quidem censemus in numero eloquentium reponendos - scisse melius quam Hyperidem aut Demosthenem, perfectos iam homines in dicendo et perpolitos, vel nostri decemviros, qui XII tabulas perscripserint, quos necesse est fuisse prudentis, anteponant in hoc genere et Ser. Galbae et socero tuo C. Laelio, quos constat dicendi gloria praestitisse. Numquam enim negabo esse artes quasdam proprias eorum, qui in his cognoscendis atque tractandis Studium suum omne posuerunt, sed oratorem plenum atque perfectum esse eum, qui de omnibus rebus possit copiose varieque dicere. Etenim saepe in iis causis, quas omnes proprias esse oratorum confitentur, est aliquid, quod non ex usu forensi, quem solum oratoribus conceditis, sed ex obscuriore aliqua scientia sit promendum et adsumendum. Q u a e r o enim, num possit aut contra imperatorem aut pro imperatore dici sine rei militaris usu aut saepe etiam sine regionum terrestrium aut maritimarum scientia; num apud populum de legibus iubendis aut vetandis, num in senatu de omni rei publicae genere dici sine summa rerum civilium cognitione et prudentia; num admoveri possit oratio ad sensus animorum atque motus vel inflammandos vel etiam extinguendos, quod unum in oratore dominatur, sine diligentissima pervestigatione earum omnium rationum, quae de naturis humani generis ac moribus a

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ich, alle G y m n a s i e n und alle Schulen der Philosophen laut rufen, dies alles sei ihr Eigentum, den Redner gehe es überhaupt nichts an. (57) Diesen gestehe ich zwar z u , dass sie über diese Gegenstände in ihren Winkeln z u m Zeitvertreib diskutieren; dem Redner aber will ich es als seine Aufgabe zuteilen und übergeben, die nämlichen Gegenstände, über die jene M ä n n e r sich in ärmlicher und dürftiger Sprache unterhalten, mit aller Lieblichkeit und W ü r d e darzulegen. D a r ü b e r diskutierte ich damals in Athen mit den Philosophen selbst. D a z u drängte mich nämlich unser Freund Marcus Marcellus, der jetzt kurulicher Aedil ist und ganz sicher heute an unserem Gespräch teilnähme, wenn er nicht jetzt die Spiele ausrichten würde; auch damals schon widmete er sich als ganz junger M a n n diesen Studien mit bewundernswerter H i n g a b e . (58) U n d ferner, was die Gesetzgebung, Krieg, Frieden, die Bundesgenossen, Steuern und das Recht der Bürger, das klassenweise nach Ständen und Altersstufen festgelegt ist, angeht, m ö g e n die Griechen, wenn sie wollen, sagen, L y k u r g und Solon - obgleich jene M ä n n e r nach meiner Meinung wenigstens zu den Rednern gerechnet werden müssen - hätten das alles besser verstanden als Hypereides und D e m o s t h e n e s , die doch schon v o l l k o m m e n e und bestens ausgebildete Redner waren. U n d auch unsere Landsleute m ö g e n die D e z e m v i r n , die Verfasser der z w ö l f Tafeln, die unbedingt kluge M ä n n e r gewesen sein müssen, in dieser Hinsicht d e m Servius Galba und deinem Schwiegervater, Gaius Laelius, vorziehen, die sich bekanntlich durch ihren R u h m als Redner auszeichneten. (59) Niemals nämlich werde ich bestreiten, dass es bestimmte Fachgebiete gibt, die das Eigentum derer sind, die ihren ganzen Eifer darauf gerichtet haben, diese zu erforschen und zu behandeln; ein Redner im vollen Sinne und ein vollkommener Redner - so behaupte ich - ist nur, wer über alle T h e m e n wort-, gedanken- und abwechslungsreich sprechen kann. Auch in den Fällen, die, wie alle zugeben, ureigene Fachgebiete der Redner sind, ist ja auch oft etwas enthalten, was man nicht aus der praktischen Erfahrung auf d e m F o r u m , die allein ihr den Rednern zugesteht, sondern aus irgendeiner recht dunklen Wissenschaft hervorholen und nehmen muss. (60) Ich stelle denn folgende Fragen: Kann man etwa gegen einen Feldherrn oder für einen Feldherrn reden o h n e militärische Erfahrung oder oft auch o h n e Kenntnis der Gebiete zu Wasser und zu Lande? Kann m a n etwa vor dem Volk über die A n n a h m e oder Ablehnung von Gesetzesvorschlägen, kann man etwa im Senat über jeden A s p e k t des Staatswesens sprechen o h n e die genaueste theoretische und durch Erfahrung gewonnene Kenntnis der politischen Verhältnisse? Kann man etwa eine Rede dazu heranziehen, Stimmungen und Leidenschaften zu entflammen oder auch zu löschen - das ganz besonders ist der Herrschaftsbereich des Redners - o h n e die sorgfältigste Erforschung all der T h e o r i e n , die über die natürlichen Anlagen und Sitten des Menschengeschlechtes von Philosophen entwickelt wur-

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philosophis explicantur. Atque haud scio an minus hoc sim vobis probaturus; equidem non dubitabo, quod sentio dicere: physica ista ipsa et quae paulo ante mathematicae et ceterarum artium propria posuisti, scientiae sunt eorum, qui ilia profitentur; illustrari autem oratione si quis istas ipsas artis velit, ad oratoris ei confugiendum est facultatem. Neque enim, si Philonem ilium architectum, qui Atheniensibus armamentarium fecit, constat perdiserte populo rationem operis sui reddidisse, existimandum est architecti potius artificio disertum quam oratoris fuisse. N e c , si huic M . Antonio pro Hermodoro fuisset de navalium opere dicendum, non, cum ab illo causam didicisset, ipse ornate de alieno artificio copioseque dixisset. Neque vera Asclepiades, is, quo nos medico amicoque usi sumus, tum, cum eloquentia vincebat ceteros medicos, in eo ipso, quod ornate dicebat, medicinae facultate utebatur, non eloquentiae. Atque illud est probabilius neque tarnen verum, quod Socrates dicere solebat, omnis in eo, quod scirent, satis esse eloquentis. Illud verius neque quemquam in eo disertum esse posse, quod nesciat, neque, si optime sciat ignarusque sit faciundae ac poliendae orationis, diserte id ipsum posse, de quo sciat, dicere. Q u a m ob rem si quis universam et propriam oratoris vim definire complectique volt, is orator erit mea sententia hoc tam gravi dignus nomine, qui, quaecumque res incident, quae sit dictione explicanda, prudenter et composite et ornate et memoriter dicet cum quadam actionis etiam dignitate. Sin cuipiam nimis infinitum videtur, quod ita posui "quacumque de re", licet hinc, quantum cuique videbitur, circumcidat atque amputet; tamen illud tenebo, si, quae ceteris in artibus atque studiis sita sunt, orator ignoret tantumque ea teneat, quae sunt in disceptationibus atque usu forensi, tamen iis de rebus ipsis si sit ei dicendum, cum cognorit ab iis, qui tenent, quae sint in quaque re, multo oratorem melius quam ipsos illos, quorum eae sunt artes, esse dicturum. Ita si de re militari dicendum huic erit Sulpicio, quaeret a C . Mario, affini

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den? (61) Aber wenn ich auch vielleicht euch weniger von dem Folgenden überzeugen werde, zögere ich doch nicht zu sagen, was ich denke: Selbst die von dir erwähnte Naturlehre und was du kurz zuvor als Fachgebiete der Mathematik und der übrigen Wissenschaften angegeben hast, sind die Wissensgebiete derer, die sich berufsmäßig damit beschäftigen; wenn aber einer eben diese Wissenschaften durch die sprachliche Gestaltung ins rechte Licht rücken will, m u s s er Zuflucht zur Fähigkeit des Redners nehmen. (62) Wenn nämlich der berühmte Architekt Philon, der den Athenern ein Zeughaus errichtete, bekanntlich sehr redegewandt vor dem Volk Rechenschaft über sein Werk abgelegt hat, darf man nicht glauben, er sei eher durch die Kunst des Architekten als durch die des Redners beredt gewesen. U n d wenn unser Freund Marcus Antonius, u m H e r m o d o r o s zu verteidigen, über den Bau von Schiffswerften hätte sprechen müssen, hätte er ganz sicher, sobald er sich von Hermodorus über den Fall hätte belehren lassen, selbst mit reichem Redeschmuck und wort- und gedankenreich über eine fremde Kunst gesprochen. U n d Asklepiades, der mein Arzt und auch Freund war, verließ sich damals, als er die übrigen Ärzte an Beredsamkeit übertraf, gerade darin, dass er mit reichem Redeschmuck sprach, nicht auf seine medizinische, sondern vielmehr auf seine rednerische Fähigkeit. (63) U n d der wiederholte Ausspruch des Sokrates, dass alle Menschen auf einem Gebiet, das sie kennen, hinlänglich beredt seien, klingt zwar recht wahrscheinlich, ist aber dennoch nicht wahr. Zutreffender ist der andere Satz, niemand könne auf einem Gebiet redegewandt sein, das er nicht kenne; wenn er es dagegen auch bestens kenne, aber nicht wisse, wie man eine Rede formt und glättet, könne er sogar über ein Gebiet, über das er Bescheid wisse, nicht sprechen. (64) Wenn darum jemand das allgemeine und spezielle Wesen des Redners definieren und erfassen will, dann ist nach meiner Meinung derjenige Redner dieser so bedeutungsvollen Benennung würdig, der über jedes beliebige anfallende Thema, das durch den rednerischen Vortrag entwickelt werden m u s s , sachkundig, wohlgeordnet, mit reichem Redeschmuck, aus dem Gedächtnis und mit einer gewissen Würde des Vortrags spricht. (65) Wenn es aber jemandem allzu unbegrenzt erscheint, dass ich formuliert habe « . . . über jedes beliebige Thema«, m a g er davon, wieviel ihm gut scheint, abschneiden und verkürzen; dennoch halte ich an Folgendem fest: Wenn der Redner das Fachwissen der übrigen Disziplinen und Wissenschaften nicht kennt und nur das beherrscht, was zu den gesetzlichen Auseinandersetzungen und zur Praxis des Forums gehört, und wenn er trotzdem über jene Dinge sprechen m u s s , s o wird er, der Redner, sobald er von denen, die sie beherrschen, erfahren hat, was in jedem Fach steckt, viel besser sprechen als die Vertreter der Wissenschaften. (66) Wenn also unser Freund Sulpicius über das Kriegswesen sprechen m u s s , wird er bei meinem Verwandten Gaius Marius Auskünfte einholen, und

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nostra et, cum acceperit, ita pronuntiabit, ut ipsi C . Mario paene hie melius quam ipse ilia scire videatur; sin de iure civili, tecum communicabit teque, hominem prudentissimum et peritissimum, in iis ipsis rebus, quas abs te didicerit, dicendi arte superabit. Sin quae res inciderit, in qua de natura, de vitiis hominum, de cupiditatibus, de modo, de continentia, de dolore, de morte dicendum sit, forsitan, si ei sit visum - etsi haec quidem nosse debet orator - , cum Sex. Pompeio erudito homine in philosophia communicant; hoc profecto efficiet, ut, quameumque rem a quoque cognorit, de ea multo dicat ornatius quam ille ipse, unde cognorit. Sed si me audies, quoniam philosophia in tris partis est tributa, in naturae obscuritatem, in disserendi subtilitatem, in vitam atque mores, duo ilia relinquamus idque largiamur inertiae nostrae; tertium vero, quod semper oratoris fuit, nisi tenebimus, nihil oratori, in quo magnus esse possit, relinquemus. Quare hic locus de vita et moribus totus est oratori perdiscendus; cetera si non didicerit, tarnen poterit, si quando opus erit, ornare dicendo, si modo ad eum erunt delata et ei tradita. Etenim si constat inter doctos hominem ignarum astrologiae ornatissimis atque optimis versibus Aratum de caelo stellisque dixisse; si de rebus rusticis hominem ab agro remotissumum Nicandrum Colophonium poetica quadam facultate, non rustica scripsisse praeclare, quid est, cur non orator de rebus iis eloquentissime dicat, quas ad certam causam tempusque cognorit? Est enim finitimus oratori poeta, numeris adstrictior paulo, verborum autem licentia liberior, multis vero ornandi generibus socius ac paene par; in hoc quidem certe prope idem, nullis ut terminis circumscribat aut definiat ius suum, quo minus ei liceat eadem illa facultate et copia vagari, qua velit. N a m quod illud, Scaevola, negasti te fuisse laturum, nisi in meo regno esses,

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wenn er sie erhalten hat, wird er einen solchen Vortrag halten, dass Gaius Marius selbst beinahe den Eindruck hat, dieser habe auf diesem Gebiet bessere Kenntnisse als er selbst; wenn es aber um das bürgerliche Recht geht, wird er sich mit dir in Verbindung setzen und dich, den sachkundigsten und erfahrensten Mann gerade auf dem Gebiet, das er von dir erlernt hat, in der Redekunst übertreffen. (67) Wenn aber ein Fall eintritt, bei dem er über die Natur, über die Laster der Menschen, über die Leidenschaften, über das Maß, über die Selbstbeherrschung, über den Schmerz oder über den Tod sprechen muss, wird er sich vielleicht, wenn es ihm gut scheint - auch wenn ein Redner sich in diesen Dingen auskennen sollte - mit Sextus Pompeius, einem philosophisch gebildeten Mann, in Verbindung setzen; dadurch wird er auf jeden Fall erreichen, dass er über jedes beliebige Thema, über das er sich bei irgendjemand unterrichtet hat, viel wort- und gedankenreicher als der Mann selbst, bei dem er sich unterrichtet hat, spricht. (68) Aber wenn er auf mich hört, wollen wir, da ja die Philosophie in drei Teile gegliedert ist, in die geheimnisvolle Naturwissenschaft, die scharfsinnige Dialektik und die Lehre von der Lebensführung und den Sitten, die beiden Ersten außer Acht lassen und dies unserer Bequemlichkeit zugute halten; wenn wir aber nicht am dritten, der immer zum Themenbereich des Redners gehörte, festhalten, lassen wir dem Redner kein Gebiet übrig, in dem er groß sein könnte. (69) Darum muss der Redner diesen ganzen Bereich über die Lebensführung und die Sitten gründlich studieren; die übrigen Teile kann er, falls es einmal nötig sein wird, auch wenn er sie nicht gelernt hat, dennoch in schönen Worten zum Ausdruck bringen, wenn ihm nur die nötigen Kenntnisse zur Verfügung gestellt und vermittelt wurden. Unter Gelehrten ist es ja auch allgemein bekannt, dass ein Laie in der Astronomie, Aratus, in besonders schönen und guten Versen über den Himmel und die Sterne gedichtet hat, und über die Landwirtschaft hat Nikander aus Kolophon, ein Mann, der sehr fern vom Lande lebte, dank seiner dichterischen Fähigkeit, nicht aber aufgrund landwirtschaftlicher Kenntnisse vortrefflich geschrieben. Was für einen Grund gibt es also, warum ein Redner nicht sehr redegewandt über Dinge sprechen sollte, über die er sich nur für einen konkreten Fall und Zeitpunkt unterrichtet hat? (70) Dem Redner ist nämlich der Dichter nahe verwandt, durch das Versmaß ein wenig mehr gebunden, durch den unbeschränkten Gebrauch der Worte aber freier, durch die vielen Arten des Ausschmückens gar ist er sein Gefährte und beinahe gleich; darin jedenfalls ist er beinahe derselbe wie er, dass er durch keine Grenzen sein Recht beschränkt und begrenzt, so dass es ihm nicht erlaubt sein sollte, sich mit der nämlichen Befähigung und Fülle dort zu bewegen, wo er will. (71) Denn wenn du beteuert hast, mein Scaevola, du hättest es nicht ertragen, wenn du nicht in meinem Reiche wärest, dass ich gesagt habe, der Redner müsse in

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quod in omni genere sermonis, in omni parte humanitatis dixerim oratorem perfectum esse debere: numquam mehercule hoc dicerem, si eum, quem fingo, me ipsum esse arbitrarer. Sed, ut solebat C . Lucilius saepe dicere, homo tibi subiratus, mihi propter earn ipsam causam minus quam volebat familiaris, sed tamen et doctus et perurbanus, sic sentio neminem esse in oratorum numero habendum, qui non sit omnibus iis artibus, quae sunt libera dignae, perpolitus; quibus ipsis si in dicendo non utimur, tamen apparet atque extat, utrum simus earum rudes an didicerimus. Ut qui pila ludunt, non utuntur in ipsa lusione artificio proprio palaestrae, sed indicat ipse motus, didicerintne palaestram an nesciant; et qui aliquid fingunt, etsi tum pictura nihil utuntur, tamen, utrum sciant pingere an nesciant, non obscurum est, sic in orationibus hisce ipsis iudiciorum, contionum, senatus, etiam si proprie ceterae non adhibeantur artes, tamen facile declaratur, utrum is, qui dicat, tantummodo in hoc declamatorio sit opere iactatus an ad dicendum omnibus ingenuis artibus instructus accesserit.'

T u m ridens Scaevola 'non luctabor tecum,' inquit 'Crasse, ammplius; id enim ipsum, quod contra me locutus es, artificio quodam es consecutus, ut et mihi, quae ego vellem non esse oratoris, concederes et ea ipsa nescio quo modo rursus detorqueres atque oratori propria traderes. Atque, cum ego praetor Rhodum venissem et cum summo illo doctore istius disciplinae Apollonio ea, quae a Panaetio acceperam, contulissem, inrisit ille quidem, ut solebat, philosophiam atque contempsit multaque non tam graviter dixit quam facete. Tua autem fuit oratio eius modi, non ut ullam artem doctrinamve contemneres, sed ut omnis comites ac ministratrices oratoris esse diceres. Q u a s ego si quis sit unus complexus omnis idemque si ad eas facultatem istam ornatissimae orationis adiunxerit, non possum dicere eum non egregium quendam hominem atque admirandum fore; sed is, si qui esset aut si etiam umquam fuisset aut vera si esse posset, tu esses unus profecto, qui et meo iudicio et omnium vix ullam ceteris oratoribus - pace horum dixerim - laudem reliquisti. Verum si tibi ipsi nihil deest, quod in forensibus rebus civilibusque versetur, quin scias, neque earn tamen scientiam, quam ad-

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jeder Art Gespräch und menschlicher Bildung vollkommen sein, dann sei versichert: Niemals, beim Herkules, würde ich das sagen, wenn ich glaubte, selbst der zu sein, dessen Idealbild ich entwerfe. (72) Aber, wie Gaius Lucilius, ein Mann, der ein wenig zornig auf dich war und aus eben diesem Grunde mir weniger vertraut, als er wollte, aber dennoch ein gescheiter und fein gebildeter Mensch, oft zu sagen pflegte, so bin auch ich der Meinung, man dürfe niemanden zu den Rednern rechnen, der nicht in all den Wissenschaften, die eines freien Mannes würdig sind, bestens ausgebildet ist; wenn wir diese auch beim Reden nicht anwenden, wird es dennoch deutlich und stellt sich heraus, ob wir in ihnen ausgebildet sind oder sie erlernt haben. (73) Die Ballspieler z.B. machen in ihrem Spiel keinen Gebrauch von der speziellen Technik der Ringschule, aber schon ihre Bewegung zeigt an, ob sie das Ringen gelernt haben oder es nicht können; und ob die Bildhauer malen können oder nicht, bleibt nicht verborgen, auch wenn sie von der Malerei gerade gar keinen Gebrauch machen. Ebenso zeigt sich gerade bei unseren Reden vor Gericht, in den Volksversammlungen und vor dem Senat, auch wenn die übrigen Wissenschaften nicht eigens herangezogen werden, dennoch leicht, ob der Redner sich nur in dem üblichen Betrieb der Redeschulen herumgetrieben hat oder nach der Ausbildung in allen edlen Wissenschaften als Redner angetreten ist.« (74) Darauf antwortete Scaevola lachend: »Ich will nicht weiter mit dir ringen, mein Crassus; denn gerade deine Gegenargumentation hast du durch einen Kunstgriff zustande gebracht, indem du mir das, was ich dem Redner absprechen wollte, zugestanden und genau dasselbe, ich weiß nicht wie, mir wieder entwunden und dem Redner als sein Eigentum übergeben hast. (75) Als ich als Prätor nach Rhodos gekommen war und mit Apollonios, dem bedeutendsten Lehrer dieser deiner Disziplin, das, was ich von Panaitios vernommen hatte, besprach, verspottete er wie gewöhnlich die Philosophie, setzte sie herab und sagte vieles weniger gewichtig als witzig. Deine Rede aber war von der Art, dass du keine Wissenschaft oder Lehre verächtlich abtatest, sondern sie alle Begleiterinnen und Gehilfinnen des Redners nanntest. (76) Wenn einer allein diese alle erfassen und dazu ebenso noch die Fähigkeit zu einer überaus schmuckvollen Rede hinzufügen könnte, dann muss ich sagen, dass er ein ganz herausragender und bewundernswerter Mensch wird; aber wenn es einen solchen Mann gäbe oder wenn es ihn auch jemals gegeben hätte oder wenn es ihn überhaupt geben könnte, dann wärest es fürwahr du allein, der du nach meinem und aller Urteil den übrigen Rednern - die Anwesenden mögen es mir nicht übel nehmen - kaum etwas Ruhm übriggelassen hast. (77) Doch wenn es unter den Dingen, die zu den gerichtlichen und staatlichen Angelegenheiten gehören, nichts gibt, was du nicht wüsstest, und du dennoch die Wissenschaft, die du dem Redner zu-

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iungis oratori, complexus es, videamus, ne plus ei tribuamus, quam res et Veritas ipsa concedat.' Hie Crassus 'memento,' inquit, 'me non de mea, sed de oratoris facultate dixisse. Quid enim nos aut didicimus aut scire potuimus, qui ante ad agendum quam ad cognoscendum venimus, quos in foro, quos in ambitione, quos in re publica, quos in amicorum negotiis res ipsa ante confecit, quam possemus aliquid de rebus tantis suspicari ? Q u o d si tibi tantum in nobis videtur esse, quibus etiamsi ingenium, ut tu putas, non maxime defuit, doctrina certe et otium et hercule etiam Studium illud discendi acerrimum defuit, quid censes, si ad alicuius ingenium vel maius ilia, quae ego non attigi, accesserint, qualem ilium et quantum oratorem futurum?'

T u m Antonius "probas mihi" inquit, ista, Crasse, quae dicis, nec dubito, quin multo locupletior in dicendo futurus sit, si quis omnium rerum atque artium rationem naturamque comprehenderit. Sed primum id difficile factu est, praesertim in hac nostra vita nostrisque occupationibus; deinde illud etiam verendum est, ne abstrahamur ab hac exercitatione et consuetudine dicendi populari et forensi. Aliud enim mihi quoddam orationis genus esse videtur eorum hominum, de quibus paulo ante dixisti, quamvis illi ornate et graviter aut de natura rerum aut de humanis rebus loquantur: Nitidum quoddam genus est verborum et laetum, sed palaestrae magis et olei quam huius civilis turbae ac fori. Namque egomet, qui sero ac leviter Graecas litteras attigissem, tarnen cum pro consule in Ciliciam proficiscens venissem Athenas, complures tum ibi dies sum propter navigandi difficultatem commoratus; sed, cum cotidie mecum haberem homines doctissimos - eos fere ipsos, qui abs te modo sunt nominati, cum hoc nescio quo modo apud eos increbruisset me in causis maioribus sicuti te solere versari, pro se quisque eorum, quantum quisque poterat, de officio et de ratione oratoris disputabat. H o r u m alii, sicuti iste ipse Mnesarchus, hos, quos nos oratores vocaremus, nihil esse dicebat nisi quosdam operarios lingua celeri et exercitata; oratorem autem, nisi qui sapiens esset, esse neminem, atque ipsam eloquentiam, quod ex bene dicendi scientia

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weist, nicht erfasst hast, dann wollen wir zusehen, dass wir diesem nicht mehr zuteilen, als die Wirklichkeit selbst erlaubt.« (78) Dazu sagte Crassus: »Bedenke, dass ich nicht von meiner, sondern von der Fähigkeit des Redners gesprochen habe! Was habe ich nämlich gelernt oder was konnte ich wissen, der ich früher zum Handeln als zum Lernen kam, den auf dem Forum, den bei der Amtsbewerbung, den in Staatsangelegenheiten, den bei den Geschäften meiner Freunde die Sache selbst aufgerieben hat, bevor ich von so wichtigen Sachen eine Ahnung hätte haben können? (79) Wenn es dir nun so vorkommt, als brächte ich Bedeutendes fertig, auch wenn es mir deiner Meinung nach nicht allzu sehr an Begabung, aber sicher an Gelehrsamkeit, Muße und, beim Herkules, auch an jenem Feuereifer für das Lernen gefehlt hat, was glaubst du, wenn zu einer sogar noch höheren Begabung von irgendjemand auch noch das hinzukäme, womit ich mich nicht befasste, von welcher Art und wie bedeutend müsste dieser Redner sein!« (80) Darauf sagte Antonius: »Du überzeugst mich mit dem, was du behauptest, mein Crassus, und ich bezweifle nicht, dass jemand viel reicher ausgestattet als Redner sein wird, wenn er das System und das Wesen aller Lebensbereiche und Wissenschaften erfasst hat. (81) Aber erstens ist das schwer durchzuführen, zumal bei unserem Leben jetzt und unseren Beanspruchungen; und weiterhin ist auch zu befürchten, dass wir von unserer üblichen und gewohnten Redeweise, die für das Volk und für das Forum geeignet ist, abgehalten werden. Ganz anders nämlich scheint mir die Redeweise der Männer zu sein, von denen du kurz vorher gesprochen hast, obgleich sie mit reichem Redeschmuck und bedeutungsvoll über das Wesen der Dinge oder über menschliche Angelegenheiten sprechen: Geradezu glänzend ist ihre Redeweise und üppig, aber sie eignet sich mehr für die Palästra und das Salböl als für den Schwärm von Bürgern und für das Forum. (82) Denn auch ich für meinen Teil, der ich erst spät und nur oberflächlich mit der griechischen Literatur in Berührung kam, hielt mich dennoch mehrere Tage in Athen auf, als ich in der Zeit meines Prokonsulats auf dem Wege nach Kilikien dorthin gekommen war, weil ich wegen schlechter Witterung nicht weiterfahren konnte; jeden Tag hatte ich die gelehrtesten Männer um mich - meistens genau dieselben, die eben von dir genannt wurden - ; und da es sich - ich weiß nicht wie - bei ihnen herumgesprochen hatte, dass ich mich ebenso wie du gewöhnlich mit wichtigen Rechtsfällen beschäftigte, sprach jeder von ihnen für sich, so gut er es konnte, über die Aufgabe und das methodische Vorgehen des Redners. (83) Von diesen sagten die einen, wie gerade dieser dein Mnesarchos, die Männer, die wir Redner nennen würden, seien nichts anderes als Handwerker mit einer schnellen und geübten Zunge; ein wirklicher Redner aber sei niemand außer einem Weisen, und wie die Beredsamkeit

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constaret, unam quandam esse virtutem et, qui unam virtutem haberet, omnis habere easque ipsas esse inter se aequalis et paris; ita, qui esset eloquens, eum virtutes omnis habere atque esse sapientem. Sed haec erat spinosa quaedam et exilis oratio longeque ab nostris sensibus abhorrebat. Charmadas vero multo uberius isdem de rebus loquebatur, non quo aperiret sententiam suam - hie enim mos erat patrius Academiae adversari semper omnibus in disputando - ; sed cum maxime tamen hoc significabat eos, qui rhetores nominarentur et qui dicendi praecepta traderent, nihil plane tenere neque posse quemquam facultatem adsequi dicendi, nisi qui philosophorum inventa didicisset. Disputabant contra diserti homines Athenienses et in re publica causisque versati, in quibus erat etiam is, qui nuper Romae fuit, Menedemus hospes meus. Qui cum diceret esse quandam prudentiam, quae versaretur in perspiciendis rationibus constituendarum et regendarum rerum publicarum, excitabatur homo promptus atque omni abundans doctrina et quadam incredibili varietate rerum atque copia. Omnis enim partis illius ipsius prudentiae petendas esse a philosophia docebat neque ea, quae statuerentur in re publica de dis immortalibus, de disciplina iuventutis, de iustitia, de patientia, de temperantia, de modo rerum omnium, ceteraque, sine quibus civitates aut esse aut bene moratae esse non possent, usquam in eorum inveniri libellis. Q u o d si tantam vim rerum maximarum arte sua rhetorici illi doctores complecterentur, quaerebat, cur de prooemiis et de epilogis et de huiusmodi nugis - sic enim appellabat - referti essent eorum libri, de civitatibus instituendis, de scribendis legibus, de aequitate, de iustitia, de fide, de frangendis cupiditatibus, de confirmandis hominum moribus littera in eonim libris nulla inveniretur. Ipsa vero praecepta sie inludere solebat, ut ostenderet non modo eos illius expertes esse prudentiae, quam sibi adsciscerent, sed ne hanc quidem ipsam dicendi rationem ac viam nosse. Caput enim esse arbitrabatur oratoris, ut et ipsis, apud quos ageret, talis, qualem se ipse optaret, videretur; id fieri vitae dignitate, de qua nihil rhetorici isti doctores in praeeeptis suis reliquissent; et uti ei, qui audirent, sie adficerentur animis, ut eos

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selbst im Wissen vom guten Reden bestehe, sei sie geradezu eine beliebige T u g e n d (unter anderen T u g e n d e n ) ; wer aber eine T u g e n d besitze, der besitze alle und diese seien untereinander völlig gleich; so besitze der, welcher beredt sei, alle Tugenden und sei ein Weiser. A b e r das w a r eine geradezu spitzfindige und dürftige Argumentation, die in krassem Widerspruch zu unseren Auffassungen stand. (84) Charmadas aber sprach viel reichhaltiger über dieselben Gegenstände, nicht als o b er seine Ansicht öfter darlegen wollte - das nämlich war die von den Vätern ü b e r k o m m e n e Gepflogenheit der Akademie, bei jeder wissenschaftlichen Erörterung i m m e r allen zu widersprechen - ; aber dennoch deutete er vor allem an, dass die, welche R h e t o r e n genannt würden und die Vorschriften der Redekunst erteilten, über nichts genau B e scheid wüssten und dass niemand sich die Fähigkeit zu reden aneignen k ö n n e , außer er habe das, was die Philosophen herausgefunden hätten, gelernt. (85) Dagegen äußerten sich redegewandte und in der Politik und im Prozesswesen bewanderte Athener, unter ihnen auch einer, der kürzlich in R o m war, mein Gastfreund M e n e d e m o s . Als dieser sagte, es gebe eine Wissenschaft, die sich damit befasse, die Prinzipien für die Gründung und R e gierung von Staaten zu erforschen, sprang C h a r m a d a s , ein schlagfertiger M a n n , der jede Gelehrsamkeit ungemein reichlich und dazu eine unglaubliche Vielfalt und Fülle von Kenntnissen besaß, auf. Alle Teile gerade jener Wissenschaft müsse m a n bei der Philosophie suchen, belehrte er uns, und was im Staat über die unsterblichen Götter, über die Erziehung der Jugend, über die Gerechtigkeit, über die Ausdauer, über die Selbstbeherrschung, über das M a ß in allen Dingen festgestellt würde, und die übrigen Vorschriften, o h n e die Staaten entweder nicht bestehen oder jedenfalls nicht gut geartet sein k ö n n t e n , finde sich nirgends in ihren unbedeutenden Schriften. (86) Wenn n u n jene Lehrer der R h e t o r i k eine so große Masse der wichtigsten Gegenstände in ihrer Wissenschaft umfassten, fragte er, w a r u m seien dann ihre B ü c h e r mit Vorschriften über P r o ö m i e n , Epilogen und dergleichen Nichtigkeiten - so nämlich nannte er es - vollgestopft, während sich in ihren Büchern kein Buchstabe über die Einrichtung von Staaten, über die Abfassung von G e s e t z e n , über die Billigkeit, über die Gerechtigkeit, über die Treue, über das B e z ä h m e n der Leidenschaften und über die sittliche Erziehung der Menschen finde. ( 8 7 ) Ihre Vorschriften selbst verspottete er gewöhnlich in der Weise, dass er darauf hinwies, sie hätten nicht nur keinen Anteil an der Wissenschaft, die sie für sich in Anspruch n ä h m e n , sondern sie würden nicht einmal die T h e o r i e und Praxis der Redekunst kennen. D a s Wichtigste für den Redner, glaubte er, sei es nämlich, denjenigen, vor welchen er eine R e d e halte, so zu erscheinen, wie er selbst sein m ö c h t e ; das werde erreicht durch eine würdige Lebensführung, über die diese Schulmeister der Rhetorik in ihren Vorschriften nichts hinterlassen hätten, und dadurch, dass

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adfici vellet orator; quod item fieri nullo modo posse, nisi cognosset is, qui diceret, quot modis hominum mentes et quibus rebus et quo genere orationis in quamque partem moverentur; haec autem esse penitus in media philosophia retrusa atque abdita, quae isti rhetores ne primoribus quidem labris attigissent. Ea Menedemus exemplis magis quam argumentis conabatur refellere. Memoriter enim multa ex orationibus Demosthenis praeclare scripta pronuntians docebat ilium in animis vel iudicum vel populi in omnem partem dicendo permovendis non fuisse ignarum, quibus ea rebus consequeretur, quae negaret ille sine philosophia quemquam nosse posse. Huic respondebat non se negare Demosthenem summam prudentiam summamque vim habuisse dicendi, sed sive ille hoc ingenio potuisset sive, id quod constaret, Platonis studiosus audiendi fuisset, non quid ille potuisset, sed, quid isti docerent, esse quaerendum. Saepe etiam in earn partem ferebatur oratione, ut omnino disputaret nullam artem esse dicendi; idque cum argumentis docuerat, quod ita nati essemus, ut et blandiri suppliciter his, a quibus esset petendum, et adversarios minaciter terrere possemus et rem gestam exponere et id, quod intenderemus, confirmare et id, quod contra diceretur, refeilere et ad extremum deprecari aliquid et conqueri, quibus in rebus omnis oratorum versaretur facultas, et quod consuetudo exercitatioque et intellegendi prudentiam acueret et eloquendi celeritatem incitaret, tum etiam exemplorum copia nitebatur. N a m primum quasi dedita opera neminem scriptorem artis ne mediocriter quidem disertum fuisse dicebat, cum repeteret usque a Corace nescio quo et Tisia, quos artis illius inventores et principes fuisse constaret; eloquentissimos autem homines, qui ista nec didicissent nec omnino scire curassent, innumerabilis quosdam nominabat; in quibus etiam, sive ille inridens sive quod ita putaret atque ita audisset, me in illo numero, qui ilia non didicissem et tarnen, ut ipse dicebat, possem aliquid in dicendo, proferebat. Q u o r u m ego illi alteram facile adsentiebar nihil me didicisse, in altero autem me inludi ab eo aut etiam ipsum errare arbitrabar. Artem vero negabat esse ullam, nisi quae cognitis penitusque perspectis et in unum exitum spectantibus et numquam fallentibus rebus contineretur; haec autem omnia, quae tractarentur ab oratoribus, du-

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die Zuhörer innerlich so bewegt würden, wie der Redner sie bewegen wolle. Dies könne ebenso auf keine andere Weise erreicht werden, als wenn der Sprecher gelernt habe, auf wie viele Arten, durch welche Mittel und durch welche Redeweise die Gemüter der Menschen in eine bestimmte Richtung gelenkt werden; diese Kenntnisse aber seien im Innern der Philosophie versteckt und verborgen und diese Rhetoren da hätten sich nicht einmal oberflächlich damit beschäftigt. (88) Diese Aussagen versuchte Menedemos mehr durch Beispiele als durch Argumente zu widerlegen. Aus dem Gedächtnis nämlich trug er viele herrliche Stellen aus den Reden des Demosthenes vor und zeigte so, dass jener Mann sehr wohl wusste, wie man die Richter und das Volk durch die Rede in jeder Hinsicht beeinflussen könne; dadurch habe er erreicht, was nach der Behauptung des Charmadas niemand ohne Philosophie wissen könne. (89) Ihm antwortete Charmadas, er bestreite nicht, dass Demosthenes umfassendes Wissen und eine ausnehmend starke Redegewalt besessen habe, aber ob er dazu nun kraft seiner Begabung fähig gewesen sei oder weil er, wie bekannt, ein eifriger Hörer Piatons war - fragen müsse man nicht, wozu jener fähig gewesen sei, sondern was diese Rhetoren lehren. (90) Oft ging er auch in seiner Rede so weit, dass er vortrug, es gebe überhaupt keine Redekunst; und das wies er zunächst mit Argumenten nach: Wir seien so geboren, dass wir fähig seien, denen, von welchen wir etwas erbitten müssten, mit flehentlichen Worten zu schmeicheln und unsere Gegner mit Drohungen zu schrecken, einen Sachverhalt darzulegen, unsere Absichten zu bekräftigen und was dagegen vorgebracht werde, zurückzuweisen und im Schlussteil der Rede etwas durch Bitten abzuwenden oder in Klagen auszubrechen; auf diesen Gebieten bewege sich die Fähigkeit des Redners; weiterhin schärfe Gewohnheit und Übung die intellektuellen Geisteskräfte und die Schnelligkeit der Formulierung. Dann stützte er sich noch auf eine Fülle von Beispielen. (91) Denn erstens, sagte er, sei, wie aus Absicht, kein Verfasser eines Lehrwerkes auch nur mäßig redegewandt gewesen; dabei ging er bis auf irgendeinen Korax und Teisias zurück, die bekanntlich die Erfinder und Urheber dieser Kunst gewesen seien. Er nannte aber wirklich unzählig viele sehr beredte Männer, die diese theoretischen Dinge weder gelernt noch sich überhaupt darum gekümmert hätten, sie zu wissen; unter diesen führte er auch mich an, sei es im Spott oder weil er diese Meinung vertrat und es so gehört hatte; ich hätte jene theoretischen Dinge nicht gelernt und brächte - so sagte er - dennoch einiges im Reden fertig. In dem einen Punkt, nämlich dass ich nichts gelernt hätte, stimmte ich ihm leicht zu; im zweiten Punkt aber, glaubte ich, würde ich von ihm verspottet werden oder auch er selbst irre. (92) Eine Wissenschaft aber, behauptete er, sei nur das, was auf Dingen beruhe, die erkannt und ganz durchschaut, auf ein Ziel ausgerichtet und untrüglich seien; das alles aber, was von den Rednern be-

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bia esse et incerta, quoniam et dicerentur ab iis, qui omnia ea non plane tenerent, et audirentur ab iis, quibus non scientia esset tradenda, sed exigui temporis aut falsa aut certe obscura opinio. Q u i d multa? Sic mihi tunc persuadere videbatur neque artificium ullum esse dicendi neque quemquam posse, nisi qui ilia, quae a doctissimis hominibus in philosophia dicerentur, cognosset, aut callide aut copiose dicere; in quibus adicere Charmadas solebat ingenium tuum, Crasse, vehementer admirans me sibi perfacilem in audiendo, te perpugnacem in disputando esse visum. Itaque ego hac eadem opinione adductus scripsi etiam illud quodam in libello, qui me imprudente et invito excidit et pervenit in manus hominum, disertos me cognosse nonnullos, eloquentem adhuc neminem, quod eum statuebam disertum, qui posset satis acute atque dilucide apud mediocres homines ex communi quadam opinione hominum dicere, eloquentem vera, qui mirabilius et magnificentius augere posset atque ornare, quae vellet, omnisque omnium rerum, quae ad dicendum pertinerent, fontis animo ac memoria contineret. Id si est difficile nobis, quod ante, quam ad discendum ingressi sumus, obruimur ambitione et foro, sit tamen in re positum atque natura. Ego enim, quantum auguror coniectura quantaque ingenia in nostris hominibus esse video, non despero fore aliquem aliquando, qui et studio acriore, quam nos sumus atque fuimus, et otio ac facultate discendi maiore ac maturiore et labore atque industria superiore, cum se ad audiendum legendum scribendumque maiore opere dederit, existat talis orator, qualem quaerimus, qui iure non solum disertus, sed etiam eloquens dici possit; qui tamen mea sententia aut hie est iam Crassus aut, si quis pari fuerit ingenio pluraque quam hie et audierit et lectitarit et scripserit, paulum aliquid hue poterit addere.'

Hoc loco Sulpicius 'insperanti mihi' inquit 'et Cottae, sed valde optanti utrique nostrum cecidit, ut in istum sermonem, Crasse, delaberemini. Nobis enim hue venientibus satis iucundum fore videbatur, si, cum vos de rebus aliis loqueremini, tamen nos aliquid ex sermone vestro memoria dignum excipere

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handelt werde, sei zweifelhaft und ungewiss, da es ja von Leuten gesagt werde, die das alles nicht voll beherrschten, und von Leuten gehört werde, denen man kein Wissen vermitteln müsse, sondern für kurze Zeit eine falsche oder doch sicher unklare Vorstellung. (93) Was soll ich noch viel sagen? Er schien mich damals davon zu überzeugen, dass es kein theoretisches System der Redekunst gebe und dass nur der lebensklug und wort- und gedankenreich sprechen könne, der sich über das, was von den in der Philosophie sehr gelehrten Männern gesagt werde, unterrichtet habe. Dabei fügte Charmadas gewöhnlich in großer Bewunderung für deine Begabung, mein Crassus, hinzu, in Diskussionen sei ich ihm als ein höchst angenehmer Zuhörer und du als ein sehr streitbarer Gesprächspartner erschienen. (94) Deswegen habe ich, verleitet durch eben diese Meinung, diese Gedanken auch niedergeschrieben in einem Büchlein, das mir ohne mein Wissen und gegen meinen Willen entschlüpft und in die Hände der Leute geraten ist. Redegewandte Menschen - schrieb ich - hätte ich einige kennen gelernt, einen guten Redner aber bisher noch keinen; denn redegewandt sei der - so legte ich fest - , welcher scharfsinnig und deutlich genug vor gewöhnlichen Menschen in Übereinstimmung mit allgemein verbreiteten Ansichten reden könne, ein guter Redner aber, wer bewunderungswürdiger und großartiger besonders hervorheben und ausschmücken könne, was er wolle, und alle Quellen für alle Gegenstände, die zur Rede gehören, mit seinem Geist und Gedächtnis umfasse. Wenn das auch schwierig für uns ist, weil wir, noch bevor wir mit dem Lernen begonnen haben, durch die Bewerbung um Amter und die Tätigkeit auf dem Forum voll in Anspruch genommen werden, so dürfte es doch im Wesen der Sache liegen. (95) Soweit ich nämlich vermute und mutmaße und soweit ich sehe, was für Anlagen in unseren Landsleuten stecken, gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass es einmal einen Mann geben wird, der, wenn er sich mit glühenderem Eifer, als wir haben und hatten, mit größerer Muße sowie größerer Lernfähigkeit schon von frühester Jugend an, mit mehr Anstrengung und Energie dem Hören, Lesen und Schreiben widmen wird, ein solcher Redner wird, wie wir ihn suchen; der kann mit Recht nicht nur redegewandt, sondern auch ein guter Redner genannt werden. Ein solcher Mann ist meiner Meinung nach schon dieser unser Crassus, oder wenn jemand gleiche Begabung besitzt und noch mehr als dieser hört, mit größerer Aufmerksamkeit liest und mehr schreibt, wird er dem nur wenig hinzufügen können.« (96) An dieser Stelle ergriff Sulpicius das Wort: »Entgegen meiner und Cottas Hoffnung, aber nach unser beider sehnlichem Wunsch hat es sich ergeben, dass ihr auf diese Themen zu sprechen kamt. Als wir nämlich hierher kamen, schien es uns schon erfreulich genug zu werden, wenn wir aus eurem Gespräch etwas Behaltenswertes aufschnappen könnten, auch wenn ihr euch

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possemus; ut vero penitus in earn ipsam totius huius vel studii vel artifici vel facultatis disputationem paene intumam veniretis, vix optandum nobis videbatur. Ego enim, qui ab ineunte aetate incensus essem studio utriusque vestrum, Crassi vero etiam amore, cum ab eo nusquam discederem, verbum ex eo numquam elicere potui de vi ac ratione dicendi, cum et per me ipsum egissem et per Drusum saepe temptassem; quo in genere tu, Antoni, - vere loquar - numquam mihi percontanti aut quaerenti aliquid defuisti et persaepe me, quae soleres in dicendo observare, docuisti. Nunc quoniam uterque vestrum patefecit earum ipsarum rerum aditum, quas quaerimus, et quoniam princeps Crassus eius sermonis ordiendi fuit, date nobis hanc veniam, ut ea, quae sentitis de omni genere dicendi, subtiliter persequamini. Quod quidem si erit a vobis impetratum, magnam habebo, Crasse, huic palaestrae et Tusculano tuo gratiam et longe Academiae illi ac Lycio tuum hoc suburbanum gymnasium anteponam'.

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Tum ille 'immo vero', inquit, 'Sulpici, rogemus Antonium, qui et potest facere id, quod requiris, et consuevit, ut te audio dicere. Nam me quidem fateor semper a genere hoc toto sermonis refugisse et tibi cupienti atque instanti saepissime negasse tute paulo ante dixisti. Quod ego non superbia neque inhumanitate faciebam neque quo tuo studio rectissimo atque optimo non obsequi vellem, praesertim cum te unum ex omnibus ad dicendum maxime natum aptumque cognossem, sed mehercule istius disputationis insolentia atque earum rerum, quae quasi in arte traduntur, inscientia.'

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Tum Cotta: 'quoniam id, quod difficillimum nobis videbatur, ut omnino de iis rebus, Crasse, loquerere, adsecuti sumus, de reliquo iam nostra culpa fuerit, si te, nisi omnia, quae percontati erimus, explicaris, dimiserimus.'

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'De iis, credo, rebus,' inquit Crassus 'ut in cretionibus scribi

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solet Q v i b v s S c i a m P o t e r o q v e . '

Tum ille 'namque quod tu non poteris aut nescies, quis nostrum tam inpudens est, qui se scire aut posse postulet? Iam vero

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über andere T h e m e n unterhieltet; dass ihr aber beinahe bis z u m innersten Kern der wissenschaftlichen Erörterung über diese ganze eifrige Bestrebung oder wissenschaftliche Lehre oder angeborene Fähigkeit vordringen würdet, glaubten wir kaum wünschen zu dürfen. (97) D e n n ich, der ich ja von frühester J u g e n d an von Zuneigung zu euch beiden, zu Crassus gar in Liebe entflammt war, k o n n t e , o b w o h l ich nirgends von seiner Seite wich, ihm niemals ein Wort über die Kraft und M e t h o d e der R e d e e n d o c k e n , sooft ich es auch von m i r aus darauf anlegte und es oft mit des Drusus Hilfe versuchte. In dieser Hinsicht hast du, mein Antonius - und ich will die Wahrheit sagen - , mir nie deine Hilfe entzogen, wenn ich mich erkundigte oder fragte, und sehr oft hast du mich über deine Beobachtungen, die du gewöhnlich beim Sprechen machtest, belehrt. (98) D a ihr nun beide den Zugang gerade zu den G e g e n ständen, nach denen wir fragen, geöffnet habt, und da ja ausgerechnet C r a s sus das Gespräch begonnen hat, erweist uns den Gefallen, eure Ansichten über das gesamte Gebiet der Redekunst in eingehender Argumentation weiter zu verfolgen. Wenn wir das bei euch erreichen, erweise ich dieser deiner Palästra und deinem T u s c u l a n u m , mein Crassus, von H e r z e n D a n k und jener A k a demie und j e n e m L y z e u m ziehe ich dein G y m n a s i u m in der N ä h e von R o m bei weitem vor.« (99) Hierauf erwiderte Crassus: » N e i n , mein Sulpicius, wollen wir lieber den Antonius bitten, der deinen W u n s c h erfüllen kann und es auch gewölinlich tut, wie ich dich sagen höre. D e n n ich gebe zu, dass ich i m m e r vor dieser ganzen A r t Unterhaltung geflohen bin, und du selbst hast kurz zuvor gesagt, sehr oft hätte ich mich deinen W ü n s c h e n und deinem D r ä n g e n verweigert. D a s tat ich nicht aus H o c h m u t und nicht aus Mangel an Freundlichkeit und auch nicht, weil ich deinem so berechtigten und sehr guten Eifer nicht hätte entgegenkommen wollen, zumal ich erkannt hatte, dass du als einziger von allen ganz besonders z u m Reden geboren und geeignet seist, sondern - b e i m Herkules - nur, weil ich an die Disputation, von der du sprichst, nicht gew ö h n t war und weil ich unwissend war in den Gebieten, die gleichsam in einem wissenschaftlichen System übermittelt werden.« (100) D a r a u f bemerkte C o t t a : » D a wir ja erreicht haben, was uns als die größte Schwierigkeit erschien, dass du nämlich überhaupt über diese G e g e n stände sprichst, mein Crassus, wird es, was nun das Weitere betrifft, unsere Schuld sein, wenn wir dich eher gehen lassen, als bis du alles, w o n a c h wir uns erkundigen, erklärt hast.« (101) » D a s gilt, glaube ich, für die Punkte«, sagte Crassus, »in denen ich, wie in den Formeln für die Ü b e r n a h m e von Erbschaften gewöhnlich ges c h r i e b e n s t e h t , BESCHEID WEISS UND ETWAS KANN.«

Darauf erwiderte C o t t a : »Ja, denn wer von uns ist so unverschämt zu b e anspruchen, das zu wissen oder zu k ö n n e n , was du nicht kannst oder weißt?

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ista condicione, dum mihi liceat negare posse, quod non potero, et fateri nescire, quod nesciam.' 'Licet' inquit Crassus 'vestro arbitratu percontemini.' 'Atqui' inquit Sulpicius 'hoc primum ex te, de quo modo An- 102 tonius exposuit, quid sentias, quaerimus, existimesne artem aliquam esse dicendi?' 'Quid? Mihi nunc vos' inquit Crassus 'tamquam alicui Graeculo otioso et loquaci et fortasse docto atque erudito quaestiunculam, de qua meo arbitratu loquar, ponitis? Quando enim me ista curasse aut cogitasse arbitramini et non semper inrisisse potius eorum hominum impudentiam, qui, cum in schola adsedissent, ex magna hominum frequentia dicere iuberent, si quis quid quaereret? Quod primum ferunt Leontinum fecisse Gor- 103 gian, qui permagnum quiddam suscipere ac profiteri videbatur, cum se ad omnia, de quibus quisque audire vellet, esse paratum denuntiaret. Postea vero vulgo hoc facere coeperunt hodieque faciunt, ut nulla sit res neque tanta neque tam improvisa nec tam nova, de qua se non omnia, quae dici possunt, profiteantur esse dicturos. Quod si te, Cotta, arbitrarer aut te, Sulpici, de iis rebus 104 audire velle, adduxissem hue Graecum aliquem, qui nos istius modi disputationibus delectaret; quod ne nunc quidem difficile factu est. Est enim apud M. Pisonem adulescentem iam huic studio deditum, summo hominem ingenio nostrique cupidissimum, Peripateticus Staseas, homo nobis sane familiaris et, ut inter homines peritos constare video, in illo suo genere omnium princeps.' 'Quem tu mihi,' inquit Mucius, 'Staseam, quem Peripateti- 23 cum narras? Gerendus est tibi mos adulescentibus, Crasse, qui 105 non Graeci alicuius cotidianam loquacitatem sine usu neque ex scholis cantilenam requirunt, sed ex homine omnium sapientissimo atque eloquentissimo atque ex eo, qui non in libellis, sed in maximis causis et in hoc domicilio imperii et gloriae sit consilio linguaque princeps, cuius vestigia persequi cupiunt, eius sententiam sciscitantur. Equidem te cum in dicendo semper putavi 106 deum, tum vero tibi numquam eloquentiae maiorem tribui laudem quam humanitatis; qua nunc te uti vel maxime decet neque defugere earn disputationem, ad quam te duo excellentis ingenii adulescentes cupiunt accedere.'

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Und ferner unter der Bedingung, dass auch mir erlaubt ist zu sagen, dass ich das nicht kann, was ich nicht kann, und zuzugeben, dass ich das nicht weiß, was ich nicht weiß.« »Einverstanden«, erwiderte Crassus, »fragt nach eurem Gutdünken!« (102) »Gleichwohl aber wollen wir zuerst«, sagte Sulpicius, »dich nach deiner Meinung darüber fragen, was Antonius eben darlegte: Glaubst du, es gibt ein wissenschaftliches System der Redekunst?« »Wie?«, erwiderte Crassus, »Legt ihr mir jetzt wie irgendeinem müßigen und geschwätzigen und vielleicht auch gelehrten und gebildeten Griechlein eine läppische Frage vor, über die ich nach Gutdünken reden soll? Wann, glaubt ihr, habe ich mich um diese Frage bekümmert oder darüber nachgedacht und nicht lieber immer über die Arroganz der Leute gelacht, die, wenn sie sich zum Unterricht niedergelassen hatten, vor einer großen Menschenmenge dazu aufforderten, sich zu Wort zu melden, wenn jemand eine Frage hätte? (103) Als erster habe dies Gorgias aus Leontinoi gemacht, der etwas sehr Großes auf sich zu nehmen und zu verheißen schien, wenn er verkündete, er sei vorbereitet auf alles, was einer hören wolle. Später aber tat man das allenthalben und tut es auch heute, so dass es kein so anspruchsvolles, unerwartetes und neuartiges Thema gibt, über das man nicht alles zu sagen verheißt, was gesagt werden kann. (104) Wenn ich nun glaubte, du, mein Cotta, oder du, mein Sulpicius, wolltet über diese Fragen etwas hören, hätte ich irgendeinen Griechen hierher gebracht, der uns mit derartigen Erörterungen unterhielte; das ist nicht einmal jetzt schwer zu bewerkstelligen. Bei Marcus Piso nämlich, der sich trotz seiner Jugend schon mit der Redekunst beschäftigt, einem hoch begabten Mann und einem Anhänger von mir, hält sich der Peripatetiker Staseas auf, ein guter Freund von mir; er ist - darüber sind sich die Fachleute einig, wie ich sehe - der führende Mann in seinem Metier.« (105) »Von welchem Staseas, von welchem Peripatetiker erzählst du mir da?«, warf Mucius ein. »Du sollst den jungen Männern einen Gefallen erweisen, mein Crassus, die nicht nach dem alltäglichen Geschwätz irgendeines Griechen ohne praktische Erfahrung und nicht nach dem Singsang aus den Schulen verlangen; sondern sie wünschen, den weisesten und beredtesten Mann von allen nach seiner Meinung zu fragen, einen, der nicht in unbedeutenden Schriften, sondern in den wichtigsten Rechtsfällen und in dieser Hochburg der Herrschaft und des Ruhmes durch Rat und Redegabe der führende Mann ist und in dessen Fußstapfen sie treten wollen. (106) Ich meinerseits habe dich zwar immer für einen göttlichen Redner gehalten, aber dir niemals für deine Beredsamkeit größeres Lob als für deine Menschenfreundlichkeit gespendet; diese solltest du vor allem jetzt an den Tag legen und dich nicht der Erörterung entziehen, in die du nach dem Wunsche zweier hervorragend begabter junger Männer eintreten solltest.«

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'Ego vero,' inquit, 'istis obsequi studeo neque gravabor breviter meo more, quid quaque de re sentiam, dicere. Ac primum illud, quoniam auctoritatem tuam neglegere, Scaevola, fas mihi esse non puto, respondeo mihi dicendi aut nullam artem aut pertenuem videri, sed omnem esse contentionem inter homines doctos in verbi controversia positam. N a m si ars ita definitur, ut paulo ante exposuit Antonius, ex rebus penitus perspectis planeque cognitis atque ab opinionis arbitrio seiunctis scientiaque comprehensis, non mihi videtur ars oratoris esse ulla. Sunt enim varia et ad volgarem popularemque sensum accommodata omnia genera huius forensis nostrae dictionis. Sin autem ea, quae observata sunt in usu ac tractatione dicendi, haec ab hominibus callidis ac peritis animadversa ac notata, verbis definita, generibus inlustrata, partibus distributa sunt - id quod video potuisse fieri - , non intellego, quam ob rem non, si minus ilia subtili definitione, at hac volgari opinione ars esse videatur. Sed sive est ars sive artis quaedam similitudo, non est quidem ea neglegenda; verum intellegendum est alia quaedam ad consequendam eloquentiam esse maiora.'

T u m Antonius vehementer se adsentiri Crasso dixit, quod neque ita amplecteretur artem, ut ii solerent, qui omnem vim dicendi in arte ponerent, neque rursum earn totam, sicut plerique philosophi facerent, repudiaret. 'Sed existimo,' inquit, 'gratum te his, Crasse, facturum, si ista exposueris, quae putas ad dicendum plus quam ipsam artem posse prodesse.' 'Dicam equidem, quoniam institui, petamque a vobis,' inquit, 'ne has meas ineptias efferatis; quamquam moderabor ipse, ne ut quidam magister atque artifex, sed quasi unus e togatorum numero atque ex forensi usu homo mediocris neque omnino rudis videar non ipse a me aliquid promisisse, sed fortuito in sermonem vestrum incidisse. Equidem cum peterem magistratus, solebam in prensando dimittere a me Scaevolam, cum ita ei dicerem me velle esse ineptum - id erat petere blandius, quod nisi

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(107) »Ich bin ja bemüht«, erwiderte Crassus, »ihnen nachzugeben, und ich will mich auch nicht weigern, kurz, wie es meine Art ist, zu sagen, was ich über jeden einzelnen Punkt denke. Und zuerst beantworte ich die erste Frage - denn deine Autorität nicht zu beachten, mein Scaevola, halte ich nicht für zulässig Mir scheint, es gibt entweder gar kein wissenschaftliches System der Redekunst oder nur ein sehr dürftiges; also erschöpft sich der ganze Streit der Gelehrten in einem Wortgezänk. (108) Denn wenn der Begriff »Wissenschaft« so definiert wird, wie es kurz vorher Antonius darlegte, dass sie auf ganz durchschauten und voll erkannten Dingen beruht, die von bloßem Gutdünken und unbegründeter Vermutung entfernt und mit gründlichem Wissen erfasst sind, dann gibt es, scheint mir, überhaupt keine Wissenschaft für den Redner. Denn unterschiedlich und dem Verständnis der Menge und des gewöhnlichen Volkes angepasst sind alle Arten dieses unseres rednerischen Vortrages auf dem Forum. (109) Wenn aber die Beobachtungen, die man in der praktischen Erfahrung und beim Halten einer Rede gemacht hat, von klugen und erfahrenen Männern wahrgenommen und aufgezeichnet, mit Worten definiert, nach Gattungen erläutert und in Arten unterteilt wurden - und dies konnte, wie ich sehe, geschehen - , dann erkenne ich nicht, weshalb das nicht, wenn schon nicht nach jener strengen Definition, aber doch nach dieser unserer gewöhnlichen Meinung als Wissenschaft angesehen werden dürfte. Aber ob es nun eine Wissenschaft oder etwas einer Wissenschaft Ahnliches ist, man darf es nicht gering schätzen; doch muss man einsehen, dass es noch bestimmte andere Eigenschaften gibt, die wichtiger sind, um Beredsamkeit zu erlangen.« (110) Da sagte Antonius, er stimme dem Crassus nachdrücklich zu, wenn er weder die Wissenschaft so hoch bewerte, wie es diejenigen gewöhnlich täten, welche die ganze Bedeutung der Redekunst auf ein wissenschaftliches System gründeten, noch wiederum sie ganz verwerfe, wie es die meisten Philosophen täten. »Aber ich glaube, mein Crassus«, sagte er, »du wirst den Männern hier einen größeren Gefallen tun, wenn du darlegst, was nach deiner Meinung für die Rede mehr nützen kann als die Wissenschaft selbst.« (111) »Ich werde darüber sprechen, da ich ja damit begonnen habe, aber ich bine euch«, erwiderte er, »mein unangemessenes Geschwätz nicht auszuplaudern. Gleichwohl werde ich mich selbst so mäßigen, dass ich nicht wie ein Lehrer und Theoretiker, sondern gewissermaßen als ein durchschnittlicher Mann aus der Schar der römischen Bürger, der durch praktische Erfahrung vor Gericht nicht ganz ungebildet ist und der nicht selbst von sich aus etwas versprochen hat, sondern zufällig in ein Gespräch geraten ist. (112) Wenn ich mich um Amter bewarb, pflegte ich beim Händeschütteln Scaevola von mir wegzuschicken, wobei ich ihm sagte, ich wolle mich unangemessen verhalten - das war nämlich die Bewerbung mit Schmeicheleien,

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inepte fieret, bene non posset fieri - ; hunc autem esse unum hominem ex omnibus, quo praesente ego ineptum esse me minime vellem; quem quidem nunc mearum ineptiarum testem et spectatorem fortuna constituit. Nam quid est ineptius quam de dicendo dicere, cum id ipsum dicere numquam sit non ineptum, nisi cum est necessarium ?' 'Perge vero' inquit 'Crasse,' Mucius, 'istam enim culpam, 113 quam vereris, ego praestabo.' 'Sic igitur' inquit 'sentio' Crassus 'naturam primum atque in- 25 genium ad dicendum vim adferre maximam, neque vero istis, de quibus paulo ante dixit Antonius, scriptoribus artis rationem dicendi et viam, sed naturam defuisse. Nam et animi atque ingeni celeres quidam motus esse debent, qui et ad excogitandum acuti et ad explicandum ornandumque sint uberes et ad memoriam firmi atque diuturni; et si qui est, qui haec putet arte accipi 114 posse - quod falsum est; praeclare enim res se habeat, si haec accendi aut commoveri arte possint; inseri quidem et donari ab arte non possunt; omnia sunt enim ilia dona naturae, - quid de illis dicam, quae certe cum ipso homine nascuntur, linguae solutio, vocis sonus, latera, vires, conformatio quaedam et figura totius oris et corporis ? Neque haec ita dico, ut ars aliquos limare 115 non possit - neque enim ignore, et quae bona sint, fieri meliora posse doctrina, et quae non optima, aliquo modo acui tarnen et corrigi posse - , sed sunt quidam aut ita lingua haesitantes aut ita voce absoni aut ita voltu motuque corporis vasti atque agrestes, ut, etiamsi ingeniis atque arte valeant, tarnen in oratorum numerum venire non possint. Sunt autem quidam ita in isdem rebus habiles, ita naturae muneribus ornati, ut non nati, sed ab aliquo deo ficti esse videantur. Magnum quoddam est onus atque mu- 116 nus suscipere atque profiteri se esse omnibus silentibus unum maximis de rebus magno in conventu hominum audiendum. Adest enim nemo fere, quin acutius atque acrius vitia in dicente quam recta videat. Ita quicquid est, in quo offenditur, id etiam

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die nur durch unangemessenes Verhalten Erfolg haben k o n n t e - ; er aber sei der einzige M e n s c h , in dessen Gegenwart ich mich ganz und gar nicht unangemessen b e n e h m e n wolle; und gerade ihn hat nun das Schicksal als Zeugen und Zuschauer meines unangemessenen B e n e h m e n s hergeführt. D e n n was ist unangemessener als über das R e d e n zu reden, da das Reden selbst nur dann nicht unangemessen ist, wenn es notwendig ist?« (113) » A b e r fahre nur fort, mein Crassus«, warf Mucius ein, »für die Schuld nämlich, die du fürchtest, will ich mich verbürgen.« »Ich bin also der Ansicht«, erwiderte Crassus, »dass erstens natürliche Veranlagung und Begabung den größten Einfluss auf die R e d e haben und dass diesen Menschen, den Verfassern eines Lehrwerkes, von denen A n t o nius kurz vorher gesprochen hat, nicht eine T h e o r i e und M e t h o d e der Redekunst, sondern die natürliche Veranlagung fehlte. D e n n die Regungen des Gemütes und des Verstandes müssen rasch sein, damit sie scharfsinnig im Erfinden, einfallsreich bei der Darstellung und der stilistischen Gestaltung und, was das Gedächtnis angeht, langfristig merkfähig sind. (114) U n d wenn es jemanden gibt, der glaubt, dies k ö n n e man durch seine theoretische Lehre erlangen - das ist aber falsch; etwas Herrliches nämlich wäre es schon, wenn diese Fähigkeiten durch eine theoretische Lehre geweckt und entwickelt werden k ö n n t e n ; eingepflanzt allerdings und geschenkt werden k ö n n e n sie von einer theoretischen Lehre nicht; es sind nämlich alles G e s c h e n k e der N a t u r - , was soll ich dann von den Eigenschaften sagen, die sicher z u s a m m e n mit dem Menschen selbst sich entwickeln, einer gelösten Z u n g e , d e m Klang der S t i m m e , der Lunge, den Körperkräften, einer bestimmten Gestaltung und Bildung des ganzen Gesichtes und des K ö r p e r s ? (115) D a m i t sage ich nun nicht, dass die theoretische Lehre nicht irgendwelchen Leuten einen gewissen Schliff geben k ö n n t e - ich weiß nämlich sehr wohl, dass das G u t e durch theoretische Bildung noch besser werden kann und dass man das nicht b e sonders G u t e einigermaßen schleifen und verbessern kann - , aber es gibt Leute, die so stottern, eine so misstönende Stimme haben oder deren M i m i k und Körperbewegung so plump und ungeschlacht ist, dass sie, auch wenn sie aufgrund ihrer Begabung und der theoretischen Lehre dazu imstande wären, trotzdem nicht zu den Rednern gezählt werden könnten. Andererseits gibt es Leute, die in genau denselben D i n g e n so anpassungsfähig und mit den G a ben der N a t u r so ausgestattet sind, dass m a n den Eindruck gewinnen könnte, sie seien nicht geboren, sondern von einem G o t t geformt. (116) Eine wirklich große Last und Aufgabe ist es, wenn m a n es auf sich n i m m t und erklärt, m a n müsse sich, während alle anderen schweigen, als Einziger über die wichtigsten D i n g e in einer großen Versammlung von Menschen vernehmen lassen. D e n n es ist fast niemand da, der nicht genauer und schärfer die Fehler am Redner sähe als das Richtige. Daraus ergibt sich: Was auch immer es ist,

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ilia, quae laudanda sunt, obruit. Neque haec in earn sententiam disputo, ut homines adulescentes, si quid naturale forte non habeant, omnino a dicendi studio deterream. Quis enim non videt C . Coelio aequali meo maximo honori fuisse, homini novo, illam ipsam, quamcumque adsequi potuerit, in dicendo mediocritatem? Quis vestrum aequalem Q . Varium, vastum hominem atque foedum, non intellegit ilia ipsa facultate, quamcumque habet, magnam esse in civitate gratiam consecutum? Sed quia de oratore quaerimus, fingendus est nobis oratione nostra detractis omnibus vitiis orator atque omni laude cumulatus. Neque enim si multitudo litium, si varietas causarum, si haec turba et barbaria forensis dat locum vel vitiosissimis oratoribus, idcirco nos hoc, quod quaerimus, omittemus. Itaque in iis artibus, in quibus non utilitas quaeritur necessaria, sed animi libera quaedam oblectatio, quam diligenter et quam prope fastidiose iudicamus! Nullae enim lites neque controversiae sunt, quae cogant homines, sicut in foro non bonos oratores, item in theatro actores malos perpeti. Est igitur oratori diligenter providendum, non ut illis satis faciat, quibus necesse est, sed ut his ipsis admirabilis esse videatur, quibus libere liceat iudicare. Ac si quaeritis, plane quid sentiam enuntiabo apud homines familiarissimos, quod adhuc semper tacui et tacendum putavi. Mihi etiam qui optime dicunt quique id facillime atque ornatissime facere possunt, tarnen, nisi timide ad dicendum accedunt et in ordienda oratione perturbantur, paene impudentes videntur; tametsi id accidere non potest. U t enim quisque optime dicit, ita maxime dicendi difficultatem variosque eventus orationis expectationemque hominum pertimescit. Qui vero nihil potest dignum re, dignum nomine oratoris, dignum hominum auribus efficere atque edere, is mihi, etiamsi commovetur in dicendo, tamen impudens videtur. N o n enim pudendo, sed non faciendo id, quod non decet, impudentiae nomen effugere debemus. Q u e m vero non pudet id quod in plerisque video - , hunc ego non reprehensione solum, sed etiam poena dignum puto.

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womit man Anstoß erregt, es deckt auch das Lobenswerte zu. (117) Aber das sage ich nicht in diesem Sinne, dass ich junge Männer, wenn sie zufällig nicht eine natürliche Veranlagung haben, ganz und gar v o m Studium der Redekunst abschrecken möchte. Wer sollte nämlich nicht sehen, dass dem Gaius Coelius, einem Mann in meinem Alter, gerade jenes Mittelmaß beim Reden, soweit er es erreichen konnte, noch dazu, da er ein Emporkömmling war, höchste Ehre brachte? Wer sollte nicht wahrnehmen, dass Q u i n t u s Varius, ein Mann in eurem Alter, ein plumper und hässlicher Mensch, selbst bei seiner geringen Fähigkeit, soweit er sie besaß, großen Einfluss im Staat erlangte? (118) Aber weil wir nach dem Redner an sich fragen, müssen wir in unserer Darstellung das Idealbild eines Redners entwerfen, von dem alle Fehler genommen sind und der mit allem R u h m überhäuft ist. Denn wenn auch die Menge von Prozessen, wenn die Verschiedenartigkeit der Streitfälle, wenn die heutige barbarische Verwirrung auf dem Forum sogar Rednern mit schlimmsten Fehlern noch einen Platz einräumt, wollen wir doch deshalb das, was wir suchen, nicht aus den Augen verlieren. U n d s o ist es auch in den Künsten, in denen man keinen unentbehrlichen Nutzen, sondern einen freien Genuss des Gemütes sucht. Wie peinlich genau und beinahe wie herummäkelnd urteilen wir hier! Es gibt nämlich ( z . B . im Theater) keine Rechtsstreitigkeiten und keine Auseinandersetzungen, welche die Menschen zwingen könnten, wie auf dem Forum Redner, die nicht gut sind, ebenso im Theater schlechte Darsteller zu ertragen. (119) Der Redner muss also sorgfältig darauf sehen, dass er nicht nur jene zufrieden stellt, die er zufrieden stellen m u s s , sondern dass er gerade denen bewundernswert erscheint, welchen es vergönnt ist, frei zu urteilen. U n d wenn ihr danach fragt, will ich meine Meinung, die ich bisher immer verschwiegen habe und glaubte verschweigen zu müssen, im Kreise meiner vertrautesten Freunde klar verkünden: Mir erscheinen auch die Redner, die sehr gut sprechen können und das sehr leicht und mit reichem Redeschmuck fertig bringen, dennoch beinahe unverschämt, wenn sie nicht schüchtern als Redner auftreten und am Beginn der Rede sich verlegen zeigen; doch kann dieser Fall nicht eintreten. (120) Je besser einer nämlich spricht, desto mehr wird ihm angst und bange vor der Schwierigkeit des Sprechens, den mannigfachen Folgen der Rede und der Erwartung der Menschen. Wer aber nichts der Sache Angemessenes, nichts dem Titel »Redner« Angemessenes, nichts den Ohren der Menschen Angemessenes zustande bringen und vortragen kann, der scheint mir, auch wenn er beim Sprechen unruhig ist, dennoch unverschämt zu sein. Nicht nämlich dadurch, dass man sich schämt, sondern indem man nicht tut, was sich nicht ziemt, muss man den Vorwurf der Unverschämtheit entgehen. (121) Wer sich aber nicht schämt - was ich bei den meisten sehe - , der verdient nach meiner Meinung nicht nur Tadel, sondern sogar Strafe.

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LIBER

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Equidem et in vobis animadvertere soleo et in me ipso saepissime experior, ut et exalbescam in principiis dicendi et tota mente atque artubus omnibus contremescam. Adulescentulus vera sic initio accusationis exanimatus sum, ut hoc summum beneficium Q. Maximo debuerim, quod continuo consilium dimiserit, simul ac me fractum ac debilitatum metu viderit.' Hie omnes adsensi significare inter sese et conloqui coeperunt. Fuit enim mirificus quidam in Crasso pudor, qui tamen non modo non obesset eius orationi, sed etiam probitatis commendatione prodesset. Tum Antonius 'saepe, ut dicis', inquit, 'animadverti, Crasse, et te et ceteros summos oratores, quamquam tibi par mea sententia nemo umquam fuit, in dicendi exordio permoveri. Cuius quidem rei cum causam quaererem, quidnam esset, cur, ut in quoque oratore plurimum esset, ita maxime is pertimesceret, has causes inveniebam duas: unam, quod intellegerent ii, quos usus ac natura docuisset, non numquam summis oratoribus non satis ex sententia eventum dicendi procedere; ita non iniuria, quotienscumque dicerent, id, quod aliquando posset accidere, ne illo ipso accideret tempore, timere. Altera est haec, de qua queri saepe soleo: ceterarum homines artium spectati et probati, si quando aliquid minus bene fecerunt quam solent, aut noluisse aut valetudine impediti non potuisse consequi id, quod scirent, putantur - "noluit", inquiunt, "hodie agere Roscius" aut "crudior fuit" - ; oratoris peccatum, si quod est animadversum, stultitiae peccatum videtur. Stultitia autem excusationem non habet, quia certe nemo videtur, aut quia crudus fuerit aut quod ita maluerit, stultus fuisse. Q u o etiam gravius iudicium in dicendo subimus. Quotiens enim dicimus, totiens de nobis iudicatur; et qui semel in gestu peccavit, non continuo existimatur nescire gestum; qui autem in dicendo quid reprehensus est, aut aeterna in eo aut certe diuturna valet opinio tarditatis.

Illud vero, quod a te dictum est, esse permulta, quae orator a natura nisi haberet, non multum a magistro adiuvaretur, valde tibi adsentior inque eo vel maxime probavi summum ilium

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Ich für meine Person bemerke es gewöhnlich bei euch und mache an mir selbst sehr oft die Erfahrung, dass ich zu Beginn der Rede erblasse und in meinem ganzen Innern und an allen Gliedern erzittere. Als ganz junger Mann geriet ich am Anfang einer Anklagerede so aus der Fassung, dass ich es dem Quintus Maximus als sehr große Wohltat zu verdanken hatte, dass er sogleich die Gerichtssitzung schloss, sobald er mich vor Angst entkräftet und geschwächt sah.« (122) Hier zeigten alle ihre Zustimmung durch den Austausch von Gesten und Worten. Denn Crassus besaß eine erstaunliche Schüchternheit, die trotzdem seiner Rede nicht nur nicht schadete, sondern ihr sogar nützte, indem sie seine Redlichkeit empfahl. D a sprach Antonius: » O f t habe ich, wie du sagst, mein Crassus, bemerkt, dass du und auch andere vorzügliche Redner, obwohl dir meiner Meinung nach nie jemand gewachsen war, euch zu Beginn einer Rede aufgeregt zeigtet. (123) Als ich indessen nach der Ursache dafür suchte, wie es denn komme, dass ein Redner, je mehr in ihm steckt, desto mehr in Angst gerate, fand ich die folgenden zwei Ursachen: Erstens nehmen diejenigen, welche die Erfahrung und die Kenntnis der menschlichen Natur belehrt haben, wahr, dass manchmal selbst bei den führenden Rednern sich der Erfolg einer Rede nicht ganz nach Wunsch eingestellt hat; daher würden sie immer, wenn sie sprächen, nicht zu Unrecht fürchten, das, was zuweilen eintreten könne, trete gerade zu diesem Zeitpunkt ein. (124) Eine andere Ursache, über die ich oft genug klagen muss, ist diese: Wenn in den anderen Künsten bewährte und erprobte Männer einmal etwas weniger gut gemacht haben als gewöhnlich, glaubt man, sie hätten keine Lust gehabt oder, durch schlechten Gesundheitszustand gehindert, nicht erreichen können, wozu sie sonst imstande seien. »Roscius wollte nicht auftreten«, sagt man oder: »Er hat sich den Magen ziemlich verdorben.« - Hat man aber am Redner einen Fehler bemerkt, so hält man es für einen Fehler aus Dummheit. (125) Für Dummheit aber gibt es keine Entschuldigung, da sicher niemand, weil er sich den Magen verdorben hat oder weil er es so lieber gewollt hat, den Eindruck erweckt, er sei dumm gewesen. Einem umso strengeren Urteil haben wir uns beim Reden unterworfen. Sooft wir nämlich reden, sooft wird über uns ein Urteil gefällt; und wer einmal in der Gebärdensprache einen Fehler gemacht hat, von dem glaubt man darum nicht sogleich, er verstehe von der Gebärdensprache nichts; an wessen Rede aber etwas getadelt wurde, dem hängt entweder für ewig oder doch für lange Zeit der Ruf der Blödheit an. (126) Was aber deine Aussage angeht, es gebe sehr vieles, worin der Redner nicht von einem Lehrer unterstützt werden könne, wenn er es nicht schon von Natur aus besitze, stimme ich dir völlig zu. In dieser Hinsicht

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doctorem Alabandensem Apollonium, qui cum mercede doceret, tamen non patiebatur eos, quos iudicabat non posse oratores evadere, operam apud sese perdere dimittebatque et ad quam quemque artem putabat esse aptum, ad earn impellere atque hortari solebat. Satis est enim in ceteris artificiis percipiendis tantummodo similem esse hominis et id, quod tradatur vel etiam inculcetur, si quis forte sit tardior, posse percipere animo et memoria custodire. Non quaeritur mobilitas linguae, non celeritas verborum, non denique ea, quae nobis non possumus fingere: facies, vultus, sonus. In oratore autem acumen dialecticorum, sententiae philosophorum, verba prope poetarum, memoria iuris consultorum, vox tragoedorum, gestus paene summorum actorum est requirendus. Quam ob rem nihil in hominum genere rarius perfecto oratore inveniri potest. Quae enim singularum rerum artifices singula si mediocriter adepti sunt, probantur, ea nisi omnia summa sunt in oratore, probari non possunt.'

Tum Crassus 'atqui vide,' inquit 'in artificio perquam tenui et levi quanto plus adhibeatur diligentiae quam in hac re, quam constat esse maximam. Saepe enim soleo audire Roscium, cum ita dicat se adhuc reperire discipulum, quem quidem probaret, potuisse neminem, non quo non essent quidam probabiles, sed quia, si aliquid modo esset vitii, id ferre ipse non posset. Nihil est enim tam insigne nec tam ad diuturnitatem memoriae stabile quam id, in quo aliquid offenderis. Itaque ut ad hanc similitudinem huius histrionis oratoriam laudem dirigamus, videtisne, quam nihil ab eo nisi perfecte, nihil nisi cum summa venustate fiat, nisi ita, ut deceat et uti omnis moveat atque delectet? Itaque hoc iam diu est consecutus, ut in quo quisque artificio excelleret, is in suo genere Roscius diceretur. Hanc ego absolutionem perfectionemque in oratore desiderans, a qua ipse longe absum, facio impudenter; mihi enim volo ignosci, ceteris ipse non ignosco. Nam qui non potest, qui vitiose facit, quem denique non decet, hunc, ut Apollonius iubebat, ad id, quod facere possit, detrudendum puto.'

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habe ich auch dem bekannten führenden Lehrer Apollonios aus Alabanda meinen vollen Beifall geschenkt; obwohl dieser gegen H o n o r a r lehrte, ließ er es dennoch nicht zu, dass Leute, die nach seinem Urteil keine Redner werden konnten, sich bei ihm vergeblich abmühten, und er schickte sie fort und pflegte sie gerade zu dem Fach, für das er sie geeignet hielt, mit Nachdruck zu ermuntern. (127) D e n n für das Erlernen der übrigen Fertigkeiten genügt es schon, wenn man nur einem Menschen ähnlich ist und das, was übermittelt oder auch, wenn jemand zu begriffsstutzig ist, eingetrichtert wird, mit dem Geist auffassen und im Gedächtnis bewahren kann. Nicht verlangt man Geläufigkeit der Zunge, nicht Wortgewandtheit und schließlich nicht das, w a s wir uns nicht schaffen können: Gesicht, Miene und Stimme. (128) Von einem Redner aber m u s s m a n den Scharfsinn von Dialektikern, die Ideen von Philosophen, die Worte fast schon von Dichtern, das Gedächtnis von Rechtsgelehrten, die Stimme von tragischen Schauspielern und die Gebärdensprache beinahe der größten Darsteller fordern. Aus diesem Grunde kann man im Menschengeschlecht nichts seltener finden als einen vollkommenen Redner. D e n n die Vertreter der einzelnen anderen Disziplinen werden schon anerkannt, wenn sie diese Eigenschaften nur vereinzelt in bescheidenem Maß erreicht haben; beim Redner aber können diese keine Anerkennung finden, wenn er sie nicht alle im höchsten Maße besitzt.« (129) Darauf erwiderte C r a s s u s : »Gleichwohl aber, u m wie viel mehr Sorgfalt man in einer gar ärmlichen und unbedeutenden Fertigkeit aufwendet als auf diesem unserem Gebiet, das bekanntlich a m wichtigsten ist! O f t nämlich höre ich den Roscius sagen, er habe bis jetzt keinen Schüler finden können, mit dem er sich ganz zufrieden erklären könne, nicht als ob es nicht manche tauglichen gebe, sondern weil er selbst es nicht ertragen könne, wenn er auch nur igendetwas Fehlerhaftes finde. Nichts fällt nämlich s o auf und haftet s o lange fest im Gedächtnis wie das, woran man irgendwie Anstoß genommen hat. (130) U n d u m den R u h m des Redners nach dem Vorbild unseres Schauspielers zu bemessen - seht ihr, wie er nichts macht außer in vollkommener Weise, nichts macht außer mit der höchsten A n m u t , außer in der Weise, dass es sich schickt und alle bewegt und erfreut? U n d so hat er es schon lange erreicht, dass jeder, der sich in einer Kunst auszeichnet, ein Roscius auf seinem Gebiet genannt wird. Wenn ich beim Redner diese absolute Vollendung verlange, von der ich selbst weit entfernt bin, handle ich unverschämt; ich wünsche nämlich, dass mir Nachsicht gewährt wird, ich selbst schenke aber den Übrigen keine Nachsicht. Denn wer dazu nicht imstande ist, wer fehlerhaft handelt, kurzum wer das Angemessene nicht beobachtet, der muss meiner Meinung nach, wie Apollonios forderte, zu der T ä tigkeit gedrängt werden, die auszuführen er imstande ist.«

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'Num tu igitur' inquit Sulpicius 'me aut hunc Cottam ius civile aut rem militarem iubes discere? Nam quis ad ista summa atque in omni genere perfecta potest pervenire?' Tum ille 'ego vero' inquit 'quod in vobis egregiam quandam ac praeclaram indolem ad dicendum esse cognovi, idcirco haec exposui omnia, nec magis ad eos deterrendos, qui non possent, quam ad vos, qui possetis, exacuendos accommodavi orationem meam; et quamquam in utroque vestrum summum esse ingenium studiumque perspexi, tamen haec, quae sunt in specie posita, de quibus plura fortasse dixi, quam solent Graeci dicere, in te, Sulpici, divina sunt. Ego enim neminem nec motu corporis neque ipso habitu atque forma aptiorem nec voce pleniorem aut suaviorem mihi videor audisse; quae quibus a natura minora data sunt, tamen illud adsequi possunt, ut iis, quae habent, modice et scienter utantur et ut ne dedeceat. Id enim est maxime vitandum et de hoc uno minime est facile praecipere non mihi modo, qui sicut unus pater familias his de rebus loquor, sed etiam ipsi illi Roscio, quem saepe audio dicere caput esse artis decere, quod tamen unum id esse, quod tradi arte non possit.

Sed si placet, sermonem alio transferamus et nostra more aliquando, non rhetorico loquamur'.

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'Minime vero' inquit Cotta; 'nunc enim te iam exoremus necesse est, quoniam retines nos in hoc studio nec ad aliam dimittis artem, ut nobis explices, quicquid est istud, quod tu in dicendo potes - neque enim sumus nimis avidi; ista tua mediocri eloquentia contenti sumus - idque ex te quaerimus - ut ne plus nos adsequamur, quam quantulum tu in dicendo adsecutus es quoniam, quae a natura expetenda sunt, ea dicis non nimis deesse nobis, quid praeterea esse adsumendum putes?' Tum Crassus adridens 'quid censes', inquit 'Cotta, nisi studium et ardorem quendam amoris, sine quo cum in vita nihil quisquam egregium, tum certe hoc, quod tu expetis, nemo umquam adsequetur? Neque vero vos ad earn rem video esse cohortandos, quos, cum mihi quoque sitis molesti, nimis etiam

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(131) »Verlangst du also etwa,« fragte Sulpicius dazwischen, »dass ich oder unser Cotta hier das bürgerliche Recht oder das Militärwesen erlernen? Denn wer ist imstande, zu diesem höchsten Ziel und zu absoluter Perfektion zu gelangen?« Darauf erwiderte C r a s s u s : »In der Tat habe ich dies alles gerade deshalb dargelegt, weil ich erkannte, dass ihr eine ganz herausragende und herrliche Veranlagung zur Rede besitzt, und ich habe meinen Vortrag weniger darauf ausgerichtet, diejenigen abzuschrecken, die dazu nicht imstande sind, als darauf, euch, die ihr dazu imstande seid, anzuspornen; in jedem von euch beiden habe ich Begabung und Eifer in höchstem Maße deutlich gesehen, aber das, was zur äußeren Erscheinung gehört, worüber ich vielleicht mehr gesprochen habe, als die Griechen gewöhnlich sprechen, besitzt du, mein Sulpicius, in außerordentlichem Maße. (132) Ich habe nämlich wohl niemanden gehört, der geeigneter wäre aufgrund seiner Körperbewegung, seiner Haltung und Gestalt und eine vollere und angenehmere Stimme hätte; diejenigen aber, denen diese Vorzüge von der Natur in geringerem Maße verliehen sind, können es trotzdem soweit bringen, dass sie mit maßvoller und verständiger Ausnutzung ihrer Möglichkeiten nicht gegen das Schickliche verstoßen. Denn das muss man am meisten vermeiden und gerade darüber Vorschriften zu machen ist nicht nur für mich, der ich wie einer von vielen Hausvätern über dieses Thema spreche, ganz und gar nicht leicht, sondern sogar für jenen Roscius selbst nicht, den ich oft sagen höre, das Wichtigste an der Kunst sei das Schickliche; dies sei aber das Einzige, was nicht durch die theoretische Lehre vermittelt werden könne. (133) Aber wenn ihr einverstanden seid, wollen wir dem Gespräch eine andere Richtung geben und endlich nach unserer Art, nicht in der Art von Rhetoren sprechen.« »Keineswegs«, erwiderte Cotta, »jetzt müssen wir dich nämlich endlich bitten, da du uns ja in diesem Studienfach zurückhältst und uns zu keinem anderen Fachgebiet fortschickst, uns zu erklären, was immer das ist, was du als Redner zu leisten imstande bist - wir sind nämlich nicht allzu unersättlich und begnügen uns mit deiner mittelmäßigen Beredsamkeit. Unsere zweite Frage lautet - wir wollen nämlich nicht mehr erreichen als das Wenige, das du als Redner erreicht hast - : D a du ja sagst, uns fehle von dem nicht allzu viel, was man von der Natur fordern kann, was müssen wir uns deiner Meinung nach außerdem aneignen?« (134) Darauf erwiderte Crassus lächelnd: »Was meinst du, mein Cotta, außer Eifer und einer geradezu glühenden Liebe, ohne die jemand im Leben nie etwas Herausragendes erreichen wird, auf keinen Fall aber das, was du forderst? Aber wie ich sehe, müsst ihr dazu nicht aufgefordert werden; denn da ihr sogar mir lästig fallt, sehe ich ein, dass ihr allzu sehr von Verlangen

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flagrare intellego cupiditate. Sed profecto studia nihil prosunt perveniendi aliquo, nisi illud, quod eo, quo intendas, ferat deducatque, cognoris. Quare quoniam mihi levius quoddam onus imponitis neque ex me de oratoris arte, sed de hac mea, quantulacumque est, facultate quaeritis, exponam vobis non quandam aut perreconditam aut valde difficilem aut magnificam aut gravem rationem consuetudinis meae, qua quondam solitus sum uti, cum mihi in isto studio versari adulescenti licebat.'

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T u m Sulpicius 'o diem, Cotta, nobis' inquit 'optatum! Q u o d enim neque precibus umquam nec insidiando nec speculando adsequi potui, ut, quid Crassus ageret meditandi aut dicendi causa, non modo videre mihi, sed ex eius scriptore et lectore Diphilo suspicari liceret, id spero nos esse adeptos omniaque iam ex ipso, quae diu cupimus, cognituros.'

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T u m Crassus: 'Atqui arbitror, Sulpici, cum audieris, non tam te haec admiraturum, quae dixero, quam existimaturum tum, cum ea audire cupiebas, causam, cur cuperes, non fuisse. Nihil enim dicam reconditum, nihil expectatione vestra dignum, nihil aut inauditum vobis aut cuiquam novum. N a m principio illud, quod est homine ingenuo liberaliterque educato dignum, non negabo me ista omnium communia et contrita praecepta didicisse: primum oratoris officium esse dicere ad persuadendum accommodate; deinde esse omnem orationem aut de infinitae rei quaestione, sine designatione personarum aut temporum, aut de re certis in personis ac temporibus locata; in utraque autem re quicquid in controversiam veniat, in eo quaeri solere aut, factumne sit, aut, si est factum, quale sit aut etiam quo nomine vocetur, aut, quod nonnulli addunt, rectene factum esse videatur; existere autem controversias etiam ex scripti interpretatione, in quo aut ambigue quid sit scriptum aut contrarie aut ita, ut a sententia scriptura dissentiat; his autem omnibus partibus subiecta quaedam esse argumenta propria. Sed causarum, quae sint a communi quaestione seiunctae, partim in iudiciis versari, partim in deliberationibus; esse etiam genus tertium, quod in laudandis aut vituperandis hominibus poneretur; certosque esse

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brennt. (135) A b e r in der Tat nützt das eifrige Verlangen, an irgendein Ziel zu gelangen, überhaupt nicht, wenn man nicht die M e t h o d e kennt, die zu dem angestrebten Ziel führt und leitet. D a ihr m i r ja eine nicht allzu schwere Last auferlegt und mich nicht nach der Kunst des Redners, sondern nach dieser meiner Fähigkeit, wie gering sie auch sein m a g , fragt, so will ich euch das w e der versteckte n o c h sehr schwierige noch eindrucksvolle n o c h gewichtige methodische Prinzip meines gewohnten Verfahrens darstellen; ich pflegte es einst anzuwenden, als ich mich als junger M a n n mit diesem Studium beschäftigen durfte.« (136) D a rief Sulpicius aus: » D a s ist ein Tag, C o t t a , wie wir ihn uns w ü n schen! Was ich nämlich weder durch Bitten n o c h , indem ich mich auf die Lauer legte, n o c h , indem ich danach umherspähte, erlangen k o n n t e , nämlich nicht nur sehen zu dürfen, was Crassus tat, u m sich auf eine R e d e vorzubereiten oder sie zu halten, sondern aus Hinweisen seines Schreibers und Vorlesers Diphilos erraten zu k ö n n e n , das haben wir nun, hoffe ich, erreicht, und was wir schon lange wünschen, werden wir von ihm selbst erfahren.« (137) D a r a u f erwiderte Crassus: » Gleichwohl aber meine ich, mein Sulpicius, du wirst, wenn du zugehört hast, nicht so sehr das bewundern, was ich sage, als vielmehr glauben, es habe damals, als du es zu hören wünschtest, keinen G r u n d gegeben, es zu wünschen. Ich will nämlich nichts Verborgenes sagen, nichts, das eurer gespannten Erwartung wert ist, nichts, was ihr nicht schon gehört hättet oder was für irgendjemand neu wäre. D e n n zuvörderst will ich, wie es sich für einen frei geborenen oder frei erzogenen M a n n schickt, nicht bestreiten, dass ich die folgenden allgemein bekannten und abgedroschenen Regeln gelernt habe. (138) Sie lauten: Erstens sei es Aufgabe des Redners, überzeugend zu reden; zweitens gehe es in jeder R e d e entweder u m die Untersuchung eines allgemein gültigen Sachverhaltes, o h n e dass Personen und Zeitumstände angegeben werden, oder u m einen Sachverhalt, der konkrete Personen oder Zeitumstände betrifft. (139) In beiden Fällen aber werde - und dabei spielt es keine Rolle, welche Fragen zu entscheiden sind gewöhnlich untersucht, o b etwas geschehen sei, oder, wenn es wirklich geschehen ist, wie man es zu bewerten oder zu bezeichnen habe, oder, was einige hinzufügen, o b der Anschein entstehe, dass es zu Recht geschehen ist. (140) Es ergäben sich aber auch Streitfragen aus der Auslegung eines Schriftstückes, in dem etwas zweideutig niedergeschrieben sei oder widersprüchlich oder s o , dass der beabsichtigte Sinn nicht mit dem Wortlaut der Schrift übereinstimme. F ü r alle diese Fälle gebe es spezielle F o r m e n der Beweisführung. (141) A b e r Fälle, die sich von der allgemeinen Fragestellung unterscheiden, kämen teils in Prozessen, teils bei Beratungen vor; es gebe noch eine dritte Gattung, die auf dem L o b oder Tadel von Menschen beruhe. E s gebe auch typische Beweise, die wir in Gerichtsverhandlungen anwenden, in de-

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locos, quibus in iudiciis uteremur, in quibus aequitas quaereretur; alios in deliberationibus, quae omnes ad utilitatem dirigerentur eorum, quibus consilium daremus; alios item in laudationibus, in quibus ad personarum dignitatem omnia referrentur. Cumque esset omnis oratoris vis ac facultas in quinque partes distributa, ut deberet reperire primum, quid diceret, deinde inventa non solum ordine, sed etiam momento quodam atque iudicio dispensare atque componere, tum ea denique vestire atque ornare oratione, post memoria saepire, ad extremum agere cum dignitate et venustate. Etiam ilia cognoram et acceperam: ante quam de re diceremus, initio conciliandos eorum esse animos, qui audirent, deinde rem demonstrandam, postea controversiam constituendam, tum id, quod nos intenderemus, confirmandum, post, quae contra dicerentur, refellenda, extrema autem oratione ea, quae pro nobis essent, amplificanda et augenda, quaeque essent pro adversariis, infirmanda atque frangenda. Audieram etiam, quae de orationis ipsius ornamentis traderentur: in qua praecipitur primum, ut pure et Latine loquamur, deinde ut plane et dilucide, tum ut ornate, post ad rerum dignitatem apte et quasi decore; singularumque rerum praecepta cognoram. Q u i n etiam, quae maxime propria essent naturae, tamen his ipsis artem adhiberi videram. N a m de actione et de memoria quaedam brevia, sed magna cum exercitatione praecepta gustaram.

In his enim fere rebus omnis istorum artificum doctrina versatur, quam ego si nihil dicam adiuvare, mentiar; habet enim quaedam quasi ad commonendum oratorem, quo quidque referat et quo intuens ab eo, quodcumque sibi proposuerit, minus aberret. Verum ego hanc vim intellego esse in praeceptis omnibus, non ut ea secuti oratores eloquentiae laudem sint adepti, sed quae sua sporne homines eloquentes facerent, ea quosdam observasse atque collegisse. Sic esse non eloquentiam ex artificio, sed artificium ex eloquentia natum. Q u o d tarnen, ut ante dixi, non eicio; est enim, etiam si minus necessarium ad bene dicendum, tarnen ad cognoscendum non inliberale.

Et exercitatio quaedam suscipienda vobis est - quamquam

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nen nach der Billigkeit gefragt wird; andere in Beratungen, die alle auf den N u t z e n derer ausgerichtet sind, denen wir einen Rat erteilen; ebenso andere in L o b r e d e n , in denen alles auf die W ü r d e von Personen bezogen sei. (142) D i e ganze Kraft und Fähigkeit des Redners sei auf fünf Bereiche verteilt: Erstens müsse er finden, was er sagen wolle; zweitens das Aufgefundene nicht nur nach der äußeren Reihenfolge, sondern auch nach d e m inneren G e wicht und nach seinem Urteil ausgewogen verteilen und zu einem G a n z e n f o r m e n ; drittens durch die Wortwahl einkleiden und ausschmücken; viertens im Gedächtnis bewahren;

zuletzt mit W ü r d e

und A n m u t

vortragen.

(143) Auch das Folgende hatte ich kennen gelernt und v e r n o m m e n : Bevor wir über den Sachverhalt sprächen, müssten wir am Anfang die H e r z e n der Zuhörer gewinnen; darauf sei der Sachverhalt darzulegen; anschließend die Streitfrage festzulegen; darauf müssten wir das, auf was wir hinauswollten, bekräftigen; dann die Gegenargumente zurückweisen; am Schluss der R e d e aber das, was für uns spreche, stärker und besonders hervorheben und was fur die Prozessgegner spreche, entkräften und schwächen. (144) Ich hatte auch gehört, was über den S c h m u c k der R e d e an sich mitgeteilt wurde: D a bei wird erstens vorgeschrieben, dass wir reines und gutes Latein sprechen, zweitens, dass wir klar und deutlich, drittens, dass wir mit reichem Redeschmuck, und viertens, dass wir der dem G e w i c h t der Gegenstände angemessen und gewissermaßen mit Anstand sprechen. U n d für die einzelnen Punkte hatte ich jeweils Vorschriften kennen gelernt. (145) J a sogar für das, was am meisten von der natürlichen Veranlagung abhängig ist, wurde, wie ich sah, eine theoretische Lehre aufgestellt. D e n n über den Vortrag und das Gedächtnis hatte ich einige zwar kurze, aber mit ausführlicher Ü b u n g verbundene Vorschriften kennen gelernt. Mit diesen Fragen nämlich beschäftigt sich das ganze Lehrsystem dieser Theoretiker. Wenn ich sagen wollte, es nütze zu nichts, müsste ich lügen; denn es hat eine gewisse Wirkung, die dazu führt, dass der Redner daran erinnert wird, wie er das Einzelne einordnen und worauf er sein Augenmerk richten

soll, um weniger von dem Ziel, das er sich gesteckt hat, abzuirren.

(146) D o c h ich verstehe die Wirkung in allen Vorschriften folgendermaßen: Die Redner haben R u h m für ihre Beredsamkeit nicht dadurch erlangt, dass sie diese Vorschriften befolgen, sondern gewisse Leute haben beobachtet und gesammelt, was beredte M ä n n e r schon von sich aus taten. So ist die Beredsamkeit nicht aus einem theoretischen System, sondern das theoretische System aus der Beredsamkeit hervorgegangen. D e n n o c h verwerfe ich, wie schon gesagt, dieses nicht; denn wenn es auch nicht ganz unentbehrlich ist, u m eine gute Rede zu halten, so ist dessen Kenntnis einem gebildeten Menschen nicht abträglich. (147) Auch das rechte M a ß an Ü b u n g müsst ihr auf euch nehmen - ihr

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vos quidem iam pridem estis in cursu, - sed iis, qui ingrediuntur ad Studium quique ea, quae agenda sunt in foro tamquam in acie, possunt etiam nunc exercitatione quasi ludicra praediscere ac meditari.' 'Hanc ipsam' inquit Sulpicius 'nosse volumus. Ac tamen ista, quae abs te breviter de arte decursa sunt, audire cupimus, quamquam sunt nobis quoque non inaudita. Verum ilia mox; nunc de ipsa exercitatione quid sentias, quaerimus.' 'Equidem probo ista' Crassus inquit 'quae vos facere soletis, ut causa aliqua posita consimili causarum earum, quae in forum deferuntur, dicatis quam maxime ad veritatem accommodate. Sed plerique in hoc vocem modo, neque earn scienter, et vires exercent suas et linguae celeritatem incitant verborumque frequentia delectantur. In quo fallit eos, quod audierunt, dicendo homines, ut dicant, efficere solere. Vere enim etiam illud dicitur perverse dicere homines perverse dicendo facillime consequi. Q u a m ob rem in istis ipsis exercitationibus etsi utile est etiam subito saepe dicere, tamen illud utilius, sumpto spatio ad cogitandum, paratius atque accuratius dicere. Caput autem est, quod, ut vere dicam, minime facimus - est enim magni laboris, quem plerique fugimus - quam plurimum scribere. Stilus optimus et praestantissimus dicendi effector ac magister; neque iniuria: N a m si subitam et fortuitam orationem commentatio et cogitatio facile vincit, hanc ipsam profecto adsidua ac diligens scriptura superabit. Omnes enim, sive artis sunt loci sive ingenii cuiusdam atque prudentiae, qui modo insunt in ea re, de qua scribimus, inquirentibus nobis omnique acie ingenii contemplantibus ostendunt se et occurrunt; omnesque sententiae verbaque omnia, quae sunt cuiusque generis maxime inlustria, sub acumen stili subeant et succedant necesse est; tum ipsa conlocatio conformatioque verborum perficitur in scribendo, non poetico, sed quodam oratorio numero et modo. Haec sunt, quae clamores et admirationes in bonis oratoribus efficiunt, neque ea quisquam, nisi diu multumque scriptitarit, etiam si vehementis-

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habt indes eure Laufbahn ja längst begonnen - ; aber diejenigen müssen es tun, die ihr Studium erst beginnen und die das, was auf dem F o r u m wie in offener Feldschlacht getan werden muss, s c h o n jetzt in einer gewissermaßen spielerischen Ü b u n g im Voraus erlernen und einüben k ö n n e n . « (148) » G e n a u diese Ü b u n g wollen wir kennen lernen«, warf Sulpicius ein. » A b e r dennoch m ö c h t e n wir auch das, was du über die theoretische Lehre kurz abgehandelt hast, hören, o b w o h l es auch für uns nicht ganz unbekannt ist. A b e r darüber später! J e t z t fragen wir, was deine Ansicht über die Ü b u n g ist.« (149) »Ich jedenfalls billige«, erwiderte Crassus, »was ihr gewöhnlich tut, dass ihr nämlich, wenn irgendein Fall, ganz ähnlich den Fällen, die vor G e richt gebracht werden, zur Diskussion gestellt ist, möglichst so redet, als handle es sich u m einen wirklichen Rechtsfall. A b e r sehr viele üben dabei nur ihre S t i m m e , aber auch diese nicht sachkundig, und ihre Kräfte und steigern die Geläufigkeit ihrer Zunge und freuen sich über den Wortschwall. Dabei lassen sie sich täuschen durch die Aussage, die sie gehört haben, durch Reden brächten es die Menschen gewöhnlich so weit, dass sie reden könnten. (150) Richtig ist nämlich auch die Aussage, dass durch verkehrtes Reden die Menschen es sehr leicht erreichen, verkehrt zu reden. Deshalb ist es zwar auch nützlich, gerade bei diesen Ü b u n g e n oft auch aus dem Stegreif zu sprechen, doch bringt es größeren N u t z e n , sich Zeit z u m N a c h d e n k e n zu nehm e n und dadurch besser vorbereitet und sorgfältiger zu reden. Die H a u p t sache aber ist, was wir, u m die Wahrheit zu sagen, am wenigsten tun - es macht nämlich große M ü h e und diese scheuen wir größtenteils - soviel wie möglich zu schreiben. D e r Griffel ist der beste und vorzüglichste Bildner und Lehrmeister des rednerischen Ausdrucks und das nicht zu U n r e c h t : D e n n wenn eine Stegreif- und Zufallsrede leicht von einer R e d e , die gründlich vorbereitet und durchdacht ist, übertroffen wird, so wird in der Tat selbst über dieser n o c h diejenige Rede stehen, die mit Fleiß und Sorgfalt schriftlich ausformuliert ist. (151) D e n n alle Gesichtspunkte, die nur einigermaßen dem Gegenstand inhärent sind, über den wir schreiben - o b sie sich nun dank theoretischer Unterweisung oder durch Intuition und den gesunden M e n schenverstand ergeben - , zeigen sich uns und fallen uns ein, wenn wir forschend in die Materie eindringen und sie mit der ganzen Schärfe des Geistes betrachten; und alle Gedanken und Worte, die jeden Aspekt am klarsten b e zeichnen, müssen der Reihe nach unter die Spitze des Griffels treten; dann vervollkommnet sich die Wortstellung und -fügung selbst beim Schreiben, aber nicht nach dem R h y t h m u s und Versmaß des Dichters, sondern gerade dem des Redners. (152) D a s ist es, was guten Rednern laute Beifallsrufe und Äußerungen der Bewunderung einbringt, und niemand wird es erreichen, wenn er sich nicht lange mit schriftlichen Ü b u n g e n abgegeben hat, auch

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sime se in his subitis dictionibus exercuerit, consequetur. Et qui a scribendi consuetudine ad dicendum venit, hanc adfert facultatem, ut etiam subito si dicat, tamen ilia, quae dicantur, similia scriptorura esse videantur; atque etiam, si quando in dicendo scriptum attulerit aliquid, cum ab eo discesserit, reliqua similis oratio consequetur. Ut concitato navigio cum remiges inhibuerunt, retinet tamen ipsa navis motum et cursum suum intermisso impetu pulsuque remorum, sic in oratione perpetua, cum scripta deficiunt, parem tamen obtinet oratio reliqua cursum scriptorum similitudine et vi concitata.

In cotidianis autem commentationibus equidem mihi adulescentulus proponere solebam illam exercitationem maxime, qua C. Carbonem, nostrum ilium inimicum, solitum esse uti sciebam, ut aut versibus propositis quam maxime gravibus aut oratione aliqua lecta ad eum finem, quem memoria possem comprehendere, earn rem ipsam, quam legissem, verbis aliis quam maxime possem lectis, pronuntiarem. Sed post animadvert! hoc esse in hoc vitii, quod ea verba, quae maxime cuiusque rei propria quaeque essent ornatissima atque optima, occupasset aut Ennius, si ad eius versus me exercerem, aut Gracchus, si eius orationem mihi forte proposuissem: ita, si isdem verbis uterer, nihil prodesse, si aliis, etiam obesse, cum minus idoneis uti consuescerem. Postea mihi placuit - eoque sum usus adulescens - , ut summorum oratorum Graecas orationes explicarem. Quibus lectis hoc adsequebar, ut, cum ea, quae legeram Graece, Latine redderem, non solum optimis verbis uterer et tamen usitatis, sed etiam exprimerem quaedam verba imitando, quae nova nostris essent, dum modo essent idonea. Iam vocis et spiritus et totius corporis et ipsius linguae motus et exercitationes non tam artis indigent quam laboris; quibus in rebus habenda est ratio diligenter, quos imitemur, quorum similes velimus esse. Intuendi nobis sunt non solum oratores, sed etiam actores, ne mala consuetudine ad aliquam deformitatem pravitatemque veniamus. Exercenda est etiam memoria ediscendis ad verbum quam plurimis et nostris scriptis et alienis. Atque in ea exercitatione non sane

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wenn er sich sehr eifrig in den genannten Stegreifreden übt. Und wer von dieser Übung im Schreiben zur Rede kommt, bringt die Fähigkeit mit, dass auch dann, wenn er aus dem Stegreif spricht, seine Worte dennoch einem schriftlich formulierten Text ähnlich scheinen; und auch wenn er einmal bei einer Rede ein schriftlich ausgearbeitetes Konzept mitgebracht hat, wird, wenn er davon abweicht, die restliche Rede sich in ähnlicher Form anschließen. (153) Wie ein in Schwung gebrachtes Schiff auch dann, wenn die Ruderer innegehalten haben, trotzdem von sich aus die Bewegung und die Richtung beibehält, obwohl der Antrieb und der Schlag der Ruder unterbrochen ist, so hält bei einer fortlaufenden Rede, wenn das schriftlich ausgearbeitete Konzept ausgeht, die restliche Rede trotzdem an der Richtung fest durch die Ähnlichkeit mit dem schriftlich fixierten Text und dadurch, dass sie kraftvoll in Schwung gebracht ist. (154) Bei meinen täglichen Vorstudien aber pflegte ich als ganz junger Mann mir vor allem jene Übung vorzunehmen, die, wie ich wusste, mein Widersacher Gaius Carbo gewöhnlich anwandte; ich nahm mir nämlich möglichst erhabene Verse vor und las eine Rede so weit, wie ich sie im Gedächtnis behalten konnte, und trug dann gerade das, was ich gelesen hatte, mit anderen möglichst gewählten Wörtern vor. Aber später merkte ich, dass diesem Verfahren der folgende Fehler anhaftete: Wenn die Worte, die fur eine Sache jeweils am zutreffendsten, schmuckvollsten und am besten geeignet waren, entweder schon Ennius, wenn ich mich an seinen Versen übte, in Beschlag genommen hatte oder Gracchus, wenn ich mir zufällig eine Rede von ihm vorgenommen hatte, so würde es, bemerkte ich, wenn ich genau dieselben Wörter gebrauchte, nichts nützen, wenn aber andere, würde es sogar schaden, da ich mich daran gewöhnte, weniger geeignete zu benützen. (155) Später hielt ich es für zweckmäßig - und dieses Verfahren wandte ich als junger Mann an - , Reden führender griechischer Redner wiederzugeben. Durch die Lektüre dieser Reden erreichte ich Folgendes: Wenn ich lateinisch wiedergab, was ich in Griechisch gelesen hatte, benützte ich nicht nur die besten und dennoch gebräuchliche Wörter, sondern ich bildete beim Übersetzen auch bestimmte Wörter durch nachahmende Formulierung, die für unsere Landsleute neu sein mochten, wenn sie nur geeignet waren. (156) Ferner bedürfen Bewegungen und Übungen der Stimme, des Atems, des ganzen Körpers und der Zunge selbst nicht so sehr der theoretischen Lehre wie der Anstrengung; hierbei müssen wir gewissenhaft darauf achten, wen wir nachahmen und wem wir ähnlich sein wollen. Wir dürfen nicht nur auf Redner unseren Blick richten, sondern auch auf Schauspieler, damit wir nicht durch schlechte Gewohnheit in ein hässliches, verschrobenes Gebärdenspiel verfallen. (157) Wir müssen auch unser Gedächtnis üben, indem wir nicht nur möglichst viele eigene, sondern auch fremde Schriften Wort für Wort aus-

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mihi displicet adhibere, si consueris, etiam istam locorum simulacrorumque rationem, quae in arte traditur. Educenda deinde dictio est ex hac domestica exercitatione et umbratili medium in agmen, in pulverem, in clamorem, in castra atque in aciem forensem, subeundus visus omnium et periclitandae vires ingenii, et ilia commentatio inclusa in veritatis lucem proferenda est. Legendi etiam poetae, cognoscendae historiae, omnium bonarum artium doctores atque scriptores eligendi et pervolutandi et exercitationis causa laudandi, interpretandi, corrigendi, vituperandi, refellendi; disputandumque de omni re in contrarias partis et, quicquid erit in quaque re, quod probabile videri possit, eliciendum atque dicendum. Perdiscendum ius civile, cognoscendae leges, percipienda omnis antiquitas; senatoria consuetudo, disciplina rei publicae, iura sociorum, foedera, pactiones, causa imperii cognoscenda est; libandus est etiam ex omni genere urbanitatis facetiarum quidam lepos, quo tamquam sale perspargatur omnis oratio.

Effudi vobis omnia, quae sentiebam; quae fortasse, quemcumque patrem familias adripuissetis ex aliquo circulo, eadem vobis percontantibus respondisset.' Haec cum Crassus dixisset, silentium est consecutum. Sed quamquam satis iis, qui aderant, ad id, quod erat propositum, dictum videbatur, tarnen sentiebant celerius esse multo quam ipsi vellent ab eo peroratum. Tum Scaevola 'quid est, Cotta?' inquit 'quid tacetis? Nihilne vobis in mentem venit, quod praeterea a Crasso requiratis?' 'Id mehercule' inquit 'ipsum attendo. Tantus enim cursus verborum fuit et sic evolavit oratio, ut eius vim et incitationem aspexerim, vestigia ingressumque non viderim; et tamquam in aliquam locupletem ac refertam domum venerim, non explicata veste neque proposito argento neque tabulis et signis propalam conlocatis, sed iis omnibus multis magnificisque rebus constructis ac reconditis, sic modo in oratione Crassi divitias atque ornamenta eius ingenii per quaedam involucra atque integumenta perspexi, sed ea contemplari cum cuperem, vix aspiciendi

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wendig lernen. U n d bei dieser Ü b u n g missfällt mir überhaupt nicht, wenn man sich daran gewöhnt hat, auch die Methode der räumlichen und bildlichen Vorstellung anzuwenden, welche in Form eines Systems vermittelt wird. Danach muss man den rednerischen Vortrag hinaustragen aus dieser häuslichen Ü b u n g in der Studierstube mitten in den Staub, in das Geschrei, in den Kampf, in das Feldlager und die Schlacht des F o r u m s ; man m u s s sich den Blicken aller aussetzen und seine Geisteskräfte erproben und jene Vorstudien im stillen Kämmerlein müssen ans Licht der Öffentlichkeit gebracht werden. (158) Lesen muss man auch Dichter, kennen lernen Episoden aus der Geschichte, die Lehrer und Schriftsteller in allen edlen Wissenschaften auswählen, immer wieder durchlesen, zur Ü b u n g loben, auslegen, verbessern, tadeln, widerlegen; bei jedem Thema muss man das Für und Wider erörtern und alles, was an einer Sache jeweils lobenswert erscheint, hervorholen und sagen. (159) Gründlich erlernen muss man das bürgerliche Recht, Kenntnis erwerben über die Gesetze, sich aneignen die gesamte alte Geschichte, über die auf Sitte und Tradition beruhende Geschäftsordnung des Senats, die Staatsverfassung, die Rechte der Bundesgenossen, Staatsverträge, Vertragsabschlüsse, die Außenpolitik muss man Kenntnis erwerben; auch soll man aus jeder Art geistreichen Scherzens eine Kostprobe von bestimmten liebenswürdigen Witzen nehmen, womit die ganze Rede wie mit Salz bestreut werden soll. Ich habe nun alle meine Ansichten vor euch ausgeschüttet; genau dieselben Antworten auf eure Fragen hätte euch vielleicht jeder beliebige Hausvater, den ihr aus irgendeinem Privatkreis herbeigeholt hättet, gegeben.« (160) Als Crassus dies gesagt hatte, trat Schweigen ein. Aber obwohl es den Anwesenden schien, es sei genug zu dem vorgelegten Thema gesagt, hatten sie dennoch den Eindruck, er habe seine Rede viel schneller beendet, als sie es wünschten. D a sprach Scaevola: »Was ist, Cotta? Warum schweigt ihr? Fällt euch denn nichts ein, was ihr Crassus noch fragen wolltet?« (161) »Beim Herkules«, erwiderte der Angesprochene, »gerade diese Frage stelle ich mir auch. S o rasch nämlich floss der Strom seiner Worte dahin und s o schnell entflog seine Rede, dass ich ihrer Gewalt und ihres Schwunges zwar gewahr wurde, aber die Spuren, die sie hinterließ, und die Art, wie sie ging, nicht sah; und wie wenn ich in ein reich begütertes Haus gekommen wäre, in dem die Teppiche nicht auseinander gerollt, das Tafelgeschirr nicht aufgesetzt und die Gemälde und Standbilder nicht offen aufgestellt, sondern all diese vielen prachtvollen Sachen aufgestapelt und versteckt sind, s o habe ich eben in der Rede des Crassus die Reichtümer und Kostbarkeiten seines Geistes gewissermaßen durch Hüllen und Decken hindurch erblickt, aber obwohl ich sie in Ruhe zu betrachten wünschte, hatte ich kaum

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potestas fuit. Itaque nec hoc possum dicere me omnino ignorare, quid possideat, neque plane nosse atque vidisse.' 'Quin tu igitur facis idem,' inquit Scaevola 'quod faceres, si in aliquam domum plenam ornamentorum villamve venisses ? Si ea seposita, ut dicis, essent, tuque valde spectandi cupidus esses, non dubitares rogare dominum, ut proferri iuberet, praesertim si esset familiaris; similiter nunc petes a Crasso, ut illam copiam ornamentorum suorum, quam constructam uno in loco quasi per transennam praetereuntes strictim aspeximus, in lucem proferat et suo quidque in loco conlocet.'

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'Ego vero' inquit Cotta 'a te peto, Scaevola - me enim et hunc Sulpicium impedit pudor, ab homine omnium gravissimo, qui genus huius modi disputationis semper contempserit, haec, quae isti forsitan puerorum elementa videantur, exquirere: - sed tu hanc nobis da veniam, Scaevola, et perfice, ut Crassus haec, quae coartavit et peranguste refersit in oratione sua, dilatet nobis atque explicet.' 'Ego mehercule' inquit Mucius 'antea vestra magis hoc causa volebam quam mea. Neque enim tantopere hanc a Crasso disputationem desiderabam, quantopere eius in causis oratione delector; nunc vero, Crasse, mea quoque etiam causa rogo, ut, quoniam tantum habemus otii, quantum iam diu nobis non contigit, ne gravere exaedificare id opus, quod instituisti. Formam enim totius negotii opinione maiorem melioremque video, quam vehementer probo.' 'Enimvero' inquit Crassus 'mirari satis non queo etiam te haec, Scaevola, desiderare, quae ego neque ita teneo ut ii, qui docent, neque sunt eius generis, ut si optime tenerem, digna essent ista tua sapientia ac tuis auribus.'

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'Ain tu?' inquit ille. 'Si de istis communibus et pervagatis vix huic aetati audiendum putas, etiamne ilia neglerere possumus, quae tu oratori cognoscenda esse dixisti: de naturis hominum, de moribus, de rationibus iis, quibus hominum mentes et incitarentur et reprimerentur, de historia, de antiquitate, de administratione rei publicae, denique de nostro ipso iure civili? Hanc enim ego omnem scientiam et copiam rerum in tua prudentia

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die Möglichkeit, ihrer gewahr zu werden. Deshalb kann ich nicht sagen, ich wisse überhaupt nicht, was er besitzt, aber auch nicht, dass ich es genau kenne und gesehen habe.« (162) »Warum tust du dann nicht dasselbe,«, fragte Scaevola, »was du tätest, wenn du in ein Haus oder Landhaus voll von Kostbarkeiten gekommen wärest? Wenn diese beiseite geschafft wären, wie du sagst, und du hättest großes Verlangen, sie zu sehen, würdest du nicht zögern, den Hausherrn zu bitten, er möge sie herbringen lassen, zumal wenn er mit dir befreundet wäre; ähnlich wirst du jetzt Crassus bitten, er möge jene Menge seiner Kostbarkeiten, die an einem Ort aufgestapelt ist und auf die wir gewissermaßen durch ein Gitter nur einen flüchtigen Blick geworfen haben, ans Licht bringen und jedes einzelne Stück an seinen Platz stellen.« (163) »Dies bitte ich vielmehr dich, mein Scaevola«, entgegnete Cotta; »mich nämlich und den Sulpicius hier hindert die Scheu, den ehrwürdigsten von allen Männern, der einen so gearteten Lehrvortrag immer abgelehnt hat, nach dem zu fragen, was ihm vielleicht wie der Anfangsunterricht von Knaben erscheint - ; aber du, mein Scaevola, erweise uns den Gefallen und setze durch, dass Crassus das, was er zusammengedrängt und sehr eng aufeinander gehäuft hat in seiner Rede, vor uns ausbreitet und entfaltet.« (164) »Beim Herkules«, erwiderte Mucius, »vorhin wollte ich das mehr um euret- als um meinetwillen. Denn nach einer solchen Erörterung von Crassus hatte ich kein so großes Verlangen, wie ich mich über seine Rede in Prozessen freue; jetzt aber, mein Crassus, bitte ich auch um meinetwillen, du möchtest, da wir ja so viel Muße haben, wie uns schon lange nicht zuteil geworden ist, dich nicht weigern, das Gebäude, das du begonnen hast, fertig zu bauen. Denn der Entwurf der ganzen Sache ist, wie ich sehe, größer und besser, als man gedacht hätte, und ich heiße ihn nachdrücklich gut.« (165) »Aber freilich kann ich mich nicht genug wundern«, erwiderte Crassus, »dass auch du, mein Scaevola, Verlangen nach dem hast, was ich weder so beherrsche wie diejenigen, die es lehren, und was nicht von der Art ist, dass es, auch wenn ich es bestens beherrschte, deiner Weisheit und deiner Ohren würdig wäre.« »Meinst du wirklich?« erwiderte jener. »Wenn du glaubst, in meinem Alter brauche man kaum etwas über diese allgemein bekannten und weit verbreiteten Regeln zu hören, können wir dann auch jene Kenntnisse vernachlässigen, über die, wie du gesagt hast, der Redner sich unterrichten müsse: Kenntnisse über natürliche Veranlagungen der Menschen, über ihre Sitten, über die Methoden, durch die man das Gemüt der Menschen erregen und beschwichtigen kann, über Geschichte, über das Altertum, über die Verwaltung des Staates, schließlich eben über unser bürgerliches Recht? Ich wusste ja, dass du bei deiner Klugheit dieses ganze Wissen und die Fülle an Kennt-

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sciebam inesse; in oratoris vero instrument» tam lautam supellectilem numquam videram.' 'Potes' inquit 'igitur', Crassus 'ut alia omittam, quae sunt innumerabilia et immensa, et ut ad ipsum tuum ius civile veniam, oratores putare eos, quos multas horas expectavit, cum in campum properaret, et ridens et stomachans P. Scaevola, cum H y p seaus maxima voce, plurimis verbis a M. Crasso praetore contenderet, ut ei, quem defendebat, causa cadere liceret, C n . autem Octavius, homo consularis, non minus longa oratione recusaret, ne adversarius causa caderet ac ne is, pro quo ipse diceret, turpi tutelae iudicio atque omni molestia stultitia adversarii liberaretur?'

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'Ego vero istos' inquit - 'memini enim mihi narrare Mucium non modo oratoris nomine, sed foro dignos vix putarim.'

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'Atqui non defuit illis patronis' inquit Crassus 'eloquentia neque dicendi ratio aut copia, sed iuris civilis scientia, quod alter plus lege agendo petebat quam quantum lex in X I I tabulis permiserat - quod cum impetrasset, causa caderet - , alter iniquum putabat plus secum agi, quam quod erat in actione, neque intellegebat, si ita esset actum, litem adversarium perditurum.

Quid? His paucis diebus nonne nobis in tribunali Q . Pompei praetoris urbani familiaris nostri sedentibus, homo ex numero disertorum postulabat, ut illi, unde peteretur, vetus atque usitata exceptio daretur, cuius pecuniae dies fuisset? Q u o d petitoris causa comparatum esse non intellegebat, ut si ille infitiator probasset iudici ante petitam esse pecuniam, quam esset coepta deberi, petitor rursus cum peteret, ne exceptione excluderetur, quod ea res in iudicium antea venisset. Quid ergo hoc fieri turpius aut dici potest quam eum, qui hanc personam susceperit, ut amicorum controversias causasque tueatur, laborantibus succurrat, aegris medeatur, adflictos excitet, hunc in minimis tenuissi-

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nissen beherrschst; doch unter dem Rüstzeug des Redners hatte ich nie ein so großartiges Werkzeug gesehen.« (166) »Kannst du denn im Ernst«, erwiderte Crassus, »- um andere unzählige und unermessliche Kenntnisse zu übergehen und gerade zu deinem bürgerlichen Recht zu kommen - , diejenigen für Redner halten, bei denen Publius Scaevola, obwohl er es eilig hatte, zum Marsfeld zu kommen, lachend und ärgerlich zugleich viele Stunden lang aushalten musste? Hypsaeus verlangte mit überlauter Stimme und sehr vielen Worten vom Prätor Marcus Crassus dringend, dass der, den er verteidigte, den Prozess verlieren dürfe; Gnaeus Octavius aber, ein gewesener Konsul, erhob in einer nicht weniger langen Rede dagegen Einspruch, dass sein Prozessgegner den Prozess verliere und dass der, für den er sprach, durch die Dummheit des Prozessgegners von dem schimpflichen Urteil über die Vormundschaft und von allem Arger befreit werde.« (167) »In der Tat«, erwiderte Scaevola, »ich möchte meinen - denn ich erinnere mich, dass mir Mucius von der Angelegenheit erzählte - solche Leute verdienen es nicht, dass man sie Redner nennt; sie gehören nicht einmal aufs Forum.« »Gleichwohl aber«, entgegnete Crassus, »fehlte es diesen Anwälten weder an Beredsamkeit noch an der Methode oder der Fülle der Rede, sondern an der Kenntnis des bürgerlichen Rechts; denn der eine forderte in der Vorverhandlung mehr, als das Zwölftafelgesetz gestattet hatte - hätte er das durchgesetzt, müsste er eigentlich den Prozess auf jeden Fall verlieren - , der andere hielt es für unbillig, dass gegen ihn wegen einer höheren Forderung als der in der Klageformel genannten prozessiert wurde, und begriff nicht, dass sein Prozessgegner den Rechtsstreit verlieren würde, wenn die Klage so erhoben werde. (168) Und vollends: Als wir erst vor wenigen Tagen auf dem Tribunal des Stadtprätors Quintus Pompeius, eines Freundes von mir, zu Gericht saßen, stellte da nicht einer aus der Schar dieser redegewandten Männer den Antrag, dem Beklagten, an den die Forderung gestellt werde, möge die alte und gebräuchliche Einrede »soweit der Betrag fällig ist« gewährt werden? Dass diese Bestimmung zum Vorteil des Klägers getroffen wurde, begriff er nicht: Wenn nämlich jener ableugnende Schuldner dem Richter bewiesen hätte, dass das Geld vor dem Fälligkeitstermin zurückgefordert worden sei, sollte der Gläubiger, wenn er wiederum klage, ja nicht durch die Einrede abgewiesen werden, der Fall sei schon vorher vor den Richter gebracht worden. (169) Was kann also Schimpflicheres getan oder gesagt werden, als wenn ein Mann, der sich die Aufgabe gestellt hat, sich der Rechtshändel und Rechtsgeschäfte von Freunden anzunehmen, den Bedrängten zu Hilfe zu eilen, den Kranken Heilung zu bringen, die Niedergeschlagenen wieder aufzurichten,

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misque rebus ita labi, ut aliis miserandus, aliis inridendus esse videatur? Equidem propinquum nostrum P. Crassum ilium Divitem cum multis aliis rebus elegantem hominem et ornatum tum praecipue in hoc ferendum et laudandum puto, quod, cum P. Scaevolae frater esset, solitus est ei persaepe dicere neque ilium in iure civili satis illi arti facere posse, nisi dicendi copiam adsumpsisset - quod quidem hie, qui mecum consul fuit, filius eius est consecutus - neque se ante causas amicorum tractare atque agere coepisse, quam ius civile didicisset. Quid vero? Ille M. Cato nonne et eloquentia tanta fuit, quantam ilia tempora atque ilia aetas in hac civitate efferre maximam potuit, et iuris civilis omnium peritissimus ? Verecundius hac de re iam dudum loquor, quod adest vir in dicendo summus, quem ego unum oratorem maxime admiror; sed tamen idem hoc semper ius civile contempsit. Verum quoniam sententiae atque opinionis meae voluistis esse participes, nihil occultabo et, quoad potero, vobis exponam, quid de quaque re sentiam.

Antoni incredibilis quaedam et prope singularis et divina vis ingenii videtur, etiam si hac scientia iuris nudata sit, posse se facile ceteris armis prudentiae tueri atque defendere. Quam ob rem hie nobis sit exceptus; ceteros vero non dubitabo primum inertiae condemnare sententia mea, post etiam impudentiae. Nam volitare in foro, haerere in iure ac praetorum tribunalibus, iudicia privata magnarum rerum obire, in quibus saepe non de facto, sed de aequitate ac iure certetur, iactare se in causis centumviralibus, in quibus usucapionum, tutelarum, gentilitatum, agnationum, adluvionum, circumluvionum, nexorum, mancipioram, parietum, luminum, stillicidiorum, testamentorum ruptorum aut ratorum ceterarumque rerum innumerabilium iura versentur, cum omnino, quid suum, quid alienum, quare denique civis aut peregrinus, servus aut liber quispiam sit, ignoret, insignis est impudentiae. Ilia vero deridenda adrogantia est

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dass dieser Mann in den kleinsten und geringfügigsten Angelegenheiten so strauchelt, dass er den einen bedauernswert, anderen lächerlich erscheint? (170) Ich jedenfalls glaube, dass mein Verwandter Publius Crassus mit dem Beinamen >der Reiche«, der in vieler anderer Hinsicht ein fein gebildeter Mann und ein bedeutender Redner war, besonders deswegen erwähnt und gelobt werden muss, weil er gewohnt war, dem Publius Scaevola, dessen Bruder er ja war, sehr oft zu sagen, dieser könne, was das bürgerliche Recht angehe, jener Disziplin nicht gerecht werden, wenn er nicht die reichen Möglichkeiten der Beredsamkeit zu Hilfe nehme. Dies erreichte wenigstens sein Sohn, der zusammen mit mir Konsul war. Auch er selbst habe sich nicht eher der Rechtsgeschäfte seiner Freunde angenommen und sie vor Gericht vertreten, bevor er das bürgerliche Recht erlernt habe. (171) Und weiter! Besaß der berühmte Marcus Cato nicht eine so hohe Beredsamkeit, wie sie jene Zeit und jene Generation in unserem Staat nur hervorbringen konnte, und war er nicht äußerst bewandert im bürgerlichen Recht? Über diesen Punkt spreche ich schon längst mit einer gewissen Scheu, weil ein in der Redekunst führender Mann anwesend ist, den ich als einzigen Redner außerordentlich bewundere; aber dennoch hat dieser das bürgerliche Recht immer verachtet. (172) Doch weil ihr ja meine Ansicht und Meinung kennen lernen wollt, will ich nichts verheimlichen und euch, so gut ich es kann, darstellen, welcher Ansicht ich über jeden Punkt bin. Des Antonius geradezu unglaubliche und nahezu einzigartige und göttliche Kraft der natürlichen Begabung scheint sich, auch wenn ihr diese Kenntnis des Rechts abgehen mag, leicht mit den übrigen Waffen der praktischen Vernunft schützen und verteidigen zu können. Deshalb wollen wir mit ihm eine Ausnahme machen; die übrigen aber werde ich ohne Zögern mit meiner Stimme zuerst der Trägheit, dann auch der Unverschämtheit schuldig sprechen. (173) Denn auf dem Forum herumzuschwirren, dort, wo man Recht zu erlangen sucht, und vor den Tribunalen der Prätoren festzukleben, sich an Verfahren vor Einzelrichtern über wichtige Fälle heranzumachen, in denen oft nicht über den Sachverhalt, sondern über Billigkeit und Rechtsverbindlichkeit gestritten wird, sich in Prozessen vor dem Centumviralgericht breit zu machen, in denen über Rechtsgrundsätze der Verjährung durch Eigentumsersitzung, Vormundschaften, Geschlechtsverwandtschaften, agnatische Blutsverwandtschaften, Besitzvermehrung infolge von Anschwemmung oder Inselbildung, Schuldverpflichtungen, förmliche Eigentumsübertragungen, die rechtlichen Bestimmungen in Bezug auf Mauern, Fenster, Dachtraufen, umgestoßene oder gültige Testamente und unzählige sonstige Gegenstände verhandelt wird, wenn man überhaupt nicht weiß, was eigenes und fremdes Gut ist, warum jemand Bürger oder Fremder, Sklave oder frei ist, das verrät auffallende Unverschämtheit. (174) In der Tat ist es eine lächerliche

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in minoribus navigiis rudem esse se confiteri, quinqueremis autem aut etiam maiores gubernare didicisse. Tu mihi cum in circulo decipiare adversari stipulatiuncula et cum obsignes tabellas clientis tui, quibus in tabellis id sit scriptum, quo ille capiatur, ego tibi ullam causam maiorem committendam putem? Citius hercule is, qui duorum scalmorum naviculam in portu everterit, in Euxino ponto Argonautarum navim gubernarit! Quid? si ne parvae quidem causae sunt, sed saepe maximae, in quibus certatur de iure civili, quod tandem os est eius patroni, qui ad eas causas sine ulla scientia iuris audet accedere ?

Quae potuit igitur esse causa maior quam illius militis, de cuius morte cum domum falsus ab exercitu nuntius venisset et pater eius re credita testamentum mutasset et, quem ei visum esset, fecisset heredem essetque ipse mortuus, res delata est ad centumviros, cum miles domum revenisset egissetque lege in hereditatem paternam testamento exheres filius? Nempe in ea causa quaesitum est de iure civili, possetne paternorum bonorum exheres esse filius, quem pater testamento neque heredem neque exheredem scripsisset nominatim.

Quid? Qua de re inter Marcellos et Claudios patricios centumviri iudicarunt, cum Marcelli ab liberti filio Stirpe, Claudii patricii eiusdem hominis hereditatem gente ad se redisse dicerent, nonne in ea causa fuit oratoribus de toto stirpis et gentilitatis iure dicendum?

Quid? Quod item in centumvirali iudicio certatum esse accepimus, cum Romam in exilium venisset, cui Romae exulare ius esset, si se ad aliquem quasi patronum applicavisset, intestatoque esset mortuus, nonne in ea causa ius applicationis, obscurum sane et ignotum, patefactum in iudicio atque inlustratum est a patrono?

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Anmaßung zu erklären, dass man mit kleineren Schiffen unerfahren sei, aber gelernt habe, Fünfmderer oder noch größere Schiffe zu lenken. Ich bitte dich: Wenn du dich schon in kleinem Kreis durch eine läppische Stipulationsformel der Gegenpartei bemogeln lässt und wenn du auf eine Urkunde deines Schützlings, in der die Bestimmung steht, durch die dieser hintergangen wird, dein Siegel drückst, soll ich dann glauben, man dürfe dir irgendeinen größeren Rechtsfall anvertrauen? Weit eher, beim Herkules, wird einer, der sein kleines Ruderboot mit nur zwei Dollen im Hafen zum Kentern gebracht hat, imstande sein, auf dem Schwarzen Meer am Ruder des Argonautenschiffes zu stehen. (175) U n d weiter: Wenn es keineswegs geringfügige Prozesse sind, sondern oft äußerst wichtige, in denen u m das bürgerliche Recht gestritten wird, was für eine freche Stirn hat dann ein Anwalt, der es wagt, ohne irgendwelche Rechtskenntnisse solche Prozesse zu übernehmen? Welcher Prozess konnte also beispielsweise bedeutender sein als der jenes Soldaten, dessen Tod v o m Heer fälschlich nach H a u s e gemeldet worden war und dessen Vater diese Nachricht geglaubt und sein Testament geändert hatte? Er hatte jemand anders, der ihm der Richtige schien, als Erben eingesetzt und war dann selbst gestorben. Die Sache wurde von dem Soldaten nach seiner Heimkehr vor das Centumviralgericht gebracht; er hatte mittels einer gesetzlichen Spruchformel auf die Erbschaft seines Vaters geklagt als der Sohn, der keinen Anteil an der Erbschaft hatte. In jenem Fall handelte es sich doch gewiss u m ein Problem aus dem bürgerlichen Recht: Konnte der Sohn, den der Vater in seinem Testament weder als Erben noch als Enterbten namentlich bezeichnet hatte, bei der Vererbung des väterlichen Besitzes leer ausgehen? (176) Wie? Ü b e r was für einen Fall zwischen den Marcellern und den patrizischen Claudiern hat das Centumviralgericht entschieden? Die Marceller behaupteten, aufgrund der Familienverwandtschaft sei ihnen das Erbe vom Sohn ihres Freigelassenen zugefallen, die patrizischen Claudier dagegen, das Erbe desselben Mannes sei ihnen aufgrund der Geschlechtsverwandtschaft zugefallen. Mussten in diesem Prozess die Redner nicht über das gesamte Recht der Familienverwandtschaft und Geschlechtsverwandtschaft sprechen? (177) Wie steht es mit dem Fall, über den ebenfalls vor dem Centumviralgericht ein Rechtsstreit geführt wurde, wie ich erfahren habe? Ein Mann war nach R o m in die Verbannung gekommen, der das Recht hatte, in R o m als Verbannter zu leben, falls er sich jemandem gewissermaßen als Schutzherrn anschloss - und starb, ohne ein Testament zu hinterlassen. Ist nicht in dem Gerichtsverfahren, das wegen dieses Falles zustande kam, v o m Anwalt das arg dunkle und unbekannte Recht eines Schutzverhältnisses genau ans Licht gebracht und erhellt worden?

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Q u i d ? Nuper, cum ego C. Sergi Oratae contra hunc nostrum Antonium iudicio privato causam defenderem, nonne omnis nostra in iure versata defensio est? C u m enim M. Marius Gratidianus aedis Oratae vendidisset neque servire quandam earum aedium partem in mancipi lege dixisset, defendebamus, quicquid fuisset incommodi in mancipio, id si venditor scisset neque declarasset, praestare debere.

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Q u o quidem in genere familiaris noster M. Buculeius, homo neque meo iudicio stultus et suo valde sapiens et ab iuris studio non abhorrens, simili in re quodam m o d o nuper erravit. N a m cum aedis L. Fufio venderet, in mancipio lumina, uti tum essent, ita recepit. Fufius autem, simul atque exaedificari coeptum est in quadam parte urbis, quae modo ex illis aedibus conspici posset, egit statim cum Buculeio, quod, cuicumque particulae caeli officeretur, quamvis esset procul, mutari lumina putabat.

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Q u i d vero? Clarissima M . ' Curii causa Marcique Coponii nuper apud centumviros quo concursu hominum, qua expectatione defensa est? C u m Q . Scaevola, aequalis et collega meus, homo omnium et disciplina iuris civilis eruditissimus et ingenio prudentiaque acutissimus et oratione maxime limatus atque subtilis atque, ut ego soleo dicere, iuris peritorum eloquentissimus, eloquentium iuris peritissimus, ex scripto testamentorum iura defenderet negaretque, nisi postumus et natus et, antequam in suam tutelam venisset, mortuus esset, heredem eum esse posse, qui esset secundum postumum et natum et mortuum heres institutus, ego autem defenderem eum hac tum mente fuisse, qui testamentum fecisset, ut si filius non esset, qui in suam tutelam veniret, M.' Curius esset heres, num destitit uterque nostrum in ea causa in auctoritatibus, in exemplis, in testamentorum formulis, hoc est in medio iure civili versari?

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Omitto iam plura exempla causarum amplissimarum, quae sunt innumerabilia; capitis nostri saepe potest accidere, ut causae versentur in iure.

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(178) Wie? Als ich vor kurzem den Fall des Sergius Orata gegen unseren Antonius hier in einem Privatprozess vertrat, gründete sich da nicht meine ganze Verteidigung auf das Rechts wesen? Als nämlich Marcus Marius Gratidianus dem Orata ein Haus verkauft und im Vertrag nicht angegeben hatte, dass ein bestimmter Teil des Hauses mit einer Grunddienstbarkeit belastet sei, vertrat ich in meiner Verteidigung den Standpunkt, dass der Verkäufer für jeglichen Mangel, wenn er bei der Besitzübertragung darum gewusst, ihn aber nicht ausdrücklich angegeben habe, Schadenersatz leisten müsse. (179) In derartiger Weise hat sich auch ein Freund von mir, Marcus Buculeius, nach meinem Urteil kein törichter, nach seinem ein sehr weiser Mann, der auch in der Rechtswissenschaft nicht unbewandert ist, in einem ähnlichen Fall vor kurzem einigermaßen geirrt. Denn als er sein Haus dem Fufius verkaufte, ließ er in die Ubereignungsurkunde zu den Lichtrechten die Klausel aufnehmen: >So garantiert, wie sie jetzt sind.< Sobald man aber in einem bestimmten Stadtteil, der von jenem Haus aus eben noch gesehen werden konnte, mit dem Ausbau eines Hauses begonnen hatte, klagte Fufius sofort gegen Buculeius; er glaubte nämlich, dass seine Lichtrechte beeinträchtigt würden, wenn nur irgendein kleiner Teil des Himmels verbaut werde, sei er auch noch so weit entfernt. (180) Wie steht es aber nun mit dem hochberühmten Fall des Manius Curius und Marcus Coponius, der vor kurzem vor dem Centumviralgericht verhandelt wurde? Wie strömten da die Menschen zusammen, wie erwartungsvoll hörte man die Plädoyers! Quintus Scaevola, mein Altersgenosse und Amtskollege, ein Mann, der in der Kenntnis des bürgerlichen Rechts alle übertrifft, der aufgrund seiner intellektuellen Begabung und seines praktischen Wissens sehr scharfsinnig ist, geschliffene und feinsinnige Reden hält und, wie ich gewöhnlich sage, unter den Rechtsgelehrten der größte Redner und unter den Rednern der größte Rechtsgelehrte, verfocht vom Wortlaut ausgehend die Rechtsgrundsätze von Testamenten und behauptete, wenn kein Nachkömmling geboren und wenn einer, bevor er mündig wurde, gestorben sei, könne derjenige nicht Erbe sein, der erst an zweiter Stelle nach der (erwarteten) Geburt und dem Tod eines Nachkömmlings als Erbe eingesetzt wurde. Ich aber gründete meine Argumentation auf die These, wer das Testament damals verfasst hat, habe die Absicht gehabt, Manius Curius solle Erbe sein, falls kein Sohn da sei, der volljährig werde. Haben wir beide uns in diesem Prozess nicht unablässig mit Rechtsgutachten, mit Präzedenzfällen, mit Testamentsformeln, d. h. mit Kernpunkten des bürgerlichen Rechts beschäftigt? (181) Ich übergehe jetzt weitere Beispiele von hochwichtigen Rechtsfällen, deren es unzählige gibt; aber oft kann es vorkommen, dass in Prozessen, in denen unsere bürgerliche Existenz auf dem Spiele steht, das Recht eine Hauptrolle spielt.

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Etenim si C . Mancinum nobilissimum atque optimum virum atque consularem, cum propter invidiam Numantini foederis pater patratus ex S. C . Numantinis dedidisset eumque illi non recepissent posteaque Mancinus domum revenisset neque in senatum introire dubitasset, P. Rutilius M . f. tribunus piebis iussit educi, quod eum civem negaret esse, quia memoria sic esset proditum, quem pater suus aut populus vendidisset aut pater patratus dedidisset, ei nullum esse postliminium, quam possumus reperire ex omnibus rebus civilibus causam contentionemque maiorem quam de ordine, de civitate, de libertate, de capite hominis consularis, praesertim cum haec non in crimine aliquo, quod ille posset infitiari, sed in civili iure consisteret?

Similique in genere, inferiore ordine, si quis apud nos servisset ex populo foederato seseque liberasset et postea domum revenisset, quaesitum est apud maiores nostras, num is ad suos postliminio redisset et amisisset hanc civitatem.

Quid? De libertate, quo iudicium gravius esse nullum potest, nonne ex iure civili potest esse contentio, cum quaeritur, is, qui domini voluntate census sit, continuone an, ubi lustrum conditum, liber sit? Quid? Q u o d usu memoria patrum venit, ut pater familias, qui ex Hispania R o m a m venisset, cum uxorem praegnantem in provincia reliquisset, Romae alteram duxisset neque nuntium priori remisisset mortuusque esset intestato et ex utraque filius natus esset, mediocrisne res in controversiam adducta est, cum quaereretur de duobus civium capitibus, et de puero, qui ex posteriore natus erat, et de eius matre, quae, si iudicaretur certis quibusdam verbis, non novis nuptiis fieri cum superiore divortium, in concubinae loco duceretur?

Haec igitur et horum similia iura suae civitatis ignorantem erectum et celsum, alacri et prompto ore atque vultu hue atque illuc intuentem vagari cum magna caterva toto foro, praesidium clientibus atque opem amicis et prope cunctis civibus lucem in-

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Als z . B . den Gaius M a n c i n u s , einen hochadligen und vortrefflichen M a n n und gewesenen K o n s u l , der Sprecher der Fetialen aus Verbitterung über dessen Vertrag mit N u m a n t i a aufgrund eines Senatsbeschlusses an die N u m a n t i n e r ausliefern ließ, diese aber ihn nicht annahmen und daraufhin Mancinus in die H e i m a t zurückkehrte und o h n e Z ö g e r n in den Senat ging, da ließ der Volkstribun Publius Rutilius, ein S o h n des M a r c u s , ihn wieder hinausführen; denn er stellte in A b r e d e , dass er ein Bürger sei, weil ja durch alte Lehre überliefert sei, dass es für einen, den sein eigener Vater oder das Volk verkauft oder der Sprecher der Fetialen ausgeliefert h a b e , kein R ü c k k e h r r e c h t m e h r gebe. (182) Welches Gerichtsverfahren und welchen Rechtsstreit k ö n n e n wir da unter allen politischen Ereignissen finden, der wichtiger wäre als der u m den Stand, das Bürgerrecht, die Freiheit und die bürgerliche E x i s t e n z eines gewesenen Konsuls, zumal das Gerichtsverfahren nicht irgendein Vergehen, das er hätte abstreiten k ö n n e n , sondern das bürgerliche R e c h t betraf? In ähnlicher Weise, aber einen niedrigeren Stand betreffend, w a r es bei unseren Vorfahren eine umstrittene Frage, o b jemand aus einem verbündeten Volk, wenn er bei uns als Sklave gelebt, sich aber freigekauft habe und daraufhin nach H a u s e z u r ü c k g e k o m m e n sei, aufgrund des Rückkehrrechts zu seinen Landsleuten zurückgekehrt sei und das Bürgerrecht bei uns verloren habe. (183) Weiter! Was die Freiheit angeht, das Bedeutendste, worüber vor G e richt entschieden werden kann, kann es da aufgrund des bürgerlichen Rechts nicht einen Rechtsstreit geben, wenn die Frage gestellt wird, o b ein Sklave, der auf Antrag seines H e r r n v o m Z e n s o r in die Bürgerliste eingetragen wurde, sogleich frei ist oder erst, wenn das Sühneopfer dargebracht ist? W i e steht es weiter mit einem Vorfall, der sich zur Zeit unserer Väter wirklich ereignet hat? Ein verheirateter M a n n , der aus Spanien nach R o m gek o m m e n war, hatte seine Ehefrau schwanger in der Provinz zurückgelassen, in R o m eine andere Frau geheiratet und der früheren keinen Scheidebrief geschickt und war gestorben, o h n e ein Testament zu hinterlassen; beide Frauen brachten einen S o h n zur Welt. K a m es da über eine unbedeutende Angelegenheit zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung? D i e gerichdiche U n t e r suchung befasste sich immerhin mit zwei Bürgersleuten, dem K n a b e n , der von der zweiten Frau geboren wurde, und seiner Mutter, die als eine K o n k u bine hätte gelten müssen, wenn das Urteil lautete, dass die Scheidung durch eine bestimmte F o r m e l , nicht durch eine neue Heirat erfolge. (184) Wenn also einer, der diese und diesen ähnliche Rechte seines Staates nicht k e n n t , erhobenen Hauptes und stolz, mit frecher und dreister Stirn und Miene bald hierhin, bald dorthin blickend in Begleitung einer großen Schar auf d e m ganzen F o r u m umherzieht, seinen Klienten Schutz, seinen

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genii et consilii sui porrigentem atque tendentem, nonne inprimis flagitiosum putandum est? Et quoniam de impudentia dixi, castigemus etiam segnitatem hominum atque inertiam. N a m si esset ista cognitio iuris magna atque difficilis, tamen utilitatis magnitudo deberet homines ad suscipiendum discendi laborem impellere. Sed, ο di immortales, non dicerem hoc audiente Scaevola, nisi ipse dicere soleret nullius artis sibi faciliorem cognitionem videri. Q u o d quidem certis de causis a plerisque aliter existimatur; primum, quia veteres illi, qui huic scientiae praefuerunt, optinendae atque augendae potentiae suae causa pervolgari artem suam noluerunt; deinde, posteaquam est ius editum expositis a Cn. Flavio primum actionibus, nulli fuerunt, qui ilia artificiose digesta generatim componerent. Nihil est enim, quod ad artem redigi possit, nisi ille prius, qui ilia tenet, quorum artem instituere volt, habet illam scientiam, ut ex iis rebus, quarum ars nondum sit, artem efficere possit.

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H o c video, dum breviter voluerim dicere, dictum a me esse paulo obscurius; sed experiar et dicam, si potero, planius.

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Omnia fere, quae sunt conclusa nunc artibus, dispersa et dissipata quondam fuerunt; ut in musicis numeri et voces et modi; in geometria lineamenta, formae, intervalla, magnitudines; in astrologia caeli conversio, ortus, obitus motusque siderum; in grammaticis poetarum pertractatio, historiarum cognitio, verborum interpretatio, pronuntiandi quidam sonus; in hac denique ipsa ratione dicendi excogitare, ornare, disponere, meminisse, agere ignota quondam omnibus et diffusa late videbantur. Adhibita est igitur ars quaedam extrinsecus ex alio genere quodam, quod sibi totum philosophi adsumunt, quae rem dissolutam divolsamque conglutinaret et ratione quadam constringeret. Sit ergo in iure civili finis hie: legitimae atque usitatae in rebus causisque civium aequabilitatis conservatio. T u m sunt notanda genera et ad certum numerum paucitatemque revocanda. Genus

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Freunden Hilfe und beinahe allen Bürgern seinen glänzenden Intellekt und Rat aufdrängt, muss man diesen nicht für besonders niederträchtig halten? (185) Und nachdem ich nun über die Unverschämtheit gesprochen habe, lasst uns die Gleichgültigkeit und Trägheit rügen! Denn wenn es anstrengend und schwierig wäre, das Recht zu studieren, müsste die Größe des Nutzens die Menschen dennoch dazu antreiben, sich der Mühe, es zu lernen, zu unterziehen. Aber, ihr unsterblichen Götter, ich würde das nicht sagen vor den Ohren Scaevolas, wenn er nicht selbst immer wieder sagte, dass ihm das Studium keiner Wissenschaft leichter erscheine. (186) Hierüber urteilen allerdings aus bestimmten Gründen die meisten anders. Erstens wollten in alten Zeiten die Männer, die diese Wissenschaft beherrschten, um der Erhaltung und Vermehrung ihrer Macht willen nicht, dass ihr Wissen im Volk verbreitet werde. Zweitens gab es, als das Recht dadurch, dass Gnaeus Flavius erstmals die Prozessformeln veröffentlichte, allgemein zugänglich wurde, niemanden, der dieses Material nach Gattungen eingeteilt und systematisch geordnet hätte. Nichts kann nämlich in ein wissenschaftliches System gebracht werden, wenn nicht zuvor einer, der das Gebiet beherrscht, von dem er ein wissenschaftliches System erstellen will, das Wissen besitzt, dass er aus den Dingen, von denen es noch kein wissenschaftliches System gibt, ein solches schaffen kann. (187) Ich sehe, dass ich, wo ich mich doch kurz fassen wollte, etwas zu unverständlich gesprochen habe; aber ich will versuchen, mich deutlicher auszudrücken, wenn ich kann. Fast alles, was jetzt in systematischen Lehrbüchern zusammengefasst ist, war einst zerstreut und zusammenhanglos; z.B. waren in der Musik Rhythmen, Töne und Melodien, in der Geometrie Linien, Figuren, Abstände, Größen, in der Astronomie die Drehung des Himmels, Aufgang, Untergang und Bewegung der Gestirne, in der Philologie die gründliche Behandlung der Dichter, das Erlernen geschichtlicher Ereignisse, die Erklärung von Wörtern, ein bestimmter Tonfall in der Aussprache, schließlich in unserer Theorie der Redekunst selbst das Ersinnen, das Ausschmücken, das Anordnen, das Einprägen, das Vortragen anscheinend einst allen Menschen unbekannte und weitläufig verstreute Dinge. (188) Man zog also von außen her aus einem fremden Bereich, den die Philosophen als ihre eigenste Angelegenheit betrachten, eine gewisse wissenschaftliche Disziplin hinzu, welche das verstreute und zerstückelte Material zusammenfügen und nach einer bestimmten Methode bündeln sollte. Im bürgerlichen Recht sei also dies das höchste Ziel: Sicherung einer in Gesetz und Herkommen verankerten Gleichberechtigung in den privaten Angelegenheiten und Prozessen der Bürger. (189) Dann muss man die Gattungen bezeichnen und auf eine feste möglichst kleine Zahl zurückführen. Gattung aber ist das, was zwei oder mehr Arten

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autem id est, quod sui similis communione quadam, specie autem differentis duas aut pluris complectitur partis. Partes autem sunt, quae generibus iis, ex quibus manant, subiciuntur; omniaque, quae sunt vel generum vel partium nomina, definitionibus, quam vim habeant, est exprimendum. Est enim definitio rerum earum, quae sunt eius rei propriae, quam definire volumus, brevis et circumscripta quaedam explicatio. Hisce ego rebus exempla adiungerem, nisi apud quos haec haberetur oratio cernerem; nunc complectar, quod proposui, brevi. Si enim aut mihi facere licuerit, quod iam diu cogito, aut alius quispiam aut m e impedito occuparit aut m o r t u o effecerit, ut primum omne ius civile in genera digerat, quae perpauca sunt, deinde eorum generum quasi quaedam membra dispertiat, tum propriam cuiusque vim definitione declaret, perfectam artem iuris civilis habebitis, magis magnam atque uberem quam difficilem et obscuram. Atque interea tarnen, d u m haec, quae dispersa sunt, coguntur, vel passim licet carpentem et colligentem undique repleri ista iuris civilis scientia. N o n n e videtis equitem R o m a n u m , hominem acutissimum omnium ingenio, sed minime ceteris artibus eruditum, C . Aculeonem, qui mecum vivit semperque vixit, ita tenere ius civile, ut ei, cum ab hoc discesseritis, nemo de iis, qui peritissimi sunt, anteponatur? O m nia sunt enim posita ante oculos, conlocata in usu cotidiano, in congressione hominum atque in foro, neque ita multis litteris aut voluminibus magnis continentur. Eadem enim elata sunt prim u m a pluribus; deinde paucis verbis commutatis etiam ab isd e m scriptoribus scripta sunt saepius.

Accedit vero, quo facilius percipi cognoscique ius civile possit, quod minime plerique arbitrantur, mira quaedam in cognoscendo suavitas et delectatio. N a m sive quem haec Aeliana studia delectant, plurima est et in omni iure civili et in pontificum libris et in XII tabulis antiquitatis effigies, quod et verborum vetustas

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umfasst, die wegen einer gewissen Gemeinsamkeit einander ähnlich, aufgrund ihrer äußeren Erscheinung aber verschieden sind. Arten aber sind die Dinge, die den Gattungen, aus denen sie hervorgehen, untergeordnet sind; und was alle Benennungen entweder von Gattungen oder von Arten angeht, muss man durch Definitionen ausdrücken, welche Bedeutung sie haben. Eine Definition ist nämlich eine kurze, scharf umrissene Erklärung der für den Gegenstand, den wir definieren wollen, eigentümlichen Merkmale. (190) Diesen meinen Ausführungen würde ich Beispiele anfügen, wenn ich nicht wüsste, vor welchen Männern ich meinen Vortrag halte; jetzt will ich kurz zusammenfassen, was ich vorgetragen habe. Wenn nämlich entweder mir vergönnt sein wird zu tun, woran ich schon lange denke, oder wenn irgendein anderer mir zuvorkommt, falls ich daran gehindert würde, oder das Werk nach meinem Tod zu Ende bringt, dass er nämlich zuerst das gesamte bürgerliche Recht in Gattungen einteilt, von denen es nur sehr wenige gibt, darauf von diesen Gattungen sozusagen gewisse Glieder abteilt, sodann die einer jeden Gattung und einem jedem Glied eigentümliche Bedeutung durch eine Definition erklärt, dann werdet ihr ein vollkommenes wissenschaftliches System des bürgerlichen Rechts haben, das mehr umfangreich und reichhaltig als schwierig und dunkel ist. (191) Indes kann man inzwischen, solange dieses zerstreute Material noch zusammengetragen wird, dennoch seine Kenntnis des bürgerlichen Rechts vervollständigen, indem man das weit und breit zerstreute Material aufliest und zusammensucht. Seht ihr denn nicht, dass der römische Ritter Gaius Aculeo, der mit mir verkehrt und immer verkehrt hat, ein Mann, scharfsinniger als alle anderen, aber in den übrigen Wissenschaften überhaupt nicht gebildet, das bürgerliche Recht so beherrscht, dass ihm, wenn ihr unseren Freund Scaevola hier außer Betracht lasst, keiner der besten Kenner vorgezogen wird? (192) Denn das ganze Material liegt offen vor Augen, hat seinen festen Platz in der Praxis des täglichen Lebens, im gesellschaftlichen Verkehr der Menschen und auf dem Forum und ist nicht in vielen Schriften und umfangreichen Bänden enthalten. Denn dieselben Materialien wurden zuerst von mehreren Männern veröffentlicht; dann wurden sie unter Veränderung von nur wenigen Wörtern von denselben Verfassern immer wieder neu formuliert. (193) Hinzu kommt aber, damit das bürgerliche Recht umso leichter erfasst und erlernt werden kann - und das glauben die meisten überhaupt nicht - , noch eine geradezu erstaunliche Annehmlichkeit und Freude, (die man empfindet,) wenn man es sich aneignet. Denn wenn nun jemandem diese Bestrebungen, die jetzt durch Aelius in Mode gekommen sind, Freude bereiten, so bietet sich ihm im gesamten bürgerlichen Recht, in den Büchern der Priester und in den zwölf Tafeln ein reich schattiertes Bild der alten Zeit; man lernt nämlich ganz altertümliche Wörter kennen, und gewisse typisch

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prisca cognoscitur et actionum genera quaedam maiorum consuetudinem vitamque declarant; sive quem civilis scientia, quam Scaevola non putat oratoris esse propriam, sed cuiusdam ex alio genere prudentiae, totam hanc, descriptis omnibus civitatis utilitatibus ac partibus, XII tabulis contineri videbit; sive quem ista praepotens et gloriosa philosophia delectat, - dicam audacius hosce habet fontis omnium disputationum suarum, qui iure civili et legibus continentur. Ex his enim et dignitatem maxime expetendam videmus, cum virtus et iustus atque honestus labor honoribus, praemiis, splendore decoratur, vitia autem hominum atque fraudes damnis, ignominiis, vinclis, verberibus, exiliis, morte multantur; et docemur non infinitis concertationumque plenis disputationibus, sed auctoritate nutuque legum domitas habere libidines, coercere omnes cupiditates, nostra tueri, ab alienis mentes, oculos, manus abstinere. Fremant omnes licet, dicam, quod sentio: bibliothecas mehercule omnium philosophorum unus mihi videtur XII tabularum libellus, si quis legum fontis et capita viderit, et auctoritatis pondere et utilitatis übertäte superare. Ac si nos, id quod maxime debet, nostra patria delectat, cuius rei tanta est vis ac tanta natura, ut Ithacam illam in asperrimis saxulis tamquam nidulum adfixam sapientissimus vir immortalitati anteponeret, quo amore tandem inflammati esse debemus in eius modi patriam, quae una in omnibus terris domus est virtutis, imperii, dignitatis? Cuius primum nobis mens, mos, disciplina nota esse debet, vel quia est patria parens omnium nostrum vel quia tanta sapientia fuisse in iure constituendo putanda est, quanta fuit in his tantis opibus imperii comparandis. Percipietis etiam illam ex cognitione iuris laetitiam et voluptatem, quod, quantum praestiterint nostri maiores prudentia ceteris gentibus, tum facillime intellegetis, si cum illorum Lycurgo et Dracone et Solone nostras leges conferre volueritis. Incredibile est enim, quam sit omne ius civile praeter hoc nostrum inconditum ac paene ridiculum; de quo multa soleo in sermonibus cotidianis dicere, cum hominum nostrorum prudentiam ceteris hominibus et maxime Graecis antepono. His ego de

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gestaltete Prozessformeln erhellen die Gewohnheiten und die Lebensweise unserer Vorfahren. Oder wenn jemand sich für die politische Wissenschaft interessiert, die nach der Meinung Scaevolas nicht zum ureigenen Gebiet des Redners, sondern zu einem ganz andersartigen Wissensbereich gehört, wird er sehen, dass sie ganz auf den zwölf Tafeln beruht, weil alle nützlichen Einrichtungen und Teile des Staates darin beschrieben sind. Oder erfreut einen diese übennächtige und ruhmreiche Philosophie, so hat er - ich will es recht kühn sagen - diese Quellen, die auf dem bürgerlichen Recht und den Gesetzen beruhen, als Quellen für alle seine wissenschaftliche Erörterung zur Verfügung. (194) Aus diesen ersehen wir nämlich einerseits, dass innere Würde vor allem erstrebenswert ist, weil Tugend und gerechte und gute Arbeit durch Ehren, Belohnungen und Ansehen ausgezeichnet wird, die Laster und Gaunereien der Menschen aber durch Geldbußen und Beschimpfungen, Gefängnis und Schläge, Verbannung und Tod bestraft werden; andererseits werden wir nicht durch endlose wissenschaftliche Erörterungen voller Wortgefechte, sondern von dem ausdrücklichen Gebot der Gesetze belehrt, unsere Leidenschaften im Zaum zu halten, Begierden zu zügeln, unser Eigentum zu wahren, von fremdem Gut Gedanken, Augen und Hände fernzuhalten. (195) Mögen mir auch alle grollen, ich will sagen, was ich denke: Die Bibliotheken aller Philosophen, beim Herkules, scheint mir das eine Büchlein der zwölf Tafeln, wenn jemand sich die Quellen und Grundsätze jener Gesetze ansieht, sowohl an Gewicht seines Einflusses als auch durch die Reichhaltigkeit seines Nutzens zu übertreffen. (196) Und wenn wir uns, was unsere größte Pflicht und Schuldigkeit ist, unseres Vaterlandes erfreuen, ein Gefühl, dessen natürliche Kraft so groß ist, dass der allerweiseste Mann jenes Ithaka, das an rauen Felsen wie ein kleines Vogelnest klebt, der Unsterblichkeit vorzog, von welcher Liebe müssen dann erst wir zu einem solchen Vaterland entflammt sein, das allein auf der ganzen Welt eine Heimstätte der Tüchtigkeit, Macht und des Ansehens ist? Uns muss an erster Stelle dessen Gesinnung, Sine und Ordnung bekannt sein, entweder weil die Heimat unser aller Mutter ist oder weil, wie man glauben muss, ihre Weisheit bei der Festlegung des Rechts so groß war, wie beim Erwerb der so großen Macht unserer Herrschaft. (197) Auch werdet ihr aufgrund der Kenntnis des Rechts jene Freude und Lust empfinden, weil ihr dann am leichtesten erkennen könnt, wie sehr unsere Vorfahren die übrigen Völker an Klugheit übertroffen haben, wenn ihr unsere Gesetze mit denen des Lykurg, Drakon und Solon vergleichen wollt. Es ist nämlich unglaublich, wie jedes bürgerliche Recht außer dem unseren ungeordnet und beinahe lächerlich ist; darüber pflege ich in meinen täglichen Gesprächen viel zu reden, wenn ich die Klugheit unserer Landsleute der aller übrigen Völker, vor allem derjenigen der Griechen vorziehe. Aus diesen Gründen hatte ich gesagt, mein Scaevola,

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causis dixeram, Scaevola, lis, qui perfecti oratores esse vellent, iuris civilis esse cognitionem necessariam. Iam vero ipsa per sese quantum adferat iis, qui ei praesunt, honoris, gratiae, dignitatis, quis ignorat? Itaque ut apud Graecos infimi homines mercedula adducti ministros se praebent in iudiciis oratoribus, ii, qui apud illos pragmatici vocantur, sic in nostra civitate contra amplissimus quisque et clarissimus vir, ut ille, qui propter hanc iuris civilis scientiam sic appellatus a summo poeta est:

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Egregie cordatus homo, catus Aelius Sextus, multique praeterea, qui, cum ingenio sibi auctore dignitatem peperissent, perfecerunt, ut in respondendo iure auctoritate plus etiam quam ipso ingenio valerent. Senectuti vero celebrandae et 199 ornandae quod honestius potest esse perfugium quam iuris interpretatio? Equidem mihi hoc subsidium iam inde ab adulescentia comparavi, non solum ad causarum usum forensem, sed etiam ad decus atque ad ornamentum senectutis, ut, cum me vires, quod fere iam tempus adventat, deficere coepissent, ista ab solitudine domum meam vindicarem. Quid est enim praeclarius quam honoribus et rei publicae muneribus perfunctum senem posse suo iure dicere idem, quod apud Ennium dicat ille Pythius Apollo se esse eum, unde sibi, si non populi et reges, at omnes sui cives consilium expetant

summarum rerum incerti; quos ego mea ope ex incertis certos compotesque consili dimitto, ut ne res temere tractent turbidas. Est enim sine dubio domus iuris consulti totius oraculum civi- 200 tatis. Testis est huiusce Q. Muci ianua et vestibulum, quod in eius infirmissima valetudine adfectaque iam aetate maxima cotidie frequentia civium ac summorum hominum splendore celebratur. Iam ilia non longam orationem desiderant, quam ob rem exis- 46 timem publica quoque iura, quae sunt propria civitatis atque im- 201 perii, tum monumenta rerum gestarum et vetustatis exempla oratori nota esse debere. Nam ut in rerum privatarum causis at-

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dass für diejenigen Männer, die vollkommene Redner sein wollen, die Kenntnis des bürgerlichen Rechts unentbehrlich ist. (198) Und wer wüsste ferner nicht, wieviel Ehre, Gunst und Ansehen schon diese Rechtskenntnis an und für sich denen bringt, die in ihr führend sind? Bei den Griechen bieten Menschen aus sehr niedrigem Stand - sie werden bei ihnen Sachverständige genannt - um einen kargen Lohn den Rednern in Gerichtsverfahren ihre Dienste an; in unserem Staat ist es im Gegensatz dazu so: Gerade die angesehensten und berühmtesten Männer, wie jener, der wegen dieser seiner Kenntnis des bürgerlichen Rechts von dem größten Dichter, wie folgt, genannt wurde: Ein ausnehmend

kluger Mann, der gescheite Aelius Sextus,

und außerdem viele andere, die, nachdem sie dank ihrer Begabung sich Ansehen verschafft hatten, beim Erteilen von Rechtsgutachten durch ihren gesellschaftlichen Einfluss sogar mehr bewirkten als durch ihre Begabung. (199) Um aber im Alter noch gefragt zu sein und anerkannt zu werden, welche ehrenvollere Zuflucht kann es dafür geben als die Auslegung des Rechts? Ich wenigstens habe mir schon von frühester Jugend an diesen Rückhalt geschaffen nicht nur zum Gebrauch bei Gerichtsverfahren auf dem Forum, sondern auch zur Zierde und zum Schmuck des Alters, tun dann, wenn die Kräfte mich allmählich verlassen - dieser Zeitpunkt rückt schon näher - , mein Haus vor jener oft gerügten Einsamkeit zu schützen. Was gibt es nämlich Herrlicheres als wenn jemand nach der Verwaltung der Ehrenämter und Erledigung der Aufgaben im Dienste des Staates als Greis mit vollem Recht dasselbe sagt, wie bei Ennius der pythische Apollo: Er sei es, von dem sich, wenn auch nicht Völker und Könige, so doch alle seine Mitbürger Rat zu holen suchten, unschlüssig in den wichtigsten

Dingen;

diese entlasse ich, wenn sie

meiner Hilfe aus Unsicheren Sichere geworden damit sie ja nicht unbesonnen Schwierigkeiten

dank

und von mir gut beraten sind, angehen.

(200) Ohne Zweifel ist nämlich das Haus eines Rechtsgelehrten eine Orakelstätte der ganzen Bürgerschaft. Das bezeugen die Türe und die Vorhalle unseres Quintus Mucius, die trotz seiner sehr schwachen Gesundheit und seines schon fortgeschrittenen Alters täglich von sehr vielen Bürgern und von hochangesehenen Männern aus den besten Kreisen besucht wird. (201) Was ferner die übrigen Punkte betrifft, so bedarf es keiner langen Darlegung, weshalb ich der Ansicht bin, dass auch das öffentliche Recht, das sich auf den Staat und die Herrschaft bezieht, und außerdem Geschichtswerke und Präzedenzfälle aus dem Altertum dem Redner bekannt sein müs-

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que iudiciis depromenda saepe oratio est ex iure civili et idcirco, ut ante diximus, oratori iuris civilis scientia necessaria est, sic in causis publicis iudiciorum, contionum, senatus omnis haec et antiquitatis memoria et publici iuris auctoritas et regendae rei publicae ratio ac scientia tamquam aliqua materies iis oratoribus, qui versantur in re publica, subiecta esse debet. N o n enim

202

causidicum nescio quem neque clamatorem aut rabulam h o c s e r m o n e n o s t r a conquirimus, sed e u m virum, qui p r i m u m sit eius artis antistes, cuius cum ipsa natura magnam homini facultatem daret, auctor tamen esse deus putatur, ut id ipsum, quod erat hominis proprium, n o n partum per nos, sed divinitus ad nos delatum videretur; deinde, qui possit, n o n tam caduceo quam n o m i n e oratoris ornatus, incolumis vel inter hostium tela versari; t u m , qui scelus fraudemque nocentis possit dicendo subicere odio civium supplicioque constringere; idemque ingeni praesidio

innocentiam

iudiciorum

poena liberare;

idemque

languentem labentemque populum aut ad decus excitare aut ab errore deducere aut inflammare in improbos aut incitatum in b o n o s mitigare; qui denique, q u e m c u m q u e in animis h o m i n u m m o t u m res et causa postulet, e u m dicendo vel excitare possit vel sedare. H a n c vim si quis existimat aut ab iis, qui de dicendi ra-

203

tione scripserunt, expositam esse aut a m e posse exponi tam brevi, vehementer errat neque solum inscientiam m e a m , sed ne rerum quidem magnitudinem perspicit. E q u i d e m vobis, q u o niam ita voluistis, fontes, unde hauriretis, atque itinera ipsa ita putavi esse demonstranda, n o n ut ipse dux essem, quod et infinitum est et non necessarium, sed ut c o m m o n s t r a r e m tantum viam et, ut fieri solet, digitum ad fontes intenderem.'

'Mihi v e r a ' inquit Mucius 'satis superque abs te videtur isto-

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rum studiis, si m o d o sunt studiosi, esse factum. N a m ut S o c r a -

204

t e m ilium solitum aiunt dicere perfectum sibi opus esse, si quis satis esset concitatus cohortatione sua ad Studium cognoscendae percipiendaeque virtutis; quibus enim id persuasum esset, ut nihil mallent esse se q u a m b o n o s viros, iis reliquam facilem esse doctrinam: sic ego intellego, si in haec, quae patefecit oratione

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sen. Denn wie in Streitfällen und Gerichtsverfahren um private Angelegenheiten die Rede oft aus dem bürgerlichen Recht gespeist werden muss und deshalb, wie ich oben gesagt habe, für den Redner die Kenntnis des bürgerlichen Rechts unentbehrlich ist, so muss in den öffentlichen Verhandlungen vor Gericht, in Volksversammlungen und im Senat die ganze neue und alte Geschichte, das Recht und die wissenschaftliche Methode der Staatsführung sozusagen als eine Art Baumaterial den Rednern, die sich mit Staatsangelegenheiten befassen, zur Verfügung stehen. (202) Wir suchen nämlich in unserem Gespräch nicht einen x-beliebigen Rechtsanwalt noch einen Schreihals oder Zungendrescher, sondern den Mann, der erstens ein Meister in der Kunst sein soll, für deren Urheber man, obwohl die Natur selbst dem Menschen die Befähigung dazu in reichem Maße gegeben hat, dennoch einen Gott hält, so dass gerade das, was Eigentum des Menschen war, nicht von uns erworben, sondern uns von einem Gott übertragen schien; einen Mann, der zweitens, nicht mit dem Heroldsstab, sondern mit dem Namen »Redner« ausgerüstet, sich selbst unter den Geschossen der Feinde unverwundet bewegen kann; dann soll er fähig dazu sein, das Verbrechen und die Gaunerei eines Übeltäters durch seine Rede dem Hass der Mitbürger auszuliefern und ihn durch harte Bestrafung in seine Schranken zu weisen; ebenso dazu, durch die schützende Macht seines Geistes die Unschuldigen von der Strafe der Gerichte zu befreien; ebenso dazu, das träge und irrende Volk entweder zu ehrenhaftem Verhalten aufzumuntern oder vom Irrtum wegzuführen oder, wenn es gegen Gute aufgestachelt ist, zu besänftigen; schließlich dazu, jede seelische Stimmung, welche die Angelegenheit und der Fall bei den Menschen erfordert, durch die Rede entweder zu erregen oder zu beschwichtigen. (203) Wenn jemand glaubt, diese Kraft sei von denen, die über die Theorie der Redekunst geschrieben haben, dargelegt worden oder könne von mir in solcher Kürze dargelegt werden, irrt er gewaltig und erkennt nicht mein Unwissen und schon gar nicht die Bedeutung des Themas. Ich für meine Person glaubte, da ihr es ja so gewollt habt, euch die Quellen, aus denen ihr schöpfen sollt, und die unmittelbaren Zufahrtsstraßen so aufzeigen zu müssen, nicht um selbst euer Führer zu sein - das würde zu keinem Ziel führen und ist nicht notwendig sondern um euch nur den Weg zu zeigen und, wie man zu tun pflegt, mit dem Finger in die Richtung der Quellen zu weisen.« (204) »Ich habe wirklich den Eindruck«, versetzte Mucius, »dass du mehr als genug für den Eifer deiner Schüler getan hast, wenn sie nur eifrig sind. Denn wie der berühmte Sokrates angeblich gesagt hat, für ihn sei seine Arbeit vollendet, wenn jemand durch seine Ermahnung genug zu dem Streben angestachelt sei, die Tugend zu erkennen und in sich aufzunehmen - wer nämlich davon überzeugt sei, nichts lieber zu wollen, als ein guter Mensch zu sein, für den sei der übrige Lernprozess leicht - , so werdet auch ihr, denke

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sua Crassus, intrare volueritis, facillime vos ad ea, quae cupitis, perventuros ab hoc aditu ianuaque patefacta.' 'Nobis vero' inquit Sulpicius 'ista sunt pergrata perqueiucunda; sed pauca etiam requirimus inprimisque ea, quae valde breviter a te, Crasse, de ipsa arte percursa sunt, cum ilia te et non contemnere et didicisse confiterere. Ea si paulo latius dixeris, expleris omnem expectationem diuturni desiderii nostri. N a m nunc, quibus studendum rebus esset, accepimus, quod ipsum est tamen magnum; sed vias earum rerum rationemque cupimus cognoscere.'

205

'Quid? Si,' inquit Crassus 'quoniam ego, quo facilius vos apud me tenerem, vestrae potius obsecutus sum voluntati quam aut consuetudini aut naturae meae, petimus ab Antonio, ut ea, quae continent neque adhuc protulit, ex quibus unum libellum sibi excidisse iam dudum questus est, explicet nobis et ilia dicendi mysteria enuntiet?'

206

' U t videtur,' inquit Sulpicius; 'nam Antonio dicente etiam quid tu intellegas, sentiemus.' 'Peto igitur' Crassus inquit 'a te, quoniam id nobis, Antoni, hominibus id aetatis oneris ab horum adulescentium studiis imponitur, ut exponas, quid iis de rebus, quas a te quaeri vides, sentias.' 'Deprehensum equidem me,' inquit Antonius 'plane video atque sentio, non solum quod ea requiruntur a me, quorum sum ignarus atque insolens, sed quia, quod in causis valde fugere soleo, ne tibi, Crasse, succedam, id nunc me isti vitare non sinunt. Verum hoc ingrediar ad ea, quae vultis, audacius, quod idem mihi spero usu esse venturum in hac disputatione, quod in dicendo solet, ut nulla expectetur ornata oratio. Neque enim sum de arte dicturus, quam numquam didici, sed de mea consuetudine; ipsaque ilia, quae in commentarium meum rettuli, sunt eius modi, non aliqua mihi doctrina tradita, sed in rerum usu causisque tractata; quae si vobis hominibus eruditissimis non probabuntur, vestram iniquitatem accusatote, qui ex me ea quaesieritis, quae ego nescirem, meam facilitatem laudatote, cum vobis non meo iudicio, sed vestro studio inductus non gravate respondero.'

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ich, wenn ihr das Feld, das euch Crassus in seinem Vortrag erschlossen hat, betreten wollt, sehr leicht an das Ziel k o m m e n , das ihr erstrebt, da von ihm der Zugang und die T ü r geöffnet wurden.« (205) » U n s sind deine Ausführungen«, sprach Sulpicius, »wirklich h o c h willkommen und sehr angenehm; aber einiges wenige wollen wir noch wissen und besonders das, was von dir, mein Crassus, über das wissenschaftliche System selbst sehr kurz der Reihe nach angeführt wurde, wobei du zugabst, es nicht zu verachten und es gelernt zu haben. Wenn du das ein wenig weitläufiger erörterst, wirst du all unsere Erwartung und unser lange gehegtes Verlangen befriedigen. D e n n jetzt haben wir v e r n o m m e n , w o r u m wir uns b e mühen müssen, was immerhin schon wichtig ist; aber wir wünschen, Z u gangsmöglichkeiten zu diesen Dingen und ihre Methode kennen zu lernen.« (206) » U m euch leichter bei mir zu behalten«, erwiderte Crassus, »habe ich mich schon eher nach eurem W u n s c h als nach meiner G e w o h n h e i t und N a t u r gerichtet. Wie wäre es da, wenn wir den Antonius bäten, er m ö g e uns das, was er für sich behält und bis jetzt nicht ans Tageslicht gebracht hat und von dem ihm, wie er schon längst geklagt hat, ein kleines B u c h entschlüpft ist, erklären und diese Geheimnisse der Redekunst verkünden?« »Wie du meinst«, antwortete Sulpicius »denn wenn Antonius spricht, werden wir auch m e r k e n , was du denkst.« ( 2 0 7 ) »Ich bitte also dich, mein A n t o n i u s « , sprach Crassus, »da uns alten Männern vom Eifer dieser jungen Männern eine solche Last auferlegt wird, lege deine Ansicht über die Gegenstände, dar, nach denen du, wie du siehst, gefragt wirst!« » D a sehe und fühle ich mich n u n « , sagte A n t o n i u s , »ganz in der Falle, nicht nur, weil man mich nach Dingen fragt, die ich nicht weiß und mit denen ich nicht vertraut bin, sondern weil diese jungen Leute mich jetzt nicht das vermeiden lassen, wovor ich in Prozessen mich immer hüte, nämlich als Redner nach dir aufzutreten. (208) A b e r ich werde mich auf das, was ihr wollt, u m s o kühner einlassen, weil ich hoffe, dass m i r bei meiner Erörterung dasselbe widerfährt wie gewöhnlich, wenn ich eine R e d e halte, nämlich dass man keine schmuckvolle Rede von mir erwartet. Ich will auch wahrhaftig nicht über das wissenschaftliche System sprechen, das ich niemals erlernt habe, sondern über meine G e w o h n h e i t ; gerade auch das, was ich in meinen Abriss aufgenommen habe, ist von dieser A r t : Es ist mir nicht durch irgendeine wissenschaftliche Lehre übermittelt, sondern in der täglichen Praxis und in Prozessen von mir angewandt worden. Wenn es von euch hochgelehrten Männern nicht gebilligt wird, so müsst ihr eure Ungerechtigkeit anklagen ihr fragt mich nämlich Dinge, die ich nicht weiß - und meine Gutmütigkeit loben, denn nicht aus eigener Überzeugung, sondern wegen eures Eifers stehe ich euch, o h n e mich zu weigern, Rede und A n t w o r t . «

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T u m Crassus 'perge m o d o , ' inquit 'Antoni! Nullum est enim

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periculum, ne quid tu eloquare nisi ita prudenter, ut n e m i n e m nostrum paeniteat ad hunc te s e r m o n e m impulisse.' ' E g o vero' inquit 'pergam et id faciam, quod in principio fieri in omnibus disputationibus oportere censeo, ut, quid illud sit, de quo disputetur, explanetur, ne vagari et errare cogatur oratio, si ii, qui inter se dissenserint, n o n idem esse illud, de quo agitur, intellegent. N a m si forte quaereretur, quae esset ars imperatoris,

210

constituendum putarem principio, qui esset imperator; qui c u m esset constitutus administrator quidam belli gerendi, tum adiungeremus de exercitu, de castris, de agminibus, de signorum collationibus, de oppidorum oppugnationibus, de c o m m e a t u , de insidiis faciendis atque vitandis, de reliquis rebus, quae essent propriae belli administrandi; quarum qui essent animo et scientia c o m p o t e s , eos esse imperatores dicerem utererque exemplis Africanorum et M a x i m o r u m , E p a m i n o n d a m atque Hannibalem atque eius generis homines nominarem. Sin autem quaereremus quis esset is, qui ad rem publicam

211

moderandam usum et scientiam et Studium suum contulisset, definirem h o c m o d o : qui, quibus rebus utilitas rei publicae pareretur et augeretur, teneret iisque uteretur, hunc rei publicae rectorem et consilii publici auctorem esse h a b e n d u m ; praedicaremque P. Lentulum principem ilium et Tiberium G r a c c h u m patrem et Q . Meteilum et P. Africanum, et C . Laelium et innumerabiles alios cum ex nostra civitate tum ex ceteris. Sin autem quaereretur, quisnam iuris consultus vere n o m i n a -

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retur, e u m dicerem, qui legum et consuetudinis eius, qua privati in civitate uterentur, et ad respondendum et ad agendum et ad cavendum peritus esset et ex eo genere Sex. Aelium, M ' . M a n i lium, P. M u c i u m n o m i n a r e m .

Atque ut iam ad leviora artium studia veniam, si musicus, si grammaticus, si poeta quaeratur, possim similiter explicare, quid eorum quisque profiteatur et quo n o n amplius ab quoque sit postulandum. Philosophi denique ipsius, qui de sua vi ac sapientia unus o m nia paene profitetur, est tamen quaedam descriptio, ut is, qui

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(209) Darauf sagte Crassus: »Fahre nur fort, mein Antonius! Es besteht nämlich keine Gefahr, dass du über irgend etwas sprichst, es sei denn, es ist etwas so Sachkundiges; so dass niemand von uns bereut, dich zu diesem Vortrag aufgefordert zu haben.« »So will ich denn fortfahren«, sprach Antonius, »und tun, was man meiner Meinung nach bei allen wissenschaftlicher Erörterungen tun muss: Man muss klar und deutlich darlegen, was der Gegenstand der Erörterung ist, damit die Rede nicht zwangsläufig planlos umherschweift und in die Irre führt, wenn diejenigen, die eine andere Meinung haben, nicht merken, dass es ganz der nämliche Gegenstand ist, um den es geht. (210) Denn wenn etwa gefragt würde, was die Kunst des Feldherrn sei, so müsste, glaube ich, zuerst festgestellt werden, wer ein Feldherr ist. Wäre dieser gewissermaßen als Leiter der Kriegsführung bestimmt, dann würden wir Erklärungen über das Heer, das Feldlager, über Heereszüge, das Zusammenstoßen in Schlachten, die Belagerung von Städten, über den Nachschub, darüber, wie man einen Hinterhalt legt und vermeidet, und das übrige, was zur Kriegsführung gehört, anfügen. Diejenigen, die in diesen Dingen kompetent sind, würde ich Feldherren nennen und als Beispiele würde ich Africanus und Maximus sowie Epaminondas und Hannibal und weitere Männer von der Art anführen. (211) Wenn wir aber nach dem Mann fragen würden, der seine Erfahrung, sein Wissen und seinen Eifer auf die Lenkung des Staates verwendet hat, würde ich ihn auf folgende Weise definieren: Wer über die Mittel verfügt, mit deren Hilfe der Nutzen des Staates gewonnen und vermehrt wird, und diese anwendet, den muss man für einen Lenker des Staates und ausgezeichneten Politiker halten; rühmend erwähnen würde ich den berühmten Publius Lentulus, den führenden Mann im Senat, Tiberius Gracchus, den Vater, Quintus Metellus, Publius Africanus, Gaius Laelius und unzählige andere Männer sowohl aus unserem als auch aus den übrigen Staaten. (212) Wenn aber gefragt würde, wer denn wahrhaftig ein Rechtsgelehrter genannt werden könne, würde ich den Mann nennen, der die Gesetze und das Herkommen, nach denen sich Privatpersonen im Staat richten, kennt, um Rechtsgutachten zu erteilen, als Anwalt vor Gericht aufzutreten und bei Kautionen Rechtsbeistand zu leisten; aus dieser Gruppe würde ich den Sextus Aelius, Manius Manilius und Publius Mucius nennen. Und um nun zur Beschäftigung mit weniger bedeutenden Wissensgebieten zu kommen: Wenn nach dem Musiker, wenn nach dem Philologen, wenn nach dem Dichter gefragt würde, könnte ich in ähnlicher Weise erklären, was ein jeder von ihnen als sein Fachgebiet nennt und was das Höchste ist, das man von jedem fordern darf. Schließlich geht es selbst für den Philosophen, der sich aufgrund seines Wesens und seiner Weisheit als einziger beinahe für alle Disziplinen zustän-

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studeat omnium rerum divinarum atque humanarum vim, naturam causasque nosse et omnem bene vivendi rationem tenere et persequi, nomine hoc appelletur. Oratorem autem, quoniam de eo quaerimus, equidem non facio eundem, quem Crassus, qui mihi visus est omnem omnium rerum atque artium scientiam comprehendere uno oratoris officio ac nomine, atque eum puto esse, qui et verbis ad audiendum iucundis et sententiis ad probandum accommodatis uti possit in causis forensibus atque communibus. Hunc ego appello oratorem eumque esse praeterea instructum voce et actione et lepore quodam volo. Crassus vero mihi noster visus est oratoris facultatem non illius artis terminis, sed ingenii sui finibus immensis paene describere. N a m et civitatum regendarum oratori gubernacula sententia sua tradidit, in quo per mihi mirum visum est, Scaevola, te hoc illi concedere, cum saepissime tibi senatus breviter impoliteque dicenti maximis sit de rebus adsensus. M. vero Scaurus, quem non longe rari apud se esse audio, vir regendae rei publicae scientissimus, si audierit hanc auctoritatem gravitatis et consilii sui vindicari a te, Crasse, quod earn oratoris propriam esse dicas, iam, credo, hue veniat et hanc loquacitatem nostram vultu ipso aspectuque conterreat; qui quamquam est in dicendo minime contemnendus, prudentia tamen rerum magnarum magis quam dicendi arte nititur. Neque vero, si quis utrumque potest, aut ille consilii publici auctor ac senator bonus ob earn ipsam causam orator est, aut hie disertus atque eloquens, si est idem in procuratione civitatis egregius, earn ipsam scientiam dicendi copia est consecutus. Multum inter se distant istae facultates longeque sunt diversae atque seiunctae, neque eadem ratione ac via M. Cato, P. Africanus, Q . Metellus, C. Laelius, qui omnes eloquentes fuerunt, orationem suam et rei publicae dignitatem exornabant. Neque enim est interdictum aut a rerum natura aut a lege aliqua atque more, ut singulis hominibus ne amplius quam singulas artes nosse liceat. Q u a r e non, etsi eloquentissimus Athenis Pericles idemque in ea civitate plurimos annos princeps consilii publici fuit, idcirco eiusdem hominis atque artis utraque facultas existimanda est, nec, si P. Crassus

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dig n e n n t , dennoch u m eine A r t Begriffsbestimmung: Wer sich b e m ü h t , das Wesen, die N a t u r u n d die Ursachen aller göttlichen u n d menschlichen Dinge zu k e n n e n u n d jeden G r u n d s a t z einer guten L e b e n s f ü h r u n g zu beherrschen u n d ganz zu befolgen, soll so genannt w e r d e n . (213) Z u einem Redner aber - denn auf ihn richtet sich ja unsere U n t e r s u chung - m a c h e ich für meine Person nicht den nämlichen M a n n wie Crassus. Dieser fasste, wie mir schien, jegliche Kenntnis aller Dinge u n d Wissenschaften allem in d e r Aufgabe u n d unter d e m N a m e n des Redners z u s a m m e n ; ich aber glaube, es ist ein M a n n , d e r in Gerichtsverfahren u n d öffentlichen Verhandlungen Worte, die a n g e n e h m zu h ö r e n , u n d Überlegungen, die geeignet sind, etwas zu beweisen, vortragen k a n n . Diesen M a n n bezeichne ich als Redner u n d ich will, dass er a u ß e r d e m über Stimme verfügt u n d die Fähigkeit z u m Vortrag u n d zu liebenswürdigem Witz. (214) U n s e r F r e u n d Crassus aber schien mir die Aufgabe eines Redners nicht nach den Schranken jener Kunst, s o n d e r n nach den fast grenzenlosen Möglichkeiten seines Intellekts zu b e s t i m m e n . D e n n mit seinem Votum übergab er d e m Redner die Steuerruder z u m Lenken von Staaten. Dabei schien es m i r sehr verwunderlich, mein Scaevola, dass d u i h m das zugestandest; d e n n sehr oft stimmte der Senat dir in den bedeutendsten Angelegenheiten z u , o b w o h l d u n u r k u r z u n d kunstlos gesprochen hast. Wenn aber Marcus Scaurus, der, wie ich höre, sich nicht weit entfernt auf seinem Landgut aufhält, ein M a n n , der genaueste Kenntnisse im Lenken des Staates hat, w e n n der h ö r e n k ö n n t e , dass von dir, mein Crassus, sein h o h e r sittlicher Ernst u n d seine b e s o n n e n e Klugheit beansprucht wird, weil du das speziell d e m Redner zusprichst, k ä m e er, glaube ich, hierher u n d versetzte u n s Schwätzer hier schon durch seine Miene u n d seinen Blick in Schrecken; o b w o h l er als Redner in keiner Weise gering geschätzt werden darf, verlässt er sich m e h r auf die genaue Kenntnis wichtiger Gegenstände als auf die Redekunst. (215) Wenn aber einer zu beidem fähig ist, ist dieser ausgezeichnete Politiker u n d tüchtige Senator nicht schon aus diesem G r u n d selbst ein Redner, noch hat dieser wortgewaltige u n d beredte M a n n , w e n n er zugleich auch herausragt in der Verwaltung des Staates, gerade diese Kenntnis durch seine Redefertigkeit erlangt. Weit liegen diese Fähigkeiten auseinander u n d sie sind grundverschieden; u n d es w a r nicht ein u n d dasselbe Verfahren, w o m i t Marcus C a t o , Publius Africanus, Q u i n t u s Metellus u n d Gaius Laelius, die alle gute Redner w a r e n , ihre Rede schmückten u n d die W ü r d e des Staates verherrlichten. Es ist nämlich w e d e r von der N a t u r n o c h von einem Gesetz oder einer Sitte untersagt, dass einzelne M e n schen m e h r als eine Kunst k e n n e n dürfen. (216) Wenn auch Perikles in Athen der größte Redner u n d ebenso sehr viele Jahre d e r f ü h r e n d e Politiker in diesem Staat war, so darf m a n deswegen nicht glauben, jede der beiden Fähigkeiten sei demselben M a n n u n d derselben Kunst zuzuweisen, u n d w e n n P u -

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idem fuit eloquens et iuris peritus, ob earn causam inest in facultate dicendi iuris civilis scientia. Nam si ut quisque in aliqua arte et facultate excellens aliam quoque artem sibi adsumpserit, is perficiet, ut, quod praeterea seiet, id eius, in quo excellet, pars quaedam esse videatur, licet ista ratione dicamus pila bene et duodeeim scriptis ludere proprium esse iuris civilis, quoniam utrumque eorum P. Mucius optime fecerit; eademque ratione dicantur ei, quos physicos Graeci nominant, idem poetae, quoniam Empedocles physicus egregium poema fecerit. At hoc ne philosophi quidem ipsi, qui omnia sicut propria sua esse atque a se possideri volunt, dicere audent geometriam aut musicam philosophi esse, quia Platonem omnes in illis artibus praestantissimum fuisse fateantur. Ac si iam placet omnis artes oratori subiungere, tolerabilius est sic potius dicere: Ut, quoniam dicendi facultas non debeat esse ieiuna atque nuda, sed aspersa atque distincta multarum rerum iucunda quadam varietate, sit boni oratoris multa auribus accepisse, multa vidisse, multa animo et cogitatione, multa etiam legendo percucurrisse, neque ea ut sua possedisse, sed ut aliena libasse. Fateor enim callidum quendam hunc et nulla in re tironem ac rudem nec peregrinum atque hospitem in agendo esse debere.

Neque vero istis tragoediis tuis, quibus uti philosophi maxime solent, Crasse, perturbor, quod ita dixisti neminem posse eorum mentes, qui audirent, aut inflammare dicendo aut inflammatas restinguere, cum eo maxime vis oratoris magnitudoque cernatur, nisi qui rerum omnium naturam, mores hominum atque rationes penitus perspexerit, in quo philosophia sit oratori necessario percipienda; quo in studio hominum ingeniosissimorum otiosissimorumque totas aetates videmus esse contritas; quorum ego copiam magnitudinemque cognitionis atque artis non modo non contemno, sed etiam vehementer admiror; nobis tamen, qui in hoc populo foroque versamur, satis est ea de moribus hominum et scire et dicere, quae non abhorrent ab homi-

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blius Crassus ebenso beredt wie rechtskundig war, so ist aus diesem Grund in der Befähigung zum Redner nicht auch die Kenntnis des bürgerlichen Rechts enthalten. (217) Denn wenn ein in irgendeiner Kunst und Fähigkeit ausgezeichneter Mann sich auch eine andere Kunst angeeignet hat, wird er erreichen, dass seine zusätzlichen Kenntnisse, gewissermaßen als Teil des Wissensgebietes, in dem er sich auszeichnet, erscheinen; mit dieser Begründung dürften wir auch sagen, gut Ball oder das Zwölf-Felder-Spiel zu spielen gehöre zum bürgerlichen Recht, weil Publius Mucius beides sehr gut beherrschte. Und mit genau derselben Begründung dürfte man die Männer, welche die Griechen als Naturphilosophen bezeichnen, auch Dichter nennen, weil ja der Naturphilosoph Empedokles ein herausragendes Gedicht verfasst habe. Doch nicht einmal die Philosophen selbst, die alle Wissensgebiete wie ihr Eigentum für sich beanspruchen und besitzen wollen, wagen zu sagen, die Geometrie oder Musik gehöre in den Zuständigkeitsbereich des Philosophen, weil Piaton nach dem Eingeständnis aller Menschen in diesen Künsten ganz besonders Vortreffliches geleistet habe. (218) Und wenn man es schon gut findet, alle Fachgebiete der Zuständigkeit des Redners zuzuordnen, so ist es erträglicher, eher folgendermaßen zu formulieren: Da ja die Befähigung zum Reden nicht nüchtern und dürftig sein darf, sondern gewürzt und verfeinert durch eine willkommene vielfaltige Abwechslung, soll es einem guten Redner anstehen, vieles mit den Ohren aufgenommen, vieles gesehen, vieles in seiner Überlegung und in Gedanken, vieles auch lesend überflogen zu haben, aber sich dies nicht zu seinem Besitz gemacht, sondern davon wie von fremdem Gut eine Kostprobe entnommen zu haben. Ich gebe nämlich zu, dass er eine gewisse praktische Klugheit besitzen muss, in keiner Sache Lehrling und noch unerfahren und auch kein Ausländer und Fremdling sein darf, wenn er als Anwalt vor Gericht auftritt. (219) Und ich lasse mich nicht durch deine bühnenreife Vorstellung, die gewöhnlich vor allem die Philosophen pflegen, durcheinander bringen, mein Crassus. Wenn du sagtest, niemand könne die Zuhörer durch eine Rede entflammen oder, wenn sie entflammt seien, wieder besänftigen, das könne aber, wiewohl sich gerade darin das Wesen und die Größe eines Redners zeigten, nur, wer das Wesen der Welt, den Charakter der Menschen und ihre Denkweise bis ins Innerste durchschaut habe; dabei müsse sich der Redner notgedrungen die Philosophie aneignen. Mit diesem Studium haben, wie wir sehen, auch die begabtesten Männer, die sehr viel Muße hatten, ihre gesamte Lebenszeit verbracht. Ich bin weit davon entfernt, die Fülle und Bedeutung der wissenschaftlichen Bildung dieser Männer gering zu schätzen; vielmehr bewundere ich sie nachdrücklich. Doch für uns, die wir in diesem Volk und auf dem Forum leben und wirken, genügt es, das über die Sitten der Menschen zu wissen und zu sagen, was nicht im Widerspruch steht zu den Sitten

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num moribus. Quis enira umquam orator magnus et gravis, cum iratum adversario iudicem facere vellet, haesitavit ob earn causam, quod nesciret, quid esset iracundia, fervorne mentis an cupiditas poeniendi doloris? Quis, cum ceteros animorum motus aut iudicibus aut populo dicendo miscere atque agitare vellet, ea dixit, quae a philosophis dici solent? Q u i partim omnino motus negant in animis ullos esse debere, quique eos in iudicum mentibus concitent, scelus eos nefarium facere; partim, qui tolerabiliores volunt esse et ad veritatem vitae propius accedere, permediocres ac potius leves motus debere esse dicunt. Orator autem omnia haec, quae putantur in communi vitae consuetudine mala ac molesta et fugienda, multo maiora et acerbiora verbis facit; itemque ea, quae vulgo expetenda atque optabilia videntur, dicendo amplificat atque ornat, neque vult ita sapiens inter stultos videri, ut ii, qui audiant, aut ilium ineptum aut Graeculum putent aut, etiam si valde probent ingenium, oratoris sapientiam admirentur, se esse stultos moleste ferant. Sed ita peragrat per animos hominum, ita sensus hominum mentesque pertractat, ut non desideret philosophorum descriptiones neque exquirat oratione, summum illud bonum in animone sit an in corpore, virtute an voluptate definiatur, an haec inter se iungi copularique possint; an vero, ut quibusdam visum, nihil certum sciri, nihil plane cognosci et percipi possit. Quarum rerum fateor magnam multiplicemque esse disciplinam et multas copiosas variasque rationes; sed aliud quiddam, longe aliud, Crasse, quaerimus. Acuto homine nobis opus est et natura usuque callido, qui sagaciter pervestiget, quid sui cives iique homines, quibus aliquid dicendo persuadere velit, cogitent, sentiant, opinentur, expectent. Teneat oportet venas cuiusque generis, aetatis, ordinis et eorum, apud quos aliquid aget aut erit acturus, mentes sensusque degustet. Philosophorum autem libros reservet sibi ad huiusce modi Tusculani requiem atque otium, ne, si quando ei dicendum erit de iustitia et fide, mutuetur a Platone, qui cum haec exprimenda verbis arbitraretur, novam quandam finxit in libris civitatem; usque eo ilia, quae dicenda de iustitia putabat, a

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der M e n s c h e n . (220) D e n n welcher bedeutende und gewichtige Redner ist jemals, wenn er den Richter zornig auf seinen Gegner machen wollte, aus dem G r u n d stecken geblieben, weil er nicht gewusst hätte, was J ä h z o r n ist, o b eine Aufwallung des G e m ü t s oder das Verlangen, sich für einen S c h m e r z zu rächen? Wer hat, wenn er die übrigen Herzensregungen bei den Richtern oder beim Volk durch eine Rede erregen und aufpeitschen wollte, das gesagt, was von Philosophen gewöhnlich gesagt wird? Diese behaupten z u m Teil, dass es in den H e r z e n überhaupt keine Affekte geben dürfe, und wer diese bei den Richtern anfache, begehe ein unsägliches Verbrechen; andere, die duldsamer sein und der Lebenswirklichkeit näher k o m m e n m ö c h t e n , sagen, sehr gemäßigte und eher gelinde Affekte dürfe es geben. (221) D e r Redner aber macht all das, was in der täglichen Lebenswirklichkeit als schlecht, peinlich und verächtlich gilt, durch seine Worte viel größer und schmerzlicher; ebenso hebt er das, was aller Welt als erstrebens- und wünschenswert erscheint, in seiner Rede stärker hervor und schmückt es aus; auch will er nicht so weise unter D u m m k ö p f e n erscheinen, dass die Z u h ö r e r ihn entweder für einen albernen Kerl oder für einen komischen Griechen halten oder es ihnen, auch wenn sie seine Begabung sehr anerkennen, schwer aufs H e r z fällt, dass sie D u m m k ö p f e sind. ( 2 2 2 ) Vielmehr dringt er so in die H e r z e n ein und untersucht so gründlich den Sinn und das G e m ü t der Menschen, dass er die B e griffsbestimmungen der Philosophen nicht vermisst und in seiner Rede nicht erforscht, o b jenes höchste G u t im Geist oder im K ö r p e r zu H a u s e ist, o b es durch T u g e n d oder Lust definiert wird, o b diese sich miteinander verbinden und eng zusammenschließen lassen und o b man gar, wie gewisse Leute meinen, nichts Sicheres wissen und nichts völlig erkennen und erfassen kann. Die wissenschafdiche Lehre über diese D i n g e ist - ich gebe es zu - bedeutend und vielfältig und es gibt viele ausführliche und mannigfache theoretische Systeme; aber wir, mein Crassus, suchen etwas anderes, etwas ganz anderes. (223) W i r haben einen scharfsinnigen und durch natürliche Veranlagung und durch Erfahrung klugen M a n n nötig, der mit feinem G e s p ü r erforscht, was seine Mitbürger und die M e n s c h e n , die er durch seine Rede von etwas überzeugen will, denken, fühlen, meinen, erwarten. E r muss jeder Klasse, jedem Alter und Stand den Puls fühlen und die Gedanken und Empfindungen derer erschmecken, vor denen er als Anwalt vor Gericht auftreten wird oder aufzutreten vorhat. (224) Die B ü c h e r der Philosophen aber soll er sich für die R u h e und M u ß e eines T u s c u l u m s wie dieses hier aufsparen, damit er nicht, wenn er einmal über Gerechtigkeit und Treue sprechen muss, die Gedanken bei Piaton zu entlehnen braucht; dieser hat, da er glaubte, er sollte diese seine Gedanken in Worten ausdrücken, in seinen Büchern gewissermaßen einen neuen Staat entworfen. Bis zu einem solchen G r a d widersprach das, was er glaubte über die Gerechtigkeit sagen zu müssen, dem gewohnten L e b e n und

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vitae consuetudine et a civitatum moribus abhorrebant. Quod si 225 ea probarentur in populis atque in civitatibus, quis tibi, Crasse, concessisset, clarissimo viro et amplissimo, principi civitatis, ut ilia diceres, in maxima contione tuorum civium quae dixisti? "Eripite nos ex miseriis, eripite ex faucibus eorum, quorum crudelitas nostro sanguine non potest expleri; nolite sinere nos cuiquam servire, nisi vobis universis, quibus et possumus et debemus." Omitto "miserias", in quibus, ut illi aiunt, vir fortis esse non potest; omitto "fauces", ex quibus te eripi vis, ne iudicio iniquo exsorbeatur sanguis tuus, quod sapienti negant accidere posse; "servire" vero non modo te, sed universum senatum, cuius tum causam agebas, ausus es dicere? Potestne virtus, 226 Crasse, servire istis auctoribus, quorum tu praecepta oratoris facultate complecteris ? Quae et semper et sola libera est quaeque, etiam si corpora capta sint armis aut constricta vinclis, tamen suum ius atque omnium rerum impunitam libertatem tenere debeat. Quae vero addidisti non modo senatum servire "posse" populo, sed etiam "debere", quis hoc philosophus tam mollis, tam languidus, tam enervatus, tam omnia ad voluptatem corporis doloremque referens probare posset senatum servire populo, cui populus ipse moderandi et regendi sui potestatem quasi quasdam habenas tradidisset? Itaque haec cum a te divini- 53 tus ego dicta arbitrarer, P. Rutilius Rufus, homo doctus et phi- 227 losophiae deditus, non modo parum commode sed etiam turpiter et flagitiose dicta esse dicebat. Idemque Servium Galbam, quem hominem probe commeminisse se aiebat, pergraviter reprehendere solebat, quod is L. Scribonio quaestionem in eum ferente populi misericordiam concitasset, cum M. Cato, Galbae gravis atque acer inimicus, aspere apud populum Romanum et vehementer esset locutus, quam orationem in Originibus suis exposuit ipse. Reprehendebat igitur Galbam Rutilius, quod is C. 228 Sulpici Galli propinqui sui Quintum pupillum filium ipse paene in umeros suos extulisset, qui patris clarissimi recordatione et memoria fletum populo moveret, et duos filios suos parvos tutelae populi commendasset ac se, tamquam in procinctu testamentum faceret sine libra atque tabulis, populum Romanum tutorem instituere dixisset illorum orbitati. Itaque, cum et invidia

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der inneren Moral der Staaten. (225) Wenn diese Gedanken in den Völkern und Staaten gutgeheißen würden, wer hätte dir, mein C r a s s u s , einem hochberühmten und sehr angesehenen Mann, dem ersten Mann im Staat, gestattet, die folgenden Worte zu sprechen, die du in einer sehr wichtigen Versammlung deiner Mitbürger gesprochen hast? 'Entreißt uns dem Elend, entreißt uns dem Rachen derer, deren Grausamkeit von unserem Blut nicht genug bekommen kann! Lasst nicht zu, dass wir irgendjemandem als Sklave dienen, außer euch allen insgesamt, denen wir dienen können und müssen!« Ich lasse das >Elend< unerwähnt, in dem, wie jene sagen, sich ein tapferer Mann nicht befinden kann; ich lasse den -Rachen' unerwähnt, dem du entrissen werden willst, damit dein Blut nicht wegen eines ungerechten Gerichtsurteils ausgesogen wird, was einem weisen Mann nach ihrer Aussage nicht widerfahren kann; aber du hast es gewagt zu sagen, nicht nur du, sondern der gesamte Senat, dessen Sache du damals vertreten hast, »diene als Sklave«? (226) Kann denn die Tugend, mein C r a s s u s , nach der Lehre dieser Philosophen, deren Vorschriften du mit Redekunst zusammenbringst, als Sklave dienen? Sie ist immer und als einzige frei, auch wenn der Leib im Krieg gefangen oder durch Fesseln gebunden sein sollte; dennoch müsste sie dann ihr Recht und ihre Freiheit in allen Dingen uneingeschränkt behaupten. Was aber deine zusätzliche Formulierung angeht, der Senat >könne< nicht nur dem Volk als Sklave dienen, sondern >müsse< es auch: Welcher Philosoph ist so verweichlicht, s o kraftlos und führt alles so auf körperlichen Genuss und Schmerz zurück, dass er es billigen könnte, wenn der Senat dem Volk als Sklave dient, dem doch das Volk selbst die Macht, es zu lenken und leiten, gewissermaßen wie Zügel übergeben hat? (227) Deshalb sagte, während ich einst die Meinung vertrat, du hättest das durch göttliche Eingebung gesagt, Publius Rutilius Rufus, ein gelehrter und der Philosophie ergebener Mann, deine Worte seien nicht nur zu wenig angemessen, sondern auch schimpflich und schandbar. Ebenso pflegte er auch Servius Galba, an den er sich, wie er sagte, noch recht gut erinnerte, sehr hart zu tadeln, weil dieser bei einer gerichtlichen Untersuchung, die Lucius Scribonius gegen ihn anstellte, das Mitleid des Volkes erregt habe, als Marcus C a t o , ein einflussreicher und grimmiger Feind Galbas, vor dem Volk barsch und leidenschaftlich gesprochen hatte; diese Rede hat er selbst in seiner >Urgeschichte< veröffentlicht. (228) A n Galba setzte also Rutilius aus, dass dieser den unmündigen Sohn Q u i n t u s seines Verwandten Gaius Sulpicius Gallus selbst fast auf seine Schultern gehoben hätte, damit er durch die Erinnerung und das Andenken an seinen hochberühmten Vater das Volk zu Tränen rühre, und dass er seine beiden kleinen Söhne dem Schutz des Volkes anvertraut und, als ob er sein Testament vor der Schlacht ohne Waage und Urkunde mache, gesagt habe, er setze das römische Volk als Beschützer dieser Waisen ein. Deshalb, berich-

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et odio populi tum Galba premeretur, hisce eum trageodiis liberatum ferebat. Q u o d item apud Catonem scriptum esse video: "Nisi pueris et lacrimis usus esset, poenas eum daturum fuisse." Haec Rutilius valde vituperabat et huic humilitati dicebat vel exilium fuisse vel mortem anteponendam. Neque vero hoc solum dixit, sed ipse et sensit et fecit. N a m cum esset ille vir exemplum, ut scitis, innocentiae cumque illo nemo neque integrior esset in civitate neque sanctior, non modo supplex iudicibus esse noluit, sed ne ornatius quidem aut liberius causam dici suam, quam simplex ratio veritatis ferebat. Paulum huic Cottae tribuit partium, disertissimo adulescenti, sororis suae filio; dixit item causam illam quadam ex parte Q . Mucius, more suo, nullo apparatu, pure et dilucide. Q u o d si tu tunc, Crasse, dixisses, qui subsidium oratori ex illis disputationibus, quibus philosophi utuntur, ad dicendi copiam petendum esse paulo ante dicebas, et si tibi pro P. Rutilio non philosophorum more, sed tuo licuisset dicere, quamvis scelerati illi fuissent, sicuti fuerunt, pestiferi cives supplicioque digni, tamen omnem eorum importunitatem ex intimis mentibus evellisset vis orationis tuae. Nunc talis vir amissus est, dum causa ita dicitur, ut si in ilia commenticia Platonis civitate res ageretur: nemo ingemuit, nemo inclamavit patronorum, nihil cuiquam doluit, nemo est questus, nemo rem publicam imploravit, nemo supplicavit. Q u i d multa? Pedem nemo in illo iudicio supplosit, credo, ne Stoicis renuntiaretur. Imitatus est homo Romanus et consularis veterem ilium Socraten, qui, cum omnium sapientissimus esset sanctissimeque vixisset, ita in iudicio capitis pro se ipse dixit, ut non supplex aut reus, sed magister aut dominus videretur esse iudicum. Q u i n etiam, cum ei scriptam orationem disertissimus orator Lysias attulisset, quam, si ei videretur, edisceret, ut ea pro se in iudicio uteretur, non invitus legit et commode scriptam esse dixit; "sed" inquit "ut, si mihi calceos Sicyonios attulisses, non uterer, quamvis essent habiles atque apti ad pedem, quia non essent viriles", sic illam orationem disertam sibi et oratoriam videri, for-

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tete er, sei Galba aufgrund dieser bühnenreifen Vorstellung freigesprochen worden, obwohl er damals von der Missgunst und dem Hass des Volkes verfolgt wurde. Bei Cato steht es, wie ich sehe, ebenso geschrieben: >Hätte er nicht die Knaben und Tränen eingesetzt, wäre er bestraft worden.< Dies tadelte Rutilius sehr und sagte, diesem unterwürfigen Verhalten hätte man Verbannung oder Tod vorziehen müssen. (229) Aber das sagte er nicht nur, sondern er dachte und handelte auch selbst so. Denn dieser Mann, der doch, wie ihr wisst, ein Beispiel von Redlichkeit war und den niemand im Staat an Lauterkeit und Tugendhaftigkeit übertraf, wollte die Richter nicht demütig anflehen und ließ es nicht einmal zu, dass seine Sache mit reicherem Redeschmuck und freimütiger vertreten wurde, als es das einfache Prinzip der Wahrhaftigkeit gestattete. Nur einen geringen Teil der Verteidigung überließ er unserem Cotta hier, einem sehr redegewandten jungen Mann, dem Sohn seiner Schwester; desgleichen sprach als Verteidiger zu einem bestimmten Teil Quintus Mucius nach seiner Art, ohne Prunk, schlicht und deudich. (230) Wenn nun du, mein Crassus, damals gesprochen hättest, der du kurz zuvor sagtest, der Redner müsse sich Rückhalt für die Redefertigkrit aus jenen Erörterungen holen, welche die Philosophen führen, und wenn du für Publius Rutilius nicht nach der Art der Philosophen, sondern nach deiner A n hättest sprechen dürfen, so hätte die Kraft deiner Rede den Richtern mögen sie noch so große Verbrecher gewesen sein, wie sie es wirklich waren, und noch so Verderben bringende Bürger, die verdienten hingerichtet zu werden - die ganze Scheußlichkeit aus dem Innersten ihrer Herzen herausgerissen. Nun aber ging ein solcher Mann verloren, da die Verteidigungsrede so gehalten wurde, wie wenn die Sache in jenem erdichteten Staat Piatons geführt würde: Niemand hat aufgeseufzt, niemand von den Anwälten hat um Hilfe gerufen, nichts hat jemandem Schmerz bereitet, niemand hat geklagt, niemand den Staat angefleht, niemand hat kniefällig gebeten. (231) Wozu viele Worte? Niemand stampfte in diesem Gerichtsverfahren mit dem Fuß auf, vermutlich, damit es nicht den Stoikern hinterbracht würde. Ein Römer und gewesener Konsul tat es jenem alten Sokrates gleich, der, obwohl er der weiseste von allen war und sehr tugendhaft gelebt hatte, in dem Gerichtsverfahren auf Leben und Tod für sich selbst so sprach, dass er nicht ein Flehender und Angeklagter, sondern der Lehrmeister und Herr der Richter zu sein schien. Ja, als ihm der überaus wortgewandte Redner Lysias eine schriftlich formulierte Rede brachte, die er, wenn es ihm richtig erscheine, auswendig lernen solle, um sie vor Gericht für sich zu verwenden, las er sie nicht ungern und sagte, sie sei recht schön verfasst; >aberwie ich, wenn du mir Schuhe aus Sikyon gebracht hättest, diese nicht tragen würde, möchten sie auch noch so bequem sein und an den Fuß passen, weil sie nicht männlich wärenWie ich sehe, hat dir Crassus geantwortet, während er erregt und mit etwas anderem beschäftigt war.< (240) Dann fasste er Crassus selbst bei der Hand und sagte: >He du, wie kam es dir in den Sinn, so zu antworten?< Darauf versicherte jener im Vertrauen auf seine äußerst fundierten fachlichen Kenntnisse, die Sache verhalte sich so, wie er geantwortet habe; daran könne es keinen Zweifel geben. Galba aber führte unter verschiedenen und reichlichen Anspielungen viele ähnliche Fälle an und sagte vieles für die Billigkeit gegen die Rechtsverbindlichkeit. Und nun habe Crassus, da er ihm in der Auseinandersetzung mit Worten nicht gewachsen war - obwohl er zu den redegewandten Männern gehörte, war er dem Galba in keiner Weise gewachsen - , seine Zuflucht zu Gewährsmännern genommen und vorgebracht, dass das, was er sage, in den Büchern seines Bruders Publius Mucius und den Veröffentlichungen des Sextus Aelius geschrieben stehe; trotzdem habe er zugegeben, dass Galbas Erörterung ihm anerkennenswert und beinahe wahr erscheine. (241) Andererseits werden Rechtsfälle, die von der Art sind, dass über die Rechtslage kein Zweifel bestehen kann, gewöhnlich überhaupt nicht vor Gericht gebracht. Erhebt etwa jemand aufgrund eines Testaments, das ein Familienvater verfasst hat, bevor ihm ein Sohn geboren wurde, Ansprüche auf die Erbschaft? - Niemand; denn bekanntlich wird ein Testament durch eine spätere Geburt ungültig. Also gibt es keine Gerichtsverfahren bei dieser Art von Rechtsfragen. Folglich braucht der Redner diesen ganzen Teil des Rechts bei Rechtsstreitigkeiten nicht zu kennen, ohne dass ihm ein Nachteil erwächst; und dieser Teil ist zweifellos weitaus der größte. (242) Bei einer Rechtslage aber, die unter den größten Fachleuten strittig ist, bereitet es dem Redner keine Schwierigkeit, für seine Partei, welche auch immer er verteidigt, irgendeinen Gewährsmann zu finden; wenn er von diesem wurfbereite Lanzen erhalten hat, wird er diese selbst mit den Armen und Kräften des Redners schleudern, es sei denn, du hättest mit den Schriften oder Vorschriften deines Schwiegervaters Scaevola - der beste Mann wird mir wohl meine Worte verzeihen - den Manius Curius vor Gericht verteidigt und dir nicht den Schutz der Billigkeit und die Verteidigung der Testamente, und zwar des Willens der Verstorbenen spontan zur Aufgabe gemacht. (243) Und nach meiner Ansicht wenigstens - häufig nämlich habe ich dich gehört und bin dabei gewesen - hast du den weitaus größeren Teil der Richterstimmen durch

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facetiis pellexisti, cum et illud nimium acumen inluderes et admirarere ingenium Scaevolae, qui excogitasset nasci prius oportere quam emori; cumque multa conligeres et ex legibus et ex senatus consultis et ex vita ac sermone communi non modo acute, sed etiam ridicule et facete, ubi si verba, non rem sequeremur, confici nihil posset. Itaque hilaritatis plenum iudicium ac laetitiae fuit; in quo quid tibi iuris civilis exercitatio profuerit, non intellego; dicendi vis egregia summa festivitate et venustate coniuncta profuit. Ipse ille Mucius paterni iuris defensor et quasi patrimonii propugnator sui, quid in ilia causa, cum contra te diceret, attulit, quod de iure civili depromptum videretur? Q u a m legem recitavit? Q u i d patefecit dicendo, quod fuisset imperitis occultius? Nempe eius omnis oratio versata est in eo, ut scriptum plurimum valere oportere defenderet. At in hoc genere pueri apud magistros exercentur omnes, cum in eius modi causis alias scriptum, alias aequitatem defendere docentur. Et credo in ilia militis causa, si tu aut heredem aut militem defendisses, ad Hostilianas te actiones, non ad tuam vim et ad oratoriam facultatem contulisses? Tu vero, vel si testamentum defenderes, sic ageres, ut omne omnium testamentorum ius in eo iudicio positum videretur, vel si causam ageres militis, patrem eius, ut soles, dicendo a mortuis excitasses; statuisses ante oculos; complexus esset filium flensque eum centumviris commendasset; lapides mehercule omnes flere ac lamentari coegisses, ut totum illud

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UTI LINGUA NUNCUPASSIT n o n in d u o d e c i m t a b u l i s , q u a s t u

omnibus bibliothecis anteponis, sed in magistri carmine scriptum videretur.

N a m quod inertiam accusas adulescentium, qui istam artem primum facillimam non ediscant: quae quam sit facilis, illi viderint, qui eius artis adrogantia, quasi difficillima sit, ita subnixi ambulant, deinde etiam tu ipse videris, qui earn artem facilem esse dicis, quam concedis adhuc artem omnino non esse, sed aliquando, si quis aliam artem didicerit, ut hanc artem efficere pos-

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deinen liebenswürdigen und scharfen Witz und deine feinen Scherze für dich gewonnen, indem du den übertriebenen Scharfsinn des Scaevola, der ergründet habe, man müsse geboren werden, b e v o r m a n sterbe, verspottet und dann wieder Bewunderung für seine Geisteskraft geäußert hast; und du hast viele Belege aus G e s e t z e n , Senatsbeschlüssen, aus dem gewöhnlichen L e b e n und der Umgangssprache nicht nur scharfsinnig, sondern auch spaßhaft und witzig zusammengestellt, wodurch du deutlich gemacht hast, dass man vieles nicht erreichen k ö n n e , wenn m a n sich an Worte und nicht an den Sachverhalt halte. U n d so w a r das Gerichtsverfahren von Heiterkeit und F r ö h lichkeit erfüllt. Was dir dabei die Ü b u n g im bürgerlichen Recht genützt hat, erkenne ich nicht.; genützt hat dir deine herausragende Kraft der R e d e , verbunden mit einem H ö c h s t m a ß an H u m o r und feinem Witz. (244) U n d jener Mucius selbst, der Verteidiger des väterlichen Rechts und gleichsam der Verfechter seines väterlichen E r b e s , was hat er in dem Prozess, als er gegen dich redete, angeführt, was dem bürgerlichen Recht e n t n o m m e n zu sein schien? Welches G e s e t z hat er zitiert? Was hat er durch seine Rede offen gelegt, das Laien verborgener gewesen wäre? Seine ganze R e d e drehte sich doch gewiss nur darum, dass er zur Verteidigung vorbrachte, der Wortlaut müsse am meisten gelten. A b e r hierin werden die K n a b e n alle bei ihren Lehrern geübt, wenn sie gelehrt werden, in Prozessen dieser A r t bald den Wortlaut, bald die Billigkeit zu verteidigen. ( 2 4 5 ) U n d in jenem Prozess des Soldaten, glaube ich, hättest du, wenn du den E r b e n oder wenn du den Soldat verteidigt hättest, bei den Verfahrensregeln des Hostilius, nicht bei deiner Kraft und Fähigkeit als Redner Zuflucht g e n o m m e n ? N e i n , vielmehr würdest du entweder, wenn du das Testament verteidigen würdest, die Sache so vortragen, dass der Anschein entstünde, das gesamte R e c h t aller Testamente beruhe auf diesem Prozess, oder wenn du die Sache des Soldaten vertreten würdest, hättest du seinen Vater, wie du gewohnt bist, durch deine Rede von den Toten auferweckt; du hättest ihn uns vor Augen gestellt; er hätte seinen Sohn u m a r m t und ihn weinend den Centumvirn anempfohlen; du hättest, b e i m Herkules, alle Steine dazu gebracht, hemmungslos zu weinen, so dass der Eindruck entstünde, jene F o r m e l WIE DIE ZUNGE ES GESPROCHEN HAT stehe nicht in den zwölf Tafeln, die du allen Bibliotheken vorziehst, sondern im Regelwerk eines Lehrers. (246) Ferner klagst du über die Trägheit der jungen Leute, die erstens diese sehr leichte Wissenschaft nicht erlernen: Wie leicht sie ist, werden schon jene M ä n n e r m e r k e n , die, erfüllt von dünkelhaftem Stolz auf diese Wissenschaft, so einherstolzieren, als o b sie die schwierigste wäre; weiterhin wirst auch du selbst es schon m e r k e n , der du sagst, diese Wissenschaft sei leicht, die nach deinem Eingeständnis überhaupt noch keine Wissenschaft ist, sondern erst dann einmal eine Wissenschaft wird, wenn jemand eine an-

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set, tum esse illam artem futuram; deinde, quod sit plena delectationis: in quo tibi remittunt omnes istam voluptatem et ea se carere patiuntur; nec quisquam est eorum, qui, si iam sit ediscendum sibi aliquid, non Teucrum Pacuvii malit quam Manilianas venalium vendendorum leges ediscere. Turn autem quod amore patriae censes nos nostrum maiorum inventa nosse debere: non vides veteres leges aut ipsa sua vetustate consenuisse aut novis legibus esse sublatas ? Quod vero viros bonos iure civili fieri putas, quia legibus et praemia proposita sint virtutibus et supplicia vitiis, equidem putabam virtutem hominibus, si modo tradi ratione possit, instituendo et persuadendo, non minis et vi ac metu tradi. Nam ipsum quidem illud etiam sine cognitione iuris, quam sit bellum cavere malum, scire possumus. De me autem ipso, cui uni tu concedis, ut sine ulla iuris scientia tamen causis satis facere possim, tibi hoc, Crasse, respondeo neque me umquam ius civile didicisse neque tamen in iis causis, quas in iure possem defendere, umquam istam scientiam desiderasse. Aliud est enim esse artificem cuiusdam generis atque artis, aliud in communi vita et vulgari hominum consuetudine non hebetem nec rudem. Cui nostrum nunc licet fundos nostras obire aut res rusticas vel fructus causa vel delectationis invisere? Tamen nemo tam sine oculis, tam sine mente vivit, ut quid sit sementis ac messis, quid arborum putatio ac vitium, quo tempore anni aut quo modo ea fiant, omnino nesciat. Num igitur, si cui fundus inspiciendus aut si mandandum aliquid procuratori de agri cultura aut imperandum vilico sit, Magonis Carthaginiensis sunt libri perdiscendi, an hac communi intellegentia contend esse possumus? Cur ergo non idem in iure civili, praesertim cum in causis et in negotiis et in foro conteramur, satis instruct! esse possumus ad hoc dumtaxat, ne in nostra patria peregrini atque advenae esse videamur? Ac si iam sit causa aliqua ad nos delata obscurior, difficile, credo, sit cum hoc Scaevola communicare; quamquam ipsi omnia, quorum negotium est,

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dere Wissenschaft gelernt hat, u m diese zur Wissenschaft machen zu können. Zweitens sagst du, sie sei erfüllt von Freude: Was das betrifft, überlassen dir alle dieses Vergnügen und verzichten gerne darauf; es gibt auch keinen unter ihnen, der, wenn er schon etwas auswendig lernen müsste, nicht lieber den

Teucer des

Pacuvius auswendig lernen wollte als die gesetzlichen Bestim-

mungen des Manilius über Kauf und Verkauf. (247) Sodann aber, wenn du meinst, aus Liebe zum Vaterland müssten wir die Erfindungen unserer Vorfahren kennen: Siehst du nicht, dass die alten Gesetze entweder durch ihr Alter selbst ungültig oder durch neue Gesetze aufgehoben wurden? Was aber deine Meinung angeht, Männer würden durch das bürgerliche Recht gut, weil durch die Gesetze Belohnungen für Wohlverhalten in Aussicht gestellt würden und für Verfehlungen Strafen, so war ich meinerseits der Meinung, Tugend werde den Menschen, wenn sie überhaupt auf den Wegen der Vernunft übermittelt werden könne, durch Belehrung und Uberzeugung, nicht durch Drohungen, Gewalt und Furcht vermittelt. Denn gerade das können wir wenigstens auch ohne die Kenntnis des Rechts wissen, wie schön es sei, sich vor dem Schlechten in Acht zu nehmen. (248) Was aber mich selbst betriffst, dem du als Einzigem zugestehst, dass ich ohne eine Kenntnis des Rechts trotzdem für Rechtsfälle genügend gerüstet bin, antworte ich dir das Folgende, mein C r a s s u s : Ich habe niemals das bürgerliche Recht erlernt und trotzdem in den Prozessen, in denen ich vor Gericht als Verteidiger auftreten konnte, niemals diese Kenntnis vermisst. D a s eine ist es nämlich, ein Fachmann zu sein in einem bestimmten Gebiet und in einer bestimmten Wissenschaft, etwas anderes, im gewöhnlichen Leben und im alltäglichen U m g a n g mit Menschen nicht stumpf und ungebildet zu sein. (249) Wem von uns ist es jetzt vergönnt, unsere Landgüter aufzusuchen oder sich in der Landwirtschaft entweder des Ertrages wegen oder z u m Vergnügen umzusehen? Dennoch lebt niemand so ohne Augen, so ohne Verstand, dass er überhaupt nicht wüsste, was Aussaat und Ernte ist, was der Schnitt der Bäume und Weinstöcke und zu welcher Jahreszeit und auf welche Weise diese Arbeiten durchgeführt werden. Wenn also jemand sein Landgut besichtigen oder dem Prokurator einen Auftrag betreffs des Ackerbaus oder dem Verwalter einen Befehl erteilen m u s s , hat er dann etwa die Bücher des Karthagers M a g o gründlich zu studieren oder können wir uns mit unserem gewöhnlichen Verstand begnügen? Warum können wir nicht ebenso im bürgerlichen Recht, zumal da wir uns in Prozessen, in Geschäften und auf dem Forum abmühen, genügend gerüstet sein wenigstens dazu, dass wir nicht den Eindruck erwecken, wir seien in unserem Vaterland Fremdlinge und Zugewanderte? (250) U n d sollte uns ein ziemlich unklarer Rechtsfall übertragen werden, dürfte es, glaube ich, schwierig sein, sich mit unserem Scaevola zu besprechen; indessen übergeben uns die Prozessparteien selbst alle Rechtsaus-

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consulta ad nos et exquisita deferunt. An vero, si de re ipsa, si de finibus tum, cum in rem praesentem non venimus, si de tabulis et perscriptionibus controversia est, contortas res et saepe difficiles necessario perdiscimus, si leges nobis aut si hominum peritorum responsa cognoscenda sunt, veremur, ne ea, si ab adulescentia iure civili minus studuerimus, non queamus cognoscere?

Nihilne igitur prodest oratori iuris civilis scientia? Non pos- 59 sum negare prodesse ullam scientiam, ei praesertim, cuius eloquentia copia rerum debeat esse ornata; sed multa et magna et difficilia sunt ea, quae sunt oratori necessaria, ut eius industriam in plura studia distrahere nolim. Quis neget opus esse oratori in 251 hoc oratorio motu statuque Roscii gestum et venustatem? Tarnen nemo suaserit studiosis dicendi adulescentibus in gestu discendo histrionum more elaborare. Quid est oratori tam necessarium quam vox? Tamen me auctore nemo dicendi studiosus Graecorum more tragoedorum voci serviet, qui et annos compluris sedentes declamitant et cotidie, ante quam pronuntient, vocem cubantes sensim excitant eandemque, cum egerunt, sedentes ab acutissimo sono usque ad gravissimum sonum recipiunt et quasi quodam modo colligunt. Hoc nos si facere velimus, ante condemnentur ii, quorum causas receperimus, quam totiens, quotiens praescribitur, Paeanem aut Nomionem citarimus. Quod si in gestu, qui multum oratorem adiuvat, et in voce, 252 quae una maxime eloquentiam vel commendat vel sustinet, elaborare nobis non licet ac tantum in utroque adsequi possumus, quantum in hac acie cotidiani muneris spatii nobis datur, quanto minus est ad iuris civilis perdiscendi occupationem descendendum? Quod et summatim percipi sine doctrina potest et hanc habet ab illis rebus dissimilitudinem, quod vox et gestus subito sumi et alicunde arripi non potest, iuris utilitas ad quamque causam quamvis repente vel a peritis vel de libris depromi potest. Itaque illi disertissimi homines ministros habent in causis iuris 253

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künfte, die sich auf ihre Angelegenheit beziehen, und alle ihre Erkundigungen. Wenn es u m den Sachverhalt selbst, wenn es u m Grenzstreitigkeiten geht, dann, wenn wir eine Besichtigung an O r t und Stelle nicht vornehmen k ö n n e n , wenn es eine Auseinandersetzung u m Rechnungsbücher und Z a h lungsanweisungen ist, arbeiten wir uns notgedrungen gründlich in verwickelte und oft schwierige Sachverhalte ein; wenn wir aber in G e s e t z e oder die Rechtsgutachten von Fachleuten Einblick gewinnen müssen, furchten wir dann wirklich, wir k ö n n t e n keine Einsicht gewinnen, wenn wir das bürgerliche Recht von Jugend an zu wenig studiert h a b e n ? Ist also dem Redner die Kenntnis des bürgerlichen Rechts gar nicht von N u t z e n ? Ich kann nicht leugnen, dass es von N u t z e n ist, irgendeine Kenntnis zu besitzen, vor allem für den, dessen Beredsamkeit auf reiche Sachkenntnis gestützt sein m u s s ; aber zahlreich, bedeutend und schwierig sind die G e g e n stände, die für den Redner notwendig sind, so dass ich seine Energie nicht in noch m e h r Studien verzetteln will. (251) Wer k ö n n t e leugnen, dass der R e d ner bei dieser seiner rednerischen Bewegung und Stellung das Gebärdenspiel und die A n m u t eines R o s c i u s nötig hat? D e n n o c h dürfte niemand jungen Männern, die sich u m die Redekunst b e m ü h e n , raten, ihre Anstrengung darauf zu richten, die Gestik von Schauspielern zu lernen. Was ist für den R e d ner so notwendig wie seine S t i m m e ? D e n n o c h wird, wenn ich ihm raten soll, niemand, der die Redekunst studiert, seiner S t i m m e nach A r t der griechischen tragischen Schauspieler sklavisch ergeben sein; diese Leute deklamieren zur Ü b u n g mehrere Jahre im Sitzen und lassen täglich, bevor sie ihren Text auf der B ü h n e vortragen, im Liegen ihre Stimme allmählich anschwellen; nachdem sie aufgetreten sind, nehmen sie diese im Sitzen v o m höchsten bis z u m tiefsten Ton zurück und sammeln sie gewissermaßen ein. Wollten wir Redner das tun, dann dürften diejenigen, deren Verteidigung wir übern o m m e n haben, wohl verurteilt werden, bevor wir den Paean oder den H y m n u s auf Apollo N o m i o s so oft, wie vorgeschrieben, angestimmt hätten. (252) Wenn es aber nicht erlaubt ist, unsere Anstrengung auf das Gebärdenspiel, das dem Redner viel hilft, und auf die S t i m m e , die allein die Beredsamkeit am meisten empfiehlt oder stützt, zu richten und wenn wir in beiden nur soviel erreichen k ö n n e n , wieviel uns an Zeit auf diesem unserem Schlachtfeld der täglichen Verpflichtungen gegeben ist, u m wieviel weniger darf m a n sich dann darauf einlassen, v o m gründlichen Erlernen des bürgerlichen Rechts in Beschlag g e n o m m e n zu werden? Dieses kann m a n auch o h n e theoretische Bildung summarisch erfassen und es unterscheidet sich von jenen Dingen dadurch, dass man Stimme und Gebärdenspiel nicht mit einem Mal annehmen und irgendwoher an sich reißen k a n n ; was juristisch nützlich ist für jeden einzelnen Fall, und sei er auch noch so unerwartet, kann m a n aber entweder von Fachleuten oder aus Büchern entnehmen. (253) D a h e r haben bei den

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LIBER P R I M U S

peritos, cum ipsi sint imperitissimi, ei qui, ut abs te paulo ante dictum est, pragmatici vocantur. In quo nostri omnino melius multo, quod clarissimorum hominum auctoritate, leges et iura tecta esse voluerunt. Sed tamen non fugisset hoc Graecos homines, si ita necesse esse arbitrati essent oratorem ipsum erudire iure civili, non ei pragmaticum adiutorem dare. Nam quod dicis 60 senectutem a solitudine vindicari iuris civilis scientia, fortasse 254 etiam pecuniae magnitudine. Sed nos non, quid nobis utile, verum quid oratori necessarium sit, quaerimus. Quamquam, quoniam multa ad oratoris similitudinem ab uno artifice sumimus, solet idem Roscius dicere se, quo plus sibi aetatis accederet, eo tardiores tibicinis modos et cantus remissiores esse facturum. Quod si ille, adstrictus certa quadam numerorum moderatione et pedum, tamen aliquid ad requiem senectutis excogitat, quanto facilius nos non laxare modos, sed totos mutare possumus? Neque enim hoc te, Crasse, fallit, quam multa sint 255 et quam varia genera dicendi, id quod haud sciam an tu primus ostenderis, qui iam diu multo dicis remissius et lenius quam solebas; neque minus haec tamen tua gravissimi sermonis lenitas quam ilia summa vis et contentio probabatur; multique oratores fuerunt, ut ilium Scipionem audimus et Laelium, qui omnia sermone conficerent paulo intentiore, numquam, ut Ser. Galba, lateribus aut clamore contenderent. Quod si iam hoc facere non poteris aut noles, vereris, ne tua domus talis et viri et civis, si a litigiosis hominibus non colatur, a ceteris deseratur? Equidem tantum absum ab ista sententia, ut non modo non arbitrer subsidium senectutis in eorum, qui consultum veniant, multitudine esse ponendum, sed tamquam portum aliquem expectem istam, quam tu times, solitudinem. Subsidium enim bellissimum existimo esse senectuti otium.

Reliqua vero etiam si adiuvant, historiam dico et prudentiam 256 iuris publici et antiquitatis memoriam et exemplorum copiam, si quando opus erit, a viro optimo et istis rebus instructissimo, familiari meo Congo, mutuabor. Neque repugnabo, quo minus

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Griechen die redegewandtesten Männer in Prozessen rechtskundige Männer als Gehilfen, da sie selbst blutige Laien sind; und zwar sind es diejenigen, die, wie du kurz zuvor sagtest, Sachverständige heißen. In diesem Punkt handelten unsere Landsleute durchaus viel besser, indem sie Gesetze und Rechte durch das Ansehen der berühmtesten Männer geschützt wissen wollten. Aber dennoch wäre dies den Griechen nicht entgangen, wenn sie es für so notwendig erachtet hätten, den Redner selbst im bürgerlichen Recht zu unterrichten und ihm nicht einen Sachverständigen als Helfer zu geben. (254) Wenn du ferner behauptest, das Alter werde durch die Kenntnis des bürgerlichen Rechts vor Einsamkeit geschützt, so ließe sich vielleicht entgegnen, das könne man auch mit viel Geld erreichen. Aber wir fragen nicht, was für uns nützlich, sondern was für den Redner notwendig ist. Indessen pflegt gerade dieser unser Roscius zu sagen - denn vieles, was zum Vergleich mit dem Redner dient, nehmen wir von dem einen Künstler - , je älter er werde, desto langsamer wolle er die Weisen des Flötenspielers und desto verhaltener die gesungenen Verse gestalten. Wenn nun dieser, der doch an einen ganz bestimmten Takt von Rhythmen und Versfüßen gebunden ist, sich trotzdem etwas für die Ruhe des Alters ausdenkt, um wieviel leichter können dann wir unsere Redeweisen nicht nur lockern, sondern gänzlich ändern? (255) Es entgeht dir nämlich auch nicht, mein Crassus, wie viele und wie verschiedene Arten zu reden es gibt, worauf, soweit ich weiß, wohl du als erster hingewiesen hast; du sprichst ja schon lange viel verhaltener und sanfter, als du es gewohnt warst; und nicht weniger Beifall findet deine jetzige sanft dahinfließende äußerst würdige Sprechweise, als deine frühere äußerst kraftvolle und leidenschaftliche Rede fand. Es hat auch viele Redner gegeben - ζ. B. hören wir vom berühmten Scipio und Laelius - , die alle Wirkungen erzielten, indem sie ihre Redeweise nur ein wenig steigerten, und die niemals, wie Servius Galba, ihre Lunge oder Stimme durch Schreien anstrengten. Wenn du aber das nicht mehr tun kannst oder es nicht willst, fürchtest du dann, dass dein Haus, das Haus eines solchen Mannes und Mitbürgers, wenn es von streitsüchtigen Menschen nicht aufgesucht werden sollte, auch von allen übrigen Leuten verlassen wird? Ich jedenfalls bin von dieser Meinung so weit entfernt, dass ich nicht nur nicht glaube, man müsse seine Stütze für das Alter auf die Menge derer gründen, die kommen, um Rat zu suchen, sondern die Einsamkeit, die du fürchtest, wie einen schützenden Hafen erwarten. Die schönste Erleichterung im Alter ist nämlich, glaube ich, die Muße. (256) Die übrigen Kenntnisse aber - ich spreche von der Geschichte, der Wissenschaft vom öffentlichen Recht, der Kunde vom Altertum und einem Vorrat an Beispielen - sind zwar hilfreich, aber ich werde sie mir, wenn ich sie einmal brauche, von meinem Freund Congus, einem sehr tüchtigen und in diesen Dingen bestens unterrichteten Mann, entlehnen. Ich werde mich

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LIBER PRIMUS

id, quod m o d o hortatus es, omnia legant, omnia audiant, in o m n i recto studio atque humanitate versentur; sed mehercule n o n ita multum spatii mihi videtur, si m o d o ea facere et persequi volent, quae a te, Crasse, praecepta sunt, qui mihi prope iam nimis duras leges imponere visus es huic aetati, sed tamen ad id, quod cupiunt, adipiscendum prope necessarias. N a m et subitae

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ad propositas causas exercitationes et accuratae ac meditatae commentationes ac stilus ille tuus, quem tu vere dixisti perfectorem dicendi esse ac magistrum, multi sudoris est; et ilia orationis suae cum scriptis alienis comparatio et de alieno scripto subita vel laudandi vel vituperandi vel comprobandi vel refellendi causa disputatio n o n mediocris contentionis est vel ad m e m o n a m vel ad imitandum. Illud vero fuit horribile, quod mehercule

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vereor, ne maiorem vim ad deterrendum habuerit quam ad c o -

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h o r t a n d u m : voluisti enim in suo genere u n u m quemque nostrum quasi quendam esse R o s c i u m dixistique n o n tamen ea, quae recta essent, (probari quam ea, quae praa e s s e n t , ) fastidiis adhaerescere; quod ego non tam fastidiose in nobis quam in histrionibus spectari puto. Itaque nos raucos saepe attentissime au-

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diri video; tenet enim res ipsa atque causa; at A e s o p u m , si paulum inrauserit, explodi. A quibus enim nihil praeter voluptatem aurium quaeritur, in iis offenditur, simul atque imminuitur aliquid de voluptate; in eloquentia autem multa sunt, quae teneant; quae si omnia s u m m a n o n sunt et pleraque tamen magna sunt, necesse est ea ipsa, quae sunt, mirabilia videri.

E r g o , ut ad primum illud revertar, sit orator nobis is, qui, ut

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Crassus descripsit, a c c o m m o d a t e ad persuadendum possit dicere. Is autem concludatur in ea, quae sunt in usu civitatum vulgari ac forensi, remotisque ceteris studiis, quam vis ea sint ampla atque praeclara, in h o c u n o opere, ut ita dicam, noctes et dies urgueatur; imiteturque ilium, cui sine dubio summa vis dicendi conceditur, Atheniensem D e m o s t h e n e m , in quo tantum Studium fuisse tantusque labor dicitur, ut primum impedimenta naturae diligentia industriaque superaret; cumque ita balbus esset, ut ejus ipsius artis, cui studeret, primam litteram n o n posset dicere, perfecit meditando, ut n e m o planius esse locutus putaretur; deinde, cum spiritus eius esset angustior, tantum conti-

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auch nicht dem widersetzen, wozu du eben aufgefordert hast, nämlich alles zu lesen, alles zu hören und sich mit der richtigen höheren Menschenbildung zu befassen. Aber, beim Herkules, mir scheint, es gibt nicht so viel Zeit, wenn man nur das tun und ausführen will, was von dir, mein Crassus, empfohlen wurde; denn du hast, scheint mir, diesen jungen Leuten fast schon zu harte Gesetze auferlegt, die aber fast unentbehrlich sind, um das, was sie begehren, zu erreichen. (257) Denn die Stegreifübungen zu vorgegebenen Rechtsfällen, die sorgfältig und gut überlegten Vorstudien und der von dir gerühmte Griffel, den du zutreffend den Vervollkommner und Lehrmeister des rednerischen Ausdrucks genannt hast, kosten viel Schweiß; und der Vergleich der eigenen Rede mit fremden Schriftstücken und die Stegreiferörterung über ein fremdes Schriftstück, um es zu loben oder zu tadeln, zu billigen oder zurückzuweisen, erfordert nicht unerhebliche Anstrengung, was das Gedächtnis oder die Nachahmung angeht. (258) Die folgende Forderung aber war schrecklich und ich fürchte, beim Herkules, dass sie größeres Gewicht hatte, um abzuschrecken, als um zu ermuntern. Du wolltest nämlich, dass jeder von uns auf seinem Gebiet gewissermaßen ein Roscius sei, und sagtest, dass das Richtige nicht ebenso viel Anerkennung finde wie das Falsche Abscheu hervorrufe. Dies prüft man aber, glaube ich, bei uns nicht mit solcher Mäkelsucht wie bei den Schauspielern. (259) Deshalb hört man uns, wie ich sehe, auch wenn wir heiser sind, mit größter Aufmerksamkeit zu; die Sache selbst und der Fall fesseln nämlich. Aber Aesop wird, wenn er nur ein wenig heiser ist, ausgepfiffen. An den Leuten nämlich, bei denen man nichts anderes als einen Genuss für die Ohren sucht, nimmt man Anstoß, sobald der Genuss nur ein wenig geschmälert wird. Bei der Beredsamkeit aber gibt es vieles, was fesselt; wenn dann auch nicht alles vollendet ist, ist doch das meiste bedeutend; und so muss schon das Vorhandene bewundernswert erscheinen. (260) Also soll, um zum ersten Punkt zurückzukehren, für uns derjenige ein Redner sein, der, wie Crassus beschrieben hat, überzeugend reden kann. Er soll sich aber auf das beschränken, was in der alltäglichen politischen Praxis und Gerichtspraxis vorkommt, und er soll die übrigen Studien, mögen sie auch noch so großartig und herrlich sein, unberücksichtigt lassen und sich allein mit dieser Arbeit sozusagen Tag und Nacht abmühen. Auch soll er jenen Mann nachahmen, dem ohne Zweifel die höchste Kraft der Rede zugebilligt wird, den Athener Demosthenes; dessen Eifer und Anstrengung soll so groß gewesen sein, dass er zuerst Hindernisse der Natur durch Gewissenhaftigkeit und Fleiß überwand. Obwohl er nämlich so stotterte, dass er sogar den ersten Buchstaben der Kunst, um die er sich bemühte, nicht aussprechen konnte, brachte er es durch Übungen zustande, dass man glaubte, niemand habe klarer gesprochen. (261) Ferner erreichte er, obwohl er ziemlich kurz-

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LIBER PRIMUS

nenda anima in dicendo est adsecutus, ut una continuatione verb o r u m , id quod eius scripta declarant, binae ei contentiones vocis et remissiones continerentur; qui etiam, ut memoriae proditum est, coniectis in os calculis summa voce versus multos uno spiritu pronuntiare consuescebat, neque is consistens in loco, sed inambulans atque ascensu ingrediens arduo. Hisce ego cohortationibus, Crasse, ad Studium et ad laborem incitandos iuvenes vehementer adsentior; cetera, quae collegisti ex variis et diversis studiis et artibus, tametsi ipse es omnia consecutus, tarnen ab oratoris proprio officio atque munere seiuncta esse arbitror.'

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H a e c cum Antonius dixisset, sane dubitare visus est Sulpicius et Cotta, utrius oratio propius ad veritatem videretur accedere. T u m C r a s s u s : 'Operarium nobis quendam, Antoni, oratorem facis, atque haud scio an aliter sentias et utare tua ilia mirifica ad refellendum consuetudine, qua tibi nemo u m q u a m praestitit; cuius quidem ipsius facultatis exercitatio oratorum propria est, sed iam in philosophorum consuetudine versatur maximeque eorum, qui de omni re proposita in utramque partem solent copiosissime dicere. Verum ego non solum arbitrabar, his praesertim audientibus, a me informari oportere, qualis posset is, qui habitaret in subselliis neque quicquam amplius adferret, quam quod causarum necessitas postularet, sed maius quiddam videb a m , cum censebam oratorem, praesertim in nostra re publica, nullius ornamenti expertem esse oportere. T u autem, quoniam exiguis quibusdam finibus totum oratoris munus circumdedisti, hoc facilius nobis expones ea, quae abs te de officiis praeceptisque oratoris quaesita sunt.

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Sed opinor secundum hunc diem; satis enim multa a nobis hodie dicta sunt. N u n c et Scaevola, quoniam in Tusculanum ire constituit, paululum requiescet, d u m se calor frangat, et nos ipsi, quoniam id temporis est, valetudini demus operam.' Placuit sic omnibus. T u m Scaevola 'sane' inquit 'vellem non constituissem in Tusculanum me hodie venturum esse L. Aelio; libenter audirem Antonium'. Et cum exsurgeret simul, adridens 'neque enim' inquit 'tam mihi molestus fuit, quod ius nostrum civile pervellit, quam iucundus, quod se id nescire confessus est.'

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atmig war, dadurch, dass er den Atem beim Reden anhielt, so viel, dass bei ihm in einer fortlaufenden Periode, wie seine Schriften deutlich zeigen, zwei Hebungen und Senkungen der Stimme enthalten waren. Er gewöhnte sich auch an, wie überliefert ist, Kieselsteine in den Mund zu nehmen und mit ganz lauter Stimme in einem Atemzug viele Verse aufzusagen, wobei er nicht auf der Stelle stehen blieb, sondern hin und her ging und eine steile Anhöhe emporstieg. (262) Dass man durch solche Ermunterungen die jungen Männer zu Eifer und Anstrengung anfeuern müsse, darin, mein Crassus, stimme ich dir nachdrücklich zu; das übrige aber, das du aus verschiedenen und unterschiedlichen Studienfächern und Wissenschaften gesammelt hast, ist meiner Ansicht nach, auch wenn du selbst alles erreicht hast, dennoch von der speziellen Pflicht und Aufgabe des Redners getrennt.« Als Antonius dies gesagt hatte, schienen Sulpicius und Cotta sich freilich nicht sicher zu sein, wessen Rede wohl der Wahrheit näher komme. (263) Darauf sprach Crassus: »Gewissermaßen zu einem Handwerker machst du uns den Redner, mein Antonius, und ich weiß nicht, ob du nicht anders denkst und nur eine Probe deiner berühmten und bewundernswerten Übung im Widerlegen lieferst, in der dich noch nie jemand übertroffen hat. Die Anwendung gerade dieser Fähigkeit ist zwar kennzeichnend für den Redner, aber sie gehört gerade zur Übung der Philosophen und besonders derer, die zu jedem Thema, das man ihnen vorgibt, sehr ausführlich dafür und dagegen zu sprechen pflegen. (264) Aber ich glaubte, zumal bei diesen Zuhörern, nicht nur darüber ein Bild entwerfen zu müssen, wie der beschaffen sein kann, der auf den Gerichtsbänken zu Hause ist und nichts weiter vorzubringen hat als das, was die Prozesse dringend fordern; ich hatte vielmehr ein höheres Ideal vor Augen, als ich die Meinung äußerte, ein Redner müsse, zumal in unserem Staat, für alle Fälle gerüstet sein. Du aber wirst, da du ja den gesamten Aufgabenkomplex des Redners mit ganz engen Grenzen umschlossen hast, uns umso leichter darlegen, was du über die Pflichten des Redners und die Vorschriften dazu erforscht hast. Aber dies, meine ich, am zweiten Tag; denn heute haben wir genug geredet. (265) Jetzt wird sich Scaevola, da er ja beschlossen hat, in sein Tusculanum zu gehen, ein klein wenig ausruhen, bis sich die Hitze bricht; wir selbst wollen, da es Zeit ist dazu, für unsere Gesundheit sorgen.« Damit waren alle einverstanden. Darauf sagte Scaevola: »Ich wünschte, ich hätte nicht zugesagt, heute in mein Tusculanum zu kommen, um Lucius Aelius zu treffen; gerne würde ich den Antonius hören.« Und indem er sich erhob, fuhr er zugleich lachend fort:: »Er ging mir nämlich weniger auf die Nerven, weil er unser bürgerliches Recht völlig zerzaust hat, als er mich erheiterte, weil er zugegeben hat, es nicht zu kennen.«

LIBER

SECUNDUS

Magna nobis pueris, Quinte frater, si memoria tenes, opinio fuit L. Crassum non plus attigisse doctrinae quam quantum prima ilia puerili institutione potuisset, M. autem Antonium omnino omnis eruditionis expertem atque ignarum fuisse; erantque multi, qui, quamquam non ita se rem habere arbitrarentur, tarnen, quo facilius nos incensos studio discendi a doctrina deterrerent, libenter id, quod dixi, de illis oratoribus praedicarent, ut, si homines non eruditi summam essent prudentiam atque incredibilem eloquentiam consecuti, inanis omnis noster esse labor et stultum in nobis erudiendis patris nostri, optimi ac prudentissimi viri, Studium videretur. Quos tum, ut pueri, refutare domesticis testibus patre et C. Aculeone propinquo nostra et L. Cicerone patruo solebamus, quod de Crasso pater et Aculeo, quocum erat nostra matertera, quem Crassus dilexit ex omnibus plurimum, et patruus, qui cum Antonio in Ciliciam profectus una decesserat, multa nobis de eius studio doctrinae saepe narravit; cumque nos cum consobrinis nostris, Aculeonis filiis, et ea disceremus, quae Crasso placerent, et ab iis doctoribus, quibus ille uteretur, erudiremur, etiam illud saepe intelleximus, cum essemus eius domi, quod vel pueri sentire poteramus, ilium et Graece sic loqui, nullam ut nosse aliam linguam videretur, et doctoribus nostris ea ponere in percontando eaque ipsum omni in sermone tractare, ut nihil esse ei novum, nihil inauditum videretur. De Antonio vero, quamquam saepe ex humanissimo homine patruo nostra acceperamus, quem ad modum ille vel Athenis vel Rhodi se doctissimorum hominum sermonibus dedidisset, tamen ipse adulescentulus, quantum illius ineuntis aetatis meae patiebatur pudor, multa ex eo saepe quaesivi. Non erit profecto tibi, quod scribo, hoc novum; nam iam tum ex me audiebas mihi ilium ex multis variisque sermonibus nullius rei,

ZWEITES BUCH (1) Weit verbreitet war in unserer Kindheit, falls du dich noch daran erinnerst, mein lieber Bruder Quintus, die Meinung, Lucius Crassus hätte sich nicht mehr mit theoretischer Bildung befasst, als er in dem damaligen Anfangsunterricht konnte, Marcus Antonius aber habe überhaupt keine Ausbildung erhalten und gekannt; und obwohl viele Leute nicht der Meinung waren, dass es sich so verhielt, hoben sie dennoch, um uns, die wir von Lerneifer entflammt waren, desto leichter von der theoretischen Bildung abzuschrecken, gerne das, was ich gesagt habe, an jenen Rednern nachdrücklich hervor: Wenn theoretisch nicht ausgebildete Männer höchstes praktisches Wissen und unglaubliche Beredsamkeit erreicht hätten, scheine unsere gesamte Anstrengung vergeblich und der Eifer unseres Vaters, eines ausnehmend tüchtigen und klugen Mannes, für unsere Ausbildung töricht zu sein. (2) Diese Leute pflegten wir damals, so gut wir es als Knaben konnten, zu widerlegen, indem wir Mitglieder unserer Familie als Zeugen anführten, unseren Vater, unseren Verwandten Gaius Aculeo und unseren Onkel Lucius Cicero. Denn über Crassus erzählten uns der Vater und Aculeo, mit dem unsere Tante verheiratet war - ihn schätzte Crassus von allen am meisten - ; unser Onkel aber, der mit Antonius nach Kilikien gereist und mit ihm zusammen wieder von dort zurückgekehrt war, erzählte oft viel von dessen eifrigem Bemühen um theoretische Bildung; und als wir mit unseren Vettern, den Söhnen des Aculeo, auch das lernten, was bei Crassus Gefallen fand, und von den Lehrern unterrichtet wurden, mit denen jener Umgang pflegte, bemerkten wir oft auch Folgendes - da wir bei ihm zu Hause waren, konnten sogar wir Knaben es wahrnehmen - : Jener sprach so gut Griechisch, dass der Eindruck entstand, als kenne er keine andere Sprache, und unseren Lehrern legte er, wenn er nach einer Erklärung suchte, solche Fragen vor und behandelte sie auch selbst in jeder Art einer Disputation, dass der Eindruck entstand, nichts sei ihm neu, nichts unbekannt. (3) Was aber den Antonius betrifft, hatten wir zwar von unserem Onkel, einem hochgebildeten Mann, oft vernommen, mit welcher Beflissenheit er in Athen oder auf Rhodos an den Gesprächen hochgelehrter Männer teilgenommen hat, aber ich habe dennoch selbst als ganz junger Mann, soweit es die Scheu meines jugendlichen Alters zuließ, ihn oft nach vielem gefragt. In der Tat wird das, was ich schreibe, für dich nicht neu sein; denn schon damals hörtest du von mir, dass mir jener Mann aufgrund der vielen verschiedenartigen Gespräche in keinem

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LIBER SECUNDUS

quae quidem esset in his artibus, de quibus aliquid existimare p o s s e m , rudem aut ignarum esse visum. Sed fuit hoc in utroque eorum, ut Crassus non tarn existimari vellet non didicisse quam ilia despicere et nostrorum hominum in omni genere prudentiam Graecis anteferre; Antonius autem probabiliorem huic populo orationem fore censebat suam, si omnino didicisse numquam putaretur; atque ita se uterque graviorem fore, si alter contemnere, alter ne nosse quidem Graecos videretur.

Q u o r u m consilium quale fuerit, nihil sane ad hoc t e m p u s ; illud autem est huius institutae scriptionis ac temporis neminem eloquentia non m o d o sine dicendi doctrina, sed ne sine omni quidem sapientia florere u m q u a m et praestare potuisse. Etenim ceterae fere artes se ipsae per se tuentur singulae; bene dicere autem, quod est scienter et perite et ornate dicere, non habet definitam aliquam regionem, cuius terminis saepta teneatur. O m n i a , quaecumque in hominum disceptationem cadere possunt, bene sunt ei dicenda, qui hoc se p o s s e profitetur, aut eloquentiae nomen relinquendum est. Q u a r e equidem et in nostra civitate et in ipsa Graecia, quae semper haec summa duxit, multos et ingeniis excellentes et magna laude dicendi sine s u m m a rerum omnium scientia fuisse fateor; talem vero existere eloquentiam, qualis fuerit in C r a s s o et Antonio, non cognitis rebus omnibus, quae ad tantam prudentiam pertinerent, tantamque dicendi copiam, quanta in illis fuit, non potuisse confirmo. Q u o etiam feci libentius, ut eum sermonem, quem illi quondam inter se de his rebus habuissent, mandarem litteris, vel ut ilia opinio, quae semper fuisset, tolleretur, alterum non doctissimum, alterum plane indoctum fuisse; vel ut ea, quae existimarem a summis oratoribus de eloquentia divinitus esse dicta, custodirem litteris, si ullo m o d o adsequi complectique potuissem; vel mehercule etiam ut laudem eorum iam prope senescentem, quantum ego p o s s e m , ab oblivione hominum atque a silentio vindicarem. N a m si ex scriptis cognosci ipsi suis potuissent, minus hoc fortasse mihi esse putassem laborandum; sed cum alter non multum, quod quidem extaret, et id ipsum adulescens, alter nihil a d m o d u m

ZWEITES B U C H

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Bereich, wenigstens in den Wissenschaften, über die ich ein Urteil fällen konnte, ungebildet oder unwissend erschien. (4) Aber dies lag am Wesen der beiden: Crassus wollte weniger den Eindruck erwecken, er habe nicht studiert, als vielmehr, er schätze jene Studien gering, und ziehe das Wissen unserer Landsleute auf jedem Gebiet dem der Griechen vor; Antonius aber war der Meinung, auf unser Volk werde seine Rede überzeugender wirken, wenn man von ihm glaube, er habe überhaupt niemals Unterricht erhalten. Und so meinten beide, sie würden eine nachdrücklichere Wirkung erzielen, der eine, wenn er die Griechen zu verachten, der andere, wenn er sie nicht einmal zu kennen scheine. (5) Welche Absicht sie damit verfolgten, das zu ergründen, gehört freilich jetzt nicht hierher; die Grundthese, die ich in dieser Schrift aufgestellt habe und die auch für unsere Zeit gilt, lautet: Ohne theoretische Ausbildung in der Redekunst und besonders auch ohne universale Bildung konnte niemand je durch Beredsamkeit glänzen und sich in ihr auszeichnen. Und in der Tat ist von den übrigen Wissenschaften fast jede einzeln sich selbst genug; eine gute Rede aber, d.h. eine sachkundige, gescheite und schmuckvolle Rede, hat keinen fest umrissenen Bereich, der ihr enge Grenzen setzte. Über alles, was auch immer unter den Begriff »Auseinandersetzung unter Menschen« fallen kann, muss derjenige gut reden, der sich dazu bekennt, dass er dies kann; andernfalls darf er nicht den Titel »Redner« beanspruchen. (6) Deshalb gebe ich meinerseits wohl zu, dass es in unserem Staat und sogar in Griechenland, das diese Wissenschaften immer sehr hoch schätzte, sehr viele Männer gegeben hat, die ausgezeichnet begabt waren und großes Lob als Redner verdienten, ohne dass sie in allen Gebieten sehr fundiertes Wissen hatten; aber ich behaupte fest, dass eine solche Beredsamkeit, wie sie Crassus und Antonius besaßen, nicht entstehen konnte ohne die Kenntnis aller Dinge, die zu einem so fundierten Wissen beitragen, und auch nicht eine solche Fülle der Rede, wie sie die beiden Männer besaßen. (7) Umso lieber bin ich auch darangegangen, das Gespräch, welches jene Männer einst miteinander über diese Thematik führten, schriftlich aufzuzeichnen zum einen, damit jenes Vorurteil, das immer bestand, der eine sei nicht sehr gelehrt, der andere ganz und gar ungelehrt gewesen, beseitigt werde; weiterhin wollte ich das, was von den größten Rednern über die Beredsamkeit vortrefflich gesagt wurde, schriftlich bewahren, wenn ich es irgendwie erreichen und vollständig erfassen konnte; ich wollte aber, beim Herkules, auch ihren Ruhm, der schon beinahe am Erlöschen war, soweit ich es vermochte, davor schützen, dass die Menschen ihn vergessen und davon schweigen. (8) Denn wenn man sie selbst aus eigenen Schriften hätte kennen lernen können, hätte ich vielleicht geglaubt, mich weniger darum mühen zu müssen; aber der eine hat nicht viel, soweit es wenigstens noch vorhanden ist, und auch das nur als junger

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LIBER S E C U N D U S

scripti reliquisset, deberi hoc a me tantis hominum ingeniis putavi, ut, cum etiam nunc vivam illorum memoriam teneremus, hanc immortalem redderem, si possem. Q u o s hoc etiam spe adgredior maiore ad probandum, quia non de Ser. Galbae aut C. Carbonis eloquentia scribo aliquid, in quo liceat mihi fingere, si quid velim, nullius memoria iam refellente, sed edo haec iis cognoscenda, qui eos ipsos, de quibus loquor, saepe audierunt, ut duo summos viros iis, qui neutrum illorum viderint, eorum, quibus ambo illi oratores cogniti sint, vivorum et praesentium memoria teste commendemus.

Nec vero te, carissime frater atque optime, rhetoricis nunc quibusdam libris, quos tu agrestis putas, insequor, ut erudiam quid enim tua potest esse oratione aut subtilius aut ornatius? Sed sive iudicio, ut soles dicere, sive, ut ille pater eloquentiae de se Isocrates scripsit ipse, pudore a dicendo et timiditate ingenua quadam refugisti, sive, ut ipse iocari soles, unum putasti satis esse non modo in una familia rhetorem, sed paene in tota civitate, non tarnen arbitror tibi hos libros in eo fore genere, quod merito propter eorum, qui de dicendi ratione disputarunt, ieiunitatem bonarum artium possit inludi. Nihil enim mihi quidem videtur in Crassi et Antoni sermone esse praeteritum, quod quisquam summis ingeniis, acerrimis studiis, optima doctrina, maximo usu cognosci ac percipi potuisse arbitraretur; quod tu facillime poteris iudicare, qui prudentiam rationemque dicendi per te ipsum, usum autem per nos percipere voluisti. Sed quo citius hoc, quod suscepimus, non mediocre munus conficere possimus, omissa nostra adhortatione ad eorum, quos proposuimus, sermonem disputationemque veniamus.

Postero igitur die, quam ilia erant acta, hora fere secunda, cum etiam tum in lecto Crassus esset et apud eum Sulpicius sederet, Antonius autem inambularet cum Cotta in porticu, repente eo Q . Catulus senes cum C. Iulio fratre venit. Q u o d ubi audivit, commotus Crassus surrexit omnesque admirati maiorem aliquam esse causam eorum adventus suspicati sunt. Q u i

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Mann, der andere nahezu nichts Schriftliches hinterlassen. S o glaubte ich es diesen großen Geistern schuldig zu sein, sie in der Erinnerung - auch wenn wir diese jetzt noch lebendig erhalten - unsterblich zu machen, wenn es mir gelingen sollte. (9) U n d mit noch größerer Hoffnung möchte ich dies glaubhaft versichern, weil ich ja nicht über die Beredsamkeit des Servius Galba oder Gaius C a r b o etwas schreibe; dabei wäre es mir erlaubt, etwas dazu zu erfinden, wenn ich wollte, ohne dass mich die Erinnerung von jemandem widerlegen könnte. Aber diese meine Ausführungen sollen Menschen kennen lernen, welche die Männer, über die ich spreche, selbst oft gehört haben; ich empfehle also die zwei bedeutenden Männer denen, welche keinen von ihnen gesehen haben, indem ich die Erinnerung von noch lebenden und unter uns weilenden Leuten, welche die beiden Redner kennen gelernt haben, zur Bestätigung nehme. (10) Doch, mein teuerster und bester Bruder, ich belästige dich jetzt nicht mit irgendwelchen rhetorischen Büchern, die du für bäuerisch hältst, u m dich zu unterrichten - was könnte nämlich präziser und geschmackvoller sein als deine Sprechweise? O b du nun aus Einsicht, wie du zu sagen pflegst, oder ob du, wie der berühmte Vater der Beredsamkeit Isokrates über sich selbst geschrieben hat, aus Scheu und einer Art vornehmer Schüchternheit vor dem Reden zurückgewichen bist, oder ob du, wie du selbst oft im Scherz sagst, geglaubt hast, nicht nur in einer Familie, sondern im ganzen Staat genüge ein Redner: ich glaube trotzdem nicht, dass in deinen Augen diese Bücher zu derjenigen Gattung gehören werden, die man mit Recht verspotten kann, weil diejenigen, welche Erörterungen über die Theorie geschrieben haben, nur dürftige Kenntnisse in den edlen Wissenschaften hatten. (11) Nichts scheint nämlich, wenigstens in meinen Augen, in dem Gespräch des Crassus und Antonius übergangen worden zu sein, wovon man allgemein annahm, dass es bei ausgezeichneter Begabung, eifrigstem Bemühen, bester theoretischer Bildung und intensivster Praxis erkannt und erfasst werden konnte. Dies wirst am leichtesten du beurteilen können, der du die Wissenschaft und Theorie der Redekunst von dir selbst aus, die Praxis aber von mir erlernen wolltest. Aber damit ich dieses nicht unerhebliche Werk, welches ich auf mich genommen habe, u m s o schneller vollenden kann, will ich meine Ermunterung auslassen und zu dem Gespräch und der Erörterung der Männer, die ich angekündigt habe, k o m m e n . (12) A m folgenden Tage also nach den gestrigen Debatten, etwa u m die zweite Stunde, als Crassus sogar noch im Bett lag und Sulpicius bei ihm saß, Antonius aber mit Cotta in der Säulenhalle hin und her ging, k a m unerwartet der greise Q u i n t u s Catulus mit seinem Bruder Gaius Julius. Als Crassus davon hörte, stand er erregt auf und alle wunderten sich und vermuteten, dass es einen ziemlich wichtigen Grund für ihre Ankunft gebe. (13) Als sie

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cum inter se, ut ipsorum usus ferebat, amicissime consalutassent: 'quid vos tandem?' C r a s s u s 'numquidnam' inquit 'novi?' 'Nihil sane,' inquit Catulus 'etenim vides esse ludos; sed - vel tu nos ineptos licet' inquit 'vel molestos putes - cum ad me in T u s culanum' inquit 'heri vesperi venisset Caesar de Tusculano suo, dixit mihi a se Scaevolam hinc euntem esse conventum, ex quo mira quaedam se audisse dicebat; te, quem ego totiens omni ratione temptans ad disputandum elicere non potuissem, permulta de eloquentia cum Antonio disseruisse et tamquam in schola prope ad Graecorum consuetudinem disputasse. Ita me frater exoravit ne ipsum quidem a studio audiendi nimis abhorrentem, sed mehercule verentem tamen, ne molesti vobis interveniremus, ut hue secum venirem; etenim Scaevolam ita dicere aiebat bonam partem sermonis in hunc diem esse dilatam. H o c tu si cupidius factum existimas, Caesari attribues; si familiarius, utrique nostrum. N o s quidem, nisi forte molesti intervenimus, venisse delectat.'

T u m C r a s s u s 'equidem, quaecumque vos causa hue attulisset, laetarer, cum apud me viderem homines mihi carissimos et amicissimos; sed tamen, vere dicam, quaevis causa mallem fuisset quam ista, quam dicis. E g o enim, ut, quem ad m o d u m sentio, loquar, n u m q u a m mihi minus quam hesterno die placui, magis adeo id facilitate quam alia ulla culpa mea contigit, qui, d u m obsequor adulescentibus, me senem esse s u m oblitus fecique id, quod ne adulescens quidem feceram, ut iis de rebus, quae doctrina aliqua continerentur, disputarem. Sed hoc tamen cecidit mihi peroportune, q u o d transactis iam meis partibus ad Antonium audiendum venistis.'

T u m Caesar 'equidem' inquit 'Crasse, ita s u m cupidus in ilia longiore te ac perpetua disputatione audiendi, ut, si id mihi minus contingat, vel hoc sim cotidiano tuo sermone contentus. Itaque experiar equidem illud, ut ne Sulpicius familiaris meus aut Cotta plus quam ego apud te valere videatur, et te exorabo

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sich, wie es ihre enge Verbundenheit mit sich brachte, untereinander herzlich begrüßt hatten, fragte Crassus: »Was in aller Welt hat euch hierher geführt? Gibt es denn etwas Neues?« - »Uberhaupt nichts«, erwiderte Catulus, »es finden ja Spiele statt, wie du siehst; aber« fügte er hinzu, »- du magst nun glauben, wir würden uns unangemessen oder aufdringlich benehmen - als gestern Abend«, fuhr er fort, »Caesar von seinem Tusculanum zu mir in mein Tusculanum gekommen war, sagte er, er habe Scaevola, der von hier wegging, getroffen und von ihm - sagte er immer wieder - habe er Erstaunliches gehört; du, den ich, obwohl ich es so oft auf jede mögliche Art und Weise versuchte, nicht zu einer wissenschaftlichen Erörterung verlocken konnte, habest mit Antonius sehr ausführlich über die Beredsamkeit gesprochen und wie in einer akademischen Vorlesung beinahe nach der gewohnten Art der Griechen einen wissenschaftlichen Vortrag gehalten. (14) So bat mich denn mein Bruder dringend - und ich selbst wehrte mich auch nicht allzu sehr gegen mein eifriges Verlangen, ihn zu hören, fürchtete aber, beim Herkules, trotzdem, wir würden euch durch unsere unerwartete Ankunft lästig fallen ich solle mit ihm hierher kommen; Scaevola sage ja auch, äußerte er wiederholt, ein guter Teil des Gespräches sei auf den heutigen Tag verschoben worden. Wenn du glaubst, wir hätten allzu leidenschaftlich gehandelt, wirst du das Caesar anrechnen müssen; wenn allzu vertraulich, uns beiden. Freilich bereitet es uns Freude, gekommen zu sein, es sei denn, wir fallen euch durch unsere unerwartete Ankunft lästig.« (15) Darauf erwiderte Crassus: »Was für ein Grund auch immer euch hierher gebracht haben mag, ich für meine Person würde mich freuen, bei mir Menschen zu sehen, die mir besonders teuer und freundschaftlich verbunden sind; aber dennoch, um die Wahrheit zu sagen, wäre mir jeder beliebige Grund lieber gewesen als der, den du nennst. Ich war nämlich - um zu sprechen, wie ich denke - niemals weniger mit mir zufrieden als am gestrigen Tag und das geschah mehr noch durch meine Gutmütigkeit als wegen irgendeiner anderen Schuld von mir; während ich nämlich den jungen Männern entgegenkam, vergaß ich, dass ich ein Greis bin, und ich tat, was ich nicht einmal als junger Mann getan hatte; ich hielt einen wissenschaftlichen Vortrag über Themen, die auf irgendeiner wissenschaftlichen Lehre beruhen. Aber dennoch hat es sich für mich sehr günstig getroffen, dass ihr erst, nachdem ich meine Rolle zu Ende gespielt habe, gekommen seid, um den Antonius zu hören.« (16) Da sagte Caesar: »Ich für meine Person, mein Crassus, habe wohl Verlangen, dich in jener Art eines längeren, durchgehenden wissenschaftlichen Vortrags zu hören, aber wenn mir das nicht zuteil wird, bin ich auch mit deiner gewöhnlichen Art, ein Gespräch zu führen, zufrieden. Deshalb will ich es wenigstens versuchen, damit ja nicht der Eindruck entsteht, mein Freund Sulpicius oder Cotta würden bei dir mehr gelten als ich, und will dich wirklich

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profecto, ut mihi quoque et Catulo tuae suavitatis aliquid inpertias. Sin tibi id minus libebit, non te urguebo neque committam, ut, dum vereare tu, ne sis ineptus, me esse iudices.' T u m ille 'ego mehercule,' inquit 'Caesar, ex omnibus Latinis verbis huius verbi vim vel maximam semper putavi. Q u e m enim nos ineptum vocamus, is mihi videtur ab hoc nomen habere ductum, quod non sit aptus, idque in sermonis nostri consuetudine perlate patet. N a m qui aut tempus quid postulet non videt aut plura loquitur aut se ostentat aut eorum, quibuscum est, vel dignitatis vel commodi rationem non habet aut denique in aliquo genere aut inconcinnus aut multus est, is ineptus esse dicitur. H o c vitio cumulata est eruditissima ilia Graecorum natio. Itaque quod vim huius mali Graeci non vident, ne nomen quidem ei vitio imposuerunt. Ut enim quaeras omnia, quomodo Graeci ineptum appellent, non reperies. O m n i u m autem ineptiarum, quae sunt innumerabiles, haud sciam an nulla sit maior quam, ut illi solent, quocumque in loco, quoscumque inter homines visum est, de rebus aut difficillimis aut non necessariis argutissime disputare. H o c nos ab istis adulescentibus facere inviti et recusantes heri coacti sumus.'

T u m Catulus 'ne Graeci quidem' inquit 'Crasse, qui in civitatibus suis clari et magni fuerunt, sicuti tu es nosque omnes in nostra re publica volumus esse, horum Graecorum, qui se inculcant auribus nostris, similes fuerunt nec tamen in otio sermones huius modi disputationesque fugiebant. Ac si tibi videntur, qui temporis, qui loci, qui hominum rationem non habent, inepti, sicut debent videri, num tandem aut locus hie non idoneus videtur, in quo porticus haec ipsa, ubi inambulamus, et palaestra et tot locis sessiones gymnasiorum et Graecorum disputationum memoriam quodam modo commovent? Aut num importunum tempus in tanto otio, quod et raro datur et nunc peroptato nobis datum est? Aut homines ab hoc genere disputationis alieni, qui omnes ii sumus, ut sine iis studiis vitam nullam esse ducamus?'

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herzlich bitten, auch mir und dem Catulus etwas von deiner Liebenswürdigkeit zuteil werden zu lassen. Wenn es dir aber weniger genehm ist, werde ich dich nicht drängen und es nicht dahin kommen lassen, dass du, während du fürchtest, dich unangemessen zu benehmen, dieses von mir glaubst.« (17) Darauf erwiderte Crassus: »Beim Herkules, mein Caesar, ich habe immer geglaubt, dass von allen lateinischen Wörtern dieses Wort den größten Bedeutungsumfang hat. Denn wenn wir sagen, jemand verhalte sich unangemessen, scheint mir dieser eine Bezeichnung zu haben, die davon abgeleitet ist, dass er sich nicht benimmt, wie es angemessen ist, und dieses Wort ist in unserem Sprachgebrauch sehr weit verbreitet. Denn wer nicht sieht, was die Zeitumstände fordern, zuviel redet, sich aufspielt, auf die Würde und die Interessen derjenigen, mit denen er zusammen ist, keine Rücksicht nimmt, oder schließlich in irgendeiner Form takdos oder aufdringlich ist, von dem sagt man, er benehme sich nicht, wie es angemessen ist. (18) Von diesem Fehler hat die so ausnehmend gebildete Nation der Griechen ein gerüttelt Maß abbekommen. Deshalb haben die Griechen, weil sie die Schwere dieses Übels nicht sehen, diesem Fehler nicht einmal einen Namen gegeben. Man mag nämlich alles durchsuchen, wird aber dennoch nicht herausfinden, wie die Griechen jemanden nennen, der sich unangemessen benimmt. Von allen Arten unangemessenen Benehmens, deren es unzählige gibt, ist vielleicht keine größer, als wenn man, wie jene es gerne tun, an jedem beliebigen Ort, in jeder beliebigen Gruppe von Menschen äußerst scharfsinnig über die schwierigsten oder über unnötige Themen disputiert. Dazu wurde ich gestern von diesen jungen Männern gegen meinen Willen, und obwohl ich mich dagegen sträubte, gezwungen.« (19) Darauf erwiderte Catulus: »Nicht einmal die Griechen, mein Crassus, die in ihren Städten berühmt und groß waren, so wie du es bist und wir es alle in unserem Staat sein wollen, waren den heutigen Griechen, die sich unseren Ohren aufdrängen, ähnlich, und trotzdem verzichteten sie in ihren Mußestunden nicht auf Gespräche und gelehrte Erörterungen dieser A n . (20) Und wenn diejenigen, die keine Rücksicht auf die Zeit, den Ort, die Menschen nehmen, bei dir den Eindruck erwecken, als benähmen sie sich unangemessen, wie sie es auch müssen, erscheint dir dann dieser Ort hier etwa nicht geeignet, an dem schon diese Säulenhalle, wo wir hin und her gehen, die Palästra und die Sitzplätze an so vielen Orten in gewisser Weise die Erinnerung an die Gymnasien und die gelehrten Erörterungen der Griechen hervorrufen? Oder sind etwa die Zeitumstände unpassend bei soviel Muße, die sich selten bieten und sich uns nun ganz nach Wunsch geboten haben? Oder stehen die Menschen dieser Art gelehrter Erörterungen fremd gegenüber? Wir meinen doch alle, ohne diese Studien sei das Leben überhaupt kein Leben.«

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'Omnia ista' inquit Crassus 'ego alio modo interpreter, qui primum palaestram et sedis et porticus etiam ipsos, Catule, Graecos exercitationis et delectationis causa, non disputationis invenisse arbitror. Nam et saeculis multis ante gymnasia inventa sunt, quam in iis philosophi garrire coeperunt, et hoc ipso tempore, cum omnia gymnasia philosophi teneant, tamen eorum auditores discum audire quam philosophum malunt; qui simul ut increpuit, in media oratione de maximis rebus et gravissimis disputantem philosophum omnes unctionis causa relinquunt. Ita levissimam delectationem gravissimae, ut ipsi ferunt, utilitati anteponunt. Otium autem quod dicis esse, adsentior; verum otii fructus est non contentio animi, sed relaxatio. Saepe ex socero meo audivi, cum is diceret socerum suum Laelium semper fere cum Scipione solitum rusticari eosque incredibiliter repuerascere esse solitos, cum rus ex urbe tamquam e vinclis evolavissent. Non audeo dicere de talibus viris, sed tamen ita solet narrare Scaevola conchas eos et umbilicos ad Caietam et ad Lavernium legere consuesse et ad omnem animi remissionem ludumque descendere. Sic enim sese res habet, ut, quem ad modum volucris videmus procreationis atque utilitatis suae causa effingere et construere nidos, easdem autem, cum aliquid effecerint, levandi laboris sui causa passim ac libere solutas opere volitare, sic nostri animi forensibus negotiis atque urbano opere defessi gestiant ac volitare cupiant vacui cura ac labore. Itaque illud ego, quod in causa Curiana Scaevolae dixi, non dixi secus ac sentiebam. "Nam si" inquam "Scaevola, nullum erit testamentum recte factum, nisi quod tu scripseris, omnes ad te cives cum tabulis veniemus, omnium testamenta tu scribes unus. Quid igitur?" inquam "quando ages negotium publicum? quando amicorum? quando tuum? quando denique nihil ages?" Tum illud addidi: "Mihi enim liber esse non videtur, qui non aliquando nihil agit". In qua permaneo, Catule, sententia meque, cum hue veni, hoc ipsum nihil agere et plane cessare delectat. Nam quod addidisti tertium vos esse eos, qui vitam insuavem sine his studies putaretis, id me non modo non hortatur ad disputandum, sed etiam deterret. Nam ut C. Lucilius homo doctus et perur-

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(21) »Dieses alles«, erwiderte Crassus, »fasse ich anders auf: Erstens glaube ich, dass die Griechen die Palästra, die Sitzgelegenheiten und sogar die Säulenhallen selbst, mein lieber Catulus, für das Training und zum Genuss und nicht für eine gelehrte Erörterung erfunden haben; denn die Gymnasien wurden viele Jahrhunderte, bevor die Philosophen in ihnen zu schwätzen anfingen, erfunden; und selbst in unserer Zeit, wo die Philosophen alle Gymnasien in Beschlag nehmen, wollen deren Zuhörer trotzdem lieber als einen Philosophen einen Diskus hören; sobald dieser geflogen kommt, verlassen alle den Philosophen, auch wenn er über die bedeutendsten und wichtigsten Dinge spricht, mitten in seinem Vortrag, um sich zu salben. So ziehen sie den flüchtigsten Genuss, wie sie selbst sagen, dem gewichtigsten Nutzen vor. (22) Wenn du aber sagst, wir hätten Muße, stimme ich dir zu; doch der Gewinn der Muße besteht nicht in geistiger Anstrengung, sondern in Entspannung. Oft hörte ich meinen Schwiegervater sagen, sein Schwiegervater Laelius habe sich fast immer gern mit Scipio auf dem Land aufgehalten und sie seien in unglaublicher Weise wieder zu Kindern geworden, wenn sie aus der Stadt wie aus einem Gefängnis aufs Land hinaus geeilt seien. Ich wage nicht, es von solchen Männern zu sagen, aber dennoch pflegt es Saevola so zu erzählen: Sie seien gewöhnt gewesen, Muscheln und Kreiselschnecken bei Caieta und Lavernium aufzulesen und sich auf jede geistige Erholung und jedes Spiel einzulassen. (23) Die Sache verhält sich nämlich so: Wie wir sehen, dass die Vögel für ihre Brut und zu ihrem eigenen Nutzen Nester bauen und errichten, dann aber, wenn sie etwas fertig gebracht haben, um sich von der Arbeit zu erholen, da- und dorthin frei und der Mühe ledig umherfliegen, so sind auch unsere Herzen, wenn sie erschöpft von den Verpflichtungen auf dem Forum und der Mühe in der Stadt sind, vor Freude übermütig und wünschen, frei von Sorge und Arbeit umherzufliegen. (24) Deshalb habe ich das, was ich in dem Prozess gegen Curius zu Scaevola gesagt habe, nicht anders gesagt, als ich es meinte. »Denn wennkein Testament richtig abgefasst ist, außer du selbst hast es geschrieben, werden wir Mitbürger alle mit unseren Tafeln zu dir kommen und du allein wirst die Testamente aller schreiben. Wie nun?< fuhr ich fort, >Wann wirst du eine öffentliche Aufgabe erledigen? Wann eine für deine Freunde? Wann deine eigene? Wann schließlich wirst du nichts tun?< Dann fügte ich noch hinzu: >Mir scheint nämlich der nicht frei zu sein, der nicht zuweilen nichts tut.< Auf dieser Meinung, mein lieber Catulus, beharre ich, und immer, wenn ich hierher gekommen bin, macht es mir ganz besonders Freude, nichts zu tun und müßig zu sein. (25) Denn was du als Drittes hinzugefügt hast, dass ihr Leute seid, die ein Leben ohne diese Studien für reizlos hielten, ermuntert mich nicht zu einer wissenschaftlichen Erörterung, sondern es schreckt mich erst recht davon ab. Denn wie Gaius Lucilius, ein gelehrter und überaus fein

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banus dicere solebat ea, quae scriberet, neque se ab indoctissimis neque a doctissimis legi velle, quod alteri nihil intellegerent, alteri plus fortasse quam ipse - de quo etiam scripsit "Persium non euro legere" (hie fuit enim, ut noramus, omnium fere nostrorum hominum doctissumus), "Laelium Decumum volo," (quem cognovimus virum bonum et non inlitteratum, sed nihil ad Persium) - : sic ego, si iam mihi disputandum sit de his nostris studiis, nolim equidem apud rusticos, sed multo minus apud vos; malo enim non intellegi orationem meam quam reprehendi.'

Tum Caesar 'equidem' inquit 'Catule, iam mihi videor navasse operam, quod hue venerim. N a m haec ipsa recusatio disputationis disputatio quaedam fuit mihi quidem periucunda. Sed cur impedimus Antonium, cuius audio esse partis, ut de tota eloquentia disserat, quemque iam dudum et Cotta et Sulpicius expectat?' 'Ego vero' inquit Crassus 'neque Antonium verbum facere patiar, et ipse obmutescam, nisi prius a vobis impetraro' ' Q u i d n a m ? ' inquit Catulus - 'ut hie sitis hodie.' T u m , cum ille dubitaret, quod ad fratrem promiserat, 'ego' inquit Iulius 'pro utroque respondeo: sic faciemus; atque ista quidem condicione, vel ut verbum nullum faceres, me teneres.' Hie Catulus adrisit et simul 'praecisa' inquit 'mihi quidem est dubitatio, quoniam neque domi imperaram et hie, apud quem eram futurus, sine mea sententia tam facile promisit.' T u m omnes oculos in Antonium coniecerunt; et ille 'audite vero, audite,' inquit 'hominem enim audietis de schola atque a magistro et Graecis litteris eruditum. Et eo quidem loquar confidentius, quod Catulus auditor accessit, cui non solum nos Latini sermonis, sed etiam Graeci ipsi solent suae linguae subtilitatem elegantiamque concedere. Sed quia tamen hoc totum, quicquid est, sive artificium sive Studium dicendi, nisi accessit

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gebildeter Mann, zu sagen pflegte, er wolle nicht, dass das, was er schreibe, von gänzlich ungelehrten und auch nicht von hochgebildeten Menschen gelesen werde, weil die einen nichts davon verstünden, die anderen vielleicht mehr als er selbst - zu diesem Punkt schrieb er auch: >Ich bin nicht darauf bedacht, dass Persius mich liest« (dieser war nämlich, wie wir erfahren haben, der gelehrteste unter fast allen unseren Landsleuten), >dass aber Laelius Decumus mich liest, will ich< (ihn haben wir als tüchtigen, wissenschaftlich nicht ungebildeten Mann kennen gelernt, der aber überhaupt nicht an Persius heranreichte) so möchte ich für meine Person, wenn ich schon über unsere Studien eine wissenschaftliche Erörterung führen soll, dies lieber nicht vor bäurischen Tölpeln, aber noch viel weniger vor euch tun; ich will nämlich lieber, dass mein Vortrag nicht verstanden als dass an ihm etwas ausgesetzt wird.« (26) Darauf erwiderte Caesar: »Ich wenigstens, mein lieber Catulus, habe den Eindruck, die Mühe, hierher zu kommen, habe sich gelohnt. Denn schon diese Weigerung, einen wissenschaftlichen Vortrag zu halten, war für mich wenigstens eine sehr angenehme Art eines wissenschafdichen Vortrages. Aber warum lassen wir Antonius nicht zu Wort kommen, dessen Rolle es ist, wie ich höre, über das gesamte Gebiet der Beredsamkeit zu sprechen, und auf den Cotta und Sulpicius schon lange warten?« (27) »Nein«, erwiderte Crassus, »ich werde nicht zulassen, dass Antonius ein Wort spricht, und selbst verstummen, wenn ich nicht vorher bei euch erreiche,« - »Was denn?« unterbrach Catulus - »dass ihr heute hier bleibt.« Als Catulus zögerte, weil er sich schon bei seinem Bruder angekündigt hatte, sagte Julius: »Ich antworte für uns beide: Wir werden es so machen; und du würdest mich gewiss unter dieser Bedingung hier festhalten, selbst wenn du kein Wort sprächest.« (28) Dazu lächelte Catulus und sagte: »Meine Unschlüssigkeit hat sich erledigt; ich hatte ja zu Hause keine Befehle erteilt und mein Bruder hier, bei dem ich bleiben wollte, hat, ohne mich um meine Meinung zu fragen, so leichthin zugesagt.« Da richteten alle ihre Augen auf Antonius und dieser sprach: »Hört doch her, ja hört! Ihr werdet nämlich einen Mann aus der Schule hören, der dazu noch von einem Lehrer sogar in den griechischen Wissenschaften unterrichtet wurde. Und ich werde nun mit umso größerem Selbstvertrauen sprechen, da Catulus als Zuhörer dazugekommen ist, dem nicht nur wir Lateiner in unserer Sprache, sondern auch die Griechen selbst in der ihren gewöhnlich Feinheit und Gewähltheit bescheinigen. (29) Aber weil dennoch dieses ganze Gebiet, was auch immer es sein mag, entweder die Kunstfertigkeit in oder die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Redekunst, überhaupt nicht bestehen kann, wenn nicht eine freche Stirn dazukommt, will ich euch, meine

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os, nullum potest esse, docebo vos, discipuli, id, quod ipse non didici, quid de omni genere dicendi sentiam.' Hie postea quam adriserunt, 'res mihi videtur esse' inquit 'facultate praeclara, arte mediocris. Ars enim earum rerum est, quae sciuntur; oratoris autem omnis actio opinionibus, non scientia continetur. Nam et apud eos dicimus, qui nesciunt, et ea dicimus, quae nescimus ipsi. Itaque et illi alias aliud isdem de rebus et sentiunt et iudicant et nos contrarias saepe causas dicimus, non modo ut Crassus contra me dicat aliquando aut ego contra Crassum, cum alterutri necesse sit falsum dicere, sed etiam ut uterque nostrum eadem de re alias aliud defendat, cum plus uno verum esse non possit. Ut igitur in eius modi re, quae mendacio nixa sit, quae ad scientiam non saepe perveniat, quae opiniones hominum et saepe errores aucupetur, ita dicam, si causam putatis esse, cur audiatis.'

'Nos vero et valde quidem' Catulus inquit 'putamus, atque eo magis, quod nulla mihi ostentatione videris esse usurus. Exorsus es enim non gloriose, magis a veritate, ut tu putas, quam a nescio qua dignitate.' 'Ut igitur de ipso genere sum confessus' inquit Antonius 'artem esse non maximam, sic illud adfirmo praecepta posse quaedam dari peracuta ad pertractandos animos hominum et ad excipiendas eorum voluntates. Huius rei scientiam si quis volet magnam quandam artem esse dicere, non repugnabo. Etenim cum plerique temere ac nulla ratione causas in foro dicant, nonnulli autem propter exercitationem aut propter consuetudinem aliquam callidius id faciant, non est dubium, quin, si quis animadverterit, quid sit, quare alii melius quam alii dicant, id possit notare. Ergo id qui toto in genere fecerit, is si non plane artem, at quasi artem quandam invenerit. Atque utinam, ut mihi ilia videre videor in foro atque in causis, item nunc, quem ad modum ea reperirentur, possem vobis exponere!

Sed de me videro; nunc hoc propono, quod mihi persuasi, quamvis ars non sit, tamen nihil esse perfecto oratore praeclarius. Nam ut usum dicendi omittam, qui in omni pacata et libera civitate dominatur, tanta oblectatio est in ipsa facultate dicendi,

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Schüler, das lehren, was ich selbst nicht studiert habe, meine Ansicht nämlich über das gesamte Gebiet der Redekunst.« (30) Hier lächelten die Zuhörer; er fuhr dann fort: »Die Sache scheint mir, was die Ausübung angeht, großartig, was die Theorie angeht, unbedeutend zu sein. Eine Wissenschaft handelt nämlich von Dingen, die man weiß; des Redners gesamtes Tun aber gründet auf Vorurteilen, nicht auf Wissen. Denn wir reden vor Leuten, die unwissend sind, und reden über Dinge, die wir selbst nicht wissen. Deshalb denken und urteilen jene über dieselben Dinge einmal so und einmal anders und wir vertreten oft gegensätzliche Standpunkte; so redet nicht nur manchmal Crassus gegen mich oder ich gegen Crassus, obwohl einer von beiden notwendigerweise das Falsche sagt, sondern jeder von uns beiden bringt zur Verteidigung eines gleichen Falles einmal dieses Argument und dann wieder ein anderes vor, obwohl nicht mehr als eines davon wahr sein kann. Also werde ich so wie über eine Sache, die sich auf die Unwahrheit stützt, die nicht oft bis zum Wissen gelangt und die auf Vorurteile und Missverständnisse der Leute abzielt, reden, wenn ihr glaubt, es gebe einen Grund, warum ihr zuhören wollt.« (31) »Ja, das glauben wir, und zwar fest«, erwiderte Catulus, »und das umso mehr, als du, wie mir scheint, ohne Prahlerei reden wirst. Du hast nämlich nicht großsprecherisch begonnen, sondern mehr von der Wirklichkeit, wie du sie siehst, als von einer weiß Gott wie erhabenen Würde aus.« (32) »Wie ich also von diesem Gebiet selbst zugegeben habe,« sagte Antonius, »dass es keine sehr bedeutende Wissenschaft ist, so stelle ich die folgende Behauptung auf: Man kann bestimmte sehr scharfsinnige Vorschriften geben, wie man auf die Herzen der Menschen stark einwirkt und ihre Zuneigung einfängt. Wenn jemand sagen will, die Kenntnis darüber sei eine ganz bedeutende Wissenschaft, widersetze ich mich nicht. Und in der Tat, da die meisten ihre Sache unbesonnen und ohne Überlegung auf dem Forum vertreten, manche aber wegen ihrer Übung und praktischen Erfahrung dies raffinierter tun, besteht kein Zweifel, dass man, wenn man wahrgenommen hat, dass die einen besser als andere reden, das aufzeichnen kann. Wer das also auf dem ganzen Gebiet getan hat, wird wohl keine Wissenschaft in vollem Sinne, aber gewissermaßen eine Art Wissenschaft finden. (33) Und wenn ich nur jetzt, ebenso wie ich glaube, diese Beobachtungen auf dem Forum und in Prozessen zu machen, euch darstellen könnte, auf welche Weise man das herausfinden kann! Aber das soll später meine Sorge sein! Jetzt trage ich euch das Folgende vor, wovon ich überzeugt bin: Mag es auch keine Wissenschaft sein, so gibt es dennoch nichts Herrlicheres als den vollkommenen Redner. Denn um den Nutzen der Rede zu übergehen, der in jeder friedlichen und freien Bürgerschaft eine beherrschende Stellung einnimmt: Ein solcher Genuss liegt in der

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ut nihil hominum aut auribus aut mentibus iucundius percipi possit. Q u i enim cantus moderatae orationis pronuntiatione dulcior inveniri potest? Q u o d carmen artificiosa verborum conclusione aptius? Q u i actor imitanda quam orator suscipienda veritate iucundior? Q u i d autem subtilius quam crebrae acutaeque sententiae? Q u i d admirabilius quam res splendore inlustrata verborum? Q u i d plenius quam omni genere rerum cumulata oratio? N e q u e enim ulla non propria oratoris res est, quae quidem ornate dici graviterque debet. Huius est in dando consilio de maximis rebus cum dignitate explicata sententia; eiusdem et languentis populi incitatio et effrenati moderatio; eadem facultate et fraus hominum ad perniciem et integritas ad salutem vocatur. Q u i s cohortari ad virtutem ardentius, quis a vitiis acrius revocare, quis vituperare improbos asperius, quis laudare bonos ornatius, quis cupiditatem vehementius frangere accusando potest, quis maerorem levare mitius consolando? Historia vero, testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis, qua voce alia nisi oratoris immortalitati commendatur?

N a m si qua est ars alia, quae verborum aut faciendorum aut deligendorum scientiam profiteatur, aut si quisquam dicitur nisi orator formare orationem eamque variare et distinguere quasi quibusdam verborum sententiarumque insignibus, aut si via ulla nisi ab hac una arte traditur aut argumentorum aut sententiarum aut denique discriptionis atque ordinis, fateamur aut hoc, quod haec ars profiteatur, alienum esse aut cum alia aliqua arte esse commune. Sed si in hac una est ea ratio atque doctrina, non, si qui aliarum artium bene locuti sunt, eo minus id est huius unius proprium; sed ut orator de iis rebus, quae ceterarum artium sunt, si m o d o eas cognovit, ut heri C r a s s u s dicebat, optime potest dicere, sic ceterarum artium homines ornatius ilia sua dicunt,

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Redegabe selbst, dass man sich nichts vorstellen kann, was angenehmer für die Ohren oder das Gemüt der Menschen ist. (34) Welchen Gesang nämlich kann man finden, der lieblicher ist als der Vortrag einer harmonisch ausgewogenen Rede? Welches Gedicht, das harmonischer gebaut ist als eine kunstvoll abgeschlossene Periode? Welchen Schauspieler, der durch die Nachahmung der Wahrheit anziehender wirkt als der Redner dadurch, dass er sich ihrer annimmt? Was aber ist scharfsinniger als häufige geistreiche Aussprüche? Was bewundernswerter als eine Sache, die durch den Glanz der Worte ins rechte Licht gesetzt ist? Was vollständiger als eine durch jede Art von Gesichtspunkten auf den Gipfel der Vollendung gebrachte Rede? Denn nichts gehört zum ureigenen Gebiet des Redners, das nicht mit reichem Redeschmuck und nachdrucksvoll gesagt werden müsste. (35) In seinen Aufgabenbereich fällt es, wenn ein Rat erteilt werden soll, über bedeutende Fragen seine Ansicht mit Würde zu entwickeln; ebenso ist es seine Aufgabe, das Volk, wenn es müde wird, anzufeuern, und es, wenn es zügellos ist, zu mäßigen; dieselbe Fähigkeit bringt tückischen Menschen Verderben und unbescholtenen Rettung. Wer kann feuriger zur Tugend auffordern, wer energischer von Lastern abhalten, wer Schurken schärfer tadeln, wer die Guten schöner loben, wer die Leidenschaft nachdrücklicher niederzwingen, indem er sie anklagt, wer die Trauer sanfter lindern, indem er tröstet? (36) Was aber die Geschichte angeht, die Zeugin der Zeiten, das Licht der Wahrheit, das Leben der Erinnerung, die Lehrerin des Lebens, die Künderin der alten Zeit durch welche andere Stimme als die des Redners wird ihr Unsterblichkeit verliehen? Denn nur dann, wenn es ein anderes Fachgebiet gibt, das verheißt, das Wissen zu vermitteln, wie man Worte bildet oder auswählt, oder wenn man von jemandem anderem als dem Redner sagj, er bilde eine Rede und gestalte sie abwechslungsreich und verfeinere sie gewissermaßen durch bestimmte Glanzpunkte in Worten und Gedanken, oder wenn irgendeine Methode, wie man Argumente oder Gedanken findet oder schließlich eine Unterteilung und Ordnung gewinnt, außer von diesem einen Fachgebiet gelehrt wird nur dann wollen wir zugeben, dass das, was unser Fach verheißt, entweder mit diesem nichts zu tun hat oder es gemeinsam mit irgendeinem anderen Fachgebiet besitzt. (37) Aber wenn es als Einziges im Besitz dieser Theorie und Lehre ist, dann ist, wenn Vertreter anderer Fachgebiete gut gesprochen haben, diese Fähigkeit nichtsdestoweniger ureigener Besitz dieses unseres Fachgebietes allein; aber wie der Redner über die Gegenstände, welche in den Bereich anderer Fachgebiete gehören, wenn er sich nur über sie unterrichtet hat, wie gestern Crassus sagte, am besten reden kann, so reden die Vertreter anderer Fachgebiete mit reicherem Redeschmuck über ihre eigenen Gegenstände, wenn sie etwas von diesem unserem Fachgebiet gelernt haben.

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si quid ab hac arte didicerunt. Neque enim si de rusticis rebus agricola quispiam aut etiam, id quod multi, medicus de morbis aut si de pingendo pictor aliquis diserte dixerit aut scripserit, idcirco illius artis putanda est eloquentia; in qua, quia vis magna est in hominum ingeniis, eo multi etiam sine doctrina aliquid omnium generum atque artium consequuntur; sed quid cuiusque sit proprium, etsi ex eo iudicari potest, cum videris, quid quaeque doceat, tamen hoc certius esse nihil potest, quam quod omnes artes aliae sine eloquentia suum munus praestare possunt, orator sine ea nomen optinere suum non potest; ut ceteri, si diserti sint, aliquid ab hoc habeant, hie, nisi domesticis se instruxerit copiis, aliunde dicendi copiam petere non possit.'

T u m Catulus 'etsi' inquit 'Antoni, minime impediendus est interpellatione iste cursus orationis tuae, patiere tamen mihique ignosces. Non enim possum, quin exclamem, ut ait ille in Trinummo; ita mihi vim oratoris cum exprimere subtiliter visus es, tum laudare copiosissime; quod quidem eloquentem vel optime facere oportet, ut eloquentiam laudet; debet enim ad earn laudandam ipsam illam adhibere, quam laudat. Sed perge porro; tibi enim adsentior vestrum esse hoc totum diserte dicere, idque si quis in alia arte faciat, eum adsumpto aliunde uti bono, non proprio nec suo.' Et Crassus 'nox te' inquit 'nobis, Antoni, expolivit hominemque reddidit. N a m hesterno sermone unius cuiusdam opens, ut ait Caecilius, remigem aliquem aut baiulum nobis oratorem descripseras, inopem quendam humanitatis atque inurbanum.'

T u m Antonius 'heri enim' inquit 'hoc mihi proposueram, ut, si te refellissem, hos a te discipulos abducerem; nunc Catulo audiente et Caesare videor debere non tam pugnare tecum quam, quid ipse sentiam, dicere. Sequitur igitur, quoniam nobis est hie, de quo loquimur, in foro atque in oculis civium constituendus, ut videamus, quid ei negotii demus cuique eum muneri velimus esse praepositum. N a m Crassus heri, cum vos, Catule et Caesar, non adessetis, posuit breviter in artis distributione idem, quod Graeci plerique

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(38) Wenn nämlich über landwirtschaftliche Themen irgendein Landwirt oder auch, was viele tun, ein Arzt über Krankheiten oder über die Malerei irgendein Maler wortgewandt gesprochen oder geschrieben hat, darf man deswegen nicht glauben, die Redegewandtheit sei ein fester Bestandteil dieses Fachgebietes; in ihm erreichen viele Vertreter aller Gebiete und Fächer auch ohne theoretische Bildung dadurch etwas, weil eine große Kraft in der natürlichen Begabung der Menschen liegt. Aber wenn man auch danach beurteilen kann, was der ureigene Besitz eines jeden Fachgebietes ist, wenn man sieht, was jedes einzelne lehrt, kann dennoch nichts eine größere Gewissheit bieten als die folgende Tatsache: Alle anderen Fachgebiete können ihre Aufgabe ohne Beredsamkeit erfüllen, der Redner aber kann ohne sie seinen Namen nicht wahren; die übrigen haben, wenn sie redegewandt sind, etwas von ihm, wenn er sich aber nicht aus seinen eigenen reichen Mitteln ausgerüstet hat, kann er nicht anderswoher die Fülle der Rede holen.« (39) Hierauf sagte Catulus: »Auch wenn dieser dein Redefluss, mein Antonius, überhaupt nicht gehemmt werden dürfte durch eine Unterbrechung, wirst du es dennoch geschehen lassen und mir verzeihen. Ich kann nämlich nicht anders als es laut auszusprechen, wie jener Sklave im Trinummus sagt; so präzise, scheint mir, hast du das Wesen des Redners anschaulich gemacht und ihn vor allem sehr wortgewaltig gelobt. Freilich sollte es ein guter Redner ganz besonders gut fertig bringen, die Beredsamkeit zu loben; er muss nämlich, um sie zu loben, gerade die Fähigkeit anwenden, die er lobt. Aber fahre nur fort! Ich stimme dir nämlich zu, dass die Kunst, redegewandt zu sprechen, ganz und gar euer Eigentum ist; und wenn jemand es in einem anderen Fachgebiet tut, dann nutzt er ein Vermögen, das er anderswoher zu Hilfe genommen hat, nicht eines, das sein Eigen ist und ihm gehört.« (40) Und Crassus fügte hinzu: »Die Nacht hat dich, mein Antonius, so dünkt es mir - abgeschliffen und wieder zu einem Menschen gemacht. Denn in dem gestrigen Gespräch hattest du uns den Redner als irgendeinen Ruderknecht oder Lastträger.; wie Caecilius sagt, beschrieben, der nur für eine einzige bestimmte Arbeit zuständig ist, einen armseligen Menschen ganz ohne menschliche und feine Bildung.« Da erwiderte Antonius: »Gestern hatte ich mir ja auch vorgenommen, diese Schüler hier abspenstig zu machen, falls ich dich widerlegt hätte; jetzt, wo Catulus und Caesar zuhören, bin ich, wie mir scheint, weniger verpflichtet mit dir zu streiten als meine eigene Meinung zu sagen. (41) Da wir den Mann, über welchen wir sprechen, auf das Forum und vor die Augen der Bürger hinstellen müssen, folgt daraus, dass wir darauf sehen, welche Tätigkeit wir ihm zuweisen und mit welcher Aufgabe wir ihn beauftragt wissen möchten. Denn gestern, als ihr, mein Catulus und mein Caesar, nicht da wart, hat Crassus bei der Einteilung unseres Fachgebietes dasselbe

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posuerunt, neque sane, quid ipse sentiret, sed quid ab illis diceretur, ostendit: duo prima genera quaestionum esse, in quibus eloquentia versaretur, u n u m infinitum, alterum certum. Infinitum mihi videbatur id dicere, in quo aliquid generatim quaereretur, hoc m o d o : "expetendane esset eloquentia? expetendine honores?" C e r t u m autem, in quo quid in personis et in constituta re et definita quaereretur; cuius modi sunt, quae in foro atque in civium causis disceptationibusque versantur. Ea mihi videntur aut in lite oranda aut in consilio dando esse posita. N a m illud tertium, quod et a Crasso tactum est et, ut audio, ille ipse Aristoteles, qui haec maxime inlustravit, adiunxit, etiamsi opus est, minus est tamen necessarium.'

' Q u i d n a m ' inquit Catulus, 'an laudationes? Id enim video poni genus tertium.' 'Ita' inquit Antonius 'et in eo quidem genere scio et me et o m nes, qui adfuerunt, delectatos esse vehementer, cum a te est Popilia mater vestra laudata, cui primum mulieri hunc honorem in nostra civitate tributum puto. Sed non omnia, quaecumque loquimur, mihi videntur ad artem et ad praecepta esse revocanda. Ex iis enim fontibus, unde omnia ornate dicendi praecepta sumuntur, licebit etiam laudationem ornare neque ilia elementa desiderare, quae ut nemo tradat, quis est, qui nesciat, quae sint in homine laudanda? Positis enim his rebus, quas Crassus in illius orationis suae, quam contra collegam censor habuit, principio dixit: Q u a e natura aut fortuna darentur hominibus, in iis rebus se vinci posse animo aequo pati; quae ipsi sibi homines parare possent, in iis rebus se pati non posse vinci, - qui laudabit quempiam, intelleget exponenda sibi esse fortunae bona. Ea sunt generis, pecuniae, propinquorum, amicorum, o p u m , valetudinis, formae, virium, ingeni et ceterarum rerum, quae sunt aut corporis aut extraneae. Si habuerit, bene rebus iis usum; si non habuerit, sapienter caruisse; si amiserit, moderate tulisse. Deinde, quid sapienter is, quem laudet, quid liberaliter, quid fortiter, quid iuste, quid magnifice, quid pie, quid grate, quid humaniter, quid denique cum aliqua virtute aut fecerit aut tule-

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festgestellt, was die meisten Griechen festgestellt haben, aber freilich nicht seine eigene Ansicht dargelegt, sondern die Äußerungen jener: Es gebe zwei Hauptgattungen von Streitfragen, mit denen sich die Beredsamkeit beschäftige, die eine sei unbestimmt, die andere konkret. (42) Unbestimmt schien er mir die Gattung zu nennen, in welcher etwas allgemein untersucht wird, z.B. auf folgende Weise: >Ist die Beredsamkeit erstrebenswert? Sind Ehrenämter erstrebenswert?* Konkret aber nannte er die, in welcher etwas in Bezug auf Personen und einen festgesetzten und definierten Sachverhalt untersucht wird; von dieser Art sind die Fragen, die auf dem Forum und in Prozessen und Auseinandersetzungen der Bürger behandelt werden. (43) Diese scheinen mir vorzuliegen, wenn man entweder in einem Rechtsstreit eine Rede hält oder einen Rat erteilt. Denn jene dritte Gattung, die von Crassus kurz angesprochen wurde, und die, wie ich höre, der berühmte Aristoteles selbst, der dieses Gebiet am meisten beleuchtet hat, hinzufügte, ist, auch wenn sie sinnvoll ist, trotzdem weniger notwendig.« Welche denn?« fragte Catulus, »etwa die Lobreden? Diese betrachtet man, wie ich sehe, als dritte Gattung.« (44) »So ist es«, erwiderte Antonius, »und was nun diese Gattung angeht, weiß ich, dass ich und alle Anwesenden ungemein beeindruckt waren, als von dir eine Lobrede auf eure Mutter Popilia gehalten wurde; ihr als Frau wurde, glaube ich, diese Ehre zum ersten Mal in unserem Staat zuteil. Aber nicht alles, was wir sprechen, sollte man, wie mir scheint, auf Kunstregeln zurückführen. (45) Aus den Quellen nämlich, aus welchen man alle Vorschriften für eine schmuckvolle Rede nimmt, darf man auch den Redeschmuck für eine Lobrede entnehmen, ohne jene Grundregeln zu vermissen; denn wenn auch niemand diese lehren sollte, gäbe es dann jemanden, der nicht wüsste, was an einem Menschen Lob verdient? Wenn man nämlich das zugrunde legt, was Crassus zu Beginn jener Rede, die er als Zensor gegen seinen Amtskollegen hielt, sagte: In den Dingen übertroffen zu werden, die den Menschen von der Natur oder vom Schicksal gegeben würden, könne er mit Gleichmut ertragen; was aber die Menschen sich selbst erwerben könnten, darin übertroffen zu werden, könne er nicht ertragen - dann wird einer, der auf irgendjemanden eine Lobrede halten will, merken, dass er dessen Glücksgüter darstellen muss. (46) Das sind Herkunft, Vermögen, Verwandte, Freunde, Besitz, Gesundheit, Schönheit, Kraft, Begabung und die übrigen körperlichen oder äußeren Vorzüge. Besaß er sie, dann sage man, er habe diese Vorzüge gut angewendet; besaß er sie nicht, er habe ihrer weise entsagt; verlor er sie, er habe es mit Fassung ertragen. Dann sage man, was der, auf den man eine Lobrede hält, weise, was mit Edelmut, was tapfer, was gerecht, was hochherzig, was in Gottesfurcht, was in Dankbarkeit, was mit Menschenfreundlichkeit, was er schließlich mit irgendeiner Tugend getan

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rit. H a e c et quae sunt eius generis facile videbit, qui volet laudare, et qui vituperare, contraria.' ' C u r igitur dubitas' inquit Catulus 'facere h o c tertium genus,

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quoniam inest in ratione rerum? N o n enim, si est facilius, eo de n u m e r o quoque est excerpendum.' ' Q u i a n o l o ' inquit 'omnia, quae cadunt aliquando in orator e m , quamvis exigua sint, ea sic tractare, quasi nihil possit dici sine praeceptis suis. N a m et testimonium saepe dicendum est ac

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n o n n u n q u a m etiam accuratius, ut mihi etiam necesse fuit in Sex. T i t i u m , seditiosum civem et turbulentum. Explicavi in e o testim o n i o dicendo omnia consilia consulatus mei, quibus illi trib u n o plebis pro re publica restitissem, quaeque ab eo contra rem publicam facta arbitrarer, exposui; diu retentus sum, multa audivi, multa respondi. N u m igitur placet, cum de eloquentia praecipias, aliquid etiam de testimoniis dicendis quasi in arte tradere?' 'Nihil sane' inquit Catulus 'necesse est'. ' Q u i d ? Si, quod saepe summis viris accidit, mandata sint ex-

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ponenda aut in senatu ab imperatore aut ad imperatorem aut ad

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regem aut ad populum aliquem a senatu, n u m , quia genere orationis in eiusmodi causis accuratiore est utendum, idcirco etiam pars haec causarum numeranda videtur aut propriis praeceptis instruenda?' ' M i n i m e vero' inquit Catulus; 'non enim deerit homini diserto in eius modi rebus facultas ex ceteris rebus et causis c o m parata.' ' E r g o item' inquit 'ilia, quae saepe diserte agenda sunt et quae

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ego paulo ante, c u m eloquentiam laudarem, dixi oratoris esse, neque habent suum l o c u m ullum in divisione partium neque certum praeceptorum genus, et agenda sunt n o n minus diserte quam quae in lite dicuntur, obiurgatio, cohortatio, consolatio, q u o r u m nihil est, quod n o n summa dicendi ornamenta desideret; sed ex artificio res istae praecepta n o n quaerunt.'

'Plane' inquit Catulus 'adsentior'. 'Age vero' inquit Antonius 'qualis oratoris et quanti hominis in dicendo putas esse historiam scribere?'

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oder ertragen hat. Dies und was dazu gehört, wird einer leicht wahrnehmen, der loben will; wer tadeln will, das Gegenteil.« (47) »Warum also hast du Bedenken«, fragte Catulus, »diese zur dritten Gattung zu machen, da es ja vernünftig und natürlich wäre? Denn wenn sie auch leichter ist, braucht man sie nicht auch aus der Liste herauszunehmen.« »Weil ich nicht alles«, erwiderte er, »was irgendeinmal dem Redner zufällt, mag es auch noch so unbedeutend sein, so behandeln will, als ob man über nichts reden könnte ohne eigene Vorschriften. (48) Denn man muss oft als Zeuge aussagen und manchmal besonders genau, wie ich es tun musste gegen Sextus Titius, einen Aufrührer und Unruhestifter. Bei dieser Zeugenaussage erklärte ich alle Maßnahmen während meines Konsulats, durch die ich jenem Volkstribun zum Wohle des Staates Widerstand leistete, und ich legte dar, was von ihm meiner Meinung nach gegen den Staat unternommen wurde. Lange wurde ich hierbei aufgehalten, vieles musste ich mir anhören, vieles beantworten. Findest du es nun etwa gut, dass man, wenn man Vorschriften über die Beredsamkeit erteilt, auch hinsichtlich der Zeugenaussagen gewissermaßen in Form eines wissenschaftlichen Systems belehrt?« »Das ist überhaupt nicht nötig«, erwiderte Catulus. (49) »Wie? Wenn Botschaften übermittelt werden müssen, eine Aufgabe, die oft bedeutende Männer trifft, entweder im Senat von einem Feldherrn oder an einen Feldherrn, an einen König, an irgendein Volk vom Senat, muss man deswegen, weil man in derartigen Fällen eine besonders sorgfältige Redeweise pflegen muss, wohl auch diese als eine eigene Gruppe von Fällen zählen oder mit eigenen Vorschriften versehen?« »Nein, ganz und gar nicht«, erwiderte Catulus; »nicht im Stiche lassen wird nämlich einen redegewandten Mann bei derartigen Anlässen die Fähigkeit, die er sich aus den übrigen Anlässen und Fällen verschafft hat.« (50) »Also haben auch jene Themen«, fuhr Antonius fort, »die oft redegewandt vorgetragen werden müssen und die, wie ich kurz zuvor, als ich die Beredsamkeit pries, sagte, zum Aufgabenbereich des Redners gehören, keinen eigenen Platz bei der Untergliederung der Arten und keine feste Gattung von Vorschriften; und doch müssen sie nicht weniger redegewandt vorgetragen werden als die Reden in einem Rechtsstreit, die Schelte, die Ermahnung, die Tröstung. Darunter gibt es keine, die nicht den reichsten Redeschmuck verlangte; aber aus dem theoretischen System haben sie keine Vorschriften nötig.« »Ganz und gar stimme ich dir zu«, warf Catulus ein. (51) »Und weiter«, sagte Antonius, »was für eines Redners und was für eines in der sprachlichen Darstellung bedeutenden Mannes bedarf es nach deiner Meinung, um Geschichte zu schreiben?«

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'Si, ut Graeci scripserunt, summi' inquit Catulus; 'si, ut nostri, nihil opus est oratore; satis est non esse mendacem'.

'Atqui ne nostras contemnas,' inquit Antonius 'Graeci quoque ipsi sic initio scriptitarunt, ut noster Cato, ut Pictor, ut Piso. Erat enim historia nihil aliud nisi annalium confectio, cuius rei memoriaeque publicae retinendae causa ab initio rerum Romanarum usque ad P. Mucium pontificem maximum res omnis singulorum annorum mandabat litteris pontifex maximus efferebatque in album et proponebat tabulam domi, potestas ut esset populo cognoscendi; ii, qui etiam nunc annales maximi nominantur. Hanc similitudinem scribendi multi secuti sunt, qui sine ullis ornamentis monumenta solum temporum, hominum, locorum, gestarumque rerum reliquerunt. Itaque qualis apud Graecos Pherecydes, Hellanicus Acusilas fuit aliique permulti, talis noster Cato et Pictor et Piso, qui neque tenent, quibus rebus ornetur oratio - modo enim hue ista sunt importata - et, dum intellegatur, quid dicant, unam dicendi laudem putant esse brevitatem. Paulum se erexit et addidit maiorem historiae sonum vocis vir optimus, Crassi familiaris, Antipater; ceteri non exornatores rerum, sed tantummodo narratores fuerunt'.

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'Est,' inquit Catulus 'ut decis. Sed iste ipse Coelius neque distinxit historiam varietate locorum neque verborum conlocatione et tractu orationis levi et aequabili perpolivit illud opus, sed ut homo neque doctus neque maxime aptus ad dicendum, sicut potuit, dolavit; vicit tamen, ut dicis, superiores.'

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'Minime mirum,' inquit Antonius 'si ista res adhuc nostra lingua inlustrata non est. Nemo enim studet eloquentiae nostrorum hominum, nisi ut in causis atque ut in foro eluceat; apud Graecos autem eloquentissimi homines, remoti a causis forensibus, cum ad ceteras res inlustris tum ad historiam scribendam maxime se applicaverunt. Namque et Herodotum ilium, qui princeps genus hoc ornavit, in causis nihil omnino versatum esse accepimus; atqui tanta est eloquentia, ut me quidem, quantum ego Graece scripta intellegere possum, magno opere de-

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»Wenn es in der A r t der griechischen Geschichtsschreiber geschehen soll, bedarf es der bedeutendsten«, erwiderte Catulus, »wenn in der A r t unserer Landsleute, braucht man überhaupt keinen Redner; es genügt, dass m a n nicht lügt.« »Gleichwohl aber, damit du nicht unsere Landsleute verachtest«, sagte Antonius, »auch die Griechen selbst haben anfangs so geschrieben wie unser C a t o , wie Pictor, wie Piso. ( 5 2 ) Geschichtsschreibung war nämlich nichts anderes als das Verfassen von Jahrbüchern; zu diesem Z w e c k und u m die E r innerung an öffentliche Angelegenheiten zu bewahren, hielt v o m Beginn der römischen Geschichte an bis z u m Oberpriester Publius Mucius der O b e r priester alle Ereignisse der einzelnen Jahre schriftlich fest, übertrug sie auf eine weiße Tafel und stellte diese Tafel in seinem H a u s auf, damit das Volk die Möglichkeit hatte, Einsicht zu n e h m e n ; es sind die Jahrbücher, die auch jetzt noch Haupt-Jahrbücher heißen. (53) Dieser A r t von Niederschrift folgten viele, die o h n e irgendwelche Ausschmückungen nur Erinnerungen an Zeiten, M e n s c h e n , O r t e , Ereignisse hinterließen. Von welcher A r t also bei den Griechen Pherekydes, Hellanikos, Akusilaos und sehr viele andere waren, von der gleichen Art sind unser C a t o , Pictor und Piso; sie beherrschen nicht die Mittel, durch welche m a n eine R e d e ausschmückt - erst kürzlich nämlich wurden diese hier eingeführt - und wenn m a n nur versteht, was sie sagen, glauben sie, der einzige Vorzug der R e d e sei die K ü r z e . (54) Ein wenig h o b sich Antipater, ein vorzüglicher M a n n , ein vertrauter Freund des Crassus, heraus und verlieh der Geschichtsschreibung einen volleren T o n ; die übrigen stellten die Ereignisse nicht mit schmückenden Worten dar, sondern waren nur einfache Erzähler.« » E s ist s o , wie du sagst«, warf Catulus ein, »aber auch selbst dieser C o e lius hat die Geschichtsschreibung weder durch eine abwechslungsreiche A r gumentation verfeinert noch sie durch die Wortstellung und einen glatten und gleichmäßigen Redefluss sein Werk ausgefeilt, sondern als ungelehrter und für das Reden nicht besonders geeigneter M a n n hat er es roh behauen, so gut er k o n n t e ; dennoch hat er, wie du sagst, seine Vorgänger übertroffen.« (55) » E s ist ganz und gar nicht verwunderlich«, entgegnete Antonius, »wenn dieser Gegenstand bis heute in unserer Sprache nicht ins rechte Licht gerückt wurde. Keiner nämlich von unseren Landsleuten strebt nach Beredsamkeit, außer u m in Prozessen und auf dem F o r u m besonders zu glänzen; bei den Griechen aber wandten sich die beredtesten Männer, weit entrückt von den öffentlichen Auseinandersetzungen, auch den übrigen ansehnlichen Gegenständen, ganz besonders aber der Geschichtsschreibung zu. D e n n wie wir wissen, befasste sich der berühmte H e r o d o t , der als erster diese Gattung ausschmückte, überhaupt nicht mit Prozessen; gleichwohl zeichnete er sich so durch seine Beredsamkeit aus, dass diese wenigstens mir Freude bereitet,

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lectet. Et post ilium Thucydides omnis dicendi artificio mea sententia facile vicit; qui ita creber est rerura frequentia, ut verborum prope numerum sententiarura numero consequatur; ita porro verbis est aptus et pressus, ut nescias, utrum res oratione an verba sententiis inlustrentur; atqui ne hunc quidem, quamquam est in re publica versatus, ex numero accepimus eorum, qui causas dictitarunt, et hos ipsos libros turn scripsisse dicitur, cum a re publica remotus atque - id quod optimo cuique Athenis accidere solitum est - in exilium pulsus esset. Hunc consecutus est Syracusius Philistus, qui cum Dionysi tyranni familiarissimus esset, otium suum consumpsit in historia scribenda maximeque Thucydiden est, ut mihi videtur, imitatus. Postea vero ex clarissima quasi rhetoris officina duo praestantes ingenio, Theopompus et Ephorus, ab Isocrate magistro impulsi se ad historiam contulerunt, causas omnino numquam attigerunt. Denique etiam a philosophia profectus princeps Xenophon Socraticus ille, post ab Aristotele Callisthenes comes Alexandri scripsit historiam, et is quidem rhetorico paene more; ille autem superior leniore quodam sono est usus et qui ilium impetum oratoris non habeat, vehemens fortasse minus, sed aliquanto tarnen est, ut mihi quidem videtur, dulcior. Minimus natu horum omnium Timaeus, quantum autem iudicare possum, longe eruditissimus et rerum copia et sententiarum varietate abundantissimus et ipsa compositione verborum non impolitus magnam eloquentiam ad scribendum attulit, sed nullum usum forensem.'

Haec cum ille dixisset, 'quid est,' inquit 'Catule?' Caesar; 'ubi sunt, qui Antonium Graece negant scire? Q u o t historicos nominavit! Q u a m scienter, quam proprie de uno quoque dixit!' 'Id mehercule' inquit Catulus 'admirans illud iam mirari desino, quod multo magis ante mirabar, hunc, cum haec nesciret, in dicendo posse tantum.' 'Atqui, Catule' inquit Antonius 'non ego utilitatem aliquam ad dicendum aucupans horum libros et nonnullos alios, sed de-

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soweit ich griechische Schriften verstehen kann. (56) Und nach ihm übertraf Thukydides nach meiner Meinung alle leicht an sprachlichem Können; er ist so reich an einer großen Menge von Gegenständen, dass er die Anzahl der Worte beinahe durch die Anzahl seiner Gedanken erreicht; weiterhin ist seine Ausdrucksweise so treffend und knapp, dass man nicht weiß, ob der Sachverhalt durch die sprachliche Gestaltung oder die Worte durch die Gedanken ins rechte Licht gerückt werden; gleichwohl gehörte, wie wir wissen, nicht einmal dieser, obwohl er sich politisch betätigte, zu denjenigen, für die es zur Gewohnheit wurde, vor Gericht zu sprechen, und gerade diese Bücher soll er damals geschrieben haben, als er aus der Politik entfernt und - was in Athen gerade den Besten zu widerfahren pflegte - in die Verbannung getrieben worden war. (57) Auf ihn folgte der Syrakusaner Philistos, der, obwohl er mit dem Tyrannen Dionysios sehr eng befreundet war, seine Freizeit damit verbrachte, Geschichtsbücher zu schreiben; am meisten hat er, wie mir scheint, Thukydides nachgeahmt. Später aber wandten sich zwei hervorragend begabte Männer, die gewissermaßen aus einer hochberühmten Rhetorenschmiede hervorgingen, Theopompos und Ephoros, auf Drängen ihres Lehrers Isokrates der Geschichtsschreibung zu; mit Prozessen befassten sie sich nie auch nur im geringsten. (58) Schließlich schrieb als erster Mann, der von der Philosophie kam, der berühmte Sokratiker Xenophon Geschichte; später aus der Schule des Aristoteles Kallisthenes, der zum Gefolge Alexanders gehörte, und zwar fast in rhetorischer Art; der Erstgenannte aber pflegte einen gemäßigteren Ton, und da dieser nicht den vorwärts drängenden Schwung wie bei einem Redner hatte, war er vielleicht weniger stürmisch, aber dennoch ist er, wie mir wenigstens scheint, um einiges reizvoller. Der jüngste von diesen allen, Timaios, war, wenigstens soweit ich es beurteilen kann, der bei weitem gebildetste und besaß die reichste sachliche Fülle und gedankliche Vielfalt und schon bei der Fügung der Worte fehlte es ihm nicht an feinem Geschmack; so brachte er große Beredsamkeit zum Schreiben mit, aber keine praktische Erfahrung vor Gericht.« (59) Nach diesen Worten des Antonius warf Caesar ein: »Wie steht es, mein Catulus? Wo sind die Leute, die behaupten, Antonius könne kein Griechisch? Wie viele Geschichtsschreiber hat er genannt! Wie sachkundig, wie angemessen hat er über jeden Einzelnen gesprochen!« »Beim Herkules«, erwiderte Catulus, »indem ich das bewundere, wundere ich mich schon gar nicht mehr da über das, worüber ich mich vorher noch viel mehr gewundert habe, dass nämlich dieser Mann, obwohl er diese Dinge angeblich nicht kennt, als Redner so viel leistet.« »Gleichwohl, mein Catulus«, sprach Antonius, »nicht weil ich auf irgendeinen Nutzen für die Rede aus bin, pflege ich die Bücher dieser Männer und manch andere zu lesen, wenn ich Muße habe, sondern zur Unterhaltung.

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lectationis causa, cum est otium, legere soleo. Q u i d ergo est? Fatebor, aliquid tarnen; ut cum in sole ambulem, etiam si ego aliam ob causam ambulem, fieri natura tarnen, ut colorer, sic, cum istos libros ad Misenum - nam Romae vix licet - studiosius legerim, sentio illorum tactu orationem meam quasi colorari. Sed ne latius hoc vobis patere videatur, haec dumtaxat in Graecis intellego, quae ipsi, qui scripserunt, voluerunt vulgo intellegi. In philosophos vestros si quando incidi, deceptus indicibus librorum, quod sunt fere inscripti de rebus notis et inlustribus, de virtute, de iustitia, de honestate, de voluptate, verbum prorsus nullum intellego; ita sunt angustis et concisis disputationibus inligati. Poetas omnino quasi alia quadam lingua locutos non conor attingere. C u m iis me, ut dixi, oblecto, qui res gestas aut orationes scripserunt suas aut qui ita loquuntur, ut videantur voluisse esse nobis, qui non sumus eruditissimi, familiares.

Sed illuc redeo. Videtisne, quantum munus sit oratoris historia? Haud scio an flumine orationis et varietate maximum; neque earn reperio usquam separatim instructam rhetorum praeceptis; sita sunt enim ante oculos. N a m quis nescit primam esse historiae legem, ne quid falsi dicere audeat? Deinde, ne quid veri non audeat, ne qua suspicio gratiae sit in scribendo, ne qua simultatis? Haec scilicet fundamenta nota sunt omnibus. Ipsa autem exaedificatio posita est in rebus et verbis. Rerum ratio ordinem temporum desiderat, regionum descriptionem; volt etiam, quoniam in rebus magnis memoriaque dignis consilia primum, deinde acta, postea eventus expectantur, et de consiliis significari, quid scriptor probet, et in rebus gestis declarari non solum, quid actum aut dictum sit, sed etiam quomodo, et cum de eventu dicatur, ut causae explicentur omnes vel casus vel sapientiae vel temeritatis hominumque ipsorum non solum res gestae, sed etiam, qui fama ac nomine excellant, de cuiusque vita atque natura. Verborum autem ratio et genus orationis fusum atque tractum et cum levitate quadam aequabiliter profluens sine

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(60) Was bringt es also? Ich gebe zu, irgendetwas auf jeden Fall. Wie ich bei einem Spaziergang in der Sonne, auch wenn ich aus einem anderen Grunde spazieren gehe, trotzdem naturgemäß Farbe bekomme, so bekommt meine Rede, wie ich wahrnehme, dadurch, dass ich diese Bücher bei Misenum denn in Rom ist es mir kaum vergönnt - recht aufmerksam lese, durch die Auseinandersetzung mit ihnen gewissermaßen Farbe. Aber damit nicht der Eindruck bei euch entsteht, es gehe noch weiter, füge ich hinzu: Genau genommen verstehe ich bei den Griechen nur das, was die Verfasser von jedermann verstanden wissen wollten. (61) Bin ich einmal an eure Philosophen geraten, getäuscht durch die Titel ihrer Bücher - in der Regel künden diese von bekannten und bedeutenden Gegenständen, von Tugend, Gerechtigkeit, Ehrenhaftigkeit, Lust - , dann verstehe ich überhaupt kein Wort: Die sind so vertrackt wegen ihrer schwierigen und abgehackten Darstellung. Mit Dichtern aber, die gewissermaßen in einer anderen Sprache gesprochen haben, versuche ich überhaupt nicht in Berührung zu kommen. Ich ergötze mich, wie gesagt, an denen, die Geschichte oder ihre eigenen Reden aufgeschrieben haben oder die so sprechen, dass es scheint, sie wollten auch Leuten wie mir, die nicht sehr gebildet sind, vertraut sein. (62) Aber ich kehre zu dem zurück, was ich oben gesagt habe. Seht ihr nicht, was für eine schwierige Aufgabe für den Redner die Geschichtsschreibung ist? Was den Redefluss und die Abwechslung angeht, vielleicht die schwierigste. Aber ich finde sie nirgends mit speziellen Vorschriften der Rhetoren bedacht; sie liegen nämlich vor unseren Augen. Denn wer wüsste nicht, dass das erste Gesetz für die Geschichtsschreibung lautet, sie dürfe nicht wagen, etwas Falsches zu sagen, das zweite, sie dürfe nicht wagen, etwas Wahres nicht zu sagen, damit nicht der Verdacht entsteht, beim Schreiben habe Sympathie eine Rolle gespielt oder Feindschaft? (63) Diese Grundlagen sind natürlich allen bekannt. Der Aufbau aber beruht auf dem Stoff und den Worten. Das Wesen des Stoffes verlangt die zeidiche Ordnung und die Beschreibung der Landschaften; und da ja bei bedeutenden und denkwürdigen Begebenheiten erstens die Absichten, zweitens die Taten und dann die Ergebnisse Aufmerksamkeit erregen, fordert sie auch, was die Absichten angeht, dass ein Hinweis gegeben wird, was der Verfasser billigt, was das Geschehen angeht, dass nicht nur dargelegt wird, was getan oder gesagt wurde, sondern auch wie, und wenn vom Ergebnis gesprochen wird, dass alle Ursachen erläutert werden, ob sie auf Zufall, Klugheit oder Unbesonnenheit beruhen, und im Hinblick auf die Menschen selbst muss nicht nur über das, was geschehen ist, berichtet werden, sondern wenn sie durch Ruhm und ihren Namen herausragen, auch über ihr Leben und den Charakter eines jeden. (64) Was aber das Wesen der Darstellung und die Art der sprachlichen Gestaltung angeht, soll man einen Stil anstreben, der aus einem Guss und

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hac iudiciali asperitate et sine sententiarum forensibus aculeis persequendum est. Harum tot tantarumque rerum videtisne nulla esse praecepta, quae in artibus rhetorum reperiantur?

In eodem silentio multa alia oratorum officia iacuerunt, cohortationes, consolationes, praecepta, admonita; quae tractanda sunt omnia disertissime, sed locum suum in iis artibus, quae traditae sunt, habent nullum. Atque in hoc genere ilia quoque est infinita silva, quod oratori plerique, ut etiam Crassus ostendit, duo genera ad dicendum dederunt: unum de certa definitaque causa, quales sunt, quae in litibus, quae in deliberationibus versantur - addat, si quis volet, etiam laudationes - ; alteram, quod appellant omnes fere scriptores, explicat nemo, infinitam generis sine tempore et sine persona quaestionem. Hoc quid et quantum sit, cum dicunt, intellegere mihi non videntur. Si enim est oratoris, quaecumque res infinite posita sit, de ea posse dicere, dicendum erit ei, quanta sit solis magnitudo, quae forma terrae; de mathematicis, de musicis rebus non poterit, quin dicat hoc onere suscepto recusare. Denique ei, qui profitetur esse suum non solum de eis controversiis, quae temporibus et personis notatae sunt, hoc est de omnibus forensibus, sed etiam de generum infinitis quaestionibus dicere, nullum potest esse genus orationis, quod sit exceptum. Sed si illam quoque partem quaestionum oratori volumus adiungere vagam et liberam et late patentem, ut de rebus bonis aut malis, expetendis aut fugiendis, honestis aut turpibus, utilibus aut inutilibus, de virtute, de iustitia, de continentia, de prudentia, de magnitudine animi, de liberalitate, de pietate, de amicitia, de officio, de fide, de ceteris virtutibus contrariisque vitiis dicendum oratori putemus - itemque de re publica, de imperio, de re militari, de disciplina civitatis, de hominum moribus - adsumamus eam quoque partem, sed ita, ut sit circumscripta modicis regionibus. Equidem om-

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nicht holprig ist und mit einer gewissen Glätte gleichmäßig dahinfließt ohne die verletzende Härte wie vor Gericht und ohne die Schärfe der Richtersprüche. Seht ihr nicht, dass es für diese so vielen und wichtigen Gegenstände keine Vorschriften gibt, die man in den systematischen Lehrbüchern der Rhetoren finden könnte? Ebenso sind viele andere Aufgaben der Redner, weil man über sie geschwiegen hat, unbeachtet geblieben, die Ermahnungen, Tröstungen, Anweisungen, Warnungen; diese sollen alle mit der größten Redegewandtheit behandelt werden, haben aber in den theoretischen Systemen, die überliefert sind, keinen eigenen Platz. (65) Und zu diesem Bereich gehört auch jene grenzenlose Fülle nie behandelter Stoffe; denn die meisten haben, wie auch Crassus gezeigt hat, zwei Arten von Themen vorgegeben, über die man sprechen sollte: Die eine bezieht sich auf einen konkreten, näher bestimmten Fall; von dieser Art sind die Reden, wie sie in einem Rechtsstreit und wie sie in einer beratenden Versammlung gehalten werden; - wenn man will, mag man auch die Lobreden hinzufügen. Die andere Art, welche fast alle Verfasser von Lehrbüchern nennen, aber keiner erklärt, ist die unbestimmte, allgemeine Untersuchung ohne die Angabe eines Zeitpunktes und einer handelnden Person. Was und wie bedeutend diese Art ist, verstehen sie, wie mir scheint, nicht, wenn sie sie ansprechen. (66) Wenn es nämlich Aufgabe des Redners ist, über jedes unbestimmt formulierte Thema sprechen zu können, wird er über die Größe der Sonne und die Gestalt der Erde sprechen müssen; er wird sich auch nicht weigern können, über mathematische, über musikalische Themen zu sprechen, wenn er diese Last auf sich genommen hat. Schließlich kann es für den, welcher verheißt, es gehöre zu seinem Metier, nicht nur über Auseinandersetzungen, die durch die Zeit und durch die Person genau bestimmt sind, d.h. über alle Angelegenheiten des Forums, sondern auch über allgemeine, unbestimmte Fragen zu sprechen, keine Redegattung geben, die ausgenommen wäre. (67) Aber wenn wir auch jene Art von Fragen dem Redner zuweisen wollen, die nicht auf ein bestimmtes Ziel gerichtet und uneingeschränkt ist und sich weit erstreckt, so dass er, der Redner - so wollen wir annehmen - , über das Gute oder Schlechte, das Erstrebenswerte oder das, was man meiden soll, das Ehrenhafte oder Schimpfliche, das Nützliche oder Nutzlose, über Tugend, über Gerechtigkeit, über Selbstbeherrschung, über Klugheit, über hochherzige Gesinnung, über Edelmut, über Ehrfurcht, über Freundschaft, über Pflichtgefühl, über Zuverlässigkeit und über die übrigen Tugenden und die ihnen gegensätzlichen Laster sprechen muss - ebenso über Politik, über die Herrschaft, über das Kriegswesen, über die Staatsverfassung und über das Verhalten der Menschen - , dann wollen wir auch diese Art hinzunehmen, aber so, dass sie auf ein überschaubares Gebiet beschränkt ist. (68) Nach meiner Ansicht allerdings muss der Redner

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nia, quae pertinent ad usum civium, morem hominum, quae versantur in consuetudine vitae, in ratione rei publicae, in hac societate civili, in sensu hominis communi, in natura, in moribus, comprehendenda esse oratori puto; si minus, ut separatim de iis rebus philosophorum more respondeat, at certe, ut in causa prudenter possit intexere; hisce autem ipsis de rebus ut ita Ioquatur, uti ei, qui iura, qui leges, qui civitates constituerunt, locuti sunt, simpliciter et splendide, sine ulla serie disputationum et sine ieiuna concertatione verborum. Hoc loco ne qua sit admiratio, si tot tantarumque rerum nulla a me praecepta ponentur, sic statuo: Ut in ceteris artibus, cum tradita sint cuiusque artis difficillima, reliqua, quia aut faciliora aut similia sunt, tradi non necesse esse; ut in pictura, qui hominum speciem pingere perdidicerit, posse eum cuiusvis vel formae vel aetatis, etiam si non didicerit, pingere neque esse periculum, qui leonem aut taurum pingat egregie, ne idem in multis aliis quadrupedibus facere non possit - neque est omnino ars ulla, in qua omnia, quae ilia arte effici possint, a doctore tradantur, sed qui primarum et certarum rerum genera ipsa didicerunt, reliqua per se adsequuntur - similiter arbitror in hac sive ratione sive exercitatione dicendi, qui illam vim adeptus sit, ut eorum mentes, qui aut de re publica aut de ipsius rebus aut de iis, contra quos aut pro quibus dicat, cum aliqua statuendi potestate audiant, ad suum arbitrium movere possit, ilium de toto illo genere reliquarum orationum non plus quaesiturum esse, quid dicat, quam Polyclitum ilium, cum Herculem fingebat, quem ad modum pellem aut hydram fingeret, etiam si haec numquam separatim facere didicisset.'

Tum Catulus 'praeclare mihi videris, Antoni, posuisse' inquit 'ante oculos, quid discere oporteret eum, qui orator esset futurus, quid, etiam si non didicisset, ex eo, quod didicisset, adsumeret. Deduxisti enim totum hominem in duo genera solum causarum, cetera innumerabilia exercitationi et similitudini reliquisti. Sed videto, ne in istis duobus generibus hydra tibi sit et pellis, Hercules autem et alia opera maiora in illis rebus, quas

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alles erfassen, was in Beziehung steht zu den praktischen Bedürfnissen der Bürger und dem Verhalten der Menschen, was zum gewohnten Leben, zum Funktionieren des staatlichen Lebens, zu dieser unserer bürgerlichen Gesellschaft, zum allgemeinen menschlichen Empfinden, zur Natur, zu den Sitten gehört; wenn schon nicht so, dass er nach Art der Philosophen eigens über diese Gegenstände Auskunft erteilt, doch sicher so weit, dass er sie sachkundig in einen Fall einflechten kann. Über diese Gegenstände selbst aber soll er so sprechen, wie diejenigen gesprochen haben, welche die Gesetze und Staaten geschaffen haben, einfach und lebendig, ohne eine Kette von Erörterungen und ohne ein unfruchtbares Wortgefecht. (69) Damit man sich jetzt nicht wundert, wenn für so viele und so bedeutende Gegenstände von mir keine Vorschriften festgelegt werden, stelle ich Folgendes fest: In den übrigen Fachgebieten muss man, wenn die schwierigsten Punkte eines jeden Fachgebietes vermittelt sind, nicht notgedrungen auch die übrigen Punkte vermitteln, weil sie leichter oder ähnlich sind; so kann z.B. in der Malerei derjenige, welcher gründlich gelernt hat, die Gestalt von Menschen zu malen, Menschen jeden beliebigen Aussehens und jeden Alters malen, auch wenn er es nicht gelernt hat, und es besteht keine Gefahr, dass jemand, der einen Löwen oder einen Stier hervorragend malt, nicht in der Lage ist, dasselbe auch bei vielen anderen Vierbeinern zu tun - es gibt auch überhaupt kein Fachgebiet, in dem alles, was in jenem Fachgebiet erreicht werden kann, von einem Lehrer vermittelt wird, sondern wer die allgemeinen Kategorien der wichtigsten, unveränderlichen Grundsätze gelernt hat, erfasst auch die übrigen. (70) Ähnlich ist es mit der theoretischen Beherrschung oder praktischen Anwendung der Redekunst: Ich glaube, wer jene Kraft errungen hat, dass er das Gemüt der Zuhörer, welche die Befugnis besitzen, eine Entscheidung zu treffen auf politischem Gebiet oder gerade in seinen Angelegenheiten oder in denen derjenigen Menschen, gegen die oder für die er spricht, in seinem Sinne erregen kann, der wird auf dem ganzen Gebiet der übrigen Redeformen nicht mehr nach dem fragen, was er reden soll, als der berühmte Polyklet: dieser fragte damals, als er an einer Statue des Herakles arbeitete, nicht, wie er das Löwenfell oder die Hydra bilden solle, auch wenn er nie eigens gelernt hatte, wie man diese anfertigt.« (71) Hierauf sagte Catulus: »Vortrefflich, scheint mir, mein Antonius, hast du uns vor Augen gestellt, was derjenige, welcher Redner werden möchte, lernen muss, und was er, auch wenn er es nicht gelernt hat, aus dem, was er gelernt hat, zu Hilfe nehmen kann. Du hast ihn nämlich ganz und gar auf nur zwei Gattungen von Fällen reduziert, die übrigen unzähligen Gattungen hast du der Übung und Analogie überlassen. Aber du musst auch zusehen, dass nicht in diesen zwei Gattungen für dich die Hydra und das Fell stecken, Herakles aber und andere bedeutendere Aufgaben bei den übrigen verblei-

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praetermittis, relinquantur. N o n enim mihi minus operis videtur de universis generibus rerum quam de singulorum causis ac multo etiam maius de natura deorum quam de hominum litibus dicere.' ' N o n est ita' inquit Antonius; 'dicam enim tibi, Catule, non tam doctus quam, id quod est maius, expertus. O m n i u m ceterarum rerum oratio, mihi crede, ludus est homini non hebeti neque inexercitato nec communium litterarum et politioris humanitatis experti; in causarum contentionibus m a g n u m est q u o d d a m opus atque haud sciam an de humanis operibus longe m a x i m u m . In quibus vis oratoris plerumque ab i m p e n d s exitu et victoria iudicatur; ubi adest armatus adversarius, qui sit et feriendus et repellendus; ubi saepe is, qui rei dominus futurus est, alienus atque iratus aut etiam amicus adversario et inimicus tibi est; cum aut docendus is est aut dedocendus aut reprimendus aut incitandus aut omni ratione ad tempus, ad causam oratione moderandus - in quo saepe benivolentia ad odium, odium autem ad benivolentiam deducendum est - ; qui tamquam machinatione aliqua tum ad severitatem, tum ad remissionem animi, tum ad tristitiam, tum ad laetitiam est contorquendus; O m n i u m sententiarum gravitate, omnium verborum ponderibus est utend u m ; accedat oportet actio varia, vehemens, plena animi, plena spiritus, plena doloris, plena veritatis. In his operibus si quis ilIam artem comprehenderit, ut tamquam Phidias Minervae sign u m efficere possit, non sane, quem ad m o d u m , ut in clipeo idem artifex, minora ilia opera facere discat, laborabit.'

T u m Catulus ' Q u o ista maiora ac mirabiliora fecisti, eo me maior expectatio tenet, quibusnam rationibus, quibusque praeceptis ea tanta vis comparetur; non quo mea quidem iam intersit - neque enim aetas id mea desiderat et aliud q u o d d a m genus dicendi nos secuti s u m u s , qui numquam sententias de manibus iudicum vi quadam orationis extorsimus ac potius placatis eorum animis tantum, quantum ipsi patiebantur, accepimus - sed tamen ista tua nullum ad u s u m m e u m , tantum cognoscendi studio adductus requiro. N e c mihi opus est Graeco aliquo doctore, qui mihi pervolgata praecepta decantet, cum ipse numquam fo-

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ben, die du übergehst. Es erfordert nämlich keine geringere Mühe, scheint mir, über allgemeine Gegenstände als über die Fälle Einzelner zu sprechen, und es ist viel wichtiger, über die Natur der Götter als über Streitigkeiten unter Menschen zu sprechen.« (72) »Nein, so verhält es sich nicht«, erwiderte Antonius; »das will ich dir aber, mein Catulus, weniger aufgrund meiner theoretischen Bildung als, was wichtiger ist, aufgrund meiner praktischen Erfahrung sagen. Über alle anderen Gegenstände, glaube mir, ist die Rede nur ein Spiel für einen Mann, wenn er nicht stumpfsinnig, nicht ungeübt ist und allgemein zugängliche wissenschaftliche Kenntnisse und eine feinere Bildung besitzt; in den Wortgefechten bei Gerichtsverfahren aber ist sie eine schwierige Arbeit und vielleicht die weitaus schwierigste von den menschlichen Arbeiten. In diesen wird die Kraft des Redners von den Laien meistens nach dem Ausgang und Sieg beurteilt; dort gibt es einen gewappneten Gegner, den man treffen und zurückschlagen muss; dort ist der, welcher in der Sache entscheiden wird, oft uninformiert und erzürnt oder auch ein Freund des Gegners und dein Feind; wenn man diesen informieren, von seinen Vorurteilen abbringen, in die Schranken weisen, aufstacheln oder auf jede Art und Weise den Umständen und dem Fall entsprechend durch die Rede lenken muss - dabei muss oft Wohlwollen in Hass, Hass aber in Wohlwollen verwandelt werden - ; gleichwie durch ein mechanisches Getriebe muss man ihn bald zu Strenge, bald zu Gelassenheit, bald zu Trauer und bald zu Freude umlenken; (73) man muss den Nachdruck aller Gedanken und das Gewicht aller Worte einsetzen; hinzu kommen muss ein abwechslungsreicher, stürmischer Vortrag, voll Feuer, voll Begeisterung, voll Mitgefühl, voll Glaubwürdigkeit. Wenn jemand in diesen Arbeiten eine solche Fertigkeit gewonnen hat, dass er so wie Phidias eine Statue der Minerva schaffen kann, wird es für ihn in der Tat keine Anstrengung sein zu lernen, auf welche Weise er - wie der eben genannte Künstler am Schild - jene weniger bedeutenden Werke ausführen kann.« (74) Da sprach Catulus: »Je bedeutender und bewundernswerter du diese Punkte dargestellt hast, mit umso größerer Spannung warte ich darauf, durch welche Methoden und durch welche Vorschriften man denn diese große Geschicklichkeit erwerben kann; nicht als ob das für mich noch wichtig wäre - denn in meinem Alter vermisse ich das nicht und ich bin einer ganz anderen Art zu reden gefolgt; niemals habe ich einen Urteilsspruch den Händen der Richter durch die Kraft meiner Rede förmlich entwunden, sondern lieber erhielt ich dadurch, dass ich ihre Herzen besänftigte, nur so viel, wie sie selbst gerne gaben - , aber dennoch frage ich nach deiner Ansicht, nicht zu meinem Nutzen, sondern aus Wissbegierde. (75) Ich brauche auch nicht irgendeinen griechischen Lehrer, der mir allen Menschen wohlbekannte Vorschriften herunterleiert, ohne jemals das Forum, jemals eine Gerichtsver-

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rum, numquam ullum iudicium aspexerit; ut Peripateticus ille dicitur Phormio, cum Hannibel Carthagine expulsus Ephesum ad Antiochum venisset exul proque eo, quod eius nomen erat magna apud omnis gloria, invitatus esset ab hospitibus suis, ut eum, quem dixi, si vellet, audiret; cumque is se non nolle dixisset, locutus esse dicitur homo copiosus aliquot horas de imperatoris officio et de omni re militari. Tum, cum ceteri, qui ilium audierant, vehementer essent delectati, quaerebant ab Hannibale, quidnam ipse de illo philosopho iudicaret. Hic Poenus non optime Graece, sed tarnen libere respondisse fertur mukös se deliros senes saepe vidisse, sed, qui magis quam Phormio deliraret, vidisse neminem. Neque mehercule iniuria! Quid enim aut adrogantius aut loquacius fieri potuit quam Hannibali, qui tot annis de imperio cum populo Romano omnium gentium victore certasset, Graecum hominem, qui numquam hostem, numquam castra vidisset, numquam denique minimam partem ullius publici muneris attigisset, praecepta de re militari dare? Hoc mihi facere omnes isti, qui de arte dicendi praecipiunt, videntur; quod enim ipsi experti non sunt, id docent ceteros. Sed hoc minus fortasse errant, quod non te, ut ille Hannibalem, sed pueros aut adulescentulos docere conantur.'

'Erras, Catule,' inquit Antonius 'nam egomet in multos iam Phormiones incidi. Quis enim est istorum Graecorum, qui quemquam nostrum quicquam intellegere arbitretur? Ac mihi quidem non ita molesti sunt; facile omnis perpetior et perfero. Nam aut aliquid adferunt, quod mihi non displiceat, aut efficiunt, ut me non didicisse minus paeniteat. Dimitto autem eos non tam contumeliose quam philosophum ilium Hannibal, et eo fortasse plus habeo etiam negotii. Sed tarnen est eorum doctrina, quantum ego iudicare possum, perridicula. Dividunt enim totam rem in duas partis, in causae controversiam et in quaestionis. Causam appellant rem positam in disceptatione reorum et controversia, quaestionem autem rem positam in infinita dubitatione. De causa praecepta dant, de altera parte dicendi mirum silentium est. Deinde quinque faciunt quasi membra elo-

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handlung gesehen zu haben. Als Beispiel sei die folgende Anekdote über den bekannten Peripatetiker Phormion erzählt: Als Hannibal nach seiner Vertreibung aus Karthago als Verbannter nach Ephesos zu Antiochos gekommen war, wurde er, da sein N a m e bei allen sehr berühmt war, von seinen Gastgebern eingeladen, den von mir genannten Mann, wenn er wolle, anzuhören. Als er geantwortet hatte, er wolle das gerne, hat jener wortgewaltige Mann so wird erzählt - einige Stunden lang über die Feldherrenpflicht und das gesamte Kriegswesen gesprochen. Als daraufhin seine übrigen Zuhörer vollkommen gefesselt waren, fragte man Hannibal, was er denn von diesem Philosophen halte. D a soll der Punier nicht in bestem Griechisch, aber dennoch freimütig geantwortet haben, er habe schon oft viele schwachsinnige Greise gesehen, aber noch keinen, der größeren Schwachsinn rede als Phormio. (76) U n d das, beim Herkules, nicht zu Unrecht! Denn was hätte es Anmaßenderes und Geschwätzigeres geben können, als wenn dem Hannibal, der s o viele Jahre mit dem römischen Volk, dem Sieger über alle Völker, u m die Herrschaft gekämpft hatte, ein Grieche, der noch nie einen Feind, noch nie ein Feldlager gesehen hatte und schließlich noch nie mit irgendeinem öffentlichen A m t auch nur ganz wenig in Berührung gekommen war, Vorschriften über das Kriegswesen erteilte? D a s scheinen mir aber alle diese Leute, die über die Redekunst Vorschriften erteilen, zu tun; worin sie nämlich selbst keine Erfahrungen gesammelt haben, das lehren sie andere. Aber damit begehen sie vielleicht einen weniger schweren Fehler, weil sie nicht dich, wie jener den Hannibal, sondern nur Knaben und Jugendliche zu belehren versuchen.« (77) » D u irrst, mein Catulus,« erwiderte Antonius, »denn ich für meinen Teil bin schon an viele Leute wie Phormio geraten. Wer nämlich von diesen Griechen da dürfte die Meinung vertreten, einer von uns verstehe irgendetwas ? Aber mir freilich sind sie deswegen nicht lästig; ich erdulde und ertrage sie alle durchaus leicht. Denn entweder bringen sie etwas vor, womit ich einverstanden bin, oder sie schaffen es, dass ich weniger bereue, nicht studiert zu haben. Ich erteile ihnen aber keine so schmachvolle Abfuhr wie Hannibal jenem Philosophen, und dadurch habe ich vielleicht mehr Ärger mit ihnen. Aber dennoch ist ihre Gelehrsamkeit, soweit ich es beurteilen kann, in hohem Maße lächerlich. (78) Sie teilen nämlich das ganze Gebiet in zwei Teile ein, in die Auseinandersetzung in einem speziellen Streitfall und die grundsätzliche Untersuchung. Streitfall nennen sie einen Sachverhalt, dem die konträre Auseinandersetzung der streitenden Parteien zugrunde liegt, grundsätzliche Untersuchung aber einen Sachverhalt, dem ein allgemeines noch unentschiedenes Problem zugrunde liegt. Ü b e r den Streitfall erteilen sie Vorschriften, über die andere Art der Rede herrscht ein sonderbares Schweigen. (79) Danach schaffen sie gewissermaßen fünf Teile der Beredsamkeit: das

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quentiae: invenire, quid dicas, inventa disponere, deinde ornare verbis, post memoriae mandare, tum ad extremum agere ac propronuntiare; rem sane non reconditam. Q u i s enim hoc non sua sponte viderit neminem posse dicere nisi, et quid diceret et quibus verbis et quo ordine diceret, haberet et ea meminisset? Atque haec ego non reprehendo, sed ante oculos posita esse dico, ut eas item quattuor quinque sexve partis vel etiam Septem quoniam aliter ab aliis digeruntur - , in quas est ab iis omnis oratio distributa. Iubent enim exordiri ita, ut eum, qui audiat, benivolum nobis faciamus et docilem et attentum; deinde rem narrare et ita, ut veri similis narratio sit, ut aperta, ut brevis; post autem dividere causam aut proponere; nostra confirmare argum e n t s ac rationibus; deinde contraria refutare. T u m autem alii conclusionem orationis et quasi perorationem conlocant, alii iubent, antequam peroretur, ornandi aut augendi causa digredi, deinde concludere ac perorare. Ne haec quidem reprehendo; sunt enim concinne distributa; sed tamen id, quod necesse fuit hominibus expertibus veritatis, non perite. Q u a e enim praecepta principiorum et narrationum esse voluerunt, ea in totis orationibus sunt conservanda. N a m ego mihi benivolum iudicem facilius facere possum, cum sum in cursu orationis, quam cum omnia sunt inaudita; docilem autem, non cum polliceor me demonstraturum, sed tum, cum doceo et explano; attentum vero crebro tota actione excitandis mentibus iudicum, non prima denuntiatione efficere possumus. Iam vero narrationem quod iubent veri similem esse et apertam et brevem, recte nos admonent; quod haec narrationis magis putant esse propria quam totius orationis, valde mihi videntur errare. Omninoque in hoc omnis est error, quod existimant artificium esse hoc quoddam non dissimile ceterorum, cuius modi de ipso iure civili hesterno die Crassus componi posse dicebat: ut genera rerum primum exponerentur, in quo vitium est, si genus ullum praetermittitur; deinde singulorum partes generum, in quo et deesse

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Auffinden dessen, was man sagen will; die Gliederung des Aufgefundenen; danach das Ausschmücken mit Worten; hierauf das Auswendiglernen; dann die Darstellung und den Vortrag. - Das ist nun wirklich keine tiefgründige Angelegenheit. Wer nämlich sieht wohl nicht von selbst ein, dass niemand reden kann, wenn er sich nicht zurecht gelegt hat, worüber, mit welchen Worten und in welcher Reihenfolge er reden soll, und wenn er sich das nicht gemerkt hat? Aber ich setze an dieser Einteilung nichts aus, sondern sage nur, dass sie ebenso vor Augen liegt wie jene vier, fünf, sechs oder sogar sieben Teile der Rede - von den einen werden sie ja so, von anderen wieder anders abgetrennt - , in welche die ganze Rede von ihnen unterteilt ist. (80) Sie schreiben nämlich Folgendes vor: Wir sollen so beginnen, dass wir das Wohlwollen, die Beiehrbarkeit und die Aufmerksamkeit der Zuhörer gewinnen; danach sollen wir den Sachverhalt schildern, und zwar so, dass die Schilderung wahrscheinlich, dass sie klar und dass sie kurz ist; hierauf aber sollen wir den Streitfall gliedern oder wenigstens vorstellen; wir sollen unsere Schilderung durch Beweise und Begründungen erhärten, danach die der Gegenpartei widerlegen; dann aber setzen die einen den Schluss der Rede und gewissermaßen das Nachwort hin, andere ordnen an, bevor man seine Rede zu Ende führt, solle man um der Ausschmückung und besonderen Hervorhebung willen abschweifen, danach die Rede schließen und zu Ende führen. (81) Nicht einmal an dieser Einteilung setze ich etwas aus; sie ist nämlich in ausgeklügelter Systematik angelegt; aber dennoch trägt sie - und das musste so kommen bei Menschen, welche die Wirklichkeit nicht kennen - der Erfahrung nicht Rechnung. Die Vorschriften nämlich, welche nach ihrem Willen für den Anfang und die Schilderung des Sachverhaltes gelten sollten, muss man in der ganzen Rede beachten. (82) Denn ich kann das Wohlwollen des Richters leichter im Laufe der Rede gewinnen, als wenn er noch nichts gehört hat; seine Beiehrbarkeit aber, nicht wenn ich verspreche, den Nachweis zu liefern, sondern dann, wenn ich informiere und erläutere; Aufmerksamkeit aber können wir uns häufig verschaffen, indem wir während der ganzen Rede die Richter aufrütteln, nicht nur bei der Ankündigung am Anfang. (83) Und wenn sie ferner anordnen, die Schilderung des Sachverhaltes müsse wahrscheinlich, klar und kurz sein, ermahnen sie uns zu Recht; wenn sie aber glauben, diese Eigenschaften seien eher nur für die Schilderung des Sachverhaltes als für die ganze Rede verbindlich, scheinen sie mir sehr zu irren. Überhaupt besteht ihr gesamter Irrtum darin, dass sie der Meinung sind, die Redekunst beruhe auf einer Art theoretischem System, nicht unähnlich den übrigen Systemen, wie man es nach den gestrigen Worten des Crassus selbst für das bürgerliche Recht entwerfen kann: Zuerst stelle man die Gattungen der Dinge auf; dabei ist es ein Fehler, irgendeine Gattung zu übergehen; danach die Arten der einzelnen Gattungen; dabei ist es fehlerhaft, wenn

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aliquam partem et superare m e n d o s u m est; tum verborum o m nium definitiones, in quibus neque abesse quicquam decet neque redundare. Sed hoc si in iure civili, si etiam in parvis aut mediocribus rebus doctores adsequi possunt, non idem sentio tanta hac in re tamque immensa p o s s e fieri. Sin autem, qui arbitrantur, deducendi sunt ad eos, qui haec docent; omnia iam explicata et perpolita adsequentur; sunt enim innumerabiles de his rebus libri neque abditi neque obscuri. Sed videant, quid velint, ad ludendumne an ad pugnandum arma sint sumpturi. Aliud enim pugna et acies, aliud ludus campusque noster desiderat. Ac tamen ars ipsa ludicra armorum et gladiatori et militi prodest aliquid; sed animus acer et praesens et acutus idem atque versutus invictos viros efficit non difficilius arte coniuncta.

Q u a r e ego tibi oratorem sie iam instituam, si potuero, ut quid efficere possit, ante perspiciam. Sit enim mihi tinetus litteris, audierit aliquid, legerit, ista ipsa praeeepta aeeeperit; temptabo, quid deceat, quid voce, quid viribus, quid spiritu, quid lingua efficere possit. Si intellegam p o s s e ad s u m m o s pervenire, non solum hortabor, ut elaboret, sed etiam, si vir quoque bonus mihi videbitur esse, obsecrabo. Tantum ego in excellenti oratore et eodem bono viro p o n o esse ornamenti universae civitati. Sin videbitur, cum omnia s u m m a fecerit, tamen ad mediocris oratores esse venturus, permittam ipsi, quid velit; molestus magno opere non ero. Sin plane abhorrebit et erit absurdus, ut se contineat aut ad aliud Studium transferat, admonebo. N a m neque is, qui optime potest, deserendus ullo m o d o est a cohortatione nostra neque is, qui aliquid potest, deterrendus; quod alteram divinitatis mihi cuiusdam videtur, alterum, vel non facere, quod non optime possis, vel facere, quod non pessime facias, humanitatis; tertium vero illud, clamare contra quam deceat et quam possit, hominis est, ut tu, Catule, de quodam clamatore dixisti, stulti-

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eine Art fehlt oder zuviel ist; dann die Definitionen aller Fachbegriffe; bei denen darf nichts fehlen oder überflüssig sein. (84) Aber wenn im bürgerlichen Recht, wenn auch in unbedeutenden oder nicht allzu umfangreichen Gebieten einigermaßen gebildete Leute das erreichen können, so ist es, glaube ich, in diesem unserem so bedeutenden und unermesslichen Gebiet nicht gleichermaßen möglich. Wenn es aber Leute gibt, die das meinen, soll man sie zu denen, die diese Dinge lehren, hinbringen; sie werden sich den ganzen schon entwickelten und vollkommen ausgefeilten Stoff zu eigen machen; es gibt nämlich unzählige Bücher über dieses Gebiet und diese sind weder unzugänglich noch unverständlich. Aber sie sollen zusehen, was sie wollen - ob sie die Waffen zum Spiel oder zum Kampf ergreifen wollen. Etwas anderes nämlich verlangen Kampf und offene Feldschlacht, wieder etwas anderes unser Spiel und unser Marsfeld. Und dennoch nützt schon der spielerische Umgang mit Waffen dem Gladiator und Soldaten etwas; aber Scharfsinn und Geistesgegenwart machen ebenso wie Witz und Schlagfertigkeit Männer unbesiegbar, auch wenn damit kein wissenschaftliches System verbunden ist, was die Sache ziemlich erschweren würde. (85) Deshalb werde ich (dir) bei der Ausbildung des Redners folgendermaßen vorgehen, wenn ich kann: Zuvor will ich mir genau ansehen, was er zu leisten vermag. Er soll mir nämlich in der Wissenschaft hinreichend gebildet sein, etwas gehört und gelesen haben und sogar diese Vorschriften in sich aufgenommen haben; ich werde mir genau ansehen, wieweit das Schickliche für ihn Richtschnur ist, was er mit seiner Stimme, was er mit seinen Kräften, was er mit seinem Atem, was er mit seiner Zunge leisten kann. Wenn ich erkenne, dass er es so weit wie die bedeutendsten Redner bringen kann, werde ich ihn nicht nur auffordern, sich anzustrengen, sondern, wenn ich noch dazu den Eindruck gewinne, er sei ein Ehrenmann, ihn beschwören. So groß ist die Zierde, stelle ich fest, die ein herausragender Redner, der zugleich ein Ehrenmann ist, für die gesamte Bürgerschaft darstellt. Gewinne ich aber den Eindruck, er werde es, obwohl er in allem sein Bestes tut, dennoch nur zu einem mittelmäßigen Redner bringen, so werde ich es ihm selbst überlassen, zu tun, was er will; ich werde es ihm nicht sehr schwer machen. Wenn er sich aber ganz sträubt und völlig ungeeignet ist, werde ich ihn auffordern, sich zusammenzunehmen oder sich einem anderen Studium zuzuwenden. (86) Denn weder dürfen wir es unterlassen, den, welcher dazu bestens imstande ist, auf irgendeine Weise zu ermuntern, noch dürfen wir den, welcher wenigstens einiges vermag, abschrecken; denn das eine scheint mir geradezu göttlich zu sein, das andere - entweder nichts zu tun, was man nicht sehr gut kann, oder zu tun, was man nicht sehr schlecht macht - ist menschlich; jenes Dritte aber, gegen das Schickliche und gegen das eigene Können herumzuschreien, verrät einen Menschen, der, wie du, mein Catulus, von einem be-

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tiae suae quam plurimos testes domestico praeconio colligentis. De hoc igitur, qui erit talis, ut cohortandus adiuvandusque sit, ita loquamur, ut ei tradamus ea dumtaxat, quae nos usus docuit, ut nobis ducibus veniat eo, quo sine duce ipsi pervenimus, quoniam meliora docere non possumus.

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Atque ut a familiari nostra exordiar, hunc ego, Catule, Sulpicium primum in causa parvola adulescentulum audivi voce et forma et motu corporis et reliquis rebus aptis ad hoc munus, de quo quaerimus, oratione autem celeri et concitata, quod erat ingenii, sed verbis effervescentibus et paulo nimium redundantibus, quod erat aetatis. N o n sum aspernatus; volo enim se efferat in adulescente fecunditas. N a m facilius sicut in viribus revocantur ea, quae se nimium profuderunt quam, si nihil valet materies, nova sarmenta cultura excitantur; item volo esse in adulescente, unde aliquid amputem. N o n enim potest in eo sucus esse diuturnus, quod nimis celeriter est maturitatem adsecutum. Vidi statim indolem neque dimisi tempus et eum sum cohortatus, ut forum sibi ludum putaret esse ad discendum, magistrum autem, quem vellet, eligeret; me quidem si audiret, L. Crassum. Q u o d iste adripuit et ita sese facturum confirmavit atque etiam addidit, gratiae scilicet causa, me quoque sibi magistrum futurum. Vix annus intercesserat ab hoc sermone cohortationis meae, cum iste accusavit C . Norbanum, defendente me. N o n est credibile, quid interesse mihi sit visum inter eum, qui tum erat et qui anno ante fuerat. O m n i n o in illud genus eum Crassi magnificum atque praeciarum natura ipsa ducebat, sed ea non satis proficere potuisset, nisi eodem studio atque imitatione intendisset atque ita dicere consuesset, ut tota mente Crassum atque omni animo intueretur.

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Ergo hoc sit primum in praeceptis meis, ut demonstremus, quern imitetur, atque ita, ut, quae maxime excellent in eo, quem imitabitur, ea diligentissime persequatur. T u m accedat exercitatio, qua ilium, quem delegerit, imitando effingat atque exprimat,

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stimmten Schreihals gesagt hast, dadurch, dass er als sein eigener M a r k t schreier auftritt, möglichst viele Zeugen für seine Torheit sammelt. (87) Ich werde also über den sprechen, der so geartet ist, dass er Ermunterung und Unterstützung verdient; freilich werde ich dabei nur das vermitteln, was mich die praktische Erfahrung gelehrt hat, damit er unter meiner Führung dahin gelangt, wohin ich selbst o h n e Führer gelangt bin. Etwas Besseres zu lehren bin ich ja nicht imstande. ( 8 8 ) U n d u m mit unserem Freund zu beginnen: Diesen Sulpicius hier, mein Catulus, habe ich z u m ersten Mal als n o c h sehr jungen M a n n in einem ganz unbedeutenden Prozess gehört. Seine S t i m m e , seine äußere Erscheinung, seine Körperbewegung und seine übrigen Eigenschaften waren geeignet für die Aufgabe, die wir untersuchen, seine Sprechweise w a r rasch und heftig, ein Zeichen für seine natürliche Begabung, seine Ausdrucksweise aber aufbrausend und ein bisschen zu überschwänglich, ein Zeichen für seine J u gend. Ich habe ihn nicht unbeachtet gelassen; ich will nämlich, dass bei einem jungen Menschen reiche Begabung sich deutlich zeigt. D e n n es ist wie bei den Weinstöcken: Leichter schneidet m a n die R e b e n zurück, die allzu üppig gewuchert sind, als dass m a n neue Reiser durch Pflege z u m Wachsen bringt, wenn das H o l z keine Kraft hat; ebenso will ich bei einem jungen M a n n etwas haben, das ich beschneiden kann. Eine Frucht nämlich, die allzu schnell reif geworden ist, kann nicht lange Zeit saftig bleiben. (89) Ich sah sofort sein angeborenes Talent und ließ keine Zeit verstreichen und forderte ihn auf, er solle das F o r u m als seine Schule betrachten, u m zu lernen, als Lehrer aber solle er auswählen, wen er wolle; wenn er auf mich höre, den Lucius Crassus. Diesen Rat griff er gierig auf und versicherte, er werde es so machen; auch fügte er noch hinzu, natürlich aus Höflichkeit, auch ich würde sein Lehrer werden. K a u m w a r ein Jahr vergangen seit diesem Gespräch, in welchem ich ihn ermunterte, da klagte er den Gaius N o r b a n u s an, während ich ihn verteidigte. Es ist nicht zu glauben, was für ein Unterschied nach mein e m Eindruck zwischen dem bestand, der er zu diesem Zeitpunkt war, und dem, der er ein Jahr vorher gewesen war. Allerdings führte ihn zu dieser großartigen und herrlichen Redeweise eines Crassus seine eigene natürliche Veranlagung, aber diese hätte nicht genügend bewirken k ö n n e n , wenn er nicht mit eifriger N a c h a h m u n g dasselbe Ziel verfolgt und sich angewöhnt hätte, so zu sprechen, dass er mit seinem ganzen Verstand und gesamten G e müt Crassus z u m bewunderten Vorbild n a h m . (90) A l s o sei die erste von meinen Vorschriften, dass wir darlegen, wen man nachahmen soll, und zwar s o , dass m a n den Vorzügen, die bei dem, welchen m a n nachahmt, am meisten herausragen, besonders gewissenhaft nachstrebt. D a n n soll die Ü b u n g dazutreten, mit deren Hilfe man d e m , welchen m a n ausgewählt hat, durch die N a c h a h m u n g möglichst ähnlich zu wer-

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at non ita, ut m u k ö s imitatores saepe cognovi, qui aut ea, quae facilia sunt, aut etiam ilia, quae insignia ac paene vitiosa, consectentur imitando. Nihil est facilius quam amictum imitari alicuius aut statum aut m o t u m . Si vero etiam vitiosi aliquid est, id sumere et in eo vitiosum esse non magnum est, ut ille, qui nunc etiam amissa voce furit in re publica, Fufius nervös in dicendo C . Fimbriae, quos tamen habuit ille, non adsequitur, oris pravitatem et verborum latitudinem imitatur. Sed tamen ille nec deligere scivit, cuius potissimum similis esset, et in eo ipso, quem delegerat, imitari etiam vitia voluit. Q u i autem ita faciet, ut oportet, p r i m u m vigilet necesse est in deligendo; deinde, quem probavit, in eo, quae maxime excellent, ea diligentissime persequatur.

Quid enim causae censetis esse, cur aetates extulerint singulae singula prope genera dicendi? Q u o d non tam facile in nostris oratoribus possumus iudicare, quia scripta, ex quibus iudicium fieri posset, non multa sane reliquerunt, quam in Graecis, ex quorum scriptis, cuiusque aetatis quae dicendi ratio voluntasque fuerit, intellegi potest. Antiquissimi fere sunt, quorum quidem scripta constent, Pericles atque Alcibiades et eadem aetate Thucydides, subtiles, acuti, breves, sententiisque magis quam verbis abundantes. N o n potuisset accidere, ut u n u m genus esset o m nium, nisi aliquem sibi proponerent ad imitandum. Consecuti sunt hos Critias, Theramenes, Lysias. Multa Lysiae scripta sunt, nonnulla Critiae, de Theramene audimus; omnes etiam tum retinebant ilium Pericli sucum, sed erant paulo uberiore filo. Ecce tibi est exortus Isocrates, magister istorum omnium, qui eius e ludo tamquam ex equo Troiano meri principes exierunt; sed eorum partim in pompa, partim in acie inlustres esse voluerunt. Atque et illi Theopompi, Ephori, Philisti, Naucratae multique alii naturis differunt, voluntate autem similes sunt et inter sese et magistri; et hi, qui se ad causas contulerunt, ut Demosthenes, Hyperides, Lycurgus, Aeschines, Dinarchus aliique complures, etsi inter se pares non fuerunt, tamen sunt omnes in eodem veritatis imitandae genere versati. Q u o r u m quamdiu mansit imitatio, tamdiu genus illud dicendi studiumque vixit. Posteaquam

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den sucht, aber nicht so, wie ich es bei vielen Nachahmern oft kennen gelernt habe, die beim Nachahmen eifrig nach dem trachten, was leicht, oder auch nach dem, was auffallend und beinahe fehlerhaft ist. (91) Nichts ist leichter als jemandes Art sich zu kleiden, zu stehen oder sich zu bewegen nachzuahmen. Wenn aber dabei etwas fehlerhaft ist, ist es keine große Leistung, dies zu übernehmen und in diesem Punkte fehlerhaft zu sein! So erreicht jener Fufius, der jetzt auch nach dem Verlust seiner Stimme im Staate wütet, nicht die kraftvolle Redeweise des Gaius Fimbria, die jener immerhin besaß, ahmt aber dessen Grimassen und breite Aussprache nach. Nun, er verstand eben nicht, jemanden auszuwählen, dem er vor allem ähnlich sein konnte, und wollte an dem selbst, den er ausgewählt hatte, auch die Fehler nachahmen. (92) Wer aber so handelt, wie es sich gehört, muss erstens bei der Auswahl wachsam sein; und zweitens muss er bei dem Mann, den er für gut befunden hat, besonders gewissenhaft den Eigenschaften nachstreben, welche am meisten herausragen. Was nämlich ist nach eurer Meinung der Grund dafür, dass jede einzelne Generation nahezu ihre eigene Art zu reden hervorgebracht hat? Das können wir nicht so leicht an unseren Rednern beurteilen, weil sie nicht eben viele Schriften hinterlassen haben, aus denen man sich ein Urteil bilden könnte, wohl aber an den Griechen, aus deren Schriften man erkennen kann, welches die Redeweise und das Stilideal einer jeden Generation war. (93) Die ältesten, von denen wenigstens Schriften vorhanden sind, sind etwa Perikles, Alkibiades und aus demselben Zeitalter Thukydides; ihr Stil war schlicht, treffend und knapp und sie waren reicher an Gedanken als an Worten. Dass alle ein und dieselbe Redeweise hatten, hätte nicht eintreten können, wenn sie sich nicht ein Vorbild zur Nachahmung vor Augen gestellt hätten. Auf diese folgten Kritias, Theramenes und Lysias; von Lysias gibt es viele Schriften, von Kritias einige, über Theramenes haben wir nur etwas gehört. Alle behielten auch damals noch die frische Kraft des Perikles bei, waren aber in der Darstellung üppiger. (94) Sieh, da ist (dir) Isokrates erschienen, der Meister dieser aller, welche aus seiner Schule wie aus dem trojanischen Pferd als wahre Fürsten herausgekommen sind; aber von diesen wollten die einen im Festzug, andere in offener Feldschlacht strahlen. Auch jene Männer wie Theopompos, Ephoros, Philistos, Naukrates und viele andere unterscheiden sich durch ihre natürlichen Anlagen, in ihrer Zielvorstellung aber sind sie untereinander und ihrem Meister ähnlich. Die aber, welche sich Rechtsfällen zuwandten, wie Demosthenes, Hypereides, Lykurgos, Aischines, Deinarchos und mehrere andere, waren, wenn sie einander auch nicht gleich waren, doch alle darauf bedacht, in derselben Art das wirkliche Leben darzustellen. Solange man diese nachahmte, solange lebte auch diese Art der Redekunst und die eifrige Beschäftigung damit. (95) Nachdem aber nach deren Tod die ge-

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extinctis eis omnis eorura memoria sensim obscurata est et evanuit, alia quaedam dicendi molliora ac remissiora genera viguerunt. Inde Demochares, quem aiunt sororis filium fuisse D e mostheni, tum Phalereus ille Demetrius, omnium istorum mea sententia politissimus, aliique horum similes extiterunt. Quae si volemus usque ad hoc tempus persequi, intellegemus, ut hodie etiam Alabandensem ilium Meneclen et eius fratrem Hieroclen, quos ego audivi, tota imitetur Asia, sic semper fuisse aliquem, cuius se similes plerique esse vellent. Hanc igitur similitudinem qui imitatione adsequi volet, cum exercitationibus crebris atque magnis, tum scribendo maxime persequatur. Q u o d si noster Sulpicius faceret, multo eius oratio esset pressior; in qua nunc interdum, ut in herbis rustici solent dicere in summa ubertate, inest luxuries quaedam, quae stilo depascenda est'.

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Hie Sulpicius 'me quidem' inquit 'recte mones idque mihi gratum est; sed ne te quidem, Antoni, multum scriptitasse arbitror'.

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T u m ille 'quasi vero' inquit 'non ea praecipiam aliis, quae mihi ipsi desint! Sed tamen ne tabulas quidem conficere existimor. Verum et in hoc ex re familiari mea et in illo ex eo, quod dico, quantulum id cumque est, quid faciam, iudicari potest. Atque esse tamen multos videmus, qui neminem imitentur et suapte natura, quod velint, sine cuiusquam similitudine consequantur; quod et in vobis animadverti recte potest, Caesar et Cotta, quorum alter inusitatum nostris quidem oratoribus leporem quendam et salem, alter acutissimum et subtilissimum dicendi genus est consecutus; neque vero vester aequalis Curio, patre mea sententia vel eloquentissimo temporibus illis, quemquam mihi magno opere videtur imitari; qui tamen verborum gravitate et elegantia et copia suam quandam expressit quasi formam figuramque dicendi, quod ego maxime iudicare potui in ea causa, quam ille contra me apud centumviros pro fratribus Cossis dixit; in qua nihil illi defuit, quod non modo copiosus, sed etiam sapiens orator habere deberet. Verum ut aliquando ad causas deducamus ilium, quem constituimus, et eas quidem, in quibus plusculum negotii est, iudiciorum atque litium - riserit aliquis fortasse hoc praeceptum; est

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samte Erinnerung an sie verblasst und allmählich verschwunden war, standen andere einschmeichelndere und leidenschaftslosere Arten der Redekunst in Blüte. Aus dieser Schule gingen Demochares, der ein Sohn der Schwester des Demosthenes gewesen sein soll, dann der berühmte Demetrios aus Phaleron, meiner Meinung nach der am feinsten gebildete Mann von diesen, und andere ihnen ähnliche Männer hervor. Wenn wir diese Entwicklung bis zu unserer Zeit verfolgen wollen, werden wir erkennen, dass ebenso wie heute ganz Asien den berühmten Menekles aus Alabanda und dessen Bruder Hierokles, die ich gehört habe, nachahmt, es immer jemanden gegeben hat, dem die meisten ähnlich sein wollten. (96) Wer also diese Ähnlichkeit durch Nachahmung erreichen will, soll dieses Ziel durch häufige anspruchsvolle Übungen, besonders aber durch Schreiben verfolgen. Wenn unser Sulpicius dies täte, wäre sein Ausdruck viel knapper; nun tritt da - die Bauern sagen so, wenn die Saat zu üppig sprießt manchmal eine Art Geilheit auf, die mit dem Griffel abgeweidet werden muss. (97) Hier bemerkte Sulpicius: »Du mahnst mich zu Recht und dafür bin ich dankbar; aber ich glaube, dass nicht einmal du, mein Antonius, dich lange mit schriftlichen Übungen abgegeben hast.« Da erwiderte jener: »Als ob ich anderen nicht vorschreiben dürfte, was mir selbst fehlt! Aber gleichwohl glaubt man, ich würde nicht einmal Rechnungsbücher führen. Doch was ich auf diesem Gebiet mache, kann man nach meinem Vermögen beurteilen, was auf jenem, aus meinen Reden, mögen sie auch noch so unbedeutend sein. (98) Und dennoch gibt es, wie wir sehen, viele, die niemanden nachahmen und nur aufgrund ihrer eigenen Veranlagung, ohne irgendjemanden zum Vorbild zu nehmen, erreichen, was sie wollen. Das kann man sicher an euch bemerken, Caesar und Cotta; der eine von euch hat einen wenigstens bei unseren Rednern ungewöhnlichen Charme und Witz erreicht, der andere eine sehr scharfsinnige und präzise Redekunst. Aber auch euer Altersgenosse Curio, dessen Vater meiner Meinung nach der größte Redner seiner Zeit war, ahmt, wie mir scheint, niemanden besonders nach; dennoch hat er durch den Nachdruck, die Gewähltheit und Fülle des Ausdrucks seiner Redeweise gewissermaßen einen ganz eigenen Stil und Charakter gegeben; das konnte ich ganz besonders beurteilen in dem Prozess, in dem er gegen mich vor den Centumvirn die Brüder Cossi vertrat; in diesem Prozess mangelte es ihm an nichts, was ein nicht nur wortgewaltiger, sondern auch kluger Redner besitzen sollte. (99) Aber um endlich den Mann, den wir unterweisen, an wirkliche Rechtsfalle heran zu führen und zwar an diejenigen von den Gerichtsverfahren und Rechtsstreitigkeiten, bei denen es ein bisschen mehr Arbeit gibt, werden wir ihm als Erstes die Vorschrift erteilen - vielleicht mag jemand über diese Vor-

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enim non tarn acutum quam necessarium magisque monitoris non fatui quam eruditi magistri hoc ei primum praecipiemus, quascumque causas erit tractaturus, ut eas diligenter penitusque cognoscat. H o c in ludo non praecipitur; faciles enim causae ad pueros deferuntur: "Lex peregrinum vetat in murum ascendere; escendit; hostis reppulit: accusatur." Nihil est negotii eius modi causam cognoscere. Recte igitur nihil de causa discenda praecipiunt; haec est enim in ludo causarum fere formula. At vero in foro tabulae, testimonia, pacta conventa, stipulationes, cognationes, adfinitates, decreta, responsa, vita denique eorum, qui in causa versantur, tota cognoscenda est; quarum rerum neglegentia plerasque causas et maxime privatas - sunt enim multo saepe obscuriores - videmus amitti. Ita nonnulli, d u m operam suam multam existimari volunt, ut toto foro volitare et a causa ad causam ire videantur, causas dicunt incognitas. In quo est ilia quidem magna offensio vel neglegentiae, susceptis rebus, vel perfidiae, receptis; sed etiam ilia maior opinione, quod nemo potest de ea re, quam non novit, non turpissime dicere. Ita d u m inertiae vituperationem, quae maior est, contemnunt, adsequuntur etiam illam, quam magis ipsi fugiunt, tardidatis. Equidem soleo dare operam, ut de sua quisque re me ipse doceat et ut ne quis alius adsit, quo liberius loquatur, et agere adversari causam, ut ille agat suam et, quicquid de sua re cogitarit, in medium proferat. Itaque cum ille discessit, tris personas unus sustineo s u m m a animi aequitate: meam, adversari, iudicis. Q u i locus est talis, ut plus habeat adiumenti quam incommodi, hunc iudico esse dicendum; ubi plus mali quam boni reperio, id totum abiudico atque eicio. Ita adsequor, ut alio tempore cogitem, quid dicam, et alio dicam; quae duo plerique ingenio freti simul faciunt. Sed certe eidem illi melius aliquanto dicerent, si aliud sumendum sibi tempus ad cogitandum, aliud ad dicendum putarent.

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schrift lachen; denn sie ist nicht gerade geistreich, aber notwendig und passt eher zu einem nicht gerade einfältigen Ratgeber als zu einem gebildeten Lehrmeister er solle über alle Rechtsfälle, die er übernehmen will, sich gewissenhaft und bis ins letzte Detail informieren. (100) Darüber werden in der Schule keine Vorschriften erteilt; den Knaben werden nämlich leichte Fälle vorgelegt: >Ein Gesetz verbietet einem Fremden, auf die Mauer zu steigen; er ist hinaufgestiegen und hat die Feinde zurückgeschlagen; er wird angeklagt.« Es macht keine Mühe, einen derartigen Fall zu untersuchen. Mit Recht also machen sie keine Vorschriften über das Studieren des Falles. Dies ist nämlich in der Schule beinahe ein Schema für Prozesse. Aber im Gegensatz dazu muss man sich auf dem Forum informieren über privatrechtliche Dokumente, Zeugenaussagen, geschlossene Verträge, förmliche mündliche Vereinbarungen, Blutsverwandtschaften, Verschwägerungen, Erlasse, Rechtsgutachten, schließlich über die Lebensführung derer, die am Prozess beteiligt sind; durch Nachlässigkeit in diesen Dingen gehen, wie wir selber sehen, die meisten Prozesse und vor allem solche in Privatangelegenheiten - diese sind nämlich oft viel undurchsichtiger verloren. (101) So treten manche, solange sie den Glauben erwecken wollen, sie hätten viel Arbeit, in Prozessen auf, über die sie keine Kenntnisse haben; sie wollen gesehen werden, wie sie auf dem ganzen Forum herumschwirren und von Prozess zu Prozess eilen. Dabei ergibt sich freilich ein großes Ärgernis, hervorgerufen entweder durch Nachlässigkeit, wenn sie die Fälle freiwillig übernommen haben, oder durch UnZuverlässigkeit, wenn sie sie auf Bitten hin übernommen haben. Aber dieses Ärgernis ist größer, als man glaubt, weil niemand über eine Sache, die er nicht kennt, anders als ganz jämmerlich sprechen kann. So ziehen sie sich, während sie den Vorwurf der Unfähigkeit, der größer ist, gering schätzen, auch jenen der geistigen Trägheit zu, dem sie selbst mehr aus dem Wege gehen. (102) Ich für meine Person bemühe mich gewöhnlich darum, dass jeder mich selbst über seine Angelegenheit informiert und dass niemand anderes anwesend ist, damit er umso freimütiger spricht. Gewöhnlich vertrete ich dabei den Standpunkt des Prozessgegners, damit er seinen eigenen vertritt und alles offen vorbringt, was er sich über seine Angelegenheit gedacht hat. Und so übernehme ich, wenn er weggegangen ist, in höchster Gemütsruhe drei Rollen in einer Person: meine eigene, die des Prozessgegners und die des Richters. Ist ein Gesichtspunkt von der Art, dass er mehr Unterstützung als Nachteil bringt, entscheide ich mich dafür, ihn in der Rede vorzubringen; worin ich mehr Negatives als Positives finde, das lasse ich ganz weg und verwerfe es. (103) So erreiche ich, dass ich eine Zeit lang nachdenke über das, worüber ich reden will, und zu anderer Zeit rede. Diese beiden Dinge tun die meisten im Vertrauen auf ihre Begabung gleichzeitig; aber sicher würden eben diese Leute um einiges besser reden, wenn sie glaubten, sie müssten sich zuerst Zeit zum Nachdenken und hierauf zum Reden nehmen.

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C u m rem penitus causamque cognovi, statim occurrit animo, quae sit causa ambigendi. Nihil est enim, quod inter homines ambigatur, sive ex crimine causa constat, ut facinoris, sive ex controversia, ut hereditatis, sive ex deliberatione, ut belli, sive ex persona, ut laudis, sive ex disputatione, ut de ratione vivendi, in quo non aut quid factum sit aut fiat futurumve sit quaeratur, aut quale sit aut quid vocetur. Ac nostrae fere causae, quae quidem sunt criminum, plerumque infitiatione defenduntur. N a m et de pecuniis repetundis, quae maximae sunt, neganda fere sunt omnia, et de ambitu raro illud datur, ut possis liberalitatem ac benignitatem ab ambitu atque largitione seiungere. D e sicariis, de veneficiis, de peculatu infitiari necesse est. Id est igitur genus primum causarum in iudiciis ex controversia facti, in deliberationibus plerumque ex futuri, raro ex instantis aut facti. Saepe etiam res non sit necne, sed qualis sit, quaeritur: ut cum L. Opimi causam defendebat apud populum audiente me C . C a r b o cos., nihil de C . Gracchi nece negabat, sed id iure pro salute patriae factum esse dicebat; ut eidem Carboni tribuno plebis alia tum mente rem publicam capessenti P. Africanus de Ti. Graccho interroganti responderat iure caesum videri. lure autem omnia defenduntur, quae sunt eius generis, ut aut oportuerit aut licuerit aut necesse fuerit aut inprudentia aut casu facta esse videantur. Iam quid vocetur, quaeritur, cum quo verbo quid appellandum sit, contenditur, ut mihi ipsi cum hoc Sulpicio fuit in Norbani causa summa contentio; pleraque enim de iis, quae ab isto obiciebantur, cum confiterer, tarnen ab illo maiestatem minutam negabam; ex quo verbo lege Appuleia tota ilia causa pendebat. Atque hoc in genere causarum non nulli praecipiunt, ut verbum illud, quod causam facit, breviter uterque definiat. Q u o d mihi quidem perquam puerile videri solet. Alia est enim, cum inter doctos homines de iis ipsis rebus, quae versantur in artibus, disputatur, verborum definitio, ut

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(104) Wenn ich über den Sachverhalt und über den Rechtsfall genaue Kenntnis gewonnen habe, stellt sich mir die Frage, was die Ursache für den Streit ist. Denn ob es in dem Fall um eine Beschuldigung geht, wie bei einem Verbrechen, oder um einen Rechtsstreit, wie bei einer Erbschaft, oder um eine Beratschlagung, wie bei einem Krieg, oder um eine Person, wie bei einer Lobrede, oder um eine wissenschaftliche Erörterung, wie bei der Frage nach der rechten Lebensweise: so gibt es doch nichts, was unter Menschen umstritten ist, bei dem man nicht fragt, was geschehen ist oder geschieht oder geschehen wird, oder wie es zu bewerten ist, oder wie es zu bezeichnen ist. (105) Und in unseren Prozessen etwa, wenigstens soweit es Kriminalprozesse sind, verteidigt man sich meistens durch Leugnen. Denn in Klagen auf Schadenersatz für Gelderpressungen, die außerordentlich wichtig sind, muss man fast alles in Abrede stellen; und wenn es um Amtserschleichung geht, bietet sich nur selten die Gelegenheit, dass man Freigebigkeit und Wohltätigkeit von Stimmenkauf und Bestechung unterscheiden kann. Wenn es um Meuchelmord, Giftmischerei oder die Veruntreuung öffentlicher Gelder geht, ist es unumgänglich, zu leugnen. - Dies ist also die erste Art von Rechtsfällen, die in Gerichtsverhandlungen sich auf strittige Fakten beziehen; bei Beratungen geht es meistens um Zukünftiges, selten um Gegenwärtiges oder Geschehenes. (106) Oft wird auch nicht gefragt, ob ein Sachverhalt zutrifft oder nicht, sondern wie er zu bewerten ist. Als z.B. der Konsul Gaius Carbo die Sache des Lucius Opimius vor dem Volk vertrat - ich hörte zu - , stellte er den Mord an Gaius Gracchus überhaupt nicht in Abrede, sondern sagte, diese Tat sei zu Recht für das Wohl des Vaterlandes begangen worden. Eben dieser Carbo hatte als Volkstribun - damals schlug er die politische Laufbahn mit anderer politischer Einstellung ein - den Publius Africanus wegen des Tiberius Gracchus befragt; dieser hatte ihm geantwortet, jener sei, wie ihm scheine, zu Recht getötet worden. Mit der Rechtmäßigkeit aber verteidigt man alles, was von der Art ist, dass man dazu verpflichtet, dass es erlaubt oder unumgänglich war oder was aus Unwissenheit oder zufällig geschehen zu sein scheint. (107) Ferner fragt man nach der Benennung, wenn man streitet, mit welchem Wort etwas benannt werden müsse. So hatte ich selbst mit diesem unseren Sulpicius im Prozess des Norbanus einen sehr heftigen Streit; obwohl ich nämlich das meiste, was diesem von ihm vorgeworfen wurde, zugab, stellte ich dennoch in Abrede, dass von diesem die Hoheit des Volkes geschmälert worden sei; von diesem Ausdruck hing nach dem Appuleischen Gesetz der ganze Prozess ab. (108) Und in dieser Art von Rechtsfällen erteilen manche die Vorschrift, dass beide Seiten das Wort, welches den strittigen Punkt ausmacht, kurz definieren. Das erscheint mir gewöhnlich überaus kindisch. Etwas anderes nämlich ist eine Definition von Wörtern, wenn unter Gelehrten gerade über die Gegenstände, welche in den

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cum quaeritur, quid sit ars, quid sit lex, quid sit civitas. In quibus hoc praecipit ratio atque doctrina, ut vis eius rei, q u a m definias, sic exprimatur, ut neque absit quicquam neque supersit. Q u o d quidem in ilia causa neque Sulpicius fecit neque ego facere conatus sum. N a m quantum uterque nostrum potuit, omni copia dicendi dilatavit, quid esset maiestatem minuere. Etenim definitio p r i m u m reprehenso verbo uno aut addito aut d e m p t o saepe extorquetur e manibus; deinde genere ipso doctrinam redolet exercitationemque paene puerilem; tum in sens u m et in mentem iudicis intrare non potest; ante enim praeterlabitur, quam percepta est.

Sed in eo genere, in quo, quale sit quid, ambigitur, existit etiam ex scripti interpretatione saepe contentio, in quo nulla potest esse nisi ex ambiguo controversia. N a m illud ipsum, cum scriptum a sententia discrepat, genus q u o d d a m habet ambigui, quod tum explicatur, cum ea verba, quae desunt, suggesta sunt, quibus additis defenditur sententiam scripti perspicuam fuisse; et ex contrariis scriptis si quid ambigitur, non novum genus nascitur, sed superioris generis causa duplicatur; idque aut numquam diiudicari poterit aut ita diiudicabitur, ut referendis praeteritis verbis id scriptum, quodcumque defendemus, suppleatur. Ita fit, ut unum genus in iis causis, quae propter scriptum ambiguntur, relinquatur, si est scriptum aliquid ambigue. Ambiguorum autem cum plura genera sunt, quae mihi videntur ii melius nosse, qui dialectici appellantur, hi autem nostri ignorare, qui non minus nosse debeant, tum illud est frequentissimum in omni consuetudine vel sermonis vel scripti, cum idcirco aliquid ambigitur, quod aut verbum aut verba sint praetermissa. Iterum autem peccant, cum genus hoc causarum, quod in scripti interpretatione versatur, ab illis causis, in quibus, qualis quaeque res sit, disceptatur, seiungunt. N u s q u a m enim tam quaeritur, quale sit genus ipsum rei, quam in scripto, quod totum a facti controversia separatum est. Ita tria sunt omnino genera, quae in disceptationem et controversiam cadere possint: "quid fiat, factum, futurumve sit" aut "quale sit" aut " q u o m o d o nominetur". N a m

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einzelnen Fachgebieten behandelt werden, eine wissenschafdiche Erörterung geführt wird, ζ. B. wenn man untersucht, was eine ars, was eine lex, was eine civitas ist. In solchen Definitionen schreiben Theorie und Lehre vor, dass man das Wesen des Gegenstandes, den man definiert, so ausdrückt, dass weder etwas fehlt noch etwas zuviel ist.(109) Dies hat freilich in jenem Prozess weder Sulpicius getan, noch habe ich versucht, es zu tun. Denn so gut es jeder von uns vermochte, ließen wir uns mit allen Mitteln der Beredsamkeit zu weitläufig darüber aus, was es heiße, die Hoheit des Volkes zu schmälern. Eine Definition wird ja erstens oft dadurch erledigt, dass man an einem einzigen Wort, das hinzugefügt oder weggenommen wurde, etwas aussetzt; weiterhin riecht sie schon aufgrund ihrer Art nach beinahe kindlicher Gelehrsamkeit und Übung; dann erreicht sie nicht Gefühl und Verstand des Richters; sie huscht nämlich vorbei, bevor sie erfasst wurde. (110) Aber in derjenigen Kategorie, in welcher umstritten ist, wie etwas zu bewerten ist, entsteht der Streit oft auch aus der Auslegung des Wortlautes, wobei es eine Auseinandersetzung nur aufgrund einer Zweideutigkeit geben kann. Denn gerade, wenn der Wortlaut von dem, was gemeint ist, abweicht, enthält der Fall eine gewisse Zweideutigkeit, die sich dann aufklärt, wenn man die fehlenden Wörter einfügt, durch deren Hinzutreten nachgewiesen wird, dass der Sinn des Textes verständlich war. Und wenn aufgrund von widersprüchlichen Textstellen etwas zweideutig wird, entsteht nicht eine neue Art, sondern der Fall der obigen Art wiederholt sich. Ein solcher Fall kann entweder niemals entschieden werden oder man entscheidet ihn dadurch, dass man die weggelassenen Wörter wieder ergänzt. So kommt es, dass in den Fällen, die wegen des Wortlautes umstritten sind, nur eine Kategorie übrig bleibt, nämlich, wenn eine Textstelle zweideutig ist. (111) Von Zweideutigkeiten gibt es aber mehrere Kategorien; diese kennen, wie mir scheint, diejenigen besser, welche man Dialektiker nennt, während aber unsere Rhetoren, die sie nicht weniger kennen müssten, nichts davon wissen. Am weitesten verbreitet ist jedoch in jeder gewöhnlichen Art von Rede oder Schrift der Fall, dass etwas deswegen zweideutig ist, weil entweder ein Wort oder mehrere Wörter weggelassen sind. (112) Den zweiten Fehler begeht man aber, wenn man diese Kategorie von Fällen, welche sich mit der Auslegung eines Schriftstückes beschäftigen, von den Fällen unterscheidet, in welchen darüber debattiert wird, wie eine Sache zu bewerten sei. Nirgends fragt man nämlich dermaßen danach, wie die Sache selbst zu bewerten sei, wie bei einem Schriftstück, ein Fall, der sich völlig unterscheidet von der Auseinandersetzung um einen Tatbestand. (113) So gibt es überhaupt nur drei Kategorien von Fragen, welche unter den Begriff >konträre Auseinandersetzung< fallen können: 1. >Was geschieht, was ist geschehen oder was wird geschehen?«, 2. > Welche Eigenschaft hat es?Wie nennt man es?< Denn die wei-

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illud, quod quidam Graeci adiungunt: "rectene factum sit", totum in eo est: "quale sit". Sed iam ad institutum revertar meum. Cum igitur acceptae causae genere cognito rem tractare coepi, nihil prius constituo, quam quid sit illud, quo mihi sit referenda omnis ilia oratio, quae sit propria quaestionis et iudicii; deinde ilia duo diligentissime considero, quorum alterum commendationem habet nostram aut eorum, quos defendimus, alterum est accommodatum ad eorum animos, apud quos dicimus, ad id, quod volumus, commovendos. Ita omnis ratio dicendi tribus ad persuadendum rebus est nixa: ut probemus vera esse ea, quae defendimus, ut conciliemus eos nobis, qui audiunt, ut animos eorum, ad quemcumque causa postulabit motum vocemus. Ad probandum autem duplex est oratori subiecta materies: una rerum earum, quae non excogitantur ab oratore, sed in re positae ratione tractantur, ut tabulae, testimonia, pacta conventa, quaestiones, leges, senatus consulta, res iudicatae, decreta, responsa, reliqua, si quae sunt, quae non reperiuntur ab oratore, sed ad oratorem a causa atque a reis deferuntur; altera est, quae tota in disputatione et in argumentation oratoris conlocata est. Ita in superiore genere de tractandis argumentis, in hoc autem etiam de inveniendis cogitandum est. Atque isti quidem, qui docent, cum causas in plura genera secuerunt, singulis generibus argumentorum copiam suggerunt. Quod etiam si ad instituendos adulescentulos magis aptum est, ut, simulac posita sit causa, habeant, quo se referant, unde statim expedita possint argumenta depromere, tarnen et tardi ingenii est rivolos consectari, fontis rerum non videre, et iam aetatis est ususque nostri a capite quod velimus arcessere et, unde omnia manent, videre.

Et primum genus illud earum rerum, quae ad oratorem deferuntur, meditatum nobis in perpetuum ad omnem usum similium rerum esse debebit. Nam et pro tabulis et contra tabulas et pro testibus et contra testes et pro quaestionibus et contra quaestiones et item de ceteris rebus eiusdem generis vel separatim dicere solemus de genere universo vel definite de singulis temporibus, hominibus, causis; quos quidem locos - vobis hoc, Cotta

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tere Frage, die manche Griechen anfügen: >Ist es zu Recht geschehen?', gehört ganz zu der Frage: »Welche Eigenschaft hat es?< - Aber ich will zu meinem eigentlichen Anliegen zurückkehren. (114) Wenn ich also die Art des Falles kenne und die Angelegenheit zu behandeln beginne, stelle ich zuallererst fest, was der wesentliche Punkt sei, auf den ich meine ganze Rede zu beziehen habe, die dem Gegenstand und dem Gerichtshof angemessen sein muss. Darauf erwäge ich mit größter Gewissenhaftigkeit zwei Punkte, zum einen: Was empfiehlt mich oder diejenigen, welche ich verteidige? Der zweite Punkt ist dazu geeignet, die Gemüter derjenigen, vor denen ich spreche, nach meinem Willen zu beeinflussen. (115) So stützt sich die ganze Redekunst auf drei Mittel, um zu überzeugen, erstens, dass wir die Glaubwürdigkeit dessen, wofür wir eintreten, beweisen, zweitens die Zuhörer für uns gewinnen, drittens ihre Gemüter in jede Stimmung, die der jeweilige Fall erfordert, versetzen. (116) Zur Beweisführung aber steht dem Redner doppeltes Material zur Verfügung, einmal von dem, was sich der Redner nicht auszudenken braucht, sondern konkret vorliegt und systematisch behandelt wird, wie privatrechtliche Dokumente, Zeugenaussagen, geschlossene Verträge, das Ergebnis peinlicher Verhöre, Gesetze, Senatsbeschlüsse, frühere richterliche Entscheidungen, Erlasse, Rechtsgutachten und was sonst, wenn es noch etwas gibt, nicht vom Redner herausgefunden, sondern ihm vorgelegt wird im Zusammenhang mit dem Fall oder von den Prozessparteien; das andere aber ist das, was ganz auf der Erörterung und Beweisführung des Redners gründet. (117) So muss man bei der ersten Kategorie darüber nachdenken, wie man die Beweise behandeln soll, bei der letzten aber, wie man sie auffinden kann. Und diese Pauker fügen, wenn sie die Rechtsfälle in mehrere Klassen aufgespalten haben, für die einzelnen Klassen eine Menge von Argumentationshilfen hinzu. Das ist wohl besser geeignet, um ganz junge Männer auszubilden, damit sie, sobald der Fall vorgelegt ist, etwas haben, nach dem sie sich richten und woher sie sofort fertige Argumente entnehmen können; dennoch verrät es Trägheit des Geistes, den Lauf kleiner Rinnsale zu verfolgen, die Quellen der Dinge aber nicht wahrzunehmen, und unser Alter und unsere Erfahrung fordern, dass wir das, was wir wollen, von seinem Ausgangspunkt herleiten und wahrnehmen, woraus alles hervorgeht. (118) Und jene erste Art von Dingen, welche dem Redner vorgelegt werden, müssen wir für immer und für jede Verwendung in ähnlich gelagerten Fällen überdenken. Denn gewöhnlich sprechen wir für Dokumente und gegen Dokumente, für Zeugen und gegen Zeugen, für peinliche Verhöre und gegen peinliche Verhöre und ebenso über die übrigen Dinge derselben Art entweder ohne einen bestimmten Bezug oder mit einem bestimmten Bezug über einzelne Zeitumstände, Menschen und Fälle. Diese Gesichtspunkte

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et Sulpici, dico - multa commentatione atque meditatione paratos atque expeditos habere debetis. Longum est enim nunc me explicare, qua ratione aut confirmare aut infirmare testes, tabulas, quaestiones oporteat. Haec sunt omnia ingenii vel mediocris, exercitationis autem maximae; artem quidem et praecepta dumtaxat hactenus requirunt, ut certis dicendi luminibus ornentur. Itemque ilia, quae sunt alterius generis, quae tota ab oratore pariuntur, excogitationem non habent difficilem, explicationem magis inlustrem perpolitamque desiderant. Itaque cum haec duo nobis quaerenda sint in causis, primum quid, deinde quo modo dicamus; alterum, quod totum arte tinctum videtur, tametsi artem requirit, tamen prudentiae est paene mediocris quid dicendum sit videre; alterum est, in quo oratoris vis ilia divina virtusque cernitur, ea, quae dicenda sunt, ornate, copiose, varieque dicere. Quare illam partem superiorem, quoniam semel ita vobis placuit, non recusabo, quo minus perpoliam atque conficiam quantum consequar, vos iudicabitis - , quibus ex locis ad eas tris res, quae ad fidem faciendam solae valent, ducatur oratio, ut et concilientur animi et doceantur et moveantur; haec sunt enim tris. Ea vero quem ad modum inlustrentur, praesto est, qui omnes docere possit, qui hoc primus in nostras mores induxit, qui maxime auxit, qui solus effecit. Namque ego, Catule, - dicam enim non reverens adsentandi suspicionem - neminem esse oratorem paulo inlustriorem arbitror neque Graecum neque Latinum, quem aetas nostra tulerit, quem non et saepe et diligenter audierim. Itaque si quid est in me - quod iam sperare videor, quoniam quidem vos, eius ingenii homines, tantum operae mihi ad audiendum datis - ex eo est, quod nihil quisquam umquam me audiente egit orator, quod non in memoria mea penitus insederit. Itaque ego is, qui sum, quantuscumque sum ad iudicandum, omnibus auditis oratoribus, sine ulla dubitatione sic statuo et iudico neminem omnium tot et tanta, quanta sint in Crasso, habuisse ornamenta dicendi. Quam ob rem, si vos quoque hoc idem existimatis, non erit, ut opinor, iniqua partitio, si, cum ego

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nun - das sage ich zu euch, mein Cotta und mein Sulpicius - müsst ihr durch intensive Vorstudien und durch Vorübung in Bereitschaft und fertig haben. (119) Es würde nämlich zu weit führen, wenn ich jetzt entwickeln wollte, auf welche Weise man Zeugenaussagen, Dokumente und das Ergebnis peinlicher Verhöre entweder erhärten oder entkräften soll. Dies alles sind Aufgaben, welche eine nur mittelmäßige Begabung, aber sehr gründliche Ü b u n g voraussetzen; Kunstregeln eines wissenschaftlichen Systems erfordern sie höchstens insofern, als sie mit bestimmten stilistischen Glanzpunkten geschmückt werden sollen. (120) U n d ebenso ist es nicht schwierig, Argumente der anderen Art, welche ganz vom Redner beigebracht werden, auszudenken; sie verlangen aber in höherem Maße eine die Bedeutung klar bezeichnende und ausgefeilte Darstellung. Bei Prozessen also müssen wir die beiden folgenden Fragen stellen: erstens, worüber, und zweitens, wie wir reden sollen. Die erste Aufgabe, welche im Ganzen theorielastig zu sein scheint, erfordert wohl ein theoretisches System; trotzdem setzt es nur eine durchschnittliche Intelligenz voraus, u m zu sehen, was man sagen muss. Die andere Aufgabe, bei welcher man jene göttliche Kraft und Tüchtigkeit des Redners erkennt, ist, das, was gesagt werden m u s s , mit reichem Redeschmuck, wort- und gedankenvoll und voller Abwechslung darzubieten. (121) D a es euch nun einmal s o beliebt hat, will ich mich deshalb nicht weigern, jenen ersten Teil sorgfältig und vollständig zu behandeln - wie weit ich es erreiche, werdet ihr beurteilen - ; ich werde also darlegen, aus welchen Beweisquellen eine Rede zu den drei Eigenschaften gebracht wird, die allein imstande sind, Glaubwürdigkeit zu erwecken, nämlich die Herzen zu gewinnen, zu belehren und zu bewegen; dies sind nämlich die drei Ziele. Wie man das aber mit sprachlichem Glanz tut: hier ist jemand zugegen, der alle belehren kann, der diese Kunst als Erster bei uns heimisch gemacht, der sie am meisten gefördert, der allein sie völlig verwirklicht hat. (122) Denn, wie ich glaube, mein Catulus - ich sage das, ohne vor dem Verdacht, ich würde schmeicheln, zurückzuschrecken - , gibt es keinen einigermaßen berühmten Redner, weder einen griechischen noch einen lateinischen, welchen unser Zeitalter hervorgebracht hat, den ich nicht oft und aufmerksam gehört hätte. Wenn deshalb etwas an mir ist - das darf ich wohl hoffen, da doch ihr, s o geistreiche Männer, solche Mühe darauf verwendet, mir zuzuhören - , k o m m t das davon, dass kein Redner jemals vor meinen Ohren etwas vorgetragen hat, was sich nicht tief in mein H e r z gesenkt hätte. Daher vertrete ich, s o wie ich bin und so wenig auch mein Urteil maßgebend ist, nachdem ich alle Redner gehört habe, ohne irgendwie zu zögern, die folgende Meinung und gebe folgendes Urteil ab: Keiner von allen besaß s o viele und so wirkungsvolle Mittel des rednerischen Schmucks wie Crassus. (123) Deshalb wird, wenn auch ihr der gleichen Ansicht seid, die folgende Einteilung, wie

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hunc oratorem, quern nunc fingo, ut institui, crearo, aluero, confirmaro, tradam eum Crasso et vestiendum et ornandum.'

Tum Crassus 'tu vera,' inquit, 'Antoni, perge, ut instituisti. Neque enim est boni neque liberalis parentis, quern procrearis et eduxeris, eum non et vestire et ornare, praesertim cum te locupletem esse negare non possis. Quod enim ornamentum, quae vis, qui animus, quae dignitas illi oratori defuit, qui in causa peroranda non dubitavit excitare reum consularem et eius diloricare tunicam et iudicibus cicatrices adversas senis imperatoris ostendere; qui idem, hoc accusante Sulpicio cum hominem seditiosum furiosumque defenderet, non dubitavit seditiones ipsas ornare ac demonstrare gravissimis verbis multos saepe impetus populi non iniustos esse, quos praestare nemo posset; multas etiam e re publica seditiones saepe esse factas, ut cum reges essent exacti, ut cum tribunicia potestas esset constituta; illam Norbani s£ditionem ex luctu civium et ex Caepionis odio, qui exercitum amiserat, neque reprimi potuisse et iure esse conflatam? Potuit hie locus tam anceps, tam inauditus, tam lubricus, tam novus sine quadam incredibili vi ac facultate dicendi tractari? Quid ego de Cn. Malli, quid de Q. Regis commiseratione dicam? Quid de aliis innumerabilibus? In quibus hoc non maxime enituit, quod tibi omnes dant, acumen quoddam singulare, sed haec ipsa, quae nunc ad me delegare vis, ea semper in te eximia et praestantia fuerunt.'

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Tum Catulus 'ego vero' inquit 'in vobis hoc maxime admirari soleo, quod, cum inter vos in dicendo dissimillimi sitis, ita tamen uterque vestrum dicat, ut ei nihil neque a natura denegatum neque a doctrina non delatum esse videatur. Quare, Crasse, neque tu tua suavitate nos privabis, ut, si quid ab Antonio aut praetermissum aut relictum sit, non explices, neque te, Antoni, si quid non dixeris, existimabimus non potuisse potius quam a Crasso dici maluisse.'

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Hie Crassus 'quin tu' inquit 'Antoni, omittis ista quae proposuisti, quae nemo horum desiderat: quibus ex locis ea, quae di-

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ich glaube, nicht unbillig sein. Wenn ich diesen unseren Redner, dessen Idealbild ich jetzt entwerfe, wie ich es mir vorgenommen habe, geschaffen, gefördert und gekräftigt habe, werde ich ihn dem Crassus übergeben, damit er ihn einkleide und ausstatte.« (124) Darauf sagte Crassus: »Fahre nur du fort, mein Antonius, wie du begonnen hast. Es gehört sich nämlich nicht für einen guten und freigebigen Vater, das Kind, das du gezeugt und aufgezogen hast, nicht auch zu kleiden und auszustatten, zumal du nicht abstreiten kannst, dass du wohlhabend bist. Welcher Redeschmuck nämlich, welche Kraft, welches Feuer, welche Würde fehlte jenem Redner, der am Schluss seines Plädoyers nicht zögerte, einen angeklagten Konsular aufstehen zu lassen, dessen Tunika zu zerreißen und den Richtern die Narben auf der Brust des greisen Feldherrn zu zeigen? Der, als er gegen Sulpicius als Ankläger einen Aufrührer und Wahnsinnigen verteidigte, ebenso wenig zögerte, sogar Aufruhr zu feiern und mit sehr gewichtigen Worten nachwies, dass viele Gewaltausbrüche des Volkes nicht ungerechtfertigt seien; für sie könne niemand verantwortlich sein. Der auch nachwies, dass viele Erhebungen oft zum Nutzen des Staates waren, z.B. als die Könige vertrieben wurden, z.B. als die tribunizische Gewalt eingesetzt wurde. Auch jener Aufstand des Norbanus, führte er aus, durch die Trauer der Bürger und ihren Hass auf Caepio, der sein Heer verloren hatte, entstanden, habe nicht unterdrückt werden können und sei zu Recht angefacht worden. (125) Hätte dieser so zweischneidige, so unerhörte, so riskante, so neuartige Gesichtspunkt ohne eine geradezu unglaubliche Redegewalt und -fähigkeit behandelt werden können? Was soll ich über den Appell an das Mitleid für Gnaeus Mallius, was über den für Quintus Rex sagen? Was über andere unzählige? Bei ihnen zeigte sich nicht in erster Linie dein geradezu einzigartiger Scharfsinn, den alle anerkennen, in vollem Glänze, sondern gerade das, was du jetzt mir zuweisen willst, zeigte sich bei dir immer ausgezeichnet und vortrefflich.« (126) Darauf sagte Catulus: »Wahrhaftig pflege ich an euch am meisten das Folgende zu bewundern: Obwohl ihr euch im Reden sehr unähnlich seid, redet jeder von euch dennoch so, dass der Eindruck entsteht, es gebe nichts, was ihm von der Natur verweigert oder durch die theoretische Ausbildung nicht geboten wurde. Deshalb wirst du, mein Crassus, uns nicht deiner Liebenswürdigkeit so berauben, dass du, wenn von Antonius etwas übergangen oder ausgelassen wurde, dieses nicht entwickelst; und wenn andererseits du, mein Antonius, etwas nicht sagst, werden wir nicht glauben, du habest es nicht vermocht, sondern vielmehr, du habest lieber gewollt, dass es von Crassus gesagt wird.« (127) Da sprach Crassus: »Warum, mein Antonius, lässt du nicht unerwähnt, was du zwar angekündigt hast, was aber keiner von den Anwesenden

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cenda sunt in causis, reperiantur; quae quamquam a te novo quodam modo praeclareque dicuntur, sunt tarnen et re faciliora et praeceptis pervagata; ilia, deprome nobis, unde adferas, quae saepissime tractas semperque divinitus.'

'Depromam equidem' inquit 'et quo facilius id a te exigam, quod peto, nihil tibi a me postulanti recusabo. Meae totius in dicendo rationis et istius ipsius facultatis, quam modo Crassus in caelum verbis extulit, tres sunt partes, ut ante dixi: una conciliandorum hominum, altera docendorum, tertia concitandorum. Harum trium partium prima lenitatem orationis, secunda acumen, tertia vim desiderat. N a m hoc necesse est, ut is, qui nobis causam adiudicaturus sit, aut inclinatione voluntatis propendeat in nos aut defensionis argumentis adducatur aut animi permotione cogatur. Sed quoniam ilia pars, in qua rerum ipsarum explicatio ac defensio posita est, videtur omnem huius generis quasi doctrinam continere, de ea primum loquemur et pauca dicemus; pauca enim sunt, quae usu iam tractata et animo quasi habere notata videamur. Ac tibi sapienter monenti, Crasse, libenter adsentiemur, ut singularum causarum defensiones, quas solent magistri pueris tradere, relinquamus, aperiamus autem capita ea, unde omnis ad omnem et causam et orationem disputatio ducitur. Neque enim, quotiens verbum aliquod est scribendum nobis, totiens eius verbi litterae sunt cogitatione conquirendae; nec quotiens causa dicenda est, totiens ad eius causae seposita argumenta revolvi nos oportet, sed habere certos locos, qui, ut litterae ad verbum scribendum, sic illi ad causam explicandam statim occurrant. Sed hi loci ei demum oratori prodesse possunt, qui est versatus in rerum vel usu, quem aetas denique adferet, vel auditione et cogitatione, quae studio et diligentia praecurrit aetatem. N a m si tu mihi quamvis eruditum hominem adduxeris, quamvis acrem et acutum in cogitando, quamvis ad pronuntiandum expeditum, si erit idem in consuetudine civita-

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vermisst, nämlich die Frage, aus welchen Beweisquellen man die Argumente findet, die man in Prozessen nennen muss? Obwohl diese Dinge von dir in ganz neuer Art und vortrefflich vorgetragen werden, sind sie trotzdem der Sache nach ziemlich leicht und, was die Vorschriften angeht, weit verbreitet. Hole uns doch die Quellen herbei, aus denen du uns die Mittel herbringst, die du so oft und immer meisterhaft handhabst.« (128) »Ich werde sie in der Tat herbeiholen«, erwiderte er, »und damit ich das umso leichter von dir verlangen kann, was ich erstrebe, werde ich dir nichts verweigern, wenn du es von mir forderst. Mein ganzes Vorgehen beim Reden und gerade diese Fähigkeit, die Crassus eben mit seinen Worten bis in den Himmel gehoben hat, besteht aus drei Teilaspekten, wie ich vorhin sagte: erstens die Menschen zu gewinnen, zweitens sie zu belehren, drittens sie heftig zu erregen. (129) Von diesen drei Teilaspekten verlangt der erste sanftes Dahinfließen der Rede, der zweite pointierte Klarheit, der dritte Kraft. Denn dieses ist unumgänglich: Wer den Rechtsfall zu unseren Gunsten entscheiden soll, muss entweder durch die Zuwendung seiner Sympathie uns gewogen sein oder dazu durch die Argumente der Verteidigung gebracht oder durch heftige Gemütsbewegung gezwungen werden. Aber da ja jener Teilaspekt, auf dem die Entwicklung der Geschehnisse selbst und ihre Verteidigung beruht, gewissermaßen die gesamte theoretische Lehre unseres Gegenstandes zu enthalten scheint, werde ich zuerst darüber sprechen und einiges wenige sagen; denn es gibt nur weniges, was ich - so scheint es mir wenigstens - in der Praxis behandelt und gleichsam in meinem Geist festgehalten habe. (130) Und gerne stimme ich deiner klugen Mahnung zu, mein Crassus, die Arten der Verteidigung in einzelnen Rechtsfällen, welche die Lehrer den Knaben zu vermitteln pflegen, außer Acht zu lassen, die Hauptquellen aber, aus denen jede Erörterung für jeden Rechtsfall und jede Rede hergeleitet wird, zu öffnen. Denn wir müssen auch nicht, jedes Mal wenn wir ein Wort zu schreiben haben, immer erst die Buchstaben des Wortes in Gedanken zusammensuchen; und so ist es auch nicht zulässig, dass wir jedes Mal, wenn wir einen Prozess zu führen haben, auf die speziell dazu bestimmten Argumente zurückkommen, sondern wir müssen bestimmte Beweisquellen haben, die ebenso wie die Buchstaben zum Schreiben eines Wortes uns sogleich einfallen für die Entwicklung eines Falles. (131) Aber diese Beweisquellen können nur demjenigen Redner nützen, der sich in den Dingen auskennt entweder durch praktische Erfahrung, welche schließlich das Alter mit sich bringt, oder durch Zuhören und Nachdenken, was durch Eifer und Gewissenhaftigkeit dem Alter vorauseilt. Denn magst du mir auch einen Mann herbeibringen, der noch so gebildet, noch so spitzfindig und scharfsinnig im Denken und noch so gewandt im Vortrag ist: wenn er dabei nicht vertraut ist mit den Gepflogenheiten des politischen Lebens, mit den Präze-

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tis, in exemplis, in institutis, in moribus ac voluntatibus civium suorum hospes, non multum ei loci proderunt illi, ex quibus argumenta promuntur. Subacto mihi ingenio opus est, ut agro non semel arato, sed novato et iterato, quo meliores fetus possit et grandiores edere. Subactio autem est u s u s , auditio, lectio, litterae. A c primum naturam causae videat, quae n u m q u a m latet, factumne sit, quaeratur, an quale sit, an quod nomen habeat. Q u o perspecto statim occurrit naturali quadam prudentia, non iis subductionibus, quas isti docent, quid faciat causam, id est, quo sublato controversia stare non possit; deinde quid veniat in iudicium, q u o d isti sic iubent quaerere: Interfecit O p i m i u s Gracchum. Q u i d facit causam? Q u o d rei publicae causa, cum ex senatus consulto ad arma vocasset. H o c tolle, causa non erit. At id ipsum negat contra leges licuisse Decius. Veniet igitur in iudicium: licueritne ex senatus consulto servandae rei publicae causa? Perspicua sunt haec quidem et in vulgari prudentia sita; sed ilia quaerenda, quae et ab accusatore et a defensore argumenta ad id, quod in iudicium venit, spectantia debent adferri. Atque hie illud videndum est, in quo s u m m u s est error istorum magistrorum, ad quos liberos nostras mittimus, non quo hoc quidem ad dicendum magno opere pertineat, sed tamen ut videatis, quale sit genus hoc eorum, qui sibi eruditi videntur: hebes atque inpolitum! Constituunt enim in partiendis orationum modis d u o genera causarum: unum appellant, in quo sine personis atque temporibus de universo genere quaeratur, alteram, quod personis certis et temporibus definiatur; - ignari omnis controversias ad universi generis vim et naturam referri! N a m in ea ipsa causa, de qua ante dixi, nihil pertinet ad oratoris locos O p i m i persona, nihil Deci, de ipso enim universo genere infinita quaestio est, num poena videatur esse adficiendus, qui civem ex senatus consulto patriae conservandae causa interemerit, cum id

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denzfällen, mit den Grundsätzen, mit den Sitten und Gesinnungen seiner Mitbürger, werden ihm diese Beweisquellen, aus denen man die Argumente hervorholt, nicht viel nützen. Ich brauche einen durch harte Arbeit geschulten Geist, gleich einem Acker, der nicht nur einmal, sondern auch ein zweites und drittes Mal gepflügt wird, damit er umso bessere und größere Früchte hervorbringen kann. Deine Arbeit aber besteht in praktischer Erfahrung, Hören, Lesen und schriftlichen Übungen. (132) Und zuerst soll er auf die Natur des Falles sehen, die niemals ein Geheimnis bleibt; ob eine Tat begangen wurde, soll man fragen, oder wie sie zu bewerten oder zu bezeichnen ist. Hat man dies erkannt, so kommt einem durch eine gewisse natürliche Klugheit, nicht durch die Erwägungen, welche diese Pauker da lehren, sofort in den Sinn, was den strittigen Punkt ausmacht, d. h. die Frage, ohne die kein Einwand bestehen kann. Danach folgt die Frage, was zur Entscheidung vor Gericht ansteht. Dafür ordnen diese Theoretiker da folgende Untersuchung an: Opimius hat Gracchus getötet. Was macht den strittigen Punkt aus? Dass er es um des Staates willen getan hat, da er aufgrund eines Senatsbeschlusses zu den Waffen gerufen hatte. Nimm dies weg, und es wird keine begründete Entschuldigung geben. Aber gerade dies, behauptet Decius, sei gegen die Gesetze und nicht erlaubt gewesen. Zur Entscheidung vor Gericht wird also die Frage anstehen: War die Tat aufgrund eines Senatsbeschlusses zur Rettung des Staates erlaubt? Dergleichen ist freilich einleuchtend und lässt sich mit dem gesunden Menschenverstand verstehen; aber man muss jene Argumente untersuchen, die vom Ankläger und vom Verteidiger mit dem Blick auf die Frage, die zur Entscheidung vor Gericht ansteht, vorgebracht werden müssen. (133) Und hier muss man auf jenen Punkt blicken, in dem sich diese Lehrmeister da, zu denen wir unsere Kinder schicken, gar sehr irren - nicht als ob sich nun dieser Punkt besonders auf die Rede bezöge, aber doch damit ihr seht, wie die Art von Menschen ist, die sich gebildet vorkommen: stumpfsinnig und unkultiviert. Sie setzen nämlich bei der Einteilung der Redeformen zwei Gattungen von Streitfällen fest: die eine bezeichnen sie als die Gattung, in welcher ohne Angabe von Personen und Zeitumständen nach einem allgemeinen Fall gefragt wird, die andere als die Gattung, die durch konkrete Personen und Zeitumstände bestimmt wird; - sie haben keine Ahnung davon, dass alle gerichtlichen Auseinandersetzungen zurückgeführt werden auf einen wichtigen und wesentlichen allgemeinen Aspekt. (134) Denn gerade in dem Fall, von dem ich vorhin gesprochen habe, hat die Person des Opimius und die des Decius auf die Gesichtspunkte des Redners überhaupt keinen Einfluss; es geht nämlich in ganz allgemeiner Art um die unbestimmte Frage, ob jemand wohl mit einer Strafe zu belegen ist, der einen Mitbürger aufgrund eines Senatsbeschlusses zur Erhaltung des Staates beseitigt hat, obwohl das nach den Ge-

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per leges non liceret. Nulla denique est causa, in qua id, quod in iudicium venit, reorum personis ac non generum ipsorum universa disputatione quaeratur. Quin etiam in iis ipsis, ubi de facto ambigitur, ceperitne pecunias contra leges Decius, argumenta et criminum et defensionis revocentur oportet et ad genus et ad naturam universam; quod sumptuosus, de luxurie; quod alieni appetens, de avaritia; quod seditiosus, de turbulentis et malis civibus; quod a multis arguitur, de genere testium; contraque, quae pro reo dicentur, omnia necessario a tempore atque homine ad communis rerum et generum summas revolventur. Atque haec forsitan homini non omnia, quae sunt in natura rerum, celeriter animo comprehendenti permulta videantur, quae veniant in iudicium tum, cum de facto quaeratur, sed tarnen criminum multitudo est aut defensionum, nam locorum infinita.

Quae vero, cum de facto non ambigitur, quaeruntur, qualia sint, ea si ex reis numeres, et innumerabilia sunt et obscura, si ex rebus, valde et modica et inlustria. Nam si Mancini causam in uno Mancino ponimus, quotienscumque is, quem pater patratus dediderit, receptus non erit, totiens causa nova nascetur. Sin illa controversia causam facit, videaturne ei, quem pater patratus dediderit, si is non sit receptus, postliminium esse, nihil ad artem dicendi nec ad argumenta defensionis Mancini nomen pertinet. Ac si quid adfert praeterea hominis aut dignitas aut indignitas, extra quaestionem est et ea tarnen ipsa oratio ad universi generis disputationem referatur necesse est. Haec ego non eo consilio disputo, ut homines eruditos redarguam; quamquam reprehendendi sunt, qui in genere definiendo istas causas describunt in personis et in temporibus positas esse. Nam etsi incurrunt tempora et personae, tarnen intellegendum est non ex iis, sed ex genere quaestionis pendere causas. Sed hoc nihil ad me; nullum enim nobis certamen cum istis esse debet. Tantum satis

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setzen nicht erlaubt war. Schließlich gibt es keinen Fall, in welchem die Frage, welche zur Entscheidung vor Gericht ansteht, nach den Personen der streitenden Parteien und nicht durch eine allgemeine Erörterung gerade der generellen Gesichtspunkte untersucht würde. (135) J a sogar in den Fällen, w o der Tatbestand umstritten ist, ζ. B. bei der Frage, ob Decius gegen die gesetzlichen Bestimmungen Geld genommen hat, müssen die Argumente sowohl für die Beschuldigungen als auch die Verteidigung bezogen werden auf die Gattung und allgemeine Gegebenheiten ; wenn er aufwändig lebt, muss man von Genusssucht sprechen; wenn er nach fremdem Gut strebt, von Habsucht; wenn er ein Aufrührer ist, über Unruhestifter und schlechte Bürger; wenn er von vielen beschuldigt wird, über die Art von Zeugen; im entgegengesetzten Fall muss man alles, was für den Angeklagten vorgebracht wird, gezwungenermaßen von den Zeitumständen und dem Menschen trennen und zurückführen auf die allgemeinen Grundsätze und Gesichtspunkte. (136) U n d mag vielleicht auch ein Mensch, der alles, was zum Wesen der Dinge gehört, nicht schnell gedanklich erfasst, den Eindruck gewinnen, die Fragen, die zur Entscheidung vor Gericht anstehen, seien dann, wenn man nach dem Tatbestand fragt, sehr zahlreich, so ist dennoch nur die Menge der Beschuldigungen oder Verteidigungsmöglichkeiten, nicht die der Beweisquellen unbegrenzt. (137) Was aber bei einem nicht umstrittenen Tatbestand die Frage nach seiner Bewertung angeht, so sind die Fälle, wenn man von den am Prozess beteiligten Personen ausgeht, unzählig und nicht zu durchschauen; wenn man jedoch nach der Sachlage vorgeht, sind sie der Zahl nach sehr beschränkt und einleuchtend. Denn wenn wir den Fall des Mancinus auf Mancinus allein beschränken, wird jedes Mal ein neuer Fall entstehen, wie oft auch immer ein Mann, den der Sprecher der Fetialen ausgeliefert hat, nicht wieder aufgenommen wird. Wenn aber die Auseinandersetzung darüber, ob für einen Mann, den der Sprecher der Fetialen ausgeliefert hat, das Rückkehrrecht auch gilt, wenn er nicht wieder aufgenommen wurde, den strittigen Punkt ausmacht, hat der N a m e Mancinus auf die Kunst der Rede und die Argumente der Verteidigung überhaupt keinen Einfluss. (138) U n d wenn darüber hinaus auch die Würdigkeit oder Unwürdigkeit eines Menschen etwas bewirkt, liegt das außerhalb der Untersuchung und man muss notgedrungen die Rede gerade dazu auf die Erörterung der allgemeinen Grundsätze ausrichten. D a s trage ich nicht in der Absicht vor, u m die Gelehrten einer falschen Aussage zu bezichtigen; gleichwohl m u s s man diejenigen tadeln, die beim Definieren der Gattung fesdegen, diese Fälle gründeten auf Personen und Zeitumständen. (139) Denn auch wenn Zeitumstände und Personen mit ins Spiel k o m m e n , muss man dennoch einsehen, dass die Fälle nicht von ihnen, sondern von der Problemlage abhängen. Aber das berührt mich überhaupt nicht; denn es muss keinen Streit zwischen mir und diesen Theoreti-

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SECUNDUS

est intellegi, ne hoc quidem eos consecutos, quod in tanto otio etiam sine hac forensi exercitatione efficere potuerunt, ut genera rerum discernerent eaque paulo suptilius explicarent. Verum hoc, ut dixi, nihil ad me. Illud ad me ac multo etiam magis ad vos, Cotta noster et Sulpici: quo modo nunc se istorum artes habent, pertimescenda est multitudo causarum; est enim infinita, si in personis ponitur; quot homines, tot causae; sin ad generum universas quaestiones referentur, ita modicae et paucae sunt, ut eas omnes diligentes et memores et sobrii oratores percursas animo et prope dicam decantatas habere debeant; nisi forte existimatis a M.' Curio causam didicisse L. Crassum et ea re multa attulisse, quam ob rem postumo non nato Curium tarnen heredem Coponi esse oporteret. Nihil ad copiam argumentorum neque ad causae vim ac naturam nomen Coponi aut Curi pertinuit; in genere erat universo rei negotique, non in tempore ac nominibus omnis quaestio. Cum scriptum ita sit: si MIHI FI-

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LIUS G E N I T U R ISQUE P R i u s M O R I T U R e t c e t e r a , TUM U T M I H I

ILLE SIT HERES, si natus filius non sit, videaturne is, qui filio mortuo institutus heres sit, heres esse, perpetui iuris et universi generis quaestio non hominum nomina, rationem dicendi et argumentorum fontis desiderat. In quo etiam isti nos iuris consulti impediunt a discendoque deterrent. Video enim in Catonis et in Bruti libris nominatim fere referri, quid alicui de iure viro aut mulieri responderint; credo, ut putaremus in hominibus, non in re consultationis aut dubitationis causam aliquam fuisse, ut, quod homines essent innumerabiles, debilitati iure cognoscendo voluntatem discendi simul cum spe perdiscendi abiceremus.

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Sed haec Crassus aliquando nobis expediet et exponet descripta generatim. Est enim, ne forte nescias, heri nobis ille hoc, Catule, pollicitus se ius civile, quod nunc diffusum et dissipatum esset, in certa genera coacturum et ad artem facilem redacturum'. 'Et quidem' inquit Catulus, 'haudquaquam id est difficile 143 Crasso, qui et, quod disci potuit, de iure didicit, et quod iis, qui

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kern da geben. Es genügt, dass man nur soviel erkennt: Trotz so reichlicher Muße und ohne unsere praktische Tätigkeit auf dem Forum konnten sie es nicht zustande bringen, die Arten der Fälle zu unterscheiden und sie ein wenig genauer zu erklären. (140) Doch, wie gesagt, das berührt mich nicht. D a s Folgende aber berührt mich und noch viel mehr euch, mein Cotta und Sulpicius: Wie es auch jetzt u m die theoretischen Lehren dieser Leute da steht angst und bange muss es einem werden bei der Menge der Fälle; sie ist nämlich unbegrenzt, wenn man sie nach den Personen bestimmt; wie viele Menschen, s o viele Fälle. Wenn man sie aber auf allgemeine prinzipielle Fragen ausrichtet, sind sie der Zahl nach s o beschränkt und wenige, dass gewissenhafte Redner mit einem guten Gedächtnis und nüchternem Urteilsvermögen sie gründlich überdacht und - beinahe möchte ich sagen - heruntergeleiert haben müssen. O d e r seid ihr etwa der Ansicht, Lucius Crassus habe sich von Manius Curius über den Fall unterrichten lassen und habe dadurch viele Beweise vorgebracht, weshalb Curius dennoch Erbe des C o p o n i u s sein müsse, auch wenn diesem kein Nachkömmling geboren war? (141) Uberhaupt keinen Einfluss auf die Menge der Argumente und auch nicht auf das Wesen und die Natur des Falles hatte der N a m e C o p o n i u s oder Curius; auf der allgemeinen Art der Sache und des Sachverhalts, nicht auf einem Zeitumstand und auf N a m e n war die ganze Untersuchung aufgebaut. Wenn der W o r t l a u t d e s T e s t a m e n t e s i s t : WENN MIR EIN SÖHN GEBOREN WIRD U N D DIESER FRÜHER STIRBT USW., DANN SOLL J E N E R MEIN ERBE SEIN, d a n n

verlangt, falls nun kein Sohn geboren wurde, die Frage des für immer gültigen Rechts und der allgemeinen Art, ob derjenige, welcher für den Fall des Todes des Sohnes als Erbe eingesetzt wurde, nicht N a m e n von Menschen, sondern rationale Erörterung und Quellen für die Argumente. (142) Darin behindern uns diese Rechtsgelehrten da und schrecken uns v o m Lernen ab. Ich sehe nämlich, dass in den Büchern Catos und des Brutus in der Regel unter Nennung des N a m e n s berichtet wird, welche Rechtsgutachten sie einem Mann oder einer Frau erteilt haben; vermutlich sollten wir glauben, bei den Menschen und nicht in der Sache habe der G r u n d für die Beratung oder den zweifelhaften Fall gelegen, damit wir, weil es unzählig viele Menschen gibt, entmutigt von der Untersuchung des Rechts den Willen, es zu erlernen, zugleich mit der Hoffnung, es gründlich zu erlernen, aufgeben. Aber Crassus wird uns das einmal erläutern und nach Gattungen geordnet darstellen. Er hat uns nämlich gestern - damit du das genau weißt, mein Catulus - versprochen, das bürgerliche Recht, das jetzt weitschweifig und zusammenhangslos sei, in bestimmten Gattungen zusammenzufassen und es in ein leicht fassliches System zu bringen.« (143) »Freilich ist d a s « , warf Catulus ein, »für Crassus keineswegs schwierig; er hat ja alles über das Recht gelernt, was man lernen konnte; und was

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eum docuerunt, defuit, ipse adferet, ut, quae sint in iure, vel acute describere vel ornate inlustrare possit. 'Ergo ista' inquit Antonius 'tum a Crasso discemus, cum se de turba et a subselliis in otium, ut cogitat, soliumque contulerit.' 'Iam id quidem saepe' inquit Catulus 'ex eo audivi, cum diceret sibi certum esse a iudiciis causisque discedere; sed, ut ipsi soleo dicere, non licebit. Neque enim ipse auxilium suum saepe a viris bonis frustra implorari patietur neque aequo id animo feret civitas; quae si voce L. Crassi carebit, ornamento quodam se spoliatam putabit.' ' N a m hercle' inquit Antonius 'si haec vere a Catulo dicta sunt, tibi mecum in eodem est pistrino, Crasse, vivendum; et istam tuam oscitantem et dormitantem sapientiam Scaevolarum et ceterorum beatorum otio concedamus.' Adrisit hie Crassus leviter et 'pertexe m o d o , ' inquit 'Antoni, quod exorsus es. Me tamen ista "oscitans sapientia", simul atque ad earn confugero, in libertatem vindicabit.' 'Huius quidem loci, quem m o d o sum exorsus, hie est finis,' inquit Antonius, 'quoniam intellegeretur non in hominum innumerabilibus personis neque in infinita temporum varietate, sed in generum causis atque naturis omnia sita esse, quae in dubium vocarentur, genera autem esse definita non solum numero, sed etiam paucitate, ut earn materiem orationis, quae cuiusque esset generis, studiosi qui essent dicendi omnibus locis discriptam, instructam ornatamque comprehenderent, rebus dico et sententiis. Ea vi sua verba parient, quae semper satis ornata mihi quidem videri solent, si eius modi sunt, ut ea res ipsa peperisse videatur. Ac si verum quaeritis, quod mihi quidem videatur - nihil enim aliud adfirmare possum nisi sententiam et opinionem meam - , hoc instrumentum causarum et generum universorum in forum deferre debemus neque, ut quaeque res delata ad nos erit, tum denique scrutari locos, ex quibus argumenta eruamus; quae quidem omnibus, qui ea mediocriter m o d o considerarint, studio adhibito et usu pertractata esse possunt, sed tamen animus

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seinen Lehrern fehlte, wird er selbst mitbringen. S o wird er in der Lage sein, ebenso scharfsinnig zu beschreiben, was es auf dem Gebiet des Rechts gibt, wie es mit reichem Redeschmuck ins rechte Licht zu setzen.« »Also werden wir«, fügte Antonius hinzu, »diese Dinge dann von Crassus erfahren, wenn er sich, wie er beabsichtigt, aus dem Trubel und von den Gerichtsbänken in die Muße und auf seinen Lehnstuhl zurückgezogen haben wird.« (144) » D a s habe ich zwar schon oft von ihm gehört«, äußerte sich Catulus, »wenn er sagte, er habe sich entschlossen, sich von den Gerichten und Prozessen zu trennen, aber das wird ihm, wie ich ihm selbst immer wieder sage, nicht vergönnt sein. Weder nämlich wird er es zulassen, dass tüchtige Männer oft vergeblich seine Hilfe erbitten, noch werden die Bürger das mit Gleichmut ertragen; wenn sie auf die Stimme des Lucius Crassus verzichten müssen, werden sie glauben, sie seien geradezu einer Zierde beraubt.« »Ja beim Herkules«, sagte Antonius, »wenn diese Worte des Catulus wahr sind, musst du, mein Crassus, mit mir zusammen in derselben Stampfmühle leben; und dieses Regelwerk, bei dem man gähnen muss und einschläft, wollen wir der Muße von Leuten wie Scaevola und anderen Glücklichen zugestehen.« (145) D a lächelte Crassus leicht und sagte; »Vollende nur, mein Antonius, was du begonnen hast. Mich wird dennoch dieses dein >Regelwerk, bei dem man gähnen mussDas ist überhaupt nicht verwunderlich; du hast dich ja eben von deinen Bädern verabschiedete Unzählig waren Zweideutigkeiten dieser Art, aber nicht weniger ergötzlich war jene durchgängige Art. Als nämlich Brutus zwei Vorleser hatte aufstehen lassen und dem einen des Crassus Rede über die Besiedlung von Narbo zum Lesen gegeben hatte, dem anderen die über das Servilische Gesetz und als er einander widersprechende Abschnitte über die Politik verglichen hatte, gab unser Freund Crassus drei Vorlesern die drei Bücher von des Brutus Vater über das bürgerliche Recht seines Vaters Brutus zum Lesen. (224) Aus dem ersten Buch: Zufällig traf es sich, dass ich und mein Sohn Marcus auf unserem Landgut

bei Privernum

wa-

ren. »Dein Vater, Brutus, bezeugt, dass er dir Grund und Boden bei Privernum hinterlassen hat.« Danach aus dem zweiten Buch: Ich und mein Marcus waren auf unserem Landgut

hei Alba.

Sohn

»Der offenbar kluge Mann

kannte zugleich mit den Besten unseres Staates diesen unersättlichen Schlund; er fürchtete, wenn er nichts mehr besitze, werde man glauben, ihm sei nichts hinterlassen worden.« Dann aus dem dritten Buch, mit dem er aufhörte zu schreiben - so viele Bücher nämlich stammen, wie ich Scaevola sagen hörte, wirklich von Brutus - : Ich und mein Sohn Marcus saßen zufällig in unserem Landgut

bei Tibur zusammen.

>Wo ist dieser Grundbesitz, Brutus,

den dir dein Vater, wie in einem öffentlichen Dokument bezeugt ist, hinterlassen hat? Wenn du nicht schon erwachsen wärests fuhr er fort, »hätte er ein viertes Buch verfasst und schriftlich hinterlassen, dass er auch in seinen Bädern mit seinem Sohn gesprochen hat.< (225) Wer also möchte nicht zugeben, dass Brutus durch diesen (liebenswürdigen) Witz nicht weniger zurückgewiesen wurde als durch jene Tragödien, die Crassus aufführte, als zufällig während des nämlichen Gerichtsverfahrens die betagte Junia zu Grabe getragen wurde. Ο ihr unsterblichen Götter, welch große, welch unerwartete Wirkung erzielte er, wie plötzlich reagierte er, als er mit seinen Blicken Brutus durchbohrte und ihn mit allerhand drohenden Gebärden, mit höchstem Nachdruck und schlagfertigen Worten ansprach: >Brutus, was sitzt du da? Was soll diese alte Frau deinem Vater mitteilen? Was all jenen, deren Bildnisse, wie du siehst, mitgeführt werden? Was deinen Vorfahren? Was dem

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regio liberavit? Quid te agere? Cui rei, cui gloriae, cui virtuti studere? Patrimonione augendo? At id non est nobilitatis! Sed fac esse, nihil superest; lididines totum dissipaverunt. An iuri 226 civili? Est paternum. Sed dicet te, cum aedis venderes, ne in rutis quidem et caesis solium tibi paternum recepisse. An rei militari? Qui numquam castra videos! An eloquentiae? Quae neque est in te et, quicquid est vocis ac linguae, omne in istum turpissimum calumniae quaestum contulisti! Tu lucem aspicere audes? Tu hos intueri? Tu in foro, tu in urbe, tu in civium esse conspectu? Tu illam mortuam, tu imagines ipsas non perhorrescis? Quibus non modo imitandis, sed ne conlocandis quidem tibi locum ullum reliquisti." Sed haec tragica atque divina; faceta 56 autem et urbana innumerabilia vel ex una contione meministis. 227 Nec enim contentio maior umquam fuit nec apud populum gravior oratio, quam huius contra collegam in censura nuper, neque lepore et festivitate condition

Quare tibi, Antoni, utrumque adsentior et multum facetias in dicendo prodesse saepe et eas arte nullo modo posse tradi. Illud quidem admiror te nobis in eo genere tribuisse tantum et non huius rei quoque palmam ut ceteraram Crasso detulisse.'

Tum Antonius 'ego vero ita fecissem' inquit 'nisi interdum in 228 hoc Crasso paulum inviderem. Nam esse quamvis facetum atque salsum non nimis est per se ipsum invidendum; sed cum omnium sit venustissimus et urbanissimus, omnium gravissimum et severissimum et esse et videri, quod isti contigit uni, id mihi vix ferendum videbatur.'

Hie cum adrisisset ipse Crassus, 'ac tamen' inquit Antonius 229 'artem esse facetiarum, Iuli, negares, aperuisti quiddam, quod praecipiendum videretur. Haberi enim dixisti rationem oportere

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Lucius Brutus, der dieses Volk von der Königsherrschaft befreit hat? Soll sie mitteilen, was du treibst? U m welche Sache, u m welchen R u h m , u m welche Tugend du dich bemühst? D a r u m , das väterliche Erbe zu vermehren? D o c h das verträgt sich nicht mit deinem Adel! Aber angenommen, es wäre so nichts mehr ist davon übrig; deine Begierden haben es ganz vergeudet. (226) O d e r u m das bürgerliche Recht? D a s wäre im Sinne deines Vaters. Aber sie wird sagen, dass du beim Verkauf deines H a u s e s von dem beweglichen Eigentum nicht einmal den Lehnstuhl deines Vaters für dich behalten hast. O d e r u m das Militärwesen? D u , der nie ein Feldlager gesehen hat! O d e r u m die Beredsamkeit? Diese besitzt du nicht, und was deine Stimme und Zunge fertig bringen, hast du für dieses dein äußerst schimpfliches Gewerbe der falschen und verleumderischen Anklage aufgewendet! D a wagst du es noch, das Tageslicht zu schauen? D u wagst es, diese Männer hier anzublicken? D u wagst es, dich auf dem Forum, in der Stadt, unter den Blicken deiner Mitbürger aufzuhalten? D u erschauderst nicht vor jener Toten, vor den Bildnissen selber? Keinen Platz hast du für dich behalten, u m sie aufzustellen, geschweige denn, u m sie nachzuahmen.« (227) D o c h das sind erhabene und göttliche Worte im Stil der Tragödie; aber witzige und geistreiche Aussprüche in Massen habt ihr wohl aus einer einzigen Rede vor dem Volk noch im Gedächtnis. Denn niemals gab es einen leidenschaftlicheren Vortrag und auch keine gewichtigere Rede vor dem Volk als dessen Rede, die er als Zensor vor kurzem gegen seinen Amtskollegen hielt, aber auch keine, die mehr mit liebenswürdigem Witz und H u m o r gewürzt gewesen wäre. Deshalb stimme ich dir, mein Antonius, in beiden Punkten zu, sowohl darin, dass der Witz beim Reden oft nützlich ist, als auch darin, dass er auf keine Weise durch eine theoretische Lehre vermittelt werden kann. Ich wundere mich jedoch darüber, dass du dafür nur mich s o hoch einschätzt und die Siegespalme nicht auch in diesem Bereich wie in den übrigen dem Crassus überreicht hast.« (228) D a erwiderte Antonius: » S o hätte ich es wahrhaftig gemacht, wenn ich nicht bisweilen ein wenig N e i d gegen unseren Crassus hegte. Denn es erregt wohl für sich allein noch keinen allzu großen Neid, wenn jemand geistvollen und scharfen Witz besitzt; aber wenn jemand, der von allen Menschen am liebenswürdigsten ist und am feinsten scherzt, auch noch der würdevollste und ernsthafteste Mann von allen ist und als solcher erscheint - und das ist diesem Mann als einzigem zuteil geworden

erschien mir das kaum

noch zu ertragen.« (229) Als Crassus selbst dazu lächelte, fuhr Antonius fort: »Wenngleich du behauptetest, es gebe keine theoretische Lehre v o m Witz, mein Julius, hast du dennoch etwas offen gelegt, was wohl als eine Vorschrift gegeben werden sollte. Man müsse nämlich Rücksicht nehmen, hast du gesagt, auf

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hominum, rei, temporis, ne quid iocus de gravitate decerperet; quod quidem in primis a Crasso observari solet. Sed hoc praeceptum praetermittendarum est facetiarum, cum iis nihil opus sit. Nos autem quo modo utamur, cum opus sit, quaerimus, ut in adversarium et maxime, si eius stultitia poterit agitari, in testem stultum, cupidum, levem, si facile homines audituri videbuntur. Omnino probabiliora sunt, quae lacessiti dicimus, quam 230 quae priores; nam et ingenii celeritas maior est, quae apparet in respondendo, et humanitatis est responsio. Videmur enim quieturi fuisse, nisi essemus lacessiti; ut in ipsa ista contione nihil fere dictum est ab hoc, quod quidem facetius dictum videretur, quod non provocatus responderit. Erat autem tanta in Domitio gravitas, tanta auctoritas, ut, quod esset ab eo obiectum, lepore magis elevandum quam contentione frangendum videretur.'

Tum Sulpicius 'quid igitur? Patiemur' inquit 'Caesarem, qui 57 quamquam Crasso facetias concedit, tamen multo in eo studio 231 magis ipse elaborat, non explicare nobis totum genus hoc iocandi, quale sit et unde ducatur, praesertim cum tantam vim et utilitatem salis et urbanitatis esse fateatur?' 'Quid, si' inquit Iulius 'adsentior Antonio dicenti nullam esse artem salis?' Hie cum Sulpicius reticuisset, 'quasi vero' inquit Crassus, 232 'horum ipsorum, de quibus Antonius iam diu loquitur, ars ulla sit! Observatio quaedam est, ut ipse dixit, earum rerum, quae in dicendo valent; quae si eloquentis facere posset, quis esset non eloquens ? Quis enim haec non vel facile vel certe aliquo modo posset ediscere? Sed ego in his praeceptis hanc vim et hanc utilitatem esse arbitror, non ut ad reperiendum, quid dicamus, arte ducamur, sed ut ea, quae natura, quae studio, quae exercitatione consequimur, aut recta esse confidamus aut prava intellegamus, cum quo referenda sint didicerimus. Quare, Caesar, ego quoque 233 hoc a te peto, ut, si tibi videtur, disputes, de hoc toto iocandi ge-

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die Menschen, den Sachverhalt und die Zeitumstände, damit ein Scherz nicht der Würde Abbruch tue; dieses Prinzip nun pflegt besonders Crassus zu beachten. Aber das ist nur eine Vorschrift dafür, dass man Witze unterlassen soll, wenn man sie nicht braucht. Wir aber fragen, auf welche Weise wir sie verwenden sollen, wie zum Beispiel gegen einen Prozessgegner - und das am meisten, wenn man so seine Dummheit geißeln kann - und gegen einen dummen, eigennützigen und wankelmütigen Zeugen, wenn es den Anschein hat, als würden die Menschen es gerne hören. (230) Uberhaupt überzeugt mehr, was wir auf eine Herausforderung hin sagen, als was wir vorher vorbringen; denn größer ist die Schlagfertigkeit und geistige Regsamkeit, welche beim Entgegnen in Erscheinung tritt, und es ist zudem menschlich, mit gleicher Münze heimzuzahlen. Wir erwecken nämlich den Eindruck, dass wir ruhig geblieben wären, wenn man uns nicht gereizt hätte. So hat zum Beispiel gerade in dieser Rede vor dem Volk Crassus fast nichts gesagt, soweit es wenigstens den Eindruck erweckt hätte, es sei ein witziger Ausspruch, außer wenn er auf eine Provokation reagierte. Domitius aber besaß so große Würde und ein so hohes Ansehen, dass der Eindruck entstand, Crassus müsse dessen Vorwürfe mehr durch liebenswürdigen Witz leichthin abtun als sie durch eine leidenschaftliche Rede entkräften.« (231) Da ließ sich Sulpicius vernehmen: »Wie steht es also? Werden wir zulassen, dass Caesar, der zwar Crassus Witz zugesteht, aber sich selbst viel intensiver damit befasst hat, uns nicht diese ganze Art zu scherzen erklärt, wie sie beschaffen ist und wovon sie sich herleitet, zumal er zugibt, dass scharfer Witz und feines Scherzen eine so große Wirkung und einen so großen Nutzen haben?« »Wie aber«, warf Julius ein, »wenn ich dem Antonius zustimme, der sagt, es gebe keine wissenschaftliche Lehre des Witzigen?« (232) Da sich Sulpicius dazu überhaupt nicht äußerte, sagte Crassus: »Als ob es gerade zu den Bereichen, über die Antonius schon lange spricht, irgendeine theoretische Lehre gäbe! Wie er selbst gesagt hat, gibt es eine gewisse Beobachtung der Dinge, die beim Reden wirksam sind; brächte diese es fertig, gute Redner hervorzubringen, wer wäre dann nicht ein guter Redner? Wer nämlich könnte das nicht leicht oder sicherlich auf irgendeine Art lernen? Aber ich glaube, dass Wirksamkeit und Nutzen dieser Vorschriften nicht darin bestehen, dass wir durch die theoretische Lehre angeleitet werden, herauszufinden, was wir sagen sollen, sondern darin, dass wir uns entweder fest darauf verlassen können, dass das, was wir durch unsere Naturanlage, was wir durch unseren Eifer, was wir durch Übung erreichen, richtig ist, oder dass wir es als verkehrt erkennen, wenn wir gelernt haben, woran wir es beurteilen sollen. (233) Deshalb bitte auch ich dich, mein Caesar, wenn es dir richtig erscheint, deine Meinung über jede Art von Witz vorzu-

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nere quid sentias, ne qua forte dicendi pars, quoniam ita voluistis, in hoc tali coetu atque in tam accurato sermone praeterita esse videatur.' 'Ego vero,' inquit ille 'quoniam conlectam a conviva, Crasse, exigis, non committam, ut, si defugerim, tibi causam aliquam dem recusandi. Quamquam soleo saepe mirari eorum impudentiam, qui agunt in scaena gestum inspectante Roscio. Quis enim sese commovere potest, cuius ille vitia non videat? Sic ego nunc Crasso audiente primum loquar de facetiis et docebo sus, ut aiunt, oratorem eum, quem cum Catulus nuper audisset, fenum alios aiebat esse oportere.' Tum ille 'iocabatur' inquit 'Catulus, praesertim cum ita dicat 234 ipse, ut ambrosia alendus esse videatur. Verum te, Caesar, audiamus, ut Antoni reliqua videamus.' Et Antonius 'perpauca mihi quidem restant' inquit; 'sed tamen defessus iam labore atque itinere disputationis meae requiescam in Caesaris sermone quasi in aliquo peropportuno devorsorio.' 'Atqui' inquit Iulius 'non nimis liberale hospitium meum di- 58 ces. Nam te in viam, simulac perpaulum gustaris, extrudam et eiciam. Ac ne diutius vos demorer, de omni isto genere quid sentiam, 235 perbreviter exponam. De risu quinque sunt, quae quaerantur: unum, quid sit; alterum, unde sit; tertium, sitne oratoris velle risum movere; quartum, quatenus; quintum, quae sint genera ridiculi. Atque illud primum, quid sit ipse risus, quo pacto concitetur, ubi sit, quo modo existat atque ita repente erumpat, ut eum cupientes tenere nequeamus, et quo modo simul latera, os, genas, oculos, voltum occupet, viderit Democritus. Neque enim ad hunc sermonem hoc pertinet et, si pertineret, nescire me tamen id non puderet, quod ne ipsi illi quidem scirent, qui pollicerentur. Locus autem et regio quasi ridiculi - nam id pro- 236 xime quaeritur - turpitudine et deformitate quadam continetur. Haec enim ridentur vel sola vel maxime, quae notant et designant turpitudinem aliquam non turpiter. Est autem, ut ad illud tertium veniam, est plane oratoris movere risum, vel quod ipsa

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tragen, damit nicht etwa der Eindruck entsteht, in einem solchen Kreis und bei einem so gründlichen Gespräch sei ein Teil der Redekunst übergangen worden; so habt ihr es ja gewollt.« Caesar erwiderte: »Da du ja auf einem Beitrag von jedem Gast dringst, mein Crassus, will ich es wahrhaftig nicht dahin kommen lassen, dass ich dir einen Grund gebe, dich zu weigern, falls ich Ausflüchte machen sollte. Indessen wundere ich mich oft über die Unverschämtheit der Leute, die als Schauspieler auf der Bühne auftreten, wenn Roscius zuschaut. Wer nämlich könnte sich überhaupt rühmen, ohne dass jener seine Fehler sieht? So werde ich nun vor den Ohren des Crassus zum ersten Mal über den Witz sprechen und wie das sprichwörtliche Schwein den Redner belehren, von dem Catulus sagte, als er ihn vor kurzem gehört hatte, die anderen müssten Heu fressen.« (234) Da bemerkte jener: » Catulus scherzte, zumal er selbst so redet, dass der Eindruck entsteht, er müsse mit Ambrosia gespeist werden. Doch wollen wir dich hören, mein Caesar, damit wir uns danach den übrigen Ausführungen des Antonius noch widmen können.« Und Antonius erwiderte: »Mir bleibt zwar nur noch wenig, aber dennoch bin ich von dem anstrengenden Weg meines Vortrags schon erschöpft und werde mich während Caesars Vortrag wie in einer hochwillkommenen Herberge ausruhen.« »Gleichwohl«, warf jener ein, wirst du meine Bewirtung nicht allzu reichlich nennen. Denn sobald du nur ganz wenig gekostet hast, werde ich dich hinauswerfen und auf die Straße setzen. (235) Aber um euch nicht länger hinzuhalten, will ich meine Meinung über dieses ganze Gebiet in aller Kürze darlegen. Hinsichtlich des Lachens gibt es fünf Fragen, die untersucht werden sollen: 1. Was ist es? 2. Woher kommt es? 3. Geziemt es sich für den Redner, Lachen erregen zu wollen? 4. Wie weit darf er gehen? 5. Welche Arten des Lächerlichen gibt es? Was nun die erste Frage angeht, was das Lachen eigentlich sei, auf welche Art es hervorgerufen werde, wo es seinen Sitz habe, auf welche Weise es entstehe und so plötzlich hervorbreche, dass wir, auch wenn wir wollen, es nicht zurückhalten können, und auf welche Weise es Brust, Mund, Wangen, Augen und Miene in Beschlag nimmt, das mag Demokrit untersuchen. Es gehört nämlich nicht zu unserem Thema, und auch wenn es dazu gehörte, würde ich mich nicht schämen, das nicht zu kennen, was nicht einmal diejenigen wissen, die sich als Fachleute ausgeben. (236) Der Sitz aber und gleichsam das Gebiet des Lächerlichen - denn danach wird als Nächstes gefragt - ist irgendwie durch Schimpf und Schande bestimmt. Denn man lacht allein oder wenigstens am meisten über diese Äußerungen, welche irgendetwas Schimpfliches auf nicht schimpfliche Art an den Pranger stellen und ans Licht bringen. Es geziemt sich aber, um zur dritten Frage zu kommen, ja es geziemt sich

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hilaritas benevolentiam conciliat ei, per quem excitata est, vel quod admirantur omnes acumen, uno saepe in verbo positum, maxime respondents, non numquam etiam lacessentis, vel quod frangit adversarium, quod impedit, quod elevat, quod deterret, quod refutat, vel quod ipsum oratorem politum esse hominem significat, quod eruditum, quod urbanum, maximeque quod tristitiam ac severitatem mitigat et relaxat odiosasque res saepe, quas argumentis dilui non facile est, ioco risuque dissolvit. Quatenus autem sint ridicula tractanda oratori, perquam di- 237 ligenter videndum est, id quod in quarto loco quaerendi posueramus. Nam nec insignis improbitas et scelere iuncta nec rursus miseria insignis agitata ridetur; facinerosos enim maiore quadam vi quam ridiculi vulnerari volunt, miseros inludi nolunt, nisi se forte iactant. Parcendum autem maxime est caritati hominum, ne temere in eos dicas, qui diliguntur. Haec igitur adhibenda est 59 primum in iocando moderatio. Itaque ea facillime luduntur, 238 quae neque odio magno nec misericordia maxima digna sunt. Quam ob rem materies omnis ridiculorum est in iis vitiis, quae sunt in vita hominum neque carorum neque calamitosorum neque eorum, qui ob facinus ad supplicium rapiendi videntur; eaque belle agitata ridentur. Est etiam deformitatis et corporis vi- 239 tiorum satis bella materies ad iocandum; sed quaerimus idem, quod in ceteris rebus maxime quaerendum est, "quatenus". In quo non modo illud praecipitur, ne quid insulse, sed etiam, si quid perridicule possis, vitandum est oratori utrumque, ne aut scurrilis iocus sit aut mimicus. Quae cuius modi sint, facilius iam intellegemus, cum ad ipsa ridiculorum genera venerimus.

Duo sunt enim genera facetiarum, quorum alteram re tractatur, alterum dicto. Re, si quando quid tamquam aliqua fabella 240 narratur, ut olim tu, Crasse, in Memmium: comedisse eum lacertum Largi, cum esset cum eo Tarracinae de amicula rixatus. Salsa ac tamen a te ipso ficta tota narratio; addidisti clausulam tota Tarracina tum omnibus in parietibus inscriptas fuisse Iitteras tria L L L duo Μ Μ. Cum quaereres, id quid esset, senem

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ganz u n d gar f ü r den Redner, Lachen zu erregen, weil gerade Heiterkeit d e m jenigen Wohlwollen gewinnt, von d e m sie entfacht w u r d e , oder weil ^lle den Scharfsinn b e w u n d e r n , der oft in einem einzigen Wort liegt, u n d z w a r meistens bei d e m , der erwidert, m a n c h m a l aber auch bei d e m , der herausfordert; denn entweder irritiert sie den Prozessgegner, behindert ihn, n i m m t i h m die Kraft, schreckt ihn ab, weist ihn z u r ü c k oder zeigt an, dass der Redner selbst feinsinnig, dass er gebildet, dass er geistreich ist u n d am meisten dass er Verdrießlichkeiten u n d finsteren Ernst mit Heiterkeit entwaffnet u n d oft A n s t ö ßiges, das sich nicht leicht mit A r g u m e n t e n aus der Welt schaffen lässt, durch einen Scherz u n d durch Lachen erledigt. (237) Wie weit aber der Redner Spaß treiben darf - diese Frage hatten wir an die vierte Stelle gesetzt - , darauf muss m a n mit ganz besonderer Gewissenhaftigkeit sehen. D e n n über eine auffallende u n d mit einem Verbrechen verbundene Ruchlosigkeit u n d hinw i e d e r u m über ein auffallendes Elend lacht m a n nicht. Verbrecher nämlich will m a n mit einer härteren Waffe als mit der des Spaßes verletzt sehen u n d bedauernswerte Menschen will m a n nicht verspottet sehen, es sei denn, sie machen sich wichtig. Besonders zurückhalten soll m a n sich aber im Hinblick auf die Zuneigung der Menschen, damit m a n nichts Unüberlegtes sagt gegen die, welche hoch geschätzt werden. (238) Beim Scherzen muss m a n also in erster Linie diese Mäßigung ü b e n . Deshalb treibt m a n a m leichtesten seinen Spott mit den Dingen, welche w e d e r großen H a s s noch besonders großes Mitleid verdienen. Deshalb ist d e r ganze Stoff des Lächerlichen in den Fehlern enthalten, die es im Leben der Menschen gibt, soweit diese weder beliebt noch unglücklich sind noch wegen eines Verbrechens, wie es scheint, z u r H i n r i c h t u n g geschleppt werden müssen. M a n lacht, w e n n solche Fehler in netter Weise gegeißelt werden. (239) Auch Missgestalt u n d körperliche G e brechen bieten genug netten Stoff z u m Scherzen; aber wir stellen dieselbe Frage, die m a n auch in anderen Bereichen a m ehesten stellen m u s s : »Wie weit darf m a n gehen?« Dabei soll nicht n u r die Vorschrift gegeben w e r d e n , m a n dürfe nichts geschmacklos sagen, s o n d e r n der Redner m u s s , auch w e n n er etwas noch so spaßig vorbringen k ö n n t e , zweierlei vermeiden, nämlich dass der Spott in Possenreißerei o d e r in mimische Clownereien ausartet. Was damit gemeint ist, werden wir bald leichter verstehen, w e n n wir zu den einzelnen A r t e n des Lächerlichen k o m m e n . Es gibt nämlich zwei A r t e n von Witzen; die eine davon beschäftigt sich mit der Sache, die andere mit der Formulierung. (240) Mit der Sache, w e n n m a n etwas wie eine A n e k d o t e erzählt, wie z . B . einst d u , mein Crassus, gegen M e m m i u s : Er habe in den O b e r a r m des Larg(i)us gebissen, als er mit diesem in Terracina u m ein Liebchen gestritten habe - eine witzige u n d dabei ganz von dir selbst erfundene Erzählung; z u m Schluss hast du hinzugefügt, in ganz Terracina sei an allen W ä n d e n geschrieben gestanden: L L L Μ M .

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tibi quendam oppidanum dixisse: "Lacerat lacertum Largi mordax Memmius." Perspicitis genus hoc quam sit facetum, quam elegans, quam oratorium, sive habeas vere, quod narrare possis, quod tamen est mendaciunculis aspergendum, sive fingas. Est autem huius generis virtus, ut ita facta demonstres, ut mores eius, de quo narres, ut sermo, ut voltus omnes exprimantur, ut iis, qui audiunt, tum geri ilia fierique videantur. In re est item ridiculum, quod ex quadam depravata imitatione sumi solet, ut idem Crassus: "Per tuam nobilitatem, per vestram familiam!" Quid aliud fuit, in quo contio rideret, nisi ilia voltus et vocis imitatio? "Per tuas statuas!" vero cum dixit et extento bracchio paulum etiam de gestu addidit, vehementius risimus. Ex hoc genere est ilia Rosciana imitatio senis:

Tibi ego, Antipho,

has sero, inquit; senium est, cum

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audio.

Atque ita est totum hoc ipso genere ridiculum, ut cautissime tractandum sit. Mimorum est enim et ethologorum, si nimia est imitatio, sicut obscenitas. Orator surripiat oportet imitationem, ut is, qui audiet, cogitet plura quam videat; praestet idem ingenuitatem et ruborem suum verborum turpitudine et rerum obscenitate vitanda. Ergo haec duo genera sunt eius ridiculi, quod in re positum est; quae sunt propria perpetuarum facetiarum, in quibus describuntur hominum mores et ita effinguntur, ut aut re narrata aliqua, quales sint intellegantur, aut imitatione breviter iniecta in aliquo insigni ad inridendum vitio reperiantur.

In dicto autem ridiculum est id, quod verbi aut sententiae quodam acumine movetur. Sed ut in illo superiore genere vel narrationis vel imitationis vitanda est mimorum et ethologorum similitudo, sic in hoc scurrilis oratori dicacitas magno opere fugienda est. Qui igitur distinguemus a Crasso, a Catulo, a ceteris familiarem vestram Granium aut Vargullam amicum meum?

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Auf deine Frage hin, was das bedeute, habe dir ein alter Mann aus der Stadt gesagt: >Den Oberarm des Larg(i)us zerfleischt der bissige Memmius.< (241) Ihr seht genau, wie witzig, wie gewählt, wie rhetorisch wirkungsvoll diese Art ist, mag man eine wahre Geschichte erzählen, welche man trotzdem noch mit kleinen Unwahrheiten würzen muss, oder mag man etwas erdichten. Ein Vorzug dieser Art aber ist es, dass man Geschehnisse so veranschaulicht, dass der Charakter dessen, von dem man erzählt, dass seine Sprache, dass sein ganzes Mienenspiel zum Ausdruck gebracht werden, damit die Zuhörer den Eindruck gewinnen, diese Geschehnisse ereigneten sich gerade jetzt. (242) Auf der Sache beruht ebenso die lächerliche Wirkung, die man gewöhnlich mit einer karikierenden Nachahmung erzielt; so rief z.B. ebenfalls Crassus aus: >Bei deinem Adel, bei eurer Familie!< Was war es anders, worüber die Volksversammlung lachte, als die Nachahmung des Mienenspiels und der Stimme? Als er aber >Bei deinen Statuen!« ausrief und mit ausgestrecktem Arm noch ein wenig aus der Gebärdensprache hinzufügte, lachten wir noch heftiger. Von dieser Art ist auch, wie Roscius, wie erinnerlich, einen alten Mann spielte: Für dich, mein Antiphon, pflanze ich dies, sagte er, ein alter Griesgram spricht daraus, wenn ich es höre. Das Ganze wirkt schon an sich so lächerlich, dass man es äußerst vorsichtig handhaben sollte. Denn wenn die Nachahmung übertrieben ist, gehört das, ebenso wie zotiges Gerede, zum Gebiet von Possenreißern und Schmierenkomödianten. Der Redner aber soll die Nachahmung nur verstohlen anwenden, damit der Zuhörer sich mehr denkt, als er sieht; ebenso soll er seinen Anstand und sein Schamgefühl dadurch beweisen, dass er unanständige Worte und anstößige Themen vermeidet. (243) Das sind also die zwei Arten des Lächerlichen, das auf der Sache beruht; sie sind charakteristisch für durchgängigen Witz, bei dem man menschliche Charaktere beschreibt und ein solches Bild von diesen entwirft, dass man sie entweder dadurch, dass man irgendetwas erzählt, in ihrem Wesen erkennt, oder dadurch, dass man kurz eine Nachahmung einfließen lässt und sie bei irgendeinem auffallenden Fehler, der zum Spotten reizt, ertappt. (244) Auf einer Formulierung aber beruht das Lächerliche, das durch die pointierte Klarheit eines Wortes oder Gedankens erregt wird. Aber wie man bei der weiter oben genannten Art der Erzählung oder Nachahmung die Ähnlichkeit mit Possenreißern und Schmierenkomödianten vermeiden muss, so muss der Redner in dieser Art ganz energisch possenhaften Wortwitz meiden. Wie also werden wir von Crassus, von Catulus und den Übrigen euren Bekannten Granius oder meinen Freund Vargulla unterscheiden?

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LIBER SECUNDUS

N o n mehercule in mentem mihi quidem venit: sunt enim dicaces; Granio quidem nemo dicacior. H o c , opinor, primum, ne, quotienscumque potuerit dictum dici, necesse habeamus dicere. Pusillus testis processit. "Licet" inquit "rogare?" Philippus. T u m quaesitor properans: " m o d o breviter." H i e ille: "non accusabis. Perpusillum r o g a b o . " Ridicule. Sed sedebat iudex L . Aurifex brevior ipse quam testis etiam: omnis est risus in iudicem conversus; visum est totum scurrile ridiculum. Ergo haec, quae cadere possunt, in quos nolis, quamvis sint bella, sunt tamen ipso genere scurrilia. U t iste, qui se volt dicacem - et mehercule est Appius, sed non n u m q u a m in hoc vitium scurrile delabitur - : " C e n a b o " inquit "apud te" huic lusco familiari meo C . Sextio "uni enim locum esse video." Est hoc scurrile, quod sine causa lacessivit et tamen id dixit, quod in omnes luscos conveniret. Ea, quia meditata putantur esse, minus ridentur. Illud egregium Sexti et ex tempore "manus lava" inquit "et cena!" Temporis igitur ratio et ipsius dicacitatis, moderatio et temperantia et raritas dictorum distinguet oratorem a scurra; et quod nos cum causa dicimus, non ut ridiculi videamur, sed ut proficiamus aliquid, illi totum diem et sine causa. Q u i d enim est Vargulla adsecutus, cum eum candidatus A . Sempronius cum M . s u o fratre complexus esset "puer, abige m u s c a s " ? R i s u m quaesivit, qui est mea sententia vel tenuissimus ingeni fructus. Tempus igitur dicendi prudentia et gravitate moderabimur. Q u a r u m utinam artem aliquam haberemus! Sed domina natura est.

N u n c exponamus genera ipsa summatim, quae risum maxime moveant. H a e c igitur sit prima partitio: quod facete dicatur, id alias in re habere, alias in verbo facetias; maxime autem homines delectari, si quando risus coniuncte re verboque moveatur. Sed hoc mementote, quoscumque locos attingam, unde ridicula ducantur, ex isdem locis fere etiam gravis sententias posse duci. Tantum interest, quod gravitas honestis in rebus et severis, iocus

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B e i m Herkules, das ist m i r freilich nicht in den Sinn g e k o m m e n ; beide besitzen ja scharfen Wortwitz; niemand ist jedenfalls schlagfertiger als Granius. Es k o m m t , glaube ich, in erster Linie darauf an, dass wir nicht jedes M a l , wenn wir eine Pointe anbringen k ö n n t e n , sie auch unbedingt anbringen zu müssen glauben. (245) Ein winzig kleiner Zeuge trat vor. >Ist es erlaubt, eine Frage an ihn zu richten?< fragte Philippus. Darauf antwortete der Vorsitzende, der in Eile war: >Ja, aber kurz!< Hierauf sagte Philippus: >Du wirst nicht klagen. Ich werde nur eine winzig Kleinigkeit fragen.* Spaßhaft! A b e r auch Lucius Aurifex, der n o c h kleiner als der Zeuge war, saß unter den Richtern; so

richtete

sich das ganze Gelächter gegen den Richter und der ganze Spaß erschien als Possenreißerei. Also gehören Äußerungen, die andere treffen k ö n n e n , als man will, auch wenn sie n o c h so hübsch sind, schon von sich aus zur Possenreißerei. (246) D a s gilt z . B . für diesen Appius, der von schlagfertigem Witz sprühen will - und beim Herkules, das tut er auch, aber manchmal gleitet er in diesen Fehler der Possenreißerei ab - ; >ich werde bei dir speisenich sehe nämlich, dass noch für eins Platz ist.< D a s ist Possenreißerei, weil er ihn o h n e G r u n d kränkte, und doch nur das aussprach, was auf alle Einäugigen zutrifft. Ü b e r solche Aussprüche lacht m a n weniger, weil m a n glaubt, man habe sie sich überlegt. Sextius antwortete hervorragend und o h n e sich lange zu besinnen: >Wasch' dir die Händeund iss !< (247) D e n Zeitpunkt also zu b e rücksichtigen, den Wortwitz ausgewogen und nur mäßig anzuwenden und nur selten Pointen anzubringen, das unterscheidet den Redner v o m Possenreißer; und was wir aus einem bestimmten G r u n d sagen, nicht u m witzig zu erscheinen, sondern u m irgendetwas zu erreichen, das tun jene den ganzen Tag und o h n e einen bestimmten G r u n d . Was hat nämlich Vargulla erreicht, als er, nachdem der A m t s b e w e r b e r Aulus Sempronius und sein Bruder M a r cus ihn u m a r m t e n , rief: >Bursche, verjage die Fliegen!