Architekturen des Unheimlichen: Kinetische Labyrinthe des Horrors in Film und Literatur 9783839469507

In welchem Spannungsfeld stehen Unheimliches und Architektur in Büchern, Comics oder Filmen? Marlen Freimuth identifizie

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Architekturen des Unheimlichen: Kinetische Labyrinthe des Horrors in Film und Literatur
 9783839469507

Table of contents :
Inhalt
1 Aus-Gang: Wovon auszugehen ist
2 Dark City: Architekt(o)ur als Dis-Position
3 Über-Gang: Narrative Spiralen
4 Architekturmaschinen
5 Unheimliche (Schrift)Räume: Das (Haus in) House of Leaves
6 Auf dem Sprung
Literaturverzeichnis
Film- und Medienverzeichnis
Zusammenfassung Architekturen des Unheimlichen – Kinetische Labyrinthe des Horrors in Film und Literatur

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Marlen Freimuth Architekturen des Unheimlichen

Lettre

Marlen Freimuth, geb. 1984, lehrt an der Universität Erfurt im Fachbereich Literaturwissenschaft und ist als freiberufliche Dozentin in der politischen Bildung aktiv.

Marlen Freimuth

Architekturen des Unheimlichen Kinetische Labyrinthe des Horrors in Film und Literatur

Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-n b.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Elisabeth Vopel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839469507 Print-ISBN: 978-3-8376-6950-3 PDF-ISBN: 978-3-8394-6950-7 Buchreihen-ISSN: 2703-013X Buchreihen-eISSN: 2703-0148 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Für Micha, Peter, meine Eltern und Schwiegereltern

Inhalt

1 1.1 1.2 1.3 1.4

Aus-Gang: Wovon auszugehen ist ........................................................ 11 Vorbau: Architektur und Psychoanalyse .................................................... 11 Eintritt: Das Unheimliche und die Architektur ............................................... 18 Kombination: Unheimliche Architektur ..................................................... 21 Fort-Gang: Unheimliche Labyrinth-Architekt(o)ur........................................... 24

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8

Dark City: Architekt(o)ur als Dis-Position ............................................... 33 Ein-Stieg: Bewegungen der Stadt .......................................................... 33 Building subjects: »Why are you fucking with our minds« – and our architecture? .......... 35 Dark Chambers: Where is my mind? ....................................................... 39 Dark Cities ............................................................................... 45 Dark Citations: Exzess der Bilder .......................................................... 60 Architektour: Schreber’sche Phantasmen ................................................. 65 Phantasmatische Durchquerungen? ........................................................72 Spiralen/Labyrinthe........................................................................74

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Über-Gang: Narrative Spiralen ...........................................................79

4 Architekturmaschinen.................................................................... 91 4.1 Cube: (Twisted) Maze of the Gaze ........................................................... 91 4.1.1 Welcome ........................................................................... 91 4.1.2 Augen und Blicke ...................................................................102 4.1.3 »If nothing is random«: (Zahlen)Paranoia ...........................................124 4.1.4 Möbiusarchitektur .................................................................. 131 4.2 Wieder- und DoppelgängerInnen: Cube2 – Hypercube .......................................135 4.2.1 Intro ...............................................................................135 4.2.2 Inside (?) Hypercube ................................................................137 4.2.3 »The trouble with the double« .....................................................146

5 Unheimliche (Schrift)Räume: Das (Haus in) House of Leaves ...........................165 5.1 Einzug....................................................................................166 5.1.1 Moving in a Moving House ...........................................................166 5.1.2 Moving Houses: Shining Examples................................................... 174 5.2 Unheimliches (Labyrinth)Haus.............................................................182 5.3 (Andere) Verräumlichung..................................................................190 5.3.1 HoL: Ein (De)Konstrukt ..............................................................190 5.3.2 Vor-, Aus-, An-, Umbauten oder Bau(t)en in Bewegung ...............................194 5.4 Labyrinthische Architexturen ............................................................ 204 5.5 Vielstimmigkeit .......................................................................... 212 5.6 Architektonisches Stimmengewirr – ein Aufnahmezustand ............................... 224 6

Auf dem Sprung .........................................................................231

Literaturverzeichnis ........................................................................ 235 Film- und Medienverzeichnis ............................................................... 253 Zusammenfassung Architekturen des Unheimlichen – Kinetische Labyrinthe des Horrors in Film und Literatur ........................................................... 259

»lange habe ich nach einem anfang gesucht. und keinen gefunden. es gibt keinen anfang. für das, wovon ich sprechen will, gibt es keinen anfang. raumes unheimlichkeit fängt nicht an – irgendwo, irgendwann. ebensowenig hört sie auf – irgenddann, irgendda. was zugleich auch für den entheimlichten leib und das woanders gilt. es gibt keinen anfang. drumherum und mittendrin ist immer schon. und während es so keinen anfang dafür gibt, kreise ich auch schon in dem, worüber ich spreche.« Marc Mer Raumes Unheimlichkeit

1 Aus-Gang: Wovon auszugehen ist

1.1 Vorbau: Architektur und Psychoanalyse Obgleich Psychoanalyse und Architektur prima vista wenig gemein haben, pflegen sie zuweilen verborgene oder augenfällige Beziehungen, wobei zu letzteren sicher Freuds berühmte Formel vom nicht Herr im eigenen Haus1 seienden Ich zählt. Freuds zweite Topik2  – und bereits dieser Ausdruck ist im Hinblick auf die architekturalen Implikatio1

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Diese Formulierung ist nur eine von vielen, die von der androzentrischen Haltung bzw. Perspektive der (Freud’schen) Psychoanalyse zeugt (obwohl Freud wiederholt von einer ursprünglichen Bisexualität beider Geschlechter handelt, gewinnt am Ende der Phallus und die (durchaus diskursiv gestiftete) Heterosexualität/-normativität) und die früh ansetzt: Freud nimmt an, dass wiederum sowohl Mädchen als auch Jungen im frühen Kindheitsalter annehmen, es gebe nur ein Geschlecht, nämlich das männliche, wobei die Entdeckung des Mädchens, »dass es ›zu kurz gekommen‹ ist« (Freud 1989n: 249) die »Entdeckung der Minderwertigkeit der Klitoris« (Freud 1989l: 263) zur Folge hat, verbunden mit der »Mahnung, dass man es in diesem Punkte doch nicht mit dem Knaben aufnehmen kann und darum die Konkurrenz mit ihm am besten unterlässt« (ebd.: 264). »Auf der nun folgenden Stufe der infantilen Genitalorganisation gibt es zwar ein männlich, aber kein weiblich; der Gegensatz lautet hier: männliches Genitale oder kastriert« (Freud 1989m: 241) – Weiblichkeit wird radikal von der Kastration (als immer schon ramponiert, korrumpiert, demoliert) her gedacht. Wie Freuds Texte aber auch jenseits ihrer (teilweise problematischen bis sexistischen) Formulierungen für eine Psychoanalyse des Weiblichen produktiv gemacht werden können, zeigt u.a. Bettina Schmitz in Psychische Bisexualität und Geschlechterdifferenz: Weiblichkeit in der Psychoanalyse (1996), wo sie ausgehend vom Bisexualitätsprimat Freuds gegen dessen Prämisse »[d]ie Anatomie ist das Schicksal« (Freud 1989n: 249) ein Geschlechterkonzept als Konzept gleichwertiger Subjekte entwickelt; eine Dekonstruktion der Geschlechterverhältnisse (und der Organisation der Objektbeziehungen) stellt – unter der Annahme, (Freuds) bisexuelle Anlagen seien Effekte von Verinnerlichungen und unter Heranziehung der (Freud’schen Konturierung der) melancholischen Einverleibung eines verlorenen, ambivalenten Objekts – Judith Butler besonders in Gendertrouble (1990) an, wo »geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity) als melancholische Struktur« (Butler 1991: 108) verstanden und über den »Zwangscharakter der Heterosexualität« (ebd.: 117) informiert wird. In Anlehnung an Schichtungen, die die Geologie durch die frühe Sprache der Bergleute bereits als solche akzentuierte, deklariert Freud in Die Psychopathologie des Alltagslebens (1904) die Struktur des psychischen Apparats als räumliche Anordnung, also topologisch greifbares Phänomen und weist damit wie auch mit seinen selbst angefertigten Zeichnungen auf den architekturalen Ge-

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Architekturen des Unheimlichen

nen der Psychoanalyse beachtenswert – konturiert die Instanz des Ich als vermittelndes Verwaltungsorgan, insofern es sowohl die An- und Einsprüche des Über-Ichs zu berücksichtigen, gleichzeitig aber auch die aus dem Es drängenden Bedürfnisse zu befriedigen zu suchen hat, wobei seine eigene Autorität zurückgewiesen wird – es erscheint weder als Gebieter von Verlangen, innerer Regungen und Verstimmungen noch als (Be)Herrscher3 eigener Vorlieben, Wünsche und Bedürfnisse, sondern lanciert als Mittelsmann einer moralischen Ansprüchen verpflichteten und einer biogenen, Verdrängtes4 bergenden Instanz. So wird im Anschluss an und in Ausweitung von Freuds erster Topik, die zwischen dem Vorbewussten, dem Bewussten und dem Unbewussten trotz statthabender Interaktion zwischen diesen Instanzen unterscheidet, die Autonomie des Ichs aufgegeben, insofern das Unbewusste als »psychische Lokalität« (Freud 1989h: 133) auch dann Wirkung tut, wenn das Ich davon nichts zu berichten weiß – es sind die anderen (Instanzen), die (unbewusst) an dem mitwirken, was das Ich für seine eigenen Gedanken hält, wobei diese anderen Instanzen sich ins Ich eingestanzt haben werden. Aber die beiden Aufklärungen, dass das Triebleben der Sexualität in uns nicht voll zu bändigen ist, und dass die seelischen Vorgänge an sich unbewusst sind und nur durch eine unvollständige und unzuverlässige Wahrnehmung dem Ich zugänglich und ihm unterworfen werden, kommen der Behauptung gleich, dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus. (Freud 1917: 7) Neben der für das psychische Register des Unbewussten unablässigen und nie gänzlich erfassbaren Betriebsamkeit exponiert dieser ins allgemeine Wortgut übergegangene Ausspruch eine Beziehung besonderer Art: die zwischen Psychoanalyse und Architektur. So pointiert (auch) der von Robert Finster verkörperte Freud in gleichnamiger Netflix-Serie5 aus dem Jahr 2020 in einer Vorlesung über Hypnosetechnik in einer Art Zusammen-

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halt psychoanalytischer Theorie: »Als das architektonische Prinzip des seelischen Apparates lässt sich die Schichtung, der Aufbau aus einander überlagernden Instanzen erraten, und es ist sehr wohl möglich, dass dies Abwehrbestreben einer niedrigeren psychischen Instanz angehört, von höheren Instanzen aber gehemmt wird« (Freud 2006: 208). Elisabeth Bronfen spricht von einer »Nachtseite des Seelenlebens« (Bronfen 2008: 121), einer »Umnachtung« (ebd.: 122) des Psychischen, wenn sie im Zusammenhang mit Freuds in Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse lancierter Parole, es gebe Gedanken im Ich, von denen es nicht weiß, woher sie eigentlich kommen, konstatiert: »Diese Invasion vermeintlich böser, fremder Geister enthüllt dem Ich eine Nachtseite des Bewussten. Sie kommt nicht nur aus einem Dunklen, dessen Ursprung man nicht kennt. Sie führt auch wieder eine chaotische Verfinsterung in die geordnete Helligkeit des seelischen Apparates ein, bleibt das Anliegen der fremden Gäste dem wachen Verstand doch unergründlich.« (Ebd.: 121f). Das Unbewusste der ersten und das Es der zweiten Topik sind nicht miteinander identifizierbar, wenngleich sie sich strukturell (einander an) ähneln. Zwar ist das Es neben seiner bei Freud (auch) biologistisch gedachten Funktion gleichwohl Ort des Verdrängten, also unbewusster Inhalte, dennoch erschöpft sich das Unbewusste nicht allein in verdrängten Inhalten: »Wir erkennen, dass das Ubw nicht mit dem Verdrängten zusammenfällt; es bleibt richtig, dass alles Verdrängte ubw ist, aber nicht alles Ubw ist auch verdrängt.« (Freud 1989g: 287). Netflix releaste 2020 die durchaus gewöhnungsbedürftige Mystery-Serie Freud, in der fiktive Kriminalfälle mithilfe des zu dieser Zeit unter KollegInnen belächelten Sigmund Freud, des vermeintlichen Mediums Fleur Salome (deren Name wohl eine Anspielung auf die psychoanalytisch geschulte Lou Andreas-Salomé, die sowohl Heiratsanträge von Paul Rée als auch Friedrich Nietzsche

1 Aus-Gang: Wovon auszugehen ist

führung beider Strukturmodelle der Psyche die Instanz des sowohl Bewusstseinsanteile integrierenden als auch selbst unbewussten6 Ichs als Haus: Ich bin ein Haus7 . In mir ist es dunkel. Mein Bewusstsein ist ein einsames Licht. Eine Kerze im Luftzug. Sie flackert – einmal hierhin, einmal dorthin. Alles andere liegt im Schatten: Alles andere liegt im Unbewussten. Aber sie sind da, die anderen Zimmer. Nischen, Gänge, Treppen, Türen, zu jeder Zeit. Und alles, was in ihnen wohnt, alles, was in ihnen wandert, es ist da. Es wirkt, es lebt, in diesem Haus, das ich bin. Trieb, Eros, Tabu, verbotene Gedanken, verbotene Begierden, Erinnerungen, die wir nicht im Licht sehen wollen, die wir verdrängt haben aus dem Licht. Sie tanzen um uns herum in der Dunkelheit; sie triezen und stoßen uns, sie spuken, sie flüstern, sie machen uns Angst – sie machen uns krank, sie machen uns hysterisch. (Kren 2020: 00:25:57-00:27:35) Das Subjekt betreffende räumliche und bautechnische Metaphoriken und Beschreibungsverfahren finden sich nicht nur bei Freud und dessen Video on Demand-Doppelgängern, »um die topische8 Beschaffenheit der psychischen Entitäten sowie ihre über Gebiete, Grenzen und Ränder hinweg stattfindenden Bewegungen hervorzuheben« (Rendell 2012: 36), sondern geradeso in Jacques Lacans Seminar über die Psychosen, wenn etwa zur Illustration der einsetzenden Paranoia des berühmten Psychotikers Daniel Paul Schreber die architekturale Metapher eines »Über-Raums« (Lacan 1997: 169) eingesetzt wird oder von der Verwerfung als »Grundmechanismus am Fundament der Paranoia« (ebd.: 179) die Rede ist, sodass ein Fokus aufs Topologische sich nicht erst in den 1980-er Jahren einstellt.

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zurückwies, Artikel in der Zeitschrift Imago veröffentlichte, zu den ersten inoffiziellen Gasthörerinnen an der Universität Zürich zählte und einen regen Briefwechsel u.a. mit Rainer Maria Rilke führte, darstellt) und Inspektor Alfred Kiss – gespielt von einem großartigen Georg Friedrich – gelöst werden sollen. 1886, also kurz nach dessen Aufenthalt am Hôpital Salpêtrière, versucht der 30-jährige Freud in insgesamt acht teilweise doch sehr strapaziösen Episoden mit Titeln wie Totem und Tabu oder Regression einem Detektiv gleich die Rätsel um die verstümmelte Clara von Schönfeld, den traumatisierten Inspektor Kiss und die mysteriöse Fleur Salome aufzuklären. In dem seine theoretische Arbeit konzentrierenden Aufsatz Das Ich und das Es von 1923 hebt Freud den Umstand, dass »[a]n diesem Ich das Bewusstsein [hängt]« (Freud 1989g: 286) hervor, um in einem nächsten Schritt auch dieser Instanz unbewusste Anteile zuzuschreiben: »Wir haben im Ich selbst etwas gefunden, was auch unbewusst ist, sich geradeso benimmt wie das Verdrängte, das heißt starke Wirkungen äußert, ohne selbst bewusst zu werden, und zu dessen Bewusstmachung es einer besonderen Arbeit bedarf. […] Auch ein Teil des Ichs, ein Gott weiß wie wichtiger Teil des Ichs, kann ubw sein, ist sicherlich ubw.« (Ebd.: 287). Zwar wird Lacan dieser Aussage später deutlich widersprechen, aber Freud akzentuiert den Umstand, dass Menschen Häuser bauen, als »Ersatz für den Mutterleib, die erste, wahrscheinlich noch immer ersehnte Behausung, in der man sicher war und in der man sich so wohl fühlte« (Freud 1989b: 221f.). Topische Modelle werden von Freud durch eigens gezeichnete Diagramme, die sich einerseits im Laufe der Zeit strukturell wandeln und andererseits durchaus als »architektonische Zeichnungen – das heißt Grundrisse und Schnitte – zu lesen« (Rendell 2012: 41) sind, visualisiert. Lacan wird vor allem in den Seminaren neben mathematischen Formeln topologische Muster und Figuren bemühen, um etwa die Interdependenz von Symbolischem, Imaginärem und Realem oder die (Un)Logik des Unheimlichen zu illustrieren.

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Architekturen des Unheimlichen

Ein »spatial turn« ließe sich also schon in der Psychoanalyse ausmachen, denn die Kategorie der Topik dient der Differenzierung des seelischen Apparates in verschiedene Systeme, die metaphorisch als psychische Orte illustriert wurden: Unbewusst, Vorbewusst und Bewusst bzw. in der späteren Fassung Es, Ich und Über-Ich. (Meyer-Sickendiek 2011: 26) Bereits die Studien über Hysterie (1895), in denen von einer Architektur eben jener die Rede ist, heben hervor: »All unserem Denken drängen sich als Begleiter und Helfer räumliche Vorstellungen auf, und wir sprechen in räumlichen Metaphern« (Breuer/Freud 1991: 246). »Die Freud’sche Psychoanalyse wird vom Raum heimgesucht, und das buchstäblich seit ihren frühesten Anfängen« (Binotto 2013a: 19), wobei das Interesse am Topologischen von Lacan fortgeführt und weitergetrieben wird, wie etwa in einem der letzten Kapitel von dessen Psychosenseminar, das das Verhältnis des Subjekts zu(m) Signifikanten, der in Form einer Straße als dessen »Bauplan« (Lacan 1997: 295) deklariert wird, formuliert, wobei anklingt, »dass intrapsychische Vorgänge auch räumlich bezogen sind« (Guderian 2004: 37). Die Hauptstraße ist etwas, das für sich existiert und das sofort erkannt wird. Wenn Sie einen Pfad verlassen, ein Dickicht, einen Seitenstreifen, einen kleinen Gemeindeweg, dann wissen Sie gleich, da, da ist die Hauptstraße […] Man lässt sein Haus an der Hauptstraße bauen, und das Haus richtet sich auf und steht da, ohne andere Funktion als auf die Hauptstraße zu schauen. […] Die Hauptstraße ist also ein besonders deutliches Beispiel dessen, was ich Ihnen sage, wenn ich von der Funktion des Signifikanten spreche, sofern er die Bedeutungen polarisiert, festmacht, zu Bündeln vereinigt. (Lacan 1997: 342ff.) Als Verkehrsbauwerk9 , als Hauptstraße mit verbindender und zugleich trennender Funktion wird die Ordnung des nur lose mit einem Signifikat verbundenen, also instabile Verbindungen eingehenden Signifikanten expliziert, wobei PsychotikerInnen als buchstäbliche Randerscheinungen auf Nebenwegen unterwegs sind. Die Orientierung in der und die Strukturierung von (Um)Welt, die der (Herren)Signifikant leistet, wird signiert durch die Allegorie des Hauses (in dem nicht nur das psychotische Subjekt immer noch nicht Herr ist), in dem oder als das Subjekte vorgestellt werden können10 . Zerle9

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Im Bezug zur Erläuterung des Schema L im Seminar II steht mit der Mauer ein weiteres architektonisches Element: »Es gibt also die Ebene des Spiegels, die symmetrische Welt der Egos und der homogenen anderen. Davon zu unterscheiden ist eine andere Ebene, die wir die Sprachmauer nennen wollen. Ausgehend von der durch die Sprachmauer definierten Ordnung nimmt das Imaginäre seine falsche Realität an, die trotzdem eine verifizierte Realität ist.« (Lacan 1991: 311). Subjekt und Architektur lassen auch Maria Torok und Nicolas Abraham korrespondieren, wenn sie das Subjekt der Analyse mit einer Architektur des Verborgenen bzw. des Verbergenden verschalten: Eine herausragende, weil in Bezug auf ihren führenden architekturalen Charakter eher seltene Abhandlung legen die beiden PsychoanalytikerInnen in ihrer Exegese der Wolfsmann-Anamnese vor, wo die Krypta herausgetragen wird aus dem architekturalen Diskurs, dort einen unterirdischen, den Blicken entzogenen und eine Leiche beherbergenden Hohlraum bezeichnend, und hineinversetzt wird in den theoriebildenden Apparat psychoanalytischer Dispositive. Ähnlich wie Sigmund Freud und später Lacan den Psychotiker Daniel Paul Schreber nie selbst auf der Couch hatten, sondern seine Paranoia anhand dessen eigener Aufzeichnungen, den Denkwürdigkeiten ei-

1 Aus-Gang: Wovon auszugehen ist

gung, also Analyse, und Zusammensetzen, also Bauen, sprechen voneinander, agieren sowohl mit- als auch übereinander und operieren füreinander, wobei Psychoanalyse mit räumlichen Metaphern und Vergleichen, geometrischen Figuren und topologischen Beziehungen operiert. Nachdem die Klassische Archäologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Heinrich Schliemann und seinen Ausgrabungen um das versunkene Troja zur neuen Trendwissenschaft avancierte, wuchern auch in Freuds Texten, die (ebenso) von Schichten, Splittern, Ausgraben, Fundstücken, Grenzflächen und Überlagerungen, Scherben, Trümmern und Resten sprechen, architekturale Reifikationen. Lesbar wird diese Konsultierung an diversen Stellen des Freud’schen Oeuvres, wenn etwa wiederholt räumliche11 , archäologische und architektonische Allegorik zur Illuminierung innerpsychischer Prozesse gewählt (vgl. Freud 1989b: 201f.) oder aber die Tätigkeit des

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nes Nervenkranken (1903), analysierten, widmen sich Abraham und Torok in ihrem »einzigartigen Experiment« (Abraham/Torok 2008: 63) der Materialsammlung, die rund um den Wolfsmann in Form von Patientenakten und Aufzeichnungen behandelnder PsychoanalytikerInnen sich angesammelt hat und schlagen eine weitere Leseversion vor, ohne je selbst mit dem im Mai 1979 verstorbenen Sergei Pankejeff, so der bürgerliche Name des Wolfmannes, gesprochen zu haben: »Ein falsches UNBEWUSSTES: die Krypta im ICH – eine falsche ›Wiederkehr des Verdrängten‹. Die Tätigkeit der in der Krypta verborgenen Gedanken im ICH, eine falsche Bilanz, schließlich, beim Vergleich der vielfachen Wiederholung der traumatischen Szene mit dem ihr gegenüberliegenden Genuss: ein einfaches Wort, das zur SACHE DES UNBEWUSSTEN geworden war: all das war uns mit immer größerer Klarheit vor Augen getreten« (ebd.: 65). In ihrer metapsychologischen Kryptonymie (1979) analysieren die ungarisch-stämmigen WissenschaftlerInnen, wie ihr Patient sich diverse Subjekte seiner Umgebung einverleibt, inkorporiert, ihnen einen Wohnraum in sich selbst schafft, »bevölkert [er] seine innere Welt mit glanzvollen und schlimmen Gestalten […]. Sie sind allesamt in ihm, um eine fundamentale Verdrängung aufrechtzuerhalten« (ebd.: 74f.) und bilden so jenes »falsche Unbewusste« (ebd.) aus, welches andere Worte verbergende Kryptonyme zur (verstellenden) Sprache kommen lässt. Die architekturale Metapher der Krypta wird im Inneren des Körpers, da jedoch als ein Außen, aufgebaut, ist sie doch »im Innern äußerlich […], im Inneren des Innen ausgeschlossenes Außen« (Derrida 2008: 13): »Der Andere […] wird zwar in das eigene Ich aufgenommen, sperrt sich hier jedoch der gelungenen Verdauung und wird somit schattenhaft im Ich implantiert« (Laquiéze-Waniek 2012: 64). Das analytische Setting verlangt nach einer ganz bestimmten topologischen Anordnung oder auch Verteilung von PatientIn und PsychoanalytikerIn im Raum, wobei die Position der Couch eine buchstäblich zentrale Position einnimmt, ist »[d]och die Liege im Untersuchungsraum […] der Ort, der allein für den Patienten bestimmt ist« (Guderian 2004: 82). Strategie ist nicht nur, das Assoziieren von Gesten (der AnalytikerInnen) wie Nase rümpfen oder Stirn runzeln frei zu halten, sondern zugleich das Erschweren von Übertragung (als auch Gegenübertragung), da PatientInnen dauerhaftes Ansehen der analysierenden Person verunmöglicht wird. Der Behandlungsraum, auf die »Interdependenz von Raumempfinden und seelischem Empfinden« (ebd.: 188) aufmerksam machend, als gemeinsame Umgebung, die einerseits in Form eines eingerichteten Zimmers in der psychoanalytischen Praxis immer schon da ist und die andererseits allererst entsteht, wenn PatientIn und AnalytikerIn aufeinander treffen, influenziert wiederum seinerseits Verhalten, Sprech- und Deutungsfähigkeit und entsprechend ist dieser »gemeinsame Performanzraum« (ebd.: 40) nicht von der analytischen Situation zu trennen, insofern er an ihr mitwirkt – wobei der psychoanalytische Behandlungsraum u.a. in die Nähe sakraler Räume wie Kirchen oder Andachtsräume rückt (vgl. ebd.: 93ff.). Zugleich aber expandierte bereits zu Freuds Zeiten der psychoanalytische Raum aus dem becouchten Einzelzimmer und tourte Anfang der 1920-er Jahre gewissermaßen als mobiler Raum durch Wien: »[…] Willem Reich expanded the accessibility of psychoanalysis

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Architekturen des Unheimlichen

Psychoanalytikers mit Begriffen wie ausgraben, heben oder freilegen12 beschrieben wird; Freuds Texte bedienen sich eines Archivs architektonischer Rhetorik, um das Vorgehen respektive die Positionierung im topologisch gedachten psychischen Raum13 , etwa der Zensur, zu systematisieren, die Psyche als (unwissend) ausgedehnt zu beschreiben (vgl. Freud 1951: 152) oder um das Unbewusste als Raummetapher feilzubieten. Die Renovierungsarbeiten, die wiederum Jacques Lacan an und mit den Texten Freuds vorgenommen hat, sind auf ähnliche Weise angereichert mit architekturalen Metaphern und setzen diverse Topiken als optische Erklärungsmodelle ein. Lacan selbst bezeichnet im Seminar XI seine Freud-Lektüren als Spurengänge14 , die sich den bis zu diesem Zeitpunkt von der Psychoanalyse ausgehobenen Segmenten zuwenden. Neben der Psy-

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by setting up free clinics troughout Vienna, even turning the back of a van into a mobile clinic that he would take into working-class neighbourhoods […]« (Rendell 2017: 125). Helge Mooshammer weist auf »Freuds wiederholte Verwendung von archäologischen Bildern« (Mooshammer 2012b: 103) sowie auf den beiden Disziplinen inhärenten Prozess der Sichtbarmachung hin, wobei nicht alles, was tief vergraben wurde, auch alt und nicht alles, was an der Oberfläche hängt, erst neu hinzugekommen ist: »Die Weiterentwicklung der archäologischen Metapher und ihre zunehmende Komplexität lässt sich parallel zu Heinrich Schliemanns Ausgrabungen von Troja ab 1871 lesen, die das Material für ein Modell der dynamischen Beziehungen und Umformungen lieferten, wo die Dinge bei weitem nicht in linearer Abfolge und schon gar nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt abgelagert sein müssen.« (Ebd.: 104). »Die roheste Vorstellung von diesen Systemen ist die für uns bequemste; es ist die räumliche. Wir setzen also das System des Unbewussten einem großen Vorraum gleich, in dem sich die seelischen Regungen wie Einzelwesen tummeln. An diesen Vorraum schließe sich ein zweiter, engerer, eine Art Salon, in welchem auch das Bewusstsein verweilt. Aber an der Schwelle zwischen beiden Räumlichkeiten walte ein Wächter seines Amtes, der die einzelnen Seelenregungen mustert, zensuriert und sie nicht in den Salon einlässt, wenn sie sein Missfallen erregen« (Freud 1989c: 293). Zensur wird unter Einsatz einer Salon-Metapher illustriert durch räumliche Arrangements, wobei die Instanzen des Be- und Unbewussten mit Zonen oder Zimmern identifiziert werden, deren jeweilige Interieurs auch von Raum zu Raum wandern können, solange jener Wächter keinen Widerstand leistet. Sie dienen als Kammern, um (un)bewusste Triebe, Wünsche und Gedankeninhalte zu verstauen. Freud bindet also schon früh diese scheinbar auseinandergleitenden Disziplinen in seinen theoretischen Formulierungen aneinander, sei es im Erkennen phallischer Strukturen von »in die Länge reichenden Objekte« (Freud 1989f: 348) wie etwa Schornsteinen und Tempelsäulen oder auch eines psychischen Apparats, welcher als topisches Modell verortet wird. Zudem spricht Freud im Zusammenhang mit der mittlerweile selbst berühmten, Inhalte des Traums betreffenden »Rücksicht auf Darstellbarkeit« (ebd.: 339) von einer »architektonische[n] Symbolik des Körpers und der Genitalien« (ebd.: 341), sodass Zimmer und voneinander abgetrennte Räume in der Traumarbeit als Frauen symbolisierende Orte pointiert werden, gleichwohl Treppenhäuser an Geschlechtsverkehr denken lassen: »Zimmer im Traum sind zumeist Frauenzimmer, die Schilderung ihrer verschiedenen Eingänge und Ausgänge macht an dieser Auslegung gerade nicht irre. […] Stiegen, Leitern, Treppen, respektive das Steigen auf ihnen, und zwar sowohl aufwärts als abwärts, sind symbolische Darstellungen des Geschlechtsaktes.« (Ebd.: 348f.). »Die Kostbarkeit dieser Texte, in dieser Materie, wo Freud Neuland erschließt, besteht darin, dass er nach Art der guten Archäologen die Ausgrabungsarbeiten am Ort lässt – so dass wir, auch wenn diese nicht vollendet ist, erkennen können, was die ausgegrabenen Gegenstände sagen wollen. […] [G]enau das lehre ich Sie, ich als Lacan, auf den Spuren der Freudschen Grabung.« (Lacan 1996b: 190ff.).

1 Aus-Gang: Wovon auszugehen ist

choanalyse selbst lancieren einige wenige Monographien15 und Aufsatzsammlungen16 dezidiert Verknüpfungspunkte17 und Anschlussstellen zwischen psychoanalytischer

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So greift Peter Sloterdijk in seiner Sphären-Trilogie (1998-2004) Freuds Idee, in der eigenen Behausung ein Mutterleibssurrogat zu erkennen, auf, um eine ursprüngliche Behaglichkeit des protektiven Eingehüllt-Seins, die jedoch mit dem Geburtsprozess verloren geht, zu konstatieren; erstes Wohnen wird so verstanden als Umhüllung, als Schutzmantel aus Gewebe, als »Wohnen als Blasenexistenz« (Funke 2006: 79), das im Haus aus Stein zu imitieren oder zu rekonstruieren versucht wird. Hier wird die Einrichtung des Wohnraums zum Unternehmen, diesen ursprünglichen Schutz mit Gardinen und Platzdeckchen einzuholen und sich gegen von Außen eindringende Fremdkörper, seien es EinbrecherInnen oder Straßenschmutz, zur Wehr zu setzen. Potentielle Eindringlinge werden durch die und in den eigenen vier Wände(n) abgewehrt, die selbstgestaltete Betonhülle wird zum Schutzhort – die Wohnung wird zum regionalen »Immunsystem«, denn »Wohnen ist aus immunologischer Sicht eine Verteidigungsmaßnahme, durch die ein Bereich des Wohlseins gegen Invasoren und andere Bringer von Unwohlsein abgegrenzt wird« (Sloterdijk 2004: 535). Auch Dieter Funkes Monographie Die dritte Haut (2006) wagt in Anlehnung an Sloterdijks Ausführungen unter Einbezug diverser Körper(konzepte) und das Wohnen betreffende Denkkonzepte einen Brückenschlag von Psychoanalyse zu gebautem Raum, in den man sich in schützender Absicht einnistet, wenn sie u.a. die »Einrichtungskunst als Plazenta-Symbolik« (Funke 2006: 229) versteht, also in Anlehnung an Freud beschreibt, wie der gebaute, individuell eingerichtete Wohn- zum Ersatzraum für den (verlorenen) Mutterleib mutiert und so als dritte Haut (etymologisch hängen Haus und Haut aneinander, leiten beide sich von der althochdeutschen Bezeichnung hût, die mit Bedeckendes, Umhüllendes oder auch Behütendes wiedergegeben werden kann, ab) im Verhältnis zu einer ersten des Körpers und einer zweiten der Kleidung beschrieben werden kann: »Wie sehr das Haus als erweiterter Leib verstanden wird, macht auch der Sprachgebrauch deutlich. Man bezeichnet jemanden als altes Haus, man spricht von Beziehungen zwischen Familien als Kontakt von Haus zu Haus und meint mit Haushalt die Menschen, die unter einem Dach leben.« (Ebd.: 68). Wie die (propriozeptive) Haut als Behältnis (psychischer Vorgänge und Inhalte) und als Grenzfläche verstanden werden kann, beschreibt wiederum der französische Psychoanalytiker Didier Anzieu, dessen psychotische Mutter Marguerite Pantaine unter dem Pseudonym Aimée A. die Patientin Lacans war, deren Fall (ein Angriff auf die Schauspielerin Huguette Duflos) in seiner Dissertation Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit (1932) diskutiert wurde (vgl. Lacan 2002: 153ff.), mit seinem Begriff des Haut-Ichs (als Schwellenkörper, Fläche, größtes Sinnesorgan etc.), welches mit diversen Funktionen ausgestattet wird (vgl. Anzieu 1991: 60ff.). In der Ende 2012 von Mooshammer herausgegebenen Anthologie Zwischen Architektur und Psychoanalyse – Sexualität Phantasmen Körper, in der trotz der Fährten, die die Psychoanalyse selbst legt, bemerkt wird, dass, »so naheliegend die Berührungspunkte zwischen Architektur und Psychoanalyse sind, so auffallend ist es, wie wenig dieses Thema in der deutschsprachigen Literatur behandelt wurde« (Mooshammer 2012a: 13), schickt man sich an, verschiedene Aufsätze, die u.a. von einer Rolltreppen-Phobik (Rudolf Heinz) oder von Undurchsichtigen Konstruktionen von Wissen und Raum (Helge Mooshammer) wie Von Schleiern und einer Leidenschaft für Faltungen (Doina Petruscu) handeln, sich zum Austausch von psychoanalytischem und architekturalem Denken äußern zu lassen. Obwohl Alexander Mitscherlich mit Die Unwirtlichkeit unserer Städte (1965) bereits eine Verbindungsstraße zwischen den beiden Disziplinen zu asphaltieren versuchte, »wurde diese Frage von psychoanalytischer Seite nur vereinzelt weiterverfolgt, und auch auf Seiten der Architektur(theorie) sind solche Brückenschläge eher sporadisch« (ebd.). Bereits vor einigen Jahren publiziert wurden außerdem zwei Monographien, die sich dezidiert mit dem Verhältnis von Architektur und der Psychoanalyse Jacques Lacans auseinandersetzen: Brunelleschi, Lacan, Le Corbusier (2010) von Lorens Holm, einem englischen Architekten, der sich den Schnittstellen und Verbindungspunkten von innerer Psyche und im Außen liegenden architekturalen Raum verschreibt sowie die von J.S. Hendrix angefertigte, verschiedene Aufsätze zum The-

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Theorie(bildung) und Architektur(theorie), wobei derlei Unterfangen gemeinhin darauf abzielen, die räumlichen Ausdehnungen seelischer Vorgänge zu exponieren oder aufzuzeigen, wie Allegorien der Psychoanalyse Einzug halten in eine Rhetorik des Architekturalen, sodass das bei Freud und Lacan prominente Unheimliche, das (dort auch) architektural konturiert wird, kaum interessiert: Auffällig unauffällig bleibt dabei das Unheimliche.

1.2 Eintritt: Das Unheimliche und die Architektur Die Kategorie des zwischen Psychoanalyse und Architektur lokalisierten Unheimlichen, das »zum Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden gehört […], so dass es eben meist mit dem Angsterregenden überhaupt zusammenfällt« (Freud 1989a: 243) und dabei als »jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht« (ebd.: 244) eine »Immanenz des Fremden im Vertrauten« (Kristeva 1990: 199) aufweist, wurde bisher nicht auf eine architekturale Formel gebracht, obwohl es bereits konstitutiv architektural konfiguriert ist, geht es doch stets mit (systematischen) Konstruktionen von Heim, Nicht-Orten, Ver(sch)ließen, Mauern, Strukturen von innen und außen, ver- und entbergen etc. einher. In der Kulturgeschichte medialer Vorgänge, deren Sujet oder Motiv Architektur ist, gilt es drei Momente auszumachen, in denen das Unheimliche manifest wird (vgl. van der Straeten 2008: Absatz 2): Prominent wurde das Unheimliche des architekturalen Raumes zunächst gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der Zeit der Gothic Novels, die mit schaurigen Gestalten und gespenstischen Orten Horror applizieren. Neben der Einnahme berauschender Substanzen, dem Auftritt von Geistern, Wieder- und DoppelgängerInnen gehen diesem Genre zuordenbare Texte mit der Unheimlichkeit von Landschaften wie von Gebautem insofern um, als sie an abgelegenen Schauplätzen, in Sümpfen oder dunklen Wäldern spielen und dabei von vorneherein entrückt und entrückend wirken. Architecture has been intimately linked to the notion of the uncanny since the end of the eighteenth century. At one level, the house has provided a site for endless representations of haunting, doubling, dismembering, and other terrors in literature and art. At another level, the labyrinthine spaces of the modern city has been constructed as the sources of modern anxiety, from revolution and epidemic to phobia and alienation […]. (Vidler 1992: x) »As a concept, then, the uncanny has, not unnaturally, found its metaphorical home in architecture« (ebd.: 11) und dementsprechend kann es nicht verwundern, dass das Unheimliche besonders in Verbindung mit Figurationen des Heims und des Hauses in diversen Texten vorerst im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert immer wieder auftaucht, wenn Unheime in Erzählungen von Poe, Walpole oder Hoffmann als eine Art Anarchitektur, eine Architektur, die von Kerben, Kratzern, Löchern in Wänden und Decken, Rissen und Schnitten ge-, zer- und verstört ist, zu interessieren beginnen. Unheimliches drängt ma bündelnde Schrift Architecture and Psychoanalysis – Peter Eisenman and Jacques Lacan (2006), die Strukturverwandtschaften nachweist zwischen verschiedenen Konzepten beider Disziplinen.

1 Aus-Gang: Wovon auszugehen ist

in Texte, die einer Wohn- und Behaglichkeit des Räumlichen radikal entgegenstehen. So ist etwa Poes namenloser Held in The Fall of the House of Usher (1839) der an einem »dull, dark and soundless day in the autumn of the year« (Poe 2009a: 242) seinen Weg durch eine »singularly dreary tract of country« (ebd.) nimmt, von Beginn der Ereignisse an einer unheimlichen Umgebung ausgesetzt. Tote, abgestorbene Bäume treiben in den von ihm durchquerten Sümpfen, während ihn eine trostlose Landschaft mit grauen Gräsern und trübem Wasser umgibt, bis er schließlich das ihn scheinbar wie »vacant, eye-like windows« (ebd.: 243) anblickende Anwesen seines alten Freundes erreicht, in dem er sogleich durch »many dark and intricate passages« (ebd.: 244) in sein unwirtliches Gästezimmer geführt wird. The room in which I found myself was very large and lofty. The windows were long, narrow, and pointed, and at so vast a distance from the black oaken floor as to be altogether inaccessible from within. Feeble gleams of encrimsoned light made their way through the trellised panes, and served to render sufficiently distinct the more prominent objects around; the eye, however, struggled in vain to reach the remoter angles of the chamber, or the recesses of the vaulted and fretted ceiling. Dark draperies hung upon the walls. The general furniture was profuse, comfortless, antique, and tattered. Many books and musical instruments lay scattered about, but failed to give any vitality to the scene. I felt that I breathed an atmosphere of sorrow. An air of stern, deep, and irredeemable gloom hung over and pervaded all. (Ebd.: 245) Unheime, ob ihrer Bedrohlichkeit und ihrem Verängstigungspotenzial unheimlich, besiedeln vor allem mit dem Aufkommen der Gothic Fiction im englischsprachigen bzw. des Schauerromans im deutschsprachigen Raum diverse Texte und finden sich in einer unhintergehbar düsteren Atmosphäre später auch in (Gothic Retro)-Kinoproduktionen wie etwa The Others (2001) wieder. Zwar klingt die eigentliche Hochzeit des Schauerromans bereits mit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts aus (vgl. Shelton 2008: 20), jedoch befällt eine gewisse Ästhetik des Morbiden und Unheimlichen auch moderne Horror-Literatur von u.a. Stephen King, Shirley Jackson und Les Daniels sowie den Film; Gothic Horror 18 ist demnach ein metastasierendes Genre, das sich in den Film weitertreibt und dort mit dessen Mitteln im wahrsten Sinne des Wortes düstere Bilder erzeugt, wie im bereits erwähnten Alejandro Amenábar-Film The Others, dessen einziger Schauplatz ein in Nebel getauchtes Anwesen mit abgedunkelten Räumen ist; oft sind es auch in einschlägigen Filmproduktionen abgelegene Landsitze, halb zerfallene Schlösser oder alte Herrenhäuser am Rande des Waldes, die dem Unheimlichen einen Ort bereiten. In ihren Anfängen erkannte man »the gothic« an den Requisiten und Kulissen, die es verwendete, an seinem Mobiliar. Dunkle Wälder und vor Feuchtigkeit triefende Keller,

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Bereits die Titel der einschlägigen Erzählungen des Gothic Horror weisen, wie auch später expressionistische Filme des Weimarer Kinos und Film Noir-Produktionen, auf das architektonische Setting, in dem sie spielen, so u.a. The Castle of Otranto, ein bereits 1764 erschienener Roman von Horace Walpole, in dem ein Schloss zum unheimlichen »long labyrinth of darkness« (Walpole 1977: 8) avanciert; Poe’s The Fall of the House of Usher, sowie H.G. Wells The red room (1896) zeigen ebenso ihren Handlungsort an.

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Klosterruinen voller geheimer Gänge, klirrende Ketten, Skelette, Gewitter und Mondlicht – aus diesen Materialien schufen die ersten Autoren ihres Genres ihre Erzählungen. (McGrath 1992: 9) Gothic-Literatur hat also auch und vor allem mit der Frage nach atmosphärisch unheimlichen Orten, schauerlichem Inventar, merkwürdigen Gestalten und beklemmenden Räumen zu tun, verhandelt jedoch weniger die bauliche Konstruiertheit, die Struktur, die Verfasstheit architektonischer Konstruktionen als vielmehr die Einrichtung des Raumes, stellt die Frage nach einem in ihm lebenden Geist oder Gespenst, das sein Unwesen in alten Mauern treibt oder weist auf ein schreckliches Geschehen, das sich innerhalb der Wände abgespielt hat und noch nachhallt. »A second period in which architecture was linked to the uncanny was the late nineteenth and early twentieth century, when the city turned into a metropolis« (van der Straeten 2008: Absatz 2); erneut prominent wurde die Relation von Unheimlichem und Architekturalem alsdann im frühen 20. Jahrhundert mit der Modifizierung der architekturalen Umgebung, insofern der städtische Raum mit gefährlichen Straßenkreuzungen, dunklen Hinterhöfen und schweren Backsteinbauten wie automatisierten Türen zu einer ent-heimlichten Zone arrivierte. So nie dagewesene Stadtarchitekturen bedingen durch Neu- und Anbauten eine quetschende Enge und muten zuweilen labyrinthisch an (Freuds Aufsatz zum Unheimlichen ist in genau dieser Periode des Neuen Bauens entstanden). Unheimliche Stadträume erzeugen auch die literarischen Texte und Filme der 1920-er Jahre, wie etwa Döblins Großstadtroman Berlin Alexanderplatz (1929), Dos Passos Hotellobbies und -zimmer durchstreifendes, Seitenstraßen durchlaufendes Manhattan Transfer (1925) oder die Stadt- und Straßenfilme des Weimarer Kinos wie etwa Karl Grunes den urbanen Raum als unheimlichen in Szene setzenden Film Die Straße (1923) (siehe Kapitel 2.4). Ab den 1960-er Jahren gibt es mit der Idee einer Dekonstruktion des Architekturalen eine dritte Periode des architektural Unheimlichen zu verzeichnen, die sich vermutlich der Relektüre Freuds und Lacans durch Derrida, der selbst wiederum Kontakt zu ArchitektInnen (allen voran Peter Eisenmann) gesucht hat, anhängt (vgl. van der Straeten 2008: Absatz 3). Wegbereiter dekonstruktiver Architektur ist allen voran Gordon MattaClark, der klassische Architekturen gewissermaßen hin zur Anarchitektur verletzte, indem er mithilfe von Messern, Sägen und Scheren Schnitte und Kerben in Fassaden und Innenwände ritzte, schnitt und kratzte (vgl. Lee 2000: 114ff.). Architekturen werden so nicht zerstört, sondern, wenn man so möchte, angestört, bleibt doch stets etwas rissig und der Instabilität verpflichtet – es ist (der Anarchitektur wie der vorliegenden Studie) um eine Struktur zu tun, der das Moment der (eigenen) Destrukturierung bereits immanent ist, also eine Architektur, die als Struktur bereits destrukturiert ist. Diese Anarchitektur und ihr folgend die dekonstruktive Architektur verunheimlicht sich dabei insofern, als sie sich gegen häusliches Wohlbehagen und eine heimelige Idylle richtet; ArchitektInnen, die der Dekonstruktion als Konzept bzw. Haltung nah stehen, werden die Notwendigkeit einer unbehaglichen, unheimlichen Architektur, die von Diskomfort und räumlicher Irritation getragen wird, nicht müde zu betonen. Bernhard Tschumi etwa wirkte in Anlehnung an und in Kooperation mit Derrida an der Umsetzung der Gestaltung einer Parkanlage inmitten von Paris, die einen radikalen Bruch mit hergebrachten Baustilen

1 Aus-Gang: Wovon auszugehen ist

und -konfigurationen vollzieht, da der Parc de la Vilette im Widerspruch zu einer traditionellen, von klarer Zuordnung gekennzeichneten Architektur, steht, mit.

1.3 Kombination: Unheimliche Architektur Das Unheimliche und die Architektur haben also bereits seit längerem miteinander zu tun, insofern das Unheimliche innerhalb von, durch und um Architekturen herum statthat. Zwar schlägt sich Unheimliches räumlich oder atmosphärisch nieder, doch geht es dabei weniger um eine verunheimlichte Architektur, sondern viel eher um (von Architekturen produzierten) Raum, Orte oder Interieurs. Architektur und Unheimliches wurden bisher zwar durchaus über das Motiv des Hauses miteinander verknüpft, doch spielt sich das Unheimliche dort meist im Raum und weniger als Architektur ab, sodass eher die Frage nach dem Inventar in Form von Kleinmöbeln oder Wandvertäfelungen als nach Bauten narrativ verhandelt wird, womit der Architektur-Begriff insofern aufgeweicht wird, als er nicht nur für Gebautes, sondern auch für Sümpfe, Landschaften oder die Psyche dienstbar gemacht wird. Interessiert, ein solches Unheimliches eigens der Architektur zu erfragen, widmet sich Anfang der 1990-er Jahre Anthony Vidler besonders jenen Phänomenen, die sich innerhalb bestimmter Räume ereignen, wenn Häuser in literarischen Texten wie auch in der bildenden Kunst als Kulisse zur Inszenierung von Spuk oder der Heimsuchung von Geistern, Krankheiten und DoppelgängerInnen werden, wie er exemplarisch in seiner Lektüre des »paradigmatic haunted house« (Vidler 1992: 18) Usher in seiner Dissertation The architectural uncanny – Essays in the modern unhomely (1992) akzentuiert: In Räumen, die durch mangelnden Lichteinfall eine diffuse Atmosphäre oder durch zahllose Dermoplastiken an den Wänden schrecken, haben unheimliche Begegnungen zumeist mit aus dem Grab zurückgekehrten, nun seine oder ihre alten Wohnräume heimsuchenden WiedergängerInnen, einer längst vergessenen Liebe oder schon halbtoten Verwandten statt. Weiter konstatiert Vidler unter Heranziehen der Ausführungen Colin Rowes und Georg Simmels etwa die »face/facade analogy« (ebd.: 87) und wie sich ein unheimliches Gefühl dann einstellt, wenn Häuser durch äußere Einflüsse und innere Erschütterungen abgebröckelt und angegriffen erscheinen oder dementsprechend konstruiert wurden – die Fassade eines Gebäudes verunheimlicht sich, beginnt man, »to suppress what, traditionally at least, might be termed a face« (ebd.: 91), womit die Verhandlung ›echter‹ Architekturen ähnlich wie bei van der Straeten eher dabei stehen bleibt, eine ›Anästhetik‹ von schmuddeligen Häuserfassaden bei z.B. OMA19 und Coop Himmelb(l)au20 zu diagnosti19

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OMA (Office for Metropolitan Architecture) ist ein niederländisches Architekturbüro, das u.a. von Rem Kohlhaas 1975 gegründet wurde und für das seit seinem Bestehen auch ArchitektInnen wie die für ihre an Fluidität und Kinetik orientierten Entwürfe und Realisierungen bekannte Zaha Hadid tätig waren. Die niederländische Botschaft in Berlin, die Kunsthalle in Rotterdam oder auch das China Central Television Headquarters in Peking wurden von ArchitektInnen des international tätigen Kollektivs entworfen. Das 1968 in Wien gegründete Architekturstudio Coop Himmelb(l)au, dessen besonders mit dem Namen Wolf D. Prix in Verbindung gebrachte Designs 1988 im Rahmen der Ausstellung Deconstructivist Architecture im MOMA zu sehen waren, versteht sich als progressive und dabei innova-

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zieren als etwa eine strukturelle Unheimlichkeit der Architektur auszumachen. Anthony Vidler unterstellt zudem bereits in seiner Einleitung (!), es gebe keine unheimliche Architektur im Sinne einer spezifischen Organisation, also keine der Architektur inhärente Bauweise oder Struktur, die sie verunheimlichen würde. In this sense, it is perhaps difficult to speak of an ›architectural‹ uncanny, in the same terms as a literary or psychological uncanny; certainly no one building, no special effects of design can be guaranteed to provoke an uncanny feeling. […] If there is a single premise to be derived from the study of the uncanny in modern culture, it is that there is no such thing as an uncanny architecture, but simply architecture that, from time to time and for different purposes, is invested with uncanny qualities. (Ebd.: 11f.) (Trotzdem) verhandelt Vidler räumliche Arrangements, die eine Erfahrung des Unheimlichen bereithalten und dementiert dabei zugleich, dass die Konfiguration des architekturalen Raumes an sich eine (ver)unheimlich(t)e sein kann. Zu einem ähnlichen Fazit bezüglich der Unheimlichkeit der architektonischen Konstruktion (auch in (literarischen) Texten) gelangt etwa zwanzig Jahre später Kristian Faschingeder in seiner Arbeit zum Unheimlichen in der Stadt (2010) anhand der Entwürfe Ludwig Hilberseimers. Die Architektur ist also nicht mehr (und nicht weniger) als ein szenischer Rahmen: Wenn Architektur in Erzählungen oft eine Rolle spielt, dann deswegen, weil sie den atmosphärischen Rahmen für eine unheimliche Erfahrung bereitstellt. […] Eine unheimliche Architektur per se gibt es nicht. (Faschingeder 2011: 89f.) Letztlich vermag keine Architektur genuin unheimlich zu sein, da sie »ja nur den Ort für die Erfahrung des Unheimlichen zur Verfügung stellen kann« (ebd.: 174), womit das Unheimliche auf ein im Raum stattfindendes Ereignis bzw. eine im Raum gemachte Erfahrung zurückgeworfen wird. Horror wie Schockhaftem des Architekuralen gehen in der Folge Joshua Comaroff und Ong Ker-Shing nach, wenn sie in ihrer 2018 erschienenen Monographie Horror in Architecture eine Art architekturale Freakshow unternehmen und dabei nach Unheimlichem diverser Bau- und Ornamentikstile fragen und dabei davon ausgehen, dass Horror eine dem Unheimlichen benachbarte und entsprechend zuarbeitende Kategorie darstellt. Die Inhaber des Designerbüros Lekker »look at bodily horrors and their analogues in the built

tive KünstlerInnengruppe, die einen radikalen Neuansatz des Bauens wählt und entsprechend in einer Art Manifest formuliert: »Wir haben keine Lust, Biedermeier zu bauen. Nicht jetzt und zu keiner anderen Zeit. Wir haben es satt Palladio und andere historische Masken zu sehen, weil wir in der Architektur nicht all das ausschließen wollen, was unruhig macht. Wir wollen Architektur, die mehr hat. Wir wollen Architektur, die leuchtet, die sticht, die fetzt und unter Dehnung reißt. Architektur muss schluchtig, feurig, glatt, hart, brutal, rund, zärtlich, farbig, obszön, geil, träumend, vernähend, verfehrnend, naß, trocken und herzschlagend sein. Lebend oder tot. Wenn sie kalt ist, dann kalt wie ein Eisblock. Wenn sie heiß ist, dann so heiß wie ein Flammenflügel. Architektur muss brennen.« (Coop Himmelb(l)au 1980: 8). Zwar entwarf das Büro gerade zu Beginn der 1970-er und 1980-er Jahre unrealisierbare Architekturen, zeichnet aber auch für Gebäude wie das Gasometer B in Wien, die Martin-Luther-Kirche in Hainburg, den Ufa-Kristallpalast in Dresden oder das Akron Art Museum in Ohio, dessen Umbau ArchitektInnen des Wiener Büros organisierten, verantwortlich.

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environment. These are instances in which normal anatomy grows deviant – extra limbs appear, holes open where they should not, individuals are doubled and split and copied« (Comaroff/Ker-Shing 2018: 24). Als solche »discomfiting operations« (ebd.) gelten etwa (einen gewissen Wiederholungszwang ausspielend) das Errichten von Zwillingsgebäuden wie beim World Trade Center oder auch das Hochziehen von »horrible multiple« (ebd.: 70) Doppelhaushälften, ebenso wie Wandgestaltungen, die Gesichter auf unheimliche Weise verdoppeln oder, wie beim vervielfachten Christuskopf an der Außenfassade der Kathedrale von Salisbury in der Grafschaft Wiltshire, gar verdreifachen. Deformität – in Form verzerrter Fassaden (wie man sie am in Polen erbauten Crooked House der Architekten Szotyński und Zaleskiwie wie auch dem unter Mitarbeit von Frank Gehry entstandenen Tanzenden Haus findet), eingeschmalter Hauswände (wie etwa beim Londoner Thin House oder dem berühmten Flatiron Building in New York) oder scheinbar der Stabilität entgegentretender Knickfassaden wie die des am Mühlengrund in Wien erbauten Passivhauses – arbeitet am Horror eines Gebäudes insofern mit, als sie unheimliche Verbildungen überhand nehmen lässt und das Missge- wie Verunstaltete, das Ent- und Verstellte wie das Verzerrte fokussiert21 . Johannes Binotto wiederum schlägt in Tat/Ort (2013), wo er über das Verhältnis von Raum und Unheimlichem nachdenkt, mit der »Koexistenz des Gegensätzlichen« (Binotto 2013a: 63) eine Formel für das Unheimliche vor, die dessen Potenzial, das Ungleichzeitige und Inkongruente zur gleichen Zeit auftreten zu lassen, akzentuiert (Bronfen spricht bereits von einer »vom Unheimlichen hervorgerufenen Aufhebung klarer Grenzen« (Bronfen 2008: 130)). Die (filmischen) Räume Dario Argentos etwa werden als »endlos ausgedehnt und zugleich klaustrophobisch eng« (Binotto 2013a: 280) beschrieben, ähnlich wie Zimmer, Flure und Kammern des am Architekturalen und der »Deterritorialisierung« interessierten Lovecraft an einer »klaustro-agoraphobische[n] Überschreitung« (ebd.: 175) mitwirken; Piranesis Carceri-Radierungen, die in vielerlei Hinsicht einen »anderen Schauplatz« (ebd.: 75) eröffnen, sind einerseits Darstellungen verschließbarer Kerker und andererseits Bilder unendlicher Räume, die über ihre Ränder ins Weite hinausweisen. Jedoch ist es auch Tat/Ort nicht um eine verunheimlichte Architektur, denn um Das Unheimliche und sein[en] Raum, der ein doppelt ausgefüllter ist, zu tun. Ausgehend von und anschließend an diese Perspektiven interessieren hier nun weniger unheimliche Räume und deren Inneneinrichtung, als vielmehr Architekturen des Unheimlichen, es wird die Spezifik architekturaler Konstruktionen in sowie auch als Text

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Diverse ArchitektInnen wie etwa Frank Gehry setzen zugunsten des Horrors und des Unheimlichen auf »intentionally mis-scaled components« (Comaroff/Ker-Shing 2018: 36) und provozieren damit eine zur Unheimlichkeit von schwankenden und (sich) wiegenden Gebäuden beitragende Architektur der Devianz und der Ver-rückung, wo das Prinzip von »violate conventions« (ebd.: 195) zur architekturalen Strategie avanciert; der Gehry Tower in Hannover, dessen Außenfassade aus in sich verdrehtem rostfreien Stahl zusammengesetzt ist oder auch das in Cleveland errichtete, wie ein Hybrid aus Gebäude und Skulptur wirkende Lewis Building desselben Architekten mit einer teilweise wie gewelltes Papier sich verformenden Außenwand zeugen von der Tendenz, Gebäude sich winden, (ver)biegen, beugen, (ein)falten und knicken zu lassen, wobei einer der ersten realisierten Entwürfe eines »Horror of the dysmorphic« (ebd.: 192) der des Spaniers Santiago Calatrava, dessen in Malmö 2006 fertiggestellter Wolkenkratzer Turning Torso dem gewundenen Rumpf eines menschlichen Körpers nachempfunden ist, sein dürfte.

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und Film analysiert; nicht (nur) die Raumausstattung in Form von Gemälden, sich aus Schatten von Fensterreihen werfenden Schauergestalten oder das Mobiliar sollen den Nexus der Untersuchung stellen, sondern gefragt wird vor allem nach der spezifischen Konstruiertheit der jeweiligen Architektur, sei es ein einzelnes Gebäude oder eine ganze Stadt. Dabei wird sich der inflationären metaphorischen Rede vom Architektonischen insofern entgegengestellt, als es weniger darum zu tun ist, den Körper, Landschaften oder die Politik architektonisch zu fassen, als vielmehr Bauwerke, die in Texten und Filmen begegnen und den Raum dabei allererst entstehen lassen, als unheimlich auszuweisen; wenn hier vom Raum die Rede ist, dann in der Weise, dass er von der Architektur, wie Heidegger es in Bauen Wohnen Denken (1951) formuliert (vgl. Heidegger 2000: 154f.), erst produziert wird. Architektur wird verstanden als »[…] künstliches Bauen« (Seitter 1994: 90), als Fabrikation mit einem gewissen »Künstlichkeitsquotient« (ebd.), ohne dass dabei FabrikateurInnen identifiziert werden müssen.

1.4 Fort-Gang: Unheimliche Labyrinth-Architekt(o)ur Architekturen des Unheimlichen weisen zwei konstitutive Züge auf, die nicht präskriptiv sind, sondern sich einerseits durch Lektüre des Freud-Aufsatzes zum Unheimlichen in Verbindung mit Heideggers wiederum sich an Freud orientierendem Unheimlichkeitsbegriff einstellen und andererseits Sichtungs- und Leseresultate darstellen: Kinetik und Labyrinthik, insofern unheimliche Architekturen dynamische, sich stets verändernde Labyrinthe sind, deren räumliche Struktur oszilliert, die also nicht mit sich identisch sein können. Vorgestellt in ihrem je spezifischen Bewegungsmodus werden dabei eine das Kino zitierende Stadt, deren Morphologie nächtlich auf je andere Weise aus dem Boden wächst und verschoben wird: Dark City (1998) von Alex Proyas, zwei zu Labyrinthen verschachtelte und sich dabei auf un(er)fassbare Weise bewegende Würfel: die Filme Cube (Vincenzo Natali) von 1997 und Hypercube (Andrzej Sekuła) aus dem Jahr 2002 und schließlich ein Haus, das plötzlich Anwüchse bekommt und Schrumpfungen sowie Dehnungen des Raumes prozessiert: Mark Z. Danielewskis House of Leaves (2000). Ähnlich wie die Texte der Gothic Fiction tragen die genannten Filme und Danielewskis Roman bereits den Ort ihres Geschehens im Titel, treiben aber auf je eigene Weise das Verhältnis von Gebautem und Unheimlichem voran, insofern in den hier zur Disposition stehenden Texten und Filmen nicht (nur) unheimliche Wesen durch dunkle Gänge treiben, sondern die dunklen Gänge selbst als je unterschiedlich sich bewegende Labyrinthe zu unheimlichen Akteuren und Architekteuren des Unheimlichen werden. Dem Unheimlichen zu eigen ist, sich uneigen zu werden, durchläuft es doch einen Prozess des Abschneidens, Hinzufügens, Verzerrens, Umstellens, Einkerbens – es ist permanente (im doppelten Sinne) Umschreibung. »The unfamiliar, in other words, is never fixed, but constantly altering. The uncanny is (the) unsettling (of itself)« (Royle 2003: 5). Es hat, ganz seiner Funktion entsprechend, von Freud22 , der seinen Aufsatz 22

Der Begriff bzw. das Konzept des Unheimlichen wird zwar bereits vor Freuds zentralem Aufsatz, der auf seine Vor-Schreiber Ernst Jentsch und Friedrich Schelling hinweist, von 1919 diskutiert, dennoch »wird dessen Status als ›Diskursivitätsbegründer‹ performativ bestätigt, auch wenn viele

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Das Unheimliche 1919 verfasst, – »er schließt seine Abhandlung nicht so sehr als dass er sie einfach abbricht« (Weber 1981: 127) – einen gewissen Weg genommen: Spürt etwa G.C. Tholen dem »Unheimliche[n] an der Realität« (Tholen 1984: 88) ebenso nach wie der »Realität des Unheimlichen« (ebd.), notiert Samuel Weber eine Formel des an eine gewisse, nicht mit sich identischen Wiederholungsstruktur gebundenen Unheimlichen »als dichterische Struktur« (Weber 1981: 122), wohingegen Heidegger, wenn er »Die Sorge als Sein des Daseins« (Heidegger 1977: 180) und dabei »die Angst als Grundbefindlichkeit« (ebd.: 188) verhandelt, Unheimliches als »Nicht-zuhause-sein« (ebd.), einen bedrohlichen Modus, in dem »alltägliche Vertrautheit […] in sich zusammen[bricht]« (ebd.: 189) beschreibt, indessen Slavoj Žižek wiederum Unheimlichkeit als eine Art von Fehlpositionierung konzeptioniert, sind hier Dinge oder Personen, die sich an einem Ort befinden, an dem sie eigentlich gar nicht sein sollten, unheimlich; er bindet es also an De-Platzierung, Verschiebung und (mit allen Implikationen) Fortgang: Die vertrautesten Dinge bekommen eine unheimliche Dimension an einem Ort, wo sie fehl am Platz sind, einem Ort, der ihnen »nicht ansteht«. Und der Nervenkitzel kommt genau von dem vertrauten und heimeligen Charakter des am verbotenen Ort Vorgefundenen – es ist eine perfekte Illustration der Ambiguität der Freudschen Kategorie des Unheimlichen. (Žižek 1991: 99f.) Nicht erst durch Relektüren von Žižek&Co. wird »das Wandern des Begriffs des Unheimlichen« (Masschelein 2011b: 24) prozessiert, wird doch das Unheimliche bereits in Freuds Aufsatz, dem »das Unheimliche ständig zu entweichen droht« (Weber 1981: 126) als beweglich und alternierend konzipiert, wenn es vor allem als zwischen zwei Polen changierend funktioniert: Zwischen lebendig und tot, zwischen Faktum und Fiktion, zwischen heimlich und unheimlich, womit ihm (und damit jedem Beschreibungsversuch) bereits ein Destabilisierungsmoment eingetragen ist, sodass die »Spannung des Unheimlichen in der Jagd, im Schreiben und nicht im Fangen besteh[t]« (Mascheelein 2011b: 34). Eher noch scheint das Unheimliche in seinem »Erregungs- und Destabilisierungspotenzial« (Wünsch 2011: 59) weniger zwischen Gegensätzlichem Bewegendes, als vielmehr die Bewegung, die Differenz allererst herstellt, zu sein; zu sich selbst ambivalent, ist das Unheimliche stets (in) Bewegung. Man hat es beim Unheimlichen auch und gerade mit einer bestimmten Motilität bzw. Beweglichkeit zu tun, insofern eine gewisse Dynamik eine Qualität des Unheimlichen selbst beschreibt – »nichts entzieht sich mehr als diese Suche [nach Unheimlichem, M.F.], die dem Suchenden Labyrinthe beschert« (Cixous 2006: 37), wie zu zeigen ist. Ist Architektur gemeinhin »in sich konsistentes und statisches Bauwerk« (Koerner 1983: 178), sind unheimliche Architekturen instabile, abgründige, sich fort-bewegende, wie sich auch die Versuche einer Konturierung des Unheimlichen fort-schreiben, wenn (immer schon) in Bewegung (geraten) zu sein sich als Symptom des Unheimlichen, das nicht erst seit Freud immer wieder den Versuchen einer neuen Konzeptionierung ausgesetzt ist und sich ihnen gleichzeitig verweigert, erweist. Weniger ist das UnheimliWissenschaftler eine kritische oder parodistische Haltung gegenüber ›geistigem Eigentum‹ einnehmen und der Begriff des Unheimlichen sich in vielen Fällen sehr weit von der Psychoanalyse entfernt«(Masschelein 2011b: 26).

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che Konzept, das sich fest-stellen ließe, als vielmehr Bewegung, Schwanken oder Strömen, »variable[s] Konzept« (Cixous 2006: 37), von sich selbst differierend, ist es doch »nie ganz bei sich, sondern tendiert immer woandershin« (Binotto 2013a: 27). Die Bewegung, die das Unheimliche in (theoretischen) Diskursen vollzieht, ver-rückt (sich), interessiert das Unheimliche der Architektur, zur unheimlichen Bewegung der Architektur; Unheimliches ist nicht stabil, fixiert oder auf eine fest-stehende Position zu verweisen, vielmehr ist es als architekturale Konfiguration die Instabilität einer Konstruktion selbst, die zugleich die Instabilität ihrer Beschreibung meint. Die anhaltende Besprechung und Transformation des sich von sich selbst wegbewegenden Unheimlichkeitsbegriffs ist Indiz für dessen fortwährende, sich fort-schreibende Umwandlung, wie sie auch unheimlichen Architekturen eigen ist; das Unheimliche avanciert zum »travelling concept« (Masschelein 2011a: 131). The concept of the uncanny is substantially enlarged by association with other concepts and by contact with other fields, sometimes far removed from its core domains. Film studies, architecture theory, anthropology, sociology and even, very recently, the field of robotics and artificial intelligence have all adopted and transformed the notion. (Ebd.) Sich immer wieder anders zu sein, sich zu vera(e)ndern und zu modifizieren, impliziert Offen- und Unvollkommenheit wie Unabgeschlossenheit (vgl. ebd.: 8); Unheimlichkeit »continue to flourish, to meander« (ebd.: ix). Die Bewegungen des Unheimlichen, die immer auch unheimliche Bewegungen sind, sind zugleich Winden, Changieren und Lavieren. Lavieren, im Schach Stratagem in Form permanenter Verrückung eigener Figurengruppen sowie nautisches, Weg knickendes Zick-Zack-Manöver, heftet es sogleich ans Labyrinth, insofern Labyrinthe Weg faltende Komplexe sind, »die durch bestimmte geometrische Formen – Meandern – Zickzack – Spirale – wiedergegeben sein können« (Schmeling 1987: 42). Bereits Freuds Aufsatz zum Unheimlichen weist implizit auf die Verwandtschaft des Labyrinthischen mit diesem, wenn er beschreibt, wie er aus einem Rotlichtviertel einer italienischen Kleinstadt nicht mehr herauszufinden droht, sondern immer wieder in die gleiche Straße gerät, in der die »geschminkte[n] Frauen an den Fenstern der kleinen Häuser zu sehen« (Freud 1989a: 260) sind. Als ich einst an einem heißen Sommernachmittag die mir unbekannten, menschenleeren Straßen einer italienischen Kleinstadt durchstreifte, geriet ich in eine Gegend, über deren Charakter ich nicht lange in Zweifel bleiben konnte. Es waren nur geschminkte Frauen an den Fenstern der kleinen Häuser zu sehen, und ich beeilte mich, die enge Straße durch die nächste Einbiegung zu verlassen. Aber nachdem ich eine Weile führerlos herumgewandert war, fand ich mich plötzlich in derselben Straße wieder, in der ich nun Aufsehen zu erregen begann, und meine eilige Entfernung hatte nur die Folge, dass ich auf einem neuen Umwege zum drittenmal dahingeriet. Dann aber erfasste mich ein Gefühl, das ich nur als unheimlich bezeichnen kann und ich war froh, als ich unter Verzicht auf weitere Entdeckungsreisen auf die kürzlich von mir verlassene Piazza zurückfand. (Ebd.: 259f.). Er verirrt sich immer wieder zwischen den in sich verschachtelten Gassen des Dorfes, laviert durch die labyrinthische Architektur und »[o]hne den Begriff Labyrinth zu er-

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wähnen, hat Freud in seiner Episode unabsichtlich von der existenziellen Not dessen erzählt, der durch die schmalen Gänge eines Labyrinths hindurch hetzt, weil ihn die Furcht zu überwältigen scheint, er werde nie wieder den Weg ins Freie finden« (Koebner 2007: 128). Eher en passant wird das Unheimliche an eine architekturale Figuration gebunden, insofern Labyrinthe Verortung als auch Übersicht verunmöglichen und sich als Ziel des Weges immer wieder aufschiebende Verweigerung verunheimlichen. »Ein Labyrinth ist ein Haus, das die Menschen irreführen soll; seine Bauweise, die in Symmetrien schwelgt, ist auf diesen Zweck ausgerichtet« (Borges 2000b: 256), womit es die Formel des Irre-Gehens auf zweifache Weise ausspielt: als baulichen Irrgang wie paranoide Struktur. Mit dem Rätselbegriff verschwistert und als »Falle, als Gefängnis« (Koerner 1983: 36) diskutabel, wendet und windet sich der (vom Labyrinth erzeugte) labyrinthische Raum in sich selbst, sodass »eine Maximierung von Wegen innerhalb eines Minimums an Raum« (Henning 2015: 213) bewirkt und ein geradliniges Durchqueren versagt wird, wodurch Labyrinthkomplexe über Möglichkeiten zur Verunendlichung des gefalteten Raumes informieren. Das »Prinzip Umweg« (Kern 1982: 14) wird zur Maxime des labyrinthischen Raumes, der häufig ein Zentrum aufweist, »[d]ie Existenz eines Zentrums jedoch keine notwendige Bedingung23 [ist]« (Schmeling 1987: 43); als »Irrgang-System« (ebd.: 20) weist es auf die das Ankommen aufschiebenden, nicht-linearen Bewegungen des Stockens, des Vor- und (wieder) Zurückgehens, des Abbiegens wie des Stehenbleibens, kurz: auf den »dauernden, pendelartigen Wechsel der Bewegungsrichtung« (ebd.: 14). Labyrinthe zeigen neben einer »runde[n] oder rechteckige[n] Begrenzung nach außen« (ebd.: 139)24 ein hohes »Beunruhigungspotenzial« (Schmitz-Emans 2000a: 9), weisen »Konnotationen der Verwirrung und Desorientierung, der Suche, der Aussicht auf Unerwartetes« (Schmitz-Emans 2011: 279) auf und verfalten Wege und Pfade (hin) zu(m) Unheimlichen. Wegfaltungen verunheimlichen ein Gangsystem, sie ›verandern‹ es zur beklemmenden, weder durch- noch überschaubaren und insofern beängstigenden Architektur, deren Prinzip Wiederholung ist, sodass »der Weg im Labyrinth ein Faden unheimlicher Wiederholungen [ist]; beständig kreuzen wir Pfade, die wir schon einmal ge23

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Die Existenz eines Ein- bzw. Ausgangs stellt jedoch zumindest nach Reither/Schröter eine unablässige Bedingung dar, wie sie in einer Fußnote zu einem sich der Funktion der Tür widmenden Aufsatz in Anlehnung an Walter Seitters Architekturbegriff konstatieren: »Labyrinthe ohne jeden Ein- oder Ausgang kann es unserer Auffassung nach prinzipiell nicht geben. Selbst ein Labyrinth, welches auf dem Papier gemalt ist und eine geschlossene Außenlinie aufweist, muss doch von oben für den Betrachter zugänglich sein. Labyrinthe ohne Zugang sind prinzipiell unerfahrbar« (Reither/Schröter 2000: 200f). Diese eher reduktionistische Aussage spricht für eine hier nicht länger aufrecht zu erhaltende konventionelle Labyrinthauffassung, treffen doch LeserInnen und ZuschauerInnen – die ganz woanders sind als diejenigen, denen sie zuschauen oder die sie herlesen – in dieser Arbeit auf gänzlich andere Labyrinthe, die gerade die Möglichkeit eines Aus- oder Eingangs durchstreichen, verweigern, hintergehen und unterlaufen, insofern sie u.a. potentielle Ein- und Ausgänge an eine je andere Stelle versetzen und damit das Subjekt in die unmögliche Lage, Lösungsstrategien nicht mehr anwenden zu können. »Die Begrenzungslinie nach außen kann rund, rechteckig oder vieleckig sein, meist mit entsprechender Auswirkung auf die Form der Gänge innen. Der Gehalt der Figur ist weitgehend unabhängig von der Änderung dieser Form; wichtig ist, dass die Begrenzungslinie deutlich einen Außen- und einen Innenraum voneinander trennt« (Kern 1982: 14) – wobei sich auch diese Grenze im Laufe der vorliegenden Studie immer weiter auflösen wird.

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gangen sind. Da jedes einzelne Ereignis […] als gegenwärtig erlebt wird, sind die Wiederholungen im wörtlichen Sinne unheimlich: bekannt und doch fremd« (Koerner 1983: 178). Auf eine gewisse Faltigkeit des Unheimlichen weist wiederum explizit Martin Heidegger, der in den Istervorlesungen (1942) der Unheimlichkeit eine Qualität des Gefalteten zuspricht und damit implizit von der architektonischen Verfasstheit des Labyrinths berichtet – man erinnert sich hier ebenso an die Labyrinthformel von Deleuze: »Etymologisch wird ein Labyrinth vielfältig genannt, weil es viele Falten hat. Das Vielfältige ist nicht nur dasjenige, was viele Teile hat, sondern was auf viele Weisen gefaltet ist« (Deleuze 2012: 11). Die echte Bedeutung von Πολλὰ meint nicht »Vieles« im Sinne der bloßen Anzahl und Menge, sondern stets das Vielerlei, das Mannigfaltige, das Vielfältige. Vielfach gefaltet, d.h. zusammengelegt und so vereinzelt und als so Gefaltetes zugleich verflochten und versteckt ist das Unheimliche. So erscheint es gefaltet und verstreut in vielen Arten […]. (Heidegger 1984: 83) Unheimliches ist gefaltet und in Bewegung und insofern motiles Labyrinth. Kinetische25 , sich stets neu anordnende Labyrintharchitekturen übersteigen jedes univiale Modell des 25

Interessiert am Kinetischen gehen besonders KünstlerInnen der 1960-er und 1970-er Jahre (darunter etwa Rebecca Horn, Jean Tinguely, Yaacov Agam sowie Irma Hünerfauth mit ihren Vibrationsobjekten) mit Bewegung integrierenden Konzepten um, wobei es einerseits um zweidimensionale, virtuelle Bewegung erzeugende Bilder wie auch um bewegte Exponate in Form von etwa »stroboskopischen Lichtobjekten« oder »dreidimensionalen Objekttafeln« (Popper 1975: 13) zu tun ist. Zu einer Zeit, als der Konsum von LSD und Meskalin nicht nur in der Kunstszene, sondern auch unter SchauspielerInnen, Hippies und Beatniks en vogue war, überschwemmten die Illusion von Bewegung erzeugende Bildformate den Kunst- und Textilmarkt (wie etwa das auch und vor allem in der psychedelischen Kunst fast schon überstrapazierte Paisleymuster). Besonders Victor Vasarely, der 1972 das Firmenlogo der Automarke Renault kreierte, sticht hier mit seinen vom psychedelischen Sehen inspirierten Objekten, die sich »optisch-dynamischen Strukturen« (ebd.: 25) verschrieben haben, hervor. Die zweidimensional arrangierte Op Art als Branche der Kinetischen Kunst provoziert durch spezifische Farbgeometrie und abstrakte Farb- und Formmuster im Auge der BetrachterInnen neben (an Trompe-l’Œil verweisende) 3D-Effekten auch Bewegungsvisionen, optische Täuschungen, das Gefühl von vom Bild ausgehenden Schwingungen als auch Flimmereffekte, kaleidoskopartige Muster und halluzinatorische Wirkungen (wie sie auch beim Konsum psychedelischer Drogen hervorgerufen werden) – kurz, es »werden Spannungen hervorgerufen, die sich in kinetische Wirkung verwandeln« (ebd.: 25), wobei kinetische Skulpturen (deren Ursprünge u.a. in den Mobiles Marcel Duchamps wie etwa das Fahrrad-Rad von 1913 zu suchen sind) sich der Maschine anähneln, wie etwa die von George Rickey 1969 angefertigte kinetische Skulptur Vier Vierecke im Geviert, die durch Luft und Wind in Bewegung und gleichzeitig durch ihre metallische Oberfläche im Lichtspiel gehalten wird. Neben Wetterphänomenen zeichnen sowohl BetrachterInnen (durch direktes Anfassen, anpusten oder sich, wie bei Uli Aschenborns »Lebender Zeichnung« einer Ovahimba-Frau, deren Augen BetrachterInnen verfolgen, vor dem Exponat bewegend) als auch Flaschenzüge und elektrische Antriebe für Bewegungen kinetischer Skulpturen verantwortlich, etwa in den frühen Arbeiten Gerhard von Graevenitz, bei denen sich auf einer Platte angebrachte geometrische Elemente »von einem Motor getrieben, um ihren Mittelpunkt asynchron, also voneinander unabhängig, drehen« (ebd.: 33); das 1965 von Wen-Ying Tsai ausgestellte Kunstprojekt Multicinetic Wall wiederum »bestand aus 32 dynamischen Einheiten. Jede Einheit konnte verschiedenfarbige gyroskopische Formen zeichnen, deren Zeitsequenz kontrollierbar

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gefalteten Einwegs, sie sind durch ihre Kontingenz multiviale Irrgärten, die je auch anderswo hinführen können. Unheimliche Architektur ist Architektour – Architektur (bzw. Architekteurin) on Tour. Labyrinthe auf Tour, auf Reisen: Das Labyrinth ist nicht als in sich geschlossenes auf Reisen, sondern windet sich gewissermaßen in sich selbst (faire un tour – eine Runde drehen), um-läuft sich, wird zu seinem anderen, wobei kinetische Labyrinthe26 immer einen blinden Fleck haben. Unheimliche Modifizierungslabyrinthe sind ob ihrer Verfasstheit nie restlos beschreibbar, sondern lassen stets ein signifikantes Loch zurück, ist doch ein Zug des Unheimlichen sein Ent- und Verzug, sodass eine Beschreibung immer nachzieht. Beschreibungen verunheimlichter Architekturen hinterlassen eine Kluft, die selbst wiederum Ordnungen und Ortungen irritierenden unheimlichen Architekturen eigen ist: Jene Darstellungen sind zugleich Darstellungen von Darstellungsproblematiken und widerrufen restlose Dar- und Vorstellbarkeit. Architekt(o)uren des Unheimlichen stehen immer auf der Kippe und drohen (in sich) zusammenzubrechen; sie lancieren Motilität27 als auch die Störung dieser Motilität, womit

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war« (ebd.: 36) – seine kinetische Mauer tilgt die Statik zugunsten von Drehbewegungen und Rotationsmustern und nähert sich damit auch kinetischer Architektur an. Monika Schmitz-Emans fügt in ihrer Einleitung zum gemeinsam mit Kurt Röttgers herausgegebenen Band Labyrinthe – Philosophische und literarische Modelle der Typologie von Umberto Eco einen weiteren Labyrinthtypus hinzu. Sieht Eco in der »ununterbrochenen Linie« (Eco 1985: 125) des kretischen Einweglabyrinths den klassischen Typ verkörpert, stellt der Irrgarten der Renaissance-Zeit, indem Schleifen und zum Rückgang zwingende Sackgassen möglich sind, eine zweite Variante dar. Die letzte Erscheinungsform, die Eco zu nennen weiß, ist das Netz, das potentiell jeden Weg als begehbar anbietet und das allererst entsteht, wenn es begangen wird, wobei er betont, dass »das beste Bild, eines Netzes die pflanzliche Metapher des Rhizoms [bietet], die Deleuze und Guattari (1976) vorschlagen« (ebd.: 126). Schmitz-Emans nun ergänzt diese Einteilung um einen vierten Typ, um auch und vor allem die Beschaffenheit bestimmter Videospiele beschreibbar zu machen: das mobile Labyrinth, bei welchem unklar ist, wie es sich ›verhalten‹ wird, da immer die Möglichkeit besteht, dass es seine Wege anders arrangiert sowie Ein- und Ausgänge immer wieder anders anlegt: »Allerdings steht zu Beginn des Labyrinthgangs noch nicht fest, wo sich Wege auftun werden. Wände können sich öffnen, Durchbrüche können neue Wege erschließen. […] Und zum anderen spielt der Zufall oft mit, wenn sich das Labyrinth im Zuge seiner Begehung vor den Augen des Labyrinthgängers wandelt. Wichtig ist vor allem die Nicht-Fertigkeit dieses Labyrinths, seine Wandelbarkeit auch und gerade in der materiell-konkreten Dimension.« (Schmitz-Emans 2000a: 30). Mit Drehungen und Bewegungen haben Labyrinthe wohl immer schon zu tun, werden sie zu Beginn ihrer Entstehung scheinbar weniger materiell als Gebäude (in die Höhe) errichtet, sondern vor allem getanzt: »Zwischen dem Labyrinth als architektonischer Struktur und dem Labyrinth als Tanzfigur besteht eine sachliche Verknüpfung, insofern zu den kulturhistorisch frühen Aussagen über Labyrinthe die Beschreibung eines labyrinthförmigen Tanzplatzes gehört, also eines im weitesten Sinn architektonischen Gebildes, das aber zum Tanzen angelegt war« (Schmitz-Emans 2011: 276). Hat das Labyrinth, wie Bettine Menke präzisierender ausführt, »choreographische Funktion«, steht es immer schon in Beziehung zur Bewegung und Beweglichkeit: »Wenn die Labyrinth-Figur ›choreographische Funktion‹ hat, so wäre sie ja gerade ›nicht als feste[r] Grundriß […], sondern als ein Tanzschema, [und damit als] eine Art Merkfigur‹ aufzufassen. Der Figur bleibt stets die Relation und damit die Differenz von graphischer Struktur in der Fläche, Schema oder Merkzeichen, und der Bewegung des Durchschreitens oder Lesens eingeschrieben […]. Sie wäre die bleibende Spur – und die ›Darstellung‹ der Metonymie der Spur.«(Menke 2006: 192).

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taxative Darstellungsbeschreibungen entfallen und jeder ›Aktualisierung‹ des Unheimlichen die Verfehlung des Unheimlichen bereits eingeschrieben ist. Als dynamische Gebilde haben sie kein festes Fundament, insofern keinen stabilen (in allen Facetten des Wortes) Grund, wenden sich also gegen eine Metaphysik der Präsenz, indem sie zwischen Präsenz und Entzug oszillieren, was nur heißen kann: Sie lassen Rest. Die Fuge, die Lücke, der Spalt – ist konstitutiv für unheimliche Architekturen und indiziert zugleich deren Bewegungspotenzial. Sie beweisen gewissermaßen Mut zur Lücke, sodass unheimliche Architekturen insofern mit (der Struktur des) Symbolischen im Lacan’schen Sinne paktieren, als sie Signifikanten gleich einem durchaus störanfälligen Gleiten verpflichtet sind, wobei dieses wiederum von einer Leerstelle protegiert wird (die also Bedingung der Möglichkeit des Gleitens ist). Unheimliche Architekturen verunmöglichen eine Markierung von Anfang und Ende, insofern sie immer schon Dispositionierung prozessieren, die nur möglich ist durch eine der Architektur inhärente Lücke. Diese Derangements können unheimlicherweise auch je andere und woanders sein, zeichnen sich also durch einen undurchschaubaren Kontingenzcharakter aus. Es ist hier um einen materiellen, auf die Lücke angewiesenen Architekturbegriff in Texten und Filmen zu tun, »in which the building itself is an immense and straining body, with mucosal surfaces, villi, muscles and fibers« (Comaroff/Ker-Shing 2018: 132); es dreht sich um Architekturen »in instabilen Strukturen und dynamischen28 Architekturelementen« (Popper 1975: 94) oder, wie Jack aus Lars von Triers The House That Jack Built (2018) sagen würde: »I often say that the material does the work; in other words it has a kind of will29 of its own« (Trier 2018: 00:10:33-00:10:42). Dabei wird mit dem von Lacan etablierten und an erforderlichen Stellen explizierten Begriffskatalog psychoanalytischer Theorie umgegangen, allem voran mit der Trias der (psychischen) Register des Symbolischen, Imaginären und Realen, die in all ihrer Beweglichkeit eine seit 1953 recht stabile Konstruktion in den Texten als auch in den Seminaren Jacques Lacans darstellt, wobei das Symbolische, das sich aus Signifikanten – »und diese Signifikanten organisieren auf inaugurierende Weise die menschlichen Verhältnisse, geben ihnen Struktur, modellieren sie« (Lacan 1996b: 26) –, die in Differenz zueinander existieren und die nicht fest an ein Signifikat gebunden sind, arrangiert – vereinfacht

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Ein von engagierten MitarbeiterInnen regelmäßig verändertes Labyrinth kehrt regelmäßig auf der Blumenwiese in der Rheinaue bei Bonn wieder: Das innerhalb einer Saison mehrmals neu arrangierte Mobile Labyrinth in der Grundform eines Hexagons wird seit nahezu zwanzig Jahren immer wieder – zur Wiese und wieder von ihr weg als in sich selbst – bewegt; seit 2000 errichtet der Verein Freies Förderwerk e.V. das ein 1800 Quadratmeter großes Gebiet umspannende Labyrinth, in dessen Mitte ein Aussichtturm angelegt ist und das von etlichen BesucherInnen, darunter natürlich zahlreiche Wiederkehrende, begangen wird. Mehr Informationen sind auf https://www.verlaufen.co m zu finden. Laura Bieger spricht im Zusammenhang etwa mit der andere Großstädte oder (deren) Wahrzeichen imitierenden Architektur Las Vegas von »scripted spaces« (Bieger 2011: 84), von Räumen, die aufgrund »architektonischer Expressivität« (ebd.: 85) ein Verlangen artikulieren, begangen werden zu wollen, die also Immersion einfordern (vgl. ebd.: 77) und in der Folge sowohl physisch als auch emotional auf die Begehenden einwirken, insofern sie eine »somatische Komponente der Immersionserfahrung« (ebd.: 85) bereithalten.

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und verkürzt – als Feld der Sprache gilt. Dabei hat einer der populärsten Aphorismen Lacans, »dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist« (ebd.: 213) – und zugleich Diskurs des Anderen, also (jeder Existenz vorausgehend) von außen kommt – Konsequenzen für die als talking cure ausgerichtete psychoanalytische Praxis. Das »Wesentliche der symbolischen Ordnung [besteht] nicht in ihrer Benennungsfunktion, sondern in ihrer begründenden Funktion jeder zwischenmenschlichen Beziehung« (Widmer 2004a: 44), sodass alles, auch Geräusche, Zwänge oder Bilder zu Signifikanten werden können (vgl. ebd.: 61). Sprache geht dem Sein insofern voraus, als sie dieses immer schon strukturiert und durchdrungen haben wird; Sprache ist der Diskurs des Anderen und es gibt »den Anderen als Ort des Unbewussten« (Lacan 2017: 139), also eine Fremdheit, die außerhalb des Subjekts liegt, was es zugunsten einer (zunächst imaginär-narzisstischen) Distanzaufhebung zu sich selbst vergisst, denn »[w]enn das Subjekt zum Bewohner des Symbolischen geworden ist, verlieren die Signifikanten ihre anfängliche Fremdheit. Das Subjekt fühlt sich in der Sprache zu Hause. Es kommt ihm vor, als spreche es nicht die Sprache des Andern, sondern seine eigene. Das Fremde der Signifikanten reduziert sich auf die ihm unverständlichen Sprachen« (Widmer 2004a: 61). Das Imaginäre hingegen wird nicht nur als Dimension des Bildlichen konturiert, sondern stellt sich als Sphäre der Konsistenz (vgl. Lacan 2017: 52), in der Sinn und (die Illusion von) Ganzheit als auch Einheit sich einstellen, heraus, wohingegen das Reale – unverkennbar inspiriert von Batailles Heterologie und der Affirmation der Transgression – das Register ist, das sich jedweder Symbolisierung und Imaginierung entzieht, verweigert, (sich) (aus)sperrt und blockiert (vgl. Lacan 1991: 225), sodass die (Möglichkeit zur) Integration in symbolische und/oder imaginäre Ordnungen immer gestört (und erneut versucht) gewesen sein wird: »Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass das Reale am Ursprung der analytischen Erfahrung sich als ein nicht Assimilierbares zeigt« (Lacan 1996b: 61). Reales, Imaginäres und Symbolisches werden voneinander durchdrungen, »[sind] miteinander so verfilzt, dass sich das eine im anderen fortsetzt« (Lacan 2017: 93) und wirken unentwirrbar wie bzw. als die Schlingen eines Borromäischen Knotens aufeinander ein. Ebenso durchdrungen wird die vorliegende Studie von der Vorstellungsrepräsentanz – einem der (Benjamin’schen Konturierung des Begriffs der) Allegorie nahestehenden Konzept, das die Hintergehbarkeit Vollständigkeit beanspruchender Darstellung meint – sowie der Ansicht eines nicht mit dem (imaginären Objekt) Ich interferierenden Subjekts (vgl. Lacan 1991: 61ff.), das entsprechend immer schon eine Kluft zu sich selbst aufweist, somit (Vollständigkeit begehrendes) Mangelwesen ist und nur in, mit und durch Sprache ex-istiert; Lacans Subjekt ist parlêtre, ist »Sprechwesen« (Lacan 2017: 59) bzw. »Sprachsein« (ebd.: 60), denn »[i]ch identifiziere mich in der Sprache, aber nur indem ich mich dabei wie ein Objekt in ihr verliere« (Lacan 1996e: 143)30 : »Der Mensch 30

Zur konstitutiven Gespaltenheit des Subjekts und einer damit verbundenen Unzugänglichkeit (als auch Konkurrenz und Rivalität) zu sich selbst äußert sich Lacan etwa im Seminar V, dem es besonders um das Herausschälen bzw. den Niederschlag des Unbewussten, das sich einer letztgültigen Dechiffrierung verweigert, zu tun ist: »Als Existenz findet sich das Subjekt von Beginn an als Spaltung konstituiert. Warum? Weil sein Sein sich anderswo, im Zeichen, zur Repräsentation bringen muss, und das Zeichen selbst ist an einem dritten Ort. Es ist da das, was das Subjekt in dieser Zerlegung seiner selbst strukturiert, ohne die es uns möglich ist, auf eine triftige Weise das zu begründen, was sich das Unbewusste nennt.« (Lacan 2006: 303).

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spricht also, aber er tut es, weil das Symbol ihn zum Menschen gemacht hat« (ebd.: 117) und er tut es gebrochen, gewissermaßen auf zwei Tonspuren. Von einer gewissen Brüchigkeit wiederum zeugen die hier zu behandelnden Architekturen nicht nur in Hinblick auf ihre eigene (De)Strukturierung, sondern auch im Verhältnis zur (Frage nach) Darstellbarkeit. Nicht zwischen Architektur und ihrer Darstellung soll in den folgenden Kapiteln unterschieden, sondern gezeigt werden, wie Architektur in, durch und mit ihrer Darstellung als eine unheimliche, also konstitutiv instabile les- bzw. sichtbar (und zugleich eine Verweigerung von Les- und Sichtbarkeit prozessiert) wird.

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2.1 Ein-Stieg: Bewegungen der Stadt Obwohl der Begriff Stadt historisch und etymologisch die Statik und damit das Feste und Stabile, das Be- und Umgrenzte wie das Stillstehende im Namen trägt, kann man sich die Stadt spätestens seit ihren modernen Darstellungen etwa in Expressionismus und Futurismus kaum mehr ohne eine gewisse Dynamik1 vorstellen (vgl. Smuda 1992: 141). Die Stadt2  – buchstäblich verstanden als Anordnung architekturaler Elemente und metonymisch verstanden als Ensemble von EinwohnerInnenkörpern – verharrt nicht an einem Ort, einer Stätte, sondern ist in sich bereits über sich hinaus. Sie ist – mit Samuel Weber – »Vor Ort« und somit einer, der »nicht mehr als ein wesentlich geschlossener erfahren wird« (Weber 1998: 32), bildet einen potentiell unendlichen architekturalen Zusammenhang in Bewegung und bewegt sich als Architektour in Um-, Aus- und Verbau, ist nie bloßer Zu-Stand, sondern unabgeschlossenes Geschehen. Paris etwa wird von Walter Benjamin im Passagenwerk (1982) als Stadt der »topographischen Verschiebung« (Benjamin 1991b: 643) akzentuiert, als eine »Stadt, die sich dauernd bewegt« (ebd.), sodass eine

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Virilio erzählt von einem rasanten Anstieg der Geschwindigkeit(en) im Großstadtraum (im Gegensatz zur Gemächlichkeit des ländlichen Raums), der eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Entwicklung des mittlerweile zum kulturkritischen Klischee mutierten Diskurses der ›Entfremdung in der Großstadt‹ spielt: »Die Ordnung des ländlichen Lebens, die Ruhe des Landes werden über den Haufen geworfen, von der industriellen Revolution, dem Bergwerk, der Fabrik und werden es künftig noch mehr durch die Revolution des Transportwesens, das heißt den exponentiellen Anstieg der Geschwindigkeit, der Massenkommunikationsmittel […].« (Virilio 1978: 24). Immer mehr Menschen zieht es ab den 1850-er Jahren von der ländlichen Provinz in die neu entstehenden Metropolen, die nicht nur Orte ansteigender Geschwindigkeit, sondern auch zunehmender Zusammendrängung sind: Verbesserte Arbeitsbedingungen, durch schnell wachsenden Nahverkehr leichtere und schnellere Arbeitswege, ein besserer Zugang zu medizinischer Versorgung und erhöhte Bildungschancen führten zu einem massiven Anstieg der Stadtbevölkerung: »Das 19. Jahrhundert war entscheidend für die Verstädterungsgeschichte Europas. 1700 lebten erst 13 Millionen und 1800 19 Millionen Menschen in Städten, bis 1900 versechsfachte sich diese Zahl auf 108,3 Millionen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschleunigte sich das Wachstum sprunghaft. Insgesamt verdreifachten sich bis 1980 die städtischen Bevölkerungen auf nochmal 301 Millionen.«(Zimmermann 1996: 13f.).

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Art »Leben des Stadtplans« (ebd.) sich einstellt, wobei bewegliche (Freilicht)Bühnen, umgesetzte Statuen, Wege zurücklegende Menschen als auch die sich stets ändernden Straßennamen Teil der Bewegungen der Stadt sind. Ist also von der Stadt als Architektour die Rede, geht es um (mindestens) zwei ineinander verlaufende Bewegungstypen: Sowohl um den subjektiven als auch objektiven Genitiv der Formel ›Bewegungen der Stadt‹ in vager Anlehnung an Manfred Smudas besonders für Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) fruchtbar gemachte Unterscheidung von absoluter und relativer Bewegung, die er wiederum von Boccioni leiht (vgl. Smuda 1992: 158), wobei der erste die Bewegungen der Stadt versammelt: das Arrangement der städtischen Architekturelemente. Gebäudekomplexe, Park- und Grünflächen, Straßen, Seitengassen, Brücken, Unterführungen, Schienen sind nicht für die Ewigkeit, sondern trotz ihrer oft überwältigend massiven Statik verschiebbar – das urbane Prinzip ist das des Transferierens, des Fort- und Umschiebens; ist die Stadt on tour – faire un tour: eine Runde drehen – ist sie auf dem Weg, »raumbildende Handlungen« (de Certeau 1988: 221) zu verrichten und gibt sich »als eine komplexe Funktion von Bewegungen« (Mörtenböck 2001: 15)3 . Materialverschleiß und Stadtplanung sorgen dafür, dass restauriert, abgerissen, neu gebaut wird, also doch in Bewegung bleibt, was sich statisch gibt, wobei der städtische Boden stets einer von vielen ist: U-Bahn und Kanalisationsnetze bilden ebenso weitere Böden wie die Etagen der Wohn- und Parkhäuser. Ein fester Boden ist lediglich ein Privileg auf Zeit, gründet städtische Statik doch auf der kontingenten Anordnung ihrer Elemente. Der zweite Bewegungstyp betrifft Bewegungen in der Stadt; durch die sich statisch gebenden Elemente hindurch herrscht eine permanente Zu- und Abfuhr von Gütern und Körpern, Fahrzeugen und Bildern4 ; die Stadt provoziert neue Bewegungsmuster, die über den Transport von Mensch und Material über Schienen und Straßen als rein physische Bewegung hinausweisen, wenn Bilder und/oder Stimmen via Telephon, Radio und Film übertragen werden. Während also die Stadt sich bewegt, wird sich durch diese Bewegung gleichzeitig hindurchbewegt – die »Stadt [bietet sich] als Fluss, als Prozess, als reine Bewe-

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Bewegungs- und Abgrenzungspraktiken wie das Errichten einer Stadtmauer oder das tägliche Begehen angelegter Wege kerben den städtischen Raum, sodass dieser im Gegensatz etwa zum glatten Raum, als dessen Paradebeispiel in Tausend Plateaus das Meer in Dienst genommen (und später aufgebrochen) wird, »der eingekerbte Raum par excellence [ist]« (Deleuze/Guattari 2005: 667), der durch De- und Reterritorialisierung auffällt, dabei aber auch immer vom Glatten bzw. der Glättung, mithin Momenten der Stabilität oder Verstetigung, durchzogen wird. Malte Laurids Brigge, Rilkes einziger Romanheld, beschreibt eindrücklich das Lärmen, die Aufgeregtheit und ein Vom-Geräusch-Umschlossen-Sein, das sich zum einen so nur im urbanen Umfeld ereignen kann, welches andererseits aber bis in den vermeintlich abgeschirmten Privatraum vordringt. In Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also nach New York und London der damals drittgrößten Stadt der Welt, beschallen ihn neue Geräusche und Klänge, dringen ihm bis dahin unbekannte Gerüche in die Nase und bieten sich bisher nie gesehene Ansichten. Die Stadt läuft auch bei Rilke über ihre eigenen Ränder, wenn sie in des Protagonisten eigene Stube eindringt, sie heimsucht, wie bereits auf den ersten Seiten zu lesen gegeben wird: »Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Haus. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt.« (Rilke 2013: 573f.).

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gung dar« (Lobsien 1992: 186), insofern der städtische, instabile Raum »ein Geflecht von beweglichen Elementen [ist]. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten« (de Certeau 2006: 345), wobei diese Bewegungen (in) der Stadt »erfahren [werden] als ständige Verdrängung des jeweils Gegebenen durch das Nachfolgende, als fortlaufende Streichung von Geltungsansprüchen und Relevanzabstufungen. Im Wahrnehmungsfeld der Großstadt wie im modernistischen Text gerät so alles Gegebene in einen Strudel, dem man sich entweder aussetzt oder durch abstrahierende Reflexion entzieht« (Lobsien 1992: 185). Alex Proyas’ Stadt-Film Dark City (D.C. – wobei D.C. sowohl Kürzel des Filmtitels als auch Anzeige für den hier zu Grunde liegenden Director’s Cut ist) aus dem Jahr 1998 zeigt nun in besonderer Weise die dynamische Verwobenheit beider Bewegungen und dramatisiert dergestalt die wesentlich unheimliche, weil bewegliche Beziehung zwischen Subjekt und Architektur. Zum einen reflektiert Dark City als Produktion der 1990er Jahre, wie so viele Independent- und Genrefilme dieses Jahrzehnts, seine eigene Medialität kraft offenkundiger Referenzen auf Filmgeschichte und zitiert dabei besonders aus dem Archiv des Stadt-Films und insofern auch die vielfältigen Spielweisen des Reflexionsverhältnisses von Kino und Stadt. Dass zum anderen dabei gerade auch das bewegte Filmbild selbst zur Dis-Position steht, ist unvermeidlich, haben Film und Bewegung immer schon etwas miteinander zu tun; Lyotard etwa akzentuiert Film als »Schreiben mit Bewegung« (Lyotard 1982: 26), und Kino ist, wenn nicht bereits »Zeit-«, so doch mindestens immer schon »Bewegungs-Bild« (vgl. Deleuze 1997a: 87ff.), das bewegte Bild einer Bewegung – wie unheimlich das werden kann, demonstriert Dark City. Der Film ist daher als Ein-Stieg in den Komplex der kinetisch-labyrinthischen Architektur als unheimlicher Architektur insofern prädestiniert, als er eine spezifisch filmische Struktur von Architektour in Korrelation mit den kinetischen Attributen des Topos Stadt durch das bewegte Filmbild selbst in dem Maße veranschaulicht, wie die bereits erwähnten Bewegungen der Stadt filmische Bewegung visualisieren. D.C. radikalisiert das Prinzip der Dynamik des urbanen Raumes, wird dieser doch in besonderer Weise inszeniert als verstreute »Reihung von Gebieten mit porösen Rändern, Verwerfungen und instabilen Zonen, deren Ebenen sich inkohärent zueinander verhalten und von unklarer Dimension, Dichte und Ausbreitung erscheinen« (Mersch 2011: 57) und wo jedes Gebiet andere Körper produziert.

2.2 Building subjects: »Why are you fucking with our minds« – and our architecture?

Say it’s the same sun spinning in the same sky Say it’s the same stars streaming in the same night Tell me it’s the same world whirling through the same space Tell me it’s the same time tripping through the same day So say it’s the same house and nothing in the house has changed Yeah say it’s the same room and nothing in the room is strange Oh tell me it’s the same boy burning in the same bed

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Tell me it’s the same blood breaking in the same head (The Cure 2004: 00:00:08 -00:01:27) Des Nächtens bewegt sich die titelgebende dunkle Stadt tatsächlich, unheimlich wie (für ZuschauerInnen) offensichtlich: Jede Nacht verschieben sich wie von Geisterhand einzelne Häuser, während der Rest der stets in Dunkelheit getauchten Stadt still steht. Wände aus Stein wachsen auf oder gehen nieder, werden mit Anwüchsen aus Zement, Mörtel, Holz oder Glas versehen oder erleiden Materialverlust. Korridore verschwinden, Schächte werden gezogen, Schluchten gegraben oder ausradiert, Bürgersteige ballen sich zusammen oder dehnen sich zu breiten Hauptstraßen aus. Steinwände schwerer Backsteinhäuser werden wie dünnes Papier zusammengepresst, Dächer gefaltet, Wege und Straßen zu Vorplätzen ausgebreitet oder zu Schmucksäulen geformt. Türen, Fenster und Treppen werden ebenso versetzt wie ganze Häuserzeilen und Wohnblöcke. Die Stadt dehnt und verschiebt sich, kontrahiert und verdichtet sich, bildet in einer jede Nacht von neuem eingeleiteten Transformation andere Formen aus. In dieser hochgradig flexiblen Kulisse (durch die sich später auch das Matrix-Personal bewegen wird, denn tatsächlich wurden die Dach- und Häuserkonstruktionen, die am Set von Dark City zum Einsatz kamen, später von den Wachowski-Schwestern im Rahmen der Produktion der Matrix-Trilogie recyclet) vollziehen sich unterschiedliche Verfahren des Formens als Stabilisierungsvorgänge, die im gleichen Zug die Instabilität des Geformten vor-stellen. Das spektakuläre Transformationsszenario entfaltet eine unmögliche wie unheimliche Elastizität des Baumaterials und die Kontingenz alles Gebauten, indem es seine Bewegung ausstellt. Die Psychoanalyse kennt seit Freud zwei Begriffe, die solche Verfahren in Bezug auf das sprachlich strukturierte Seelenleben des Subjekts – das vor allem des Nächtens5 im Gange ist – konturieren: Verdichtung und Verschiebung; Vorgänge oder Bewegungen, die nach Freud im Wesentlichen die vom Unbewussten geleistete Traumarbeit charakterisieren (vgl. Freud 1989f: 282ff.) und welche nach Jacques Lacan wiederum den sprachlichen Operationen der Metapher (Verdichtung) und der Metonymie (Verschiebung) entsprechen (vgl. Lacan 2016: 604f.). Während Freuds Traumdeutung (zumindest vorrangig

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Selbstverständlich kann auch während des Tages geschlafen und geträumt, also verdichtet und verschoben werden, nichtsdestotrotz setzen sich hier die Operationen zweier Prozeduren – des Träumens/der Traumarbeit, »die ja nicht beabsichtigt, verstanden zu werden« (Freud 1989f: 337) und des architekturalen Umformens –, die sich in der Regel Nachts, in der Dunkelheit, vollziehen, ins Verhältnis, sodass Psychoanalyse und Dark City beide von einer im Finsteren arbeitenden, der Umformung verschriebenen nächtlichen Logik künden – und was macht die Nacht, wenn nicht Sichtbarkeiten – oder eben Ein-Sichten – zu verschlucken, sie zu verbergen? Bronfen liest in Tiefer als der Tag gedacht (2008) etwa Freuds Traumdeutung, in der die Nacht »eine Bühne des Schlafs, der als Hüter des Traums die geistigen Reisen durch fremdartig anmutende Landschaften schützt« (Bronfen 2008: 202f.) »als Erzählung einer Reise durch die Nacht« (ebd.: 202). Des Nächtens finden im Unbewussten Theatervorstellungen statt, die bei Tageslicht nacherzählt und analysiert werden, aber nur zu dem Preis, »dass das Traumgeschehen durch eine Deutung entstellt wird, weil das dort erfahrene unbewusste Material jede nachträgliche Erklärung übersteigt und deshalb in ihr nicht aufgehen kann« (ebd.: 205); der Traum »will nicht verstanden werden« (ebd.: 212), sodass während der Traumanalyse »zwar ein Wissen, das im Dunkeln liegt, beleuchtet [wird], aber die Art der Beleuchtung bleibt eine nächtliche: schattenreich, verhüllend, entstellend.« (Ebd.: 216).

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und auf den ersten Blick) auf Dechiffrierung aus ist und Verdichtung und Verschiebung als Verfahren der Verstellung eines zu ent-deckenden eigentlichen Inhalts beschreibt, gibt sich Dark City insofern Lacan’scher, als er die Kategorie des Ursprünglichen ausspart, also (metonymische und metaphorische) Bewegungen als ursprungs- und endlose Bewegung des Signifikanten begreift, insofern jeder Ursprung einen Ur-Sprung meint, also Anfänge (und somit Abschlüsse) verweigert (Lacan interessiert sich für das Verschieben als Prozess, der immer schon in Gang (gesetzt) ist); Anfang und Ende werden in Dark City zugunsten einer alles verschluckenden Dunkelheit ausgespart – ausgespart wird im Director’s Cut auch das das Dunkel der Leinwand erhellende, da erläuternde, Voice Over von Dr. Schreber zu Beginn des Films, das Proyas zunächst auf Drängen des Filmstudios für die Kinofassung hinzufügte. Es ist dem Film weniger um (einen zu enträtselnden) Sinn als vielmehr um die strukturalen Operationen, die zum Entstehen des Sinns (wie zu seinem Vergehen) beitragen, was später genauer erläutert wird, zu tun. Die städtischen Verdichtungs- und Verschiebungsvorgänge (psychoanalytisch) mit denen des Subjekts ins Verhältnis zu setzen, wird von Dark City regelrecht aufgedrängt, wobei die architekturalen Verdichtungs- und Verschiebungsprozesse zugleich als »Metonymie und Metapher […] bestimmend sind für die Einsetzung des Subjekts« (Lacan 1975: 125). Die städtischen Verdichtungen und Verschiebungen geschehen in Dark City jede Nacht, verborgen vor den Augen der BewohnerInnen, die während des Transformationsprozesses in einen Schlaf fallen. Der Verkehr erlahmt, Autos, Busse und Züge bleiben stehen, der Schwung eines Krans verlangsamt sich, bis er zum Stillstand kommt, Menschen rutschen von ihren Barhockern, brechen vor dem Kino auf der Straße zusammen und fallen, waren sie gerade im Begriff zu essen, mit dem Gesicht in die noch heiße Suppe. Während sich die Morphologie der Stadt verändert, ziehen Männer in schwarzen Mänteln mit fahler Haut, die verdächtig an die Zeitstehlenden in Momo (1973) erinnern, durch die Straßen, um den Schlafenden eine Spritze in die Mitte der Stirn setzen zu lassen. Während diese Fremden (Strangers), »who all looks like Murnau’s Nosferatu, just in different sizes, and who float launching themselves as Nosferatu rising straight up out his coffin« (Rickels 2010: 46) via Telekinese – von ihnen selbst als Tuning bezeichnet – die Stadt verschieben und verdichten, gibt ihr stetiger Begleiter (oder Leiter?), Dr. Daniel P. Schreber, den Spritzenmeister und verabreicht die Injektionen. Dies wird als Verfahren der Prägung (Imprinting) bezeichnet und stellt ein das Subjekt derangierendes Komplement zum architekturalen Tuning dar. Daniel Paul Schreber, Sohn des Namensgebers der bekannten Schreber-Gärten und Autor der Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, avanciert nicht nur in den Schilderungen seines Wahns zum Konstrukteur eines ausgeklügelten Zeichenkosmos, sondern wird in Dark City zum Architekten befördert; auf die Figur Schrebers und ihre Verbindungen zur (architekturalen) Verrücktheit wird später zurückgekommen. Was Schreber, während die vampirhaften Fremden »rearrange the city like digital special effects« (Rickels 2010: 47), in seine nichts ahnenden ProbandInnen einspritzt6 , ist eine Flüssigkeit, die man als Erinnerungscocktail bezeichnen kann und

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»Das ist es, was man das Trauma nennt – es gibt kein anderes –, ›das Trauma der Geburt‹, das nicht Trennung von der Mutter ist, sondern das Einatmen [und hier könnte man auch sagen: Einspritzen, M.F.] eines zutiefst Anderen Milieus ist« (Lacan 2010: 413), situiert sich das Subjekt doch auf dem Feld des Anderen, das sein Un-Zuhause gewesen sein wird.

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die, wenn man so möchte, die ›Rolle‹ bestimmt, die die BewohnerInnen, oder besser: die Versuchspersonen nach dem Erwachen spielen werden, wie er selbst zu einem späteren Zeitpunkt des Films zur Erklärung gibt: This city, everyone in it is their experiment. They mix and match our memories7 as they see fit trying to define what makes us unique. One day, a man might be an inspector. The next, someone entirely different. When they want to study a murderer, for instance, they simply imprint one of their citizens with a new personality. Arrange a family for him, friends, an entire history – even a lost wallet. (Proyas 2008: 01:21:3001:22:01) Nicht nur das architektonische Bild der dunklen Stadt ändert sich jede Nacht, sondern auch diejenigen, die diesen Ort bewohnen, wobei beide Veränderungstypen ineinander über-setzbar scheinen, wird die Stadt gemeinsam mit den Erinnerungen ›renoviert‹ – neue Biographien gestalten neue Räume und umgekehrt. So korrespondieren die sich neu arrangierenden Häuserzeilen, Fensterreihen und Zimmer den identitätskonstitutiven Erinnerungen, die den Köpfen der Menschen eingespritzt werden; StadtbewohnerInnen werden als ahnungslose Marionetten in einem Theater präsentiert, für die ständig die Kulissenlandschaft umgebaut wird. Dark City formuliert insofern ein allegorisches Verhältnis vom Austausch der Erinnerungen und den architektonischen Verdichtungen und Verschiebungen, den Subjekten und dem Gebauten, wenn Stadt wie EinwohnerInnen auf dem Fundament gestohlener Erinnerungen8 aufgebaut werden – Städtebau und Subjektivierung verweisen aufeinander: »Every time there’s been a tuning, the humans start over from oblivion in new habitats and identities with new memories to match« (Rickels 2010: 47). Diese Verhältnismäßigkeit wird besonders in einer Szene ablesbar, in der der abgenutzte Holztisch einer bürgerlichen Kleinfamilie zur langen Tafel im Marmorsaal von Großindustriellen mutiert und sich das sprachliche Ausdrucksvermögen der BewohnerInnen gleichsam ›dehnt‹, wie an ihrem nun gongorisierten Sprachstil (über)deutlich gemacht wird. Die zu gebende Persona fügt sich in die für sie her-gestellte Kulisse ein, die gleichzeitig mit ihr entsteht: »It is midnight and the skyscrapers erupt, erect and twist into new forms as the city is remade and its characters are reworked to fit new narratives« (Aitken 2005: 104); Architektur und Subjekt finden

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»In der Psychoanalyse ist die Erinnerung die symbolische Geschichte des Subjekts, eine Kette von Signifikanten, die miteinander verknüpft sind, eine ›signifikante Artikulation‹ (Se7).« (Evans 2002: 91) – eine Kette von Molekülen in der Phiole einer Spritze, die Subjekte als ihren Effekt produziert. Schon Walter Benjamin hat Erinnerungen und architekturalen Raum in Beziehung zueinander und Abhängigkeit voneinander gedacht, wobei, wie Anja Lemke in ihrer Studie zu Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert betont, das Verhältnis von gebautem Raum und der Erinnerung (auch) ein unheimliches ist, da die Erinnerungen stets changieren zwischen einer heimeligen Vertrautheit und Unheimlichkeit, da sie ihr anderes immer auch mitproduzieren: »Und auch die intimen Schutzräume der Bürgerwohnungen sind vor der Bedrohung durch das Unheimliche nicht wirklich gefeit. […] Der Versuch des Ausschlusses produziert das Ausgeschlossene mit. Der scheinbar gesicherte Innenraum lässt sich nicht dauerhaft vor dem schützen, was es als sein anderes auszugrenzen versucht. […] Nicht nur die Orte, auch die in ihnen befindlichen Gegenstände bürgerlicher Häuslichkeit sind in der ›Berliner Kindheit‹ in dieser Spannung von Heimlichkeit und Unheimlichkeit konzipiert.« (Lemke 2011: 661).

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sich also gleichermaßen ein-geräumt. Aus in vitro wird in vivo: In der dunklen Stadt wird bebildert, wie »das Subjekt in einem Phantasma entsteht« (Kamper 1988: 116), wie später genauer zu zeigen ist. Im Untergrund der Stadt walten besagte Aliens, die die Körper toter Menschen bewohnen, diese als eine Art Hülle für den eigenen Körper in Dienst nehmen – das ist symptomatisch: Die Fremden sind buchstäblich unter Schreber, sie sind Teil dessen, was er sich erdacht haben, was er arrangiert haben wird, wie zu zeigen ist. Sie produzieren tatsächlich am Fließband unterschiedliche erinnerungsmediatisierende Objekte (warum sie die nicht hintunen, bleibt zu fragen) wie Photographien, Urlaubsandenken, Schmuckstücke, Ausweispapiere, um die Illusion perfekt zu machen. »By constantly changing the symbolic identites of the humans« (McGowan 2004: 148) soll den wissbegierigen Aliens die Frage nach der Einzigartigkeit des Menschen, was ihn menschlich macht, beantwortet werden9 .

2.3 Dark Chambers: Where is my mind? Die Handlung von Dark City nun setzt da ein, wo die oben beschriebene Kongruenz von Subjekt- und Architekturgenerierung aussetzt – als während der allnächtlichen Prozedur etwas außer Plan gerät: Ein Mann erwacht, ohne jede Erinnerung10 daran, wer und wo er ist, in einer halb gefüllten Badewanne, wobei folgender Satz seine missliche Lage ziemlich genau zu erfassen scheint: »Die Angst findet sich an dem Punkt, wo das Subjekt in einem Moment gefangen ist, wo es einerseits nicht mehr weiß, wo es ist, und sich andererseits einer Zukunft gegenübersieht, in der es sich selbst nie wiederfinden kann.« (Evans 2002: 42). Über ihm pendelt eine quietschende Lampe mit grellem Licht – einer der wenigen hellen Momente des Films. Er befindet sich augenscheinlich nicht in (s)einem Zuhause mit persönlichen Gegenständen oder Bildern an der Wand, sondern öffnet

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McGowan liest darin eine Suche nach dem vielzitierten Objekt klein a der Lacan’schen Psychoanalyse, also einem immer schon verlorenen und nicht mehr auffindbaren Objekt, dem man wiederholt nachjagt: »The Strangers represent the symbolic authority in the film, and yet they themselves desire. They want to discover the hidden secret of humanity – the objet petit a, the kernel of jouissance, within the human subject« (McGowan 2004: 157), wobei im Folgenden gezeigt wird, dass die Strangers trotz vermeintlicher Autorität nicht (allein) für die Bewegungen der Stadt verantwortlich zeichnen. Ein ähnliches Szenario gibt Proyas in seinem auf dem Popcorn Frights Film Festival (August 2021) vorgestellten Kurzfilm Mask of Evil Apparition von 2021 zu sehen, in dem eine erinnerungslose Frau durch die dunklen Straßen einer verwinkelten Stadt, die auffällig an die dunkle Stadt in Dark City erinnert, zieht und dabei von fahlen Männern verfolgt wird, die später vor einer Art Modell mit verschiebbaren Miniaturholzhäusern gezeigt werden. In dem etwa 20-minütigen, die Ästhetik von Noir-Produktionen und Kinobildern des expressionistischen Kinos einmal mehr zitierenden Film versucht die Protagonistin allererst herauszufinden, was oder wen sie eigentlich sucht, wobei jede ihrer Bewegungen unter Beobachtung jener hageren Männer zu stehen scheint, die verdächtig an die Strangers erinnern.

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seine Augen in einem von Schatten durchzogenen Hotelzimmer11 , wobei sich das Hotel12 als architektonisches Korrelat des unbekannten Mannes gibt: Im Hotel13 haben Gäste weder die Einrichtung der Zimmer in der Hand noch verfügt der Amnesische über Wissen seiner selbst – weder er noch sein Hotelzimmer konservieren Erinnerungen solide

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Ähnlich ergeht es Kato, der Teenager-Protagonistin der belgischen Krimiserie Beau Séjour (2017), erwacht sie doch im gleichnamigen Hotel mit getrocknetem Blut am Kopf auf einem ebenfalls mit Blut getränkten Bett. Schnell wird klar, dass sie in diesem Hotelzimmer zum Opfer eines Mordes wurde, dessen Geschehen sie in insgesamt zehn Folgen rekonstruieren und so den Mörder stellen will; im Gegensatz zu Murdoch erwacht sie nicht in der Badewanne, sondern sieht dort ihre eigene Leiche, bevor sie das Zimmer über den Balkon verlässt und in den Wald rennt. Das Kino wie auch etliche (neuere) Serien spielen (mit den Merkwürdigkeiten) im Hotel, oft gepaart mit einer unheimlichen Atmosphäre und dem Horror- oder Psychothrillergenre entstammend: In Stanley Kubricks The Shining (1980) wird ein unbewohntes Hotel in den Bergen zu einem labyrinthischen Gruselkabinett, in dem Geister ihr Unwesen treiben und dabei Angst und Schrecken verbreiten (siehe Kapitel 5.1.2), wohingegen in Hitchcocks Psycho (1960) ein von reisenden AutofahrerInnen aufgesuchtes Motel, in dessen Wänden sich Löcher zum heimlichen (be)blicken (der Gäste) befinden, zum Schauplatz eines grausamen Mordes an einer jungen Frau wird. Nachdem bereits u.a. das Murder House, Asylum und die Freak Show der U.S.-Serie American Horror Story als Handlungsorte Pate standen, wurde das Hotel in der fünften Staffel der Serie, die mit einem immer wiederkehrenden Cast in verschiedenen Rollenbesetzungen arbeitet, zum Mittelpunkt des Geschehens. Zahlreiche Verstorbene bevölkern die langen Korridore dieses in dunkle Töne getauchten Hotels namens Cortez im Golden State Kalifornien, in dem auch der Serienmörder H.H. Holmes weiter sein Unwesen treibt (siehe nächste Fußnote). Zu einem der unheimlichsten Hotels in der Geschichte gehört unbestreitbar das des mehrfachen Mörders H.H. Holmes in Chicago, wobei Holmes als einer der ersten bekannten SerienmörderInnen des nordamerikanischen Kontinents gilt und lange Zeit ohne in Verdacht zu geraten im The Castle seiner Mordlust nachgehen konnte und wohl besonders viele Opfer während der 1893 stattfindenden Weltausstellung fand. Als der Mann, der wohl mehrere Dutzend Menschen zwischen den Wänden seines perfiden Baus verschwinden ließ, sein Hotel Anfang der 1890-er Jahre errichtete, beauftragte er für verschiedene Abschnitte des Gebäudes verschiedene Architekturbüros und Baufirmen, sodass niemand außer ihm selbst einen Überblick über den gesamten Bauplan hatte. Seine Vorsicht war wohl begründet, ließ er sich doch ein perniziöses Labyrinthsystem aus tödlichen Kammern mit unzähligen Türen, Zwischenräumen, zum Beobachten wie zum Verstecken geeigneten Nischen und diskret ins Architekturale integrierten Schleusen in der Hülle eines Hotels erbauen (vgl. Seltzer 1998: 205ff.). In luft- und schalldichten Räumen mordete er von anderen BewohnerInnen des Hotels unbemerkt; ein ausgeklügeltes System aus geheimen Türen und Gängen ermöglichte ihm die lautlose Beseitigung der Leichen seiner Opfer, sodass lange Zeit niemand den charmanten Hotelier, der während seines späteren Gefängnisaufenthalts auch eigene Texte (zu seinen Taten) produzierte, für einen gefährlichen Verbrecher hielt, der sich eigens einen Ort zum Töten gebaut hat. Doch mehr noch als Holmes selbst avanciert das verschachtelte Hotel zum eigentlichen Akteur, ist also nicht nur Schauplatz grausamer Delikte, sondern zugleich tätiger Ort, der durch seine Verfasstheit Verbrechen erzwingt, denn ist »das Haus erst einmal gebaut, bestimmt dessen Architektur, was in ihm geschehen soll. Und der Hausherr kann nichts weiter tun, als diesen vorgegebenen Funktionen zu entsprechen. […] Der Mörder wird selbst zum Opfer – zum eigentlichen Täter aber wird das Haus selbst« (Binotto 2013a: 13). Neben zahlreichen Kurzgeschichten und Romanen, die mit dem vertrackten Labyrinthbau umgehen, steht eine Verfilmung des von Erik Larson im Romanstil gehaltenen Sachbuchs zu H.H. Holmes The Devil in the White City mit Leonardo DiCaprio, der 2010 bereits die Rechte erwarb, in der Hauptrolle des Serienkillers an bzw. noch aus.

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(sobald ein Gast ausgecheckt hat, werden die Fenster geöffnet, um frische Luft einströmen zu lassen, werden die Betten aufgeschüttelt und die Kissen frisch gefalzt), sodass der Film mit einer Suche nach der eigenen Geschichte beginnt, wobei diese anfängliche, inhaltliche Leere den Blick auf einen psychoanalytisch signifikanten Topos freigibt: Als Bau figuriert das Hotel nicht nur die Heteronomie des Subjekts, sondern zugleich jenes Un-Zuhause, an dessen Abgrund die Unheimlichkeit lauert14 . Ehedem mahnt das Hotel als anonymisiertes Kammersystem par excellence mit einer Einrichtung, die niemals die der jeweiligen BewohnerInnen gewesen sein wird, an die sonderbare ›Erinnerungs‹und vielleicht noch sonderbarere ›Vergessenskultur‹, die in Dark City betrieben wird: Seit einem nicht mehr auszumachenden, im Dunkel liegenden, Beginn werden Menschenkörpern von Aliens Erinnerungen eingepflanzt, die immer wieder re-arrangiert und nie ihre eigenen gewesen sein werden. Genuine Hotelbauten wurden mit zunehmender Verstädterung, Mobilität und dem damit verbundenen Anstieg des Tourismus vielzähliger und gewannen an Bedeutung, »regte der Bau eines Hotels nicht nur den Reiseverkehr an, sondern auch die gesamte Infrastruktur einer Stadt« (Nestmeyer 2015: 10) – doch »[e]in Verweilen ist nicht vorgesehen, jedenfalls keins, das über die Ladenöffnungszeiten oder über den Aufenthalt als Gast hinausginge« (Lehnert 2011: 151), sodass die Hotelszene zu Beginn des Films etwas über die Arrangiertheit moderner Großstädte berichtet und zugleich das Prinzip des Rearrangierens der düsteren (Film)Stadt miterzählt, insofern sie deren Zu-Stände als Distrikt(e) des Hin und Her, der Über- und Durchgänge und Zwischenzonen präsentiert. Sichtbar verwirrt steigt der Mann, den zumindest ZuschauerInnen später anhand seiner Ausweispapiere als John Murdoch identifizieren, schließlich aus der Wanne, um sich und eine kleine blutende Wunde in der Mitte der Stirn im Spiegel zu betrachten. In dem grün gekachelten Badezimmer sieht er einen Stuhl, auf dem fein säuberlich gefaltete Kleidung liegt; er zieht sie an und beginnt, sich in den übrigen Räumen umzusehen. Während er sich an Shell Beach, ein Strandparadies, das er auf einer Postkarte abgebildet sieht, zu erinnern glaubt, schellt das Telephon (das frische Blut auf seiner Stirn weist darauf hin, dass es zumindest einige Tropfen der Flüssigkeit geschafft haben, in seinen Kopf einzudringen, um dort so etwas wie Erinnerungsfragmente einzulassen). Am an-

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Man erinnert sich an Kafkas Verfahren, Entfremdungstendenzen des Subjekts durch den Einsatz architektonischer Metaphern zu entfalten: Wenn Kafka seine Figuren immer wieder durch enge Gänge, lange Korridore und labyrinthisch verschachtelte Bauten rennen, wandern sowie verzweifelt und verzweifelnd umherirren lässt, allegorisiert er dadurch ein fundamentales Nicht-Zuhause-Sein – von sich selbst, vom sozialen Umfeld oder von gesellschaftlichem Recht. Das Entfernt-Sein von sich selbst wird in zahlreichen Texten wie Eine kaiserliche Botschaft (1919), Der Prozess (1925) oder Der Bau (1928) auch erzählt von den Räumen und baulichen Elementen, in und zwischen denen sich seine ProtagonistInnen aufhalten. »Die bereits allegorische Ausprägung der Formel ›Im Irrgarten verlorengehen‹ bewährt bei Kafka besondere optische Qualität: als Architektur und als Weg, als raffinierte Konstruktion, die in eine unabsehbare vertikale oder horizontale Dimension führt, und als trickreiches Spuren-Muster, das unvermeidlich die falsche Richtung einschlagen lässt« (Koebner 2007: 128). Kafkas Texte über-setzen zuweilen Zustände des Subjekts ins Architektonische, geradeso, wie Dark City das Hotel zu Beginn des Films als architekturale Übersetzung des Subjektseins vorstellt.

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deren Ende der Leitung ist die Stimme15 von Dr. Daniel P. Schreber zu hören, »gasping out two or three words at a time, as if the need to speak is all that gives him breath.« (Ebert 2008: 198). Der Spritzensetzer vom Dienst, wissend, dass Murdoch über kein (vollständiges) Gedächtnis verfügt, verlangt, dass er sofort das Appartement verlässt: You are confused, aren’t you? Frightened. That’s all right. I can help you. I’m a doctor. You must listen to me. You have lost your memory. There was an experiment. Something went wrong. Your memory was erased. Do you understand me? There are people coming for you as we speak. Don’t let them find you. Leave now! (Proyas 2008: 00:04:1900:04:41) Woraufhin sich Murdoch in Bewegung setzt und die Leiche einer jungen Frau entdeckt, die nackt mit eingeritzten Spiralen auf der Haut auf dem Boden liegt. Mit fragenden Augen tritt er die Flucht an und stößt beim Hinausgehen im Hausflur gegen ein Goldfischglas, das daraufhin zerbricht; Murdoch hebt den Fisch, der zu ersticken droht, behutsam auf und lässt ihn in die Badewanne gleiten, in der er zuvor erwacht ist, während die Kamera einen Schwenk zum Fußboden macht, auf dem eine zerbrochene Phiole in Steam Punk-Optik zu erkennen ist. Wie von Schreber angekündigt, betreten bald darauf drei Männer in langen schwarzen Mänteln die Szene, während Murdoch in Eile vom Portier erfährt, dass er bereits seit drei Wochen hier abgestiegen sein soll. Die an einen unheimlich verdreifachten Nosferatu erinnernden Strangers namens Mr. Hand, Mr. Book und Mr. Wall sind von diesem Moment an schwebend auf der Suche nach ihm und auch ein Inspektor der Polizei namens Frank Bumstead will den Gedächtnislosen ausfindig machen, da er ihn mit den Morden an sechs Prostituierten in Verbindung sieht. Als Murdoch kurz nach dem Verlassen des Hotels16 auf den Hinweis des Portiers in ei15

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»Welche Autorität hat eine Stimme ohne Körper und Gesicht? Die Antwort ist einfach und überraschend: jede. Schon früh gewinnt die Stimme eine Autorität, die weder auf den Körper noch auf das Gesicht angewiesen ist. Sie partizipiert an einer religiös konnotierten Macht, die nicht erst existiert, seitdem ein Anruf auf einem Mobiltelefon jedes Live-Gespräch, jede Face-to-Face-Kommunikation zu unterbrechen vermag. Schon körperlose Stimmen in säuselnden Winden und brennenden Dornbüschen des Alten Testaments haben diese Autorität. Das Telefon ist der technische Verstärker und die unterstellte Garantie für die Echtheit der Stimme aus einer verborgenen Quelle. Ihre Autorität speist sich exakt aus der Abwesenheit und Unsichtbarkeit und damit aus der fehlenden Identität des Anrufers.« (Meteling 2006: 294). Mit dem Aufstieg der Hotellerie etablierte sich neben dem Hotel als literarischem Schauplatz (etwa in Vicky Baums 1929 publiziertem Roman Menschen im Hotel) zugleich die »Praxis des Dauergastlebens« (Bendix 2011: 200), die einen eigentlich temporären Zustand verstetigt (vgl. ebd.: 201), wobei das wohl berühmteste Hotel, das regelmäßig Dauergäste beherbergte, das von Leonhard Cohen besungene Chelsea Hotel, ein Backsteingebäude inmitten von Manhattan, sein dürfte, in dem sowohl SchriftstellerInnen, MusikerInnen und bildende KünstlerInnen abgestiegen sind (und das einen Teil seiner Türen im Jahr 2018 mithilfe von Guernsey’s Auction House versteigert hat). Nicht nur Sartres im Hotel Printania lebender Ich-Erzähler Antoine Roquentin in La nausée (1938) zieht sich zum Schreiben in die Einsamkeit seines dauerbewohnten Gästezimmers zurück, auch zahlreiche SchriftstellerInnen bewohnten Hotelräume, darunter Jean-Paul Sartre (gelegentlich gemeinsam mit Simone de Beauvoir im Le Cagnard) selbst, aber auch Ernest Hemingway, Wladimir Nabokov und Martin Walser (vgl. ebd.: 200) wie auch Proust und Hesse, wobei diese kulturelle Praktik Konsequenzen für die Gestaltung der Hotelräume als auch der Kontakte mit sich brachte: »Diese zunehmend verlässlich vorhandene, wohlhabende, wirtschaftlich mobile Klientel bringt neue

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nem Automatenrestaurant sein Portemonnaie hinter einer verschlossenen Glastür wiederfindet, wird gezeigt, dass nicht nur die schwarzbemantelten Männer, sondern auch er selbst die Fähigkeit besitzt, kraft seiner Gedanken Materie in Bewegung zu versetzen bzw. sie zu verformen; er »developed their ability to tune. That is how they change things, how they built this city« (Proyas 2008: 01:23:01-01:23:08). Mit dem Schlüssel aus seiner Manteltasche verschafft er sich bald darauf Zutritt zu der Wohnung, in der er mit seiner angeblichen Frau Emma zu leben scheint, die dort auf ihn trifft. Nach einem anschließenden Disput mit Schreber in einer schummrigen Seitengasse und weiteren Verfolgungsaktionen seitens der Fremden findet er schließlich in dem Polizisten, der ihn zunächst überführen wollte, einen Verbündeten auf der Suche nach seiner Identität und dem Geheimnis der Stadt, in der nie die Sonne scheint. Stets in Abwesenheit anwesend ist dabei der Ort Shell Beach, ein Strandparadies, in dem die Sonne so hell scheint, dass sie das Auge zu blenden droht; der in jedem Sinne umnachtete Murdoch hat hier nach Angaben seines (vermeintlichen) Onkels, den er im Laufe seiner Odyssee durch dunkle Gassen und über vernebelte Brücken noch aufsuchen wird, seine Kindheit verbracht, ein Taxifahrer will dort auf Hochzeitsreise mit seiner Frau gewesen sein und alle Befragten wollen den Weg dorthin beschreiben können – doch dieser sonnige Strand existiert nur als Bild: Als Postkarte, als Erzählung und in Form meterhoher Werbeplakate, die die Wände der Häuser verzieren. Dass die Stadt ein riesiges, im dunklen Weltall treibendes Locked Labyrinth ist, muss Murdoch erkennen, als er gemeinsam mit Bumstead an die Grenze seiner Welt stößt, genauer: eine mit einem Shell Beach-Poster verzierte Wand, die von ihnen eingeschlagen wird, wobei es den Inspektor aus dem Mikrokosmos hinausschleudert. Begleitet wird dieses Geschehen von Dr. Schreber, der Murdoch auf Geheiß der Fremden nach dem Zerschlagen der Wand neue Erinnerungen injizieren soll, doch die Gelegenheit nutzt, seinen eigens gebrauten Cocktail einzuflößen, der voll ist mit vermeintlichen Erinnerungen daran, wie Murdoch dank seiner Fähigkeiten gegen die Strangers zu Felde ziehen kann, was in einem finalen Kampf zwischen den grauen Männern und Murdoch dann auch passiert; er überwältigt die Strangers und krönt diesen Sieg mit der Erschaffung einer künstlichen Sonne, die über dem frisch aus dem Boden getunten Shell Beach scheint. Dort begegnet er Emma, die nun Anna17 ist und treibt mit ihr weiterhin auf unbestimmte Zeit durchs All.

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Architekturen, neues Zimmer-Design und neue Skripte für das Ensemble Gast-Gastgeber hervor: Dauergäste befinden sich dann in nur ihnen zugänglichen Hoteltrakten und haben Zugang zu ihnen vorbehaltenen Dienstleistungen mit einem Personal, das auf diese Zielgruppe spezialisiert ist […]« (ebd.: 209) – zu der heute etwa Udo Lindenberg zählt, der bereits seit den 1990-er Jahren im Berliner Hotel Atlantic Kempinski als Dauergast residiert. Zu Hotelzimmern und den in ihnen schreibenden Gästen etwa Moritz, Rainer (2016): Der schönste Aufenthalt der Welt: Dichter im Hotel, München oder auch Schaefer, Barbara (2020): Literaturhotels. Auf den Spuren von Hermann Hesse, Agatha Christie, Oscar Wilde und anderen, Stuttgart. Dr. Schreber weist am Ende des Films darauf hin, dass Emma bereits eine neue Prägung erfahren hat und sich folglich nicht an ihren vermeintlichen Ehemann erinnern kann: »She’s not Emma anymore. She has been reimprinted« (Proyas 2008: 01:37:41-01:37:45) und arbeitet jetzt im städtischen Kino, wo The Evil (der Titel ein medialer Zwilling eines Films aus dem Jahr 1978 von Gus Trikonis, in dem ein Psychiater und eine Gruppe von WissenschaftlerInnen eine alte Villa renovieren wollen und die eine fast klassische Haunted House-Geschichte ist) sich vom Spielplan verabschiedet, um für Book of Dreams Platz auf der Leinwand zu machen.

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Wie Dark City offenbart, vollziehen sich die architektonischen wie auch Subjekt-Verschiebungen nicht auf der Erde, sondern an einem per definitionem unheimlichen Ort. Die jede Nacht zu einem anderen Labyrinth verrückte Stadt treibt wie auf einer Petrischale unverortbar durchs Universum, womit erst am Ende des Films erklärt wird, warum es keinen Tag gibt in Dark City. Dieser Ort, die dunkle Stadt, die keinen festen Standpunkt aufweist, begegnet als sich (durch das All bewegende und sich selbst) bewegendes Labyrinth, als kinetische Architektour bzw. Architekteurin, die sich als ein dem architekturalen Verwandeln verschriebenes und dabei als Film- bzw. Genrezitat gekennzeichnetes Experimentierfeld, das nie still- und deshalb stets mit auf dem Spiel steht, erweist.18 Die dunkle Stadt bewegt sich als Transitraum, Schwellenzustand, Über-Gang und Vorübergehendes, als immer schon anderer Raum und Raum des Anderen. So lesen sich die auffällig häufigen Darstellungen von »Nicht-Orten« (Augé 1994: 83) wie Brücken, Hotelzimmern, Verbindungsstraßen, Schienen oder Booten als Verweise der Film-Stadt auf ihr eigenes Passage-Sein. Stadt passiert im doppelten Sinn: findet statt (hat statt, also zuweilen Ort) und geht vorbei. In diesen anderen, Stillstand verweigernden Räumen echot sowohl das Kino des Expressionismus als auch des Film Noir, die ihrerseits am Bauen unheimlicher Filmarchitekturen beteiligt sind sowie von der intimen Beziehung zwischen moderner Städtearchitektur, dem Unheimlichen und Kino zu erzählen wissen. Wie sich diese Beziehung gestaltet, soll im Folgenden skizziert und zugleich als eine Art Establishing Shot auf die Bildästhetik Dark Citys verstanden werden, um im Anschluss zu Proyas’ Film zurückzukehren.

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Dieses Szenario ist SciFi-LiebhaberInnen womöglich nicht ganz unvertraut: Ein Experiment mit unbekanntem Erkenntnisinteresse wird auch in dem Science Fiction-Roman Das Experiment von Arkadi und Boris Strugatzki beschrieben, bei dem Menschen verschiedenster Epochen auf einem Experimentierfeld, das nur eine künstliche Sonne hat, verschiedene Rollen spielen: Ist Protagonist Andrej zunächst als Müllfahrer beschäftigt, wird er später zum kriminaltechnischen Ermittler und zum Journalisten. Wird in Dark City am Ende des Films zu sehen gegeben, dass die Stadt, in der nie die Sonne scheint, eine durch das Dunkel des Universums treibende Petrischale ist, erfahren Leserinnen und Leser von Das Experiment – im Original Grad obretschennij, also Die verdammte Stadt – an keiner Stelle, wo sich jene recht ominöse Kolonie, in der eine Art Sonne täglich ein- und ausgeschaltet wird, befindet, nur, dass sie scheinbar nicht auf der Erde existiert. Rätselhaft sind auch das Auftauchen und Verschwinden eines roten Gebäudes an je verschiedenen Orten der namenlosen Stadt; an geeigneten Plätzen wie Häuserlücken oder Parkwiesen taucht es in der Nacht auf, verschwindet alsbald – »kroch davon, mit deutlichen Geräuschen, mit Knirschen, Quietschen, klirrenden Fensterscheiben und knarrenden Balken« (Strugatzki 2003: 178) –, um später an einer anderen Stelle wiederzukehren. Dieser Wanderung nicht genug, bewegt sich auch das Hausinnere, welches entsprechend zur Iterationsmatrix avanciert: »Doch die steinernen Därme der Korridore verengten sich plötzlich, um das Opfer zu zerquetschen, vor den Füßen taten sich tiefe Löcher auf, aus denen eisiger Friedhofsgeruch strömte, unbekannte Kräfte jagten das Opfer durch enger werdende finstere Gänge, bis es steckenblieb, sich in den letzten steinernen Spalt zwängte – und in leeren Zimmern mit abgerissenen Tapeten faulten zwischen abgebröckeltem Putz Knochen unter blutverkrusteten Lumpen […]« (Strugatzki 2003: 139).

2 Dark City: Architekt(o)ur als Dis-Position

2.4 Dark Cities Nachdem bereits in der Gothic Novel ein intrinsischer Zusammenhang zwischen der Erfahrung des Unheimlichen und der Architektur beobachtbar wurde, begann dieser Zusammenhang um 1900 sich auf das Urbane zu verschieben bzw. auszuweiten und dabei erneut prominent zu werden (siehe Kapitel 1.2). Der Fokus auf den städtischen Raum als einem unheimlichen, wie ihn Dark City ausrichtet, um ihn zu überbieten, ist auch und vor allem dem speziell durch Architektur inspirierten filmischen Expressionismus zuzurechnen, wenn bereits in frühen Produktionen wie etwa Fritz Langs Metropolis (1927) besonders die Architektur von Großstädten bildgewaltig in Szene gesetzt bzw. gebildet wird. Die filmischen Städte zeugen dabei zunächst von der Unheimlichkeit, mit der sich moderne GroßstädterInnen konfrontiert fühlten. Das rasante Anwachsen der Städte und die Entstehung neuer Metropolen, die einander Unbekannte nun dicht an dicht wohnen ließen, trugen neben der dem einzelnen Gebäude bereits innewohnenden unheimlichen Struktur zur Verunheimlichung des urbanen Raumes bei, was an der Entstehung spezifischer »urban disease[s]« (Vidler 2001: 29) oder auch »spatial disorders« (ebd.: 32) wie der Agoraphobie mitwirkte – »the city was terrifying« (ebd.). »The great city was seen to shelter a nervous and feverish population, overexited and enervated, whose mental life, as George Simmel noted in 1903, was relentlessly antisocial, driven by money« (ebd.: 25). Von der (Unheimlichkeit der) Stadt im Kino19 jener Zeit geben die Stadtsinfonien der 1920-er Jahre zahlreicher RegisseurInnen Auskunft, die auf das neue Wahrnehmungsdispositiv Stadt20 reagieren, mit ihm umgehen und spezifisch filmisch arrangieren, gibt es doch eine »obvious ability of film to ›construct‹ its own architecture in light and shade, scale and movement« (ebd.: 101). Etwa Ruttmanns Berlin: Sinfonie einer Großstadt von 1927 allegorisiert durch kurze Schnittfolgen und gehetzte Schwenks das hektische Treiben der Stadt, die durch zunehmende Automatisierung, undurchsichtige Verwaltungsgebäude, dunkle Bars und mobile Bahnen des Nahverkehrs auch in den Modus des Unheimlichen gerät; Stadt geriert sich als technische Maschine (vgl. Siegert 2010: 157), als Apparat, Automat, als eine Verkettung unheimlicher Gebäude und Gebäudekomplexe, wobei das Ho19

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Nicht nur der Film geht mit der Stadt als Gegenstand um, vielmehr erprobten die künstlerischen Avantgarden in diversen ästhetischen Verfahren wie Malerei, Literatur oder der Collage den Umgang mit der ästhetischen Herausforderung Stadt, die (jedoch) ohne ihr Geschwister, den Film, nicht mehr zu denken war. Der Industrieroman, die 1903 mit Heinz Möllers erster Anthologie zum Schlagwort avancierte Großstadt(lyrik), die dadaistischen Collagen und die futuristische Malerei, der durch literarische Montage unterbrochene Großstadtroman etwa bei Joyce, Döblin oder Dos Passos, sind nur einige wenige Weisen, künstlerisch auf das Phänomen Metropole zu reagieren und an ihm mitzuwirken. Die Stadt gerät mit ihren Häuserzeilen zu Zeichengeflechten, die sich als Schrift präsentieren und verlangt nach ihrer semiotischen, literarischen Analyse. Großstädte werden zu Metropolen und Metropolen zu Megacities, die ein Schreiben und Denken über sich selbst, jenseits von sich selbst, verursachen, spricht doch etwa Roland Barthes von einer »Semantik der Stadt« (Barthes 1988: 201): »Die Stadt ist ein Diskurs und dieser Diskurs ist wirklich eine Sprache« (ebd.: 202); die von Manfred Smuda herausgegebene Anthologie Die Großstadt als Text (1992) nähert sich in verschiedenen Beiträgen der Stadt als einem Gewebe aus Zeichen, das je unterschiedlichen Lektüren unterzogen wird.

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tel zum prädestinierten Ort dieser neuen Automaten in Form von Aufzug und Drehtür, elektrischem Licht und fließendem Wasser avanciert, wenn »perfekt organisierte Beherbergungsmaschinen, die Gastlichkeit am Fließband fabrizierten« (Spode 2011: 10), die Architektur der Städte influenzieren. Der (urbane) Film nun »durchleuchtet, beleuchtet die Stadt. Er zeigt sie auf – von morgens bis mitternachts. […] Er hat den ausgezeichneten Einfall gehabt, die moderne Großstadt als eigenes Lebewesen, als Person des Schauspiels einzuführen« (Brentano 1981: 144f.). Entstanden sind die meisten Bauten des architektonischen Expressionismus während der Blütezeit des expressionistischen Films; Kino- und Architekturexpressionismus arbeiten sich dabei insofern gegenseitig zu bzw. aneinander ab, als Kino auf Architektur und Architektur auf Kino(bilder) reagiert. Filme des Weimarer Kinos etwa konzentrieren sich detailverliebt auf architektonische Ausgestaltung, wobei zunächst Stadt- auch VorBilder der Kinostädte sind, bis schließlich auch umgekehrt Filmarchitekturen am modernen Städtebau mitwirken. Film und Architektur hängen auf besondere Weise aneinander: Baudrillard gibt in seiner Analyse amerikanischer Städte zu bedenken, dass es tatsächlich weniger die Städte sind, die in den Film einziehen, sondern vielmehr die filmischen Stadtideen die Architekturen New Yorks, Chicagos und anderer Metropolen mitgestalten: It is not the least of America’s charms that even outside the movie theatres the whole country is cinematic. The desert you pass through is like the set of a western, the city a screen of signs and formulas. […] The American city seems to have stepped right out of the movies. To grasp its secret, you should not, then, begin with the city and move inwards to the screen; you should begin with the screen and move outwards to the city. (Baudrillard 2010: 56) Es bleibt zu fragen, inwiefern etwa die für Metropolis angefertigten Zeichnungen Erich Kettelhuts am Stadtbild deutscher Großmetropolen wie Berlin mitgewirkt haben. So arbeitet das Kino zu Beginn des 20. Jahrhunderts an der Architektur der Stadt in doppelter Weise mit; als Lichtspielhaus dringt es in die Stadtzentren vor (vgl. Prümm 1993: 126f.) und beeinflusst so maßgeblich das Stadtbild21 und die Bewegungen der KinogängerInnen, wohingegen es als Film an den Städten (gewissermaßen als Blaupause des Imagi21

Die Geschichte des Kinos ist untrennbar verbunden mit jenen Architekturtechniken, Urbanisierungsprozessen und Wanderungsbewegungen, die seit der in England beginnenden Industrialisierung von statten gingen. Einhergehend mit dem Prozess der Verstädterung veränderte sich einerseits die im Film gezeigte Architektur als auch die Art und Weise, wie man die Moving Pictures konsumierte. Das Kino war ein sich bewegender Ort, der erst allmählich und gemeinsam mit der Verstädterung zum Stillstand kam, wie Emilie Altenloh in einer der ersten Arbeiten Zur Soziologie des Kinos (1913) beschreibt (vgl. Altenloh 1914: 14f.). Ähnlich wie sein(e) VorgängerInnen war das Kino zunächst ein verschiebbarer, ein mobiler Ort; so, wie die Schaubuden mit einem SchauspielerInnenensemble durch die Lande tourten, zogen in ihren Anfangszeiten auch Filmvorführer wie die Gebrüder Lumiere von einem Ort zum nächsten. Ihre berühmt gewordene Filmvorführung von 1896, bei der in einem Pariser Café ein Film mit einem einfahrenden Zug von gerade einmal einer Minute Laufzeit gezeigt wurde, reiht sich ein in die Tradition der Kaiserpanoramen und Wanderkinos, die ab ca. 1910 durch die Errichtung von eigens dafür vorgesehenen Lichtspielhäusern abgelöst wurden. Die Stadt war neben ihrer Funktion als Ort industrieller Expansion auch ein Zentrum kultureller Errungenschaften wie denen des Kinos, sodass »[d]er Kinematograph von Anfang an ein Medium der Metropolen [ist]« (Prümm 1993: 111). Nicht selten wurden (auch und besonders

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nären) mit baut und die Idee moderner Großstädte vorzeichnet (vgl. Neumann 1996a: 8). Verstädterungsprozesse (wie auch Kinobilder) implizieren den Entwurf neuer architekturaler Zusammenhänge22 und die entsprechende Implementierung städtischer Kultur: »Unsere Kultur ist gewissermaßen ein Produkt unserer Architektur« (Scheerbart 2011: 5). Nicht (nur) das, was wir Kultur oder kulturelle Gepflogenheit (wie an der Ampel stehen bleiben oder ins Kino gehen) nennen, bringt Architektur hervor, sondern ist deren Produktionseffekt; Architektur wirkt an kulturellen und sozialen Zusammenhängen mit. Da sind keine FlaneurInnen in Pantoffeln, die zu Hause spannungsgeladen auf die Errichtung des Boulevards warten, um endlich loslaufen zu können, sondern der Boulevard lässt FlaneurInnen allererst entstehen – Stadtarchitekturen erschaffen Stadtmenschen bzw. -phänomene, wie etwa neben FlaneurInnen auch SchlafgängerInnen, die sich selbst keinen eigenen Wohnraum leisten können und sich daher stunden- oder nächteweise bei Familien einmieten. Expressionistische Architektur paktiert bereits ob ihrer Monstrosität mit dem Unheimlichen; so versucht etwa der Architekt Peter Behrens Architektur-Expressionismus mit Signifikanten wie Dissonanz, Deformation und Disharmonie zu fassen23 (vgl. Lippert-Vieira 2012: 77). Zugunsten von Körnig- und Unregelmäßigkeit benutzt man Klinkersteine zweiter Wahl oder Fehlbrände, da ihre Unebenheit eine noch spannendere Fassade verspricht und eine verlebendigte Wandtextur ermöglicht (vgl. Pehnt 1998: 188); Objekte derart zu verlebendigen bzw. Objekte zwischen der Position von Objekt und Subjekt oszillieren zu lassen, ist Moment des Unheimlichen (vgl. Freud 1989a: 250) und wird vom Architekturalen prozessiert. Expressionistische Architektur changiert zwischen Transparenz und Opazität (vgl. Pehnt 1998: 11) und verunheimlicht sich durch diese »Koexistenz des Gegensätzlichen« (Binotto 2013a: 63) – eine Gleichzeitigkeit, die sich später im Kino in Form des scharfen Bildkontrasts ebenso wiederfindet wie das damit zusammenhängende Schattenspiel bewegter Formen. Während expressionistische Architektur dem

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in Berlin) ehemalige Ladengeschäfte oder Werkstätten zu so genannten Kintöppen, den Vorläuferinnen des reinen Kinobaus, umfunktioniert. Neben Mietskasernen und Wohnblöcken, die eine eigene Hinterhofästhetik etabliert haben, der geplanten Erbauung von Ring- und Verbindungsstraßen und der Planung von Gartenstädten stieg die Zahl der Bars, Cafés und Tanzlokale. Die architektonische Umgebung in und unter den Städten wandelte sich signifikant; Ampeln wurden zur Regelung des ansteigenden Verkehrsaufkommens installiert, Aufzüge erleichterten den Verkehr von Waren und Menschen, unterirdische Verkehrs- und überirdische Straßenbahnnetze wurden angelegt, Litfaßsäulen mit Werbung säumten die Innenstädte, elektrische Beleuchtungen erhellten auch nachts die Wege und die systematische Asphaltierung von Straßen arbeitete dem Erfolg des motorisierten Fahrzeugs zu. Was sich einstellt, ist ein »Wahrnehmungsschock« (Schivelbusch 2011: 163), da bisher Sicherheit versprechende Raumgefühle aufgerissen und durchkreuzt werden und dabei mit dem brechen, was bisher als Konvention galt; der neue Stadtraum ist also auch ein Raum des (architekturalen) Unheimlichen: Sobald es moderne Großstädte gibt, gibt es auch das Unheimliche der Stadt. Was Schivelbusch als »Wahrnehmungsschock« beschreibt, findet sich bei Simmel als Reizüberflutung, als eine »Steigerung des Nervenlebens« (Simmel 1957: 227), die die Großstadt durch »rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, de[n] schroffe[n] Abstand innerhalb dessen, was man mit einem Blick umfasst, die Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen« (ebd.) ebenso provoziert wie das Kino.

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Unheimlichen einerseits kraft ihrer bedrohlichen, beängstigenden Größe und Schwere approximiert, erzeugt sie andererseits durch ab- und versetzte Simse und ornamentale Vorsprünge sowohl kantige, spitze Schatten als auch blendende Lichtstreifen, die die Bauten zwielichtig umtänzeln und dabei ein grinsende Fratzen und verzerrte Körper projizierendes Schattenspiel organisieren, wie auch das Kino schattenreiche Bilder produzieren wird. Kino und Architektur gehen eine intime und dabei vielfältige Beziehung miteinander ein, die etwa von Walter Benjamin medien- und wahrnehmungstheoretisch reflektiert wurde: Die Wahrnehmung des Kinos und diejenige (in) der Stadt stehen in einem reziproken Verhältnis und erweisen sich weniger als kontemplativ, denn als zerstreut. Dass zerstückelte Bilder in Bewegung geraten (das ist das Prinzip des analogen Kinos (vgl. Kittler 1986: 180f.)) und das Auge der BetrachterInnen regelrecht bombardieren24 , wird sowohl dem Kino(film) als auch der Verwirrung stiftenden, labyrinthischen Architektur der Stadt zugeschrieben, wie es in einer Fußnote von Benjamins Kunstwerkaufsatz (1936) zu lesen steht, denn »[d]ie Großstadt erzwingt ein neues Sehen, weil sie sich anders jeder angemessenen Wahrnehmbarkeit entzieht« (Lobsien 1992: 186). Der Film ist die der gesteigerten Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen haben, entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren. Der Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt. (Benjamin 1991c: 503) Bau- und Filmkunst ähneln25 einander an, bis Filme schließlich nicht nur bereits errichtete Wohnhäuser, Paläste und Schlösser zeigen, sondern durch spezifische Medientech24

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Das Bombardement wird hier nicht zufällig genannt, haben Kino und Waffen als »Zusammenfall von Kino und Krieg« (Kittler 1986: 195) insofern immer schon miteinander zu tun, als sich beide im Schießen – das eine von Bildern, das andere von Körpern – üben: »Die Geschichte der Filmkamera fällt also zusammen mit der Geschichte automatischer Waffen. Der Transport von Bildern wiederholt nur den von Patronen. Um im Raum bewegte Gegenstände, etwa Leute, visieren und fixieren zu können, gibt es zwei Verfahren: Schießen und Filmen«(ebd.: 190) – die Filmkamera avanciert zum Waffensystem. Nicht nur weichen naturalistische Bühnendekorationen technischem Gerät und Gerüst, wenn »Theaterraum zu einem Maschinenraum geworden« (Gruber 2012: 18) sein wird, sondern zugleich expandiert der urbane Raum mithilfe kinospezifischer Verfahren wie der Leinwandprojektion ins Theater, sodass »die frenetische Existenz der Stadt, die Bewegung der großen städtischen Massen« (ebd.: 19) ins Dunkel des Schauspielhauses transportiert wurde. Im Zeigen bewegter (Stadt)Bilder im Theatersaal erschöpft sich aber nicht die etwa von Ossip Brik theoretisierte und von RegisseurInnen wie Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold (experimentell) realisierte »Kinofizierung des Theaters« (ebd.), der es um das Infizieren des theatralen Bühnenraums und -geschehens mit cineastischen Verfahren zu tun ist. Ebenso zur Kinofizierung »gehören schauspieltechnische Innovationen, die die Abfolge von ›Einstellungen‹ dynamisieren oder auch die durch den Filmtransport ruckartig erscheinenden Bewegungen auf der Leinwand nachmachen; weiters bühnentechnische Neuerungen wie der die Großaufnahme imitierende Einsatz von beweglichen Scheinwerferkegeln, die nur Details der Bühne ausleuchten und gemäß ihrer dramaturgischen Bedeutung hervorheben, blitzschnelle Lichtwechsel zur Temposteigerung und als Verfahren der Montage, sowie stroboskopisches Licht, um Bewegungsabläufe zu zerhacken […]« (ebd.).

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niken selbst zu bauen beginnen (Dziga Vertovs 1929 entstandener Film Der Mann mit der Kamera setzt ganz bewusst eine nicht existente Stadt aus den Versatzstücken der Städte Moskau, Kiew und Odessa zusammen), denn »[d]ie Künste freilich und insbesondere der Film haben solch paradoxe Räume des Unheimlichen, in denen man sich auf beängstigende Weise verirrt, immer schon zu bauen verstanden« (Binotto 2015: 159). Gerade das expressionistische Kino verknüpft Film und städtischen Raum, indem es einerseits die neu gekannten Architektur- und Baustile, Parkanlagen, Boulevards, groß angelegte Straßennetze und Glas- wie auch Betonbauten zitiert und andererseits selbst (dem Unheimlichen zuarbeitende) filmische Architekturen errichtet – die Stadt entsteht auch und besonders im Film und eröffnet Räume, die genuin mit ihrem (Darstellungs)Medium in Beziehung stehen bzw. von ihm abhängen. Denn anstatt diesen physisch vorhandenen Raum bloß zu repräsentieren, schafft die Kamerabewegung selbst neue Räume. Die Kamera zieht neue Koordinaten durch den bestehenden Raum und modifiziert ihn dadurch, und die Montage verbindet einzelne, disparate Räume zu einem kontinuierlichen Korridor, den es nur in der Imagination des Films geben kann. (Ebd.: 161) Ähnlich wie später die Noir-Ästhetik26 amerikanischer Produktionen wird der expressionistische Film vom Errichten und Zeigen einer von Schatten gezeichneten Großstadtarchitektur, die oft eher in disparate Bezirke zerfällt als sich zu einem Kontinuum fügt, dominiert. Er orientiert sich zunächst am Angebot der expressionistischen Architektur, um es schließlich zu überbieten; spricht man von expressionistischen Filmarchitekturen, spricht man immer auch von ›dark cities‹, deren Skylines in der Regel Studiokulisse sind. SetdesignerInnen wie Paul Leni und Ernst Lubitsch, deren Filmarchitekturen die Ästhetik des expressionistischen Kinos maßgeblich geprägt und buchstäblich geformt haben, schufen besonders in der ersten Hälfte der 1920-er Jahre kantige, spitzwinklige Häuser(kulissen) aus dunklem Stein, die in Dark City wiederkehren und Proyas‘ Film so (auch) zum metafilmischen Kommentar werden lassen (vgl. Schwarz 2014: 85). Dark City weiß trotz seiner Vorliebe für Amnesie von Kino- und Architekturexpressionismus, wie ein genauerer Blick in die Archive des expressionistischen Films zeigt: Bewegung und Aufenthalte auf asphaltierten Wegen, verwinkelten Treppenaufgängen, in zwielichtigen Hinterhöfen und Häusereingängen sowie das Ausstellen eben jener Bewegungen und Aufenthalte, sind nicht erst bei Proyas prominent zu beobachten, sondern bereits in den von Siegfried Kracauer27 als solche ausgewiesenen »Straßen-Filme[n]«, 26

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Raymond Chandler, ab Mitte der 1940-er Jahre Ästhetik und narrative Strategie von vornehmlich Pulp-Stories, die um einen Mord herum kreisen, befragend, konstatiert die Vorherrschaft (großer) Städte in derartigen Geschichtchen. Schund-AutorInnen werden damit zu ChronistInnen eines Amerika, das der modernen Großstadt mit all ihren Undurchsichtigkeiten einen Auftritt bereitet (wie sich von diesem Auftreten verunsichern lässt): Nicht wenige Pulp-AutorInnen gingen mit »a world in which gangsters can rule nations and almost rule cities, in which hotels and appartments houses and celebrated restaurants are owned by men who made their money out of brothels, in which a screen star can be the finger man for a mob […]« (Chandler 1973: 197) auf unheimliche Weise um. Kracauer begreift die Straße vor allem als einen Ort der trügerischen Verlockungen, der einen Ausbruch aus der kleinbürgerlichen Realität verheißt, wobei in der Regel am Ende solcher Produktio-

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denen die Straße als Ort so gewichtig erscheint, »dass sie fast immer dies Wort oder ein ähnliches in ihre Titel aufnahmen« (Kracauer 1984: 165). Auch Architekturen werden genauestens ausgeleuchtet und eingerichtet ins Bild gesetzt, ebenso nicht selten titelgebend wie z.B. in Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) oder Joe Mays Der Mann im Keller (1914). Vorrangig ab der zweiten Hälfte der 1920-er bis Anfang der 1930er Jahre werden ProtagonistInnen dieser Produktionen von Nebelschwaden umspielt, sodass es beinah so wirkt, als würden sie, die vor allem nachts in der Stadt unterwegs sind, nicht auf festem Boden gehen, sondern eher wie Gespenster über ihm schweben – dass die Strangers in Dark City tatsächlich über dem nebelbedeckten Boden schweben, erscheint daher als unheimliche Realisierung und Wiederholung, als Zitat des gespenstischen Gangs expressionistischer Filmfiguren über nebelbedeckte Filmstadtböden. Beim Blick auf massive Backsteingebäude und Betonpaläste sitzt die Kamera, deren Arbeit im expressionistischen Kino eine zentrale Rolle zukommt, häufig am unteren Rand des Bildes, die Bedrohlichkeit und übermenschliche Größe der Gebäude betonend. Nicht selten umkreist sie, das abzubildende Objekt dabei bis zur Unkenntlichkeit verzerrend, ihren Gegenstand und lässt das Bild so in einen Taumel geraten. Der Schwindel durch ungewohnte Perspektiven wie auch starke Kontrastsetzungen sind Relikte der surrealistischen Malerei ebenso wie der verunheimlichten Architektur des Expressionismus, die sich auf der und für die Leinwand fortschreiben. Es werden sogar diverse Schatten in die Häuserkulissen gezeichnet, wenn der gewünschte Kontrast nicht scharf genug ist, um die Stadt als Licht verschluckenden Abgrund noch unheimlicher und rätselhafter wirken zu lassen, denn »[d]ie deutschen Stummfilme entfalten eine Bilderwelt, in der die dunklen Nuancen häufig überwiegen. Die Nacht spielt eine zentrale Rolle: In ihr brechen Grauen und Entsetzen aus […]« (Steinbauer-Grötsch 1997: 136f.). Vermehrt gehen Produktionen vom Band, die mit disparaten28 , narrativen Lichtarrangements auffällige wie aufwendige Kulissenstädte her-stellen29 , wobei ähnlich »[w]ie in den Großstadt-

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nen den Versuchungen des pulsierenden Großstadtlebens nur ausflugsweise nachgegeben wurde und wieder zurückgekehrt wird in die biedere Bürgerlichkeit: »Zum Straßenthema gehören eine Anzahl ästhetisch wertvoller Filme, die, trotz aller substantiellen Unterschiede, ein Motiv gemeinsam haben: in allen bricht die Hauptperson mit den sozialen Konventionen, um ein Stück Leben zu ergattern, aber die Konventionen erweisen sich stärker als der Rebell und zwingen ihn entweder zur Unterwerfung oder zum Selbstmord.«(Kracauer 1984: 133f.). Lotte Eisner sieht in der Inszenierung von hellen und dunklen Kontrasten ein unerlässliches Kriterium des expressionistischen Films: »Wir pflegen das berühmte Helldunkel des deutschen Films als ein wesentliches Attribut des Expressionismus anzusehen; man glaubt allgemein, seit Kracauer darauf hingewiesen hat, dass dies Helldunkel auf die 1917 bei Reinhardt erfolgte Aufführung eines expressionistischen Dramas, auf den ›Bettler‹ von Reinhard Sorge, zurückzuführen ist.« (Eisner 1980: 47). Fritz Langs M (1931) beispielsweise setzt kleine Gässchen, schmale Straßenschluchten und eng verwinkelte Mietshäuser im Verunsicherung treibenden Spiel aus Licht und Schatten zusammen, das sich so nur auf der Leinwand abspielen kann und etwas zu berichten hat. Gleich zu Beginn des Films hört man Kinder ein Lied über einen Mörder singen, bei dem sie durch Abzählen den nächsten Sänger oder die nächste Sängerin bestimmen, um dabei paradoxerweise mehrere Schatten in unterschiedliche Richtungen zu werfen (vgl. Blank 2008: 80). Langs M ist bei weitem nicht der erste und einzige Film, der Licht als narratives Element, am Erzählen durch diverse Verfahren mitwirkend, einsetzt. Richard Blanks Film und Licht – Die Geschichte des Filmlichts ist die Geschichte des Films, eine Monographie, die inklusive DVD geliefert wird, analysiert gewissenhaft die Bedeutung des

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gedichten Georg Heyms, Johannes R. Bechers oder Jakob van Hoddis’ sich in den sogenannten Straßenfilmen […] die Metropole von ihrer düsteren, chaotischen Seite [zeigt]« (ebd.: 23f) und jene »vom Gaslicht beleuchtete Straße zur unheimlichen Szene und zum Arbeitsplatz für Detektive [wird], die Licht ins Dunkel schrecklicher Verbrechen bringen werden, die sich in den Straßenschluchten oder hinter den Fensterreihen ihrer Häuser ereignet haben.« (Paech 2000: 95). In diesen eine beängstigende Städtearchitektur und ihre Straßen (in Szene) setzenden Filmen wird die Straße vor allem des Nachts mit ihren abrupt tief erscheinenden dunklen Ecken, ihrem aufgleißenden Betrieb, den Lichtnebel ergießenden Straßenlaternen, mit den flammenden Leuchtreklamen, Scheinwerfern von Autos, mit dem von Regen oder Abnutzung glänzend gewordenen Asphalt, den beleuchteten Fenstern geheimnisvoller Häuser, dem Lächeln geschminkter Dirnengesichter zum Schicksal das ruft und verlockt. (Eisner 1980: 253) Wenn Städte filmisch gebaut, wenn sie zu Protagonistinnen von Filmproduktionen werden, erweisen sie sich durch intensive Low-Key-Beleuchtung sowie gezielte Schnittfolgen, Kameraperspektiven und Tricktechniken als unheimlich. Joe Mays Asphalt (1929) etwa, für Kracauer ein »Musterbeispiel künstlich emporgezüchteter Kolportage« (Vogt 2014: 190), setzt den unheimlichen Großstadtraum als Schwindel erzeugendes Gewirr ins Bild, das wiederum selbst eine schluchtende Enfilade ist. Die filmische Montage wirkt hier entscheidend an der Entstehung des architekturalen Raumes mit, wenn sie klare, glatte Ansichten zu hastigen Bilder- und Raumfolgen zerhackt und montiert, die einander auch überblenden können. Folgen in den Eingangsszenen, in denen ein Polizist den Verkehr regelt, in schnellen Schnitten und Überblendungen Aufnahmen der modernen Metropole aufeinander, bewegen sich später Figuren durch dunkle Straßenzüge, die nur leicht vom Licht der Schaufenster erhellt werden und exponieren die Stadt als geschwärztes, gefährliches Labyrinth voller Schluchten und verwinkelter Plätze, in dem man sich zu verirren oder in dem man ganz zu verschwinden droht. Die Großstadt wird zum Ort der Um- und Abwege, an dem man nicht geradlinig unterwegs ist, ist doch das eigene Bewegen durch Vor- und Rückwärtslaufen, Umdrehen, Stehenbleiben usw. korrumpiert – diese Idee des labyrinthischen Stadtraums30 , den bereits Walter Benjamin

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Lichts im Film und nimmt dabei Murnaus Der letzte Mann (1924) genauso in den Blick wie neuere Produktionen etwa Lars von Triers. Orson Welles durch eine Rahmensequenz zu Beginn mit Kafkas Türhüterparabel verknüpfte Kafka-Adaption von Der Prozess (1962) etwa, in der K., nicht in der Lage, sich durch das Messer für ein nicht gekanntes Vergehen zu richten, am Ende in einer Grube in die Luft gesprengt wird, ist ein mit Licht und Beleuchtung erzählender Film, dessen Lichtgestaltung »nichts mit dem Regelwerk des klassischen Hollywoodsystems zu tun [hat]« (Blank 2008: 184) und zugleich ein Film, der etwas über das Verhältnis von Raum und Film zu berichten weiß. Schatten von Treppen, langen Korridoren, schmalen Hausfluren und unterirdischen Tunneln zerstückeln K., dessen Büro hier eher wie das von Bartleby aussieht, stets aufs Neue oder er wird von seinem Schatten so eingekesselt, als säße er bereits in der Falle. Ist K. gegen Ende des Films unterwegs »zur Rumpelkammer des Büros wirft er einen schwachen, halbnahen Schatten an die Wand. In der gleichen Einstellung wechselt dieser Schatten in einen scharf konturierten Schatten der ganzen Person. So etwas hat man noch nie gesehen.« (Ebd.: 188). Der städtische Raum Venedigs wird in Don’t Look Now (1973) – einem Film von Nicolas Roeg, der mit dem tragischen Ertrinken der Tochter des Ehepaars Baxter beginnt und sie auf ihrer irrealen Reise

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etwa im Verhältnis zum Flaneur formuliert (vgl. Benjamin 1991b: 559), spielt Dark City radikal besonders in den Szenen aus, in denen Murdoch durch die Stadt irrt. Murdoch hat keinen Plan. Und er hat keine Erinnerung, was ihn zur Erinnerung an das Kabinett des expressionistischen Films macht. Dem Finster zuarbeitende Beleuchtungen und Schattenwesen, die an Wänden und Decken aufscheinen, um gleich wieder zu verschwinden, sind für den Straßenfilm der 1920-er wie für Dark City ebenso zentral wie sich durch eine ausgestellte Künstlichkeit auszeichnende Sets (die gewissermaßen eine der Stadt zugeschriebene Künstlichkeit ausreizen); entsprechend bemerkt Haas 1924: »Die Straße ist für den Film nicht der oder jener Ort: sie ist der charakteristische Ort der Bildvision des Films von heute« (Haas 1991: 148). Joe Mays Aufnahmen scheinbar nie endender Arkaden und feuchtnasser, spiegelglatter asphaltierter Wege, die die Welt als verzerrte und entstellte nach unten hin verdoppeln, korrespondiert Die Straße, eine Karl Grune-Produktion von 1923, die mit Bildern der zur Schattenwelt verunheimlichten Großstadt operiert. Hier werden vorbeifahrende Autos und öffentliche Verkehrsmittel wie die Straßenbahn unter Einsatz sinisteren Lichts in den Fokus gerückt. Wenn die Figuren nicht gerade selbst am Straßenverkehr beteiligt sind, sieht man sie oft am Fenster31 , in Eingangs- und Wartehallen, auf Treppenstufen oder im Türrahmen stehen, wobei sie das Treiben zwischen den Plätzen und Wegen beobachten und die Bauten der Stadt zunehmend bedrohlicher wirken. Dark City trägt mit den Murdochs zumindest ein paar verschobene und verdichtete Spuren von Grunes Die Straße: In diesem Film verlässt ein Namenloser am Abend die Wohnung, die er gemeinsam mit seiner Frau bewohnt, um ins nächtliche Treiben der Stadt einzutauchen; der »Film zeigt eine Nacht in der großen Stadt, durchlebt und durchlitten von einem kleinen Beamten, der von den Lichtern und den Versuchungen der Straße verführt wird« – doch »[i]m Film wird die Straße zum Ort des Schreckens und der Gefahr, gefüllt von Laster und Verbrechen, doppelt gefährlich in ihrer verführerischen Anziehungskraft« (Kaes 1996: 27) . Straßen- oder man könnte hier eher sagen: Architekturfilme lassen Gebäude, Brücken, Gehsteige, Türen und Treppenaufgänge, Gassen und Plätze von der bloßen (Hin-

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nach und in Venedig inklusive der Begegnung mit zwei mysteriösen Schwestern und dem unerklärlichen Mord John Baxters, dem die Kehle von einer kleinwüchsigen Frau im roten Mantel, der er nachrennt, durchtrennt wird, zeigt – zum verschachtelten urbanen Kosmos aus kleinen Straßen und breiten Wegen, Brücken, Alleen, Sackgassen, Vor- und Hinterhöfen als auch Wasserstraßen; die Stadtarchitektur arriviert zur labyrinthischen Struktur, die u.a. durch Schrägperspektiven und wilde Taumel der Kamera potenziert bzw. produziert wird und sich dementsprechend auch ins Filmbild (bzw. die Ebene der Handlung) schiebt, denn »[l]ike Venice, Don’t Look Now is a labyrinth with dead ends, false starts, and circles« (Muir 2007: 261). Etwa sucht der Cousin des Erzählers in E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster (1822), der nach »Schriftsteller- und Dichtersitte« (Hoffmann 2015: 767) Räume mit niedriger Deckenhöhe bewohnt und durch eine Krankheit am Gehen gehindert ist, im Inneren der Stube das Außen durch sein Fenster, wenn er dort sitzend den großen Marktplatz mit SpaziergängerInnen, TouristInnen und TheaterbesucherInnen beobachtet und sich ein Gespräch über das dort zu Sehende entspinnt, bei dem über »alte Weiber auf niedrigen Stühlen sitzend« (ebd.: 772), geplaudert und u.a. festgestellt wird, »dass es Sitte geworden [ist], dass selbst die Töchter höherer Staatsbeamten auf den Markt geschickt werden, um den Teil der Hauswirtschaft, was den Einkauf der Lebensmittel betrifft, zu erlernen« (ebd.: 774).

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tergrund)Kulisse zu HauptdarstellerInnen oder zumindest zu gleichwertigen Co-DarstellerInnen avancieren, insofern diese das Filmbild dominieren. Städtische Architekturen werden vom Motiv erster Filmaufnahmen zum Handlungsraum von Geschehnissen, die sich so nur in der Umgebung einer (bestimmten) (Groß)Stadt, die selbst bewegte ist, haben zutragen können; ihnen eignet ein entsprechend aktiver, zunehmend narrativer Charakter.

Abbildung 1: Joe May, Asphalt, 00:43:21

Abbildung 3: Joe May, Asphalt, 01:20:55

Abbildung 5: Joe May, Asphalt, 00:01:43

Abbildung 2: Joe May, Asphalt, 00:08:13

Abbildung 4: Joe May, Asphalt, 00:02:15

Abbildung 6: Joe May, Asphalt, 01:01:05

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Abbildung 7: Karl Grune, Die Straße, 00:04:46 Abbildung 8: Karl Grune, Die Straße, 00:28:02

Abbildung 9: Karl Grune, Die Straße, 00:49:37 Abbildung 10: Karl Grune, Die Straße, 00:59:59

Abbildung 11: Karl Grune, Die Straße, 01:11:38 Abbildung 12: Karl Grune, Die Straße, 00:06:03

Die Stadt gerät auch in zahlreichen Produktionen der jüngeren Filmgeschichte zum narrativen Element, wobei hier allen voran Dick Maas’ Amsterdamned (1988), ein Film, der nicht ohne die Grachtenlandschaft der niederländischen Hauptstadt auskommt, hervorzuheben ist: Erzählt wird die Geschichte eines Serienkillers, der seine Morde (fast) ungesehen in den Übergangszonen von Wasser und festem Boden begeht. Amsterdams Grachtensystem, bestehend aus Wasserkanälen, Schleusen, Brücken, Dämmen und Stegen, funktioniert wie keine zweite städtische Landschaft als handlungstreibende Architektur. Ein (wie sich später herausstellt) entstellter Taucher findet seine Opfer auf Haus-

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booten, in der Nähe des Hafens und an den Uferzonen. Ist das Verbrechen begangen, verschwindet der Mörder genauso lautlos in jenes Wasser, aus dem er zuvor heraus seine Opfer auskundschaftete und schließlich überwältigte. Die einmalige Architektur des Amsterdamer Grachtengürtels, die durch verdunkelte Bilder und Orientierung erschwerende Schnitte im Film nicht nur abgebildet, sondern hervorgetrieben wird, bietet eine einmalige Kulisse, die an den sich in ihr ereignenden Taten mitwirkt.

Abbildung 13: Fritz Lang, Metropolis, 00:06:35 Abbildung 14: Fritz Lang, Metropolis, 00:18:15

Abbildung 15: Fritz Lang, Metropolis, 00:18:35

Abbildung 16: Fritz Lang, Metropolis, 01:17:02

Abbildung 17: Fritz Lang, Metropolis, 01:38:19

Abbildung 18: Fritz Lang, Metropolis, 00:57:18

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Nun sind Leinwandstädte nicht einfach (ab)gefilmte Metropolen (wie auch die Städte, die in literarischen Texten kursieren, nicht in den Text hineingeschrieben werden, sondern aus ihm heraustreten), sondern vielmehr architekturale Zusammenhänge, die häufig erst dann entstehen, wenn Kamera und Schnitt die Bauleitung übernehmen. In Die Straße sieht man etwa ein von Autos befahrenes Straßenkreuz, innerhalb dessen sich FußgängerInnen bewegen, sodass die Straße wie eine Augenhöhle anmutet, wobei an dieser Stelle bereits eine gewisse Verschachtelung von Körper und Architektur stattfindet. Die Filmmontage funktioniert hier als architektonischer Verschachtelungsprozess und erzeugt den Ort, dessen Betrachtung mit seiner Entstehung im und als Film allererst möglich wird, wobei die Montage zur Produzentin exzessiver Stadtkreationen und Raumkonstellationen avanciert – wie auch D.C. ein Exzess der Bilder sein wird. Ein Großteil des expressionistischen Städtebaus fällt also in den Zuständigkeitsbereich filmischer Verfahren, die damit zu architektonischen arrivieren. Architekturen und Räume, die erst als Medienprodukte erstehen, werden zu den eigentlichen ProtagonistInnen dieser Film(epoch)e, wobei die Hochhausarchitektur, der Turm zu Babel und Ober- wie auch Unterstadt aus Fritz Langs Metropolis (1927) wohl zu den populärsten wie eindrucksvollsten Beispielen gehören. In einer der berühmtesten Arbeiten des Regisseurs, zugleich »ein veritabler Baumeister des Kinos« (Binotto 2015: 163), musste die »Architektur der Stadt […] überwältigend, düster und bedrohlich werden, die Handlung nachdrücklich unterstützen, kurz – eine Hauptrolle im Film übernehmen« (Neumann 1996b: 96), wobei etwa die Unterstadt während des Fluchtversuchs der Protagonistin Maria »zu einem Labyrinth des Unheimlichen, wo man unversehens dort ankommt, von wo man hatte fliehen wollen« (Binotto 2015: 160), avanciert, sodass »ein unterirdischer Raum nicht nur gezeigt, sondern in diesem Akt des Zeigens erst erschaffen« (ebd.: 162) wird. Maßgeblich beteiligt an der Genese dieser futuristischen Metropole waren neben den Filmarchitekten Erich Kettelhut, Otto Hunte und Karl Vollbrecht die Kameramänner Karl Freund, Günther Rittau und Walter Ruttman; Fritz Lang selbst weist bereits in den 1920-er Jahren auf sein Verständnis der Kamera als Akteurin hin, stattet er sie mit Attributen wie neugierig und lebendig aus (vgl. Binotto 2015: 163). Ihre teilweise ungewöhnlichen Perspektiven, die spezifische Aneinanderreihung bestimmter Stadt- und Raumausschnitte, Belichtungstechniken wie Überblendungs- und Trickaufnahmen, die kleine Zimmer zu kilometerlangen, verwinkelten Labyrinthen32 aufspannen oder kurze Pappblöcke zu meterhohen Betonriesen auftürmen, bauen an Metropolis ebenso mit wie die im Studio platzierten Häuserwände und Straßenzüge. Bereits während der Dreharbeiten zu Die Nibelungen (1924) entwickelten die Kameramänner Eugen Schüfftan und Ernst Kunstmann eine monströse Riesentürme und gigantische Häuserzeilen erzeugende Spiegeltrickmethode, die sie für Metropolis perfek-

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Eine der bestgelungensten Adaptionen expressionistischer Kinoarchitektur und -ästhetik findet sich in Rob Zombies Musikvideo des Songs Living Dead Girl (1998): Mit Farbfiltern, wie man sie auch und vor allem aus Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) kennt, Karten mit Zwischentexten, wie sie der Stummfilm einsetzte und Figuren, wie sie besonders das Weimarer Kino hervorbrachte, arbeitet sich Living Dead Girl an seinen Vor-Bildern ab, um dabei noch die fünf Jahre nach Metropolis entstandene Produktion White Zombie, in der Bela Lugosi den Untotenfabrikanten mimt, mitzuzitieren.

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tionierten: Das Schüfftan-Verfahren arrangiert Aufnahmen der Spiegelbilder der abzufilmenden Objekte, indem ein Spiegel in einem 45 Grad Winkel zur Kamera positioniert wird, sodass winzige bis kleine Modelle vom Objekt der Kamera so komponiert werden, dass sie wie in Metropolis als kolossale Megabauten erscheinen (vgl. Block 2020: 69), die man ohne den Film gar nicht sehen könnte. Zusätzlich werden Hybridaufnahmen, bestehend aus sowohl Aufnahmen von Modellbauten wie auch real existierender Türen und Fenster, montiert. So entstehen »Bauten, die nur für den Film und mit den Mitteln des Films existieren« (Neumann 1996a: 7) und die, wie etwa auch in Wienes Das Cabinet des Dr Caligari33 (1920) »Schreie, Angst und Furcht auszudrücken schienen« (ebd.). Diese Architekturen sind nur als Filmarchitekturen existent, entweder, weil sie aus Pappe und Farbe für eine Produktion angefertigt wurden und/oder weil sie allererst im Schnitt und/oder mit gewissen technischen Bildstrategien wie Zoomen, Verzerren und ähnlichem her-gestellt werden. Im filmischen Städtebau werden diejenigen technischen Verfahren, die Benjamin für die Arbeit der Kamera beschreibt, in besonderer Weise in den Dienst genommen und exponiert. Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung. […] Hier greift die Kamera mit ihren Hilfsmitteln, ihrem Stürzen und Steigen, ihrem Unterbrechen und Isolieren, ihrem Dehnen und Raffen des Ablaufs, ihrem Vergrößern und ihrem Verkleinern ein. Vom Optisch Unbewussten erfahren wir erst durch sie, wie von dem Triebhaft Unbewussten durch die Psychoanalyse34 . (Benjamin 1991c: 461) Filme bzw. Filmtechniken designen Architekturen, wobei die Science Fiction-Serie Dr. Who, in der ein sonst nicht weiter betitelter Doktor35 in einem Raumschiff nicht nur durch das Weltall, sondern auch durch die Zeit reist, ein prominentes Beispiel liefert. Jener Doktor ist in einer (gezüchteten, nicht gebauten) Raumzeitmaschine namens Tardis unterwegs, die eigentlich die Fähigkeit besitzt, ihre Außenhülle in beliebige Formen zu versetzen, um in der jeweiligen Zeit und am jeweiligen Ort ihres Auftauchens kein Aufsehen zu erregen. Die Chamäleon-Funktion der Tardis des Doktors jedoch hat einen kleinen Defekt und ist im Modus einer britischen Polizeinotrufzelle (des 20. Jahrhunderts) stehen geblieben. Nichts desto trotz eröffnet sich im Inneren der Tardis, entgegen ihrer äußeren Erscheinung, ein Netz aus zahlreichen Räumen und Gängen, in denen der Doktor seine ReisebegleiterInnen, nicht selten junge Britinnen, beherbergt und bewirtet; nicht nur wiederum selbst mehrstöckige Schlaf- und Wohnräume, sondern ebenso ein Schwimmbad, eine Kunstgalerie, mehrere Kontrollräume, 33

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Nachdem Virginia Woolf 1926 Das Cabinet des Dr. Caligari gesehen hatte, beschied sie dem expressionistischen Kino unter Betonung einer Verunheimlichung eine »Traumarchitektur der Bögen und Bollwerke, wallender Kaskaden und aufsteigender Fontänen, die uns manchmal im Schlaf heimsucht oder in halbdunklen Räumen aufscheint« (Woolf 1972: 76) zu sein. Dass Benjamin hier gerade die Psychoanalyse ins Spiel bringt, kommt nicht von ungefähr. Die Stadt, das Kino wie auch das auf vielfältige Weise zu denkende Unbewusste sind nicht nur historisch verschwistert, sondern gehen zugleich Beziehungen anderer Qualität ein. War die Rolle bis 2017 stets mit männlichen Schauspielern besetzt, wird die beliebte Science Fiction-Figur seit 2018 durch eine Schauspielerin verkörpert: Seit der 37. (!) Staffel streift Jodie Whittaker erfolgreich als dreizehnte Inkarnation – als Timelady und nicht Timelord – in der Tardis durch Raum und Zeit.

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riesige Lagerflächen für nicht näher definiertes technisches Gerät und eine Krankenstation befinden sich im Inneren des eher unübersichtlichen Raumschiff-Organismus. Ein Umschnitt, der seine Unsichtbarkeit simuliert, ermöglicht es, die Tardis als jene unmögliche Möglichkeit zu zeigen. Durch das Aneinanderreihen von an unterschiedlichen (Dreh)Orten entstandenen Bildern, also spezifisch filmischen Verfahren, wird auf der Leinwand eine labyrinthische und ob ihrer Ausmaße nicht zu überschauende Telephonzelle zusammengeschnitten. Das Produktionsteam – allen voran Filmdesigner Dante Ferretti, Produzent Bernd Eichinger und Regisseur Jean-Jacques Annaud – von Der Name der Rose (1986) entschied sich zu einem ähnlichen Verfahren mit ähnlichen, aber nicht gleichen, Effekten für ZuschauerInnen: Die Außen- und Innenaufnahmen des Klosters, dessen labyrinthische Bibliothek eine der bekanntesten der Filmgeschichte überhaupt ist, sind an unterschiedlichen Orten gedreht und mit in verschiedenen Regionen wie den Abruzzen aufgenommenen Landschaftsbildern zusammengefügt worden; Skriptorium, Kreuzgang, Kirche, Refektorium und Schlafsaal etwa wurden im Kloster von Ebersbach, einer ehemaligen Zisterzienserabtei im Rheingau gedreht, in der eigentlich Wein hergestellt wird, wohingegen der Klosterhof ein filmarchitektonischer Bau im italienischen Prima Porta ist und der Bibliotheksturm wiederum in Rom auf dem Studiogelände von Cinecittà errichtet wurde (vgl. Baumann/Sahihi 1986: 6f.). Im Schnittraum zusammengefügt zeigen sie eine Filmarchitektur, die nur da, im Film, als so gezeigte bestehen und Aufnahmen, die mehrere Monate nacheinander aufgenommen wurden, aneinanderfügen kann – was Kontinuitäts-Herausforderungen birgt: Der Film wird nicht von der ersten bis zur letzten Szene abgedreht […]. Wenn Adson aus dem Turm kommt, hundert Meter über den Klosterhof zum Kirchenportal geht und dann zwischen das Chorgestühl tritt, dann liegen zwischen den drei Szenen, die im Film weniger als eine Minute dauern, in Wirklichkeit Monate und Tausende von Kilometern. (Ebd.: 7f.) Wobei die erste in Cinecittà im März 1986, die zweite in Rom zwei Monate zuvor und die letzte im November 1985 in Deutschland gedreht wurde (und SetdesignerInnen zusätzlich für künstlichen Schnee und manipulierte Lichteindrücke Sorge tragen mussten, um Anschlussfehler zu vermeiden). Der Film Noir, der in den 1940-er Jahren auf den expressionistischen Film folgt und reagiert, ist neben seinen filmischen Vorgängern und Vor-Bildern der 1920-er Jahre der Ort, wo Städte in korrespondierender Weise zu unheimlichen Main Characters bzw. Komplizinnen avancieren und der ebenso ein Archiv darstellt, aus dem Dark City ausgiebig zitieren wird. Urbane Schauplätze, darunter nicht nur halbdunkle Gassen, sondern auch bevorzugt Hotelräume und kontrastintensive Filmbilder zählen ebenso zum Repertoire der Schwarzen Serie wie zur Ausstattung des Kinos der Weimarer Republik, in dessen Erzähl- und Bildtradition sie sichtlich steht36 . »Das irdische Dasein

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Aus dem Exil heraus entspinnt sich ein Fortschreiben des expressionistischen Kinos in den Studios von Hollywood; nicht wenige RegisseurInnen, die in der Weimarer Republik große Erfolge feiern konnten, prägen die Kinobilder u.s.-amerikanischer Studios maßgeblich mit, sodass »[t]rotz großer Konkurrenz und teilweise sehr schwieriger Arbeitsbedingungen die Exilanten sichtbare

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ist ein nächtliches: So lautet die Wette des film noir. Dieses Filmgenre entwirft deshalb die Welt als labyrinthischen Kerker, aus dem es kein Entkommen gibt. […] Die Nacht stellt in diesem Filmgenre den privilegierten Seinsraum dar […]« (Bronfen 2008: 429). Den Architektur- und Straßenfilmen ähneln Noir-Produktionen, die »mit einer visuell erzeugten Desorientierung« (ebd.: 431) arbeiten, während sie »auf die Geste der Verdunkelung und Verzerrung setz[en]« (ebd.) in ihrer Herstellung als in der Regel reine Studiofilme, für die grau und schwarz gestrichene Kunsthäuserfronten in den Filmwerkstätten produziert wurden und dabei eine »Verarbeitung des urbanen Unbehagens der amerikanischen Nachkriegszeit« (ebd.: 432) leisten. Hinzu kommt, dass es diesen vorrangig zwischen 1940 und 1960 angefertigten Studioarbeiten neben einem dunklen37 und/oder zwielichtigen Filmbild38 um die amnesischen Dispositionen ihrer

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Spuren in der amerikanischen Filmgeschichte [hinterließen]« (Steinbauer-Grötsch 1997: 9) – denn »[v]ergleicht man die Namen der Regisseure, die die Entwicklung des Film noir entscheidend beeinflussten, so fällt auf, dass viele von ihnen auch zu den Exponenten des deutschen Stumm- und frühen Tonfilms zählten« (ebd.: 31). Nicht nur RegisseurInnen, auch SchauspielerInnen, CutterInnen, Kameramänner und -frauen sowie LichttechnikerInnen hat es vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach Nordamerika verschlagen. Fliehend vor den Nazis (und deren Vorstellungen vom Inszenieren von Filmen) versuchten zahlreiche deutsche Leinwandgrößen im Ausland wieder Fuß zu fassen, was einigen, darunter bspw. Peter Lorre, auch gelingen sollte. Sie alle hatten ihren Anteil an der aufblühenden Filmindustrie auf dem amerikanischen Kontinent, denn »unter den Filmarchitekten, die das Erscheinungsbild der Schwarzen Serie prägten, finden sich auch deutsche Namen« (ebd.: 40). Besonders Fritz Lang, Sohn eines Architekten und 1934 ins Exil gegangen, wirkt durch Inszenierung diverser Schattenwelten, in denen Architekturen zu Hauptfiguren und Titelgeberinnen aufsteigen, entscheidend an der Bildästhetik des das Architekturale ins Unheimliche abgleiten lassenden Schwarzen Films mit, darunter The Woman in the Window (1944), ein Jahr später Scarlet Street, Secret Beyond the Door von 1947 oder auch House by the River aus dem Jahr 1950 – »At the time, Wilder and Lang didn’t know that they were making films noirs. They would probably have called their stories thrillers or crime dramas and let it go at that« (Hirsch 2008: 8). In Secret Beyond the Door übt sich etwa ein frisch verheirateter Verleger im getreuen Nachbau von Räumen, in denen einst ein Verbrechen geschehen ist; er richtet Zimmer so ein, dass sie als exakte Kopien jener Orte erscheinen, an denen vor nicht langer Zeit gemordet wurde. Seiner Frau ist es (wie der Gattin von Blaubart) verboten, ein bestimmtes, stets verschlossenes Zimmer in ihrem neuen Zuhause zu betreten, was sie eines Tages, nachdem sie heimlich eine Kopie des Schlüssels hat anfertigen lassen, dennoch tut, um hinter der Tür eine detailgetreue Nachbildung ihres eigenen Schlafzimmers vorzufinden (anders als die Gattin Blaubarts, die einen Raum voller Leichen erblickt). Das Unheimliche räumt sich hier ein als eine Figur der Ent-Ortung, denn »[d]ie vertrautesten Dinge bekommen eine Dimension des Unheimlichen, an einem Ort, wo sie fehl am Platz sind, einem Ort, der ihnen ›nicht ansteht‹« (Žižek 1991: 100). Diverse Filmtitel des Noir tragen, ähnlich wie dies bereits bei den Straßenfilmen der Weimarer Republik geschehen ist, das Dunkle im Namen: The Dark Corner (aus dem Jahr 1946 von Henry Hathaway), The Dark Mirror (aus dem gleichen Jahr unter Regie von Robert Siodmak) oder auch Dark Passage (1947) von Delmer Daves, der auch das Drehbuch verfasste. Diverse der Schwarzen Serie zugehörige Produktionen verzahnen im Zwielicht stehende Filmbilder mit der Bedrohlichkeit/Unheimlichkeit (städtischer und häuslicher) Architekturen. In The Third Man von Carol Reed aus dem Jahr 1949 wird etwa neben bekannten Wahrzeichen der Stadt auch das weit verzweigte Netz der Wiener U-Bahn in Szene gesetzt. Der von Orson Welles verkörperte Protagonist Harry Lime flieht gegen Ende des Films in ein labyrinthartiges Netz aus Gängen und Treppen unter den Straßen Wiens, um seinen Verfolgern zu entkommen. Das Urteil spricht

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ProtagonistInnen sowie um Wahnzustände innerhalb einer entsprechend wahnsinnigen architekturalen Umgebung zu tun ist wie dem expressionistischen Film – und Dark City. Proyas’ Film hat Amnesie und Wahnsinn, er hat zwielichtige Gestalten mit dunklen Absichten, präsentiert disparate Ansichten einer sich unheimlich und dunkel bewegenden Stadt und liefert trotz seines blendenden Endes kaum helle Einsichten, sondern maximal dunkle Aussichten – die »Unergründbarkeit der Nacht« (ebd.: 437) korrespondiert der Un-fassbarkeit der dunklen Stadt.

2.5 Dark Citations: Exzess der Bilder Zwar verweist Dark City nicht en detail auf einen bestimmten Film, führt aber vor, dass und wie zitiert wird – und wer dafür verantwortlich zeichnet: Charaktere und Architekturen, deren Gestalt(ung) selbst von einem anderen Ort herkommt. Der Establishing Shot etabliert kaum etwas anderes denn Schwärze, die Leinwand vertilgt alles Licht und zeigt sich vor allem als Leinwand. Soll eine Eröffnungssequenz einen ersten Überblick verschaffen, verweigert Dark City eine solche Aus-Sicht und entfaltet stattdessen das (Kulissen)Repertoire des Weimarer Kinos. Inmitten dieser alten Kulissen des Straßen- und Spukkinos stellt sich ein anderer Horror-Film zusammen, dessen gebogene und gewundene Häuserkulissen in ihrer Ruhe bereits bedrohlich zu wabern beginnen. Dark City stellt sich ostentativ in die Tradition des Weimarer Kinos, um es zu überbieten wie zu hintergehen. Zitation produziert eine derivative Kinostadt, an der weniger das Geschehen in ihr als vielmehr ihr Geschehen interessiert. »Not a story so much as an experience, it is a triumph of art direction, set design, cinematography, special effects – and imagination« (Ebert 2008: 197): Durch seine exponierten Bewegungen entfaltet D.C. quasi das Making Of der Filme des Weimarer und des Noir-Kinos zugunsten der visuellen Erfahrung einer filmischen Design-Architektur, die als Konglomerat diverser Vorgängerarchitekturen erscheint. The movie takes place everywhere, and it takes place nowhere. It’s a city built of pieces of cities. A corner from one place, another from some place else. So, you don’t really know where you are. A piece will look like a street in London, but a portion of the architecture looks again like a European city. You’re there, but you don’t know where you are. (Wagner 1997: 65) Als städtische Welt erinnert Dark City an und zitiert aus etlichen Vorgängerfilmen düstere und teils verdreckte Stadtbilder, die den Augen des Kinopublikums zumindest beschließlich ein Gullideckel, der sich auch mit massiver Gewalt nicht öffnen lässt, sodass ein Entkommen aus den unterirdischen Abwasserkanälen Wiens verunmöglicht wird; die Stadt avanciert hier allmählich selbst zum narrativen Element bzw. zur Protagonistin, bietet sich also als etwas zu Lesendes bzw. zu Sehendes an. Dies alles wird unter Einsatz einer bis dahin vorrangig im expressionistischen Film anzutreffenden, kontraststarken Lichtführung ins Bild gerückt: »Das alles dominierende Chiaroscuro der deutschen Kinoleinwand der zwanziger Jahre blieb bis zur Entstehung des Film noir in der Filmgeschichte ohne Nachahmung« (Steinbauer-Grötsch 1997: 134), bis sich schließlich in jenen Produktionen »die raumgestaltende Kraft der expressionistischen Lichtführung wieder [findet]« (ebd.: 135).

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kannt vorkommen müssten. Man sieht (auch hier) Straßenbeleuchtung als »gespenstig flackernde Gasflamme« sowie Bilder von »geheimnisschweren Straßen, Gängen und Treppen, die in Halbdunkel gehüllt bleiben« (Eisner 1980: 255). Fritz Langs Metropolis (1927) oder Sergej Eisensteins Streik (1925) haben ohne Zweifel die Bildsprache von Dark City ebenso informiert wie Tetzlaffs The Window (1949) oder They drive by night (1940) von Walsh. Der expressionistische Film, der sich auch und vor allem in den Babelsberger Filmstudios mehr oder weniger als Experimentalanordnung etablierte, prägt das Szenenbild von Proyas’ dritter Filmproduktion ebenso wie die Schwarz-Weiß-Ästhetik des Film Noir, der neben einem »Willen zur Nacht« (Bronfen 2008: 440) »eine differenzierte Palette an Schattierungen der Farbe Schwarz« (ebd.: 437) bereithält wie eine »Fatalität der Nacht anspricht« (ebd.: 381); Stadtentwürfe von Blade Runner (1982) und Total Recall (1990), die ihrerseits nicht unbeeinflusst sind vom Kino der Weimarer Republik und dem Schwarzen Film, dürften an der Ästhetik der dunklen Stadt ebenfalls ihren Anteil gehabt haben. An Dark City fasziniert die Handlung daher erst an zweiter Stelle, denn Akteurin des Films ist zunächst weniger ein Subjekt oder eine Konstellation von Subjekten, als vielmehr die dunkle Stadt selbst: Eine Stadt, die sich nicht nur aus Häusern, Straßen und Plätzen zusammensetzt, sondern aus anderen Städten; »the way this noir world is thought about, talked about, and constructed, becomes more important than the world, if it is a world, itself« (Murray/Heumann 2006: 1). Gemalte Häuserzeilen und Häuserfronten aus Pappmaché, sichtlich künstliche Teichanlagen und Baumstämme frei von Holzmaserungen lassen schnell erkennen, dass diese Produktion ein reiner Studiofilm ist, der ohne Tageslicht und ›wirkliche‹ Architektur auskommt (eine einzige Aufnahme, nämlich die des (innerhalb der Erzählung gar nicht existenten) Strandes, ist nicht am Computer entstanden oder als Kulisse aufgebaut worden, wurde jedoch digital nachbearbeitet). Die Häuserfassaden, Straßenbeleuchtungen und Brückengeländer lassen sich dabei in zweifacher Hinsicht als eine solche Kulisse ausweisen: Zum einen ist die dunkle Stadt jene Filmkulisse, die den Hintergrund für die Handlung bereitet und dabei zahlreiche Filme unter Einsatz einer filmischen Chiaroscuro zitiert. Zum anderen spannen sich jede Nacht neu arrangierte Häuser und Straßen gewissermaßen als Kulisse für die BewohnerInnen der Stadt, die glauben sollen, dass sich alles immer schon so gestaltet hat und dass sie auf entsprechend festem Boden stehen und gehen, auf. »All the people in the movie are playing characters that have been imposed to them«, gibt Proyas im DVDKommentar zu hören und spricht damit über jene Doppelbödigkeit, die den SchauspielerInnen wie ihren jeweiligen Rollen zu eigen ist: SchauspielerInnen spielen Rollen, die wiederum nur austauschbare Rollen sind – wie das allmorgendlich (oder eher allabendlich) neue Arrangement der Stadt. Immer wieder fährt die Kamera – ein häufig in Dark City zu beobachtendes filmisches Ver-Fahren – die Oberflächen der Stadt wie ein Aufzug ab, wenn sie nicht gerade am Boden haftet, um das Gigantische der Häuserfronten einzufangen, zu überbieten und buchstäblich monströs werden zu lassen. Die Filmtechnik wird architektonisch aktiv, denn diesen Fahrten kongruieren die sichtbaren Verschiebungen der Architekturen, sodass sich Sicht und Gebäude mal mit- und mal gegeneinander verschieben.

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Abbildung 19: Alex Proyas, Dark City, 00:38:25

Abbildung 20: Alex Proyas, Dark City, 00:38:45

Abbildung 21: Alex Proyas, Dark City, 00:51:56

Abbildung 22: Alex Proyas, Dark City, 00:42:20

Abbildung 23: Alex Proyas, Dark City, 01:21:17

Abbildung 24: Alex Proyas, Dark City, 00:56:36

Indem der Film das Bauen (das als unsichtbares Verschieben immer auch am Set stattfindet) in seine Handlung integriert und vorführt, wird er zum Ort dunkler Zitate und zum Schauplatz dunklen Zitierens in mehrfacher Weise: Dunkel, weil das zitierte Material – dunkle Häuserfassaden, Betonbauten etc. – selbst Attribute der Dunkelheit aufweist und verdunkelt, weil keine Quelle als dezidierte Referenz gegeben wird. Dark City ist Schauplatz dunklen Zitierens, sind doch die verdichtenden und verschiebenden Bewegungen, die dort statthaben, Bewegungen des Zitierens selbst. Nicht nur jene aus Zitaten montierte Stadt steht als Objekt zur Diskussion, sondern vor allem die Vollzüge, die das dauernde Auf- und Umgebautwerden der Stadt aus heimatlosen bzw. unheimlichen Versatzstücken, kurz: ihre Bewegungen, vorführen; es sind gleichermaßen Zitate aus der modernen Stadt- wie Filmgeschichte sowie Zitate ihrer intimen Beziehung,

2 Dark City: Architekt(o)ur als Dis-Position

ihres Zusammenhangs – und gleichzeitig aus dem Zusammenhang gerissen. Dark City vollzieht daher das Arrangieren und Zitieren von Filmarchitekturen, ist Stadtfilm und spezifische Kinoarchitektur, die sich wiederum als ein Mosaik von Filmstädten wie etwa der Hochhausstadt, zu sehen gibt. Mit der Aussage »We fashioned this city on stolen memories, different eras, different pasts, all rolled into one« (Proyas 2008: 01:07:5301:08:00) scheint Mr. Hand nicht nur die Erinnerungen jener in die Stadt Transportierten anzusprechen, sondern berichtet von den Erinnerungen des Kinos. Aus dem Archiv der Kinobilder und -städte bedient sich Proyas’ Film und staffiert im Ausstellen dieser Ausstaffierung sich mit dem aus, was filmisch virulent ist; obwohl Dark City zunächst futuristisch anmutet, versinkt es in den Bildern der Kino- und Filmvergangenheit (vgl. Murray/Heumann 2006: 2) und lässt seine ProtagonistInnen zudem vorrangig an Orten auftauchen, die auch im Kino der Weimarer Republik und im Film Noir auffällig häufig aufgesucht wurden. Zunächst befindet sich Murdoch in einem anonymen Hotel, Bumstead und sein Kollege treffen sich in einer dunklen Bahnhofshalle, Emma arbeitet als verführerische Sängerin in einer verrauchten Bar mit zwielichtigen Gestalten und auch schlecht beleuchtete Kopfsteinpflastergassen und halb verborgene Hinterhöfe werden ins Bild gerückt. Vom amnesischen Mörder bis hin zum skeptischen Ermittler ruft Dark City all jene Gestalten auf, die den Film Noir besiedeln: Ein zwielichtiges Milieu39 , das aus Gangstern, deren Handlangern, einer femme fatale (die wiederum Vorgängerinnen in expressionistischen Figuren wie dem Vamp etwa in Robert Wienes Genuine (1920), Frank Powells A Fool There Was (1915) mit Theda Bara oder der Stummfilmserie Les Vampires von Louis Feuillade aus den Jahren 1915–1916, hat) und Trenchcoat tragenden Polizisten und Detektiven besteht. Dieses von Proyas arrangierte »noir setting is meticulously staged, from the interior and exterior mise-en-scéne with its low-key lightning and stereotypical noir figures […]« (ebd.: 3). Zudem verweigern sich Noir-Produktionen einer klaren räumlichen Verortung, sie spielen neben der Wortkargheit ihrer Figuren und deren oft dunklen Absichten mit dem Treiben nächtlicher, Verwirrung stiftender Schatten: »Because film noir communicates most expressively through its silences, evasions and disavowals, its vision of the noir city resists easy mapping […]« (Krutnik 1997: 84). So stellt sich auch Dark City zunächst als klassischer Whodunit vor, aber nur, um dessen Randzonen allmählich aufzulösen und noch über das hinauszugehen, was ein typischer Detektivfilm leistet: Spielt die Handlung einer Kriminalgeschichte in einem abgeschlossenen Milieu, treibt Dark City diese Idee einer (sozialen) Enklave auf die (architekturale) Spitze – schließlich

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Nicht nur steht Dark City in der filmästhetischen Tradition des expressionistischen Films wie des Film Noir – auch das Genre des dunklen Films selbst beerbt stilistisch und narrativ die Detektivgeschichten der Hard Boiled Pulp Fiction, sodass D.C. zum Zitat eines Zitats eines Zitats wird. Diese Hard Boiled Fiction wurde vornehmlich in diversen Pulp-Magazinen veröffentlicht. Black Mask gilt dabei als eines der populärsten Heftchen seiner Art, das vornehmlich mit Abenteuer- Detektiv- und Mysterygeschichten gefüllt war und seit den 1920-er Jahren publiziert wurde. So wurde auch die von den französischen Filmkritikern Raymond Borde und Etienne Chaumeton eingeführte Bezeichnung Noir bewusst gewählt, um eine Nähe zu besagten Detektivgeschichten herzustellen (vgl. Bronfen 2008: 431).

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schwebt das permutierende Stadtlabyrinth alleine durch das Weltall – und rückt damit in die Nähe eines Locked Room Mystery40 . Besonders Noir-ProtagonistInnen, und als Zitation erscheinend, auch Dark City’s John Murdoch, lassen das Bild einer stabilen Umgebung einmal mehr und insofern brüchig werden, als sie u.a. zu Transitfiguren werden. Sie sind ständig in Bewegung, wenn sie über Brücken und Schienen, durch Straßen, Gebäude und Cafés wandern; sie sitzen in Zügen, fahren Taxi, Bus und U-Bahn oder übernehmen selbst das Steuer eines Automobils; sie essen in Schnellrestaurants ohne Bedienung (oder einer auf Rollschuhen) oder im Stehen an einem Hot Dog-Stand und sind immer auf dem Weg zur nächsten Verabredung – ausgereizt wird dieses Prinzip in D.C. durch den urbanen Raum, der als beweglicher Raum, in dem sich durch flüchtige Orte hindurch bewegt wird, selbst als Transitfigur erscheint41 . Dark City berichtet darüber, dass architekturale Konstrukte Stabilität vortäuschende Phantasmen sind, deren Konstruktionsprozess (filmisch) sichtbar (gemacht) wird, insofern ZuschauerInnen um die Bewegungen und Realitätskonstrukte der Stadt wissen.

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Gaston Leroux, vor allem für seinen Roman Das Phantom der Oper (1910) bekannt, verfasste nach Poes The Murders in Rue Morgue (1841), wo C. Auguste Dupin einen rätselhaften Mord an zwei Frauen aufzuklären hat, eines der ersten als solches geltendes Locked Room Mystery, also eine (Kriminal)Geschichte, in der »a dead body is found in a room which is effectively sealed or locked from the inside« (Scaggs 2005: 21), die sich entsprechend auf einen einzigen, in der Regel abge- oder verschlossenen Ort konzentriert, in dem ein Verbrechen stattgefunden hat, das es nun aufzuklären gilt. In Le mystère de la chambre jaune, erschienen 1907 und fast 100 Jahre später (2003) auch für das Kino adaptiert, wird jenes gelbe Zimmer zum Tatort, von dem aus TäterInnen sich eigentlich keine Möglichkeit zur Flucht bot, er oder sie aber scheinbar trotzdem aus dem Raum entkommen konnte – wie die Flucht aus einem eigentlich versperrten Zimmer möglich sein konnte oder ob sich nicht alles doch ganz anders zugetragen hat, muss Joseph Rouletabille, ein Ermittler, der auch in späteren Erzählungen Leroux’ auftaucht, herausfinden. Ähnlich ergeht es den Ermittlern, die in den Romanen von John Dickson Carr, der nicht nur für seinen 1935 erschienenen Roman The Hollow Man als Locked Room-Autor gefeiert wird, ihrer Arbeit nachgehen und dabei eigentlich unlösbare Rätsel, wie den Mord in einem verriegelten Zimmer, lösen müssen. In seiner berühmten Flugschrift Capitalist Realism, in dem über Alternativen eines scheinbar alternativlosen Kapitalismus nachgedacht wird, schreibt der 2017 durch eigene Hand gestorbene Kulturkritiker Mark Fisher von Michael Manns Heat, einem 1995 erschienenen Film, der durch seine Inszenierung von vor allem des Nächtens aufgesuchten Diners, Highways, Flughafenhotels und -hallen und dem ständigen Auf-der-Flucht-Sein auffällt. Heat entwerfe »an LA of polished chrome and interchangeable designer kitchens, of featureless freeways and late-night diners« (Fisher 2009: 31) und arrangiere durch seine umfassende Inszenierung von Flexibilität, die im Ausspruch »Don’t get attached to anything« (ebd.) pointiert wird, auch die Zeit des anbrechenden Neoliberalismus der Reagan-Bush-Ära; Dark City als 90-er Jahre Film wiederum kann als Reaktion auf das bereits in Heat reflektierte neoliberale Paradigma gelesen werden. Fun Fact: Collateral, ebenfalls ein Mann-Film, kam fast zehn Jahre nach Heat in die Kinos und beginnt am Los Angeles International Airport, also dem Ort, an dem in Heat die Figur McCauley, gespielt von Robert de Niro, am Ende des Films erschossen wird – und endet nach etlichen Taxifahrten (mit einem Taxifahrer, der seine berufliche Situation als eine vorüber-gehende betrachtet) an derselben Station der Metro Los Angeles, an der Heat wiederum einsetzt.

2 Dark City: Architekt(o)ur als Dis-Position

2.6 Architektour: Schreber’sche Phantasmen Im Ausstellen seiner Künstlichkeit exponiert Dark City die Verfasstheit jener transitiven Architektur, die nicht nur aus dem imaginären Repertoire der Leinwandbilder schöpft, sondern selbst imaginär, genauer: phantasmatisch disponiert ist – und (ver)birgt daher nicht nur einen Zusammenhang zwischen Phantasma und Zitat, sondern entfaltet diesen Zusammenhang kinetisch-architektural. Eines der wenigen ›hellen‹ Zitate und dabei wohl deutlichster von Dark City gelieferter Verweis auf die (Bewegungen der) Psychoanalyse, ist die Figur des Daniel P. Schreber, trägt er schließlich den gleichen Namen wie jener berühmte Psychotiker, dessen Schrift Die Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903) Sigmund Freud eine umfassende Studie gewidmet hat (Freud analysiert Schreber nicht als Patienten auf seiner berühmten Couch, sondern nähert sich dessen Wahn über dessen autobiographische Schrift; Schreber, 1842 in Leipzig geboren, verstarb 1911 nur wenige Monate, nachdem Freud seinen Aufsatz verfasst hatte (vgl. Freud 1989c: 140)). Freud zeigte sich fasziniert von Schreber und dessen bis ins kleinste Detail arrangierter Montage eines »kunstvollen Wahngebäudes« (Freud 1989d: 143), von dessen Errichtung der berühmte Psychotiker selbst minutiös während seiner Aufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen Berichte anfertigte und so gewissermaßen seine Bautätigkeit nachvollziehbar werden ließ. Von der in Dark City auftretenden Figur des Daniel P. Schreber, die zunächst als Adjunkt der Strangers anmutet, erfährt man keine Vorgeschichte, was die Ursprungslosigkeit lanciert, die Dark City vielfältig und effektiv ins Bild setzt – »man könnte meinen, man fange irgendwo an. Aber das Irgendwo gibt es nicht« (Steinweg 2015: 70); zudem scheint die durchaus Züge eines Mad Scientist tragende Schreber-Figur Proyas’ nicht in Behandlung zu sein, sondern gibt sich Emma gegenüber gar als Murdochs Arzt aus. Wie ›Freuds Schreber‹ aber erscheint jener von Proyas als genialer Künstler und geriert sich als Projektleiter einer über einen labyrinthischen Komplex verlaufenden, architektural organisierten Experimentalanordnung, wobei er diesen in einer mise en abyme-Szene, in der der »Ereigniszusammenhang sozusagen im Kleinformat […] noch einmal dargeboten, reproduziert wird« (Schmeling 1987: 302), überschaut: In der Mitte des Films blickt er getaucht in grün-blaues Licht auf eine Maus, die durch ein großes Tischlabyrinth läuft (mise en abyme, den Abgrund und das Abgründige bereits im Namen tragend, meint die narrative oder bildliche Strategie einer Erzählung oder eines Bildes, sich in sich selbst abzubilden, also zu wiederholen und damit zu potenzieren und zwar zu dem Preis, just an dieser Stelle einen blinden Fleck aufzuweisen und auf die eigene Konstruiertheit aufmerksam zu machen). Mit dem vom Paranoiker begehrten omnipotenten, gottgleichen Blick (vgl. Freud 1989d: 193ff.) überschaut er ein Modell seines Labyrinths, durch das die Maus ihren Weg sucht, wobei das Tier in diesem Blick den Status eines Subjekts gewinnt, das sich wiederum in einem allegorischen Verhältnis zur architekturalen Umgebung befindet, was sich auch in dem hier anzitierten Minimalpaar house-mouse einmal mehr verdeutlicht bzw. wird die Maus auch zum Untersuchungsgegenstand, zu einem Objekt, das der Wirkungsmacht einer architektonischen Akteurin – der dark city – ausgeliefert ist. Die Konstellation aus Maus, Wissenschaftler und Modelllabyrinth exponiert die Situiertheit des Subjekts auf dem Feld des Anderen – eines anderen Schrebers, der die dark

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cities arrangiert42 ; Schreber befindet sich auch hier in einer »aus Verrückten bestehenden Umgebung« (Schreber 1973: 210), in der »Menschenspielerei« (ebd.: 213) betrieben wird. Die Szene wirkt wie ein Droste-Effekt und lässt Schreber – seinerseits Zitat des berühmten Psychosefalls, der ebendies tut: zitierend bauen, aus den Versatzstücken (traumatischer) Erinnerungen, und das ausgeklügelt, detailliert und logisch – zum Architekten, zum verrückten und verrückenden Bauherrn des Zitat-Mosaiks namens Dark City avancieren, insofern die in seiner Regie stehenden Subjektmanipulationen den Verschiebungen des urbanen Labyrinths, das eben auch ein Labyrinth aus Kinobildern und verschiebbaren Filmkulissen ist, korrelieren: Schreber – weniger die scheinbar navigierenden Strangers – konstruiert Phantasmen. McGowan diskutiert in Fighting Our Fantasies: Dark City and the Politics of Psychoanalysis – wo er, auf Žižeks Behauptung, Psychoanalyse und Politik seien im Kern als identisch zu denken rekurrierend, eine Beziehung zwischen dem ›Ende der Psychoanalyse‹ und politischem Handeln etabliert – die Frage, inwiefern jener Ort namens Shell Beach als Phantasma, als phantasmatischer Ort im Lacan’schen Sinn fungiert, der an der Stabilität des Stadtkonstrukts mitwirkt (vgl. McGowan 2004: 161) und ein zutiefst artifizieller ist, »ist die Natur, so wie sie sich dem Menschen darstellt, so wie sich mit ihm zusammenfügt, stets zutiefst denaturiert« (Lacan 2011: 300). Lacan und besonders Žižek haben auf die stabilisierende Wirkung des Phantasmas – »eine imaginäre Wirkung« (Lacan 1975: 125), die immer schon vom Symbolischen durchzogen ist – aufmerksam gemacht; als ein solches wird Shell Beach am Ende des Films tatsächlich enthüllt und im Akt der Enthüllung zum Verschwinden gebracht. Dass Murdoch später tatsächlich ein Shell Beach erschafft kraft seiner Tuning-Fähigkeiten, ist dennoch kein Indiz für das ›Wahrwerden‹ des Phantasmas, sondern Anzeichen für die Wahrheit (die, mit Lacan, die Struktur einer Fiktion43 hat (vgl. Lacan 1996c: 20)) des Phantasmas als Phantasma, das künstlich (also symbolisch, denn es »gibt keine symbolische Ordnung ohne phantasmatischen Raum« (Žižek 1999: 86)) erzeugt ist und gerade in seiner scheinbar wirklichsten Form – Murdoch scheint tatsächlich an einem sonnenhellen Strand zu stehen – seine Künstlichkeit und Kontingenz zu verstellen bemüht ist. Zwar geht McGowan recht in der Annahme, Shell Beach, diesen in der ewigen Ferne im künstlichen Licht schillernden Ort als Phantasma zu beschreiben, jedoch ist es m.E. ungenügend, eine phantasmatische Struktur nur für Shell Beach anzunehmen. Vielmehr erscheint das als Phantasma enttarnte Shell Beach als

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Philip K. Dick plante, Schrebers in den Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken entworfenen Kosmos als Science Fiction zu adaptieren, wie Rickels, wiederum die biographische Studie I Am Alive and You are Dead: a Journey Inside the Mind of Philip K. Dick von Emmanuel Carrère referierend, ausführt: »[…] Dick immediately fantasized writing up the Schreber delusional system as a science fiction novel, in other words as a happening event in an alternate universe« (Rickels 2010: 48). Zwar blieb das Projekt um das Schreber’sche Wahnsystem unvollendet, doch Rickels beschreibt in I Think I Am: Philip K. Dick die Systeme, die in Dicks Romanen und Kurzgeschichten, die immer mit der Frage, wie wirklich Wirklichkeit ist, umgehen, etabliert werden, als Adaptionen der Schreber’schen Logik, die der von in sich eingekapselten Feldern gehorcht. So auch Lacan im Seminar IV über die Objektbeziehung: »Die strukturale Notwendigkeit, die durch jeden Ausdruck der Wahrheit überwunden wird, ist eben eine Struktur, die dieselbe ist wie die der Fiktion. Die Wahrheit hat, wenn man das so sagen kann, die Struktur einer Fiktion.« (Lacan 2011: 300).

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Emblem dessen, was in Dark City die ganze Zeit über passiert, nämlich die transformatorischen Bewegungen der Gebäude durch das Trugbild einer vermeintlich stabilen Stadt und der Vorstellung vermeintlich konstant strukturierter Subjekte zu kaschieren – und lanciert damit das Credo, »dass das, was wir Subjekt nennen, alles andere als ein auf stabilem Boden operierendes Cogito ist« (Steinweg 2015: 30). Die phantasmatische Struktur der dunklen Stadt erschöpft sich nicht in einem goldig-glänzenden Strand, der als nicht vorhanden demaskiert wird, sondern gründet im sich selbst vor den Augen der BewohnerInnen als solchen verbergenden Kulissencharakter der Weltraumstadt selbst. (Die Stadt in) Dark City informiert über das als gelungene Vernähung des Symbolischen und Imaginären zu verstehende Phantasma als »ultimative[n] Rahmen unserer Welterfahrung« (Žižek 2001: 366) und erweist sich dabei als Zuhause, in dem man nie zuhause gewesen und doch immer schon eingesponnen worden sein wird und akzentuiert das Phantasma als das, was vom Anderen ent-worfen wird – was aus seiner Werkstatt stammt und von ihm produziert wird. Als realitätskonstruierendes Dispositiv, als stabilisierendes Gestell gibt das Phantasma ein (Realität genanntes) »Konsistenzversprechen« (Steinweg 2017: 71), das für eine Nacht besteht, sodass »[d]as Phantasma […] bei Lacan nicht nur individuell gedacht [wird], sondern hier schreiben sich gesellschaftliche und mediale Bedingungen ein« (Schmidt 2010: 54). Beide Konsistenzversprechen – Subjektidentität und Stadtarchitektur – werden nur für die Dauer je einer dunklen Nacht gehalten, um dann wieder zersetzt und zu neuen, schon im Voraus gebrochenen Versprechen geordnet zu werden, denn »Realität ist ein Konsistenzversprechen, das gebrochen wird« (ebd.) – und zwar ständig, ist sie doch ein »Konsistenzgewebe, das durchlässig für die Inkonsistenz bleibt, die Nietzsche den dionysischen Ungrund, Sartre das Loch der Freiheit, Deleuze & Guattari das Chaos, Lacan das Reale nennen« (Steinweg 2015: 126) – Reales, »das sich von der Realität unterscheidet« (Lacan 2017: 150), ist löchrig und zerlöchernd, zersetzt und zersetzend, porös, sowohl Lücke als auch (nicht assimilierbarer) Rest und (an der Bedeutung kratzender) Widerstand. Es ist eine Art programmatisches und dabei un-erfassbares Störsignal, unentwirrbar wie der Nabel des Traums44 (vgl. Freud 1989f: 503) »jenseits jeder Vermittlung, sei sie nun imaginär oder symbolisch« (Lacan 1991: 225), ist »ohne Gesetz« (Lacan 2017: 153) und »impliziert die Abwesenheit jeglicher Ordnung« (ebd).

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Träume weisen stets einen blinden Fleck auf, der sich jedem Zugang verweigert, den Freud als Nabel kennzeichnet und der immer im Dunkeln gewesen sein wird: »In den bestgedeuteten Träumen muss man oft eine Stelle im Dunkel lassen, weil man bei der Deutung merkt, dass dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will, aber auch zum Trauminhalt keine weiteren Beiträge geliefert hat. Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt« (Freud 1989f: 503). Derrida akzentuiert jenen »Omphalos« (Derrida 1998: 138) als »Knoten, den man nicht lösen kann« (ebd.: 142f.), als »undurchdringlich, unerforschlich, unergründlich, unanalysierbar« (ebd.: 142) und Lacan konfiguriert jenen »Narbenknoten« (ebd.: 141) als zentrales Klaffen: »Nicht ohne Folgen, auch in einem öffentlichen Diskurs nicht, fasst man die Subjekte ins Auge und berührt sie, nach einem Ausdruck Freuds, am Nabel – Nabel der Träume, schreibt er, und meint damit letzten Endes das Zentrum des Unerkannten – das, wie der anatomische Nabel, der jenen anderen repräsentiert, nichts anderes ist als die Kluft, von der wir sprechen.« (Lacan 1996b: 29).

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Das Phantasma ist kein reines Trugbild (denn mit der Verwerfung kommt, das zeigt Lacans Schreberanalyse, die Psychose (vgl. Lacan 1997: 179)), sondern hat konstitutive Funktion, ist eine Art Wirklichkeits-Stabilisator, ein realitätstragender (und doch einsturzgefährdeter) Pilaster und schützt davor, sich selbst als kastriert, auf dem Feld des Anderen situiert, zu reflektieren, was auch in Dark City bis zu der Nacht, in der Murdoch erinnerungslos in einer Badewanne aufwacht, mit allen von wo auch immer Herverschleppten und unter Verschleierung des Ortes der Verschleppung45 , gelungen scheint. Obwohl ZuschauerInnen die Verdichtung und Verschiebung die ganze Zeit über wahrnehmen können, ist dies den BewohnerInnen der dunklen Stadt zunächst nicht vergönnt; bei ihnen findet sich die Vernähung von Symbolischem und Imaginärem noch intakt in dem Maße wie die gegenseitige Bezeichnung von Subjekt- und Architektur(re)produktion kongruent erscheint – ein Fehler im System (unklar ist, was für einer) aber führt zu Murdochs eigentümlich amnesischem Erwachen, das ihn die »Inkonsistenz des kontingenten Konsistenzgewebes, das seine Wirklichkeit ist« (Steinweg 2015: 23) erfahren lässt. Wird er Zeuge der anderen BewohnerInnen verborgenen Bewegungen der Stadt, wird das Phantasma als verdeckender Zeichenkosmos ent-täuscht (vgl. Lacan 2010: 101), als Rahmen von Wirklichkeit rissig und leuchtet deshalb als ein solcher in unheimlicher Weise auf. Ein Kommentar Žižeks zur Auflösung des phantasmatischen Gestells liest sich daher wie eine Bemerkung zu Murdochs psychischer Verfasstheit zu Beginn des Films: Wenn der phantasmatische Rahmen sich auflöst, unterliegt das Subjekt einem »Realitätsverlust« und beginnt, die Realität als ein »irreales« alptraumhaftes Universum ohne sichere ontologische Fundierung wahrzunehmen; dieses alptraumhafte Universum ist nicht »bloße Phantasie«, sondern im Gegenteil das, was von der Realität übrig bleibt, nachdem ihr die Stütze der Phantasie entzogen wurde. (Žižek 2001: 74) Dark City beginnt mit einem Fehler im System, das dabei als solches allererst kenntlich wird, denn »[d]as Gewebe der Signifikanten, in das wir als sprechende Wesen verstrickt sind, ist nicht alles, und der Rest, der darin nicht aufgeht, kann jeden Moment zufällig über uns hereinbrechen« (Pabst 2004: 139). Dass das fragile System Reales, also bedrohliche Fehler, Leerstellen, Kontingenzpunkte benötigt bzw. inkludiert – denn »Fragilität ist ein ontologisches Merkmal von Realität. Immer wird Realität über dem Abgrund ihrer eigenen Brüchigkeit erzeugt. Sie indiziert die Instabilität jeglicher Fakten wie die Arbitrarität aller semiologischer Mythologien« (Steinweg 2015: 74) – illustriert Dark City anhand der Prozedur des Einspritzens, die der Spritzenmeister Daniel P. Schreber jede Nacht vollzieht, ist sie doch ein Vorgang der Subjektivierung und (vorstellungs)repräsentiert diese zugleich, insofern sie Metapher eigentlich undarstellbarer Subjektivierungsvorgänge wie zugleich metonymisch in mindestens doppeltem Sinn ist: Kontiguität, also Nachbarschaft, Kontakt, Berührung bewerkstelligt das Eindringen der Nadel in die

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Man weiß nicht, ob die Körper von der Erde kommen oder nicht – man kann nur sagen, dass die Bilder, aus denen die Stadt zusammengesetzt ist, aus dem Kino (der Erde) kommen. Von Bumstead gefragt, von woher man sie an diesen dunklen Ort gebracht hat, entgegnet Schreber: »I don’t remember. None of us remember that. What we once were, what we might have been … somewhere else.« (Proyas 2008: 01:24:39-01:24:48).

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Haut; zugleich steht sie metonymisch für das (Wieder-)In-Gang-Setzen aller Bewegungen, aller zitierenden Verdichtungen und Verschiebungen (der Stadt) in Dark City (ein). Metonymische Verschiebung und metaphorische Verdichtung sind – das stellen die imposanten Verdichtungs- und Verschiebungsszenen aus – untrennbar, haben keinen Anfang und finden kein Ende, sind vielmehr immer schon »offene[r] Abgrund« (Lacan 2016: 618). Die temporäre Stabilität der Stadt für eine Nacht – das Phantasma – entspricht der Metapher, wohingegen die nächtlichen Verschiebungsvorgänge Temporales darstellen und metonymisch von statten gehen; metonymische Kontiguität als Kontinuität liquidiert die metaphorische Diskontinuität in dem Maße wie diese jene unterbricht und stabilisiert. Injiziert Schreber die Nadel, inszeniert46 er das Prozessieren der Stadt und der Subjekte als Gleichzeitigkeit einer Agglomeration filmischer Zitate und der Einspritzung zitierter Erinnerungen; er zeichnet als Architekt, Bauherr und Ordner dieser Phantasmen verantwortlich, sodass hier eine zitierte Figur – und Zitieren heißt immer auch ab(ge)spenstig machen – selbst am Zitieren mitwirkt, insofern Schrebers im doppelten Wortsinn zu verstehende Verrücktheit an der Verrückung der Stadt mitarbeitet. Die als Zitat auftretende Schreber-Figur zitiert sich selbst, bevor sie anderes zitiert, macht sich gewissermaßen verrückter als sie schon ist und damit zugleich zum psychotisch genialen Erbauer wie auch Bauteil eines aus der Kinogeschichte zusammenzitierten Wahngebäudes. Schreber, dessen Namensvetter bereits in den Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken Grundrisse (die immer auch Risse des Grundes sind) von Kliniken und Geländen anfertigte, ist in allen Bedeutungsschichten des Begriffs unheimlich. Der Vernähung des phantasmatischen Netzes, das sich immer wieder neu zum für Realität gehaltenen Wahngebäude aufbaut, korrespondiert in D.C. der Einspritzungsprozess, geradeso neue Löcher stanzend und Subjekte in eine Ordnung einlassend, wobei im allegorischen Verhältnis von Subjekt und Architektur für die Architektur Ähnliches zu vermerken ist, lässt sich nur verschieben und verdichten, was Lücken und Fugen aufweist. Weder der zitierte und zitierende Schreber47 ist er selbst, noch

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D.C.‘s Schreber baut für alle, nicht nur für die Menschen des Experiments, denen er so einen phantasmatischen Rahmen, ein imaginäres Feld schafft, sondern auch für die Strangers, die letztlich genauso in das Phantasma inkludiert sind, stabilisiert doch Schrebers Phantasma deren Begehren nach der Erfassung dessen, was den Menschen menschlich macht, gleich mit und gibt damit auch für die Fremden einen szenischen Rahmen vor, schließlich werden nach seinen Anweisungen die Erinnerungsstücke im Untergrund der Stadt zusammengestellt, nach seinen Vorstellungen und Verfu(e)gungen werden Häuser und Straßen verschoben. Der damalige Senatspräsident des Oberlandesgerichts von Dresden Daniel Paul Schreber, Sohn des Vaters der Schwarzen Pädagogik, heftet sich mit seinen Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, so Wolfgang Hagen in Radio Schreber, zum Zweck der eigenen Rehabilitation an den Ende des 19. Jahrhunderts virulenten und damals durchaus als wissenschaftlich geltenden (medientechnischen) Diskurs namens Spiritismus, der wiederum anderen wissenschaftlichen Disziplinen anhängig ist; Hagen liest Schrebers Selbstanalyse als Text, »der zeitgenössisches, para-physikalisches Wissen verarbeitet, nämlich ein vor-modernes Wissen der Elektrizitäts-Physik und ihrer Medien, welches, ähnlich wie Schrebers Diskurs selbst, von einem psychotischen Signifikanten durchzogen ist […]« (Hagen 2001: 11), wobei er auf der Höhe des mediumistischen Diskurses seiner Zeit operiert – Schreber schreibt sich entsprechend in diese (psychotisch strukturierten) Kon-Texte hinein und reflektiert seinen Wahn als (letztlich ungreifbare) mediale Erfahrung. Schreber, der neben Kraeplins und Flechsigs psychiatrischen Schriften wohl u.a. auch Abhandlungen des Okkultisten Carl

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sind es BewohnerInnen der dark city wie auch Dark City selbst nicht ganz bei sich ist. Dass es Identität (im Sinne imaginärer Konsistenz) nur um den Preis des Schnitts, der Verletzung, des Stichs gibt, also um den Preis einer kontingenzstiftenden Lücke, die den phantasmatischen Zusammenhang in dem Maße möglich macht wie sie ihn zerreißt, pointiert Dark City mit der Prozedur des Spritzens. Mit jeder Injektion wird ein Stepppunkt – ein Polsterstich (vgl. Lacan 1997: 316) – gesetzt, der Symbolisches und Imaginäres konzentriert, um ein dichtes wirklichkeitstaugliches Netz, das Netz des Phantasmas zu weben, das diesen Stepppunkt als Konsistenzloch aufweist. Der Nadeleinstich indiziert den Niederschlag eines »fundamentalen Phantasma« (Lacan 1996a: 204), das einen festen Ordnungsraum etabliert48 , wobei dieser Ordnungsraum in Dark City immer schon als Ensemble verdunkelter Zitationen, das deshalb zugleich innen und außen und somit verunheimlicht ist, firmiert. Ist die Figur Schrebers Zitationen (de)organisierendes49 Zitat, wird die Unterscheidung zwischen Zitiertem und Zitieren-

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du Prel wie der Spiritisten Karl Friedrich Zöllner und Eduard von Hartmann, der besonders für seine Philosophie des Unbewussten (1869) Beachtung fand, konsumiert hat, transferiert zum Radio, ist Sender und Empfänger (göttlicher Strahlen) zugleich, kurz: Er konstruiert ein »Schreber-Ich. Dieses Schreber-Ich empfängt, wandelt (heisst: speichert und verarbeitet) und sendet wieder aus: einen virulenten philosophisch-monistischen, spiritistischen, theosophischen und psychiatrischen Diskurs« (ebd.: 37f.). Sich zum Objekt der Wissenschaft stilisierend, schreibt er »sich in einen Wahn hinein, der schon außerhalb seines Wahns existiert und ›wissenschaftlicher Spiritismus‹ heisst, um seinen Wahn von diesem Wahn grundsätzlich […] zu unterscheiden« (ebd.: 50). Die erst nach Schrebers Entmündigung fertiggestellten Denkwürdigkeiten werden schließlich im Leipziger Esoterik-Verlag von Oswald Mutze herausgegeben, der für seine spiritistischen Publikationen einschlägig bekannt war. Dazu Lacan in Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht: Sagen wir, das Phantasma in seiner fundamentalen Verwendung ist das, vermittels dessen das Subjekt sich auf der Ebene seines dahinschwindenden Begehrens halten kann, dahinschwindend deshalb, weil die Befriedigung des Anspruchs sofort ihm sein Objekt nimmt. (Lacan 1996a: 230). David Cronenbergs Body Horror bzw. Cronenberg als »Vertreter des schlock horrors« (Papenburg 2011b: 89) ist es ähnlich wie Schreber(s Schreiben) um eine »Desintegration des Organischen« (Pühler 2007: 84) wie die mediale Verhandlung bzw. Bedingung dessen zu tun. Verletzungen in Form von Schnitten, Rissen, Kratzern und Brüchen sowie Narben arbeiten etwa in der gleichnamigen Adaption von J.G. Ballards Crash (1996) an einer Neu-Kartographierung des verunfallten Körpers insofern mit, als sie Zonen der Fetischisierung errichten bzw. einkerben, findet doch durch bewusst provozierte Unfälle sowohl ein Schlachten der Körper als auch ein Gemetzel des Materials statt, wobei das Unfallgeschehen zum »Koitusäquivalent« (Riepe 2002: 161) avanciert. In Filmen des »Baron of Blood« (Hantke 2011: 55) wird das Perforieren des Körpers zelebriert, wobei »Risse in und Aufbrüche von Körperoberflächen in Form von Wunden und Narben von einem kalt-distanzierten, chirurgisch-nüchternen Kamerablick übertrieben präzise registriert und dokumentiert« (Papenburg 2011a: 94f) werden; Parasiten hingegen fressen sich sowohl in Shivers (1975) als auch in Videodrome (1983) durch diverse Körper wie dieser zugleich von bzw. mit skurrilen Öffnungen (etwa einem Kassettenschlitz im unteren Bauchbereich) zerfurcht wird; Naked Lunch (1991), ein Film vor allem über Drogen(rausch) und das Schreiben, konfrontiert den Kammerjäger Bill u.a. mit seiner Wanzenpulver fixenden Frau, einer käferartigen Schreibmaschine, aufgequollenen wie eingefallenen Junkies und weiteren eitrigen, schmatzenden und stinkenden Gestalten. Cronenbergs Filme sind dabei u.a. dem »Prinzip der Buchstäblichkeit« (Riepe 2002: 11) verpflichtet, nehmen also Metaphern wie etwa das Kopfzerbrechen wörtlich und lassen Körper um den Preis des Austritts des Inneren aufklaffen, wobei die Kamera häufig selbst zum Skalpell (vgl. Rauscher 2011: 229) arriviert.

2 Dark City: Architekt(o)ur als Dis-Position

dem genauso unhaltbar wie die vermeintliche Stabilität der Stadt selbst. Schreber ist im doppelten Sinne Architekt der dunklen Stadt, derjenige, der sie erbaut und überblickt und jemand der sie bewohnt und übersieht, wobei des seinerseits zitierten oder »hingewunderte[n]« (Schreber 1973: 101) Schrebers »Wunder« (ebd.: 208) oder »Wunderspuk« (ebd.: 118) metonymisch rück-kehren als das in dessen Auftrag stattfindende Tunen der Strangers, das »flüchtig hingemachte Männer« (ebd.: 109) und Frauen modelliert (im Director’s Cut sieht man erst Schwärze, dann die Stadt, darauf Schreber, die allesamt etwas miteinander zu tun haben). Schrebers zitierte Figuren zitieren ihrerseits den Mechanismus des Kinos, gespenstige und gespenstische DoppelgängerInnen der Darstellenden – »schattenhaft flüchtige Gestalten« (Kittler 1993: 97) – zu produzieren. In der dunklen Stadt gibt es ein »Wuchern der Schreberschen Phantasmen« (Weber 1973: 17) zu verzeichnen und das Herbeirufen dieser stets brüchigen, durch andere (Kino)Bilder arrangierten Phantasmen organisiert jener andere Schreber, sodass Dark City immer schon ein Schreber’scher Director’s Cut gewesen sein wird. Seine Blaupausen werden den »wundervolle[n] Aufbau« (Schreber 1973: 82) der verdunkelten Stadt arrangiert haben, wobei die von ihm injizierte Flüssigkeit das Eindringen einer grund-legenden äußeren Struktur, die das Subjekt befähigt, »sich als den Maschinisten, als eigentlichen Inszenator der ganzen imaginären Verhaftung zu betrachten, deren lebende Marionette es anders nur darstellte« (Lacan 1996a: 229), bewirkt. Die Frau etwa, die Emma ›ist‹, glaubt sich ihrer Identität sicher sein zu können, schließlich erinnert sie sich an alles, was in ihrem Leben bisher geschehen zu sein scheint – sie glaubt sich durch die sie organisierende phantasmatische Struktur als Ehefrau John Murdochs, die eine Affäre hatte und deren Mann drei Wochen zuvor seine Koffer gepackt hat und ins Hotel gezogen ist. Der (Schauspieler des) Portier des Hotels zu Beginn wiederum tritt zu einem späteren Zeitpunkt des Films als Besitzer eines Zeitungskiosks auf, wo er auf die Frage, ob er denn schon immer diesen Job haben würde, Murdoch »25 years. No days off for good behavior« (Proyas 2008: 00:51:45-00:51:48) antwortet; D.C. pointiert, dass es »kein konsistentes Selbst, solange dieses Wort ein stabiles Eigentum benennt« (Steinweg 2015: 93), geben kann, denn »[h]eute wissen wir, dass Realität eine metaphysische Konstruktion ist« und »dass alle Wissenskonstruktionen« – wie die dunkle Stadt tatsächlich selbst – »schwebende Architekturen über dem Abgrund einer universellen Inkonsistenz sind« (ebd.: 119). So macht das Phantasma auch vor seinen ErzeugerInnen nicht Halt, es wuchert weiter bis in die intradiegetisch höchste Instanz, Daniel P. Schreber selbst, der sich als Spritzenmeister, also seinerseits als ›Maschinist‹ und Inszenator gibt, doch einerseits genau deshalb der phantasmatischen Struktur unterliegt und andererseits selbst bereits Inszeniertes ist – und vielleicht ist der zitational hingewunderte Schreber ohne es zu wissen in seinem hinwundernd tunerischen Tun nichts weiter als eine Wahnvorstellung des Freud’schen Schreber. In den Denkwürdigkeiten habe dieser Schreber nämlich anzunehmen, dass auf irgendeinem entfernten Weltkörper in der Tat ein Versuch mit der Erschaffung einer neuen Menschenwelt (»neuen Menschen aus Schreber’schem Geist«, wie sie mit einer auch seitdem unzählige Male gebrauchten, spöttisch gemeinten Redewendung/genannt wurden) wahrscheinlich also unter Benutzung eines Teils meiner Nerven gemacht worden sind. (Schreber 1973: 158)

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Die Benutzung eines Teils meiner Nerven liest sich als Allegorie intertextueller Zitation: Ein Teil der Nerven, der benutzt wird ist der Ein-Satz eines aus dem Zusammenhang gerissenen und in einen neuen eingefügten Bruch- oder Bauteils, wobei es viele dieser Bruchteile, durch die in dem entfernten System Dark City (entfernt im Sinne von weggenommen wie im Sinne von fern von hier) unzählige dark cities entstehen und vergehen, gibt. Wie der historische Schreber ein detailliertes Modell seiner Wahnwelt anlegt, erbaut die gleichnamige von Kiefer Sutherland gespielte Figur in Dark City immer wieder andere, verschobene und bereits provisorisch verworfene Entwürfe eines städtischen Labyrinths, das als kinetisches zu einem unheimlichen wird und wie sein Erbauer selbst aufgrund der herrenlosen Zitate, aus denen es besteht, überall und nirgends seinen Ort hat – ausgedrückt durch die spektakuläre Ansicht50 der Stadt als wie auf einer Petrischale im All schwebend. Insofern lässt sich für Dark City die Temporalität einer Theatralität gewahren, wie sie Samuel Weber beschreibt: Die dunkle Stadt ist ob ihrer bodenlosen Beweglichkeit stets »Vor Ort« (Weber 1998: 32), zugleich anwesend und im Begriff, anwesend zu werden; der vermeintlich stabile, sich hier und jetzt auffindende Ort avanciert zum Vor-Ort, der immer schon anderswo, nicht zuhause, unheimlich ist und dem andere nachfolgen. Ständig entstehen neue Ansichten – und die Ansichtskarten und Plakate von Shell Beach erscheinen als Embleme dieser Ansichten –, neue und doch immer schon der weiteren Verschiebung anheim gegebene Phantasmen.

Abbildung 25: Alex Proyas, Dark City, 01:27:51 Abbildung 26: Alex Proyas, Dark City, 00:09:22

2.7 Phantasmatische Durchquerungen? Das Phantasma, aus dem es in Dark City – obwohl die Handlung anderes suggeriert – kein Entkommen gibt, das nicht restlos durchquert werden kann, um es irgendwie hinter sich zu lassen, fungiert daher in doppeltem Sinn als Leinwand: Der Raum des Subjekts überlagert sich mit dem Raum der Leinwand, die wiederum Zitation von Leinwandgeschichte ist; es gibt kein ›Hinter-der-Leinwand‹, außer weitere Leinwände – ein Umstand, der von der Filmhandlung ausgefaltet wird. Eine biographiefreie Einzelfigur –

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Eine Perspektive, die es eigentlich gar nicht geben dürfte: »After Bumstead’s body leaves the world of the city and enters into space, the next shot depicts the city subjectively – from the impossible perspective of Bumstead as he floats lifelessly through space« (McGowan 2004: 167).

2 Dark City: Architekt(o)ur als Dis-Position

Murdoch – findet sich zunächst in geradezu existentialistischer Manier auf sich allein gestellt und begegnet der Unwirklichkeit ihrer Welt mit ihrer ungewissen Durchquerung. Die Stadt, in der Murdoch ein Leben zu leben glaubte, erweist sich als transitive Kulisse eines Experiments, eines phantasmatischen Zuhause, dessen Unheimlichkeit sich in (der Offenlegung) seiner Verfasstheit als selbst schon unheimliche Kulisse dartut; diese Unheimlichkeit wird nicht nur durch den gejagten Protagonisten, sondern auch und vor allem durch die Figur des ehemaligen Ermittlers Eddie Walenski, der wohl auch dazu beiträgt, dass Bumstead die Vorgänge (in) der dark city erkennt, akzentuiert. Der vermeintlich vom Wahnsinn gezeichnete Walenski wurde bereits vor einigen Wochen vom Dienst befreit, da er die zyklischen Verschiebungen der ihn umgebenden Architektur erfasst hat und daran irre geht – Walenski »got the heebie-jeebies« (Proyas 2008: 00:11:51-00:11:53), erkennt er sich doch als arrangierte Figur in einer (Film)Kulisse, was schließlich im Suizid endet, indem er sich vor die im Kreis fahrende U-Bahn wirft; als Murdoch nach Walenskis Freitod verhaftet und einem Verhör unterzogen wird, gibt er zu verstehen: I don’t think the sun even exists in this place. 'Cause I’ve been up for hours and hours, and night never ends. […] [I]t’s crazy! But listen to me, Bumstead. It’s not just me. It’s all of us. They’re doing something to all of us. (Ebd.: 01:12:27-01:12:45) Auch Bumstead, jener Polizist, der Murdoch zunächst als Verdächtigen ins Visier nimmt, um ihm später zu helfen, ereilt ein tödliches Schicksal. Wenn Murdoch und Bumstead nach einer durchaus anspielungsreichen Kahnfahrt schließlich dort ankommen, wo sie Shell Beach vermuten, treffen sie genau auf das, was Shell Beach tatsächlich ist: Ein Bild (gewissermaßen ein ›kleines‹ Phantasma eingelagert ins ›große‹ Phantasma). Sie stehen vor einer meterhohen Plakatwand und sehen sich mit der Zweidimensionalität des vermeintlichen Urlaubsortes ihrer Kindheit und Jugend konfrontiert. Aitken schlägt an dieser Stelle in seiner Lektüre zu städtischen Räumen in SciFi-Filmen vor, die Zerschlagung der Plakatmauer als Durchquerung des Phantasmas, gewissermaßen seine Überwindung durch Erkennen der phantasmatischen Verfasstheit, zu verstehen: »Protagonists escape beyond the law of the father by crossing the border of the city« (Aitken 2005: 118), wobei jedoch unklar bleibt, welche Grenze hier überschritten worden sein soll, denn es gibt für Subjekte kein begeh- oder betretbares Außen von bzw. der (Stadt in) Dark City. Bumstead ist gewissermaßen der Einzige, der tatsächlich die Grenzen des Phantasmas überwindet, indem er buchstäblich aus ihm hinaus- und in den Tod geschleudert wird; die symbolischen und imaginären (An)Ordnungen kennen nur ein radikales Außen (vgl. Sartre 1966: 673ff.), das hier den Tod meint. Vielmehr akzentuiert Dark City, dass die Durchquerung des Phantasmas selbst zum Phantasma verkommen ist: Überquert wird keine Grenze, die in ein Jenseits der Stadt oder Außen führt, auch wird kein Bruch mit den bereits arrangierten Bildern erreicht – vielmehr wird sich (wieder) in der Ordnung eingerichtet, in die man bereits hinein ent-fremdet wurde – »trotzdem bleibt bei all diesen Rekonfigurationen dasselbe fundamentale Phantasma am Werk« (Žižek 2001: 365). Wir alle sind der bzw. im Schein unseres Phantasmas und werden es nicht mehr los – und selbst diese Einsicht bleibt nicht ohne eine gewisse Phantasmatik bzw. gibt es nur um den Preis einer solchen.

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»Durchqueren des Phantasmas« bedeutet gerade nicht, was dieses Wort scheinbar einer gemeinverständlichen Annäherung nahe legt: »Die Phantasmen loswerden, die illusorischen Vorurteile und Falschwahrnehmungen, die unsere Sicht auf die Realität trüben […]«. Im »Durchqueren des Phantasmas« lernen wir nicht, unsere phantasmagorischen Produktionen hinter uns zu lassen – im Gegenteil, wir identifizieren uns sogar noch viel gründlicher mit dem Werk unserer »Einbildungskraft« in all seiner Inkonsistenz […]. (Žižek 2001: 74) Gerade die Erschaffung eines (neuen) Shell Beach durch Murdochs perfektioniertes Tuning reaffirmiert die Phantasmagorie der a(A)nderen, des anderen Schrebers; die Entstehung dieses Strandabschnitts unterstreicht die Unmöglichkeit jedes Verlassens des Feldes des Anderen, dementiert den Ausbruch aus einer aus Zitaten zusammengesetzten Stadt und zitiert und zitiert und zitiert… Selbst in der letzten, exponiert Kinoromanzen zitierenden, hyperkitschigen Szene, in der Shell Beach durch Murdochs Fähigkeiten aus dem Boden getunt wird, werden ZuschauerInnen ZeugInnen einer medialen Geburt, einer Design-Erstehung, war dieser Strand doch immer schon Bild – als Postkarte, Werbeplakat und Vorstellung – und wird Bild – Filmbild – bleiben, sodass das Phantasma ein unhintergehbares gewesen sein wird.

2.8 Spiralen/Labyrinthe Das – Reaffirmation via ausgelassener Zitation – ist genau keine grenzen- und bodenlose Herrschaft des Phantasmas, indiziert seine Beweglichkeit (wie ein das Gleiten des Signifikanten ins Bild setzendes Schiebepuzzle) doch seine Lückenhaftigkeit. Ohne Lücke, ohne Reales also, kein Phantasma und keine permanente, symbolische Permutierbarkeit desselben, wofür Dark City eine weitere Allegorie bereithält: die Spirale. Sie ist sowohl auf den Mordopfern als auch in Form von Murdochs Fingerabdrücken zu finden und erscheint daher als Ornament des städtischen Labyrinths, sofern sie eine Architektur figuriert, die spiralförmig iteriert: eine sich windende und verschiebende, labyrinthische Architektur, die allnächtlich ihr anderes herräumt und zugleich über Dasein als sich wiederholendes Winden zwischen diversen Identitäten informiert. Als Bumstead im ersten Drittel des Films am Tatort ankommt und die ermordete Prostituierte auf dem Boden vor ihrem Bett liegen sieht, fällt sein Blick auf die Spiralen, die der Toten in den Körper geritzt worden sind. Als er sieht, wie man die Leiche zugerichtet hat, bemerkt er nüchtern: »Round and round she goes. Where she stops? Nobody knows.« (Proyas 2008: 00:13:57-00:14:06). Zunächst erinnert diese Aussage an den Alltag einer Prostituierten, der einer stetigen Routine des ›Ausziehen – Sex Haben – Wieder Anziehen‹ gehorcht und aus der kaum ausgebrochen werden kann. Im Nachgang wirkt Bumsteads Ausspruch jedoch wie eine Beschreibung der Stadt selbst; she meint sowohl die Frauenleiche als auch die Stadt51 , die sich gewissermaßen immer wieder im Kreis der Zitation dreht und sich so labyrinthisch verschachtelt, ist die Spirale 51

Städte als weibliche Dispositive (im doppelten Sinn des Ausdrucks von der Weiblichkeit der Stadt, also einerseits zur Feminität der Stadt, andererseits ihre Einwohnerinnen betreffend) zu beschreiben, ist weder der Urbanitätsforschung noch der Großstadtlyrik schon wegen des grammatikalisch

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ein einfaches Labyrinth, das in seinen Windungen einen komplizierten Pfad zum Mittelpunkt bildet. Eine klare Trennungslinie zwischen Labyrinth und Spirale lässt sich schwer ziehen, denn im Grunde bezeichnet das Wort Labyrinth lediglich einen komplizierten Weg oder Baukörper. Ursprünglich scheinen Labyrinth und Spirale als Bedeutungsträger austauschbar gewesen zu sein. (Koerner 1983: 27) Dark City ist infiziert mit labyrinthartigen Strukturen, avanciert die Spirale – zu deren »Bestimmung […] die Begriffe Approximation, Progression, Iteration und Variation [gehören]« (Amthor 2007: 198) – zu einer Figur, die durch Kerben, Schnitte und Aussparungen zum Labyrinth verrätselt wird und daher »eine Raumform mit paradoxer Struktur« (ebd.: 197) ist. Zunächst ist es Murdoch52 , der sich in der Tradition des NoirKinos durch ein figuratives Labyrinth aus Stimmen, Erzählungen und Personen bewegen muss. »The basic structure of film noir is like a labyrinth with the hero as the thread running through it. He starts out on a quest […]« (Dyer 1977: 18). Die labyrinthartig sich schlängelnde Struktur betrifft dabei nicht allein die verworrenen, undurchsichtigen Zustände und Beziehungen auf Seiten Murdochs, sondern bezieht sich auch auf die Sprunghaftigkeit der Narration, die sich nicht an chronologisches Vorgehen halten will wie auch auf die filmspezifischen Verfahren der Narration wie Überblendungen, visuelle und akustische Verzerrungen, was D.C. erneut in die Nähe des Noir-Filmkonzepts rückt. The labyrinth is formed not just from the tortuous complexity of narrative intrigues, but also from the recurrent use of representational strategies – such as voice-over, flashback, optical point-of-view, simulated dreams, nightmares or hallucinations – that serve to engulf the drama in a vortex of subjective overdetermination. Those

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meist weiblichen Geschlechts des Stadtsignifikanten in diversen Sprachen nicht fremd (la ville etwa im Französischen oder la ciudad im Spanischen); bezeichnet bereits die Bibel in verweiblichender Manier die Stadt Babylon als Hure und Jerusalem als Braut, so wurden etwa auf Werbeplakaten im Rahmen der XVII. Triennale in Mailand im Jahr 1987 neun italienische Städte durch Frauenportraits repräsentiert, die sich jeweils über dem Stadtnamen abgebildet fanden und entsprechend eine »Analogisierung von Stadt und Frau auf dem Plakat« (Weigel 1995: 120) verzeichnen – Weiblichkeit und Stadt sind einander überlagernde Diskurse, die auf- und ineinander wirken. Fand 2011 im Düsseldorfer Stadtmuseum unter dem Titel Die Stadt ist weiblich eine Ausstellung zur Geschichte der Stadt als auch der Lebensgeschichten ihrer Bewohnerinnen statt, zeigt Lauren Elkin in ihrer 2018 erschienenen Monographie zum weiblichen Pendant des Flaneurs – der Flaneuse – wie Frauen, darunter die Autorinnen Virginia Woolf und George Sand oder die Hauptfigur aus Frühstück bei Tiffanys den Stadtraum auf andere, nicht-männliche Art und Weise durchwandern und ihm und ihrem eigenen Durchschreiten insofern andere Qualitäten abgewinnen können, als man sie bisher ausschließlich von Männern gewohnt war: »Sie alle sind Männer, und sie schreiben stets über die Arbeiten anderer Männer und schaffen so einen reifizierten Kanon schreibender, spazierengehender Männer. Als wäre der Penis eine Art Wanderstab, ein notwendiges Anhängsel, das man zum Gehen braucht« (Elkin 2018: 33). Die im Verbrecherverlag u.a. von Ö.Ö. Dündal publizierte Anthologie Flexen – Flaneusen schreiben Städte (2019) versammelt hingegen Beiträge verschiedener Akteurinnen, die einen je anderen Blick auf ›ihre‹ Städte (und deren besonders für Frauen prekäre Zonen) anbieten und dabei auch je anders mit dem Flexbegriff umgehen. Somit ist es auch hier wieder ein Mann, der sich in einem Stadtlabyrinth bewegt, für das Schreber, ein weiterer Mann, verantwortlich zeichnet, sodass man zugleich auch von einer Unweiblichkeit der Städte sprechen kann, die einerseits die Abwesenheit von Architektinnen als auch die Verdrängung des weiblichen Subjekts aus der Stadtplanung bedeutet (vgl. Weigel 1995: 120).

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who journey through this expressionistic labyrinth of urban nightmare are blocked continually by the unmappability of the world […]. (Krutnik 1997: 91) Die kinetische Architektur von Dark City ist, wie gezeigt wurde, phantasmatisch, zitational und insofern unheimlich, als sie nie sie selbst, immer auf den anderen Ort bezogen, gewesen sein wird und insofern auf die kontingente Permanenz des stets vom Realen durchbrochenen und in Gang gehaltenen Verdichtungs- und Verschiebungsvorgangs der Stadt in und gegen sich selbst verweist, wobei das »Reale – um mit Lacan zu sprechen – […] nicht die Realität [ist]. Es ist die Realität – das Universum etablierter Gewissheiten, Evidenzen und Konstanten –, indem es deren ontologische Ungewissheit und Fragilität indiziert« (Steinweg 2015: 125), ist also (zum Funktionieren gehörende) Störung, Widerstand, Perturbation, ein Knacken und Rauschen. Die filmische Bewegung bleibt ebenso, aber brüchig, bestehen, wie die Leinwand, um weitere Bewegungen und Leinwände, weitere sich bewegende und schon im Vorfeld kompromittierte Städte hinzutun(en), zu bewegen und wieder verschwinden zu lassen. So bleiben in der gespaltenen und sich vielfach in sich wiederholenden Verknotung53 von Realem, Imaginärem und Symbolischen auch relative und absolute Bewegung in ihrer Zwietracht phantasmatisch verkan(n)t(et). Die Unheimlichkeit unheimlicher Architektur (ab-)gründet in ihrer Kontingenz, insofern sie sich jederzeit selbst durchkreuzen kann, wobei die Instabilität unheimlicher Architektur zugleich ihre Beschreibung betrifft: Dark City gibt sich als Darstellung über Darstellungsproblematiken und stößt somit nicht nur an die Ränder des Phantasmas, sondern faltet das durch das Phantasma Abgeschirmte, das Undarstellbare, ins Phantasma ein, um es in Bewegung zu setzen und so seine Funktion zu exponieren – um aber auch diese Exposition wiederum als Phantasma zu entlarven. Dass Repräsentationsverhältnisse durch das Wirken des Realen, das weder imaginiert noch symbolisiert werden kann, weshalb es immer wieder nach Symbolisierung wie Imaginierung trachtet und dabei »in der Schwebe ist« (Lacan 2017: 150) und »in der Luft hängt« (ebd.), eher schiefals aufgehen, beschreibt die Psychoanalyse mit dem performativen Begriff der Vorstellungsrepräsentanz54 , der durchaus als Reformulierung des v.a. im Ursprung des deutschen

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Lacan stellt die Beziehung der drei psychischen Register des Imaginären, des Symbolischen und des Realen im Bild des (geplätteten) Borromäischen Knotens, in dessen ›Felder‹ er zusätzlich Begriffe wie etwa Sinn und das Objekt klein a verortet, dar und verknotet sie einmal mehr, insofern jedes der drei Register jeweils von den beiden anderen durchzogen, infiziert wird: Es gibt das reale Symbolische, das symbolische Symbolische und das imaginäre Symbolische wie es das imaginäre Reale, das symbolische Reale und das reale Reale gibt usw. (Vgl. Lacan 1986: 137ff.). Die drei Schlingen des Borromäischen Knotens können nicht voneinander gelöst werden, sie sind immer schon ineinander verschlungen – trennt man einen heraus, löst sich der ganze Knoten auf. Der Begriff ist bereits bei Freud, wenn auch kaum systematisiert und stellenweise durch Parenthesen von sich selbst getrennt, so zumindest zu lesen und macht bei bzw. mit Lacan und Žižek einiges durch: Besonders in den um 1915 publizierten Aufsätzen, darunter Triebe und Triebschicksale, Die Verdrängung und natürlich Das Unbewusste denkt Freud über den Zusammenhang von Trieb, selbst an der Schnittstelle von Somatischem und Psychischem, und (dessen) Repräsentanz nach, was ihn veranlasst, ein ›Zweiphasenmodell‹ für den Verdrängungsmechanismus bzw. -apparat zu veranschlagen: »Wir haben also Grund, eine Urverdrängung anzunehmen, eine erste Phase der Verdrängung, die darin besteht, dass der psychischen (Vorstellungs-)Repräsentanz des Triebes die Über-

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Trauerspiels (1928) wie im Passagenwerk (1982) ent-wickelten Allegoriebegriffs Walter Benjamins gelten kann, sieht die Allegorie »das Dasein im Zeichen der Zerbrochenheit und der Trümmer« (Benjamin 1991b: 416), ist »erstarrte Unruhe« (ebd.: 463) und weist eine gewisse »Sprödigkeit« (ebd.: 473) auf. Hier wie da handelt es sich um »Platzhalter, Substitute, verschobene oder anamorphotisch verzerrte Bilder, nie bekommt man ›die Sache selbst‹ […] zu Gesicht: alles Erkennen ist Verkennen« (Braun 2010: 54). Vorstellungsrepräsentanzen, (ebenfalls) mit Begriffen wie Zerstückelung und »Bruchstück« (Benjamin 1991b: 441), Schutt und Verschüttung wie dem Segment verbunden, sind gewissermaßen »nichtrepräsentative Repräsentant[en]« (Lacan 1996b: 229)55 , bei denen es weder darum geht, die eigentliche Wahrheit der Strukturen zu offenbaren, noch sich bis ins Letzte ihren imaginären Darstellungen hinzugeben, sie also vollständig enträtseln zu wollen – »man könnte sagen: ›die‹ Wahrheit ist ur-verdrängt, an ihrer Statt finden sich nur Vorstellungsrepräsentanzen ein« (Braun 2010: 229)56 , die wiederum von der Bodenlosigkeit des Vorstellungs- bzw. Repräsentationsvorgangs zeugen57 . Vorstellungsrepräsentanz ist »Marke des Mangels« (Žižek 1991: 84), Ausweis des Fehlens, »ein Zipfel, ein Stumpf. Gewiss ist es ein Stumpf, um den herum das Denken stickt« (Lacan 2017: 134) und hinkt gewissermaßen immer ein Stück hinterher, lässt also zugleich Überreste – Verstelltes bleibt verstellt, wird nicht eingerenkt. Was zuerst da war – Subjekt, Gebäude oder der Vorgang ihrer Konstruktion – kann nicht gewusst werden, insofern Vorstellungsrepräsentanzen58 ein unlösbares Spannungsverhältnis ausdrücken, das die imaginären Fes-

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nahme ins Bewusste versagt wird« (Freud 1989e: 109), wobei das Urverdrängte wie ein Magnet – Lacan spricht im Seminar XI von einem »Anziehungspunkt […], durch den alle weiteren Verdrängungen ermöglicht werden« (Lacan 1996b: 229) – auf vom Bewusstsein Abgestoßenes wirkt; weiter heißt es: »Das allgemeine Schicksal der den Trieb repräsentierenden Vorstellung kann nicht leicht etwas anderes sein, als dass sie aus dem Bewusstsein verschwindet […]« (Freud 1989e: 113). »Das Fort-da-Spiel ist in Lacans Augen die Repräsentanz der Vorstellung und zielt auf das ab, was wesentlich nicht da ist, und zwar gerade insofern, als es repräsentiert wird durch ›o-o-o-o‹ und ›Da‹« (Braun 2010: 135). Žižek zufolge ist der Titel von Poes The Purloined Letter als Vorstellungsrepräsentanz zu verstehen, insofern er den Platz des fehlenden, weil einen Umweg nehmenden, sich aufschiebenden Briefes, einnimmt (vgl. Žižek 1991: 83). Lacans Schriften und Seminare sind nicht nur Diskurse über den »Anderen als Ort des Unbewussten« (Lacan 2017: 139), sondern zugleich (vom (Wirken des) Realen ge- und zerbrochener) Diskurs des Anderen, was sich auch und vor allem dann zeigt bzw. prozessiert (wird), wenn Lacan die Verfahrensweisen der eigenen Darstellungsmöglichkeiten be-spricht, wie etwa im Seminar XXIII zum Sinthom, das er in die Verschlingungen des Borromäischen Knotens integriert und dabei darauf hinweist, dass jeder noch so (farbig illustrierte) Visualisierungsversuch (borromäischer Verfilzungen) keine Beständigkeit im Sinne imaginärer Konsistenz beanspruchen, sondern immer nur vorläufig, von kurzer Dauer und flüchtig sein kann, denn »[d]er borromäische Knoten ist kein Modell, insofern er etwas an sich hat, woran die Imagination scheitert« (ebd.: 44): »Ich bin gezwungen, mir zu sagen, dass es Vernünftiges gibt, das dienlich sein kann, zumindest provisorisch. Aber dieses Provisorische ist fragil. Ich bin nicht sicher, wie lange es dienlich sein kann« (ebd.: 130). Alle Darstellung wird immer schon zeitweilig, also vorüber-gehend gewesen sein, denn »[d]as Reale steckt alles in Brand« (ebd.: 131). Rolf Nemitz stellt in seinem Blog Lacan entziffern einem Artikel über den Begriff der Vorstellungsrepräsentanz ein Gemälde voran, das treffender nicht hätte sein können: Cornelis Gijsbrechts Rückseite eines Gemäldes von 1670, das seinem Titel entsprechend die Rückseite einer gerahmten Leinwand abbildet. Lacan wiederum weist im Zusammenhang seiner Analyse von Diego Velázquez’ Las

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tungen ebenso zum Einsturz bringt wie die nach diesem Einsturz vermeintlich offenliegenden Einsichten in die symbolischen Operationen, die zu ihrer Errichtung geführt haben werden. Daher wendet der Film so viel Zeit und Bild auf, das allegorische – und damit zugleich nie ganz deckungsgleiche, weil schon durch die wesentliche Verschieb- und Verdichtbarkeit Lücken und Bruchstellen feilbietende und gerade insofern vorstellungsrepräsentative59  – Verhältnis von (verdicht- und verschiebbarem) Subjekt und (verdichtund verschiebbarer) Architektur zu entfalten. Architekturen, die als kinetische Labyrinthe unheimlich sind, stehen immer auf der Kippe, wenden sich in Ermangelung eines Fundaments, ohne festen Grund gegen eine Metaphysik der Präsenz – nicht, indem sie sich der Präsenz entziehen, sondern zwischen dieser – das kurze Stillstehen der Häuser, Straßen und Orte hält (sich als) vorüber-gehende Stabilität(smetapher) – und Entzug – die Vollzüge des Verdichtens und Verschiebens – oszillieren.

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meninas in dem noch unübersetzten Seminar XIII auf das im linken Bildrand von hinten zu sehende kleine Stück Leinwand, die als gemalte Rückansicht zur Vorstellungsrepräsentanz wird. In der Fassung der Allegorie nach Benjamin gibt sie keine Repräsentation, sondern »das Nichtsein dessen, was es vorstellt« (Benjamin 1991a: 406) und damit ihre eigene Brüchigkeit, Unvollständigkeit zum Besten. Nie ist sie ganz bei sich, insofern ihr immer etwas abgeht: »Nichtsdestoweniger aber steckt […] in jedem Sammler ein Allegoriker und in jedem Allegoriker ein Sammler. Was den Sammler angeht, so ist seine Sammlung ja niemals vollständig; und fehlte ihm nur ein Stück, so bleibt doch alles, was er versammelt hat, eben Stückwerk, wie es die Dinge für die Allegorie ja von vorneherein sind.« (Benjamin 1991b: 279).

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Abbildung 1: M.C. Escher, Möbiusband II, 1963

Zu Spiralen verwirbelte Fingerabdrücke sind nicht nur ein in Dark City ausgespieltes Emblem der Figuration eines in sich gewundenen (und sich permanent weiterwindenden) Architekturkomplexes, sondern arrivieren auch im japanischen Horror-Film Uzumaki aus dem Jahr 2000 u.a. in Form von Zungen, Fischröllchen und ungewöhnlichen Frisuren zur Mastertrope und werden sowohl in Darren Aronofskys mother! (2017) als auch in David Lynchs Lost Highway (1997) zum narrativen Prinzip erhoben. Gerade das Medium Film versteht es, wie hier in einem kurzen Übergang zur spezifischen Möbiusarchitektur von Vincenzo Natalis Cube (1997) zu zeigen ist, die Figur der Spirale zum besonders in der Lacan’schen Psychoanalyse prominenten Möbiusband zu verzwirbeln bzw. das Möbiusbandhafte der Spirale hervorzufalten und in seine Filmarchitektur einzubauen. Der 2000 unter der Regie von Higuchinsky (Akihiro Higuchi) entstandene japanische1 Mysteryhorror-Film Uzumaki bemüht ein ähnliches, die Chronologie der Handlung

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Japanische Horror-Filme wie etwa Ringu aus dem Jahr 1998 haben seit Beginn des neuen Jahrtausends Hochkonjunktur. Dabei ist es modernem J-Horror besonders um die Verknüpfung von aus volkstümlichen Erzählungen bekannten und entsprechend alten Flüchen mit der Technik des 20. und 21. Jahrhunderts zu tun (vgl. Glaser 2012: 85) – der Schrecken steckt in den bzw. kommt aus Medien wie Fernseher, Telephon oder dem Internet.

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in Schleifen legendes Prinzip wie in der Folge auch Natalis im nächsten Kapitel zu analysierender (Cube in) Cube und spielt dabei die Labyrinthik der rätselhaften Figur der Spirale aus: Die Adaption des zwei Jahre zuvor erschienenen gleichnamigen Mangas von Junji Itō erzählt von Ereignissen im kleinen Ort Kurouzu, die sich um die Figur der Spirale konzentrieren; etwa sehen ZuschauerInnen bereits in den exponierenden Szenen am Fuße einer Wendeltreppe in der örtlichen Schule die bizarr lächelnde Leiche eines Lehrers liegen, wobei die Kamera langsam jenes Treppenauge2 hinauffährt, durch das er zuvor in die Tiefe gestürzt ist. Der in vier Kapitel gegliederte Film zeigt, nach einem Close Up auf das Auge der Halbwaisen Kirie Goshima, zu Beginn ebendieses rot bemantelte Mädchen mit schnellen Schritten durch die verwinkelten, unübersichtlichen Gassen eines japanischen, scheinbar nur durch einen Tunnel erreichbaren Bergdorfes laufen. Dabei trifft sie auf Toshio Saito, den Vater ihres Freundes Shuichi, der mit seinem Camcorder fasziniert das spiralförmige Haus einer an einer Steinwand klebenden Schnecke filmt und später einen Teller mit Spiralmuster bei Kiries Vater, dem Dorftöpfer, in Auftrag gibt, bevor er seinen Körper schließlich im Zuge eines Suizids in der Trommel einer Waschmaschine zur grotesken Spirale verzerren lässt; als Toshio schließlich im Krematorium verbrannt wird, beobachtet die gesamte Beerdigungsgesellschaft das Austreten kreisförmig gewundener Rauchschwaden am Himmel. Shuichi, der nach der Beerdigung seines Vaters seiner Freundin gegenüber erwähnt, »dass die ganze Stadt von der Spirale verflucht ist« (Higuchinsky 2000: 00:24:29-00:24:32) will gemeinsam mit Kirie fliehen, verkrümmt sich aber kurz vor der gemeinsamen Flucht auf rätselhafte Weise selbst zum kunstvollen, an ein ausgewrungenes Handtuch erinnernden Spiralkörper, was auch den restlichen EinwohnerInnen, mutieren sie nicht zu merkwürdigen, mit Schneckenattributen ausgestatteten Mischwesen, widerfährt. Unerklärbarerweise mutieren an diesem isolierten Ort namens Kurouzu (das etwa soviel wie schwarzer Strudel oder schwarzer Wirbel bedeutet), der selbst eingekesseltes Labyrinth ist, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint, Menschen, Tiere und Gegenstände zu grotesk verzerrten, spiralförmigen Morphologien; obwohl nach einer Erklärung gefahndet wird, werden EinwohnerInnen wie ZuschauerInnen ohne eine solche zurückgelassen. Selbst von außerhalb stammende ReporterInnen wie etwa Ichiro Tamura, die über die stets von Sirenenklängen begleiteten Verwandlungen der Menschen und weitere merkwürdige Ereignisse und Beobachtungen im abgeschiedenen Bergdorf berichten, befällt der nicht weiter explizierte Fluch, der auch für das Auftreten diverser Verwirbelungen in Form von spiralförmigen Rauchnebeln und Wolkenformationen verantwortlich scheint und zum »Lovecraftian unknown, beyond the abilitys of the characters to understand« (Murguía 2016: 347) avanciert. 2

Die damals erst 19-jährige Pauline Silberstein stürzte sich im Mai 1891 in das Treppenauge des Stieghauses im Sühnhaus am Schottenring 7 im Ersten Wiener Gemeindebezirk Innere Stadt, das Sigmund Freud erst fünf Jahre zuvor kurz nach seiner eigenen Hochzeit bezogen hatte und das er bald nach ihrem Freitod wieder verließ (vgl. Buerkle 2013: 192). In dem Gebäude, das selbst erst wenige Jahre zuvor nach dem katastrophalen Ringtheaterbrand an dessen Stelle gebaut wurde, richtete Freud nach Aufgabe seiner Tätigkeit in der Neurophysiologie seinen ersten Behandlungsraum zur Anwendung psychoanalytischer Therapie ein; nach Silbersteins Suizid zog Freud mit seiner kleinen Familie in die mittlerweile berühmten Räume in der Berggasse 19, in denen er bis zur Emigration nach London als Psychoanalytiker praktizierte.

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Equally clever is the subtle use of digital effects to create spirals throughout the film, spinning and vanishing on the corners of buildings and walls and the edges of the screen. A reliance on green filters gives Uzumaki an otherwordly feel, while also evoking the original green coloring found in sections of the manga. (Ebd.: 347) Die BewohnerInnen und schließlich der via Grünlinse filtrierte Film selbst mit seinem »use of unusual camera angles, lingering point-of-view shots and odd musical cues« (ebd.) drehen, so berichtet es die junge Kirie, deren einsames Auge zu Beginn wie am Schluss über die Leinwand flackert, umgeben von verschiedensten Drehfiguren durch. Einige, wie etwa der skurrile, von eigens gesammelten spiralförmigen Objekten umgebene Herr Saito, entwickeln eine Obsession3 für die Spirale, andere hingegen, wie etwa dessen Witwe Yukie, eine Phobie, die sie so weit treibt, die eigenen Fingerkuppen und Haarwirbel mit einer Schere zu bearbeiten und sich schließlich sogar die Scherbe einer zerbrochenen Porzellanvase in ihr schneckenhausförmiges Innenohr zu rammen. Die Spirale wirkt, etwa auch dann, wenn der regelmäßig Kirie erschreckende Mitschüler Yamaguchi absichtlich vor Tamuras Auto läuft, um einerseits um die Aufprallstelle (auf der einer seiner Augäpfel klebt) herum auf der Windschutzscheibe ein spiralförmiges Muster zu hinterlassen und um andererseits seinen Leichnam um den linken Vorderreifen zu wickeln. Fertigt er auf seiner Drehscheibe die Auftragsarbeit für Toshio Saito, lässt Herr Goshima zudem einen genuinen Zusammenhang zwischen der Kulturtechnik des Töpferns und der Spirale sichtbar werden, erscheint diese einerseits als drehende Bewegung der Töpferplatte und andererseits als Spur dieser Bewegung in Form eines Spiralmusters auf dem angefertigten Teller. Die die Handlung vorantreibende und titelgebende Spirale infiziert auch das Erzählen selbst, insofern der Film am Ende an seinen Anfang zurückkehrt, der so immer schon sein (vermeintliches) Ende gewesen sein wird – an dieser narrativen Knickstelle sitzt Kiries (wieder-holter) Bericht der merkwürdigen Ereignisse, der weder Öffnung noch Schließung der filmischen Handlung und doch zugleich beides ist. Sowohl zu Beginn von Uzumaki als auch an dessen putativem Ende ist Kiries Auge zu sehen und ihre Stimme, die anhebt, von seltsamen Ereignissen im Ort zu berichten, zu hören. In den ersten wie in den letzten Sekunden des asiatischen Horror-Films hören ZuschauerInnen die Anfang und Ende so in ein ›schiefes Konvergenzverhältnis‹ setzenden Worte der jungen Protagonistin. Ihre ersten Worte: »Ich lebe in der Stadt Kurouzu. Hier bin ich geboren und aufgewachsen. Seltsame Dinge sind in dieser Stadt geschehen. Davon werde ich Ihnen erzählen« (Higuchinsky 2000: 00:00:31-00:00:41) gleichen den vermeintlich abschließenden nahezu völlig: »In Kurouzu bin ich geboren und aufgewachsen. Seltsame Dinge sind in dieser Stadt geschehen.« (Higuchinsky 2000: 01:27:36-01:27:43). Zwar wird auch hier die Spirale wie in Dark City an die architekturale Verfasstheit eines städtischen Komplexes geheftet, schließlich wird Kurouzu als von Bergen eingekesseltes Labyrinth mit Zickzackwegen, Sackgassen und kleinen Hinterhöfen mit sie umgebenden, undurchsichtigen Mauern inszeniert, befällt aber auf radikalere Weise die Ebene der Narration. 3

Toshio Saito sammelt nicht nur spiralförmige Objekte bzw. gibt sie beim örtlichen Töpfer in Auftrag, sondern inkorporiert sie bereits vor seinem Sparprogramm-Suizid, wenn er etwa seine Augäpfel in unterschiedliche Richtungen drehen lässt oder seine herausgestreckte Zunge sich in Kreisen wie eine ausrangierte Jahrmarktpfeife um sich selbst schlingt.

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Während die als Fingerabdrücke inszenierte oder auf Frauenleichen eingeritzte Spirale in Proyas’ D.C. eher als den Komplex des Labyrinthischen eröffnende Figur fungiert, avanciert die Spirale in Uzumaki zum ubiquitären und dabei etwas über die Struktur des Erzählten/Erzählens selbst feilbietenden Emblem, das als Haarwirbel, Holz-, Teppichoder Tapetenmuster, in Form von Schneckenhäusern und Blattlinien sowie als »spiralförmige Tiere, gewundene Artefakte, verwirbelte Körper, verwirrte Köpfe« (Glaser 2011: 30) umgeht und sich etwa durch schräge Kameraperspektiven (und einer teils schrägen, nicht zu den jeweiligen Szenen passend scheinenden Soundspur4 ) weiter ins Filmbild ein- und dieses somit verdreht (diese von Glaser aufgeführten Elemente gehören ins Repertoire der Arabeske und affizieren eben jenen Komplex, der Gewundenem, Verzwirbeltem und Verdrehtem angehörig ist und damit Verzerrung, Konvulsion wie Ver- und Entsetzen signiert und in Uzumaki entsprechend auf vielfältige Weise inszeniert wird). Einer Reporterin etwa, die die Stadt durch den scheinbar einzigen Verbindungstunnel (dessen Ende sie bereits nicht mehr sehen kann) wieder verlassen will, wachsen schneckenartige Fühler aus den Augenhöhlen und zahlreiche Körper der BewohnerInnen der Stadt (de)formieren sich zu Mensch-Schnecken-Hybriden, wenn aus ihren Rücken an Trojaburgen5 erinnernde Wülste hervortreten, während sie von einer gallertartigen Schleimschicht überzogen werden. Dabei scheint der Film »verhext, Titelbild, Kameraeinstellungen, Kapitelüberschriften und sogar Ausschnitte aus den Einstellungen drehen sich« (ebd.) – wie sich der Film schließlich gedreht haben wird, wobei diese zwischen Struktur und Figur oszillierende Konstellation das Profil des Möbiusbandes hat (und insofern eine ähnliche (an den Twist des Möbiusbandes geheftete) Bewegung wie Vincenzo Natalis in sich eingeschlagener (Cube in) Cube vollzieht). So ist auch das letzte Kapitel Wiedergeburt keine glatte, fließende Bildersequenz, sondern präsentiert sich als abgehacktes, stockendes, ruckeliges, sich selbst unterbrechendes und damit fragmentierendes Bildmaterial, das stroboskopartige Bilderfolgen entstehen lässt, was nicht nur das Artifizielle des Kinofilms akzentuiert, sondern zugleich ein gewisses Gestört-Sein sowohl der Erzählung als auch des auf Bewegung angewiesenen Mediums Film indiziert. Die letzten Bilder vom Libellensee, aus dem Kiries Vater noch kurz zuvor Tonerde für seine Töpferarbeiten holte und über dem immer öfter spiralförmige Wolkenformationen kreisen, wirken wie springende, hüpfende Photographien und werden von einem an das Knacken von Schallplatten erinnernden Geräusch begleitet; insofern berichtet das Knacken auf tonaler Ebene, was auf narrativer Ebene sich ereignet haben wird: Die Platte hat einen

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Das kennt man durchaus von dem japanischen Regisseur, Akira Kurosawa, der traurige Szenen mit fröhlichen Melodien und umgekehrt unterlegt hat – Uzumaki berichtet demnach auch über Erzählstrategien und mediale Verfahren, die besonders mit japanischer Erzähltradition im Kino in Beziehung stehen. Die Rasenlabyrinthen ähnlichen Trojaburgen sind besonders in Skandinavien entdeckte, spiral- bzw. schneckenhausförmige und daher labyrinthische Steinformationen auf dem Erdboden, wobei »ausnahmslos alle Trojaburgen vom kretisch-heidnischen Typ sind« (Kern 1982: 392) (betrachtet man etwa die Trojaburg in Visby, Gotland aus der Vogelperspektive, weist sie die gleichen verschlungenen Linien auf, die man bereits vom kretischen Labyrinth kennt) und die begehbaren Steinsetzungen durch ihre schlingenartige Anordnung einen potenziell unendlichen Weg, der wohl in einer nicht mehr zu rekonstruierenden Bewegungsabfolge abgetanzt wurde (vgl. ebd.: 393), eröffnen.

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Sprung6 und geht zum Anfang narrativer Verwirbelungen zurück, gibt sich gewissermaßen als narratives, der Orientierbarkeit verweigerndes Möbiusband. Die französische Ausgabe des Seminar X von Lacan, also dem Seminar, das dem Unheimlichen und der Angst verschrieben ist, trägt als Cover die oben abgebildete Zeichnung von M.C. Escher; zu sehen ist der 1963 entstandene Farbholzschnitt Möbiusband II, der eine gitternetzartige Möbiusschleife zeigt, auf bzw. in welcher Ameisen herumkriechen. Setzt Lacan in der siebten Vorlesung im Seminar zur Angst an, sowohl das unrepräsentierbare Objekt klein a als auch das Unheimliche als topologische Struktur zu illustrieren, bezieht er sich auf dieses Bild, dabei zur Veranschaulichung für seine StudentInnen wohl einen Streifen Papier faltend: Wenn Sie diesen Gurt nehmen und ihn, nachdem sie ihn geöffnet haben, wieder mit sich zusammenschließen und dabei in der Längsrichtung eine halbe Drehung vornehmen, erhalten Sie ganz einfach ein Möbiusband. Eine Ameise, die einen Spaziergang macht, wechselt von der einen der scheinbaren Seiten auf die andere über, ohne dafür über den Rand gehen zu müssen. Anders gesagt, das Möbiusband ist eine Oberfläche mit einer einzigen Seite, und eine Oberfläche mit einer einzigen Seite kann nicht um-

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Shutter Island (2010) von Martin Scorsese, der sich wohl auch wie die bereits erwähnten Produktionen als Mindgame-Movie auszeichnen lässt, trägt sich auf ganz eigene Weise ins Register verschleifender Filme ein: Sehen ZuschauerInnen zu Beginn des Films, der eine Vorliebe für anagrammatische Spielereien zeigt, nur Nebel, aus dem schließlich ein Schiff auftaucht, das den US-Marshall Edward ›Teddy‹ Daniels und seinen Partner Chuck Aule auf die titelgebende Insel mit einem recht prominenten Leuchtturm bringt, um das mysteriöse Verschwinden einer Patientin der dort ansässigen Psychiatrie aufzuklären, erfahren sie in einer der letzten Szenen, das Teddy kein Ermittler, sondern selbst Patient ist, für den angeblich ein radikales Rollenspiel inszeniert wurde – damit er zurückfinde in die Realität. Arrangiert wurde ein Set, an dem die von Leonardo Di Caprio verkörperte Figur detektivisch tätig werden konnte, aber nur, um schließlich der eigenen, vermeintlich wahren Identität, auf die Spur zu kommen. Die vermeintliche Erleuchtung über das bisher Gesehene erfolgt tatsächlich im Leuchtturm: Der Leiter der Insel-Psychiatrie, Dr. John Cawley, dargestellt von Ben Kingsley, wartet in der Spitze des Gebäudes mit einer mit Namen beschriebenen Tafel, die Teddy, den man nun als Andrew Laeddis – ein Anagramm von Edward Daniels – vorgestellt bekommt, der vor Jahren seine Frau umbrachte, nachdem diese wiederum die drei gemeinsamen Kinder ertränkt hatte, seine wahre Nämlichkeit vor Augen führen soll; er schuf sich nach Erklärung von Dr. Cawley eine Art anagrammatisch ent-stellte Welt, in der nicht er, sondern ein anderer der Mörder seiner Frau ist und in die er sich immer wieder zu flüchten scheint. Nicht nur die Buchstaben seiner Namen ordnen sich um, vielmehr scheint sich Daniels/Laeddis selbst im Kreis zu drehen, wie ihm sein Arzt zu verstehen gibt: »Nine months ago and then you regressed. […] You reset, Andrew. Like a tape playing over and over on an endless loop. I hope that what we’ve done here will be enough to stop it from ever happening again … but I need to know if you’ve accepted reality« (Scorsese 2010: 02:06:31-02:06:57). Einerseits haben es ZuschauerInnen auf Ebene der Handlung mit einem Plot-Twist am Ende des Films zu tun – der jedoch bei Weitem nicht so erhellend ist, wie es zunächst scheint – andererseits suggerieren die letzten Einstellungen ein endloses Weitergehen des ver-rückten Loops: Scheinbar bereit zur anstehenden Lobotomie führen Pfleger Andrew Laeddis ohne Widerstand in Richtung Leuchtturm, bevor ein harter Schnitt folgt und der Film zumindest bis zur nächsten Vorstellung am Ende ist – bis das Spiel, die Spielzeit, von vorne beginnt und Laeddis wieder auf dem schwankenden Schiff im Nebel vor einem Waschbecken mit Spiegel steht, bereit, einen Vermisstenfall aufzuklären.

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gedreht werden. Wenn Sie eine solche auf sich selbst umdrehen, wird sie stets mit sich selbst identisch sein. (Lacan 2010: 125f.) Das gewundene Möbiusband wird als nicht-orientierbare Fläche mit einer Kante und einer Seite gehandelt, die einer Differenzierung von Innen und Außen widersteht; als geometrisches Phänomen, als euklidische Aporie irritiert es Orientierung, insofern es die Unterscheidung von oben und unten, von Subjekt und Objekt, von Hier und Dort (vgl. Žižek 2005: 240) verweigert, also jegliches Entweder-Oder von Außen- und Innenfläche verbietet, sondern diese vielmehr als ein unheimliches, paradoxales Ineinanderverlaufen erscheinen lässt und insofern die strukturale Inkonsistenz des Symbolischen feilbietet. Das Unheimliche präsentiert sich als topologische Figur, die wie das Möbiusband strukturiert ist, in welchem Oben und Unten, hier und dort, diesseits und jenseits, Anschauen und Angeschaut-Werden nicht mehr zu unterscheiden sind. […] Wenn auch von Lacan nicht explizit miteinander verglichen, stellt doch das Möbiusband die prägnanteste Abstraktion des Unheimlichen dar. (Binotto 2011: 106) »Fahren wir lange genug eine der beiden Oberflächen entlang, so finden wir uns mit einemmal auf ihrer Rückseite wieder« (Žižek 2002: 210). Als nicht-orientierbare Figur stellt sich die Möbiusschleife klaren räumlichen und in der Folge auch zeitlichen Verhältnissen von Davor und Danach, von Anfang und Ende entgegen, verunsichert Unterscheidungsmechanismen, sodass »aus einem einfachen Ursache-Wirkungs-Verhältnis ein irritierender Zyklus, in dem der Anfang nicht nur originärer Anfang, sondern zugleich eine abgeleitete, eine nachfolgende Größe ist, Beginn und Resultat mehrfach ineinander gedreht« (Pabst 2004: 150) emergiert, etwa so, wie es in Uzumaki durchgespielt wird – und wie eine die Differenz von Innen und Außen, von Anfang und Ende hintergehende Möbiusschleife, wird auch Cube eine unheimliche, selbst einer absurden Möbiusschleife nahe kommende Architektur lancieren. Solch Spiele mit Vor- und Nachgängigkeiten wie in Higuchinskys J-Horror zitieren (oder antizipieren) immer auch David Lynchs Lost Highway aus dem Jahr 1997, der nicht nur die Differenz von Realität und Fiktion brüchig werden lässt, sondern dessen narrative Un-Logik mit der Struktur des Möbiusbandes paktiert, verfährt er doch als »die endlose Wiederholung in Schleifen. Ein Déjà-vu, eine Erinnerung an etwas Bekanntes, das aber doch immer wieder etwas anders erscheint – variiert und verfremdet« (Lulaj 2010: 85) – der filmische Raum »ist gekrümmt oder besser der Streifen, auf dem wir uns durch den Film bewegen, wurde unter unseren Augen um seine Längsachse verdreht« (Blanchet 1997: Absatz 1): Einige Tage, nachdem es an der Tür der Villa des Musikers Fred Madison klingelt und eine Männerstimme durch die Gegensprechanlage die Nachricht »Dick Laurent is dead« (Lynch 2005: 00:04:31-00:04:33) übermittelt, finden er und seine Frau Renée vor ihrem Haus nacheinander zwei Videokassetten mit sowohl Außenaufnahmen ihres eigenes Zuhauses als auch Innenaufnahmen etwa ihres Schlafzimmers. Als das Ehepaar einige Tage später die Party eines Freundes besucht, begegnet Fred, gespielt von Bill Pullman, der wohl unheimlichsten Figur aus Lynchs siebter, dubiose DoppelgängerInnen hofierender Regiearbeit in Form einer markanten, aufgrund ihres kalkweiß geschminkten Gesichts oft mit Mephisto verglichenen Gestalt (vgl. Palmier 2012:

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244). Die im Abspann als Mystery Man erwähnte, namenlose Figur, die nicht nur behauptet, dem ahnungslosen Fred schon einmal begegnet zu sein, sondern auch, sich im selben Moment in dessen Haus zu befinden, unterläuft während dieser kurzen Begegnung die Differenz von Hier und Dort, ist gleichzeitig an zwei Orten – sowohl auf der privaten Feier von Renées Freund Andy als auch in Freds Haus, der dies durch einen Telephonanruf, zu dem ihm der merkwürdige Mann auffordert, verifiziert. Er telephoniert verstört mit der Person, die einerseits direkt ihm vor ihm steht und die ihm andererseits (als körperlose und doch autoritäre Stimme) und zugleich am Klapphandy erklärt, Fred selbst hätte sie in sein Haus eingeladen, denn »it’s not my custom to go where I’m not wanted« (Lynch 2005: 00:31:35-00:31:37) – wie auch etwa Vampire, ähnlich blass und geheimnisvoll wie die von Robert Blake dargestellte Figur, eine Schwelle erst dann übertreten, wenn man sie herein gebeten hat. Manfred Pabst, diese Szene als mise en abyme für den gesamten Film lesend (vgl. Pabst 2004:48), positioniert den physikalischen Gesetzen widerstehenden Mystery Man nun an jener räumliche und zeitliche Nicht-Orientierbarkeit evozierenden Verdrehung des Möbiusbandes: Und tatsächlich ist der Mystery Man gleichzeitig innen und außen; er bezeichnet den Platz, auf dem sich alle Gegensätze treffen, er ist – als invariante, nicht-verdoppelte Figur – gewissermaßen der Twist in der Möbiusschleife. Das ist Lynchs Methode, selbstreferentielle und autothematische Motive in seine Filme einzubauen, indem er den Status als Film reflektiert und auf die Künstlichkeit des Dargestellten hinweist. (Ebd.: 49) Lost Highway ist als Film vielfach von Verdrehungen durchzogen, er »dreht auf dem Möbiusband weiter seine Runde« (Binotto 2015: 168) und besteht aus mehreren Erzählebenen, »die ineinander übergehen, sich gegenseitig durchtränken und reflektieren, wenn auch nicht ohne Verzerrungen und Verschiebungen, schließlich heißt Lynchs Produktionsfirma nicht umsonst ›Asymmetrical‹« (Blanchet 1997: Absatz 11): Als Fred sich wenige Tage später ein Videoband mit Aufnahmen seiner selbst bei der Ermordung seiner Frau ansieht, befindet er sich plötzlich in einer polizeilichen Verhörsituation und wird schließlich zum Tode verurteilt, woraufhin er sich in unscharfen, verwackelten und schnell geschnittenen Bildern und »mit dem genretypischen audiovisuellen Aufwand eines Horrorfilms« (Kaul 2012: 237) in den für den Kriminellen namens Mr. Eddy, den die Polizei wiederum unter dem Namen Dick Laurent kennt, in einer Werkstatt arbeitenden Pete Dayton, dargestellt von Balthazar Getty, zu verwandeln scheint, den man aus dem Gefängnis entlässt und der mit Mr. Eddys Freundin, Alice Wakefield, ebenso wie Renée von Patricia Arquette verkörpert, eine Affäre beginnt. Nachdem Andy, den man bereits durch Freds und Renées Partybesuch kennt, durch einen unbeabsichtigten Sturz, als er von Pete und Alicia, die gemeinsam die Stadt verlassen wollen, ausgeraubt wird, zu Tode kommt, verwandelt sich Pete, der zuvor ebenfalls ein Telephonat mit dem Mystery Man führt, mitten in der Wüste scheinbar wieder in Fred, der ein Hotel namens Lost Highway aufsucht, das bereits Pete in einer Halluzination gesehen hat, aus dem er Dick Laurent entführt, mit ihm zurück in die Wüste kehrt und mit einem vom Mystery Man überreichten Messer die Kehle durchschneidet, bevor dieser Laurent (den er schon länger zu kennen scheint) endgültig mit zwei Schüssen aus einer Waffe, die Fred nach dem Verschwinden der namenlosen Gestalt an sich nimmt, tötet. Nicht ohne dass ihm der Mystery Man noch et-

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was für ZuschauerInnen Unverständliches ins Ohr flüstert, fährt Fred daraufhin zu seinem Haus, klingelt an der Tür, sagt als sein eigener, die Differenz von Original und Kopie unterlaufender Doppelgänger »Dick Laurent is dead« (Lynch 2005: 02:08:52-02:08:54) und fährt mit quietschenden Reifen davon, bis die Kamera wieder den bereits zu Beginn des Films gezeigten Highway mit gelbem Mittelstreifen (begleitet von David Bowies I’m Deranged) überfliegt; Fred ist »gefangen in der endlosen Schleife eines Teufelskreises« (Blanchet 1997: Absatz 32) und die Straße »führt endlos weiter in die Nacht. Nirgendwohin und zum Anfang zurück« (Seeßlen 1997: 32). ZuschauerInnen werden konfrontiert mit der »Schizophrenie des Films selbst, der seine eigene Struktur gegen die Erzähllogik ausspielt« (Michalsky 2006: 400). Lost Highway »verweist nicht auf ein hinter ihm liegendes Leben, sondern es reproduziert sich in selbstbezüglichen Schleifen selbst« (Seeßlen 1997: 22); der Film, der mit einer scheinbar weiteren Verwandlung Freds entlässt und weit mehr als die Story einer dissoziativen Fugue erzählt, »könnte nicht eben dort wieder anfangen, wo er geendet hat, stattdessen könnte er endlos weitergehen, würde sich aber bei jeder Umdrehung vollkommen verändern. Wenn man so will, funktioniert er also wie eine Escher-Grafik, der man die Dimension der Bewegung gibt« (ebd.: 25). Hier ist »der psychotische Un- und Umweg selbst zum Highway geworden, von dem es keine Ausfahrt mehr geben kann: die Hauptstraße des Unheimlichen« (Binotto 2015: 169), sodass trotz grotesker Figurenkonstellationen und komplizierter Zeit- und Raumverhältnisse »nichts bleibt als der Film, vorbeihuschende Bilder, deren Montage und Referenz im Dunkeln bleiben« (Michalsky 2006: 398). In Lynchs Straßen, seinen verlorenen Highways und verschlungenen Drives, kommen die Figuren sich selbst und die Narration ihrer gängigen Logik abhanden. Die Fahrt durch die Landschaft des Unheimlichen geht immer weiter. Ohne Hoffnung, jemals anzukommen. (Binotto 2015: 169) »Where are you taking me?« (Aronofsky 2017: 01:52:42-01:52:43), fragt eine verbrannte, gerade noch lebendige Frau mit geflochtenem Zopf im zerfetzen weißen Nachthemd in den Armen eines unversehrten Mannes, der ihr »The beginning« (ebd.: 01:52:48) antwortet, bevor er mit seiner bloßen Hand in ihren Körper greift, um ein Stück Glas herauszubrechen, das er in einer perfekt passenden Halterung platziert, woraufhin das verbrannte Haus, in dem er sie auf den verkohlten Überresten eines Tisches zum Sterben niedergelegt hat, reanimiert zu werden scheint: Eben noch verloderte Wände erstrahlen abermals in hellen Farben, glatt gebrannte Vertäfelungen erhalten ihre Reliefs zurück, herausgebrochene Türen und Fenster sitzen wieder fest in ihren Angeln, versengte Vorhänge umrahmen erneut Öffnungen eines einsam gelegenen Landhauses, herausgerissene Dielen und zerbrochene Fließen bieten abermals einen festen Boden unter den Füßen und im Schlafzimmer erwacht eine junge Frau in weißem Nachthemd mit geflochtenem Zopf und ruft nach ihrem Ehemann, der nicht mehr im gemeinsamen Bett liegt – diese Auferstehung eines auch wegen seines Grundrisses ungewöhnlichen Hauses ist nicht nur in den Schlussszenen von Darren Aronofskys 2017 produziertem Mysteryhorror-Film mother!, sondern auch zu Beginn des Films zu sehen. Der in Schleife7 gelegte 7

Erinnert sei hier an Douglas R. Hofstadters erstmalig in Gödel, Escher, Bach, einem gigantischen, selbstreferentiellen Konglomerat aus u.a. Informatik, Linguistik, Buddhismus, Teilchenphysik,

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und somit an M.C. Eschers8 zu seinem Anfang zurückfließenden Wasserfall (1961) erinnernde Film erzählt die Geschichte eines namenlosen Ehepaars, das von ebenso namenlosen Gästen, die schnell zu Eindringlingen und Bedrohung werden, in seinem frisch renovierten Landhaus heimgesucht wird. Der unter Schreibblockaden leidende und von Javier Bardem verkörperte Autor lebt zurückgezogen mit seiner deutlich jüngeren Frau, gespielt von Jennifer Lawrence, in seinem einst abgebrannten, von ihr nun in liebevoller Kleinarbeit selbst wieder im viktorianischen Stil aufgebauten Haus mit auffälliger und dabei Übersicht verweigernder Architektur. Obwohl nahezu fertig, ist das Haus an einigen Stellen noch immer eine Art work in progress, sehen ZuschauerInnen der Frau etwa dabei zu, wie sie selbst Wandfarbe anrührt und aufträgt. Die Räume des mehrstöckigen Anwesens mit scheinbar achteckigem Grundriss und Ein- und Ausgängen in sämtliche Richtungen umschlingen vor allem den Körper dieser namenlosen Ehefrau, von der ZuschauerInnen außer regelmäßiger Medikamenteneinnahme in Erregungsmomenten nichts Näheres erfahren; so hat man Jennifer Lawrence, an der auch die von Matthew Libatique geführte Kamera ständig haftet, in unzähligen Einstellungen mit einer SnorriCam, einer direkt am Körper befestigten und frontal auf den oder die SchauspielerIn gerichteten Kamera, ausgestattet. Mother, als die die von Lawrence verkörperte Rolle in den Credits geführt wird, wird regelrecht in die Filmarchitektur hineingetrieben; ist sie nicht selbst im (Fokus des) Bild(es), sieht man die anderen Figuren meist aus ihrer oder einer ihr benachbarten Perspektive, sodass sie noch ins Bild hineinragt. Das Haus dient nicht nur als Kulisse für seltsame Ereignisse – wie den Besuch eines sterbenskranken Fans des Autors, verkörpert von Ed Harris und seiner kaltschnäuzigen, von Michelle Pfeiffer gespielten Ehefrau, deren älterer Sohn ihren jüngeren Sohn im Haus des Paars erschlägt und schließlich auch die skurrile Trauergesellschaft im viktorianischen Landhaus beherbergt – sondern avanciert zu einem nicht nur von KulissenbauerInnen und SetdesignerInnen hergestellten, sondern auch und vor allem medientechnisch produzierten Protagonisten von mother!. Besonders durch den obsessiven Einsatz der Bodycam geraten

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Musik- und Erkenntnistheorie, (diversen Teilgebieten der) Mathematik und Molekularbiologie, durch das die beiden Figuren Achilles und die Schildkröte Theo führen, vorgestellte Ideen zu Seltsamen Schleifen und Verwickelten Hierarchien – so der taktgebende Titel des 20. Kapitels seiner erstmals 1979 veröffentlichten Monographie – wie etwa die selbstbezügliche Lithographie Zeichnen M.C. Eschers aus dem Jahr 1948, auf der zwei Hände, die sich paradoxerweise gegenseitig mit einem Bleistift zeichnen, zu sehen sind oder der Umstand, dass das Denken über sich selbst nachdenkt bzw. ein System eine Aussage über sich selbst trifft. Hofstadter, der ein Faible für rekursive Strukturen zeigt, diskutiert u.a. durch Heranziehen der Überlegungen zu hochkomplexen und daher zu sich selbst in Differenz stehenden Systemen des Mathematikers Kurt Gödels, wie auch anschließend 2007 in Ich bin eine seltsame Schleife, das Konzept eines verschleiften, dezentrierten Ichs, denn »[d]as Selbst entsteht in dem Augenblick, in dem es fähig ist, sich selbst zu reflektieren« (Hofstadter 1991: 756); das Selbst wird konstruiert als Effekt des Geistes, der somit über sich selbst denken und sprechen kann. Escher produzierte nicht nur etliche selbstbezügliche Bilder wie die sich gegenseitig zeichnenden Hände, sondern fertigte auch diverse, architektonische Unmöglichkeiten feilbietende Lithographien, wie etwa Relativität aus dem Jahr 1953, wo BetrachterInnen mit einem physikalische Gesetze unterlaufenden Treppenhaus, in dem anonyme Figuren in verschiedene Himmelsrichtungen unterwegs sind, konfrontiert werden, sodass keine Interpretation widerspruchsfrei sein kann (vgl. Hofstadter 1991: 108) und entsprechend ob ihrer Komplexität unvollständig bleiben muss.

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die Ebenen des Hauses ineinander, sodass ZuschauerInnen eher mit losen Versatzstücken einer verschachtelten, labyrinthischen Architektur konfrontiert werden, denn einen Über-Blick gewinnen. Das Gesicht der von Lawrence gespielten Mother umgeben von schwer verortbaren Wänden, Türen, Böden, Decken und Fenstern ist die meist gewählte Einstellung; die Kamera wahrt selten Distanz und ist der Hauptdarstellerin ständig auf den Fersen, lauert ihr auf, stellt ihr nach. Ermöglicht der Grundriss des Hauses ein durchaus Schwindel provozierendes Im-Kreis-Gehen, verschleifen Räume zu je anders arrangierten Interspatialen, abhängig von der Richtung, aus der man sie betritt (und der Position der Kamera, wenn man dies tut), was nicht nur der zuschauerischen Desorientierung und Verunsicherung zuarbeitet, sondern auch beim namenlosen Ehepaar und deren BesucherInnen bzw. Eindringlingen für Konfusion zu sorgen scheint; die selten in Gänze gezeigten Räume zersetzen sich auch und vor allem durch extravagante Kameraführung und spezielle Schnitttechniken wie etwa Cut In, Cut Out oder auch dem Match Cut ineinander. Nicht nur der eindrucksvolle Empfangsbereich wie die Zimmer des weitläufigen Erdgeschosses, darunter ein Bereich für Gäste, ein großzügiges Wohnzimmer und eine riesige, durch eine Stufe in sich kaskadierte Küche samt Essbereich, verwirbeln durch die verwackelten, auf Darstellerin Lawrence fokussierten Bilder zu unscharfen Zwischenzonen, vielmehr befällt diese Einsenkung der Räume ineinander auch die oberen, kleiner wirkenden Ebenen, wo sich Arbeitszimmer, Schlaf- und Badezimmer befinden. Die auffällige Kameraarbeit leistet in mother! einen entscheidenden Beitrag zur architekturalen Komplexität des Filmhauses; ist das Haus einerseits durchaus bewohnbar, zerfällt es andererseits immer wieder in Einstellungen, die die vermeintliche repräsentationale Kongruenz zwischen einem echten und einem Filmgebäude in die Einsturzgefährdung treiben; die Kamera dekonstruiert hier vielmehr, als sie produziert oder (re)präsentiert. Nur der namenlose Autor verlässt hin und wieder, ohne dabei je von der Kamera begleitet zu werden, das Haus, seine Frau jedoch wird durch die Kameraarbeit in unzähligen Close Ups und Waist Shots von der Präsenz der architekturalen Umgebung unablässig umschlossen, regelrecht eingemauert, abgeriegelt und bedrängt, was sich auch an ihrer Gebundenheit auf der Handlungsebene abzeichnet, verlässt sie doch die Haustür nur bis zur umläufigen, etwa zwei Meter breiten Veranda. Die Wände wirken trotz der oft großzügigen Raumflächen beklemmend und drangsalieren zuweilen auch ZuschauerInnen in ihrer visuellen Aufdringlichkeit. Nachdem die bereits erwähnte, durchaus obskure Beerdigungsgesellschaft in der ersten Hälfte des Films einen Wasserschaden verursacht und von Mother des Hauses, um das sie sich mit Sorgfalt und Akribie kümmert, verwiesen wird, folgt eine ruhige Zeit der Zweisamkeit, in der sie ihre sofort nach Zeugung bemerkte Schwangerschaft genießt und ein Kinderzimmer einrichtet. Die Zeugung des gemeinsames Sohnes scheint der erste sexuelle Kontakt des Paares zu sein; einerseits wird dies suggeriert durch Mothers an ihren Mann gerichtete Aussage »You talking about Kids, but you can’t even fuck me« (ebd.: 01:07:38-01:07:41), nachdem er sie das erste Mal für ZuschauerInnen sichtbar körperlich begehrt und andererseits impliziert durch die in den Credits angegebene Bezeichnung für diejenige, die als ›neue Mutter‹ (die gewissermaßen die von Lawrence ablöst) im Schlafzimmer des Hauses erwacht, nachdem dieses auferstanden sein wird: Maiden, in der nicht nur die Jungfrau, sondern zugleich die Magd echot und als die Jennifer Lawren-

3 Über-Gang: Narrative Spiralen

ces Figur tatsächlich häufig inszeniert wird, heizt sie doch neben ihrer intensiven Renovierungstätigkeit abends den Kamin an, kocht opulente Essen trotz dickem Babybauch, ist grauenhaft verständnisvoll, fürchterlich devot und scheint alles an ihrem Mann zu lieben, selbst seinen Gestank nach dem Joggen. »And this is the beginning of the end: the escalation of violence in all shapes and forms, under the guise of adoration, is not only profoundly disturbing but almost physically and mentally unbearable« (Zupančič 2019: 109); es dringen nun erneut Fans des Autors, der sein neuestes Buch9 endlich fertig gestellt hat, ins Haus ein, unterdessen es zu einem der Wirklichkeit entrückten Ort voller blutiger Schlachten, Aufstände, Menschen in Käfigen und grotesken Kultritualen mutiert, wo die Protagonistin in einem verriegelten Raum mit Hilfe ihres Mannes, der die randalierende Meute trotzdem nicht wegschicken will und stattdessen ihr Verständnis einfordert, einen Sohn gebiert, der ihr schließlich entrissen wird und sie wenige Augenblicke später das Brechen seiner Knochen hört, woraufhin sie in den Keller des Hauses rennt und es niederbrennt. Ihr Mann, der keinerlei Verletzungen davon getragen hat, trägt seine fast leblose Frau nach Verebben der Flammen zu einer verkohlten Tischplatte, bettet sie darauf und reißt schließlich ihren Körper auf, um ein gläsernes Artefakt zu entnehmen, das die Wiederbelebung des Hauses im verschlungenen Film in Gang setzt. Es erwacht – ganz den zu Anfang gezeigten Bildern10 entsprechend und doch von ihnen abweichend – eine junge Frau, von der man zunächst nur den Rücken sehen kann (und daher annehmen möchte, es handele sich um die Darstellerin Jennifer Lawrence), allein im Doppelbett, dreht sich um und ruft wie zu Beginn aber in doch leicht veränderter Stimme mit leicht verändertem Gesicht, nun verkörpert von Laurence Leboeuf, nach ihrem »Baby« (Aronofsky 2017: 01:56:18). Realisiert im möbiusbandhaften Gleichklang der Schauspielerinnennamen Lawrence (Nachname) und Laurence (Vorname) enthält das Buchstabenmaterial des Filmtitels mother! bereits insofern eine zusätzliche oder andere Bedeutung als die der Mutter, als dieser Signifikant immer schon das (die) andere mitzulesen gibt; das »m« in mother! ist entsprechend weniger interessant als das »other«, als das die von Jennifer Lawrence und Laurence Leboeuf verkörperte Figur immer (nicht) zu sich kommt. Mit jedem neuen Zyklus alteriert die Frau, die insgesamt nur wenige Stunden lang Mutter eines Sohnes und viel länger die eines Hauses ist, zu einer weiteren Variation, die vielleicht auch 9

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Die von ihm erzählte Geschichte scheint einmal mehr die des Hauses und seiner BewohnerInnen wie BesetzerInnen zu sein, sehen ZuschauerInnen, als die Frau des Schreibers, dem es mehr um Anerkennung, Bestätigung und Erfolg denn um seine hochschwangere Frau, deren Anerkennung wiederum keine Bedeutung zu haben scheint, zu tun ist, das fertig gestellte Manuskript liest, gegengeschnittene Bilder von Lawrence und Bardem, die vor einem verbrannten Haus mit ebenso verbranntem Rasen stehen, sich an den Händen fassen und das Haus wie von Zauberhand in neuem Glanz erstrahlt. Die Figur von Mother, einer ersten Repräsentantin des Großen Anderen, die das Eintauchen ins Symbolische arrangiert haben wird, erfüllt hier eher als Mutter der von Javier Bardem gespielten Figur diese Funktion, würdigt sie der einst schreibgehemmte Autor in einer Widmung als seine Muse. Das noch vor der mit der eigentümlichen Reanimation des oktogonalen Hauses, die man erst am Ende als solche verstehen kann, beginnenden Filmhandlung erste Bild zeigt das verbrannte, von Flammen umhüllte Gesicht einer jungen, in Tränen stehenden Frau (dargestellt von Sarah-Jeanne Labrosse und in den Credits als Foremother genannt), gekleidet in ein weißes Nachthemd mit ausgefranztem, geflochtenem Zopf.

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die Gestaltung des Hauses betrifft. Auf die Frage, wer er eigentlich sei, antwortet der namenlose Protagonist nach dem Brand des Hauses: »Me? I, am I. You? You were home« (ebd.: 01:52:31-01:52:38) – einerseits ist sie vielmehr Haus als Mutter, scheint auch ihr Herz im Inneren der Hauswände zu pulsieren, andererseits ist sie Mutter des Hauses, obliegt es ihr, es wieder auferstehen zu lassen. Man sieht sie in unzähligen Szenen am Haus arbeiten, Farben aussuchen und beim Ermahnen von Neuankömmlingen, sich nicht auf die noch lose an der Wand stehende Spüle zu setzen – sie ist es, als sie es zugleich nicht ist, sie wird also immer wieder die je andere Mother gewesen sein, die das Haus reanimiert und Sorge für es getragen haben wird. So lanciert auch mother! eine Wiederholung, die nicht mit sich identisch gewesen sein wird, »die endlose Wiederholung in Schleifen. Ein Déjà-vu, eine Erinnerung an etwas Bekanntes, das aber doch immer wieder etwas anders erscheint – variiert und verfremdet« (Lulaj 2010: 85).

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4.1 Cube: (Twisted) Maze of the Gaze 4.1.1 Welcome 4.1.1.1

Einkasteln

At last if I moved or stayed; the maze itself Revolved around me on its hidden axis (Muir 1963: 164) Ein Auge öffnet sich langsam, wobei die Pupille nach oben verdreht ist, sodass man zunächst nur das Weiß des Augapfels und eine kleine rote Ader am unteren Rand der Augenhöhle erkennen kann. Das Auge blinzelt mehrmals hintereinander, bevor es unter Zuckungen und dem hektischen Umherschnellen der Pupille schließlich direkt in die Kamera blickt, wobei das Close Up auf den Augapfel die komplementäre Mechanik von Kameraobjektiv und menschlichem Sehorgan expliziert. Die Linse des Auges verfährt in der Weise eines Kameraobjektivs, das seine Schärfeeinstellungen vornimmt, sich ausdehnt und wieder zusammenzieht, weitet und wieder verengt. Schnitt. Die nächste Einstellung zeigt einen männlichen Körper am Boden eines kubischen, von weißlichem Licht erleuchteten Raumes. Die wie aus Milchglas bestehenden Seitenwände, die Decke sowie der Boden dieses Raumes sind mit merkwürdigen, sich wie Schaltpläne oder Graphiken experimenteller Kunst ausnehmenden Verzierungen bedeckt. Während die Kamera sich langsam, beinahe vorsichtig, vom noch am Boden kauernden, regungslosen Körper zurückzieht, gibt sie einen Raum von ca. 25m³ zu sehen, jedoch kein einziges Fenster, durch das (natürliches) Licht einfallen könnte. Außer dem bewusstlosen Mann befinden sich keinerlei Gegenstände wie Lampen, Tische oder Stühle in dem kühl wirkenden Raum. Scheinbar ohne Erinnerung oder Kenntnis darüber, wie und warum er in dieses Gebilde gelangt ist, richtet er sich langsam mit fragendem Gesicht auf und beginnt, seinen Blick schweifen zu lassen. Die Kamera tastet ebenso wie die weit geöffneten Augen des zu Bewusstsein gekommenen Mannes die Wände des kleinen, engen Raumes ab und gibt zu sehen, dass jede einzelne Wand mit einer Tür versehen ist. Wie wenig später enthüllt

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wird, führt jede dieser Türen in einen jeweils anderen, ebenfalls kubischen Raum. Der soeben Erwachte hat nun die Möglichkeit, sich aus seinem Raum heraus nach oben, unten oder zu den Seiten hin zu bewegen; er beginnt darauf, die Türen bzw. Luken, die Durchgang und Verschluss zugleich sind, nacheinander zu öffnen. Die Schlösser dieser Türen oder Luken werden durch einen Drehmechanismus ähnlich dem eines Tresors entkeilt, damit sich die Klappe öffnet; die Vorrichtungen erinnern zudem an Durchgänge eines U-Boots wie auch an Schleusen einer Raumstation, sind beide ähnlich dem Würfel hier in Cube geschlossene und doch poröse Systeme. Nachdem der Mann eine Seitentür entriegelt hat, schaut er zunächst in einen blau erleuchteten Raum; anschließend öffnet er die Bodenklappe und blickt nach unten in eine rot eingefärbte Zelle, verschließt aber auch diese Luke wieder, um darauf in einen orangefarbenen Raum überzusiedeln. Das wird ihn sein Leben kosten, wird er von einem Drahtgestell gleich einem riesigen Eierschneider in viele Einzelteile zerlegt. Alderson – so vermutlich der Name des Mannes, den man am Schild seines Overalls ablesen kann –, der nur wenige Filmminuten überlebt, gibt es durch ein automatisch wieder einklappendes Metallgeflecht nicht mehr am Stück, sondern in Stücken.

Abbildung 1: Vincenzo Natali, Cube, 00:01:12

Abbildung 2: Vincenzo Natali, Cube, 00:03:03

Mit diesen klaustrophobischen Bildern beginnt der dem Vorspann vorausgeschickte Prolog von Cube1 , einer kanadischen Low Budget-Produktion von Vincenzo Natali aus dem Jahr 1997, die ihren Ort zum Titel2 hat: einen riesigen Kubus. Wie ZuschauerInnen später 1

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Nicht zu verwechseln mit der von Jim Henson, der wohl vor allem durch seine Puppen der Show The Muppets bekannt ist, geschriebenen Produktion The Cube aus dem Jahr 1969, die durchaus ähnlich gesettet ist wie Natalis Cube und bei der Henson auch Regie führte. ZuschauerInnen sehen zu Beginn des etwa einstündigen Schwarz-Weiß-Fernsehfilms einen namenlosen Mann, gefangen in einem kubischen Raum, dabei ohne Wissen, wie und warum er dort ist, nach Hilfe rufen. Während durch zunächst nicht sichtbare Türen weitere Personen den Raum des Namenlosen betreten, darunter Margaret, die behauptet, seine Frau zu sein, sucht dieser eine Tür, durch die wiederum er den Raum verlassen kann – was ihm bis zum Ende des Films nicht gelingen wird. Ebenso wie die seit März 2020 auf Netflix ausgestrahlte 2019-er Produktion Der Schacht (im Original El Hoyo, also eigentlich eher Grube, Loch oder auch Grab) von Galder Gaztelu-Urrutia, deren einziger Handlungsort ein vertikales Gefängnis in Form eines Schachts mit über 300 Stockwerken ist: Aus unterschiedlichen Gründen teilen sich hier je zwei Menschen, die einen persönlichen Gegenstand mit hinein nehmen dürfen, für die Dauer von vier Wochen eine Ebene, in deren Mitte eine quadratische Aussparung zu sehen ist, durch die ein Mal am Tag eine Platte, von der nicht klar ist, wie sie sich bewegt, befinden sich doch an ihr weder Drähte noch eine Abstützvorrichtung, durch-

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erfahren3 , betragen die Maße dieses Kubus, der aus über 15000 identisch großen und optisch nur durch die Wandfarbe zu unterscheidenden Kammern zusammengesetzt ist, etwa 135m³. Nach kurzen Opening Credits sieht man weitere fünf wohl auch unfreiwillig in den Kubus verbrachte Personen getrennt voneinander in unterschiedlichen Kammern erwachen; schnell finden sich alle zusammen und stellen fest, dass keine/r von ihnen weiß, wie sie in diesen irrealen Architekturkomplex gelangt sind und ob sie einen Ausweg finden werden. (Es ist an dieser Stelle unklar, ob das erste vom Film gezeigte Todesopfer in zeitlicher Nähe zu den nach dem Vorspann Gezeigten steht; er könnte zeitgleich, ebenso gut aber auch früher oder später in den Kubus verschleppt worden sein.) Durch ihre fensterlose und karge Ausstattung erinnern die einzelnen kubischen Kammern – wie zu vermuten ist, keineswegs zufällig – an kalt-feuchte Kerker oder Gefängniszellen; alle nun zusammengetroffenen Personen tragen die gleichen olivfarbenen Overalls, auf welche wie bei der Kleidung von GefängnisinsassInnen ihre Namen gestickt sind, sodass das Publikum die Agierenden namentlich kennenlernt. Zusammengetroffen sind Worth (ein Architekt), Quentin (Polizist), Leaven (Schülerin), Holloway (Psychiaterin) und Rennes (Straftäter und Ausbruchsgenie)4 . Der im minimalistischen Industrial Style gehaltene (Cube in) Cube wird damit »von einer Schar beachtenswerter Theaterschauspieler getragen und bis in die letzte Alptraumecke kalkuliert. Das B-Movie ist die Heimat des Horrors: Die Ahnung, dass um die Ecke der Tod lauert, braucht nicht dessen aufwendige Sichtbarkeit« (Wirtz 2014: 205), wobei das düstere Filmbild am Entzug von Sichtbarkeit und dem Einzug des Unheimlichen insofern mitarbeitet, als es Licht zugunsten einer verschleiernden Dunkelheit verschluckt, dabei verfinsternde Schatten wirft und mit visuellen Uneindeutigkeiten konfrontiert. Zu denken ist hier auch an die berühmte Biblio-

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fährt und auf der je nach Etage mal mehr und mal weniger Essen vorzufinden ist. Ist der Tisch in den oberen noch reich gedeckt, sehen die Menschen auf den unteren Stockwerken meist nur noch Knochen und bereits Gekautes, was aber schließlich auch innerhalb von zwei Minuten, in denen ein grünes Licht erleuchtet, verspeist wird. Goreng, dem ZuschauerInnen folgen und der ein Buch – Don Quijote – mitgenommen hat, wacht zunächst auf Ebene 48 neben einem mit einem Messer bewaffneten Zellenpartner auf, der ihm die Regeln näherbringt, aber beim nächsten Ebenenwechsel, der sie auf die 171. Plattform bringt, von Goreng erstochen und schließlich auch gegessen wird. Worth, einer der Eingesperrten, stellt sich gegen Mitte des Films als der Konstrukteur der Außenhülle des Kubus heraus und kann durch seine Angaben ein Bild der Größe des mysteriösen Würfels geben – der dennoch mysteriös bleiben wird, denn wer die restlichen Bauteile gefertigt oder in Auftrag gegeben hat und was diese nie ganz erfassbare Konstruktion eigentlich bezweckt, außer da zu sein, bleiben unbeantwortete Fragen. Wer oder was auch immer für den Bau des Kubus verantwortlich zeichnet, er oder sie verfährt scheinbar wie der berühmte Serienkiller H.H. Holmes, der das Hotel, in dem er versteckt vor den Augen der Öffentlichkeit unzählige Menschen ermordete, von verschiedenen KonstrukteurInnen, die so selbst keinen Überblick haben konnten, entwerfen ließ. Menschen in sich als Rätsel aufgebende Räume zu stecken, damit sie innerhalb einer bestimmten Zeitspanne wieder herausfinden mögen, hat sich in Form der Live Escape Games oder auch sogenannter Escape Rooms nicht nur im Ursprungsland Japan zu einer lukrativen Geschäftsidee entwickelt. Inspiriert von Escape Games, die besonders ab den frühen 2000-er Jahren vornehmlich auf dem PC oder der Spielekonsole gespielt werden, stellen Escape Rooms sich als Räume vor, aus denen es innerhalb eines vorher bestimmten Zeitraums durch das Auffinden und Kombinieren versteckter Hinweise zu entkommen gilt, sodass der Ort sowohl Rätsel als auch Lösung zugleich ist.

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thek aus der Romanadaption Der Name der Rose von 1986. In diesem Labyrinth kann sich nicht nur nach vorn, hinten und zur Seite, sondern auch nach oben und unten bewegt werden; in beiden Filmen gibt es schwindelerregende, bild- und somit raumverzerrende Kamerafahrten ebenso wie zur visuellen Desorientierung beitragende taumelnde Aufund Schrägsichten, die an der Verunklarung räumlicher Ordnungen mitwirken. Wo jene Riesenkonstruktion tatsächlich zu verorten ist – ob im All schwebend, in einer unbekannten Dimension oder auf einem weitläufigen und geheimen Militärgelände – wird bis zum Ende des Films nicht geklärt werden. Umgeben von einer lichtschluckenden Schwärze gewinnt diese architektonische Konstruktion damit Züge eines geschichtslosen »Nicht-Orts«, denn »[s]o wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort« (Augé 1994: 83). Der Kubus kann in keine stabile Relation zu anderen Plätzen oder Räumen gesetzt werden und radikalisiert das Konzept des Nicht-Ortes5 , insofern er tatsächlich kontextlos (und damit von anderen Orten abgespalten) ist (im Gegensatz etwa zum Flughafen, zu dem es nicht nur Verbindungsstraßen gibt, sondern innerhalb dessen Laufbänder und Rolltreppen Bewegung verwalten). Nur eines ist von Anfang an unmissverständlich klar: Der titelgebende Cube wird für die nächsten neunzig Minuten Schauplatz eines unheimlichen Ausnahmezustandes sein, in dem die Architektur und diejenigen, die sich in ihr befinden, außer sich geraten. Die Gruppe setzt sich in Bewegung, um einen Ausweg zu suchen, stößt dabei aber nur auf immer neue Räume, die mit tödlichen Fallen gespickt sind – es geht also nicht nur um die Suche nach einem Ausweg, sondern ums blanke Überleben. Freud expliziert eine gewisse Wiederholungserfahrung (vgl. Freud 1989a: 257ff.) als zentralen Aspekt des Unheimlichen und er tut dies sogleich implizit in Verbindung mit einer labyrinthischen Struktur, berichtet er – wie bereits im Aus-Gang beschrieben – vom Umherirren in einem Hafenviertel, in dem er sich zu verirren droht, sehen sich alle Gassen und Häuserfronten zum Verwechseln ähnlich. Freuds unheimliche Wiederholungserfahrung wird in Cube insofern architektural, als die den Kubus bildenden Kammern bis auf leichte Farbunterschiede kaum voneinander unterscheidbar sind. Gleich also Freuds Wiederholungserfahrung beim Umherirren in einem Hafenviertel, markiert die (nie ganz identische) Raumwiederholung in Cube, dass »das Unheimliche ebenfalls eine Art Wiederholung [ist] […], eine Wiederholung, die paradoxerweise das Identische zugleich konstituiert und dekonstituiert« (Weber 1981: 131). Jeder neue Raum erweist sich in Form und Ausmaß als Wiederholung des vorherigen, Aussen und Innen fallen zusammen, was den nervlichen Zusammenbruch der Gefan-

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Ein Namenloser muss sich etwa zwanzig Minuten lang in Haze, einem 2005 von Shin’ya Tsukamoto, der sowohl Regie, Produktion als auch Hauptrolle übernahm, realisierten Kurzfilm, durch ein Betonlabyrinth manövrieren und scheint ebenso wie das Personal von Cube nicht zu wissen, wo er ist und schon gar nicht warum – Labyrinthe scheinen, denkt man an dieser Stelle auch an Dark City (eine Stadt, die ortlos, dafür aber äußerst bewegungsreich durch das All schwebt) die Tendenz zu haben, sich zu entkontextualisieren, zu entorten, also zu deplatzieren und sich entsprechend Fest-Setzungen zu verweigern (um dabei zusätzlich selbst in sich keine feststehenden Konstrukte zu sein).

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genen entscheidend vorantreibt. […] Auf engstem Raum entwirft Vincenzo Natali eine Topographie des Zerfalls menschlicher Kultur unter Extrembedingungen. (Keutzer 2002: 300) Einen Ausgang zu finden erweist sich für die ProtagonistInnen jedoch als ebenso unmöglich wie Weiterleben, kommen nahezu alle ums Leben, sei es durch in den Kammern ausgelöste Fallen oder die Hand der anderen. Eine einzige Figur nur scheint den Cube nach ihrer architekturalen Odyssee zu verlassen, sieht man sie doch kurz vor Ende der Filmspielzeit in einen weiß erleuchteten Raum hineingehen, der angeblich nach draußen führen soll – ob diese Perspektive jedoch tatsächlich einer intensiveren Betrachtung standhält und welche Konsequenzen eine Versagung dieser Perspektive hat, wird an späterer Stelle nachgegangen. Doch ist an Cube weniger der Überlebenskampf des Figurenensembles interessant, als vielmehr die raumpotenzierende Architektur, die es für die ProtagonistInnen zu überleben gilt, insofern dieser Raumvervielfachung sich Bewegung einträgt, ist doch die hier inszenierte Architektur zusätzlich kinetisch und damit wesentlich unheimlich. Zwar bemerken die Überlebenden erst gegen Ende des Films, dass nicht nur sie sich durch die unzähligen, dunklen Räume des Kubus hindurch, sondern dass auch die einzelnen Kammern des Kubus, der also vielfach in sich zerstückelt ist, sich um sie herumbewegt haben, doch des Kubus Kammern sind die ganze Zeit insgeheim permutiert, sind also die ganze Zeit in Bewegung gewesen; der Würfel ist in sich zergliederte Architekturmaschine(rie), die ihre Glieder (ursprungs- und ziellos) umherwandern und damit ihre Räume mäandern lässt. Nicht nur das Filmpersonal irrt in und durch die zwielichtigen Räume, vielmehr noch irren die Räume selbst umher. Die einzelnen Räume des Cube in Cube zirkulieren um-, auf-, unter- und übereinander und werden nie stillgestanden haben, sie sind ihr eigener Um-Lauf, ihre eigene Zerlegung, ihr eigenes, immer schon in Gang gesetztes Dissoziieren.

4.1.1.2 Zerstückelungen: Körper, Bilder, Räume Der Cube in Cube geriert sich als »enigma of the space« (Walther 2011: 296), als (Raum)Rätsel6 , es oszilliert nicht nur seine räumliche Struktur, sondern Räume erlangen letale Effizienz: Wie man bereits im Alderson-Prolog und auch später an Rennes Tod – sein Gesicht wird von aus den Wänden spritzender Säure zerfressen – sehen kann, ist der Kubus mit tödlichen Fallen ausgestattet, sodass jede neue Kammer eine potenzielle Gefahr darstellt, wie Quentin die anderen wissen lässt: »There’s traps. Ubitraps [in der deutschen Synchronversion ist von »unheimlichen Fallen« die Rede]. I looked into a room down there and something almost cut my head off« (Natali 2004: 00:06:3800:06:44) – mal ist es eine Art Bewegungssensor, der eine Falle zuschnappen lässt, ein anderes Mal hingegen schleichen die InsassInnen nahezu lautlos durch eine Zelle, 6

Die Spieleentwicklungsfirma Rusty Lake hat sich das Konzept des Raumrätsels für die hauseigene Cube-Escape-Serie dienstbar gemacht: In mittlerweile über zehn Spielen, die man sich kostenfrei auf PC oder Smartphone laden kann, müssen SpielerInnen an Orten wie einer Höhle, einem Theater oder einem Hotel allererst durch das Auffinden des Rätsels im Raum den Raum als Rätsel lösen, insofern es herauszufinden gilt, welche Gegenstände im Raum Hinweise liefern, wie diese Hinweise zu verstehen sind und schließlich der jeweilige Ort zu verlassen ist.

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um nicht durch ein Geräusch einen tödlichen Mechanismus auszulösen. Dass bereits im Alderson-Prolog vergleichsweise viele Augen-Close Ups gezeigt werden und wenig später das Bild des von fast unsichtbaren Drähten zerschnittenen Körpers Aldersons präsentiert wird, ruft den von Lacans Psychoanalyse des Spiegelstadiums prominent konferierten Topos des corps morcelé, des zerstückelten Körpers, auf den Plan. Der zerstückelte Körper findet seine Einheit im Bild des anderen, das sein eigenes antizipiertes Bild ist […]. Das Subjekt ist niemand. Es ist zerlegt, zerstückelt. Und es blockiert sich, es wird angezogen von dem zugleich täuschenden und realisierten Bild des anderen oder überhaupt von seinem eigenen Spiegelbild. (Lacan 1991:73) Zugunsten einer antizipierten – im Imaginären verhafteten – Ganzheit, einer Gestalt, die (zunächst) den anderen, mit dem sich das infans verkennend identifizieren wird, im Spiegel betrifft, wird der zerstückelte Körper, als den sich das motorisch unausgereifte Kleinkind erfährt, im Spiegelstadium aufgegeben, verleugnet, verdrängt – und was verleugnet und verdrängt wird, kehrt, nicht selten als unheimliches, wieder. Lacan selbst weist im Spiegelstadiumaufsatz darauf hin, dass jener ge- und zerteilte Körper in Träumen oder Gemälden etwa von Hieronymus Bosch wiederkehrt und alle Vorstellungen von Vollständigkeit brüchig werden lässt, womit nichts weniger als die Integrität des Körpers zur Disposition steht (vgl. Lacan 1996d: 67), sodass Angst ins Spiel kommt: »Vor dem Krieg verbindet Lacan in seinen Schriften die Angst in erster Linie mit der Drohung der Zerstückelung, mit der das Subjekt im Spiegelstadium konfrontiert wird« (Evans 2002: 41), was Cube bereits vor dem Vorspann dokumentiert. Durch die Zerstückelung des so als Bruchzone exponierten Körpers Aldersons wird der Würfel in Cube bereits in den ersten Filmminuten auch insofern als unheimliche Architektur präpariert, als er den unheimlichen, aus der Versenkung der Verdrängung wiederkehrenden fragmentierten Körper in Szene (zer)setzt. Jener zerstückelte Körper wiederum ist mit der Medientechnik des Kinos – und seiner nicht minder narzisstischen Selbstreflexion – verknüpft (nicht von ungefähr entstehen Kino und Psychoanalyse zur selben Zeit), wie Friedrich Kittler in seiner nach der Lacan’schen Trias des Realen, Imaginären und Symbolischen aufgebauten Studie Grammophon Film Typewriter (1986) hervorhebt: Münsterbergs Fragen [zu den Anfängen des bewegten Films, M.F.] bleiben offen, weil Verfilmung schon vom Prinzip her Schnitt ist: Zerhackung der kontinuierlichen Bewegung der Geschichte vorm Sucher. […] Zerhackung oder Schnitt im Realen, Verschmelzung oder Fluss im Imaginären – die ganze Forschungsgeschichte des Kinos spielte nur dieses Paradox durch. (Kittler 1986: 180/187) Wie in der zerteilenden Hinrichtung Aldersons sowie Rennes’ Tod, aber auch in den ersten Augen-Close Ups sowie den zunehmend schneller werdenden Schnittfolgen deutlich zu erkennen ist, droht nicht nur der Kubus, die Eingesperrten7 körperlich

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Hier kann nur von den Eingesperrten gehandelt werden, die Natalis Cube tatsächlich zu sehen gibt. So wie die ProtagonistInnen des Films scheinbar nichts über den ZuschauerInnen bekannten Alderson wissen und auch keine Leichenteile von ihm gefunden werden, könnten sich noch weitere Personen in der Würfelkonstruktion befinden, ohne dass ZuschauerInnen darüber informiert werden.

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auseinanderzunehmen; ihre Körper werden bereits von der Kamera als auch von der Montage immer wieder und immer hastiger zerlegt, ist die »Zerstückelung des Körpers die grundlegende Praktik des Films« (Shelton 2008: 103) – womit die von Kittler angesprochene Zerhackung vorm Sucher, die dem Kinodiskurs immer schon eignet, besonders aber in und durch Splatter-Filme und solche Filme, die sich wie Cube der Elemente dieses Genres bedienen, zum Tragen kommt, adressiert wird. Die in ihnen dargestellten Körper erleiden, was Film selbst immer schon tut: Schneiden, Reißen, Fragmentieren und Demontieren, Überblenden, Vernähen, insofern der Horror-Film »die geschlossene Oberfläche der Haut auf[reißt], zerschneidet, durchbohrt und durchdringt« (ebd.: 319). Haut – die des Films und seiner Bilder wie die der ProtagonistInnen – gets nip/tuck/nip/tuck/nip/tuck… Der Körper-Horror des Splatterfilms konfrontiert die Zuschauenden mit gewaltsam geöffneten, aufgebrochenen und aufgeschlitzten Körpern. Augen werden ausgestochen, Arme und Beine abgetrennt und Köpfe durchbohrt. Die film- und kameratechnische Fragmentierung des Körpers in Schnitt und Ausschnitt wird in die Fragmentierung des Körpers durch das Aufschneiden und Zerteilen mit scharfen oder spitzen Gegenständen übersetzt. (Meteling 2012: 11) Somit werden in Cube zwei narzisstische bzw. phantasmatische Strukturen verschränkt; der zerstückelte Körper, der im Spiegelstadium zugunsten der imaginären Vorstellung von Ganzheit verdrängt wird und in Körperzerteilungsbildern (unheimlich) wiederkehrt und die Zerhackung vorm Sucher im Realen, die vom kontinuierlich ablaufenden und somit das Imaginäre produzierenden Film kaschiert, in Körperzerteilungsbildern selbstreflexiv ausgestellt wird und in raschen Schnittfolgen wiederkehrt, »denn der Filmkörper konstituiert sich gerade aus Bildfragmenten« (Shelton 2008: 102). Der filmtechnische Selbstbezug von der Handlung auf die diese Handlung ermöglichenden Medien ist somit zugleich ein Bezug dieser Medien auf die Handlung, wobei dieser doppelte Bezug der film- und subjektreflexiven Körperzerteilung wiederum selbst in Bezug zum Kubus steht, insofern der doppelte Bezug als solcher die nie zu einem Ende kommende – bzw. wie am Schluss dieses Kapitels zu zeigen ist: möbiusbandhafte – Bewegung Cubes (des Films und des Kubus) – und umgekehrt signifiziert. Nachdem sich nun die oben genannten, bereits vom Kameraobjektiv zersetzten Personen flüchtig miteinander bekannt gemacht haben – auch ZuschauerInnen werden mit dem Figurenensemble nicht wirklich vertraut –, beginnt das zunächst an Sartres Geschlossene Gesellschaft (1944) erinnernde Kammerspiel8 Fahrt aufzunehmen: Rasch wird dem zunächst noch orientierungslosen Personal von Cube klar, dass es in einen labyrinthischen Komplex gesperrt worden ist, den es, will es ihn lebend verlassen, zum Aus8

Gedreht wurde in einem Warenlager der kanadischen Wallace Street Studios tatsächlich nur auf einer einzigen, ca. 4,3m mal 4,3m großen Bühne, deren Wand- und Deckenpaneele für jeden Raumwechsel umgebaut wurden – was Cube nicht automatisch zu einem guten Bühnenstück machen würde: »At the suggestion that the concept lends itself well to stage, Natali bursts out laughing. ›We’re working on the Cube musical right now‹, he jokes.« (Baldassarre 2003: 103). Natali schrieb das Drehbuch gemeinsam mit seinen Freunden André Bijelic und Graeme Manson und realisierte mit weniger als einer halben Million Dollar ein klaustrophobisches architekturales Filmexperiment (vgl. Berman 2018: 91ff.).

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gang9 hin durchdringen muss. Gemäß dem auf einem Kinoplakat zu Cube zu lesenden Slogan Don’t look for a reason, look for a way out, setzen sich die ProtagonistInnen10 in Bewegung und beginnen, diesen unheimlichen Bau zu erkunden, dessen kolossale Dimensionen und unheimliche Dynamik sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht erahnen können. Die beiden Frauen und die drei Männer, die scheinbar willkürlich und ohne erkennbare Relation zueinander von Unbekannten an diesen Ort verbracht worden sind, tasten sich einige Kammern vor, allerdings nicht ohne ein Todesopfer, Rennes, beklagen zu müssen, bis plötzlich die letzte Person, der Autist bzw. Savant Kazan, aus einer Deckenluke zu den anderen stürzt. Von nun an bewegt sich eine Gruppe von insgesamt fünf11 Menschen weiter von Kammer zu Kammer. Man erinnert sich neben Sartre auch an Becketts Der Verwaiser (der französische Titel Le dépeupleur wurde von Beckett selbst mit The Lost Ones ins Englische übertragen): Nicht in einem Kubus, sondern in einem rätselhaften Zylinder, »[e]ine Bleibe, wo Körper immerzu suchen« (Beckett 2019: 7) müssen sich in vier Gruppen aufgeteilte Menschen orientieren, wobei sie starken Temperaturschwankungen und einem kontinuierlichen Wechsel von Hell- und Dunkelphasen ausgesetzt sind. Ohne je wirklich miteinander zu sprechen versuchen die unzähligen Namenlosen mal nur mit den Augen, mal mithilfe von Leitern den Raum erkletternd, einen Weg nach draußen zu finden – ob es ein Außerhalb des Zylinders, wie es das Gerücht um eine in

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Fun Fact: Mit CubeSim – The Interactive Cube Simulator kann man online überprüfen, wie lange man selbst im Cube überlebt hätte. Natali hat bereits zwei Jahre vor Cube in dem knapp zwanzigminütigen Kurzfilm Elevated das Konzept von in einen Raum gesperrten Menschen erprobt und sich dabei auch vom niederländischen Klassiker allen Fahrstuhlhorrors, Dick Maas’ De lift (1983) inspirieren lassen: Zwei einander unbekannte Personen, Ben und Ellen, betreten einen Aufzug, in den bald ein aus dem Nebel der Parkebene P4 hervoreilender Mann, Hank, unter stetigem Rufen von »Hold the elevator!« (Natali 1996: 00:03:01-00:03:05) zusteigt und der ihnen blutüberströmt erklärt, dass hier etwas ähnlich wie in Alien (ein Film, der ebenfalls in einem abgeschlossenen Raum, der Nostromo, die von einem Alien heimgesucht wird, spielt) vorgehe, wobei die ProtagonistInnen ein Geräusch vernehmen können, das auch ähnlich wie das Grollen in dem Ridley Scott-Film, der erstmals eine weibliche Heldin in einer Science Fiction-Produktion auftreten lässt, klingt. Als sich zwischenzeitlich die Tür des Fahrstuhls öffnet, steigt Ben aus, aber nur, um wenig später als ausgeweideter Kadaver aus der Deckenklappe herunterzuhängen, was Ellen so in Panik versetzt, dass sie schließlich Hank, gespielt von David Hewlett, der in Cube die Rolle von Worth übernehmen wird, mit mehreren Messerstichen tötet. Wieder auf Ebene P4, wo sich erneut die Aufzugstür öffnet, rennen mehrere verzweifelte Menschen aus einem Nebel heraus in den Fahrstuhl, in dem Ellen wie angewurzelt stehen bleibt, hinein. Im Dezember des Jahres 1961 wurde die 79. Folge der Anthologie-Serie Twilight Zone mit dem Titel Five Characters in Search of an Exit ausgestrahlt und erinnert bzw. antizipiert verdächtig das Geschehen in Vincenzo Natalis Cube, garniert mit etwas Beckett: Fünf amnesische Personen unterschiedlichster Couleur erwachen in einem zylindrischem Raum ohne Wissen, wie sie dorthin gelangt sind; ein uniformierter Major mit Schnurrbart, eine zierliche Balletttänzerin im weißen Tanzoutfit, ein Landstreicher in abgewetzter Kleidung, ein traditionell gekleideter Dudelsackspieler und ein Clown, dessen Erscheinung zwischen unheimlich und amüsant changiert, versuchen in dieser Folge auf verschiedene Weise, dem Raum zu entfliehen, doch nur der Major kann (scheinbar) entkommen. Am Ende der Folge sieht man ein kleines Mädchen, das eine Puppe in Militärkleidung aus dem Schnee hebt und in einer zylinderförmigen Kiste, in der bereits weitere vier Puppen liegen, verstaut.

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die Decke eingelassene Tür suggeriert, tatsächlich gibt, kann nicht abschließend geklärt werden.

Abbildung 3: Vincenzo Natali, Cube, 00:45:01

Abbildung 4: Vincenzo Natali, Cube, 00:23:07

Nicht nur mit den Augen sind die ProtagonistInnen von Cube ständig in Bewegung und dabei auf der Suche nach einem Ausgang. Da sie weder über Nahrung noch Wasser verfügen, ist die Zeit, die ihnen zum Finden eines solchen zur Verfügung steht, auf wenige Tage beschränkt, aber sie wagen das nahezu Unmögliche, zu dem Quentin sie ermutigt: »There’s a way in here, so there’s gotta be a way out« (Natali 2004: 00:09:59-00:10:02). Doch diese Aussage, einen Weg hinaus müsse es ebenso geben wie einen hinein widerspricht dem, was einerseits ZuschauerInnen zu sehen bekommen und was andererseits dem Filmensemble auf Handlungsebene widerfährt: Es gab nie einen Weg, der ins Kubuslabyrinth gegangen worden ist, vielmehr befinden sich alle überblickslos von Beginn an immer schon im Labyrinth, dessen Bewegungen ebenfalls immer schon begonnen haben werden. Der Weg ist immer schon weg, abhandengekommen, sowohl hinein als auch hinaus, wie noch gezeigt wird. Mal entschließen sie sich, das verschachtelte Labyrinth in scheinbar eine Richtung zu durchschreiten, mal klettern sie durch Bodenluken in einen neuen Raum und wieder ein anderes Mal helfen sie sich gegenseitig, um durch die Öffnung an der Decke einer Kammer steigen zu können. Ohne je zu wissen, ob überhaupt ein dafür vorgesehener Ausstieg existiert, erzwingt das Labyrinth als tatsächlich tödliche Konstruktion das zugehörige Pathos eines absurden Spiels. […] Der vom Alltagsrealismus abstrahierte, ins Surreale verfremdete Kunst-Raum des Films prägt der Carceri-/Irrgarten-Situation die düstere Erhabenheit einer Quasi-Parabel auf, einer Parabel, wie sie sich in Samuel Becketts Stücken finden. (Koebner 2007: 136f.) Schon in jenen Sequenzen kurz nachdem sich die Gruppe in Bewegung gesetzt hat, entsteht der Eindruck, als ob die Räume eine endlose Enfilade aus kubischen Zellen hinziehen würden, um nicht aufzuhören, neue und sich dabei neu anordnende Raumketten zu bilden. Wenn Koebner die Räumlichkeiten des Bürokomplexes in Orson Welles’ Der Prozess (1962) untersucht und konstatiert, dass sich der Kameralinse »Korridore und Kammern [bieten], die nichts behaglich Bergendes mehr an sich haben, die auch scheinbar endlos ineinander münden« (Koebner 2007: 131), lässt sich diese Beschreibung auch auf Cube beziehen. Das Kammersystem ist gewissermaßen eine Verkettung gefangener Räu-

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me – jeder Raum ist des anderen Raums Durchgangsraum (und ist er es gerade nicht, da er an den Rändern des Cube temporär situiert ist, so war er es, wird es sein und wird es gewesen sein). Cube zeigt sich bereits hier als ein Film und eine Architektur, die jeglichen Anfangs und Endes entbehrt und einen Vor-Gang beobachten lässt, bei welchem »one room can substitute another« (Baldassarre 2003: 101) und zwar ohne festzulegen, in welcher Reihenfolge diese Ersetzung geschieht, wo sie begonnen und wo sie aufgehört haben wird. Die zerstückelten Körper Cubes – um die es dem Film nicht in erster Linie zu gehen scheint –, ganz besonders aber jener mit klinischer Präzision vielfach durchschnittene Aldersons ähnelt den vielen Räumen, die den Kubus bilden und doch immer wieder reorganisiert werden, sodass der Kubus keine stabile Gestalt erhält (wie auch der Körper keine stabile Einheit sein kann), vielmehr in sich gespalten ist und dennoch – als strukturale Konstellation ohne einheit- und füllestiftendes Zentrum – funktioniert: ein allegorisches Verhältnis von Kammer und Körper, das wiederum selbst dem von Bild und Körper ähnelt, sodass sich ein – lose an Lacans Trias des Realen, des Imaginären und des Symbolischen erinnerndes – allegorisches Dreieck zwischen Körper, Bild und Raum, das nur durch Spaltung zusammengehalten wird, ergibt. An der Erstellung jener unheimlichen, sich bewegenden Räumlichkeiten ist die Kameraarbeit maßgeblich beteiligt, denn »zusätzlich« zur labyrinthischen Struktur des Kubus »erschweren die hektischen Reißschwenks einer nervös zuckenden Kamera […] die Orientierung« (Keutzer 2002: 300) innerhalb dieser raumvervielfachenden Architektur. Insofern ZuschauerInnen fast durchweg mit den InsassInnen in einer der Kammern sind und Wände und Winkel dieser Kammern sehen, stellt sich die Ähnlichkeit zum kadrierten filmischen Einzelbild, zum Filmframe mit seinen vier Seiten ein; da ein Film nicht nur aus einem, sondern aus vielen Bildern besteht – ebenso wie der Kubus nicht aus einer, sondern aus vielen Kammern besteht – entpuppt sich der Kubus als Allegorie eines raumgewordenen Films, in der die Kammern die Filmframes allegorisieren und umgekehrt. Die Raumanordnung des Kubus ist eine dynamische und wird nie mit sich selbst identisch gewesen sein; die Kammern sind nicht fest an ihrem Platz, haben keinen festen Platz, sondern befinden sich stets in Bewegung, verschieben und ordnen sich neu. Der Kubus wird sich also nicht nur als Gewirr aus mit Fallen präparierten Räumen12 zeigen, 12

Sich bewegenden und zur Falle mutierenden Räumen werden auch die ProtagonistInnen der 2019-er Produktion Escape Room von Adam Robitel ausgesetzt: Sechs Personen, die alle einen schrecklichen Unfall oder Angriff überlebt haben, erhalten unabhängig voneinander in einem Würfel eine Einladung für das neuste Escape Room-Spiel, dessen GewinnerIn zehntausend Dollar Preisgeld erhalten soll. Sie alle treffen sich in einer abgelegenen und scheinbar seit Jahren leerstehenden Lagerhalle und sind bereits mitten im Spiel, als sie noch glauben, eigentlich auf den Gamemaster zu warten – nachdem ein Raum bereits seine Wände erhitzt hat und sie durch einen Lüftungsschacht herauskriechen konnten, finden sich die ProtagonistInnen anschließend in einer Eislandschaft inklusive gefrorenem See, in dem einer von ihnen ertrinken wird, wieder –, um im Anschluss in einem auf dem Kopf stehenden Raum zu landen, der sukzessive an Boden (oder Decke?) verliert, was eine der Mitspielerinnen ihr Leben kostet. Nachdem sie ein Krankenhaus und einen psychedelische Halluzinationen hervorrufenden Raum passiert haben, schaffen es schließlich eine junge Frau und ein Mann durch einen Schacht lebend aus dem Escape Room – aber nicht aus dem Spiel: Zwar entkommen sie dem Gamemaster, der sie über die Rahmenbedingungen des Spiels, nämlich reiche Menschen, die Arme zu Unterhaltungszwecken in perverse Gebäudema-

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sondern durch die Verschiebbarkeit der einzelnen Kammern zugleich eine Art »technische Modulation des Irrgartens« implementieren, »in der alle Wege gleich unwichtige Kuben im Gewebe umgrenzen« (Koebner 2007: 131), insofern hier eine bis zum Ende un-fassbare Mechanik für Rotation und Permutation der einzelnen Kubuszellen verantwortlich zeichnet. Das räumliche Durcheinander des in bewegliche Kammern gegliederten Würfels erinnert dabei an Rubik’s Cube, seit spätestens dessen Erfindung man Würfel nicht länger als starre und unbewegliche Objekte, sondern durchaus als zergliederte und flexible Objektkonstellation vorstellt, ist doch dieses im deutschsprachigen Raum als Zauberwürfel bekannte Spielzeug des ungarischen Architekten Ernö Rubik eine Art dreidimensionales Drehpuzzle aus 26 auch cubies genannten Steinen (die Mittelsteine sind fest montiert), für dessen Lösung sich mittlerweile zahlreiche Disziplinen, wie etwa das Blindfold Cubing, bei dem sich eine bereits verdrehte Kästchenanordnung eingeprägt und der Würfel schließlich ohne den (weiteren) Einsatz des Sehsinns wieder in die eigentliche Grundstellung gebracht wird, etabliert haben. Auch der Zauberwürfel selbst wächst gewissermaßen weiter, hat etwa Rubik’s Master Cube bereits 56 Steine, wohingegen der konvexe V-Cube 7 ganze 218 Teile umfasst. Natalis Filmpersonal scheint gefangen in einem gigantischen Rubik’s Cube mit einer eigenen Mechanik, jedoch kann es nicht wie die grandiosen MeisterInnen des Zauberwürfels den Cube von außen angehen, sondern muss von innen mit ihm fertig werden. Verbunden werden die umherziehenden Räume, durch die die ZuschauerInnen die InsassInnen laufen, kriechen, klettern, steigen, schleichen und rennen sehen, nicht nur durch tresorähnliche Türen, die in je andere Räume führen, sondern durch winzige, nur kriechend passierbare Passagen zwischen den Türen, wobei diese kleinen Korridore als Zwischenräume mittig in die Kubuskammern eingeschlossen sind; die Räume werden durch Zwischenräume miteinander verkettet. In jedem dieser türrahmenähnlichen Zwischenräume ist je ein Zahlencode von drei mal drei Ziffern angebracht (etwa 517 478 565), jeder cubie ist also von sechs Durchgängen mit je verschiedenen Zahlentripletts umgeben; diese auf kleinen Tafeln in den Wänden der Luken eingelassenen Zahlenkombinationen scheinen den Gefangenen Hinweise darauf zu geben, ob ein Raum betreten werden kann oder ob mit einer originellen Mordmaschine gerechnet werden muss – bis jedoch klar ist, wie diese Zahlencodes verstanden werden müssen oder ob sie überhaupt zur Enträtselung des Kubus beitragen, werden einige Räume für alle bis auf einen Verschleppten tatsächlich zu Cubicula, zu Grabkammern in einer Art Katakombe, die sich stets neu verbirgt und dabei vervielfacht. Die Überlebenden selbst bemerken, wie bereits erwähnt, erst sehr spät, nämlich kurz vorm vermeintlichen Erreichen des Ausgangs, dass tatsächlich nicht nur sie sich auf ihrer Erkundungstour durch die einzelnen Farbräume dieser Architekturmaschine bewegt haben, sondern dass die Würfelkammern selbst ähnlich den bunten cubies eines Zauberwürfels sich die ganze Zeit über nach einem zumindest für die Eingeschlossenen nicht kalkulierbaren Rotationsprinzip immer wieder neu angeordnet, verschoben, neu arrangiert und in ihrer Bewegung jeden Versuch einer Positionsbestimmung verunmöglicht

schinen sperren, aufklärt, aber nicht dem tödlichen Spiel selbst, dessen Weitergehen ähnlich wie in David Finchers The Game (1997) aufgemacht wird, wenn die beiden Überlebenden gemeinsam zu einer anderen Escape-Rooms bergenden Halle fliegen wollen und man zugleich die Simulation eines Flugs, bei dem ein Zahlenrätsel zu lösen ist, zu sehen bekommt.

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haben werden. Gegen Ende des Films finden sie die Leiche von Rennes, die sie zu Beginn zurückgelassen hatten und registrieren dabei, dass eine Klappe nicht mehr dorthin führt, wohin sie vorher geführt hatte, dass also die Räume sich verschoben haben (vgl. Natali 2004: 01:04:57-01:05:19). Ohne genau bestimmen zu können, wann diese Bewegung das erste Mal eingesetzt hat (und ob sie je zu einem Ende kommen wird), bleibt den Eingeschlossenen wie auch dem Publikum nichts anderes übrig, als davon auszugehen, dass sich die Räume immer schon in einer nicht völlig erfassbaren Bewegung, nach den Gesetzen eines unbestimmten Rhythmus oder Algorithmus umgeordnet und dabei ihrer letztgültigen Verortung entzogen haben werden. Von Grund auf unverortbar, entpuppt sich der Kubus als Architekturmaschine permanent permutierender Ver-Ortung, als unheimlicher Architekteur. Das Sich-an-und-ineinander-entlang-und-Vorbeischieben, kurz: die Permutation einzelner cubies zu je neuen Konstellationen ist nicht nur Spielprinzip von Rubik’s Cube, sondern die architekturale Strategie (der cubies) des sich stets neu arrangierenden Kubuslabyrinths in Natalis Film, wo die Eingesperrten nicht nur tödlichen Fallen und ihren Mitgefangenen ausgesetzt, sondern auch und vor allem mit der Kinetik ihres Gefängnisses konfrontiert sind, das aufgrund ebenjener anhaltenden Neuanordnung seiner Einzelteile gängige Lösungsalgorithmen – wie etwa die Rechte-Hand-Methode oder die Trémaux-Strategie, die eben nur dann funktionieren können, wenn sich kein anderer Weg auftun kann – fehlschlagen lässt. Somit wird nicht nur durch ein komplexes Labyrinth gewandert, sondern das Labyrinth ist selbst stets der Transposition verpflichtet – etwas Wanderndes und (sich) Wandelndes, eine architekturale Anagrammatik, die die irrende Wanderschaft im Labyrinth durch die Wanderschaft des Labyrinths potenziert.

4.1.2 Augen und Blicke 4.1.2.1 Augen im und des Kinos I’m still watching. It is still watching me. (Royle 2003: 75) Die ersten Bilder von Cube zeigen das Choker Close Up eines einzelnen, noch verschlossenen Auges, das langsam beginnt sich zu öffnen, um sich dabei den Lichtverhältnissen des Raumes anzupassen. Mehrere Sekunden blicken ZuschauerInnen jenes Auge und jenes Auge ZuschauerInnen an – eine der prägnantesten Szenen, in der Cube darüber informiert, dass das Auge, das Sehen und der Blick in besonderer Weise hervorgehoben werden und um damit die Apparatur des Kinos und ihre Wahrnehmungsweisen reflexiv ins Spiel zu bringen. Die Zurschaustellung eines Auges oder die von Augenpaaren hat dabei in der Tradition des Kinos eine nicht unbedeutende, da kinoreflexive Stellung eingenommen und schaltet Cube so an eine Reihe von Filmen, die den Blick zum Dreh- und Angelpunkt sowohl ihrer eigenen Narration wie ihrer Verfahrensweise machen. Zwar gibt es nahezu keine Filmproduktion, die ohne Abfilmen und Zurschaustellung von Augen unter Einsatz diverser Close Ups auskommen würde – seien es die angsterfüllten Augen der Protagonistin aus Blair Witch Project (1999) oder die zahlreichen Einstellungen in Lost Highway (1997) – dennoch zeigen sich gerade Horror- und Slasher-Filme als ausgewiese-

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ne Orte schauender und beschauter Augen, in deren Tradition Cube (auch) steht. »Horror privileges eyes because, more crucially than any other kind of cinema, it is about eyes« (Clover 1993: 167) bzw. handelt vom Starren, Überwachen, Zerfetzen, Zerquetschen, Spähen und Aushöhlen eben dieser, schließlich ist »[o]ne of the most frequent and compelling images in the horror film repertoire […] that of the wide, staring eyes of some victim, expressing stark terror […]« (Telotte 1980: 151). Dabei sind es sowohl Ansichten schauender, aber auch desintegrierter Augen – rotgeädert, verwundet, entzündet, verkrustet, vereitert, verklebt, blutend, zerdrückt, ausgerissen, -gestochen oder -operiert –, die vom Horror-, besonders vom Splatter- und Slasher-Film ins Bild (zer-)setzt werden. Bevor es um den unheimlichen Zusammenhang von Blickstruktur und Würfelarchitektur zu tun ist – denn genau diesen Zusammenhang stellt der Alderson-Prolog, wie gezeigt wird, her – soll anhand kurz angeschnittener Exempel verdeutlicht werden, wie die Präsentation von Augen zum einen darauf hinweist, dass Kino (und mit ihm Cube) nicht in der Lage ist, sich nicht auch immer selbst zu thematisieren und seine eigenen Verfahrensweisen auszustellen und zum anderen darauf, dass ein Film nicht nur gesehen werden kann, sondern dass das Medium selbst bereits auf unheimliche Weise blickt. Allen voran ist es Luis Buñuels und Salvador Dalís schockierender und durch diesen Schock berühmt gewordener Augenschlitzer aus Un chien andalou (1929), bei dem Filmschnitt und Zerschneiden des Auges zusammenfallen und dabei zugleich das Kinopublikum von diesem Auge in den Blick genommen wird; zu sehen ist in der populären Szene eine Frau vor einem Rasierspiegel, eine Hand mit einem Rasiermesser nähert sich ihrem geöffneten Auge und durchschneidet schließlich ihren Augapfel (der eigentlich ein Rinderauge ist, aber der Filmschnitt tut an dieser Stelle sein Übriges), wobei dieser Augapfel »is perhaps the grandfather of the tradition« (Clover 1993: 191) das filmische Sehen durch das Zeigen des Sehorgans zu reflektieren und demonstriert, dass »the eye of horror works both ways. It may penetrate, but it is also penetrated: so the plethora of images of eyeballs gouged out or pierced with knives, ice picks, and hypodermic needles […]« (ebd.). Vor allem das Horror-Genre, dem auch Cube partiell verpflichtet ist, ist beständig damit beschäftigt, das Organ Auge13 inklusive seines Blutes, Schleimes und seiner Sekrete zu inszenieren, was sich an einem der erschreckendsten, das Auge betreffenden Jump Scares festmachen lässt, den man in dem 2014 erschienenen Film Ich seh Ich seh des Regieduos Veronika Franz und Severin Fiala zu sehen bekommt, in dem das Zwillingspaar14 13

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George Batailles Die Geschichte des Auges (1928) ist eine prominente Erzählung über Lust am Übertritt des Verbots, bei dem der Ekel der Erregung regelmäßig Pate steht – und zugleich ist sie auch eine Geschichte des Blicks, ist es dem Text um das Aufspannen eines Blickfeldes zu tun, in dem die ProtagonistInnen zwischen Angesehen-Werden, also Objekt-Sein und Schauen oszillieren und dabei Sadistisches wie Skatologisches adressieren. Gleich zu Beginn der Erzählung etwa, in der sowohl der Erzähler als auch die mit dem bloßen Hintern in Milch hockende Simone einander betrachten und dadurch sexuell stimuliert werden; nur wenige Seiten weiter werden beide im Wissen dieses Erblickt-Werdens von Simones Mutter bei ihren Spielereien beobachtet, damit wiederum nur wenig später eine skandalöse Orgie mit den Jugendlichen des Ortes stattfindet, bei der so ziemlich jede/r (die bestürzte Marcelle zieht sich masturbierend in einen Schrank zurück) jede/n anblickt (vgl. Bataille 1977: 12f.). Verdoppelungsstrukturen gehören zur ästhetischen wie narrativen Strategie des an einem

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Elias und Lukas glaubt, die frisch am Gesicht operierte Mutter sei nicht sie selbst. Elias beobachtet eines Abends im Türrahmen stehend seine Mutter, deren Gesicht normalerweise aufgrund einer plastischen Operation bis auf Augen- und Mundpartie mit Bandagen umwickelt ist, beim Auftragen von Gesichtscreme, wobei man ihr Gesicht allerdings nicht sehen kann, da sie mit dem Rücken zur Badezimmertür steht. Als Elias wieder zurück in sein Zimmer schleichen will, scheint die Mutter das Knacken des Holzfußbodens zu hören und blickt in den links neben dem Badezimmerschrank angebrachten Kosmetikspiegel – blitzschnell taucht eines ihrer blutunterlaufenen Augen in dem kleinen, runden Spiegel auf und starrt weniger den bereits zurückgewichenen Sohn, als vielmehr erschaudernde, von der Leinwand oder dem TV-Bildschirm zurückweichende ZuschauerInnen an. In Opera15 aus dem Jahr 1987 etwa, einem Klassiker des Giallo-Thrillers von Dario Argento, der gleich zu Beginn die spiegelnde Oberfläche der schwarzen Pupille eines Raben in Szene setzt, wird eine junge Frau namens Betty dazu genötigt, dem grausamen Mord16 sowohl an ihrer Bekannten Giulia als auch an ihrem Geliebten Stefano zuzusehen, indem ihr ein maskierter Unbekannter mithilfe von Klebestreifen Nähnadeln unter beide Augen klebt. Die junge Opernsängerin, deren Agentin im Verlauf des Films durch einen Türspion hindurch ermordet wird, wird zunächst entführt, dann stehend in einer

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abgelegenen See mit anschließendem Waldgebiet spielenden, von zwei RegisseurInnen gefertigten Films, bei dem nicht nur jede Einstellung wie ein wohlkomponiertes Gemälde daherkommt, sondern der auch das unheimlichste Zwillingspaar seit den Grady-Schwestern auf die Leinwand bringt: Bereits der Titel, der von einem Ich, das sieht, kündet, ist ein in sich verdoppelter, geht es doch um einen Sehenden, dessen Sicht dupliziert scheint, was sich kurz vor dem aufreibenden Ende des Films bestätigt: Elias ist allein, sein eineiiger Zwillingsbruder Lukas, der die Idee, die Mutter sei durch eine Doppelgängerin ersetzt worden, maßgeblich vorantreibt, starb bereits vor Einsetzen der eigentlichen Handlung bei einem Unfall (vermutlich ein Badeunfall am See). Die junge, noch nicht lange vom Vater der Kinder getrennt lebende Frau wird von den eigenen Söhnen bzw. dem einen Sohn ans Bett gefesselt und soll ihre wahre Identität preisgeben, während sie mit Licht verbrannt, ihr Mund mit Sekundenkleber zugeklebt und sie schließlich gemeinsam mit dem Designerhaus angezündet wird. Zehn Jahre später versucht Argento sich mit der gleichnamigen Verfilmung von Gaston Leroux’ Phantom der Oper, einem Schauerroman, den Walter Benjamin als einen der großen Romane des 19. Jahrhunderts klassifizierte (vgl. Benjamin 1991d: 89), an einem weiteren im Opernbau spielenden Slasher-Film, in dem die Oper mit ihrer besonderen Architektur zu einem ausgedehnten Labyrinthkomplex mit auffällig hohem Verirrungspotenzial avanciert: Ein weder Maske tragendes noch verunstaltetes Phantom lebt in Il fantasma dell’opera, scheinbar von Ratten großgezogen, seit seinem Säuglingsalter in den unterirdischen, weit verzweigten Höhlengängen der Pariser Oper, bis es sich in die junge Sopranistin Christine, die mit Baron Raoul De Chagny verlobt ist, verliebt und die eine leidenschaftliche Affäre mit ihm in den Räumen unterhalb des Opernhauses beginnt, wobei das gemeinsame Liebesspiel vom Rattenfänger (der Oper) beobachtet wird. Dieser wird schließlich die Liaison der beiden öffentlich machen und eine Kette von Ereignissen in Gang setzen, an deren Ende die gemeinsame Flucht Christines, gespielt von Argentos Tochter Asia, und Raouls in einem Boot auf einem sich unter der Oper befindlichen See und die Erschießung des noch immer namenlosen Phantoms steht. Eine Verbindung zwischen Tod, Auge und Bild leistet die Optographie, die eine Art Einbrennen des Letztgesehenen in die Netzhaut eines Toten – das Optogramm – formuliert, womit wiederum einige Filmproduktionen spielen, wie etwa 1971 Dario Argentos Quattro mosche di velluto grigio: Hier glaubt Schlagzeuger Roberto, er habe einen unheimlichen Verfolger im Affekt getötet und sei bei

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Glasvitrine gefesselt und schließlich durch ein vom Kidnapper selbst gebasteltes Nadelband17 wenige Millimeter unter ihren Augen zum Sehen gezwungen, wobei No Escape der Metal-Band Steel Crave zu hören ist. Nicht in der Lage, ihre Augen zu schließen und somit nicht imstande, ihren Blick vom blutigen Gemetzel abzuwenden, muss sie den an ihrer Freundin und ihrem Liebhaber begangenen Folterungen zusehen. Man erinnert sich sogleich an die berühmte Szene aus Kubricks Burgess-Adaption Clockwork Orange (1971), in der der Protagonist Alex (dessen Manschettenknöpfe auf dem DVD-Cover Augäpfel sind), der zuvor mit seiner Gang18 raubend und vergewaltigend durch Londons Vororte zog, durch eine die Augenlider spreizende Vorrichtung zum Sehen gezwungen ist19 .

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er Tat von einem Unbekannten gefilmt worden. Nachdem die junge Dalia ermordet wurde, erhofft sich der Pathologe vom optographischen Verfahren einen Hinweis auf den Mörder, bekommt aber nur die titelgebenden vier Fliegen auf einer samtenen Fläche zu sehen, was die Ermittlungen wenig bis gar nicht vorantreibt, bis schließlich Roberto ein Medaillon am Hals seiner wahnsinnig gewordenen Frau Nina und sie so schließlich als Mörderin erkennt. Robert Zion begreift das Nadelband in Anlehnung an Norbert Stresaus Ausführungen zur Angst-Lust als Allegorie der vorm Gesicht zusammengeschlagenen Hände von Horror-FilmzuschauerInnen, eine Geste, die das Sehen-Wollen und das Bedürfnis, sich abzuwenden kongruieren lässt: Schlägt man die Hände vor die Augen, wendet man sich von der Leinwand ab, um sich ihr gleichzeitig aber auch zuzuwenden, denn durch die in der Regel gespreizten Finger kann immer noch etwas beobachtet werden – holt Argento diese Geste indirekt durch das Nadelband auf die Leinwand, wird Opera »im Grunde ein Horrorfilm über alle Horrorfilme« (Zion 2017: 221). Alex und seine Korona verwenden dabei eine bereits in der Romanvorlage virulente Kunstsprache, das Nadsat. Die von Anthony Burgess konstruierte Sprache ist eine auf Klangähnlichkeiten beruhende Marriage aus Cockney-Englisch bzw. dem Cockney-Rhyming-Slang, der zunächst als Gaunersprache, die sich an spezifischen Reimstrukturen orientiert, zirkulierte, und russischen Vokabeln: Betont man etwa das russische хорошо (zu Deutsch etwa gut) im Stil des britischen Arbeiterslangs, wird es als Horrorshow hörbar; ähnlich kommt das in Clockwork Orange zu lesende bzw. hörbare Wort für Kopf, Gulliver, vom Russischen голова wie auch die Bezeichnung für Freund, Droog, vom Russischen друг kommt. Shaviro wird in The Cinematic Body (1993) nicht müde, die Kurzsichtigkeit und Einfachheit psychoanalytischer Kinotheorie zu betonen, was stellenweise wiederum sehr ermüdend ist. Ihm ist es im Gegensatz zu etwa Christian Metz oder Michel Chion um eine direkte Adressierung von ZuschauerInnen durch das Kinobild zu tun (ein Mechanismus, der auch bei Alex aus Clockwork Orange zum Tragen kommen soll): »I am trying to suggest that semiotic and psychoanalytical film theory is largely a phobic construct. Images are kept at a distance, isolated like dangerous germs; sometimes, they are even made the object of the theorist’s sadistic fantasies of revenge« (Shaviro 1994: 16). Kino wird hier als rein somatische Erfahrung propagiert, Shaviro spricht von »bodily agitations« (ebd.: 10): Bilder des Kinos versetzen ZuschauerInnen in Aufruhr bzw. in einen Unruhezustand, wobei ihnen eine »weird fullness« (ebd.: 16), die ihnen eine gewisse Wirkungsmacht zuschreibt und dabei ZuschauerInnen (zum Schauen) verführt, eigen ist. Das Bild von der Leinwand ist aufdringlich und wird indiskret, weil es »never distant or absent enough« (ebd.) ist – es ist sadistisch, insofern es anzusehen immer auch bedeutet, (von ihm) zum Sehen gezwungen zu werden: »I am violently, viscerally affected by this image and this sound, without being able to have recourse to any frame of reference, any form or transcendental reflection, or any Symbolic Order« (ebd.: 32). Kino zwingt ZuschauerInnen zum Verweilen bei den Bildern selbst, sie verschaffen sich (direkt) gewaltsam Zutritt zum Körper der RezipientInnen; hier wird eine direkt auf Eingeweide wirkende Unmittelbarkeit der Kinoerfahrung konstatiert, wobei der Körper viszeral adressiert wird und so das gesehene Bild direkt Lachen, Weinen, Ekel, sexuelle Erregung usw. bewirkt. Der Wirkungsmacht von Kinobildern kann man sich – zumindest im Kinosaal – nicht entziehen (man kann sich

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Alex, der einstweilen skrupellos seine Bandenmitglieder mit Schlägen demütigt und eine Frau brutal mit einem übergroßen Porzellan-Phallus erschlägt, wird im Kinosessel zum Zwangsvoyeur, der, nicht in der Lage, nicht zu sehen, mit weit gespreizten Augen20 nicht nur auf die Leinwand innerhalb des Films blickt, sondern zugleich auch auf das Publikum. Das Intro des japanischen Cyberpunk Anime Inosensu von Mamoru Oshii aus dem Jahr 2004 liefert ein für diese bereits bei Argento und Kubrick pointierte Doppelstruktur des Auges entscheidendes Bild. Als einer der wenigen animierten Filme, die in Cannes liefen, zeigt er zu Beginn unter den Klängen von Kenji Kawais The Ballad of the Puppets die Genese eines Hybriden. Neben der Visualisierung der Kombination von Biomasse und mechanischen Komponenten wird hier akzentuiert, inwiefern das Zeigen eines Auges auf der Leinwand zugleich mit Blicken, mit Angeblickt-Werden von jener einhergeht, ist das technisch konstruierte Auge eines frisch produzierten Sexbots zu sehen, das sich wie das Objektiv eines Photoapparats bzw. einer Filmkamera ausnimmt. ZuschauerInnen werden vom Medium, das sie betrachten, (wie) durch die Linse einer Kamera selbst zu Betrachteten, insofern die Pupille des Cyborg-Auges in ihrer Funktionsweise ununterscheidbar zur Linse einer Kamera wird, die sogar die Schrift, die sich oft am Rand eines Kameraobjektivs (etwa zur Angabe der Blendenzahl) befindet, hier ins Auge selbst integriert, was wiederum selbst Zitation ist. In Dziga Vertovs21 1929-er Produktion Der Mann mit der Kamera versammeln sich nicht nur diverse Aufnahmen vom urbanen Geschehen in Städten wie Kiew, Odessa und Moskau, sondern wird auch bereits die mehrfach überblendete Einstellung eines mit der Kamera(linse) verschmelzenden Auges prä-

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nur dann herauswinden, wenn man dem Bild ganz entsagt, also aufsteht und geht), insofern ist »voyeuristic behavior not willed or controlled by its subject« (ebd.: 49). Siegfried Kracauer zeichnet den Gedanken eines somatischen Kinoerlebnisses bereits in Theorie des Films (1964) vor, wenn er schreibt: »Ich gehe von der Annahme aus, dass Filmbilder ungleich anderen Arten von Bildern vorwiegend die Sinne des Zuschauers affizieren und ihn so zunächst physiologisch beanspruchen, bevor er in der Lage ist, seinen Intellekt einzusetzen« (Kracauer 1985: 216). Auch das von Japan und Südkorea dominierte asiatische Kino tut sich durch den auffallend häufigen Einsatz des Augenmotivs hervor, allen voran jene Horror-Schocker, die durch Remakes auch für ein westliches, an die Sehkonventionen des Hollywoodkinos gewöhntes Publikum, aufbereitet wurden, darunter Hideo Nakatas Kassenschlager Ringu (1998) oder dem unter dem Titel Dark Water bekannten Honogurai mizu no soko kara (2002). Selbst auf Filmplakaten und DVD-Covern ist das Motiv des Auges ein stets präsentes: Darren Aronofskys im Rhythmus der Jahreszeiten erzählter Film Requiem for a Dream (2000), der die Heroinsucht seiner beiden ProtagonistInnen schonungslos bebildert, setzt bei der Gestaltung der Plakate auf die Abbildung eines Augenpaares, die Schaukastenwerbung für James Camerons Avatare (2009) lässt nur deren blaue Haut und ihre gelben Augen erkennen und selbst im von Regisseur Andrew Niccol adaptierten Stephenie Meyer-Schund The Host (2013) setzt man darauf, Großaufnahmen von Augen für Werbezwecke zu nutzen. Vertov, dessen Name besonders mit dem Begriff des Kinoeye – sowohl Bezeichnung für auf bestimmte Weise arbeitende Filmschaffende als auch Name einer Technik – verknüpft ist, interessierte sich für ein Erzählungen aussparendes, sich auf Visualität und Technik konzentrierendes Filmen, ist es ihm doch besonders um das Aufzeichnen von bewegten Objekten im Raum und der Bewegung selbst zu tun, wobei jenes, das von Žižek beschriebene Partialobjekt Kamera antizipierende, Kinoauge auf Inszenierung verzichtet und sich auf Dokumentarisches konzentriert, um dabei einen »ausgedehnten Kampf mit der bürgerlichen Kinematographie aufzunehmen« (Vertov 2003: 52).

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sentiert. Dabei überlagern sich (folglich) in diesem Experimentalfilm, der immer wieder seine eigenen Produktionsbedingungen wie die Arbeit eines Reporters, die anschließende Schneidearbeit als auch das Vorführen im Kinosaal reflektiert und damit sein filmisches Arrangiert-Sein expliziert, das Sehen des Reporters und der Bildausschnitt der Kamera bis zur Ununterscheidbarkeit22 .

Abbildung 5: Mamoru Oshii, Ghost in the Shell, Abbildung 6: Dziga Vertov, Der Mann mit der 00:03:34 Kamera, 01:06:55

4.1.2.2 Unheimliche Blicke Zahlreiche Close Up-Einstellungen von (herausgerissenen) Augen(paaren) in Horror-Filmen, wie man sie auch in Cube beobachten kann, weisen nicht nur auf die »Nobilitierung des Ekelhaften« (Menninghaus 1999: 17)23 hin oder auf das (Zelebrieren des) Abjek-

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Die in La mort en direct (1980) – ein Film, der den Zusammenfall von Auge und Kamera ausreizt – von Romy Schneider gespielte, an einer tödlichen Krankheit leidende Schriftstellerin Katherine Mortenhoe wird ohne ihr Wissen von einem Reporter namens Roddy (Harvey Keitel), dessen Augen zugleich die der Kamera sind, in den letzten Wochen ihres Lebens begleitet. In diesem Anfang der 1980-er Jahre produzierten Science Fiction-Film wird in Anlehnung an Aldous Huxleys Brave New World (1932) eine Gesellschaft entworfen, der Krankheit und Tod insofern fremd geworden sind, als sie sie einerseits überwiegend der Sichtbarkeit entzieht und andererseits als mediales Spektakel inszeniert. Roddy, in dessen Kopf eine direkt mit seinem Sehnerv verbundene Kamera implantiert wurde und der so heimlich für einen Fernsehsender arbeitet, während er die eigentlich vor der Öffentlichkeit fliehende Katherine zum Trotz filmt, nimmt sich schließlich selbst die Sehkraft, wohingegen die Protagonistin sich ihr eigenes Leben nimmt. Der Ekel, »ein Alarm- und Ausnahmezustand, eine akute Krise der Selbstbehauptung gegen eine unassimilierbare Andersheit, ein Krampf und Kampf« (Menninghaus 1999: 7) und dabei »die Erfahrung einer Nähe, die nicht gewollt wird« (ebd.), wird von Winfried Menninghaus in seiner gleichnamigen Monographie mithilfe der Texte von u.a. Nietzsche, Kolnai, Freud und Kristeva durchdekliniert, wobei er den Ambivalenz- und Überfallcharakter des Ekels akzentuiert. AutorInnen des Ekels, darunter Sartre (Der Ekel, 1938), der den Ekel zur einzig wahren Existenzerfahrung erklärt, Freud (Sexualtheorien), bei dem der Ekel bzw. der Vorgang der Verekelung gar zum Differenz stiftenden Moment der Natur-Kultur-Unterscheidung avanciert und nicht zuletzt Georges Bataille (etwa Die Erotik (1957) oder besonders Das obszöne Werk (1972)), der Ekel(haftes) bzw. die Transgression dessen Verbots heilig spricht, betonen ihn nicht nur als »Abwehrsymptom« (Freud 1989i: 234), das bei Konfrontation mit Ekligem auslöst, sondern auch und vor allem die Dimension der Lust, der Sexualität und der Erotik, die der Ekel eröffnet. Ekel(erregendes) ist – das zeigen etwa das Kino David Cronenbergs oder Ruggero Deodatos wie Texte von de Sade als auch die verstörend-faszinie-

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te(n)24 , sondern spielen durch das exzessive Zeigen von Augen zudem auf einen Blick an, der insofern unheimlich ist, als er nicht mehr von einem Subjekt geworfen wird, sondern vom unpersönlichen technischen Medium ausgeht. Bereits Freud schreibt, wenn auch nicht expressiv verbis, in seiner Untersuchung zum Unheimlichen dem Blick, also entsubjektivierten, vom Subjekt losgelösten Augen, einen wesentlichen Stellenwert für das Aufkeimen des unheimlichen Gefühls zu; es sind u.a. (phantasierte) Augäpfel, die dem Protagonisten Nathanael aus E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann (1816) entgegenzuspringen scheinen oder auch die »Angst vor dem ›bösen Blick‹« (Freud 1989a: 262). Es sind vom Körper losgelöste Augen, die sich gewissermaßen verselbstständigt haben und als abgetrennte zirkulieren – ein augenfälliges Phänomen, dem sich Freud kaum entziehen konnte: In Der Sandmann konzentriert sich Hoffmann, wie Freud beobachtete, auf die Macht des Auges; würde man alle Anspielungen auf das Auge zusammenrechnen, käme man auf mehr als sechzig beschriebene Augenpaare, hinzu kämen noch die vielen Augen, die der legendäre Sandmann in seinem Sack hat und die »Myriaden« von Augen, die von den blitzenden Brillen des Wetterglashändlers Coppola reflektiert werden sowie die unaufhörliche Wiederholung verschleierter Anspielungen auf Augen in Worten wie Schauen, Blicken und Visionen. (Vidler 2002: 55) Tauchen Augen – und besonders durch den filmischen Schnitt vereinzelte – sowie deutlich hervorgehobene Seh- bzw. Aufnahmevorgänge in Filmen auf, künden sie immer

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renden Arbeiten von Sue Fox, die halb aufgeplatzte, schon der Fäulnis preisgegebene Körper in der Pathologie ablichtet wie auch Photoserien von Jeffrey Silverthorne und Andres Serrano – zugleich Tabu und Faszinosum, sowohl anziehend als auch abstoßend, widerlich und doch sensationell. An der Systematisierung des Begriffs des Abjekten und der abject art, die vor allem aus Kotze, Rotze, Eiter, Schleim und Kot schöpft, sind auch und vor allem die Texte Julia Kristevas, dabei allen voran Powers of Horror (1980), beteiligt, in denen sie die Idee einer abjekten Mutter, die gewissermaßen vor Lacans Spiegelstadium geschaltet wird, formuliert (vgl. Kristeva 1982: 12f.); Subjektgenese und Verekelungstechniken gehen bei Kristeva insofern zusammen, als die Mutter als das Andere verworfen werden muss, damit das Kleinkind zu seinem Ich findet (streng genommen sieht das bei Lacan ähnlich aus, ist es doch die Mutter als erste Repräsentantin des großen Anderen, die dem Kind den anderen im Spiegel als es selbst deutet und damit Verkennungsprozesse ein- und anleitet). – Sagt man Exkrementalkunstwerken wie etwa Marc Quinns Shit Head (1997), Paul McCarthys Shit Face Painting (1974), Jan Saudeks Photoarbeiten mit Abbildungen von urinierenden Frauen oder auch der berühmten Merda d’artista (1961), die trotz des Goldpreises pro Gramm Scheiße reißenden Absatz fand, eine gewisse Ästhetik des Sterkoralen nach, irritieren andere abject art-Projekte wie Suri’s First Poop, ein Bronzeguss der ersten Fäkalien der Tochter Tom Cruises. KünstlerInnen wie Dieter Roth, den man für seine verschimmelnden Bilder, bei denen organische Materialien wie Wurst und Käse, die wiederum Getier wie Maden und Motten anlocken, eingesetzt werden oder aber auch durch das Karnickelköttelkarnickel (1975), ein aus Kaninchenscheiße und Stroh geformtes Kaninchen, kennt, tragen das Ekelhafte in den musealen Raum, wo schließlich Zersetzungs- und Vergammelungsprozesse selbst künstlerisch tätig werden – der Spanier David Nebreda wiederum, der auch mal Gesicht und Genitalbereich für eine Photoserie mit den eigenen Exkrementen bedeckt oder die mexikanische (Performance)Künstlerin Teresa Margolles, die für ihre Installationen häufig das Wasser, mit denen Leichen gewaschen oder die Fäden, mit denen Leichen zusammengehalten wurden, einsetzt, pflegen ihren je eigenen Umgang mit Ekel und Abjektem.

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auch von einem ZuschauerInnen beobachtenden Blick, (was nicht nur für menschliche oder tierische Augen, sondern auch und vor allem für Kameraobjektive gilt25 ), also davon, dass auch der Film ins Visier nimmt und sich somit als wesentlich unheimlich

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Mit einem buchstäblich tödlichen Kamerastativ bekommen es die Opfer von Mark Lewis zu tun: Zu seiner Entstehungszeit Anfang der 1960-er Jahre noch als Skandal diskreditiert, zählt Michael Powells Peeping Tom, ein Film, »dem der psychoanalytische Diskurs geradezu immanent ist« (Lie 2015: 92) heute zu den Kultfilmen des britischen Kinos, die etwas über das Filmen und die Mechanismen des Kinos selbst zu erzählen haben. Mark Lewis, gespielt von dem damals vornehmlich aus den verkitschten Sissi-Filmen bekannten Karlheinz Böhm, arbeitet tagsüber als recht unscheinbarer Filmassistent, wird des Nächtens aber zum brutalen Mörder, der mithilfe seiner eigenen Kamera die Gesichter, speziell die Augenpartie der von ihm Ermordeten im Augenblick des Todes festhält. Der zeitgleich mit Norman Bates in die Kinos kommende skopophile Mörder Lewis, dessen Taten bis zum Ende des Films nicht von der Polizei entdeckt werden, sucht seine Opfer meist während der regulären Arbeit am Filmset, um sie anschließend unter verschiedenen Vorwänden allein zu treffen und mit einem in ein Stativ eingearbeiteten Messer zu töten, wobei Lewis’ perverse Lust am Schauen und der Voyeurismus neugieriger KinozuschauerInnen ineinander geraten. Mit der Kamera und dem Stativ in der Hand (hier klingt die shoot-shoot-Homophonie an) tötet Mark Lewis nicht nur seine zahlreichen Opfer, sondern mordet am Ende auch sich selbst – und zwar filmend: Er sieht sich zu, wie er durch eigene Hand vor dem Auge der Kamera stirbt, denn »Mark Lewis blickt nicht nur auf das projizierte Filmbild, er will auch mit diesem Bild fusionieren – Bildwerden, Kinosein« (ebd.), sodass er weniger als mit dem Auge schauendes Subjekt, sondern vielmehr als technisches Verfahren des Blicks auftritt, was gleich zu Beginn des Films deutlich wird, wenn die in Bauchhöhe gehaltene Kamera dem ersten Opfer folgt: »Der Zuschauer wird in eine optische Identifikation gezwungen, die entgegen der Konvention des klassisch narrativen Films nicht mit dem perspektivischen Augenpunkt der diegetischen Figur identisch ist, sondern von einer reinen apparativen Instanz in Gang gesetzt wird: Von Beginn an ist der anonyme Peeping Tom weniger eine Person als vielmehr eine technische Prothese mit Eigensinn und Eigenblick.« (Ebd.: 96). Auf die Idee, Morde zu filmen, also Snuff -Filme, die ihren Namen wohl einer einschlägigen Exploitation-Produktion mit dem Titel El Ángel de la Muerte, später Snuff von Roberta und Michael Findlay sowie Horacio Fredriksson aus dem Jahr 1976 verdanken, zu produzieren, kommt Mark Lewis weder als Erster noch als Letzter. Joel Schumachers 8mm (1999) gehört dabei wohl zu den bekanntesten Produktionen, die sich in den 1990-er Jahren der Relation von Pornographie, Gewalt und Skopophilie verschrieben haben; hier soll der von Nicolas Cage verkörperte Privatdetektiv Tom Welles im Auftrag der Witwe eines Mannes, der womöglich einen Snuff -Film im Hinterzimmer seines Büros versteckte, die Authentizität des Videos überprüfen, wobei das Band, das sich im Laufe des Films als Dokument eines tatsächlichen Mordes an einer jungen Frau herausstellt, schließlich zerstört und ihr Mörder von Welles des Nächtens auf einem Friedhof erstochen wird. Anders filmt gleichnamiger Protagonist aus Michael Hanekes Benny’s Video (1992) eher versehentlich die Ermordung einer jungen Frau durch ein Bolzenschussgerät mit einer fest im Raum stehenden Kamera, wobei auch die Kamera(arbeit) im Film insofern dokumentarischen Charakter besitzt, als sie in der Regel als fest montierte, kaum durch den Raum fahrende oder Schwenks vollziehende, operiert. Wieder anders, aber nicht minder spektakulär verfahren die Protagonisten aus C’est arrivé près de chez vous (u.a. von und mit Benoît Poelvoorde), der im deutschen Verleih den Titel Mann beißt Hund träg: Journalisten begleiten in diesem körnigen Schwarz-Weiß-Film (ebenfalls aus dem Jahr 1992) den äußerst geschwätzigen Serientäter Ben, der aus Büchern rezitiert, über das Meer philosophiert und Architektur kommentiert und der bei einem gemeinsamen Abendessen sogar anbietet, sich an den Produktionskosten zu beteiligen, bis sie schließlich aus der Beobachterperspektive heraustreten und unter Aufgabe jeglicher Distanz selbst aktiv am Geschehen mitwirken oder von ihm betroffen sind, etwa wenn sie bei der Beseitigung einer Leiche behilflich sind, selbst zu Vergewaltigern werden oder der Toningenieur in einen tödlichen Schusswechsel verwickelt wird.

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zeigt. Unheimliche Blicke werden filmisch durch das ständige Vorzeigen von (vom Körper losgelösten) Augen(paaren) sowohl vorbereitet als auch prozessiert, insofern die filmische Präsenz von Augen jene mit dem Unheimlichen verschaltete Ubiquität eines körperlosen Blicks, um den es im Folgenden zu tun ist, exponiert. So steht die Frage nach einer beobachtenden Instanz, die selbst nicht gesehen werden kann, in Cube von Anfang an zur Debatte. Auch wenn – oder gerade weil – es keinen ersichtlichen Grund für die ›Inhaftierung‹ gibt, wird sie dennoch von einer Art unsichtbarem Wärterblick bedrohlich eingerahmt. Die Figuren fühlen sich von etwas Unbestimmten beobachtet, dessen Position nicht auszumachen, dessen Intentionen verdunkelt, dessen Mächte kaum zu erahnen sind. Durch ihr Verhalten und ihre Mutmaßungen, mehr aber noch durch die stets eine blickende Instanz indizierenden Ansichten, die von ihnen (wie von den Einstellungen der Kamera) geliefert werden, erscheinen sie als jemandem oder etwas ausgeliefert, als Exponate einer perversen Besichtigung, wobei BeobachterInnen entweder bis zum Schluss inkognito bleiben oder nie dagewesen sein werden (so bleiben die einzig tatsächlichen BeobachterInnen der im Cube Gefangenen die Menschen im Kino). Ohne tatsächlich irgendwo Gucklöcher oder gar Kameras finden zu können, schauen die Gefangenen ständig verschreckt umher, fühlen sich von einem Blick erfasst, der, »obwohl nicht lokalisierbar, überall gegenwärtig [ist]« (Vinciguerra 2009: 47). Stark aufsichtige Kameraperspektiven und lange, unbewegte Einstellungen auf die Gesichter der Eingesperrten verstärken dabei den Eindruck, dass sie unter einer gewissen Beobachtung stehen (vgl. Keutzer 2002: 300) auch beim Publikum. Holloway, gespielt von Nicky Guadagni26 , scheint sich gewiss zu sein, dass hier kein Subjekt, sondern ein unpersönliches, unheimliches, unlokalisierbares Objekt den Blick wirft, wenn sie in ihren Mutmaßungen ebenso wie Rennes den Würfel selbst ins Kalkül zieht: »I think we have to ask the big questions: What does it want? What is it thinking?« (Natali 2004: 00:16:45-00:16:52), dabei auffällig das Wort it betonend. Doch wird nie für irgendjemanden – weder ZuschauerInnen noch Eingesperrte – ein Gesuch oder Anliegen erkennbar, Antworten bleiben versagt. Damit korrespondieren die InsassInnen des Kubus dem vor einer riesigen Gottesanbeterin stehenden Maskenträger in Lacans Apolog zu Beginn des Seminars zur Angst insofern, als beide keine Antwort auf ihre Fragen, nämlich was der 26

Nicky Guadagni war bereits ein Jahr zuvor in David Cronenbergs Adaption des gleichnamigen Romans von J.G. Ballard, Crash, als Tätowiererin zu sehen, die buchstäblich für das Nach-Zeichnen des Narbengewebes des Protagonisten Bob Vaughan verantwortlich ist, wenn sie schließlich seine Wunden in ein Gemälde verwandelt: Das Ensemble von Crash reinszeniert nicht nur Autounfälle berühmter SchauspielerInnen wie James Dean, der in einem Porsche seinen Tod fand, und verursacht des Nächtens gezielt Autocrashs, von denen es unerkannt flüchtet, sondern legt auch eine gewisse ikonographische Lust an den Tag, wenn gemeinsam Photo- und Videomaterial von Unfällen, das im Vorfeld auf den Straßen der Umgebung angefertigt wurde, konsumiert wird. Die Reinszenierungen hinterlassen auf den Körpern der DarstellerInnen in Form von Kratzern, Schrammen, Rissen, aufgeplatzten Nähten, offenen Wunden und vom Metall abgeschabter Haut ihre Spuren, die von der namenlosen Tätowiererin nach der Vernarbung mit einer in Farbe getauchten Nadel übermalt und so vervielfältigt werden; eine Art Narbenkartographie, die sich als Verweis ans Narrativ der stattgefundenen Unfälle geriert, wird in die Haut von Vaughan eingestochen, wobei die Narben Fetischisierenden diese Deformationen als in den Körper eingeschriebene Zeugnisse des intimen Kontakts mit diversen im und am Auto befindlichen Materialien begehren und verehren.

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Andere von ihnen will27 , erhalten haben werden. Lacan – der sich an dieser Stelle ähnlich aufsplittet wie es Freud in seinem Aufsatz zum Unheimlichen tut, in dem dieser eine eigentümliche Anderswerdung signiert, wenn er eine Szene aus einem Zug, in dessen Fenster er sich erblickt und sich zunächst als einen anderen wahrnimmt, beschreibt – berichtet seinen ZuhörerInnen: Ich selbst hatte mich, mit der Tiermaske bekleidet, mit der sich der Zauberer aus der so genannten Grotte der Trois Frères bedeckt, vor Ihnen einem anderen Tier gegenüber stehend, einem echten dieses Mal, für den Fall als riesig unterstellten, nämlich einer Gottesanbeterin (mante religieuse) imaginiert. Da ich nicht wusste, was für eine Maske ich trug, können Sie sich leicht vorstellen, dass ich einigen Grund hatte, mich nicht sicher fühlen zu können, was den Fall anging, dass zufälligerweise diese Maske nicht ungeeignet gewesen wäre, meine Partnerin zu irgendeinem Irrtum über meine Identität zu verleiten. Die Sache wurde noch besonders durch meine Hinzufügung unterstrichen, dass ich in dem rätselhaften Spiegel des Augenballs des Insekts nicht mein eigenes Bild sehen konnte. (Lacan 2010: 14f.) Lacan ist es zwar bereits im Seminar zur Angst, besonders aber im Seminar XI nicht länger um ein von einem personalen Subjekt ausgehendes Schauen, sondern um einen auf der Seite der Objekte anzusiedelnden Blick zu tun (vgl. Evans 2002: 63). Das Subjekt der Psychoanalyse ist, wie gezeigt, kein mit sich identisches Einheitswesen – kein Individuum –, sondern immer schon gespaltenes, wobei sich diese Gespaltenheit auf dem Feld des Sehens manifestiert und den Blick in seiner Funktion als unheimlichen Störer über das Auge als Organ des Sehens triumphieren lässt (vgl. Lacan 1996b: 109). Wenn es für Lacan also gilt, die »Funktion des Auges von der Funktion des Blickes [zu] unterscheiden« (ebd.: 80), ist es diese Unterscheidung, die seinen Begriff des Unheimlichen lizenziert, was durch die Bleistiftzeichnung einer schizophrenen Patientin Lacans, Isabella, die einen beäugten Baum zeichnet (vgl. Lacan 2010: 209), dessen Verästelungen den Satz Io sono sempre vista bilden, pointiert wird: In der im Seminar zur Angst abgebildeten Zeichnung Isabellas findet sich für Lacan ein permanentes Angesehen-Werden als unheimlicher Angstauslöser ausgewiesen: »Jenseits der Äste des Baumes hat sie die Formel für ihr Geheimnis aufgeschrieben, Io sono sempre vista. Es ist das, was sie bis dahin niemals

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Einer der berühmtesten Aphorismen Lacans informiert darüber, dass »das Begehren des Menschen das Begehren des Andern ist« (Lacan 1996a: 220), was nicht nur meint, dass man den Anderen begehrt, sondern dass man begehrt, was der Andere begehrt und (an sich) selbst begehrt, was andere von einem wollen. »Die Strategie, an die Stelle des eigenen Begehrens das Begehren des Anderen zu setzen, wird [im Apolog im Seminar X, M.F.] unterlaufen« (Schmidt 2010: 225), sodass in Situationen, in denen Wissen versagt bleibt oder verweigert wird, Angst entsteht; Lacan ist es in seinem Mantis-Gleichnis um »ein im Spiegelstadium nicht repräsentierbares Moment« (ebd.: 224) zu tun, also um einen blinden Fleck, der sich dem Sehen entzieht. In den facettierten Augen des überlebensgroßen Insekts kann sich nicht gespiegelt werden, folglich kann nicht gewusst werden, was der Andere in einem sieht, ob und was er begehrt – es stellt sich ein unartikulierbares Wissen um die Inkonsistenz (des Wissens) des Anderen (also um seine Gebarrtheit, seine Porosität) ein, sodass »jedes Sprechen von Bedeutungslosigkeit« (ebd.: 226) bedroht wird – deswegen können die Eingesperrten gar nicht anders, als immer weiter zu sprechen, um immer weiter (fehlgängige) Bedeutungen liefern zu können, wie an späterer Stelle genau gezeigt wird.

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hatte sagen können, Ich bin/werde (suis) immer gesehen« (ebd.: 98). Lacan weist an dieser Stelle darauf hin, dass sowohl im Französischen wie auch Italienischen das Wort vista eine doppelte Stellung einnimmt (vgl. Lacan 2010: 98f.). Isabellas zwischen Zeichnung und Schrift changierender Satz kann sowohl mit Ich sehe immer als auch mit Ich werde immer gesehen übersetzt werden, lässt den Blick also zwischen innen und außen oszillieren – lässt ihn zur »Extimität« (Lacan 1996c: 171), die weder hier noch dort ist, sondern im bzw. als unheimlicher Zwischenraum ex-istiert, avancieren. Der dreiäugige Baum seiner Patientin expliziert, dass man mit dem Auge sieht, wohingegen der Blick von außen anfallendes Unheimliches ist – »auf dem Felde des Sehens ist der Blick draußen, ich werde erblickt, das heißt ich bin Bild/tableau« (Lacan 1996b: 113) – der, wie etwa noch bei Sartre, als Geräusch eines knackenden Astes (vgl. Sartre 1966: 344) oder aber in gegenwärtiger Form als Kamera im überwachten Innenstadtraum erscheinen kann und dabei Paranoia, EntSetzen und Panik erzeugt.28 Mit ihrer Erkundigung nach einem etwas – it – weist Holloway also nicht auf jemanden, sondern auf eine unsubjektivierbare Instanz, letztlich auf das die ganze Zeit über die zugleich geheime und doch offenkundige Hauptrolle spielende Objekt des Würfels als ein(e) insofern unheimliche(r) Architekt(e)ur(in), als diese selbst beobachtet und ihre Blicke bzw. sich als Blick aussendet und Wirkung zeigt. Cube verschaltet und entfaltet solche unheimlichen Blickstrukturen also mit der Architektur des Würfels und seinen disziplinarischen Implikationen, verdeutlicht bereits der Alderson-Prolog, dass zu dieser unheimlich bewegten Architektur etwas hinzukommt oder sie gar erst auf den Weg bringt, was keineswegs weniger unheimlich ist: der Blick. Ein ängstlich um sich schauender Körper, Augen, Kameralinse – diese offensichtlichen und im herkömmlichen Sinne zu verstehenden Blicke deuten bereits auf ein Blickdispositiv hin, welches den Film mit-strukturiert und dessen Agieren als unheimlicher Andrang des Objekts fassbar ist. Im Folgenden soll deshalb dem bereits im Prolog nahegelegten funktionalen Zusammenhang zwischen Blick und Architektur nach- und davon ausgegangen werden, dass das Unheimliche Cubes (auch) in diesem Zusammenhang steht.

4.1.2.3 Architekturale Blicke Rennes, der bereits nach wenigen Minuten Bildschirmpräsenz das Zeitliche segnet, deutet schon zu Beginn dieses Horror-Kammerspiels auf den Cube als eine architekturale Konstruktion, die als beobachtende Instanz agiert und weist kurz vor seiner Tötung durch Haut und Atemwege zerfressende Flüssigkeit darauf hin, dass keine anonymen Fremden – also Subjekte –, sondern die Konstruktion – das Objekt, der Würfel – sie observiert, da er – it, nicht them – das zu sein scheint, das blickt: »Take a look around. Take a

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In der israelischen, beim Streamingdienst Netflix angebotenen Serie Shtisel, in deren Zentrum das zuweilen chaotische Alltagsleben der gleichnamigen ultraorthodoxen Familie steht, wird dieser Umstand auf recht amüsante Weise inszeniert, wenn der sympathische Protagonist Akiva Shtisel, genannt Kive, gegen Ende der zweiten Staffel im Reisebüro seines Onkels Nukhem als Verkäufer tätig sein soll. Das nur wenige Quadratmeter große Reisebüro in Jerusalem ist mit mehreren Kameras bestückt, von deren Präsenz sich Kive schließlich so belästigt fühlt, dass er sich zunächst hinter seinem hochgehaltenen Hut und zu guter letzt hinter riesigen Aufstellern verschanzt.

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good long look around, see it. Coz, I got a feeling it’s looking at us« (Natali 2004: 00:10:1700:10:23). An dieser Stelle lohnt ein erneuter Blick auf die erste Szene von Cube: Es wird ein Auge gezeigt und zwar nur das Auge, gewissermaßen ein »Organ ohne Körper« (Žižek 2005: 210). Die Szene ist so komponiert, dass sich zunächst der Gedanke aufdrängt, dieses in die Kamera blickende Auge sei das von Alderson, was sich als unwahr herausstellt: Die Iris dieses zuckenden Auges ist zweifellos blau, wohingegen Aldersons Augen eindeutig braun sind; der Schnitt in dieser Szene vom Auge zum Raum ist ein trennender und zugleich verbindender, insofern einerseits das Organ Auge vom Körper losgelöst und somit als Blick inszeniert und andererseits durch diesen Filmschnitt eine Verbindung, eine Montage von Architektur und Blick suggeriert wird. Das, was blickt, gehört nicht zum Subjekt, sondern tritt vereinzelt auf, erst als Augapfel, der wie ein Objekt vom Körper losgelöst, einzig seinen schließlich architekturalen Blick aussendet. Durch den Einsatz dieses (einäugigen) Italian Shots29 werden zwei für Cube maßgebliche Mechanismen bereits in der ersten Szene des Films pointiert: Einerseits wird akzentuiert, dass das Filmensemble von körperlosen Blicken observiert wird, andererseits referiert jenes Auge auf das Verhältnis, das ZuschauerInnen mit dem Medium eingehen; nicht nur das Publikum sieht einen Film, sondern der Film wirft jenes Sehen auf diejenigen zurück, die sich vorm Bildschirm30 befinden31 . So treffen Lacans Ausführungen zu Gemälden der bildenden Künste auch auf das Filmbild zu: »Im Bild manifestiert sich mit Sicherheit immer etwas Blickhaftes« (Lacan 1996b: 107), insofern das Medium Film seinen vom Subjekt abgekoppelten, entsprechend unheimlichen, abgründigen Blick zurück auf das schauende Subjekt wirft. Da man es in Cube sowohl mit einem Blick der Architektur als auch mit einer Architektur des Blicks zu tun hat, findet sich vieles rückblickend bereits im Alderson-Prolog vor-verbaut, insofern ein körperloses Organ durch eine gewisse Schnittfolge ans Architekturale (rück)gebunden wird. Die Montage suggeriert durch das Zeigen eines

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Wohl in Anlehnung an das Kino Sergio Leones, das sich mit Vorliebe der Nahaufnahme von Gesichtern und vor allem Augenpaaren widmet (wie auch die Filme des italienischen Giallo-Papstes Dario Argento) wird diese Art des Extreme Close Up auch Italian Shot genannt. Nun ist gerade Cube ein Film, der besonders in Europa weniger im Kino gesehen, denn auf VHS oder DVD auf dem Fernsehbildschirm konsumiert wurde und somit dafür verantwortlich zeichnet, nicht nur als blickendes Medium auf ZuschauerInnen zurückzuwirken, sondern als Horror-Movie auch das bedrohliche Außen ins heimische Wohnzimmer zu holen (was im Fall von Cube einmal mehr die Innen-Außen-Differenz ins Wanken geraten lässt): »[O]bwohl Türen und Fenster verschlossen sind, dringt etwas in den Raum ein, nämlich das Filmgeschehen. Das Fernsehen überträgt nicht nur physikalische Wellen, sondern auch das narrative Geschehen in die häusliche Umgebung. Und selbst nachdem der Fernseher ausgeschaltet wurde, bleibt ein Rest dieses Filmgeschehens im Raum« (Wünsch 2011: 102). »Fernsehen ist unheimlich, weil tendenziell unkontrollierbar ist, was übertragen wird und wo die Grenzen dieser Übertragung liegen« (ebd.) – man denke nur daran, wie man sich nach dem Schauen eines Horror-Films durch die eigene Wohnung bewegt: schleichend, tastend und schreckhaft, könnten die Leinwandmonster sich jederzeit auch unter dem eigenen Bett versteckt halten. Ähnlich äußert sich der österreichische Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger im Zusammenhang mit der Nahaufnahme des Auges als Affektbild: »Den Akt des Sehens im Anblick des Auges nahegebracht zu bekommen, heißt hier angesehen zu werden: Das Medium blickt den Betrachter an, überschreitet die Grenze zur Bewusstwerdung. Oder frei nach Nietzsche: Wenn man zu lange in das Medium blickt, blickt das Medium in uns selbst hinein.« (Stiglegger 2013: 101).

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Auges, das keinem Subjekt zugeordnet werden kann sowie durch die darauf folgenden Ansichten der Raumwände eine Bindung oder auch ein Bündnis von subjektlosem Blick und architekturaler Umgebung. Blick und Architektur koalieren zugunsten des Unheimlichen miteinander, wobei das Auge in verschiedenen Einstellungen als (ab)gesondertes Objekt abgebildet wird, sodass das Organ der Perspektive seinerseits stets und ständig neu perspektiviert wird. So werden ZuschauerInnen durch diverse Close Ups von Augen zu Beginn des Films an den subjektlosen Blick, dem die InsassInnen ausgesetzt sind, herangeführt, damit diese Einstellungen schließlich langsam hinter (die Darstellung) eine(r) blickende(n) Architektur (aus der es, wie zu zeigen ist, keinen Ausweg, sondern nur wieder einen hinein geben wird) zurücktreten. Je länger der Film dauert und je mehr Mutmaßungen seitens der Inhaftierten angestellt werden, desto prägnanter zeichnet sich der Zusammenhang zwischen Blick und Architektur ab. Es scheint bei der Frage nach Sinn und Zweck des Gefängniswürfels – was nicht nur bei Holloway, einer Psychologin, tatsächlich Paranoia auf den Plan ruft – weniger um die Polizei, das Pentagon oder das Militär zu gehen, sondern vielmehr um einen architekturalen Blick, der keiner Institution restlos zuzuordnen ist und dessen unheimliche Implikationen sich mit dessen überwachenden kreuzen, wobei der Kubus tatsächlich eine Art Gefängnis ist: Die ProtagonistInnen stehen aufgrund ihrer Bezeichnung mit Gefängnissen bzw. deren Orten in Verbindung, da sie alle einen entsprechenden Namen tragen32 ; hinzu kommen die eigentümliche Häftlingskluft der Inhaftierten sowie der Umstand, dass letztere sich in einer durch viele Zellen konstituierten Anlage wiederfinden, in der sie trotz der Möglichkeit, sich von Zelle zu Zelle zu bewegen, gefangen sind. Cube orientiert sich bzw. erinnert die unheimliche Unkenntlichkeit der beobachtenden Instanz an eine von Jeremy Bentham entworfene disziplinarische Architektur: das Panopticon. Das Panopticon meint eine bestimmte Bauweise etwa von Fabriken, Strafanstalten oder psychiatrischen Einrichtungen, bei der der Blick bzw. seine potentielle Anwesenheit ein entscheidendes Moment darstellt. Als ringförmige Architektur konzipiert, beherbergt das Panopticon in seiner Mitte einen Turm, von dem aus der Blick in jeden einzelnen Raum ermöglicht wird; WächterInnen können zu jedem beliebigen Zeitpunkt beobachten, wie sich ArbeiterInnen, Kranke oder Strafgefangene verhalten. Die Sicht auf das hell erleuchtete Innere dieses zentral gelegenen Turmes, in dem beobachtende und kontrollierende WärterInnen ihren Platz haben könnten, ist etwa für Gefangene, deren Zellen um den Turm als Rundbau angeordnet sind, selbst jedoch nicht frei, sodass es zum blinden Fleck avanciert. Jeder ist an seinem Platz sicher in eine Zelle eingesperrt, wo er dem Blick des Aufsehers ausgesetzt ist; aber die seitlichen Mauern hindern ihn daran, mit seinen Gefährten in Kontakt zu treten. Es wird gesehen, ohne selber zu sehen; er ist Objekt einer 32

Holloway beispielsweise ist nicht nur der Name eines Londoner Stadtteils, sondern auch der eines Gefängnisses, wo, bevor es Anfang des 20. Jahrhunderts in ein reines Frauengefängnis umgestaltet wurde, auch Oscar Wilde einige Zeit abgesessen hat. Quentin ist der Name des San Quentin State Prison in Kaliforniern; Kazan bezeichnet ein berühmtes Gefängnis in Kazan, Russland; Rennes ist ein Gefängnis in Rennes, Frankreich; Alderson verweist auf das Alderson Federal Prison Camp in Alderson, West Virginia; Leaven und Worth bilden die Bestandteile des Namens des United States Penitentiary Leavenworth in Leavenworth, Kansas.

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Information, niemals Subjekt einer Kommunikation. Die Lage seines Zimmers gegenüber dem Turm zwingt ihm eine radikale Sichtbarkeit auf; aber die Unterteilungen des Ringes, diese wohlgeschiedenen Zellen, bewirken eine seitliche Unsichtbarkeit, welche die Ordnung garantiert. (Foucault 2008: 906) ArbeiterInnen, PatientInnen, Häftlinge finden sich mit etwas konfrontiert, das sie nicht zu sehen imstande sind und können somit nicht eindeutig festmachen, ob sie gerade dem Blick einer Wärterin oder eines Wärters ausgesetzt sind oder nicht – gewiss ist nur, dass sie jederzeit zum erblickten Objekt werden können, womit eigentlich erreicht werden sollte, dass Gefangene sich selbst unter Kontrolle halten, da die Möglichkeit besteht, beobachtet und bei Fehlverhalten bestraft zu werden, was Foucault später dazu veranlassen wird, in Bezug auf eine allerdings polyzentrisch gedachte Gesellschaftsordnung vom Panoptismus zu sprechen, »da das panoptische Schema […] ein Verstärker für jeden beliebigen Machtapparat [ist]« (Foucault 2008: 912). Die von den InsassInnen weniger bemerkte als geahnte Präsenz einer blickenden Instanz lässt sich nicht nur als disziplinargesellschaftliches Überbleibsel verstehen, sondern wird vom Kubus auf kontrollgesellschaftliche Weise implementiert, wo nicht von einem Zentrum aus, sondern von überall her geblickt wird. Cube legt dabei offen, dass der panoptikale Blick im Grunde genommen vom unheimlichen Blick des Objekts der Psychoanalyse kaum zu unterscheiden ist. Slavoj Žižek etwa, der Lacans Theoreme mithilfe von Filmmaterial explizit zu machen versucht, liefert nach Bentham weitere Hinweise auf einen architektural gedachten Blick, wenn er anhand zweier Hitchcock-Szenen aus Psycho (1960) und The Birds (1963) beschreibt, wie ein Haus als Blickendes ins Register des Unheimlichen gerät: Sie [die Partialobjekte, wozu Lacan auch den Blick zählt, M.F.] stehen nicht auf der Seite des sehenden/hörenden Subjekts, sondern auf der Seite dessen, was das Subjekt sieht oder hört. […] Der wesentliche Punkt besteht natürlich darin, dass dieser Blick nicht subjektiviert werden sollte: Es geht nicht einfach darum, dass da »jemand in dem Haus ist«, wir haben es eher mit einer Art leerem Blick a priori zu tun, der nicht auf eine bestimmte Realität festgelegt werden kann […]. (Žižek 2010: 9) Die von Vera Miles verkörperte Lila Crane etwa, die sich in Psycho dem von Norman Bates bewohnten Haus auf dem Hügel nähert, kann es zwar bereits vor dem Betreten sehen, »aber die Angst entsteht, durch das unbestimmte Gefühl, dass das Haus selbst die Frau schon irgendwie anblickt und zwar von einem Punkt aus, der ihrer Sicht völlig entgeht und sie daher völlig hilflos macht« (Žižek 1991: 60). Es blickt also nicht jemand, sondern eine unheimliche Blick-Architektur. Ähnlich haben es die InsassInnen des Kubus in Cube mit einem architekturalen Blick zu tun, der zwar da, aber nicht sichtbar ist und zusätzlich zu seinen überwachungsstrategischen Funktionen im Verhältnis zum Unheimlichen33 und der Angst steht. Cube stellt den Blick als leeren, vom Subjekt losgelösten, 33

Natali führte bei den letzten zwei Folgen (Echoes und Crown of Shadows) der lose auf der Comicreihe von Stephen Kings Sohn Joe Hill und des Zeichners Gabriel Rodriguez aufbauenden Mystery-Serie Locke and Key, die ebenfalls den Raum und das Räumliche ins Zentrum des Erzählten rückt und seit Februar 2020 bei Netflix abrufbar ist, Regie und zeigt damit einmal mehr seine Affinität für das Unheimliche: Erzählt wird die Geschichte der Geschwisterkinder Bode, Kinsey und Tyler Locke, die nach der Ermordung ihres Vaters durch einen seiner Schüler auf einen abgelegenen Fami-

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auf Seiten des Objekts verorteten vor (und sich damit in eine Filmtradition, die BlickArchitekturen inszeniert), insofern man nicht markieren kann, von wo oder wem man angeblickt wird, nur, dass man angeblickt wird, ohne dass das Blickende »dem Zugriff meiner Sicht zur Verfügung steht« (ebd.: 59). So liefert Natalis Film mit seiner Kameraarbeit in Kombination mit der Architektur und dem Verhalten der Inhaftierten ein eindrückliches Exempel dafür, dass der ObjektStatus des Blicks nicht an die Augen eines schauenden Subjekts, sondern an eine unbelebte Architektur34 rückgebunden ist. Blickende Bauten, starrende Häuser und äugende Türme – von allen hat der Kubus etwas – weisen darauf hin, dass der Blick dem Subjekt nur als Äußerlichkeit, als Exterieur – sind Subjekte grundsätzlich in, auf, unter, zwischen, vor oder hinter Architekturen – begegnet, als etwas, das von außen anfällt.

4.1.2.4 Disseminationen Es ist der seltsam losgelöste Blick der Kamera, der den panoptikalen und den psychoanalytisch theoretisieren Blick zur Deckung und in diesem Zuge die Häftlinge zu (über den Film verstreuten) Bildern geraten lässt; es ist der Blick, der filmt und dabei das Bild erzeugt – eine Relation, in der der unheimlich-panoptikale Blick nicht nur den Kamerablick reflektiert, sondern der Kamerablick den unheimlich-panoptikalen, insofern beide Varianten aufeinander verweisen, einander auf- und hervor bringen und dabei Subjekte produzieren: Die Kammern des Kubus dienen dabei als immer neue Rahmen für die Bildwerdung der Subjekte, sodass Kammer und Kamera nicht nur etymologisch, sondern auch blickspezifisch ineinander geraten. Die Kamera in Cube wendet sich jedoch nicht nur den Körpern zu, die sich durch den Kubus hindurchbewegen oder in ihm verharren, sondern gibt auch und vor allem (das Interieur der) Architektur, die Kammern, zu sehen, deren Details signifikant werden: Beunruhigt und beunruhigend sind etwa die

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liensitz in Matheson, das verschachtelte Key House, ziehen, wo sie mehrere Schlüssel, mit denen sich nicht nur Türen öffnen lassen, darunter etwa den Spiegelschlüssel, der den Raum hinter einer Spiegelfläche betretbar macht, den Echoschlüssel, der die widerhallende Stimme einer Verstorbenen hörbar werden lässt oder den Gestaltschlüssel, der eine Änderung der äußeren Erscheinung bewirkt, finden und dabei stetig die rätselhafte Dodge, die die zahlreichen Schlüssel scheinbar für sich beansprucht, im Nacken haben. Mit einer gewissen Komik lässt 1958 Jacques Tati im oscarprämierten Mon Oncle die Villa der hochstrukturierten und irrsinnig durchorganisierten Familie Arpel, bei der sogar der Dackel die peinlich genau angelegten Gartenwege benutzt, zur nächtlichen Beobachterin avancieren. In die Frontfassade eines kubischen, hochtechnisierten, in hellen Farben gestrichenen Gebäudes mit automatischem Garagentor, integrierter Spülmaschine und sowohl zahlreichen als auch großzügigen Fenstern sind nebeneinander zwei kleine Rundfenster eingelassen, die bereits bei Tageslicht wie die Augen eines Gesichts wirken. Während einer Szene bei Nacht, in der der von Tati selbst verkörperte Monsieur Hulot durch den penibel gepflegten Vorgarten der Stadtvilla seiner Schwester und seines Schwagers stolpert, wird diese »face/facade analogy« (Vidler 2002: 87) radikal ausgespielt, wenn in je einem hell erleuchteten Bullauge der Kopf eines/einer BewohnerIn auftaucht, wobei sich die beiden Köpfe recht simultan bewegen, während sie aus dem Fenster schauen, um zu erfahren, was in ihrem Garten vor sich geht. Die sich hin und her bewegenden Köpfe muten dabei wie die den Raum absuchenden Pupillen eines Augenpaares an, wobei die Art der ›Augenbewegung‹ in Mon Oncle wiederum stark an Zeichentrickfiguren der 1940-er und 1950-er Jahre erinnert.

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abstrakten Linien und Punkte an den milchglasähnlichen Wänden des Kubus, die bei längerem Betrachten zu wabern beginnen und immer indirekt beleuchtet sind, wobei diese mit je unterschiedlichen Farben bestrahlten Wände die einzigen Lichtquellen im Kubus sind. Es sind Licht-Blicke, sie liefern eine inhaltliche Allegorie für den immer präsenten, den Film durchdringenden Blick – die bestrahlten Wände umschließen die Gefangenen als architekturale Vorstellungsrepräsentanzen des Blicks: »In dem, was sich mir so als Raum des Lichts darstellt, bedeutet Blick immer ein Spiel von Licht und Undurchdringlichkeit« (Lacan 1996b: 103). Die leuchtende Wand des Kubus »blickt mich an/me regarde auf der Ebene des Lichtpunkts, wo alles ist, was mich angeht/me regarde […]. […] Was Licht ist, blickt mich an« (ebd.: 102). Die farbiges Licht abstrahlenden Wände indizieren das Werfen eines Blicks, der die Eingesperrten umschließt und somit sichtbar – zum Bild – macht. Dieser Einschluss in den Blick-Raum nun wird potenziert durch das gegenseitige Umschließen der Kubuszellen, jede Zelle ist zugleich von weiteren Räumen mit farbig strahlenden Wänden, Decken und Böden, die selbst wieder umschlossen und abgegrenzt sind von anderen Räumen, umgeben. Die jeweilige Farbe der Wände legt sich auf Gesichter und die weißen Shirts der Inhaftierten, die Holloway, Worth und die anderen unter den Overalls tragen, sodass Blicke das Erblickte umspannen und dabei zu tangieren tendieren. Ihre bekleideten Körper werden regelrecht in das farbige Licht der Wände eingetaucht, von ihm umschlossen – es gibt keine Distanz zwischen Blick und Körpern, disseminiert sich ersterer sichtbar auf letztere, heftet sich an sie, wenn diese von abwechselnd roten, grünen und blauen Farbschleiern eingehüllt werden, womit von metaphorischer Distanz auf metonymische Berührung umgeschaltet wird, sobald der Blick im Spiel ist.

Abbildung 7: Vincenzo Natali, Cube, 00:21:48

Abbildung 8: Vincenzo Natali, Cube, 00:23:25

In Cube ist damit ein Blick zu gewahren, der Benthams panoptikalen und Lacans unheimlichen Blick in der Idee artikuliert, dass ein Lichtschein, eine scheinende Architektur zur unpersönlichen Beobachterin avancieren kann, die einen Blick wirft, der das Subjekt unterwirft und im Vollzug dieser Unterwerfung tangiert und ausrichtet. Cubes architekturale Blicke verfahren dabei nach einem Modus, der durch das Agieren des Kameraobjektivs vorbereitet, ausgestellt und aufgedrängt wird, insofern auch der Blick der Kamera agiert wie das Lacan’sche Partialobjekt, da er nicht umhin kann, dem Auge etwas zu verschließen bzw. die Sicht darauf zu versperren, was hier das Nicht-Zeigen jeweils einer Wand der Kuben im Inneren meint: Niemals werden alle sechs Seitenwände, die bereits den Blick als belichtet-belichtenden inszenieren, eines Würfels erfasst, denn von

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einer Seite blickt immer die Kamera – und indem sie das tut, verweigert sie ZuschauerInnen den Anblick eben dieser Wand, versagt sie dem Schauen und informiert so über den Punkt, der sieht ohne sichtbar zu sein. Der Blick fungiert – weit davon entfernt, die Selbstpräsenz des Subjekts und seine Sicht zu sichern – als ein Makel, als ein Fleck im Bild, der dessen klare Sichtbarkeit beeinträchtigt und eine nicht aufhebbare Spaltung in meine Beziehung zu dem Bild einführt: Niemals kann ich das Bild an der Stelle sehen, von der aus es mich anblickt, d.h. Sicht und Blick sind grundlegend dissymmetrisch. (Žižek 1991: 59) Die Kamera wird – und das ist eine konsequent durchgehaltene Geste von Cube – zum bewegten Blick ohne Subjekt35 und schließt sich so auch an den revolutionären Film: »Genau das ist es, was der revolutionäre Film tun sollte: die Kamera als Partialobjekt nutzen, als ein ›Auge‹, das dem Subjekt entrissen und frei herumgeworfen wird […]« (Žižek 2005: 211), sodass der technische Apparat selbst »diese räumliche Desorientierung noch zusätzlich [befördert]« (Binotto 2013b: 69). Der objektifizierende und objekthafte Blick der Kamera allegorisiert den Subjekte zer-setzenden architekturalen Blick des Cube insofern, als er Fleck ist. Indem Cube die von der Kamera erzeugte räumliche Desorientierung des revolutionären Films und damit die Loslösung der Kamera zum Partialobjekt beerbt (durch die dabei entstehenden Perspektiven an die Bilderwelten von M.C. Escher36 , durch seine unheimlichen Räume an das Kino Dario Argentos denken lässt) und diesen

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In Alan Schneiders Film (1965) nach einem Drehbuch von Samuel Beckett verdingt sich die Kamera als durchaus unheimliche Beobachterin, insofern sie dem Protagonisten O, gespielt von Buster Keaton, der nur wenige Monate nach Beendigung des Drehs starb, trotz zahlreicher Ausweichmanöver seinerseits stets auf den Fersen bleibt. Der 1965 produzierte, etwa zwanzigminütige Film beginnt ebenfalls wie Cube mit der Großaufnahme eines geöffneten Auges; O wird alsbald vom Blick verfolgt, der ihm zunächst durch das hektische Treiben einer Großstadt nachjagt und schließlich in seine Wohnung folgt, in der O versucht, jedes Werfen eines Blicks durch das Abhängen von Bildern, das Verhängen von Fenstern und Spiegeln, das Aussetzen der Haustiere oder auch das Verdecken etwa des Goldfischglases zu verhindern – doch am Ende (das, so scheint es, wieder an den Anfang zurückkehrt – ein Prinzip, dessen sich auch Cube bedienen wird) wird jener ihn verfolgende Blick sein eigener gewesen sein. Der niederländische Graphiker M.C. Escher inspirierte mit seiner erstmals 1953 gedruckten Lithographie Relativität die Architektur der Klosterbibliothek, die man im bereits erwähnten Film Der Name der Rose (1986) mehr oder weniger mit dem Auge erfassen kann. Jenes Labyrinth findet sich in Ecos Roman noch auf einer Etage angesiedelt, wohingegen die Adaption von Regisseur Annaud mit verschlungenen Räumen umgeht, die auch nach oben oder unten führen können. Escher inszeniert nicht nur in dieser Arbeit eine Architektur, die den Gesetzen der Physik widersteht, wenn Treppen in divergierende Himmelsrichtungen weisen oder Varianten der Penrose-Treppe abgebildet werden. Die Penrose-Treppe ist eine geometrische Figur, genauer: eine unmögliche Figur, also ein zweidimensionales Gebilde, das so nicht als dreidimensionaler Körper existieren kann; sie ist eine in sich selbst zurücklaufende, geschlossene Figur, die die Illusion erzeugt, man könne in unendlicher Bewegung die Stufen hinauf- und hinuntergehen. In dem 2010 produzierten Kinofilm Inception gibt es eine Leinwandvariante dieser Treppe zu sehen, wenn die Architektin von Traumwelten, Ariadne, und ihr Kollege Arthur eine solche ›Endlosschleifentreppe‹ begehen, womit sich auf den ersten Blick in diesem Christopher Nolan-Film eine unheimliche Architektur ausmachen lässt, die die Grenzen architekturaler Systeme hintergeht, indem sie sie als Paradox erzeugt.

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optischen Irrgang mit dem architekturalen Irrgang der Permutation verschaltet, avancieren die fensterlosen Kammern des Cube zu Architekturelementen oder Bausteinen, die sich jedweder Klassifizierung und Verortung entziehen und sich der Orientierung (in ihnen) kategorisch widersetzen. Der Cube vervielfacht sich in sich selbst, ist insofern nicht nur ein Cube, sondern ein »maze of the cubes« (Kunkle 2000: 285), wobei diese cubies ebensowenig in sich geschlossenen sind, denn sobald man in einen Raum oder eine Kammer hineingekrochen ist, findet man sich nicht nur von Wänden, sondern auf allen Seiten von Türen umgeben. Sie sind buchstäblich überall, schließen die Räume zur einen Seite hin ab und öffnen sie zugleich zur anderen hin. Türen allegorisieren in Cube nicht nur den Filmschnitt (und umgekehrt), sondern explizieren gleich zu Beginn des auf der Schwelle von Mystery-Film und Psychothriller, Splatter-Film und Komödie sich bewegenden Films als trennende Verbindungen, die immer auch anderswo hinführen können, den Kontingenzcharakter unheimlicher Architekturen sowie ihr Bedeutungszusammenhänge zerschneidendes Profil. Einerseits entziehen sich die Kammern als Antiklassifizierungsarchitekturen, die nie an ihrem Platz sind, der symbolischen Ordnung, stellen sich ihr entgegen, sind ihr hinterher oder voraus und weisen so auf ein intrinsisches Verhältnis zum Unheimlichen hin; andererseits firmieren sie als Allegorien des symbolischen Operierens selbst (man denke hier erneut an ein Schiebepuzzle) – man könnte sagen, »the signifying chain is literally moving around« (ebd.: 283) – und setzen die symbolische Ordnung somit nicht nur durch Abgrenzung zum Unheimlichen in Beziehung, sondern weisen diese Ordnung bzw. ihr Operieren selbst als unheimlich aus (architekturale Kontingenz und Inkonsistenz der Signifikantenkette hängen aneinander). Symbolisches Operieren geschieht weder ganz heimlich im Verborgenen, noch ganz und gar unverborgen, sondern wird durch den Kubus, die einzelnen Kammern sowie deren Ornamente allegorisch ver-un-heimlicht, was besonders an einem setdesignerischen Detail ersichtlich ist: Auffallend häufig streift die Kamera als Partialobjekt um die Zwischenräume herum und durch sie hindurch. Durch dieses Umherstreifen der Kamera werden einerseits Körper und Räume ins Verhältnis ge-, letztere aber auch in Bewegung ver-setzt und lassen sich andererseits unschwer schmale Öffnungen an den Seitenwänden dieser Durchgangsräume erkennen, die auf den ersten Blick aussehen wie Lüftungsschlitze.

Abbildung 9: Vincenzo Natali, Cube, 00:20:41

Abbildung 10: Vincenzo Natali, Cube, 00:27:16

Die InsassInnen jedoch klagen über schlechter werdende Luft; diese also nur scheinbar dem Luftaustausch dienenden Öffnungen ähneln dabei dem japanischen Schriftzeichen für den Signifikanten Auge, das aus einem Rechteck, in welches zwei horizontal

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angeordnete Linien eingelassen sind, besteht: 目. Statt der zu dem Schriftzeichen gehörenden zwei Linien im Inneren des Rechtecks, die – gelesen als ikonisches Zeichen – piktographisch an ein schauendes Auge erinnern, sind in Cube viele waagerechte Linien, ganz wie Lamellen, im Inneren des Kubus zu sehen. Können die Öffnungen durchaus als Variation des entsprechenden Kanjis gelten, sind es im Fall der vielen Linien in Cube also viele Augen; sich wie Lüftungsschlitze ausnehmend, durch die Licht fällt, figurieren sie einen vielfach zer- und dabei das Subjekt befallenden Blick. Diese architektonisch scheinbar funktionslosen Öffnungen in Cube verrätseln sich zum Ornament – und damit zu einer Allegorie oder Vorstellungsrepräsentanz – des vielfältigen, zerstreuten, polyzentrisch disseminierten Blicks, sodass der labyrinthische Würfelkomplex aus blickenden Räumen sowie auch aus ihren blickenden Zwischenräumen37 zusammengesetzt ist, die ihn als unheimliche(n) Architekt(e)ur ausweisen; dieser Zusammenhang wird nicht zuletzt durch das paratextuelle DVD-Cover38 , das Alderson in einem jener blau erleuchteten Zwischenräume zeigt, nahegelegt. Blicke agieren im Cube in Cube auch und im Wesentlichen interspatial; indem sie die Räume durchqueren, artikulieren sie sie, wie im selben Zuge die Blicke durch die Räume gefügt und disseminiert werden. Blicke, darüber informieren die eigentümlichen länglichen Öffnungen, die wie Kanjis anmuten, oszillieren nicht nur unheimlich zwischen den Kammern, sondern auch zwischen den Kammern und den Zwischenräumen zwischen ihnen wie innerhalb der Zwischenräume selbst. Der Blick ist als viele Blick-Räume da und lässt diese gleichzeitig als permutierende Kammern und Zwischenräume sowie durch die zum Partialobjekt gewordene Kamera

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Besonders das Kino Dario Argentos inszeniert Räume und Orte als spezifische Zwischen-Zonen, als Interspaces, die einerseits selbst unheimlich sind und aus denen heraus andererseits das Unheimliche in Form von Monstern und Mördern kriecht. Die gezeigten bzw. durch Kamera- und Schnitttechnik produzierten Raumkompositionen dieses Autorenkinos »[erinnern] ebenso an Piranesis Carceri wie an Eschers Tableaus. Es sind Architekturen des Albtraums, undurchschaubar verschachtelte Räume, die in meist unmotivierten primärfarbigen Lichtquellen erstrahlen« (Stiglegger 2013: 23) – ein Farbarrangement, das auch Cube durchhält. Junge, schöne Frauen werden bei Argento in der Regel Opfer eines brutalen Killers und ihre Ermordungen visuell ausgeschlachtet, wenn Fleisch vom Knochen gezogen oder von Scheren zerschnitten wird und Blut aus allen Körperöffnungen spritzt. Eine besondere Beziehung zwischen Unheimlich- und Zwischenräumlichkeit scheint der zweite Teil der Le Tre Madi (Trilogie der Mütter), Inferno (1980), herzustellen, worauf Binotto in seiner Untersuchung Zu den unheimlichen Räumen Dario Argentos aufmerksam macht: Hier lauert das Unheimliche im buchstäblichen Zwischenraum, befindet sich doch in jeder Etage ein räumliches Dazwischen in Form eines im Bauplan nicht verzeichneten Kriechbodens. Von diesen Räumen zwischen den Räumen aus beobachtet der Mörder seine zukünftigen Opfer; sie sind seinen Blicken ausgesetzt, ohne sich dessen Gewahr zu sein und werden schließlich, aufgeschlitzt oder zumindest brutal misshandelt, selbst in jenen Zwischenzonen landen: »Im Bau selbst liegt ein Geheimnis verborgen. Wie sich im Laufe des Films herausstellt, befindet sich ein geheimer Raum zwischen den Etagen, ein verborgenes Stockwerk, in dem das tödliche Grauen nistet. […] Der Wahn, der die Bewohner des Hauses befällt, hat mithin seine Ursache in der Architektur. Die geistige Verwirrung der Figuren wird provoziert durch einen Bau, der nicht orientierbar ist, sondern der von Schichten und Zwischenräumen durchzogen ist, die in keinem Plan eingezeichnet sind« (Binotto 2013b: 73). Das DVD-Cover des Nachfolgefilms Cube²: Hypercube zeigt ein in sich zerteiltes und dadurch zu sich selbst versetztes Auge – das hätte auch gut als Bild für den ersten Film funktioniert, aber da ein wesentlicher Modus des Cube die Ver-rückung ist, sieht man das »Organ ohne Körper« (Žižek 2005: 210) eben erst auf dem Cover der Fort-Setzung.

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in ein unheimliches Wandern münden, um stets neue, unlokalisierbare Blick-Räume zu produzieren. Die spatiale Permutation geht einher mit der – um Lacans Gottesanbeterin nicht aus dem Auge zu verlieren – Permutation der blickenden Kubusfacetten. Das bedrohliche Näherkommen, der Andrang der Räume ist zugleich ihr Entzug, verfährt also auf die gleiche Weise wie das Umherwandern des Blick bzw. ist von diesem Umherwandern nicht zu unterscheiden; der Blick entzieht sich im Ankündigen, sein Auftritt erfolgt mit seinem bzw. als sein Abtritt. Das komplexe Kammersystem drängt sich als Bewegendes auf und entrückt sich zugleich, wobei mit dieser aufdringlichen Entrückung abermals der Umstand markiert wird, dass man innerhalb eines Bildfeldes nie alles sehen kann – es handelt sich beim Cube um viele unheimliche Blick-Räume, die als verschiedenfarbige Wände und Zwischenräume an einem je anderen Ort und von einem je anderen Blickwinkel aus gefilmt, filmend (also blickend) und ausgeblendet, wieder auftauchen können. Die dergestalt un-fassbaren, Raum, Bild und Blick zerstreuenden Blick-Räume werden immer schon in einer unheimlichen Doppelbewegung des Näherkommens und Sich-Entfernens – mit Martin Heidegger der Entbergung und Verbergung (vgl. Heidegger 2002: 11f.) oder, mit Freud, in einem Fort-Da-Spiel (vgl. Freud 1989k: 224f.) – insistiert und dabei das Umherwandern des Blicks vollzogen haben sowie vom Blick be- und gezogen worden sein, womit die Architektur selbst zu einer unheimlichen Grenzregion, die Räume produziert und (sich) in einer Doppelbewegung in dem Maße zerstreut und verdichtet, (sich) gleichzeitig anbietet, aber auch immer wieder entzieht, wie sie ihre Blicke verstreut und konzentriert, arriviert. Indem die Permutation der Kammern den Entzug des Blicks als seine Präsenz prozessiert, zieht er ein, drängt in Form vieler Blickzonen an und lässt diese durch wiederum seine Permutation in ein unheimliches, doch machtvolles Irren münden, das von den Eingeschlossenen nie überblickt, sondern nur mitgemacht werden kann. So gesehen floriert das Labyrinth in Cube mit seinen vielen Zellen und den vielen Blicken, die in und von ihnen geworfen werden, sich tauschen und einander durchdringen, als Gottesanbeterin, die nicht vor dem Subjekt steht, sondern es immer schon in sich (in ihre unzähligen Augen, in ihren durch Facetten disseminierten Blick) eingeschlossen und dadurch zerlegt haben wird.

4.1.2.5 Unheimliche Geräusche Der Blick ist buchstäblich nicht dingfest zu machen, was sich aus der primären Eigenschaft des Kubus, dass er sich bewegt, dass er seine Einzelteile verschiebt und stets und ständig neu anordnet, speist. Schon zu Beginn des Films können die Eingeschlossenen merkwürdige Geräusche vernehmen, die klingen wie das Rütteln, Rattern, Scheppern, Poltern und Einrasten von Stahlträgern, gleich der Mechanik alter, sich verschiebender Bühnenarchitekturen39 . Da keine/r der Eingeschlossenen genau bestimmen kann, um 39

Nicht nur dem Namen nach erinnert der Würfel in Cube an eine Architecture Terrible, eine spezifische Gefängnisarchitektur, die, so Jacques-François Blondel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im mehrbändigen Cours d’architecture (1771-1777), bereits eine gewisse Schwere und abschreckende Wirkung ob ihrer Gestaltung, die viele Schatten werfen und dabei beängstigen soll, mit sich bringt, sodass die Architektur bereits einen »schreckenerregenden Anblick« (Busch 1977: 222) bietet – und sich dabei, wie Werner Busch konstatiert, an den Theaterkulissen für im Kerker spielende Szenen orientiert. Cube orientiert sich also u.a. an einer Gefängnisarchitektur, die wiederum

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was es sich bei diesen Geräuschen handelt, ignorieren sie sie zunächst. Erst als sie gegen Ende des Films Rennes’ Leiche finden und durch diesen Fund darauf schließen, dass die Räume sich verschoben haben, kommen ihnen die Geräusche wieder in den Sinn, die sie die ganze Zeit über begleitet haben. Worth:

Hey, listen to what I’m saying! There was a room there before! We haven’t been moving in circles, the rooms have! Leaven: Of course. Quentin: The rooms? Worth: That explains the thunder, the shaking. We’ve been shifting the whole time. Leaven: It’s the only logical explanation. I’m such an idiot. (Natali 2004: 01:04:57-01:05:19) Sobald sich die Kammern provisorisch angeordnet haben, setzt sich auch hörbar die innere Mechanik dieses in sich permutierenden Raumsystems wieder in Gang; Bewegung also erzeugt Geräusche. Diese Geräusche aber sind mehr als indexikalische Zeichen für die Geräusche verursachende physische Bewegung (der Kammern) des Kubus, reihen sie sich doch ein in das unsichtbare Ensemble akustischer Elemente, die Natalis Film nicht nur schmücken, sondern ihn im Wesentlichen bestimmen. Schon der Soundtrack Cubes ist besonders: »Little did the composer know that the creation of Cube’s soundtrack would require him to rethink what the purpose of a film score – and indeed music itself – actually is« (Berman 2018: 182). Mark Korven zeichnete für den Soundtrack des IndependentFilms, der weder klassische Instrumente wie Klavier oder Gitarre enthalten sollte, verantwortlich und ließ seine damalige Lebensgefährtin Cathy Nosaty »improvise a whole bunch of sounds« (ebd.: 184), um diese dann in die Tonspur zu integrieren, wobei das Ergebnis minimalistisch ist: Weder verfügt der Soundtrack über musikalische Harmonien mit hohem Wiedererkennungswert wie etwa die bombastischen Hollywoodkompositionen von Hans Zimmer oder John Williams, noch über schauderhafte, aber dennoch orchestral eingespielte Dissonanzen wie es bei Horror-Filmen oft der Fall ist. Zu hören – es bleibt zu fragen, für wen – ist technischer, metallischer Klang, durchzogen von Audiofetzen einer wie das geschlechtslose Zischen eines Untoten klingenden Stimme, die wie eine Kette der Konsonanten T und S klingt. Es hallt, es wiederholt und vervielfältigt sich und scheint einen gewissen Rhythmus zu vollziehen. Stets klingt es, als wäre es zugleich da und weit entfernt; es ist wie ein Echo auf der vergeblichen Suche nach seiner Quelle, das selbst (unlokalisierbare) Echos produziert – es ist unentscheidbar, ob es sich bei diesem Geräusch um ein Detail aus dem Repertoire der Soundeffekte handelt, die die unheimliche und klaustrophobische Stimmung des Films für das Publikum unterstützen

auf (verschiebbare) Kerkerbühnenbilder rekurriert und speist dabei medienreflexiv die Geräusche des Verschiebens der Theater-Bühnentechnik als Blick ins eigene Treiben ein. Und nicht nur das: Zugleich holt Cube die eigentlich verborgenen Mechanismen seiner eigenen Produktionsbedingungen auf die Ebene der Handlung, schließlich wurde der Film auf einer permanent im Umbau befindlichen Minibühne gedreht, deren Verrückungen am Set sicher deutlich zu hören waren.

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oder ob es ein diegetisches Element ist, das die InsassInnen des Kubus adressiert. Unbestimmbar zieht es von Kammer zu Kammer, wobei bereits diese Verunmöglichung einer Verortung des aufdringlichen Zischens es zu einem un-heimlichen avancieren lässt; es taucht unvermittelt an verschiedenen Stellen auf, um gleich wieder zu verschwinden. Der Film lässt offen, ob die InsassInnen dieses Geräusch nun hören oder nicht, ob die im Nachhinein bemerkten shaking und thunder dieses Geräusch mitmeinen oder nicht. Das Geräusch teilt sich ohnehin mit dem Blick eine unheimliche Präsenz, die gleichzeitig eine Absenz ist, wodurch zugleich darauf verwiesen wird, dass Blicke bereits mit der Dimension des Geräuschs vernäht sind bzw. dass in Funktion und Wirkung des Blicks die des Geräuschs schon eingebaut ist. Jean-Paul Sartre, von dem Lacan unüberlesbar einiges seiner Blicktheorie bezieht, präzisiert diesen Umstand bereits in Das Sein und das Nichts (1943): Ohne Zweifel ist das Sichrichten zweier Augen auf mich dasjenige, was am häufigsten einen Blick offenbart. Aber er würde ebensogut gelegentlich eines Raschelns von Zweigen, eines von Stille gefolgten Geräuschs von Schritten, eines halb offenstehenden Fensterladens, der leichten Bewegung einer Gardine gegeben sein. […] Was ich unmittelbar wahrnehme, wenn ich die Zweige hinter mir brechen höre, ist nicht, dass irgendjemand da ist, sondern ist vielmehr, dass ich verletzlich bin, dass ich einen Leib habe, der verwundet werden kann, dass ich mich an einer bestimmten Stelle befinde und dass ich auf keinen Fall von dort entweichen kann, wo ich ohne Verteidigungsmittel bin, kurz, dass ich gesehen werde. (Sartre 1966: 344f.) Der letzte Abschnitt des Zitats dokumentiert – bei allen Unterschieden – die Nähe zwischen Sartres, Lacans/Žižeks und Cubes Blickkonzeptionen bezüglich der andrängenden Macht des Blicks, die das Subjekt sichtbar macht, bloßstellt, ihr aussetzt und gefährdet – und bringt zugleich seine akustische Dimension ins Spiel. Zu hören ist der Blick bei Sartre durch Schritte, das Rascheln von Blättern und das Brechen von Zweigen; er ist un-sichtbar, aber trägt sich ins Register des Hörbaren ein – in Cube schneidet der Blick wiederum als Zischen und körperlose Reststimme in die Tonspur. Als Geräusche heben sich sowohl das Rascheln als auch das Brechen von ihrer vermeintlichen Ursache ab, werden von einer sie erzeugenden Quelle getrennt und sind auf diese Weise mit dem Blick verbunden, ganz wie das Wispern (des Cube) in Cube. Das Geräusch in Cube ist demnach nicht nur klangliches Ornat des Films, sondern gesellt sich dem Blick zu und findet sich als Bauelement seiner Unheimlichkeit auf der Tonspur wieder – es »bewahrheitet sich der Ton als die eigentliche Definitionsmacht aus dem Off, die die Kluft im Feld des Sichtbaren anzeigt. […] [E]ine gespenstische Stimme, frei schwebend in einem mystischen Zwischenreich […] ist beweglicher und unheimlicher noch, als ein böser Blick es sein kann« (Schaub 2005: 83f.). Es ist unentscheidbar, ob jenes Zischen zum diegetischen Raum dazugehört oder nicht, was bereits Indiz seiner Unheimlichkeit ist. Aus diesem Blickwinkel wiederum erscheint das für die InsassInnen erst verspätet überhaupt als solches registrierte Geräusch, das von der Mechanik des Kubus und seiner cubies ausgelöst wird, als diegetische

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Manifestation des immer schon Blick gewesenen Geräuschs im »Off-Off40 « (vgl. Deleuze 1997b: 321), insofern es zwar da und hörbar ist, sich aber zugleich jeglicher Verortung entzieht, sodass »der Ton die Bildwahrnehmung nicht nur leiten, sondern sie regelrecht vampirisieren kann« (Schaub 2005: 19) – auch das Off verrätselt sich zum (kinetischen) Labyrinth.

4.1.3 »If nothing is random«: (Zahlen)Paranoia Ist der Blick und zudem innerhalb einer Zellenarchitektur im Spiel, bilden sich nahezu automatisch Strukturen der Paranoia41 ; das Labyrinth, das der Kubus ebenfalls ist, avanciert zum exemplarischen Raum paranoischer Strukturen, da »[sich] in der Ambivalenz des Labyrinths […] dysphorischer (Angst, Verwirrung) und euphorischer (Neugierde, Wagnis) Reiz [vereinen]« (Rennig 2016: 170), wobei (der Cube in) Cube das insofern ausreizt, als er einerseits einen »Deutungswahn« (Lacan 1997: 26) provoziert bzw. produziert und sich andererseits als paranoides Spiel mit den in die Türrahmen eingelassenen Zahlen aufdrängt. Wie man durch kurze Gespräche der ProtagonistInnen während ihrer Labyrintherkundung erfährt, wurden alle aus alltäglichen Situationen gerissen, ohne sich daran erinnern zu können, was genau passiert ist: Holloway, die ihren (Wohnstätten)Namen nicht nur mit einem Gefängnis teilt, sondern auch mit einer prominenten Figur aus Mark Z. Danielewskis House of Leaves, war im Begriff, sich etwas zu essen zu machen, Leaven wollte gerade zu Bett gehen und der auch sonst eher wortkarge Worth gibt nur knapp zu verstehen, dass er erinnerungslos von Quentin geweckt wurde. Quentin: Wait a second! Let’s all just relax for a minute. Does anybody remember how they got here?

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Deleuze dekliniert Fasson und Funktion des bzw. der Offs besonders in Anlehnung an die Kino- und Filmtheorien Michel Chions und Pascal Bonitzers in Das Bewegungsbild Kino I (1989) durch: Hat das relative Off das Potenzial, »dem Raum weiteren Raum hinzuzufügen« (Deleuze 1997a: 34), also tatsächlich sichtbar zu werden, verweist hingegen das absolute Off, das weniger ex- denn insistiert, auf ein »radikales Anderswo außerhalb des homogenen Raumes und der homogenen Zeit« (ebd.) und bezeichnet »also das Off-Off« (Schaub 2005: 19) – ein Begriff, den Deleuze wiederum von Pascal Bonitzer herholt. Geben Töne – auf die Deleuze sich tatsächlich eher selten bezieht und seine Analysen sich entsprechend vorrangig dem visuellen Feld widmen – etwas zu hören, was sich außerhalb des Bildfelds befinden mag, vermögen sie das »Visuelle […] ab[zu]lös[en]« (Deleuze 1997a: 32) und können so etwas, das nicht zu sehen ist, zu hören (auf)geben. Beengte Räume, die mit Menschen, die einander nicht kennen, gefüllt werden, sind, das demonstrieren einschlägige Genre-Produktionen, prädestiniert, paranoide Symptome aufkeimen zu lassen. Nahezu jedes Kammerspiel, das in einem feststeckenden Fahrstuhl oder einer zugeschneiten Berghütte stattfindet, treibt seine Figuren buchstäblich an den Rand des Wahnsinns und eben nicht zuletzt, weil man sich in gegenseitigen Anschuldigungen bis hin zur körperlichen Gewalt verliert. Ähnlich wie in Cube werden beispielsweise die ProtagonistInnen von Abducted (2013) ohne Wissen über Sinn und Zweck in kleine Gefängniszellen gesperrt; in diesem Entführungsexperiment äußert ein jeder und eine jede Vermutungen darüber, warum er oder sie in diese Situation geraten ist, was vom geheimen Militärexperiment zur Produktion von Superkampfeinheiten bis hin zur Taliban, die angeblich zum Erpressen von Lösegeld junge Pärchen aus dem Griffith Park entführt, reicht.

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Holloway: Perogies! I was eating dinner. Perogies, cheese and potato. I ran out of sour cream and then I went to the fridge and then I… I don’t know… Quentin: You… Leaven? Leaven: I… I just went to bed and then… Quentin: What about you? Worth: I just woke up here. Holloway: Middle of the night. It’s like Chile. They always come in the middle of the night. Leaven: Who? Holloway: Only the government can build something this ugly. Quentin: Oh, it ain’t government. Holloway: Then what is it? Quentin: I don’t know. Holloway: Aliens! Quentin: Please, we’re spooked enough as it is. Let’s rule out aliens from now on and concentrate on what we know. (Natali 2004: 00:08:29-00:09:37) ZuschauerInnen und Gekidnappte teilen gewissermaßen die gleiche Ausgangslage, insofern beiden eine Über-Sicht verweigert und Interpretationszwang auferlegt wird; weder die Menschen vorm Bildschirm noch die im Cube kommen tatsächlich über den beschränkten Einblick hinaus und müssen sich mit dem arrangieren, was ihnen dieser unheimliche Ort gewährt. Die Eingesperrten versuchen zunächst, den Cube durch Beschreibungen einzuholen, be-sprechen ihn gewissermaßen: »One notices quickly how the characters try to create – or to verbalize – a mythology, come up with a language, a grammar, a meaning, a semantic which can be applied to the inexplicable and monstrous« (Walther 2011: 296). Besonders Holloway ist bemüht, dem Cube durch Rede beizukommen, wenn sie spekuliert, das Pentagon oder gar Außerirdische könnten an ihrer Entführung beteiligt gewesen sein. Der Versuch der Integration in eine (symbolische) Ordnung wird zur Aufgabe der InsassInnen, die zugunsten des Scheiterns dieser Einordnung immer wieder von neuem beginnt. »You can’t see the big picture from in here. So don’t try« (Natali 2004: 00:15:59-00:16:02) – doch kaum hat Quentin mit diesen Worten eine Über-Sicht verneint, beginnt auch schon das (vom Cube induzierte) Deuten, wenn er vermutet, sie seien unfreiwillige TeilnehmerInnen einer zur Unterhaltung reicher PsychopathInnen dienenden Spielshow42 , wohingegen Holloway

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Man erinnert sich an Paul Michael Glasers gleichnamige Adaption von Richard Bachmanns alias Stephen Kings dystopischem Roman The Running Man von 1987, in der der von Arnold Schwarzenegger verkörperte Ben Richards Teilnehmer einer sich in bestimmten mit Kameras ausgestatteten Stadtteilen L.A.‹s stattfindenden Gameshow ist, bei der ehemalige Strafgefangene oder andere (vermeintliche) StraftäterInnen von professionellen KillerInnen gejagt werden und meistens haushoch unterlegen sind. Das Spiel- bzw. Jagdgebiet geriert sich dabei insofern als unheimliche Blickzone, als einerseits hinter jeder Ecke und jedem Fenster das schauende Auge eines Kopfgeldjägers beobachten könnte und andererseits der Blick in Form unzähliger Kameras, von denen nicht immer genau gewusst werden kann, wo sie sich befinden, ein ubiquitärer ist.

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überlegt, ob der Cube vielleicht eine Art Strafanstalt darstellt oder ob sie nicht in der Wüste Mexicos sind, da nur dort so etwas Großes unbemerkt von der Militärindustrie gebaut werden könne43 . Quentin ist überzeugt, ihre Berufe teilten ihnen etwas über die jeweilige Funktion der Person mit, er besteht überraschend plötzlich – entgegen seiner eigenen Behauptung – darauf, es gebe ein ganzes, in sich vollständiges Bild zu betrachten. Quentin: Alright… It’s time to reassess this place. Holloway: I’ve been over it again and again, why would they throw innocent people in here? Are we being punished? Leaven: I’ve never done anything to deserve this! Quentin: Forget about all that! You can’t see the big picture from in here. So don’t try. Keep your head down. Keep it simple. Just look, look at what’s in front of you. Worth: That’s what he said. Quentin: Start with us. We got an escape-artist and a cop. There’s gotta be a reason for that. You’re a doctor Holloway. That gives you a function, a reason, right? Holloway: No, it just makes me go: »Why me, and not one of the ten million other doctors out there«! Quentin: Leaven, what are you? Leaven: Nothing, I just go to school, hang out with my friends. (Natali 2004: 00:15:44-00:16:35) Leaven, eine mathematik- und rechenaffine Schülerin, ist noch immer im Besitz ihrer Brille, die sie zum Lesen benötigt, was Quentin, einen geschiedenen Polizisten wiederum überzeugt, dies hätte tiefere Bedeutung, da etwa Holloways Schmuck beim Transport in den Würfel abgenommen wurde. »Well, they took off her jewelry, but they must have put these on you. If nothing is random – why are they here?« (ebd.: 00:18:25-00:18:34). Mit Quentins Schlussfolgerungen – die ihn im Übrigen dazu bringen, seine eigene Rolle als (paranoischen) Durchdringer großer Zusammenhänge maßlos zu überschätzen – geht die Handlung Cubes über zur zweiten Weise paranoischer Reize, die mit der ersten verschaltet ist und sich als paranoides Spiel mit Zahlencodes aufnötigt. Allem An43

Ähnliche Überlegungen stellt die zunächst noch namenlose Protagonistin – gespielt von einer großartigen Mélanie Laurent – des beklemmenden Kammerspiels Oxygen an. Der unter Regie von Alexandre Aja im Jahr 2021 produzierte, auf Netflix ausgestrahlte Film zeigt ZuschauerInnen eine Frau, die in einer Kapsel, genauer: einer Kryokammer nur wenig größer als ihr eigener Körper ohne Erinnerung an Vergangenes oder zur eigenen Persönlichkeit eingesperrt ist, erwachen. Nicht nur droht ihr allmählich der Sauerstoff auszugehen, sie will mit Hilfe der Computerstimme MILO, die sie zunächst nur mit Bioform Omikron 267 anspricht, ebenso herausfinden, wer und wo sie ist. Anders als die ProtagonistInnen von Cube wird die so ziemlich einzige Darstellerin von Oxygen erfahren, an welchem Ort sie sich befindet: In einem riesigen Raumschiff gemeinsam mit anderen Klonen, als einer derer sie sich erkennen muss, auf dem Weg zur Besiedlung eines neues Planeten, nachdem der Großteil der Erdbevölkerung einem tödlichen Virus zum Opfer gefallen ist; ihr Körper ist erst zwölf Jahre und damit genauso alt, wie die Reise des Raumschiffs bereits andauert, was nur heißen kann: Sie war nie woanders, sondern immer nur in dieser sarggroßen Kapsel, die sie zu einem (neuen) Leben führen soll.

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schein nach bedürfen diese zunächst einer Lösung, man muss die Chiffre knacken, um weiterzukommen, wobei die Funktion dieser Zahlentripletts nicht (nur) darin besteht, Wege zu erschließen, sondern vor allem darin, die Paranoia der InsassInnen weiter zu kultivieren. Auf die Idee gebracht, nichts sei zufällig und Leavens Brille tatsächlich dazu da, um sich konzentriert der Entschlüsselung der Zahlen widmen zu können, beginnen die Eingesperrten die dreistelligen Zifferngruppen als vermeintliche Codes in ein kalkulierbares System zu überführen – immer wieder. Die Anagrammatik des Cube allegorisiert sich (auch) in diesen Zahlenspielereien, wird doch ständig hin- und hergeschoben, immer wieder neu und immer wieder anders kombiniert, permanent neu an- und umgeordnet. Obwohl sie erst in einigen wenigen Räumen gewesen sind, gehen sie vorerst durch Leavens Aussage davon aus, dass die Zahlengruppe, enthält sie keine Primzahl, darauf hinweist, dass im nächsten Raum nicht mit einer Falle zu rechnen ist. Leaven: Prime numbers. I can’t believe I didn’t see it before. Quentin: See what? Leaven: It seems like if any of these numbers of prime, then the room is trapped. Ok, 645… 645, that’s not prime. 372… no. 649… Wait, 11 x 59, it’s not prime either. So that room is safe. Quentin: Wait, wait, wait. How can you make that decision based on one prime number trap? Leaven: I’m not. The incinerator thing was prime: 083. The molecularchemical thing had 137, the acid room had 149. Holloway: You’d remembered all that in your head? Leaven: I have a facility for it. (Ebd.: 00:19:18-00:20:03) Zunächst scheinen sie mit ihrer Vorgehensweise einen sicheren Weg eingeschlagen zu haben, bis sie merken, dass etwas mit ihren Kalkulationen nicht in Ordnung ist. Denn auch in einem für safe befundenen Raum im Cube, der sowohl eng als auch unendlich weit ist, wird wider Erwarten eine Falle ausgelöst, als Quentin von einer roten in eine blaue Zelle klettert und seine Beine dabei von feinem Draht angeschlitzt werden. Bald darauf ist Leaven überzeugt, nicht in Primzahlen, sondern in deren Potenzen, deren Faktoren Kazan im Kopf berechnen kann, die Angabe über eine Falle erkennen zu können oder nicht, gibt dafür aber keinerlei Begründung an. Zudem verrechnet sich Kazan beim Zerlegen der Zahlen in Faktoren an einigen Stellen, wenn er etwa auf die Frage nach den Faktoren der Zahl 563 zwei angibt, diese jedoch eine Primzahl und daher nicht in andere Primfaktoren zerlegbar ist und somit nur einen Faktor hat – der Raum müsste also laut Leavens Theorie eine Falle sein, sie gehen aber ohne Probleme durch, sodass man davon ausgehen kann, dass auch diese in den Raum geworfene Theorie nicht zutrifft und sie nur Glück gehabt haben. Später glauben sie außerdem zu entdecken, dass diese Zahlenkombinationen nicht nur Hinweise auf etwaige Fallen sind, sondern zudem kartesische Koordinaten darstellen, mit deren Hilfe Leaven ihre Position im Würfel bestimmen könne, sodass sie zur Außenwand gelangen, die nach draußen führt (Leaven addiert hierzu jeweils drei Zahlen miteinander, sodass sie die Angaben für die x-, y- und z-Achse hat).

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Leaven:

Bonjour, these numbers are markers, a grid-referance, like altitude and longitude on a map. The numbers tell us where we are inside the cube. Quentin: Then where are we? Leaven: It works! Ok, all I have to do now is add the numbers together. The x-coordinate is 19, y is 26 rooms. So that places us… seven rooms from the edge. Quentin: Alright, let’s go. (Ebd.: 00:40:54-00:41:28) Leaven entdeckt bei der Addition der Zahlenreihen einen Raum, der eine Koordinate mit dem Zahlenwert 27 aufweist, obwohl sie eigentlich davon ausgegangen ist, dass der Kubus aus 26 mal 26 mal 26 Kammern besteht, doch dazu später mehr. Leaven behauptet in dieser Phase, sie seien sieben Räume von der Außenhülle entfernt, worauf sie versuchen, diese durch Durchquerung weiterer Kammern zu erreichen – da sich, was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, die Räume selbst bewegen, kann ihre Angabe jedoch so nicht stimmen, da der Raum eben genau keine feste Position hat; obwohl ihre Mutmaßungen also von der Bewegung des Kubus widerlegt werden, führt der Weg, den sie eingeschlagen haben, sie trotzdem zur Außenwand, was die vermeintliche Logik der Handlung leckschlagen lässt (und damit einmal mehr die Verschiebungen des Cube adressiert werden). Nachdem sie jedoch erkannt haben, dass nicht sie sich im Kreis bewegt haben – was sie zunächst glauben, als Worth von Quentin unsanft in den Raum gestoßen wird, in dem Rennes’ Leiche noch immer mit halb zerfressenem Schädel liegt –, sondern sie innerhalb eines sich bewegenden Würfels unterwegs sind, glaubt sie schließlich, in den Zahlengruppen Permutationen zu erkennen, die ihr sagen können, welche Positionen ein Raum eingenommen haben wird, wie oft er sich bewegt und wohin. Worth: Leaven: Worth: Leaven: Worth:

What are you on to, Leaven? Give me a minute. The numbers are markers point on a map, right? Right. And how do you map a point that keeps moving? Permutations!

(Ebd.: 01:05:20-01:05:38) Doch auf Quentins Frage, ob sie dies alles tatsächlich an den Tripletts ablesen und errechnen könne, gibt Leaven zunächst nur ein leises »I don’t know« (ebd.: 01:05:53) zur Antwort und fährt dann fort: »I’ve only been looking at one point on the map, which is probably the starting position. All I saw was how the cube looked like before it started to move« (ebd.: 00:05:54-01:06:02), um nur wenige Momente später mit einer neuen Rechnung zu beginnen, da sie überzeugt ist, die Zahlen codierten (zu kartesischen Koordinaten addiert) nun einerseits die jeweilige Startposition eines Raumes innerhalb des Kubus als auch die jeweiligen Bewegungen (und damit aktuellen Positionen) der Kubuskammern (zueinander), die sich durch das Bilden von Permutationsvektoren (durch verschiedene, Zahlen umstellende Subtraktionsoperationen) errechnen lassen. Sie kann sich aber zum einen nie völlig sicher sein, dass einerseits die Ausgangsposition tatsächlich durch die Zahlengruppen codiert wird, ist sie es ja nur probably (Leaven kann unmöglich die räum-

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lichen Anordnungen bestimmen, die vor irgendeiner Bewegung liegen; ein before it started ist ein genau nicht auszumachender Zeitpunkt, hat sich doch der Würfel immer schon bewegt) und andererseits die Bewegung chiffriert wird. Zum anderen sind auch Leavens Berechnungen, nach der die Räume sich insgesamt neun Mal bewegen, bis sie an ihren vermeintlichen Startpunkt gelangen, insofern unvollständig bzw. können nicht vollständig aufgehen, als der Würfel diffiziler und Einsicht verweigernder ist als zunächst (von den Eingesperrten) gedacht, sodass sich bei ihren Berechnungen bezüglich des aktuellen Standorts gegen Ende des Films mindestens zwei mögliche Positionen ergeben, die einander ausschließen (vgl. Polster/Ross 2012: 94f.). In Anbetracht der von Leaven angestellten mathematischen Operationen müssten die Räume ferner an der einen oder anderen Stelle bereits miteinander kollidiert sein, aber »the director neglected to inform Leaven about colliding rooms, and so she carries on calculating« (ebd.). Unfortunately, the Cube in the movie cannot be that simple. If it were, Leaven’s room would have crashed into Worth’s room at (18, 25, 14), during the sixth move of the cycle. So, either it was intended for the room movements to be out of sync, or this was an error that slipped in during film production. (Ebd.: 94) Sie lässt sich zwar kurz vor Ende des Films die Zahlencodes der sie aktuell umschließenden Räume als vermeintliche Referenzwerte durchgeben, um zu ermitteln, wo sie sind, wobei »[t]his is suppossed to identify a third adjacent room, but a calculation of the room’s coordinate cycle shows that this is impossible. Another blooper« (ebd.: 94). Die sie umgebenden Räume werden je andere gewesen sein, ihre Bezugsgrößen sind also ebenfalls keine feststehenden und bewegen sich nach je anderen und vor allem unbekannten Mustern. In Anbetracht der neu entwickelten Permutationstheorie fragt Worth »Do we have time?« (Natali 2004: 01:08:35), was Leaven mit »maybe« (ebd.: 01:08:36) beantwortet – was ihnen demnach zusätzlich an Information fehlt, ist das Wann der Bewegung; sie können nicht wissen, in welchen zeitlichen Abständen die Verschiebungen statthaben und schon gar nicht, ob sich alle cubies gleichzeitig bewegen – bestimmte Rechenwege funktionieren nur unter bestimmten, hier aber nicht zwangsweise gegebenen Voraussetzungen. Zudem verweigert der Film gewisse Ein-Sichten: »We cannot actually tell from the movie how the three rooms are positioned« (Polster/Ross 2012: 94), ebenso wenig können es also die Eingesperrten selbst wissen. Leaven arbeitet mit Axiomen, die sie immer wieder verwerfen muss; ihre Theorie der Räume, die sich neun Mal bewegen, bevor sie an ihren Ausgangspunkt zurückkehren, funktioniert nur dann, wenn die Würfelkammern sich synchron zueinander bewegen, was sie scheinbar nicht tun. True, Leaven might be calculating that the Cube as a whole needs two moves to return to its starting configuration. However, that makes only sense if the rooms move in sync. Indeed, at this stage, Leaven’s solution of the puzzle makes sense only under that assumption. In which case, we’ll have to deal again with all those crashing rooms. (Ebd.: 95) Hätte Leaven recht, müssten vorher Räume miteinander kollidiert sein – was nicht der Fall ist, also hat sie wohl eher nicht recht. Der Horror lässt sich trotz aller Anstrengungen nicht berechnen, alles hätte auch anders kommen können. Ob etwa eine Falle ausgelöst wird, könnte ebenso gut an der sich ändernden Koordinate des Raums und nicht an be-

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reits vorinstallierten Fallen liegen; es kann also nicht gewusst werden, ob sich nicht mit der Position des Raums im Würfel seine Gefährlichkeit ändert: Befindet sich der Raum in Position A, wird vielleicht keine Falle ausgelöst, wandert er schließlich an Position B, mutiert er eventuell zur Falle – nobody knows… Zudem bringt die Wanderung das Filmpersonal lediglich wieder in den Raum zurück, in dem es sich zu Beginn gefunden hatte, es gelangt durch seine Vorwärtsbewegung wieder zurück an den Anfang (eine Strategie, die auch der Film selbst verfolgt, wie noch gezeigt wird). Jene sich verrückende Maschine mit unbekanntem Antriebssystem inauguriert Verrücktheit, sorgt für die Ausbreitung einer gemeinsamen Paranoia, Folie à deux; es sind weniger die InsassInnen, die sich gegenseitig anstecken, als vielmehr der als Blickkonstrukt feilgebotene Cube der Infektionsherd ist und als eine Art architekturales Kontagion fungiert – eine Allianz zwischen Cube und Paranoia, insofern sich Türen ständig öffnen und schließen, wie ständig Lösungen für (den Kubus als Gesamtkonstrukt wie auch) die in den Türrahmen angebrachten Zahlencodes aufgemacht und wieder verworfen, verschlossen, vom Sinn abgetrennt oder nie anschlussfähig gewesen sein werden. Damit lässt der Kubus die Eingesperrten »jenes pervertierte Verhältnis zur Realität aus[bilden], das man Wahn nennt« (Lacan 1997: 55). Das bereits zitierte Plakatmotto Don’t look for a reason, look for a way out wird so nun als Warnung an die Eingeschlossenen lesbar, sich nicht zu sehr den Deutungen über die Maschine oder die vermeintliche Lösung eines vermeintlichen Zahlenrätsels hinzugeben, bringen diese Versuche letztlich nichts anderes als »Paranoia combinatoria« (ebd.: 32) hervor, wobei das paranoide Symptom sich als Zwang zum möglichst restlosen Bedeuten-Machen, also einer Deutung, die um alles weiß, darstellt und sich als »imaginäre Überflutung« (ebd.: 117), als »imaginäres Gewimmel, eine imaginäre Wucherung« (ebd.: 105) geriert. Freud erinnert daran, dass der Paranoiker »nichts Indifferentes [anerkennt]« (Freud 1989j: 222), dass also der »diskursive Produktionen« (Lacan 1997: 93) provozierende paranoide Wahn, die paranoische Theorie keine Inkonsistenzen zulassen noch Zufälliges kennen will, wie auch Lacan einen Drang zur permanenten Deutung, zur vollkommenen Interpretation im Bezug zum Fall Schreber formuliert (vgl. ebd.: 163). Der Kubus jedoch verweigert sich einer letztgültigen Interpretation, versperrt sich gegen eine irgendwie vollständige Systematisierung, insofern er sich immer schon in Bewegung befunden haben wird; er widersetzt sich (Zu)Ordnungen und Kohärenz, fordert diese aber zugleich als Paranoia erregender ein. Während es versucht, die Zahlencodes in ein Entschlüsselungssystem zu überführen, mutet das Filmpersonal fast wie der schließlich mehr als verstörte Walter Sparrow im Film The Number 23 (2007) an: Dreht man nur oft genug die Rechenwege und potenzierte Wurzeln von halbierten Zahlen um und wendet sie hin und her, kommt irgendwie die Zahl 2344 als Ergebnis zu Stande; es wirkt wie ein Krampf, der dem Paranoiden als logischer Weg erscheint, sodass »die ganze Welt von diesem Bedeutungswahn erfasst 44

Der 1998 unter Regie von Hans-Christian Schmid (ebenfalls Regisseur von Nach Fünf im Urwald (1995)) produzierte deutschsprachige Spielfilm 23 – Nichts ist so wie es scheint folgt dem von der Nummer 23 angezogenen Protagonisten, Karl Koch, der (nicht nur) seinen Namen von einem populären deutschen Hacker leiht, und erzählt dabei dessen von Verschwörungstheorien über die Illuminaten durchzogene Geschichte, in der die Zahl 23 immer bedeutungsvoller wird und die zur Zeit des Kalten Krieges spielt: Gemeinsam mit seinem Freund David stiehlt Karl, der immer mehr Kokain konsumiert und immer weniger schläft, wertvolle Informationen von westlichen Geheim-

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wird« (ebd.: 95). Obwohl die veranschlagten Lösungen der Zahlenrätsel immer wieder als falsch verworfen werden müssen, halten sie daran fest, dass diese ihnen etwas über die Räume des Würfels sagen können – etwa auch, es gebe einen Brückenraum mit der Koordinate 27, der aus dem Cube heraus führen könnte. Leavens Lösungen scheinen immer nur für eine bestimmte Zeit zuzutreffen, bis sie schließlich doch fehlgehen. Der vermeintlich mathematische45 Triumph, dass sie also dort hingelangen, wo sie hingelangen wollen, liegt genau deswegen quer zur notdürftig errechneten (Un)Logik der Würfelbewegungen. Wenn das Symptom des Würfels die Deutung ist, dann hält er stets zu einem Vorbeideuten an. Damit das Deuten weiter gehen kann, muss notwendig (immer wieder) eine letztgültige Deutung verworfen werden, um den Fortlauf der paranoiden Bewegung (in einer Art Schleife) sicher zu stellen – sowohl für das Filmpersonal wie für ZuschauerInnen. Vermeintlich ist eine Struktur zu finden, die sich aber (trotz vermeintlichem Austritt) immer wieder als fehlgängig erweist, was auch für den Film gilt: Durch seine Unbestimmtheit regt er ZuschauerInnen im Pakt mit den Eingesperrten an, Bedeutung beizusteuern, was einerseits nicht gelingen, andererseits nicht aufhören kann. It’s maybe hard for you to understand, but there’s no conspiracy. Nobody is in charge. It’s a headless blunder operating under the illusion of a masterplan. Can you grasp that? (Natali 2004: 00:36:10-00:36:16)

4.1.4 Möbiusarchitektur Das Ende des Films ist zugleich das – wie sich zeigen wird, vorläufige – Ende der meisten Figuren; der paranoide Polizist Quentin hat am Ableben der Figuren entscheidenden Anteil, schlägt seine Paranoia doch um in Gewalt: Holloway stirbt bei dem Versuch, sich an einem aus der Kleidung der Eingesperrten zusammengebundenen Seil hinüber zur Außenhülle zu schwingen; sie kann sich nicht länger halten, Quentin lässt sie buchstäblich hängen, bis sie letztendlich wohin auch immer stürzt. Leaven wird, als sie bereits das gellende Licht aus dem vermeintlichen Brückenwürfel scheinen sieht, mit einem

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diensten und veräußert diese schließlich an den KGB, bis sie schließlich durch einen öffentlichkeitswirksamen Fernsehauftritt gestellt werden. Mathematik, Isolation und das Lösen von Rätseln werden in La habitacion de Fermat, der gemeinsamen Regiearbeit von Luis Piedrahita und Rodrigo Sopeña aus dem Jahr 2007 fulminant verbunden: Ein Mann, der sich selbst das Pseudonym Fermat nach dem französischen Rechtsgelehrten und Mathematiker Pierre de Fermat, gibt, verschickt an drei MathematikerInnen und einen Erfinder eine mysteriöse Einladung, die sie auffordert sich zum gemeinsamen Treffen, bei dem Wissen ausgetauscht werden soll, in einer Lagerhalle einzufinden und dabei ebenfalls Pseudonyme bekannter MathematikerInnen zu benutzen. Kaum angekommen, werden drei Männer und eine Frau in einem herrschaftlich möblierten Zimmer mit sie zu zerquetschen drohenden Wänden gesteckt, dem sie durch das Lösen diverser gestellter Rätsel entkommen sollen. Als die vier Personen, die sich Oliva, Pascal, Hilbert und Galois nennen, merken, dass Fermat nicht ihr eigentlicher Gastgeber ist, finden sie schließlich durch den von Hilbert geführten Beweis der Goldbachschen Vermutung (einem Hilbertschen Problem), der am Ende des Films jedoch unpubliziert im Fluss landet, heraus aus dem Raum der zukommenden Wände.

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von Quentin herausgerissenen Türhebel aufgespießt und auch Worth fällt dem durchgedrehten Cop zum Opfer, der wiederum vorher von ihm in einen Raum unter ihnen gestürzt wurde und tödliche Verletzungen davongetragen hat. Nur Kazan ist zu sehen, wie er zaghaft in ein weißes Licht, von dem nicht gewusst werden kann, wohin es führt, hineingeht. Dieses Ende aber steht als Ende nicht fest, sondern in Frage. Ähnlich wie im Kurzfilm Paradox (2018) von Rusty Lake, in dem der Detektiv Vandermeer zu Beginn wie auch am Ende des Films mit einer blutigen Wunde am Kopf in einem abgeschlossenen Raum erwacht, herrscht (beim Kubus) in Cube eine Art Schleifenprinzip, das nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit betrifft, insofern sowohl der Film sein Ende an den Anfang faltet bzw. dreht als auch die dargestellte Architektur in sich zurückläuft: Quentin, der am Ende zum Mörder von Leaven und Worth wird, dessen Hände dann buchstäblich mit Blut besudelt sind, taucht zu Beginn des Films aus einer Bodenklappe das erste Mal ins Bild ein bzw. auf. Man sieht dabei, wie zuerst seine blutige Hand (er selbst blutet nicht) aus dem unteren Raum, in dem er sich befindet, nach oben in den Raum greift, in dem Worth noch stark benommen am Boden liegt – der Film kehrt mit einer Hand, die erst am Ende blutig geworden sein wird, am und zum Anfang zurück. Auch das lässt an Beckett denken, gibt es doch im Verwaiser kleine Nischen in der Hartgummiwand des Zylinders, zwischen denen teilweise Tunnel »in die Wanddicke hineingetrieben« (Beckett 2019: 13) worden sind. »Aber die meisten haben keinen anderen Ausweg als den Eingang« (ebd.). Das ist nicht nur die Struktur der Wandaushöhlungen des mysteriösen Zylinders, sondern auch die des Kubus und Cubes – wo es hinaus geht, geht’s auch wieder hinein, das heißt: ist man auf der einen Seite, ist man auch auf der anderen bzw. ist die andere die eine. Sowohl der Kubus als auch Cube bieten keinen Ausweg, kommt eigentlich keine/r der Verschleppten – und mit ihnen ZuschauerInnen – tatsächlich raus: Das Außen bietet sich entweder als schwarze Leere oder als gellendes weißes Licht feil, changiert zwischen zwei Polen der Entziehung von Sichtbarkeit; außen heißt hier nicht Raum, in den hinein gebaut wurde, sondern vom Cube produzierter Raum, der scheinbar nur wieder in diesen zurückführen kann. Worth gibt etwa in der Mitte des Films zu verstehen, dass der Würfel, in dem sie gefangen sind, noch eine Außenwand besäße, die angeblich zwischen sich und dem Würfel ein paar Meter Zwischenzone wohl in der Breite einer Kubuskammer entstehen lässt und in der Leaven jenen Brückenraum vermutet, den scheinbar einzig Kazan betritt, blendend weißem Licht entgegen gehend. »The only person that manages to leave the trap is the only one truly innocent – intellectually disabled boy« (Wysznacki 2017: 193). Die Idee aber, der vermeintlich Unschuldige in Form eines sprachlich herausgeforderten Autisten sei die einzige Figur, die aufgrund dieser Disposition den Kubus verlässt, ist nicht nur langweilig, sondern läuft den Bildern des Films zuwider, scheinen diese doch etwas ganz anderes zu zeigen. Cube gibt nur kurze Momente die spärliche Sicht auf das Äußere des Würfels frei, aber nur, um diese letztlich in sich selbst zurücklaufen zu lassen: Sieht man ins vermeintliche Außen des Kubus, sieht man neben einigen wenigen Aufnahmen einer äußeren Wand während Holloways Sterbeszene eine Art Schacht, durch den sich ein cubie wie ein Aufzug zu bewegen scheint. Dieser nur von Kazan passierte Raum – der ihn in ein grelles Licht führt, sodass ZuschauerInnen nicht sehen können, wohin er tatsächlich geht – kann nur wieder in den Kubus hinein und nicht in ein Außen jenseits der/s unheimlichen Architekt(e)ur(s) führen, insofern dieser

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Raum sich, wie das Filmbild suggeriert, in einem Schacht bewegt, der nicht der Zwischenraum von Kubus und Mantelwand sein kann, da der Schacht von vier Wänden umschlossen wird, was nur den Schluss zulässt, dass sich die von Leaven als Brückenraum ausgewiesene Kubuskammer als Passage vom Kubus zu sich selbst dartut. Der Würfel scheint gewissermaßen in sich geknickt oder gefaltet, sodass der Schacht sich auch in der Mitte des Kubus befinden könnte und der Raum im vermeintlichen Außen nur eine Brücke wieder hinein in den Kubus darstellt. Wenn diese vermeintliche Brücke ins Außen eine vom Kubus zum Kubus ist, muss das Deuten (wieder anfangen und) weitergehen – Cube wird es so arrangiert haben. In dem Moment, in dem Kazan ins grelle Licht geht, initiiert der so entstandene Whiteout den Blackout und damit (immer wieder neu) die Amnesie der Gefangenen. Insofern das Weiß alles auf Anfang zurückstellt, wird zudem und zugleich alles an die weiße Kinoleinwand im abgedunkelten Kinosaal, wo alles anfängt und aufhört und anfängt und aufhört, zurückverwiesen. Darüber hinaus veranlasst der Whiteout am Ende nicht nur den Blackout der Figuren zu Beginn, sondern führt ins Weiß des ersten Raumes sowie ins Weiß des körperlosen Organs Auge zu Beginn des Films zurück. Folglich gibt es keine Anzeichen für ein dahinter oder sonst wo versteckt liegendes Geheimnis, das es zu entschlüsseln gäbe – es gibt nur die endlose Wiederholung der architekturalen Folter.

Abbildung 11: Vincenzo Natali, Cube, 01:12:54

Die InsassInnen erscheinen ähnlich wie die ProtagonistInnen aus Uzumaki, Lost Highway und mother! als jene Ameisen, die sich auf einem Gitter, zu welchem sich die Räume des Kubus gefügt finden, bewegen und das sich so windet, dass sie immer zugleich innen und außen sind, was ein Herauskommen so unmöglich wie überflüssig macht und dass zugleich dafür Sorge trägt, dass »every person alive is everyone who’s died« (Frusciante 2004: 00:01:15.00:01:23). Das Möbiusband als unmögliche Figur repräsentiert hier (erneut), was nicht zu repräsentieren ist, es »bringt jene Des-Orientierung auf den Punkt, welche im Raum des Unheimlichen herrscht« (Binotto 2011: 106).

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Der Twist des Möbiusbandes46 ist irritative Verfaltung und Verdrehung, die es nicht mehr zulässt, konstitutive/konstante Unterscheidungen zu treffen; das Ausweisen einer Differenz von Anfang und Ende, von innen und außen wird nivelliert und zugunsten topologischer Verunsicherung ersetzt. Das Möbiusband erinnert gerade an den im ÜberGang abgebildeten Holzschnitt Eschers, der das Unendlichkeitszeichen abbildet und liefert so auch ein unmögliches und deshalb als Vorstellungsrepräsentanz zu bezeichnendes Bild vom in sich verschlungenen Cube, der Geschehen endlos immer wieder von vorne beginnen lässt, indem er es verdreht. Es ist eine irritative, dabei vielfältige Verdrehung von der Art, die Heidegger in seinen Ister-Vorlesungen dem Unheimlichen zuschreibt: Die echte Bedeutung von Πολλὰ meint nicht »Vieles« im Sinne der bloßen Anzahl und Menge, sondern stets das Vielerlei, das Mannigfaltige, das Vielfältige. Vielfach gefaltet, d.h. zusammengelegt und so vereinzelt und als so Gefaltetes zugleich verflochten und versteckt ist das Unheimliche. So erscheint es gefaltet und verstreut in vielen Arten […]. (Heidegger 1984: 83) Diese Sequenz ließe sich mit Blick auf Architekturales auch verkürzt formulieren und ergänzen: Gefaltete Architektur ist unheimliche Architektur, insofern die Faltung als Bewegung nie und nirgendwo begonnen, stillgehalten und geendet haben wird. Erscheint Unheimliches in Cube architektural, so wird es einerseits ein tödliches Labyrinth, also gefalteter Weg und andererseits ein möbiusbandartiges Gefaltetes sein, das sich stets neu in der Bewegung des Sich-Faltens und -Entfaltens dekonstruiert und keinen Ausweg zugelassen haben wird. »[I]n Natali’s universe, the world begins and ends inside that enormous mechanized hell« (Berman 2018: 187). Nichts scheint hier weder vor- noch nachgängig zu sein, sondern sich in einer Gleichzeitigkeit abzuspielen, die Grenzen zersetzt und Zeiten ineinanderlaufen lässt bzw. in einem Möbiusband ursprungs- und ziellos ein- und ausfaltet – regressus ad infinitum, rekursive Architektur und narrative Schleife ohne Anfang oder Ende, sodass das Unheimliche »sich als Phänomen eines sich drehenden und sich verformenden Raumes [entpuppt], wo man am Ende einer Gasse unversehens nur wieder an ihrem Anfang steht« (Binotto 2017: 128). Der Kubus hat nicht irgendwann irgendwo angefangen, sich zu bewegen und seine den Gliedern des zergliederten Subjekts in diesem Sinne analogen Kammern nach oben, unten, rechts, links, zurück und vor zu verschieben, er wird es immer schon und überall getan haben.

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Mit dem Möbius-Haus wird versucht, die Struktur des Möbiusbandes in eine offene, fließende Konstruktion zu übersetzen. Entworfen wurde es von einem der renommiertesten und mit dem Mies van der Rohe-Award ausgezeichneten Architekturbüros weltweit, das auch dafür bekannt zeichnet, sich außerhalb klassischer Bauvorhaben zu bewegen. Das Designbüro UNStudio mit Hauptsitz in den Niederlanden, das auch das wegen seiner Glasfassade Aquarium genannte Museum in Nijmegen entwarf, erprobte, jene paradoxale Struktur des Möbiusbandes in eine architektonische Konstruktion einzubinden. Bereits eine eigene Entwurfsstrategie, die speziell für das Möbius-Haus entwickelt wurde, hebt das Außergewöhnliche dieses baulichen Vorhabens hervor; 1998 wurde der Bau im niederländischen Het Gooi fertiggestellt, wobei » [t]he mathematical model of the Möbius is not literally transferred to the building, but is conceptualised or thematised and can be found in architectural ingredients, such as the light, the staircases and the way in which people move through the house.« (Van Berkel/Bos 1999: 40ff.).

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Daher erweist sich das Möbiusband nicht nur als Anti-Struktur, die die räumlichen und zeitlichen Pfade des Films kurzschließt, sondern als unmögliche, vorstellungsrepräsentative Verbindung und allegorisches double bind, das die Bewegungen (der Architektur, der Körper(teile), der Blicke und der Bilder) im und des Films sowohl bezeichnet als auch ineinander verlaufen und auseinanderklaffen lässt. Aber auch diese Einsicht läuft Gefahr, sich nur als eine weitere unter vielen paranoischen Erklärungen zu erkennen zu geben, die Cube gierig ablehnt.

4.2 Wieder- und DoppelgängerInnen: Cube2  – Hypercube 4.2.1 Intro In der bereits 1884 unter dem Pseudonym A. Square veröffentlichten Erzählung Flatland – A Romance Of Many Dimensions von Edwin A. Abbott wird nicht nur ein augenzwickernder Blick auf politische Konventionen, gesellschaftliche Etiketten- und Verhaltensregeln wie kollektive Dehors viktorianischer Gesellschaften geworfen, sondern auch und vor allem von anderen Räumen gehandelt. Das Erzähler-Quadrat – es ist in der Tat ein Quadrat, das erzählt, also ›a square‹ – führt LeserInnen des dreidimensionalen Raums, die vorausgesetzt und immer wieder direkt adressiert werden, durch die zweidimensionale Welt des sonnen- und daher auch schattenlosen Flächenlands, in dem Frauen nur spitze und daher tödliche Linien sind und wo gesellschaftliche Hierarchien sich an der Anzahl der Winkel der zweidimensionalen Flächenwesen, bei denen Auge und Mund dasselbe Organ sind, entscheiden. Our soldiers and Lowest Classes of Workman are Triangles with two equal sides, each about eleven inches long, and a base or third side so short (often not exceeding half an inch) that they form at their vertices are very sharp and formidable angle. […] Our Middle Class consists of Equilateral or Equal-Sided Triangles. Our Professional Men and Gentlemen are Squares (to which class I myself belong) and Five-Sided Figures or Pentagons. Next above these come the Nobility, of whom there are several degrees, beginning at Six-Sided Figures, or Hexagons, and from thence rising in the number of their sides till they receive the honourable title of Polygonal, or many-sided. Finally when the number of the sides become so numerous, and the sides themselves to small, that the figure can not be distinguished from a circle, he is included in the Circular or Priestly Order; and this is the highest class of all. (Abbott 2020: 5) Nachdem er detailliert unter Einsatz zahlreicher topologischer Metaphern wie Einmauern, die Seiten wechseln, Hinabstürzen, im Rang aufsteigen, verlorener Boden, im Handumdrehen, Hoch- und Niedriggestellten usw. die Arrangiertheit der Welt nadeliger, Warngeschrei ausstoßender Frauen und spitzwinkligen Pöbels, in der Maßabweichungen auf Grundlage des Unregelmäßigkeitsstrafgesetzes wenn nicht mit dem Tod, dann mit Einkerkerung bestraft werden, beschrieben hat, trifft der fuß- und armlose Erzähler, dessen Perspektive auf seine Umwelt immer die einer Linie ist: »All beings in Flatland, animate or inanimate, no matter what their form, present TO OUR VIEW the same, or nearly the same, appearance, viz. that of a straight Line« (ebd.: 13)

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schließlich auf eine Person aus einem Raum, die von einer weiteren Dimension, der Tiefe, zu berichten weiß (zuvor begegnet er im Traum dem König von Linienland, in dem ein Pfad die ganze Welt bedeutet). »A Stranger From Spaceland« (ebd.: 54), bald auch als »Sphere« (ebd.: 61) bezeichnet, expliziert dem Zweidimensionalen, dass »your houses, your churches, your very chests and safes, yes even your insides and stomachs, all lying over and exposed to my view« (ebd.: 58), wobei der dreidimensionale Raum, in den er vom Kugelförmigen zu Anschauungszwecken mitgenommen wird, die Erfahrungswirklichkeit des Erzähler-Quadrats ähnlich übersteigt wie die Vorstellung eines vierdimensionalen Raums, dem sich Hypercube (2002) verpflichtet sieht, über Wahrnehmungsmöglichkeiten von Dreidimensionalen, d.i. ZuschauerInnen hinausweist. Die Erklärung des Dreidimensionalen, wie aus zwei parallel übereinander liegenden Quadraten durch Verbindungen ihrer Eckpunkte ein Kubus hervorgeht: »See, I am building up a Solid by a multitude of Squares parallel to one another. Now the Solid is complete, being as high as it is long and broad, and we call it a Cube« (ebd.: 72), veranlasst den zweidimensionalen Erzähler über weitere räumliche Dimensionen nachzudenken, obwohl in Flächenland bereits öffentlich geteilte Gedanken zum euklidischen Raum zur Hinrichtung führen können. Überträgt man das Verfahren der Parallelsetzung und anschließenden Verbindung auf den Kubus selbst, bilanziert man einen noch räumlicheren Raum, »some yet more spacious space, some more dimensionable Dimensionality« (ebd.: 74), wobei jenes »higher Spaceland« (ebd.: 75) von Dreidimensionalen ebenso wenig rezipiert werden kann wie sich die Erfahrung des euklidischen 3D-Raumes dem quadratischen Erzähler trotz Kurzaufenthalts in Raumland entzieht. In Three Dimensions, did not a moving Square produce – did not this eye of my behold it – that blessed Being, a Cube, with EIGHT terminal points? And in Four Dimensions shall not a moving Cube – alas, for Analogy, and alas for the Progress of Truth, if it be not so – shall not, I say, the motion of a divine Cube result in a still more divine Organization with SIXTEEN terminal points? (Ebd.: 76) ZuschauerInnen von Hypercube befinden sich (im Hinblick der Wahrnehmungsfähigkeit einer vierten räumlichen Dimension) in einer ähnlichen Lage wie A. Square (in Bezug zum Rezeptionsvermögen einer dritten räumlichen Dimension), schauen sie in der fünf Jahre nach Cube angelaufenen Produktion vor allem der Zurschaustellung von Undarstellbarem zu, insofern es um einen vierdimensionalen, sich jeglicher Erfahrungs- und Anschauungswirklichkeit entziehenden Raum, zu tun ist. Hypercube weist die kognitiven Fähigkeiten von ZuschauerInnen in ihre Schranken, insofern der Film eine Konstellation eröffnet, die sich aus dem zum Scheitern verurteilten Versuch, eine vierdimensionale Architektur, wie sie in Flatland vom Erzählerquadrat imaginiert wird, in einer dreidimensionalen Wirklichkeit durch ein zweidimensionales Medium zur Darstellung zu bringen und dabei immer wieder an dieser vorbeischrammt. An dieser Konstellation – vierdimensionale Architektur (4D), dreidimensionale Wirklichkeit (3D) und zweidimensionales Medium (2D) – wird sich, wie zu zeigen ist, die unheimlich-architekturale Spezifik Hypercubes (ent-)falten und dabei systematisch auf die unheimlichen Verfahren der Verdopplung und Potenzierung setzen. Zusätzlich zu und im Zusammenhang mit der dimensionalen Konstellation von 4D, 3D und 2D kann Hypercube nämlich nicht nur als ›Fortsetzung‹, sondern zugleich – wie und als eine Variante jener »more dimensionable

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dimensionality« (ebd.: 74) des imaginierten Würfels in Flatland – als Doppelgänger von Cube gelten. Hypercube wird das Möbiusband Cubes weitergefaltet und -verschliffen haben, indem er die unmögliche Konstellation von 4D, 3D und 2D mit den Verfahren der Verdopplung und Potenzierung als Vorstellungsrepräsentanzen des Unheimlichen paktieren lässt, um jede Vorstellungsmetaphysik implodieren zu lassen.

4.2.2 Inside (?) Hypercube 4.2.2.1 Outrieren Indem der Titel: Cube2  – Hypercube den Würfel (und somit eben auch den Cube aus Cube) zum Quadrat nimmt und damit sich mit sich selbst multipliziert bzw. potenziert, scheint bereits eben dieser sprachlich das unvorstellbare, wenn man so möchte: nur an-imaginierbare »higher Spaceland« (ebd.: 75) aus Flatland formelhaft nach- bzw. vorzubauen. Gleichsam verhält sich Hypercube wie ein Hypertext (vgl. Genette 1993: 15), der den Hypotext Cube in spezifischer Weise verdoppelt bzw. potenziert, insofern in Hypercube auch der Kubus selbst sich in die vierte Dimension hinein verdoppelt bzw. potenziert und damit bereits jene Verdopplung in sich und aus-trägt (also potenziert), die im Rahmen der Fortsetzung von Cube zu Hypercube vielfältig geschieht. Wie bereits im ersten Teil der Cube-Trilogie47 , in der ein kubischer architektonischer Komplex zum unheimlichen, in sich selbst verschiebbaren und zurücklaufenden Labyrinth avanciert, werden einander Unbekannte gemeinsam in einen gigantischen Würfel gesteckt, der seinerseits aus diversen »cubical rooms« (Polster/Ross 2012: 166) mit je einer Tür an jeder Wand, der Decke und dem Boden besteht. Auch in der Fortsetzung des kanadischen Überraschungshits von 1997 wird eine gegen räumliche Ordnungen arbeitende, nicht in Relation zu anderen Räumen lokalisierbare Architektur Schauplatz des Unheimlichen bzw. unheimliche Architekt(e)ur(in), diesmal in Form eines höherdimensionalen Raums. In Hypercube kehrt also vieles wieder; nicht umsonst konfrontiert der Film, wie weiter unten ausgeführt wird, allegorisch mit DoppelgängerInnen aller Art an allen Ecken und Enden seiner inhaltlichen und formalen Architektur. Zusätzlich potenziert sich Hypercube an vielen Stellen zur Cube-Hyperbel und erhebt damit den Filmtitel abermals zum Programm. Wie schon in Cube wird die Würfelarchitektur zum agierenden Schauplatz – zum »Tat/Ort« (Binotto 2013a: 14) – des Unheimlichen, diesmal allerdings 47

Der Verschiebung Rechnung tragend erscheint der zeitlich vor dem ersten Film liegende letzte Teil der Trilogie, Cube Zero, im Jahr 2004. Im Prequel bekommen ZuschauerInnen am Bildschirm – wie ent-täuschend im doppelten Wortsinn – zwei Beobachter, Wynn und Dodd, zu sehen, die ihrerseits am Bildschirm in einer Art Kontrollstation sitzen und nebenbei Schach spielen; allerdings unterstehen auch diese beiden einer Kontroll- und Disziplinarinstanz, die einen früheren Kollegen der beiden Techniker in den Kubus, dessen Räume sich ähnlich wie im ersten Teil verschieben, runde Durchgänge besitzen und mit Buchstabentripletts versehen sind, verfrachtet hat. Einer der Techniker, der hinter dem Cube ein grausames Experiment der Regierung vermutet, schleußt sich sogar selbst in diesen hinein, bis er schließlich mit einer weiteren Insassin namens Rains den Cube durch eine Bodenluke verlassen kann, um in einem See aufzutauchen. Beide fliehen in einen nahegelegenen Wald, doch Wynn kann nicht entkommen und landet auf einer Operationsliege, wo ihm sein bevorstehender (Rück)Transport in den Kubus angekündigt wird; sich wie Kazan verhaltend, sieht man ihn am Ende des Films in einer grünen Kammer mit weiteren amnesischen Fremden erwachen.

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als vierdimensionales Gebilde, dessen Logik die menschliche Vorstellungskraft nicht nur bis zur Paranoia herausfordert, sondern strukturell übersteigt. Der vor allem durch seine augenfällige Arbeit als Kameramann von American Psycho (2000), Reservoir Dogs (1992) und Pulp Fiction (1994) bekannte Andrzej Sekuła inszeniert seine Architekturmaschine in einer überhellen Kulisse. Das auch und vor allem durch verschattete Bilder erzeugte düstere, trübe und teils schummrige Ambiente von Cube wird zugunsten einer grellen Szenerie aufgegeben und insofern potenziert, als der unheimliche Blick des Würfelobjekts hier nicht nur durch Indienstnahme gellender Lichtwände architektural einsetzt und angeht, sondern auch in weiteren Erscheinungsformen metastasiert, wie durch ins Bild integrierte Kameras oder den Einsatz des vielversprechenden Namens izon, einer mit dem Hypercube in Beziehung stehenden Waffenfirma. Figuren, die in Cube etwas störend oder das Spiel der SchauspielerInnen etwas overacted wirkten, sind hier von Anfang an strapaziös überzeichnet, wobei diese Hyperbeln bereits über die strukturelle Hyperbolik Hypercubes informieren. Eine genaue Verortung der unheimlichen Architektur bleibt aber auch in diesem Teil trotz Außenperspektiven versagt – vielmehr noch bemüht sich der Film um eine Verunmöglichung jeder Standortbestimmung, wenn der kolossale Kubus als Finale in sich zusammenfällt und die einzig Überlebende in einer metallischen Flüssigkeit erwacht, bevor sie durch einen gezielten Schuss in den Hinterkopf getötet wird.

Abbildung 12: Andrzej Sekuła, Hypercube, 00:07:11

Obwohl der Film jeden Verortungsversuch nivelliert, ist es dennoch das erste Mal, dass ZuschauerInnen ein Blick auf ein mit dem Würfel in Verbindung stehendes Außen gewährt wird – bekam man in Cube nur ein nicht näher definierbares Schwarz und schließlich ein gellendes Licht zu sehen, sieht man in Hypercube zu Beginn einen spärlich beleuchteten Raum, vermutlich im Kellergeschoss eines massiven, bunkerartigen Gebäudes: Die Kamera gleitet zunächst in einem Top Shot über verschiedene Personen, die vollständig bekleidet in transparenten Säcken auf einer Pritsche liegen; sie scheint dabei zwischen Decke und daran montierten Rasterleuchten langsam über den an eine Lagerhalle erinnernden Raum zu schweben. Nach dieser eher getrübten denn einsichtigen, eher verrätselnden denn offenbarenden, Kamerafahrt kann man in verwackelten,

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körnigen und teils sehr unscharfen Bildern Menschen in Ganzkörperanzügen dabei beobachten, wie sie nicht genau erkennbare Proben untersuchen, wobei auch der Laborausweis einer Frau namens Rebekka Young mit der Aufschrift izon erkennbar ist – gegengeschnitten werden diese Sequenzen mit dem Anblick eines Angst erfüllten Auges (man erinnert sich hier an das Auge in Cube, das nicht Aldersons ist), wobei das beunruhigte Atmen vermutlich einer Frau zu hören ist. Nach einem Smash Cut wird das Bild in Kontrast zur Erzählung schärfer und heller und ZuschauerInnen sehen eine zunächst ohnmächtige junge Frau in einem ca. vier mal vier Meter großen Raum erwachen; suchend tastet ihr Blick die im High Key-Stil präsentierte, strahlend weiße48 Umgebung ab, während sie fragend nach weiteren Personen ruft, da sie offensichtlich weder weiß wo sie sich befindet, noch, ob sie allein ist oder nicht. Anders als das von Schatten eher eingetrübte Filmbild Cubes blendet das Filmbild Hypercubes das Auge förmlich durch die überhellen Wände des Titelgebers; durchzogen sind all diese Wände von metallischen Streben, die jeweils in einer quadratischen Platte zusammenlaufen. Es wechseln in diesen Räumen zwar nicht die Farben der Wände, sie besitzen aber ebenso an jeder einzelnen Seite eine durch einen sensorischen Mechanismus zu öffnende und über kleine Treppenleitern erreichbare Luke, wie die junge Frau, die man als Rebekka Young agnosziert, demonstriert, wenn sie an eine der Seitenwände herantritt und eine Tür durch das Berühren mit ihrer Hand öffnet. Sie klettert in den nächsten Raum – und fällt nach oben. Nach dem nun folgenden Vorspann des Films, dessen wilde Kamerafahrt durch Tintenpunkte und Blaupausen bereits die noch näher zu erläuternden Drehungen, das Schwanken und das Winden des Hyperwürfels selbst proleptisch vorwegnimmt, sieht man eine weitere Person, einen Mann um die fünfzig mit Anzug und Aktenkoffer, den man später als Colonel Thomas Maquire identifizieren wird, im Inneren des Würfels zu sich kommen. Hypercubes Vorspann zeigt zunächst eine Art blaues Gewebe, aus dem heraus sich Linien von an ihren Rändern mit mathematischen Formeln beschriebenen Blaupausen generieren; aus diesen blauen Linien formt sich das vielfach schattierte Wort Hypercube, in dessen Buchstaben die Kamera fährt, sodass diese schließlich zu Streben und Leitern des später im Film zu sehenden Hypercube metamorphisieren. Die Linien wachsen stetig weiter, bilden Raum um Raum und verwandeln sich unter Drehungen der Kamera schließlich in einen Raum des Hyperwürfels. Das einzige Bauen bzw. die einzige Ansicht einer Genese, eines prozessualen Aufbaus des vierdimensionalen Hypercube, dessen Standort nicht nur ob seines Verschwindens auch am Ende des Films nicht ausgewiesen werden kann, hat im Vorspann statt, im zweidimensionalen Bild, aus dem sich etwas Vieldimensionales herauszudrücken versucht, doch letztlich an den Bildschirm verwiesen bleibt. Thomas Maquire ist sichtlich lädiert, er blutet am Kopf, ihm fehlt ein Schuh und weder Krawatte noch Hemd sitzen am richtigen Platz; nachdem er in seinen leeren Koffer geschaut und ein Geräusch, das wie das Echo eines Schreis klingt, gehört hat, beginnt

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White Cube meint auch und vor allem ein Ausstellungskonzept, bei dem Exponate in einen weißen Raum gestellt oder gehängt werden, um einem Überdecken von Kunstwerken durch ihre architekturale Umgebung entgegenzuwirken – ein Konzept, das nicht nur von zeitgenössischen KuratorInnen vermehrt in Frage gestellt wird, wobei »[d]ie Entstehung alternativer Raumangebote außerhalb der normalen Museumsstruktur ein Teil dieser Tendenz [ist]« (O’Doherty 1996: 88).

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er das Vater Unser zu beten. Wenn Kate Filmore und Simon Grady, so die Namen der beiden Personen der nächsten Szene, aufeinander treffen, überwältigt der kräftige Mann in Lederjacke mit einem Messer in der Hand die zart gebaute Blondine völlig unerwartet und beginnt sofort, ihr Fragen zu stellen, die sie nicht zu beantworten weiß; während Simon49 Kate noch immer mit dem kurz vor ihren Augen platzierten Messer bedroht, taucht binnen weniger Sekunden ein junger Mann mit lockigem Haar an verschiedenen Türen auf, um sogleich wieder zu verschwinden. Kate schafft in diesem Moment, sich loszureißen und verschwindet in einen gegenüberliegenden Raum, dessen Tür sie nur schließt, um sie sofort wieder zu öffnen, wobei sie feststellt, dass Simon sich nicht mehr im Raum nebenan befindet. Anschließend trifft sie auf die blinde Sasha, die völlig verängstigt und zitternd in einer Ecke kauert. Aus der Bodenluke stößt schließlich Jerry Whitehall, ein etwas untersetzter Mann mit Bart und Brille, zu den beiden Frauen, sichtlich erfreut, nach Stunden des Umherirrens endlich auf menschliche Gesichter zu treffen. Finally! I was beginning to wonder if I was the only one in here. I kept hoping I would find some other people. I’ve been wondering around these rooms for hours. […] I don’t suppose, either of you two could let me know what we’re doing in here? (Sekuła 2006: 00:11:41-00:12:13) Obwohl er bereits seit Stunden in sämtliche Richtungen durch die verschiedenen Räume gestreift sei, sei er bisher scheinbar nur in vier von ihnen gewesen, was er zu wissen glaubt, da er mit seiner Armbanduhr Markierungen an den Wänden angebracht habe: »Each one of these rooms has six of these doors or portals. But no matter how many portals I go through, I always wound up in the same three rooms. Until now« (ebd.: 00:12:3700:12:46), woraufhin Kate bemerkt: »It’s as if the rooms were moving around or something« (ebd.: 00:12:48-00:12:49). Daher kann auch Jerrys Versuch, die Räume mit Markierungen in eine verständliche Ordnung zu bringen, nur scheitern, da sie noch nie die Festigkeit einer (An)Ordnung hatten, die es bräuchte, um mit dieser Labyrinthlösungsmethode Erfolg zu haben; er folgt bei seinen Markierungen allem Anschein der Trémaux’ Methode, bei der jede Weg-Einmündung mit einem entsprechenden Pfeil markiert und dabei bestimmten Regeln des Bewegens Folge geleistet wird. So lässt sich zumindest ansatzweise nachvollziehen, wie Jerry nach Stunden des Abgehens der Wege letztlich nur in vier Räumen gewesen ist: Er wendet eine Methode an, die nur in einer stabilen Labyrinthstruktur zum Erfolg führen kann, nicht jedoch in einer vierdimensionalen Architekturmaschine, die sich permanent windet und wendet und – wie weiter unten näher illustriert wird – in der alle Punkte immer schon miteinander verbunden sind, sodass weder ein (klassischer) Ein- noch Ausgang existiert. Nachdem Simon zurück in die Gruppe

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Simons Darsteller, Geraint Wyn Davies, kennt man als Psychiater Eric Daniels aus der ultraschlechten Fortsetzung von American Psycho (2000), American Psycho II: All American Girl (2002), in der Mila Kunis die Rolle der abgedrehten Psychopathin Elisabeth McGuire, die wiederum vorgibt, Rachael Newman zu sein und die zugleich die Mörderin von Patrick Bateman ist, übernahm; William Shatner gibt ihren Universitätsprofessor, dem sie am Ende des Films wohl als eher ungelungene Reminiszenz an den großartigen Monolog am Ende von Mary Harrons American Psycho ihre Morde gesteht.

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findet und noch zwei weitere Personen, der junge Max, den man zuvor in extrem kurzen Abständen an verschiedenen Türen sah, und die ältere, etwas verwirrte Dame Mrs. Paley, die nach den Duschen ihres Fitnessstudios sucht, dazu gestoßen sind, wird klar, dass sie es nicht mit gewöhnlichen, statisch und stabil bleibenden Räumen, sondern mit bewegund biegbaren Kammern zu tun haben, die die Kinetik des Cube aus der Vorgängerproduktion insofern übersteigen, als Verschiebungen blitzschnell, ereignishaft geschehen, die Raumwände von jetzt auf gleich eine physikalisch unmögliche Elastizität ausprägen und sich auf das Filmpersonal zubewegen. Nicht in den Räumen sind je verschiedene Fallen installiert, vielmehr werden Räume als architektural aktive selbst zur lebensbedrohlichen Gefahr. As the people stumble from room to room, very strange things happen: rooms loop in on themselves; rooms that are very adjacent cease to be so; time (there we go!) moves differently in different rooms; and gravity acts in different directions in different rooms. Amidst it all, the lucky people have to be on the lookout for deadly traps. (Polster/Ross 2012: 163) Mussten die Insassen des Cube in Cube noch in jedem Raum mit einer Tötungsmaschine rechnen: Säurespritzer, Messer, Drahtschneider, stellt der Hypercube in Hypercube bis auf eine einzige Ausnahme keine letalen Fallen auf, sodass die Architektur und (ihre) Windungen, die auch die Zeitebene befallen, selbst als die tödlichen Fallen erscheinen. Einerseits wird das Material von einer unbekannten Kraft gebogen, gewunden und gefaltet und andererseits (oder gerade deswegen) werden physikalische Grundkonstanten buchstäblich auf den Kopf gestellt, Spielereien mit der Zeit betrieben und Körpervervielfältigungen exerziert. Nach neunzig Minuten ist nur noch Kate am Leben, die sich mit einem Sprung aus dem kollabierenden Kubus heraus solange rettet, bis sie von Männern in Militärkleidung erschossen und der Kubus verschwunden sein wird.

4.2.2.2 Ein- und Auffalten Der Unheimlichkeitscharakter des hyperkubischen Hauptdarstellers besteht nicht nur darin, labyrinthisch verfaltete und dabei instabile Wege ein-, sondern in die vierte Dimension auszuschlagen; Architektur verschleift sich zugunsten des Unheimlichen, dessen Bewegungen also architektural ausgespielt werden. Der dreidimensionale euklidische Raum, durch den Film über-setzt in einen zweidimensionalen, wird aus- und aufgefaltet und zugunsten der Aufhebung bekannter Raumstrukturen um eine weitere räumliche Dimension erweitert, wobei sich der gigantische, begehbare Würfel in Hypercube als Architektur gewissermaßen selbst vorstellt und durch diese Vorstellung(srepräsentanz) zugleich sein eigenes Darstellungsproblem verhandelt, insofern er als in die Fläche projizierter Körper sich niemals vollständig zeigen kann. Die metallisch-grauen Streben, die die weißen Wände verzieren, laufen, wie Mrs. Paley bereits im ersten Drittel des Films auffällt: »It’s a tesseract!« (Sekuła 2006: 00:24:49-00:24:51), in gravierten Ab-bildungen – das Ab der Abbildung ist hier buchstäblich zu nehmen als weg von sich selbst – eines Hyperkubus, also eines vierdimensionalen Würfels, zusammen, wobei diese Gravuren als Ornamente neben dem Titel des Films vorstellungsrepräsentativ anzeigen, in welcher Art von Gefängnis sie sich befinden, doch dazu später mehr.

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Jerry, der nach eigener Auskunft für die Entwicklung des sensorischen Türmechanismus eines experimentellen Prototyps verantwortlich zeichne, ritzt mit seiner Armbanduhr zur skizzenhaften Veranschaulichung für die Gruppe zunächst einen Punkt, dann ein Quadrat, schließlich einen Würfel an die Wände des Hypercube und erklärt, ähnlich wie der Kugelförmige dem Erzähler-Quadrat in Flatland die Verfasstheit des dreidimensionalen Raumes expliziert, wie ein vierdimensionaler Würfel vorstellbar ist.

Abbildung 13: Graphik Elisabeth Vopel

Die obenstehende Graphik ist Jerrys Erklärungsversuch nachempfunden und schildert die Strecke vom (nulldimensionalen) Punkt zum vierdimensionalen Hyperwürfel, der zwar als Gedankenexperiment existiert, innerhalb unseres dreidimensionalen Raums aber nur als Gebilde, als Vorstellung, Modell oder fiktive Architektur im Film anzutreffen ist – »A hypercube isn’t supposed to be real« (Sekuła 2006: 00:25:05-00:25:07): Zwei Punkte können ebenso zu einer Linie verbunden werden, wie ein dreidimen-

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sionaler, hier in die Fläche projizierter Würfel durch das Verbinden seiner Ecken mit denen eines parallelen dreidimensionalen Würfels zu einem Hyperkubus aufgefaltet werden kann. Der Würfel wird dabei so auseinandergezogen, dass ein Körper entsteht, der selbst wiederum aus acht Würfeln zusammengesetzt ist. Polster und Ross, die Mathematik und Mathematischem in u.s.-amerikanischen Spielfilmen nachspüren, ist deshalb zuzustimmen, wenn sie klarstellen, was Filmtitel und -architektur bereits suggerieren: This also suggests that the hypercube world in which Jerry and the others are trapped consists of only eight rooms. These eight cubical rooms are stuck together face to face in the fourth dimension, to form the »surface« of a four-dimensional cube. (Polster/ Ross 2012: 166) Die Idee, eine Architektur mit vier räumlichen Dimensionen zu konstruieren, findet man bereits in der 1941 im Science Fiction-Magazin Astounding Stories of Super-Science zum ersten Mal veröffentlichten Kurzgeschichte And He Built A Crooked House von Robert A. Heinlein50 , die im Gegensatz zu Hypercube weniger bedrohlich denn amüsant angelegt ist. Der Architekt Quintus Teal überredet seinen Freund Homer Bailey, in Abwesenheit von dessen Frau ein Haus in L.A. zu errichten, in dem die beiden später wohnen sollen und das einem Tesserakt, also einem vierdimensionalen Hyperwürfel, gleicht. Time is a fourth dimension, but I’m thinking about a fourth spatial dimension, like length, breadth, and thickness. For economy of materials and convenience of arrangement you couldn’t beat it. To say nothing of the saving of ground space—you could put an eight-room house on the land now occupied by a one-room house. Like a tesseract. (Heinlein 2013: 33f.) Er baut in der Folge tatsächlich ein in den dreidimensionalen Raum auf- bzw. hineingeklapptes Hyperkubushaus, was beim Betreten bzw. Begehen einige Schwierigkeiten verursacht; wollen sie es durch die Eingangstür verlassen, landen sie wieder im Schlafzimmer und ziehen sie die Vorhänge im Schlafzimmer zurück, wird der Blick nicht nach draußen, sondern auf das nächste Zimmer freigegeben. Sie sehen sogar ihre eigenen DoppelgängerInnen, doch diese sind beim Versuch eines Gesprächs uneinholbar und

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Robert A. Heinlein zählt neben Philip K. Dick zu den renommiertesten Science Fiction-Autoren des 20. Jahrhunderts und liefert einerseits mit seinen Romanen und Kurzgeschichten diverses (Vor)Material für Fernsehen und Kino, etwa in Form des 1957 erschienenen Romans Starship Troopers, der unter Regie von Paul Verhoeven 1997 unter gleichem Namen für die Leinwand adaptiert wurde und bringt andererseits technische, sprachliche und gesellschaftliche (Weiter)Entwicklungen auf den Weg (man denke hier an das Wasserbett, das Heinlein bereits beschreibt, als es noch gar nicht erfunden wurde oder an das Konzept der Group Marriage, das bereits die Idee polyamorer Beziehungsnetzwerke antizipiert); 1961 publizierte er etwa unter dem Titel Stranger in a Strange Land die nach dem Dritten Weltkrieg spielende und besonders in Hippie-Kreisen reputierliche Geschichte des von Marsianern auf dem roten Planeten groß gezogenen Valentine Michael Smith, der weder um Geschlechterbinarität weiß noch Konzepte wie Sexualmoral, Religion oder ein monetäres System kennt (wobei diese Erzählung den gleichnamigen Song der Band Iron Maiden auf ihrem 1986 veröffentlichten Album Somewhere in Time auf den Weg brachte) und entsprechend an der Dekonstruktion dieser Konventionen und Gesellschaftsentwürfe mitwirkt.

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schreiten immer so weit voran, wie Teal und das Ehepaar Bailey vordringen. Schließlich verschwindet auch dieser Würfel spurlos – zum Glück erst nachdem sie durch ein Fenster, das eigentlich in einen anderen Raum zeigte, nach draußen gelangen konnten. Das Figurenensemble von Sekułas ungewöhnlich taghellem Horror-Film hingegen wird dem Hyperkubus so leicht nicht entkommen. Angegriffen von der Materie biegenden und Naturgesetze scheinbar systematisch brechenden Architektur, wird das Filmpersonal das erste Mal kurz nachdem es vorerst einen Suizid verhindern konnte. Nachdem sie aufeinandergetroffen sind, durchqueren Jerry, Kate und Sasha gemeinsam die nächsten Räume, bis sie in einem landen, an dessen anderen Ende ein Mann versucht, sich mit seinem Gürtel zu erhängen. ZuschauerInnen sind ihm bereits einmal begegnet: Es ist Thomas Maquire, der betende Mann mit dem Aktenkoffer, den man nach dem Vorspann als Ersten im Hyperkubus zu sehen bekam. Um die Strangulation zu verhindern, stützt ihn ein junger Mann mit lockigen Haaren, der sich später als Max Reisler vorstellen wird, ab und verhindert so zunächst das Schlimmste. Kate erkennt in Max die Person, die zu Beginn an mehreren Stellen gleichzeitig zu existieren schien, da sie aus sämtlichen Türen aus verschiedenen Richtungen in minimalen Abständen, kürzer als ein Zwinkern, hervorblickte. Während alle gemeinsam den Knoten des Gürtels lösen können, tauchen auch erneut Simon und Mrs. Paley auf. Noch während sie sich fragen, wieso sie dort sind, wird die Konstruktion, in der sie sich befinden, von starken Erschütterungen durchzogen; dabei scheint es, als sacke der Raum nach unten ab oder als schnippe er nach oben – die Wände zucken in einem schneller werdenden Rhythmus, sie flimmern regelrecht, als der Raum plötzlich beginnt, sich auf die InsassInnen zuzubewegen, während er sich wellenförmig krümmt, wobei die weißen Wände immer transparenter werden. Die Seitenwände verändern ihre Stabilität, wodurch sie durchlässig, fast schon flüssig wirken, um schließlich den Raum selbst zu tilgen. Die helle Kammer wird kleiner, eine Wand schiebt sich auf die andere zu und drängt an die Körper der Gefangenen, die den Verfaltungen schnellstmöglich entkommen wollen. Einzig der Colonel bleibt freiwillig zurück, indem er sich mit Handschellen, die zuvor an seinem bereits vom Raum zerstörten Koffer befestigt waren, an einer Treppe festkettet. Die sich auf ProtagonistInnen zubewegenden Wände dieser Szene erinnern an einen in Paul Austers Roman The Locked Room (1987) paraphrasierten Text des dänischen Polarforschers Peter Freuchen, der vom verschollenen Fanshawe nacherzählt und schließlich von dessen namenlosen Freund, der nach seinem Verschwinden dessen Texte und anderes Material ediert, zitiert wird. Die Wände eines zum Schutz vor arktischer Kälte und hungrigen Wölfen errichteten Iglus werden durch lebensnotwendiges Atmen zur unheimlich-bewegten, dem Sterben zuarbeitenden, Architektur modifiziert: For Freuchen began to notice that the walls of his little shelter were gradually closing in on him. Because of the particular weather conditions outside, his breath was literally freezing to the walls, and with each breath the walls became that much thicker, the igloo became that much smaller, until eventually there was almost no room left for his body. It is surely a frightening thing, to imagine breathing youself into a coffin of ice, and to my mind considerably more compelling than, say, The Pit and the Pendulum by Poe. (Auster 2011: 256)

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Bereits wenige Augenblicke nach der missglückten Rettungsaktion stößt Hypercubes Personal beim Durchwandern der Architekturmaschine auf eine weitere Person: In einem roten Abendkleid und einem schwarzen Sakko liegt schlafend eine junge Frau auf dem Boden. Als Max ihren Raum betreten und sie wecken will, wird er zur nächsten Seitenwand gezogen, förmlich von ihr angezogen, sodass klar wird, dass in diesem Raum die Gravitation in eine andere Richtung wirkt; man fällt nicht zu Boden, sondern wird zur Seite gerissen. Julia, die Frau im roten Kleid und das restliche Ensemble durchlaufen bald mehrere andere bzw. immer wieder diesselben, veranderten Räume, wobei sie zunächst eine mit Zahlen beschriebene Leiche finden wie auch ein Exemplar von Jerrys (eigentlich einzigartiger) gravierter Armbanduhr, die er zugleich auch am Handgelenk trägt. Aber es bleibt nicht bei einem duplizierten Uhrenunikat: Als Mrs. Paley eine der Bodenluken öffnet, sieht sie plötzlich in ihr eigenes Gesicht. Zunächst prüfend, ob es sich nur um ein Spiegelbild handelt, bewegt sie ihre Hand, um zu sehen, ob ihr Gegenüber dasselbe tut, bis schließlich die andere Mrs. Paley ihre Hand aus einem Raum heraus ergreift, dessen Schwerkraft ebenfalls nicht nach unten zieht. Sie bittet sich selbst um Hilfe, als ihr ein weiterer Simon, der hinter ihr auftaucht, ein Messer in den Rücken rammt. Während sich der Raum, in den Mrs. Paley schaut, langsam einzufalten beginnt, schickt ihnen der andere Simon noch den Ratschlag mit, sie sollten der alten Dame nicht trauen – die Luke schließt sich, nachdem Mrs. Paleys Kopf vom Raum zerquetscht wurde. Schockiert weichen die anderen zurück und beginnen darüber zu rätseln, wie es zu solchen Störungen des Raums, der Gravitation und Körper kommen kann und erzählen dabei auch wenige Dinge über sich selbst. Sie stammen alle aus unterschiedlichen Bundestaaten der USA und manche von ihnen scheinen auf irgendeine Art mit dem Würfel verbunden: Simon ist Privatdetektiv und auf der Suche nach Rebekka Young – der Frau, die zu Beginn des Films in die Höhe gefallen ist; Mrs. Paley arbeitete früher für izon als theoretische Mathematikern und Max entwarf einst eine Computer-Spielewelt, in der unterschiedliche Räume ein unterschiedliches Zeitvergehen aufweisen. Julia wiederum ist Anwältin in einem Prozess, der gegen Max geführt wird; Kate behauptet, Psychologin zu sein; Sasha ist noch Schülerin und Jerry erkennt im sensorischen Mechanismus der Türen seine Arbeit wieder: einen unheimlichen Automaten, sehen die Türen, die die manuelle Kulturtechnik des Klinke-Drückens oder Knauf-Drehens obsolet werden lassen, einen doch gewissermaßen bereits kommen. Max verdächtigt zudem einen berühmten Hacker namens Alex Trusk, etwas mit dieser Konstruktion zu tun zu haben, denn »this is exactly the kind of twisted maze he’d create« (Sekuła 2006: 00:41:30-00:41:33), was Simon völlig abwegig findet, da er der Meinung ist, das bisher Erlebte könnte ein kollektiv organisierter LSD-Rausch sein. Jerry vermutet eine Architektur paralleler Realitäten, aber auch die Idee, DoppelgängerInnen seien nur optische Illusionen, findet Anklang. Nicht wegzuphantasieren aber bleibt bei allen Spekulationen seitens der Filmfiguren die unheimliche Raumerfahrung des Kubus, die aus Verfaltungen, Schleifen und Verdrehungen, die wiederholt als folding sowie als looping, als Winden des Raumes bezeichnet werden, resultiert und den unheimlich-hyperkubischen Raum als solchen hervorbringt. I’ve been trying to get a handle on the configuration of these rooms. All I can say is: They just don’t make any sense. […] It’s as if the rooms are moving around very quickly. There’s got to

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be some kind of logic to it. These rooms just seem to repeat. You go in one direction, the room just loops back on itself. (Ebd.: 00:17:39-00:17:54) Einerseits verdoppelt sich der Würfel durch seine hyperkubische Seins- und Bewegungsweise sowie seine vorstellungsrepräsentativen Allegorien mehrfach, andererseits generiert er durch diese Verfahren Duplikate auch der Gegenstände und Personen in ihm und eröffnet damit den mit der Vorstellungsrepräsentanz verknüpften Bereich der DoppelgängerInnen, um deren Implikationen zu entfalten und in seine Struktur einzubauen. Die sich in sich wiederholende, sich auf sich selbst zurückfaltende bzw. -schleifende Architektur des Hyperkubus wirkt – das zeigen bereits die oben beschriebenen Szenen – an der Produktion von DoppelgängerInnen insofern mit, als ihre Verfaltungen Vervielfältigungseffekte zeitigen und die verdoppelten Personen (und Gegenstände) somit auf unheimliche Weise zu ExponentInnen und TeilhaberInnen, zu metonymischen Allegorien der Architektur werden lassen. Gefangen in jede Raumvorstellung überschreitenden Räumen vervielfältigt sich das Figurenensemble auf mehrfache Weise, ist es doch einerseits immer schon technisch-imaginäre Verdopplung von SchauspielerInnenkörpern und finden andererseits Körpermultiplikationen auf Ebene der Handlung statt, sodass der architekturale Faltenschlag sich (zugleich und allegorisch) als permanentes, dabei die verschlungene Struktur des Möbiusbandes (vorstellungs)repräsentierendes Verschleifen von Vor- und Nachgängigkeit – bewohnen DoppelgängerInnen »die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart« (Smale 2011: 217) – anbietet.

4.2.3 »The trouble with the double« 4.2.3.1 Vervielfältigung der Körper In dem Augenblick, in dem es zur Begegnung mit dem eigenen Doppelgänger kommt, geht man seinem Untergang entgegen, es gibt kein Entkommen. (Dolar 1993: 124) Mit DoppelgängerInnen bemüht Hypercube Figuren, die zum kanonischen Inventar von Horror-Filmen und Mystery-Thrillern gehören, welche damit ihrerseits eine vom späten 18. Jahrhundert über die (Schauer)Romantik des 19. Jahrhunderts bis in die Psychoanalyse und das Kino des letzten und vorletzten Jahrhunderts reichende Tradition aufgreifen, in der psychiatrische, künstlerische und literarische Diskurse die strukturelle Dissoziation des Ichs sowie die Dramatisierung dieser Dissoziation in Form von DoppelgängerInnen denken und dabei wieder-holen: Dostojewskis Doppelgänger (1846) wird im gleichnamigen Roman von seinem Ebenbild verfolgt, R.L. Stevenson beschreibt die Dissoziation von Dr. Jekyll and Mr. Hide (1886), E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann (1816) und Freuds kanonische Hoffmann-Lektüre (1919) haben DoppelgängerInnen psychoanalytisch manifestiert. Dass DoppelgängerInnen auch im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert umgehen, zeigt etwa das Kino David Lynchs, das in zahlreichen seiner Filme, darunter Mulholland Drive (2001) und Lost Highway (1997), das Motiv von DoppelgängerInnen ebenso ausreizt wie Jordan Peeles Horror-Thriller Us aus dem Jahr 2019, dessen Ensemble alles

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aus sich heraus spielt, was nur möglich scheint und sich dabei regelrecht an seine Figuren verschwendet, und der in einem Spiegelkabinett51 , aus dem heraus DoppelgängerInnen, Schatten genannt, bald eine ganze Kleinstadt tyrannisieren, beginnt und endet. DoppelgängerInnen sind strukturell unheimlich, sind etwas, »das uns gleicht und zugleich von einer unheimlichen und eigentlich monströsen Dimension kündet« (Žižek 2001: 480). Diese »grundsätzliche Verbindung zwischen dem Doppelgänger und dem Unheimlichen« (Smale 2011: 217) illustriert Robert Pfaller in einem Sammelband zu Lacan anhand einer Geschichte über zwei Polizisten, die jede Metaphysik in Zweifel ziehende Fragen wie: Bin ich bei mir oder bin ich außen? Bin ich hier oder da? Bin ich jetzt oder früher oder später? Bin ich Original oder Kopie? aufwirft. As an element of the uncanny doubling appears as the figure of the doppelganger. […] For the uncanny effect to arise it is sometimes enough for a figure to appear in duplicate. Near Vienna there were once twin brothers, who were both policemen. There are supposed to have had fun in the following way: one of them stopped all speeding cars, and reprimanded the drivers for their risky driving. A few kilometers down the road, the other brother was waiting. Informed by phone, he stopped the same cars again and said sternly: »Didn’t I just tell you not to drive that fast?« What was fun for the brothers may well have been a rather uncanny situation for the drivers. (Pfaller 2006: 206) Diese auf den ersten Blick eigentlich vergnüglich wirkende Episode trägt insofern unheimliche Züge, als sich der Körper eines Polizisten an mehreren Orten gleichzeitig aufzuhalten und dabei auch noch der Funktion eines wachenden Auges nachzugehen scheint. Der Umstand, dass gedoppelte Körper mit dem Unheimlichen alliieren, mag den Anstoß gegeben haben, dass Sigmund Freud seine Untersuchung zum Unheimlichen an einer DoppelgängerInnengeschichte par excellence abarbeitet. E.T.A. Hoffmans Der Sandmann, der in Freuds Aufsatz den Analysegegenstand gibt, spielt DoppelgängerInnen in diversen Facetten durch, wenn etwa der einst unter mysteriösen Umständen verschwundene Advokat Coppelius als der italienische Straßenhändler Coppola wiederzugehen scheint oder wenn Clara, die Verlobte des Protagonisten Nathanael bzw. dieser selbst, Ähnlichkeiten mit der Automatenpuppe Olimpia aufweisen und unheimlich 51

Spiegelkabinette vervielfachen Körper und zergliedern (tragen ab, zersetzen, trennen auf) im gleichen Zug – der Körper wird als vervielfältigter von sich selbst gekappt und zerbricht als Bild in viele: In Orson Welles’ Noir-Produktion The Lady from Shanghai aus dem Jahr 1947, in der er auch die Hauptrolle des Michael O’Hara übernahm, wird nicht nur DoppelgängerInnengenese betrieben, sondern zugleich ist Welles’ Faible für das Räumliche des Films und Räume im Film, allen voran in der mittlerweile Kultstatus besitzenden Spiegelkabinett-Szene, buchstäblich unübersehbar. In der in einem Vergnügungspark spielenden finalen Szene begegnen sich der in eine tödliche Intrige geratene O’Hara und die von Rita Hayworth gespielte, namensgebende Dame aus Shanghai, Elsa Bannister, in einem Spiegelkabinett, das die Körper der beiden wie auch den des hinzukommenden Arthur Bannister (gespielt von Everett Sloane, der bereits einige Jahre zuvor als Mr. Bernstein in Citizen Kane (1941) zu sehen war) immer wieder potenziert als auch demontiert. Betritt der betrogene und todgeweihte Ehemann Elsas das Spiegelkabinett, ist kaum auszumachen, von wo er kam und wo er sich gerade genau befindet, insofern die Spiegel an spatialer Verunklarung, die durch zusätzliche Überblendungsverfahren nah am Schwindel ist, mitwirken. Filmbild und Schnitt sezieren im Magic Mirror Maze im Pakt mit den im Film gezeigten Spiegeln die Körper der DarstellerInnen als auch den Filmkörper selbst – großes Kino!.

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mechanisiert wirken. Freud erkennt in seiner Studie in DoppelgängerInnen Reste aus infantilen Zeiten, da er sie als Überbleibsel des primären Narzissmus wertet, die nun wiederkehren, deren Schutzfunktion jedoch abhanden gekommen ist und die somit ins Register des Unheimlichen fallen52 . Aber nicht nur im literarischen Text beobachtet Freud unheimliche DoppelgängerInnen, sondern berichtet auch von einem eigenen Erlebnis mit seinem verdoppelten Körper: Ich saß allein im Abteil eines Schlafwagens, als bei einem heftigeren Ruck der Fahrtbewegung die zur anstoßenden Toilette führende Tür aufging und ein älterer Herr im Schlafrock, die Reisemütze auf dem Kopfe, bei mir eintrat. Ich nahm an, dass er sich beim Verlassen des zwischen zwei Abteilen befindlichen Kabinetts in der Richtung geirrt hatte und fälschlich in mein Abteil gekommen war, sprang auf, um ihn aufzuklären, erkannte aber bald verdutzt, dass der Eindringling mein eigenes, vom Spiegel in der Verbindungstür entworfenes Bild war. (Freud 1989a: 270) Freud exponiert in dieser Szene das Unheimliche gewissermaßen an einer Filmsequenz, die seinen Doppelgänger inszeniert; dass diese Begegnung mit dem eigenen Ich sich als (gespiegeltes) Bild vollzieht und dies zugleich in einem mechanisierten Transportmittel, »verweist auf die Vorgeschichte des Films als technische Mobilisierung des Blicks, die in der mechanischen Fortbewegung vorgezeichnet wird« (Meteling 2006: 47) – »Film haunts Freud’s work. It is there in the essay of the uncanny, for example, flickering allusively, elusively, illusively at the edge of the textual screen« (Royle 2003: 76). Insofern lässt bereits Freuds Text blicken, dass eigentlich der Film das paradigmatische DoppelgängerInnenmedium ist, das von Geschichten und Gestalten der Schauerromantik und Gothic Novel vorbereitet wurde, sind DoppelgängerInnen doch bereits zu Beginn des Films eine der populärsten Figuren, die es auf der Leinwand nun wirklich zu sehen gibt – und zwar in (passend) doppeltem Sinne. Nicht nur lassen Filme inhaltlich DoppelgängerInnen umgehen, vielmehr sind bereits die auf der Leinwand zu sehenden Körper Double der SchauspielerInnen, die sich so in ihre eigenen Gespenster verwandeln, wozu Friedrich Kittler in Draculas Vermächtnis (1993) bemerkt: Was Dichtung versprochen und nur im Imaginären von Leseerlebnissen gewährt hat, auf der Leinwand erscheint es im Reellen. Zur Versetzung in eine wirkliche, sichtbare Welt ist rechtes Lesen, bei Novalis unabdingbare Voraussetzung, überflüssig geworden. Um Doppelgänger zu erblicken, müssen Leute weder gebildet noch angetrunken mehr sein. Auch und gerade Analphabeten sehen den Studenten von Prag, seine Geliebte und seine Maîtresse – all jene »schattenhaft flüchtigen Gestalten« Ranks, wie sie als solche schon Doppelgänger sind – : Zelluloidgespenster der Schauspielerkörper. (Kittler 1993: 97)

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»Der Charakter des Unheimlichen kann doch nur daher rühren, dass der Doppelgänger eine den überwundenen seelischen Urzeiten angehörige Bildung ist, die damals allerdings einen freundlicheren Sinn hatte. Der Doppelgänger ist zum Schreckbild geworden, wie die Götter nach dem Sturz ihrer Religion zu Dämonen werden (Heine, Die Götter im Exil). […] Ich glaube, dass diese Motive den Eindruck des Unheimlichen mitverschulden, wenngleich es nicht leicht ist, ihren Anteil an diesem Eindruck isoliert herauszugreifen.« (Freud 1989a: 259).

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Der kinematographische Apparat ist insofern wesentlich unheimliche Technologie, als er bedrohliche DoppelgängerInnen produziert. So gerät die Verdopplung des SchauspielerInnenkörpers auf der Leinwand in einer Erzählung von Alexandre Arnoux, der an den Drehbüchern zu Leo Mittlers La voix sans visage (1933) oder auch Marcel L’Herbiers und Paolo Moffas 1950 produziertem Spielfilm Les Derniers Jours de Pompéidessen mitgearbeitet hat und dessen Romane, Dramen und Gedichte bisher nicht ins Deutsche übertragen wurden, zu einer bedrohlichen, den Darstellerkörper zersetzenden Angelegenheit des Films; in L’écran (1923) wird der Filmschauspieler Olivier Maldone schließlich keine andere Wahl haben, als seinen auf Zelluloid ex-istierenden Leinwand-Doppelgänger dem Feuer preiszugeben, um sich selbst vor der taxativen Absorption durch jene Projektionsfläche zu bewahren. Berichtet wird von zunehmender Interferenz von Schauspieler und der von ihm in regelmäßigen Abständen verkörperten Figur, sodass der Darstellende zu (ver)schwinden droht, beseitigt er nicht den zweidimensionalen, an der eigenen Substanz zehrenden Konkurrenten (vgl. Paech 2005: 297f.). Entstanden unter der Regie von Paul Wegener erzählt Der Student von Prag aus dem Jahr 1913, der über zehn Jahre später Objekt von Otto Ranks DoppelgängerInnenstudie sein wird und der auch Freud im Aufsatz zum Unheimlichen eine Fußnote wert ist (vgl. Freud 1989a: 259), eine ganz ähnliche, den Doppelgänger als gefährlichen Rivalen inszenierende Geschichte: die von Balduin, der an den zwielichtigen Scapinelli sein Spiegelbild verkauft, welches sich an seiner statt mit einem Nebenbuhler duelliert, um schließlich von Balduin selbst erschossen zu werden, was auch diesen das Leben kostet. DoppelgängerInnen drohen stets, den eigenen Platz einzunehmen, wie etwa in Der Schatten (1847) von H.C. Andersen, wo sich ein Schatten selbstständig macht und mehr oder weniger Körper wird, um schließlich mit dem, dem er einst abhandengekommen war (natürlich ein Schriftsteller), zu tauschen. Als der Schatten kurz vor seiner Hochzeit mit einer Prinzessin, die nicht um seine Herkunft weiß, aufzufliegen droht, lässt er kurzerhand den bereits eingekerkerten, da aufmüpfigen Schriftsteller hinrichten. Auch und vor allem jene Filme, die die Figur des Double prominent in Szene setzen, verweisen auf das technische Medium Film selbst, das immer schon DoppelgängerInnen hervorgebracht hat, sie dann über die Leinwände geistern ließ und sich durch diesen technisch-imaginären Zug als unheimlich erweist. Wegeners Film über den Studenten von Prag, der sein eigenes Double nur wieder loswird, indem er es und somit sich selbst tötet, ist insofern unheimlich als Film (als Medium) unheimlich ist (vgl. Royle 2003: 77) und das »Doppelgängermotiv ein spezifisch filmisches Motiv, mit dem der Film seine eigene Funktionsweise – die Verdopplung von Körpern – ausstellt« (Neitzel 2007: 384): Der Doppelgänger kann also in seiner medial realisierten, und eben nicht geträumten, literarisch beschriebenen oder psychoanalytisch aufgelösten Gestalt, als Emblem des filmischen Verfahrens überhaupt und zusätzlich als dessen potenzierende Selbstdarstellung aufgefasst werden, in dem die Abbildrelation selbst noch einmal wiederholt wird. (Döring 2005: 25) Somit verhandelt Hypercube ein Phänomen, das Kino seit jeher als Unheimliches heimgesucht hat, wenn »[d]er Körper im Film als untoter und phantastischer Doppelgänger und damit als Effekt der vollständigen Abmessung und Rasterung begriffen werden [kann]« (Meteling 2006: 52).

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4.2.3.2 Kollektives Doppelgehen Mit DoppelgängerInnen, das zeigen u.a. Wegener, Lynch und Peele, lebt es sich gefährlich, wobei die Produktion von unheimlichen DoppelgängerInnen sich in Hypercube als ein den Verfaltungen der Architektur alliierendes Verfahren geriert. Es gibt kein[en] Doppelgänger ohne Aussaugen, ohne Anzapfen dessen, was ohne ihn für eine volle, selbstgenügsame Präsenz hätte gelten können: Der Doppelgänger macht das Original sich selbst unähnlich, ent-stellt es, versetzt in Bewegung und beunruhigt, was ohne ihn sich in simpler Weise hätte identifizieren, benennen, in diese oder jene bestimmte Kategorie einordnen lassen. (Kofman 2007: 227) Die kontinuerliche, das architekturale Unheimliche mit-hervorbringende Produktion immer neuer DoppelgängerInnen kündigt sich in Hypercube in zwei Szenen gewissermaßen als Prozession an, zunächst, wenn plötzlich und vollkommen unerwartet in der Mitte eines Raumes ein metallisch wirkendes Viereck schwebt, das sich in hoher Geschwindigkeit zu pluralisieren beginnt, indem es sich auseinanderklappt, was die Erholung im Schlaf Suchenden sofort aufwachen lässt. Es faltet sich zu einem größeren Objekt auf und verwundet Jerry am Arm. Wie ein Schnittwerkzeug und in rasanter Schnittfolge mit zahlreichen Einzelbildern wirbelt das Bildschirme oder -ränder allegorisierende Viereck durch den Raum, woraufhin alle in Panik geraten und den Raum verlassen wollen – einzig die blinde (Bildschirme also nicht wie Sehende wahrnehmende) Sasha presst sich angsterstarrt an eine Wand, um nicht zerschnitten zu werden. Simon, bereits im nächsten Raum, will Kate überreden, Sasha zurückzulassen, woraufhin sie ihn von sich wegstößt und die Tür verschließt; als er sie wenige Sekunden später wieder öffnet, sind die beiden Frauen verschwunden – einer der Räume, oder auch beide, muss also irgendwie ein- oder abgeknickt worden sein. Kate eilt derweil Sasha zu Hilfe und gibt ihr Anweisungen, um der rotierenden Schneide auszuweichen, wobei sich ihre Gesichter in dem monströser werdenden Objekt zu spiegeln beginnen. Während dieser Spiegelung – Lacans Bild des corps morcelé lässt grüßen – streift die Kamera langsam über die Oberfläche des Objekts, das sich auf einmal für diesen kurzen Moment in Zeitlupe bewegt, beinah schon in einer Pose verharrt. In Slow Motion, fast wie in einer Momentaufnahme, blickt man auf die gespiegelten, verdoppelten oder eher gesplitteten Gesichter der verschreckten Frauen in Großaufnahme – eine Konstellation, die auf mehrfach in sich gewundene Weise darüber informiert, dass der/die DoppelgängerIn »auch die Figur der fundamentalen Angst und letztlich die Figur des Todes« (Dolar 1993: 125)53 ist. Als Kate erkennt, dass das mittlerweile fast den ganzen Raum erfassende Objekt auf Bewegung zu reagieren scheint, verharren sie und Sasha in Regungslosigkeit, begeben sich gewissermaßen in eine photographische Pose, bis das Gebilde in sich zusammenklappt und schließlich völlig verschwindet.

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Dazu Elisabeth Bronfen: Wie die Nacht als Bereich des Dämonischen durch ihre Verdrängung aus dem Tag geschaffen wird, so entwickelt sich mit der Verdrängung des Todes aus dem Leben der Doppelgänger ebenfalls zum Schreckbild, um im Bereich der Ästhetik, der sich mit Vorliebe dem Schlaf der Vernunft zuwendet, als nächtlicher Vorbote des Todes zurückzukehren. (Bronfen 2008: 131).

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Abbildung 14: Andrzej Sekuła, Hypercube, 00:55:50

Jenes Gebilde potenziert und demontiert nicht nur die Körper, insbesondere die Gesichter der beiden Filmfiguren, sondern zerlegt und zerschneidet gleichermaßen den Raum, durch den es sich bewegt, sodass Hypercube zu einem digitalen Film arriviert, der zwar nicht wie etwa Dark City in Form exzessiver Zitation alter Kinobilder an ebenjenes erinnert, aber umso mehr über technische Verfahrensweisen wie das Erzeugen der Illusion einer Bewegung auf der Leinwand oder das Schneiden und Montieren von Zelluloid zu Beginn des Kinos informiert. Fast schon übertrieben künstlich, übermäßig glatt und hochgradig steril wirkt das durch digitale Bearbeitung mit entstandene Filmbild, aber nur, um dabei die nicht-digitalen, oft mit Dunkelheit (in der Kamera, im Schnittals auch Vorführ- und natürlich im ZuschauerInnenraum) zusammenfallenden Anfänge seiner selbst (und damit auch die von Cube) zu bilanzieren – und sich dabei bereits als Darstellungsproblem auf den Weg zu bringen, insofern (auch) digital generierte Filmarchitekturen an einer gewissen Uneinholbarkeit leiden, wie zu zeigen ist.

Abbildung 15: Andrzej Sekuła, Hypercube, 00:19:47

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Über der DoppelgängerInnen Genese, die letztlich ununterscheidbar von den Bewegungen des Hypercube wird, und vor allem über deren von Freud bestimmten Status als »Vorbote[n] des Todes« (Freud 1989a: 258) wird auch informiert, als Max versucht, eine Luke zu öffnen, zu diesem Zweck die Treppenstufen betritt und durch das bereits erwähnte starke Schwanken der Tür zurück auf den Boden geschleudert wird. In diesem Moment hinterlässt er einen Abdruck seiner selbst förmlich in der Luft, der sich dem photographischen Bild insofern anähnelt, als er den Körper aus der Bewegung heraus medial stillstellt. Man erkennt einen reliefartigen, wie einen aus transparentem Gelee geformten 3D-Abdruck von Max’ Körper dort, wo er noch kurz zuvor gewesen ist, sodass ZuschauerInnen eine Art gläsernes Standbild der Vergangenheit der bereits fortgeschrittenen Story sehen. In dieser sichtlich durch Morphing entstandenen Sequenz wird auf die nicht-digitale Vorgeschichte des Mediums Film verwiesen, insofern hier mit den Mitteln der digitalen Filmtechnik der analoge Prozess der Photographie (der/die entsprechend das Digitale heimsucht) ent-stellend simuliert wird – und damit zugleich die thanatologischen Implikationen der Photographie. Hier bringt sich der Tod als Bild(haftes) auf den Weg, das als eine Art (Ab)Druck, als Spur im Raum, die Qualitäten aufweist, die Roland Barthes für die frühe Photographie, in der die »ZEIT stockt« und »eine seltsame Stauung« (Barthes 1985: 101) erfährt, beschrieben hat, erlebt Max sich doch als besondere Form des Doppelgängers wie ein Photographierter als Subjekt, »das sich Objekt werden fühlt: ich erfahre dabei im kleinen das Ereignis des Todes (der Ausklammerung54 ): ich werde wirklich zum Gespenst« (ebd.: 22); sehen die anderen diesen photoähnlichen Abdruck, sehen sie zugleich ihren eigenen Tod, weil es das ist, worauf Photos verweisen: Sie künden als »Inbegriff eines Stillstands« (ebd.: 101) vom eigenen Sterben55  – und sind damit (mordend) zutiefst unheimlich. Dennoch haftet dem Akt des Fotografierens etwas Räuberisches an. Menschen fotografieren heißt ihnen Gewalt antun, indem man sie so sieht, wie sie selbst sich niemals sehen, indem man etwas von ihnen erfährt, was sie selbst nie erfahren; es verwandelt Menschen in Objekte, die man symbolisch besitzen kann. Wie die Kamera eine Sublimierung des Gewehrs ist, so ist das Abfotografieren eines anderen ein sublimierter Mord – ein sanfter, einem traurigen und verängstigten Zeitalter angemessener Mord. (Sontag 1989: 2)

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Diese Ausklammerung lässt an das erinnern, was Lacan in Anlehnung an Ernest Jones das fading des Subjekts, die Aphanisis, nennt und was ein langsames Ausblenden, ein allmähliches Verschwinden oder auch Verklingen des Subjekts meint (vgl. Lacan 2011: 257). Roland Barthes Die helle Kammer (1980) kreist um eine Photographie seiner Mutter, die diese als kleines Mädchen im Alter von fünf Jahren zeigt und das ihm nach ihrem Tod beim Aufräumen in die Hände gefallen ist. Es ist das einzige Bild, das im Text virulent ist, aber nicht abgebildet wird (die angeblich erste Photographie von Niépce von 1822 oder eine Abbildung von Königin Victoria bei einem Reitausflug werden neben zahlreichen anderen Bildern abgedruckt); im Betrachten dieses Photos ist das eigene Vergehen (das von BetrachterInnen) schon mit verzeichnet: »Der einzige ›Gedanke‹, zu dem ich fähig bin, ist der, dass am Grunde dieses ersten Todes mein eigener Tod eingeschrieben ist; zwischen diesen beiden bleibt nichts als das Warten; mein einziger Rückhalt ist diese Ironie: darüber zu sprechen, dass es ›nichts zu sagen gibt‹.« (Barthes 1985: 103).

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Simon wiederum zieht, nachdem er sich wie oben beschrieben dabei gesehen hat, wie er Mrs. Paley ersticht, allein durch die unheimlichen Räume, die sich jederzeit einfalten und ihn töten könnten. Dabei taucht ein weiterer, ein anderer Jerry (dem man eigentlich gerade beim Sterben durch Zerhäckseln zusehen konnte) auf und erzählt dem verblüfften Simon, auf den er (diesmal) nach eigener Aussage zuerst getroffen ist, er sei gerade eben erst aufgewacht und wisse nicht, wo er denn überhaupt sei und wird von Simon, der unter stärker werdender Paranoia zu leiden scheint, kurz darauf getötet. Dieses Aufeinandertreffen wiederholt sich wohl so oder auf ähnliche Weise noch mehrere Male, da man später wieder auf Simon treffen wird, der mehrere Armbanduhren Jerrys am Handgelenk trägt. Nachdem die Gruppe sich aufgrund von Spannungen und Übergriffen getrennt hat, versuchen Max und Julia gemeinsam vor dem mittlerweile aggressiven Simon zu fliehen, wobei sie in Räume geraten, die mit der Zeit ihr Spiel treiben: Zunächst gelangen beide in einen Raum, der ihr Bewegen so in die Länge zieht, dass sie Abdrücke ihrer selbst im Raum hinterlassen (und sie damit einmal mehr an die frühe Photographie, besonders die populären Bewegungsstudien von Muybridge, verweisen). Gemeinsam mit dem sie verfolgenden Simon können ZuschauerInnen ein Vorwärtskommen in Zeitlupe beobachten, das die Körper sukzessive56 voranschreiten lässt, fast wie im Daumenkino.

Abbildung 16: Andrzej Sekuła, Hypercube, 01:01:32

Schon im nächsten Raum wird Zeit nicht mehr aufgespannt, sondern gerafft, was Max beobachtet, als er noch im ›Dehnungsraum‹ hängt, während Julia sich bereits in der zeitraffenden Zone befindet und sich Max aus ihrer Perspektive so langsam bewegt, dass er fast stillzustehen scheint. Ihre Mimik und Gestik wiederum aus Max’ Perspektive muten wie die einer zu schnell laufenden Zeichentrickfigur an. Als er ihr in den ›Zeitrafferraum‹ nachgefolgt ist, beginnen die beiden, sich zu küssen und schließlich miteinander 56

Dieses ›Nachziehen‹ lässt sich auch für die Ebene des Tons festhalten: Es scheint so zu sein, als ob Stimmen auch noch hallen, wenn schon lange keine SprecherInnen mehr anwesend sind, denen man Stimmen zuordnen könnte, was dem Unheimlichen insofern zuarbeitet, als Stimmen sich u.a. dann verunheimlichen, wenn sie als körperlose unterwegs sind.

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zu schlafen; Kate wird später auf ihre leblosen Körper treffen, die, immer noch im Liebesspiel verschlungen, schon verrottete Leichname sind. Jenes Falten und (Ver)Schlingen der Architektur läuft bei den Bewegungen, die die zellenartige Konstruktion vollzieht, stets ineinander und lässt dabei sowohl räumliche als auch zeitliche Ungeheuerlichkeiten auftreten. Zum einen produzieren die Faltungen Vervielfältigungen der Körper, wie man an DoppelgängerInnen von Simon und Mrs. Paley bereits sehen konnte, zum anderen scheinen sie die Zeit in Falten zusammenzuraffen, um sie anschließend wieder aufzuspannen oder photographisch stocken zu lassen. Konfrontationen mit DoppelgängerInnen (im Hypercube) in Hypercube offenbaren die Fragilität von Identität, exponieren diese von der Kinetik der Architekturmaschine nicht zu trennenden Begegnungen, dass »[m]eine Ich-Identität vom Doppelgänger her[kommt]« (Dolar 1993: 125), worunter die Integrität des Subjekt(körper)s leidet, das sich – da es sich einzig in Bezug zum ihn bedrohenden anderen konstituieren kann – nicht länger als stabile Einheit glauben kann, was besonders qua Simons Durchdrehen und dem Zerfall seines Körpers in Szene gesetzt wird. Er findet außerdem tatsächlich seinem Auftrag entsprechend die in den Hypercube verschleppte izon-Mitarbeiterin Rebekka Young – und tötet sie immer wieder, was zu vermuten ist, da er mehrere ihrer Mitarbeiterausweise an seinem blutbefleckten Hemd trägt (vermutlich hat er sogar Teile von ihr gegessen, um sein Überleben zu sichern). Erscheinen DoppelgängerInnen in der Regel als Einzelne, das Ich heimsuchende – entweder begegnet er oder sie nachts am Schreibtisch oder geriert sich als aufdringliches Double, das einem Subjekt zu nahe zu kommen droht und für gewöhnlich auch nur von diesem gesehen/wahrgenommen werden kann (vgl. ebd. 1993: 124) – ist ihr Aufkommen (im Hypercube) in Hypercube nicht länger zählbar. Mit dieser Potenzierung ins Unendliche tendiert der Hypercube dazu, über die Figur bloßer DoppelgängerInnen hinauszugehen, indem er vom Doppeln zum ewigen Vervielfältigen57 übergeht, sodass ZuschauerInnen (wie die Filmfiguren selbst) nicht mehr zwischen Original und Kopie differenzieren können. Damit wird in Frage gestellt, ob die Personen, mit denen das Publikum als InsassInnen des Hyperkubus zunächst vertraut gemacht worden ist, nicht immer schon Doubles, Duplikate, DoppelgängerInnen gewesen sein werden.

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In José Saramagos O Homem Duplicado (2002), der im Deutschen den Titel Der Doppelgänger trägt, scheint eine endlose Schleife von Doppelgängerproduktion in Gang gesetzt: Tertuliano Máximo Afonso entdeckt eines Tages in einem Video einen Mann, der ihm erstaunlich ähnlich sieht und dessen Stimme der seinen verblüffend gleicht, woraufhin er seine Identität ermittelt, ihn anruft und schließlich ein Treffen mit ihm vereinbart, bei dem sie erkennen, dass sie sich nicht nur tatsächlich bis aufs Haar gleichen, sondern sogar dieselben Narben haben. Afonsos Doppelgänger, der Schauspieler Daniel Santa-Clara, zwingt ihn schließlich unter einem Vorwand, ein Wochenende lang die Rolle mit ihm zu tauschen, um ungehindert Zeit mit Afonsos Freundin verbringen zu können, was tragisch endet: Beide sterben bei einem Autounfall. Afonso übernimmt daraufhin die Identität von Santa-Clara, dessen Frau sich angesichts des liebevollen Umgangs, den Afonso mit ihr pflegt, damit einverstanden zeigt. Am Ende des Romans scheint jedoch nichts geklärt zu sein, sondern die einmal in Gang gesetzte Spirale dreht sich weiter, wenn es nun Afonso ist, der einen Anruf von einem Doppelgänger erhält, sich mit diesem verabredet und zu diesem Treffen eine Waffe mitnimmt (vgl. Saramago 2013: 381ff.). Identität(en) der Hauptfigur(en) zersetzt sich ebenso wie die Stimme(n) des Textes.

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Im ersten Drittel des Films, kurz nachdem zunächst Thomas Maquires Selbstmord verhindert werden konnte und kurz bevor dieser Raum den Colonel das Leben kostet, blickt Kate, die als letzte den Raum verlassen kann, noch einmal nach hinten und sieht sich dabei selbst aus einer Türöffnung in den Raum schauen, der soeben eingefaltet wird – diese Szene zeugt von jener Irritation und zeigt, wie Hypercube den Blick ins Spiel bringt und dabei seine Vorgängerarchitektur noch übertrifft. Sie ist gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Raums, aus dem sie schaut, eine Grenzfigur, wenn sie sich selbst an einem anderen Ort erblickt und von dort (von sich) erblickt wird. Fast schon harmlos wird hier das Auftauchen eines verdoppelten Körpers inszeniert, das scheinbar nur für einen kurzen Moment inne halten lässt, weil es (filmisch) bereits bekannt ist: Kate sieht zwar eine weitere Variante ihrer selbst hinter sich in den Raum blicken, erwähnt dies aber mit keinem Wort; sie hält es nicht für nötig, von dieser Begegnung zu berichten, die insofern unheimlich ist, als sie den Blick auf das Subjekt zurückwirft, es dabei (einmal mehr) spaltet und der Logik der Blickszene entsprechend Subjekt und Objekt beständig miteinander vertauscht. Hier gewinnen Blicke im Gegensatz zu Cube weniger als architektonische an Gewicht, als vielmehr das Subjekt als ein anderer auf das Subjekt zurückblickt; der Blick funktioniert im Hypercube qua Raumgestaltung auf das gleichermaßen mit-gespaltene Subjekt als zurückgeworfenes Sehen des Subjekts. Diese Situation wird Kate zu Ende des Films noch einmal erleben, diesmal jedoch aus der Position heraus, auf die sie zu Beginn zurückblickte. Sie sieht diesmal in ihre Vergangenheit, die von ihrer Gegenwart durchdrungen wird, sodass sie vorher also durch Zurückschauen ihre Zukunft sah, die ihre Gegenwart durchdrang; Zeiten und Körper werden nebeneinander gefaltet, ineinander verschlungen und verstören das Feld des Subjekts58 . »Die eigenartige Präsenz dieses Blicks verstört die Chronologie der Zeit, die klare Ordnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, indem die Synchronie der Erscheinung zur Anachronie der Heimsuchung wird, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammentreffen« (Bickenbach 2006: 194f.). Jene Vervielfältigung, die der Hyperkubus (mit und durch sich selbst) die ganze Zeit über praktiziert, irritiert bzw. nivelliert das differenzgenerierende Verhältnis von Original und Kopie, löst jeden noch metaphysischen Rest in der Dichotomie von Einzel- und DoppelgängerInnen auf und zerstreut ihn zwischen ihre Falten. Die sich selber in den Raum blicken sehende Kate ist nur ein Beispiel dafür, wie (der) Hypercube seinem Namen gerecht wird und das Flimmern untoter, verdoppelter Körper über die Leinwand bzw. den digitalen Bildschirm übertreibt.

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Lacan bemerkt zur Begegnung mit DoppelgängerInnen: Selbst in der Erfahrung des Spiegels kann ein Moment eintreten, in dem das Bild, das wir darin zu enthalten glauben, sich modifiziert. »Wenn dieses Spiegelbild, das wir gegenüber haben, welches unsere Statur, unser Gesicht, unser Paar Augen ist, die Dimension unseren eigenen Blicks hervortreten lässt, beginnt der Wert des Bildes sich zu ändern […]. Initium, Aura, Morgenröte/Einsetzen (aurore) eines Gefühls von Fremdheit, das die auf die Angst hin offene Pforte ist./Dieser Übergang vom Spiegelbild zu diesem Doppelgänger, der mir entgeht, das ist genau der Punkt, an dem etwas geschieht, dessen Allgemeinheit, Präsenz im gesamten phänomenalen Feld zu zeigen uns die Artikulation, die wir der Funktion des a geben, erlaubt.« (Lacan 2010: 114f.).

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Dass der Film selbst mit seinen Licht- und Schattengestalten Phantome hervorbringt, die sogar von der Leinwand herab den Zuschauern in der Dunkelheit des Kinos gefährlich werden können, war eine Erfahrung, die schon aus der Stummfilmzeit stammt und offenbar vom Tonfilm nicht gebannt werden konnte. (Paech 2000: 186) Und auch vom digitalen Film nicht. Keine noch so elaborierte Digitalfilmtechnik vermag es, unheimliche DoppelgängerInnen nicht zu produzieren. Im Gegenteil tendieren auch und gerade die ausgefeitesten Filmtechniken, insbesondere im Stadium ihres Experimentierens – wie frühe digitale Filme wie Hypercube zeigen – dazu, DoppelgängerInnen59 auf buchstäblich trickhafte Weisen zu produzieren, die den eigenen (von ZuschauerInnen als auch DarstellerInnen) Tod adressieren. Sie zeigen, dass Kino immer schon eine genuine »Technik des Imaginären« (Metz 2000: 13)60 und »Film« dadurch »selbst […] zum veritablen Doppelgänger-Medium geworden [ist]« (Paech 2012: 57), da es sich, wie der Hyperkubus, in sich selbst hinein zu potenzieren und dabei alle Orts-, 59

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»Jedem auf die Leinwand projizierten sich bewegenden Bild eines Körpers geht (mit Ausnahme des Animationsfilms) ein physisch realer Körper vor der Kamera, die ihn aufgenommen und zum Bild verwandelt hat, voran. Jeder Schauspieler spielt daher ein Doppelleben vor der Kamera und auf der Leinwand. […] Sein physisches Ich hat in der Leinwandexistenz einen veritablen Doppelgänger, getrennt von ihm durch zeitliche und räumliche Distanz. Die Filmindustrie hat für beide Zustände in der physischen Realität und als Leinwandprojektion einen Zwischenzustand etabliert, die existenzielle Rolle des Schauspieler-Stars, die oft phantastischer ist als die, die er oder sie auf der Leinwand verkörpert.« (Paech 2012: 52). Auch Christian Metz ist es, wenn er die »psychoanalytische Beschaffenheit des kinematographischen Signifikanten« (Metz 2000: 71) konturiert, um den Konnex von Kino(raum) und darin sich befindenden ZuschauerInnen zu tun, fragt er in seiner bisherige Aufsätze zum Thema bündelnden Monographie Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino (1977) dezidiert weniger nach dem Verhältnis von Publikum und Dargestelltem, sondern nach der Beziehung zwischen einer spezifisch cineastischen, den Kinosaal segregierenden Apparatur und dem Blick des anwesenden Auditoriums (sodass etwa die Leinwand eine ähnliche Funktion übernimmt wie die Oberfläche des Spiegels in der Lacan’schen Psychoanalyse, auf der dem Kleinkind durch den Blick der für gewöhnlich hinter ihm stehenden Mutter ein Ich simuliert wird): »Im Theater sind Schauspieler und Zuschauer zur selben Zeit und am selben Ort anwesend, somit sind die einen für die anderen anwesend wie die beiden Protagonisten eines perversen Paares. Im Kino aber war der Schauspieler anwesend, als der Zuschauer es nicht war (Dreharbeiten) und der Zuschauer ist anwesend, wenn der Schauspieler es nicht ist (Vorführung): ein verfehltes Rendezvous von Voyeur und Exhibitionist, deren Anstrengungen nicht mehr zusammenführen (sie haben sich ›verpaßt‹)« (ebd.: 60). Auf der Leinwand des Vorführsaals treffen KinozuschauerInnen nur auf imaginäre Signifikanten, sind SchauspielerInnen und Objekte in Form von Requisiten nicht am gleichen Ort anwesend – hört man im Theater tatsächlich anwesende Signifikanten sprechen und sieht sie sich bewegen, kann der Film im Kinosaal nur Doubles der einst anderswo anwesenden SchauspielerInnenkörper reproduzieren: (Körper von) FilmdarstellerInnen sind zugleich ab- und anwesend; sie sind in ihrer Abwesenheit als reale Körper als Schein/Illusion ihrer realen Körper anwesend, als imaginäre Signifikanten: »Oder vielmehr das Wahrnehmen ist wirklich (das Kino ist nicht das Phantasma), doch das Wahrgenommene ist nicht der Gegenstand, sondern sein Schatten, sein Phantom, sein Double, seine Nachbildung in einer neuen Art Spiegel« (ebd.: 46). ZuschauerInnen identifizieren sich nach Metz mit dem (voyeuristischen) Blick der Kamera, was in der Folge Laura Mulvey und andere feministische FilmkritikerInnen veranlasst, gegen dieses phallisch-imaginär gedachte Genießen und damit der Frau als bloß kastriertes, passives Objekt anzuschreiben, um »über abgegriffene oder unterdrückerische Formen hinausgehen« (Mulvey 1994: 51) zu können.

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Ursprungs- und Präsenzbestimmungen zu unterminieren vermag – ein Umstand, der in einer der letzten Szenen des Films variiert und spezifiziert wird: Nachdem sie Simon zunächst abwimmeln konnten, schlagen sich Kate und Sasha allein durch ihr unberechenbares Gefängnis. Dabei fällt ihnen eine Zahl ins Auge, die sie vorher schon bemerkt hatten und die an verschiedene Wände des Hyperwürfels mit schwarzem Stift geschrieben wurde: 60659. Während sie über die Zahl und ihre Bedeutung rätseln, geraten sie in einen Raum, in dem die Gruppe in den Positionen, in denen sie sich befanden, bevor das wachsende Schnittwerkzeug sie aus dem Schlaf weckte, befindet, jedoch wird hier niemand mehr erwachen, sehen ZuschauerInnen schon im Verwesungsprozess befindliche Leichen, die nebeneinander liegen; Kate und Sasha stehen ihren eigenen Leichen gegenüber und können den sich ausbreitenden Gestank des Verfalls riechen. Als sie schließlich wieder auf Simon treffen, hat dieser ein stark verschwollenes Auge, eingefallene Gesichtszüge und sein Haar ist bereits ergraut. Er ist sichtlich um mehrere Jahre gealtert, was tiefe Falten und vernarbte Wunden verraten, und hat scheinbar überlebt, weil er sich von den Leichenteilen seiner Opfer ernährt hat. Er bricht schließlich Sasha, nachdem er sie mit einem Messer in seine Gewalt gebracht hat, das Genick und beginnt daraufhin, auch Kate zu verfolgen. All dies spielt sich ab, kurz bevor der Würfel völlig auseinanderfällt bzw. in sich zusammenbricht – nun verschleifen sich die Räume so extrem, dass Kate sich immer wieder von hinten in den Raum hineinkriechen sieht, aus dem sie gerade herauskriecht; beim Versuch, vor Simon zu fliehen, kann sie sich immer wieder dabei sehen, wie sie vor ihm flieht. Es gibt weder Vorne noch Hinten, weder Vornoch Nachgängiges, die Raum- und Zeitverschleifung lässt jede Rück- zur Vorderseite, jede Vergangenheit Zukunft werden und umgekehrt – Architektur wird zu ihrem eigenen raumzeitlichen Umkreisen, mutiert zu ihrem eigenen Um-Weg. Da die Architektur DoppelgängerInnen durch ihr eigenes In-sich-selbst-Zurücklaufen produziert, macht sich hier eine gewisse Nähe des Hyperkubus zu den Carceri-Phantasien Piranesis bemerkbar. Die Carceri, eine Sammlung von über einem Dutzend Radierungen, die Mitte des 18. Jahrhunderts zum ersten Mal veröffentlicht und seitdem mehrfach be- und überarbeitet wurden, bemühen das vermutlich aus der Kulissenkonstruktion stammende Prinzip der Raumverschleifung, das beschreibt, wie gewisse Radierungen perspektivisch in sich gebrochen oder umgebogen sind, sodass keine schlüssige Gesamtperspektive erhalten wird und stattdessen nur einzelne Segmente eines dargestellten Raums raumlogisch konsistent wirken (vgl. Busch 1977: 209ff.). Piranesis labyrinthische Gefängnisse erscheinen als »architektonisch-räumliche Unstimmigkeiten« (ebd.: 214), als »Spiel mit alogischen Konstruktionen« (Kupfer 1992: 48), bei dem »die unmögliche Verknüpfung heterogener Bereiche« (ebd.: 70) betrieben wird und eine »paradoxe Gleichzeitigkeit von Enge und Unendlichkeit« (ebd.: 118) vorherrscht; Blatt VII beispielsweise, das nach seiner Erstveröffentlichung für eine zweite Auflage zugunsten architektonischer Schieflagen massiv überarbeitet worden ist, zeigt in der linken Bildhälfte eine Säule mit einer an ihr entlanglaufenden Spiraltreppe, die noch am oberen Rand hinter einer Brücke zu liegen scheint, wohingegen sie in der unteren Bildhälfte in eine weitere Zugbrücke überzugehen scheint. Ähnlich wie diese verunsichernde Wendeltreppe der »Phantasiearchitektur« (Miller 1994: 202) der Carceri, so lässt sich mit Binotto formulieren, ist »[d]er Raum« in Hypercube »verdreht, verzerrt, sodass Hinten

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und vorne – wie im Möbiusband – nicht mehr unterschieden werden können« (Binotto 2013: 70).

Abbildung 17: Giovanni Batista Piranesi: Carceri, Blatt VII

Am Schluss des Films überschlagen sich Architektur und Ereignisse zugleich: Kate kann Simon schließlich überwältigen und springt, nachdem sie Sasha eine Kette vom Hals gerissen hat, in ein schwarzes Loch, während der Hyperwürfel sich aufzulösen scheint. Sasha konnte Kate kurz zuvor noch gestehen, dass sie eigentlich der berühmte Hacker namens Alex Trusk ist, den Max zu Beginn verdächtigt hat, etwas mit dieser Architekturmaschine zu tun zu haben. Tatsächlich behauptet sie, sie habe »them« (Sekuła 2006: 01:15:27) einen instabilen Hypercube gegeben und sei freiwillig in diesen geflohen, im Wissen, dass man sie nicht verfolgen würde. Bevor Sasha aber weiteres erzählen kann, wird sie von Simon getötet. Kate erkannte vor ihrem Sprung, als sie auf die ganzen Uhren an Simons Leichnam blickte, dass die Zahl, die überall an den Wänden

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notiert war, einen Timecode, nämlich sechs Uhr, sechs Minuten und neunundfünfzig Sekunden, zu meinen scheint und die Zeit bezeichnet, zu der der Würfel sich auflösen wird (und die jetzt von allen Uhren Jerrys einheitlich angezeigt wird) – was schließlich auch geschieht. Er wird völlig instabil, fällt in seine Teile auseinander und zerbirst hinein in schwarze Leere. Kate erwacht daraufhin in einem riesigen Becken innerhalb einer Art Lagerhalle, die durch ihre Deckenschienenkonstruktion durchaus an ein großes Filmstudio erinnert; noch halb benommen wird sie aus der das ganze Becken ausfüllenden quecksilberartigen Flüssigkeit von zwei Männern in Uniform heraustragen. Sie übergibt die Kette an einen Mann im schwarzen Anzug, wird mit einem Kopfschuss getötet, schließlich hören ZuschauerInnen noch, wie derselbe Mann am Telephon kurz an Unbekannte durchgibt, dass Phase Zwei abgeschlossen sei, dann zieht die Kamera sich langsam zurück und verblendet die metallisch-flüssige Tinktur hinein ins Schwarz.

Abbildung 18: Andrzej Sekuła, Hypercube, 01:21:03

Ein Ende? Zeigt der seltsame Timecode tatsächlich eine für alle Zeitebenen gleichermaßen gültige Zeit, eine Art Meta-Zeit, der alle anderen Zeiten unterstehen? Ist er insofern das Signal einer von einem absoluten Punkt aus schaltenden und waltenden, autoritären Instanz, die, wie die letzten Bilder suggerieren, ein Experiment überwacht? Hypercube, dem es so sehr um Raum- und Zeitverschleifungen bestellt ist, liefert damit eine vergleichsweise triviale Pointe, wobei vor allem der Aufwand, der betrieben wird, um die Rätselhaftigkeit des Hyperkubus durch die Inszenierung einer von WissenschaftlerInnen kontrollierten Experimentalanordnung zu beseitigen, rätselhaft ist. Doch kann es ob der Arrangiertheit der hyperkubischen Architekturmaschine keinen logischen Grund mehr für irgendeine Kontrollierbarkeit geben, sodass die scheinbar alles kontrollierenden Instanzen zu Allegorien des Bildschirms avancieren: Einerseits unterbinden sie – wie der Bildschirm – die vollkommene Präsenz des Hyperkubus, die restlose Entfaltung seiner Möglichkeiten und verweisen ans 2D-Gefängnis zurück, andererseits aber sorgen sie dafür, dass der Hyperkubus tun kann, was er tut. Die Verweiskraft des Zeichenkomplexes rund um Labor und Experiment geht damit nicht nur nach innen, sondern auch nach außen, auf das Medium des Films und die paradoxe Zwischenposition des Hyperkubus zwischen 2D, 3D und 4D, der kraft seiner immer schon begonnen habenden Os-

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zillation dazwischen permanent Fragen nach der Komplexität sowie Aussichtlosigkeit seiner Darstellung aufwirft.

Abbildung 19: Andrzej Sekuła, Hypercube, 01:25:57

4.2.3.3 Vielfältige Darstellung(sproblematik) Hypercube differiert von anderen DoppelgängerInnenfilmen, da er nicht nur Subjekte durch ihre DoppelgängerInnen destabilisiert, sondern auch die Objekte – allen voran das Objekt schlechthin, der Hyperkubus selbst – werden immer schon ihre eigenen DoppelgängerInnen gewesen sein und sich in solche auf- und ausgefaltet haben, wobei der Hypercube immer schon – in seiner paradoxen Zwischenposition zwischen zweiter, dritter und vierter Dimension – sein eigenes Darstellungsproblem verhandelt. Wie die SchauspielerInnenkörper auf dem Bildschirm wie auch die Figuren auf Ebene der Handlung wird der Hyperkubus nicht nur zum Agenten, sondern zum A(rchite)kteur, der immer schon sein eigener Doppelgänger gewesen sein und sich als solcher vervielfältigt haben wird – und sich dabei aufs anschaulichste verbirgt und selbst noch diese Unanschaulichkeit zur Diskussion stellt. Die oben beschriebenen Szenen der unheimlichen Aktivität des Würfels demonstrieren, wie der dreidimensionale euklidische Raum zur vierten Dimension hin aus- und aufgefaltet wird. Nicht die einzelnen cubies bewegen sich entlang einer analogen Mechanik wie noch im Vorgängerfilm; vielmehr scheint das Material des Kubus – und daher auch das der cubies – selbst elastisch zu werden und zu verschleifen, sodass die Architektur sich quasi beständig durch sich selbst hindurchbewegt und dabei die topologischen Kategorien Oben und Unten, Rechts und Links, Vorne und Hinten buchstäblich durcheinander-faltet. Dieser Vorgang bezieht die inhaltliche und die formale Ebene des Films aufeinander, der gigantische, begehbare Würfel stellt sich durch das permanente Zeigen der in ihm abgebildeten Hyperwürfel als Architektur gewissermaßen unaufhörlich selbst vor – und das heißt auch vor sich selbst (und versperrt damit Sicht). Die Gravuren von Hyperkuben an den Wänden der fast unerträglich hellen Architekturmaschine fallen, wie bereits beschrieben, besonders der pensionierten Mathematikerin Mrs. Paley ins Auge, die sich von deren Schönheit fasziniert zeigt und sie beim Betrachten sanft

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betastet. Durch diese hyperbolisch organisierte Vorstellung(srepräsentanz) verhandelt der Würfel sein eigenes Darstellungsproblem, als er Abbilder eines Tesserakts als Abbildungsprobleme inszeniert, denn gezeigt wird ein Objekt, das man nicht sehen kann, aber dennoch nicht unsichtbar ist. Obwohl der Würfel in der filmischen Realität tatsächlich als Hyperkubus zu existieren und zu wirken scheint, kann er sich als auf die Fläche des Bildschirms projizierter Körper niemals vollständig zeigen, sodass immer (mindestens) ein Rest bleibt, der nicht aufgeht. Die Darstellung jenes vierdimensionalen Objekts im Medium Film wird durch die Zweidimensionalität der Leinwand verunmöglicht – und gleichzeitig möglich gemacht. Der flache Bildschirm kann nicht darstellen, was er zeigt – und tut es doch, sodass die Darstellung des Hyperkubus, die das Dargestellte allererst konstituiert, durch das Dargestellte, den Hyperkubus, sabotiert wird – und umgekehrt. Hypercube ist es jedoch nicht darum zu tun, dieses Paradox zu lösen, sondern Vorstellungsrepräsentanzen dieses Paradoxes zu liefern und durch intradiegetische Elemente auf Gestalt, Funktion und Tätigkeit des Hyperkubus zu verweisen, wobei diese Verweise – wie der gesamte Film Hypercube selbst – nichts anderes sind als Zeichen, die den Hyperkubus und sein unmögliches Tun auf das Treffendste verfehlen, genau durch diese Verfehlung aber (vorstellungs)repräsentieren – und den nicht aufgehenden Rest als einen solchen bewahren. Jerrys Skizze des Hyperkubus kann in die Kette hyperkubischer Vorstellungsrepräsentanzen ebenso aufgenommen werden wie der Vorspann des Films, der sich somit paratextuell in den Film und seine Problematik einfaltet. Die Tesserakte an den Verbindungsstücken der Seitenwände wiederum werden als zweidimensionale Bilder präsentiert, die jedoch die Vierdimensionalität des Hyperkubus nicht einbinden können – eine Variante der bereits in Flatland verhandelten Problematik, die Burkard Polster und Marty Ross am Beispiel einer Folge der Simpsons zu erklären versuchen, die Unmöglichkeit nämlich, sich als Subjekt der 3D-Welt ein vierdimensionales Objekt auch nur vorzustellen: In Homer 3 verschwindet das biertrinkende Oberhaupt der Zeichentrickfamilie in eine dreidimensionale Welt, als er sich vor seinen Schwägerinnen Patty und Selma hinter einem Bücherregal verstecken will. Hinter den sorgfältig aufgereihten und leicht verstaubten Büchern existiert ein Kosmos, dessen Gitternetze nicht nur an die Struktur des von Ameisen belaufenen Möbiusbandes in Eschers bereits erwähnter Graphik, sondern auch an den SciFi-Klassiker Tron (1982) erinnern. Obwohl ihm dieser Kosmos, der sich in seinem Haus aufgetan hat, durchaus unheimlich erscheint, entscheidet sich Homer gegen einen gemeinsamen Nachmittag mit seinen Schwägerinnen und für das Betreten des unbekannten Terrains. Professor Frink versucht nach Homers Verschwinden dessen Familie zu erklären, in welcher ›cubed world‹ Homer sich nun befindet und muss scheitern, weil die Vorstellungskraft der 2D-Wesen scheitert – so wie es auch der ZuschauerInnen Vorstellungsvermögen bzw. dem Medium Film in Bezug auf vierdimensionale Räume bzw. Objekte (und ihrer Darstellung) ergeht. Of course, the two-dimensional Homer is totally unprepared to meet the challenges of a three-dimensional world. Similarly, we suspect that most of our three-dimensional readers would be very lost if suddenly thrown into a four-dimensional world. (Polster/ Ross 2012: 162)

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Die Abbildungen auf den Verbindungsstücken der Seitenwände im Hyperkubus scheinen als Zeichen zu konzentrieren, was Flatland und Homer 3 narrativieren, sind sie doch nur als zweidimensionale und damit mangelhafte Bilder von Vierdimensionalem zu haben, womit sie sich einerseits als Darstellungsproblem auf der Ebene der fiktionalen Erzählung gerieren, da sie den vierdimensionalen Raum, in dem ProtagonistInnen gefangen sind, in der Fläche nicht abzubilden vermögen und problematisieren andererseits genau jene Störung des Zeigens innerhalb des filmischen Raums, die dieser vierdimensionalen Architektur wesentlich zu eigen sein scheint. Im Insistieren auf Darstellung verweigert (sie) sich (der) Darstellung, womit diese einem permanenten Aufschub ausgesetzt ist, also ständig gehemmt wird durch die uneinholbare Verfasstheit des Abzubildenden. Hypercube ist vor allem ein Film über diese Problematik, diese Störung der Darstellung, die unheimliche Architekturen mit sich ziehen bzw. als die sie eher insistent denn existent sind. Sie dringen und drängen durch die Leinwand, die sich in den weißen Wänden des Tesserakts wiederum zitiert findet. Damit thematisiert sich Film (auch und vor allem die technische Seite, der Film, mit und auf dem aufgezeichnet wird) als beschreibbare Fläche, die in ihrer Zweidimensionalität einen vierdimensionalen Würfel abzubilden versucht und auf sich als Medium der Höhe und Breite zurückgeworfen wird – wie auch auf Erzählebene das Bild des Tesserakts den Tesserakt abzubilden versucht und mit jeder Abbildung scheitert. Setzt er eigene, selbst immer schon unvollständige Pendants prominent ins Bild, bezieht der Hypercube zu sich selbst Stellung. Sie sind das einzige, das sich immer wieder und in jedem Raum des Würfels sehen lässt, sodass diese ›Minihypercubes‹ als mise en abyme funktionieren. Jene Abbilder gerieren sich als allegorische Wiederholungsstrategie61 , als eigenreflexive Darstellung, bilden sie doch die strukturelle (Des)Organisation dessen ab, worin sie abgebildet sind – was notwendig dazu führt, dass ein Punkt, nämlich die Stelle, an der die Ornamente angebracht sind, stets nicht abgebildet wird, die Allegorie also ein Fragment bleibt, kann sie doch nur als ein solches überhaupt bestehen, kommt die Vorstellungsrepräsentanz doch nur auf diese gebrochene Weise zustande. Hypercube pointiert unheimliche Architektur als Flimmern, Flackern, eine Störung im Bild; sie verstopft die Repräsentationskanäle, wird zum »Störmodus« (Lacan 2010: 112), der die Bilder des Films insofern durchkreuzt und ermöglicht, als die Bilder, die ZuschauerInnen vom Hyperkubus als Produkt einer wissenschaftlich orchestrierten Experimentalanordnung geliefert werden, die Potentialität, das Reale des Hyperkubus durchkreuzen und ermöglichen. Wird unheimlich Architekturales zu sehen aufgegeben, ist man zugleich mit dem medial ausgelösten Entzug seiner Sichtbarkeit konfrontiert; der Hypercube gibt eher Auskunft über das, was er nicht ist, indem er demonstriert, wie gewöhnliche Raummodelle für ihn gerade nicht fruchtbar gemacht werden können. (Nicht) zu sehen sind räumliche Verfaltungen und Twists, die fundamental unanschaulich, un-sichtbar bleiben. Zwar versucht Hypercube als Film den Hypercube immer wieder

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Allegorie-Begriff und Struktur der mise en abyme (siehe Kapitel 2.6) entsprechen – allegorisch, das ist der Witz – einander: Beide benötigen einen bzw. weisen einen leeren Fleck (auf), den Mangel respektive den Rest.

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in sein Darstellungssystem bzw. seine Darstellungsmodi einzubinden, doch auch seinem Medium bleibt diese Architekturmaschine wesentlich unheimlich und dabei doch eng mit ihr verfaltet, sodass der Hyperkubus genau diese – ihrerseits unheimliche – Oszillation zwischen Form und Inhalt ist. Hell und einsichtig gibt sich der Film – und bleibt insofern ähnlich dunkel wie die Carceri-Zeichnungen, als die einzelnen Räume, die er so detailreich wie eben möglich ins Bild setzt, sich nicht zu einer Gesamtarchitektur zusammenfügen lassen und entsprechend ein über-sichtliches Raumkonzept versagen. Das Zeigen des Hypercube besteht in einer Gleichzeitigkeit von Zeigen und Verbergen eines nicht vorher (im Studio) platzierten, sondern durch spezielle Medientechniken, also digitale Bildgenerierungsverfahren (de)strukturierten und dabei defizitären Objekts, das sich jeder Anschauung in dem Maße verweigert, wie es sich als (Un)Sichtbares ins Bild rückt und dabei Unterschuss bleibt.

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5 Unheimliche (Schrift)Räume: Das (Haus in) House of Leaves

Na toll, Blair Witch Project auf 800 Seiten. Die Welt So we are reading a story about a story about a story about a film about a house with a black hole in it. New York Times Home Sweet Hole NYT »House of Leaves«, im amerikanischen Original 2000 erschienen, ist Familienroman, Horrorthriller, Literaturwissenschaftssatire, kulturhistorischer Essay, Junkie-Story, Mythenspiel, Ehedrama, Erzählexperiment, Snuff-Gewaltporno und zugleich die ironische Reflexion all dessen: ein metafiktionaler, postmoderner Hypertextroman, der all die Computer-, Netz- und Rhizom-Metaphern einlösen will, von der die Literaturtheorie der letzten Jahrzehnte immer nur träumte. Faz.net Einstürzende Satzbauten ZeitOnline The novel may look like Frankenstein’s Monster in its patchwork assembly, but it’s alive! Washington Post In »Das Haus« läuft das Aufschreibesystem Amok, und 797 turbulente Seiten lang stürzt der Leser von Klippe zu Klippe. Die Welt

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5.1 Einzug 5.1.1 Moving in a Moving House Mark Z. Danielewskis House of Leaves (HoL) ist ein Text, der auf eigenwilige Weise alles zusammenzubauen scheint, was die bisher besprochenen Filme der unheimlichen Architektur unterbreitet haben – und geht mit den Mitteln der Literatur noch über das hinaus, was die Filme mit den Mitteln des Films bewerkstelligt haben. Der Text erschien in Buchform im Milleniumjahr 2000 und wird seit seiner Veröffentlichung als einer der größten, sich zwischen den prima vista eher inkompatiblen Polen von Avantgarde und Popkultur positionierenden Romane des 21. Jahrhunderts gehandelt (vgl. Graulund 2006: 379). Vor dem Druck bereits (unvollständig) im virtuellen Raum des Internets veröffentlicht, avancierte das ungewöhnliche Projekt rasch zum Kultobjekt: Es bildeten sich private Lesekreise, in diversen Foren wurden und werden Fragen zu Personennamen, echten und fiktiven Orten diskutiert und Textabschnitte auf der Suche nach versteckten Codes analysiert; Trailer zu angeblichen Filmprojekten können nach wie vor auf YouTube abgerufen werden und eine riesige Bandbreite an Merchandising von Tassen über Poster bis hin zu Kleidung setzte sich in Gang. Sogar die Haut einiger selbsternannter Hardcorefans bietet Sequenzen und Motive aus Danielewskis Erstlingsroman feil und nicht zuletzt besteht eine Verbindung zum Album Haunted (2000) von Poe1 . Während HoL – das Akronym spricht, wie so viele, die im Buch zu entziffern sind, für sich – die Geschichte einer Familie, die in ein unheimliches, alterierendes Haus(labyrinth) zieht, erzählt, führt es zugleich einen Metadiskurs über eine Bandbreite von Diskursen wie etwa Literatur(theorie), Medizingeschichte, Musik, Zitation, das Unheimliche, Geologie, Nautik, Psychologie, Architektur(geschichte), Physik und nicht zuletzt über das Labyrinth – »eine postmodern-eklektische Aneignung und Zusammenführung zahlreicher Variationen des Themas Labyrinth über dreitausend Jahre Kulturgeschichte hinweg, sowie eine Steigerung der Labyrinthidee ins Unmögliche und Unvorstellbare« (Gehring 2013: 93). Den narrativen Kern von Danielewskis Roman, ein typographischer Ausnahmezustand und dabei konsequenter Sichtungs- und Abschweifungsprozess, bildet die

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Die Sängerin, die sich als Hommage an einen der Gruselautoren des 19. Jahrhunderts Poe nennt, ist Mark Z. Danielewskis Schwester Anne Decatur Danielewski. Zwar sind House of Leaves und das von der Sängerin veröffentlichte Musikalbum Haunted, das auch und vor allem über den Tod des Vaters der Sängerin, dessen Stimme zwischen einzelnen Songs zu hören ist, nachdenkt, je eigenständige Projekte, zeigen sich aber als ineinander verschlungen: Im Roman trifft Erzähler Truant auf eine Band, die sich Liberty Bell nennt und die er in einer Kneipe in Arizona spielen hört. Zu seiner großen Überraschung besingt das Trio den aus HoL bekannten Fünf-Minuten-Flur. Einer der Sänger erklärt auf Johnnys Nachfrage, der Text des Songs sei inspiriert von einem Buch, das im Internet publiziert worden sei; der Gitarrist hat sogar eine bereits gedruckte Variante in seinem Seesack und Johnny staunt nicht schlecht, als er den Titel lesen kann: House of Leaves von Zampanò mit einer Einleitung und Anmerkung von Johnny Truant. In einer paradoxalen Zeitschleife hält Johnny das in den Händen, was allererst durch sein Sichten, Ordnen und Abschweifen entstanden sein wird. Jenes Lied, das in einer Bar in Flagstaff gespielt wurde, existiert – zumindest dem Titel nach – auch auf Poe’s Album Haunted, dessen Trackliste neben 5& 12 minute hallway auch Titel wie Dear Johnny oder House of Leaves aufführt.

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Geschichte der Familie Navidson, die in ein Haus einzieht, das innen größer als außen2 und auch sonst eine »absolute physical absurdity« (Danielewski 2000: 146) ist. Eigentlich von seiner (photo)journalistischen Arbeit Abstand nehmend, richtet sich Pulitzer-Preisträger Will Navidson mit seiner Partnerin Karen und den gemeinsamen Kindern Chad und Daisy in Virginia ein. Sie ziehen gemeinsam mit Hund und Katze in ein altes Haus in der Ash Tree Lane, was Navidson mit zahlreichen im Haus angebrachten Kameras zu dokumentieren beginnt. Nachdem sie einige Wochen nach dem Einzug von einer Reise zurückgekehrt sind, müssen sie feststellen, dass im Elternschlafzimmer im oberen Stock plötzlich eine Schranktür mit angeschlossenem Hohlraum aufgetaucht ist, die eigentlich gar nicht da sein dürfte, ist sie doch im Grundriss nicht eingezeichnet. In early June of 1990, the Navidsons flew to Seattle for a wedding. When they returned, something in the house had changed. Though they had only been away for four days, the change was enormous. It was not, however, obvious – like for instance a fire, a robbery, or an act of vandalism. Quite the contrary, the horror was atypical. […] Upstairs, in the master bedroom, we discover along with Will and Karen a plain, white door with a glass knob. It does not, however, open into the children’s room but into a space resembling a walk-in closet. (Ebd.: 24ff.) Das plötzliche Erscheinen eines zusätzlichen begehbaren Kleiderschrankes wird in dem Roman, in dem das Wort Haus3 konsequent blau4 gedruckt ist, nicht die einzige eigen2

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Die 2017 produzierte Horror-Komödie Dave Made A Maze spielt mit ähnlich ungewöhnlichen Ereignissen: Dave hat mitten in seinem Wohnzimmer ein Labyrinth aus Pappe gebaut, das unergründlicherweise innen deutlich größer (geworden) ist als außen, was seinen Erbauer resignieren lässt: »Ok, I can explain it. I can explain everything – ok, I can’t!« (Watterson 2017: 00:35:36-00:35:39). Als lustiger Mix aus Cube – das Labyrinth ist mit Fallen ausgestattet – und House of Leaves erzählt der Film die Geschichte des gelangweilten Dave, der sich in seinem Labyrinth verirrt hat und nun von einer merkwürdigen Bande, die seine besorgte Freundin angeheuert hat, in einer Rettungsmission, bei der alles mit Videokameras aufgezeichnet wird, wieder gefunden werden soll. Als das Kamerateam im Labyrinth auf Dave trifft, hat es sich bereits verändert, sodass kein Weg an seiner Stelle gewesen sein wird und das Herausfinden zur eigentlichen Mission gerät. Nicht nur avanciert der Romantitel zum bedeutungsschwangeren Akronym, vielmehr ist bereits der Signifikant House im englischen Sprachraum als Akronym für ehemalige oder gegenwärtige DrogenuserInnen bekannt, hatten sie eine oder stecken inmitten einer History of Use, womit der Titel gewissermaßen bereits (auch) über Truant spricht, bevor dieser das erste Mal zu Wort kommt. Die Blauschreibung des Haus-Signifikanten eröffnet eine enorme Bandbreite an Reflexionen: Zunächst erinnert ›ein blaues Haus‹, das innen größer als außen ist, an die Tardis aus der SciFi-Serie Doctor Who, ein durch Zeit und Raum transportierendes Raumschiff in Form einer blauen Polizeinotrufzelle, die im Inneren erstaunlich weiträumig ist, ist sie ein großer Komplex aus verschiedenen Räumen, die sich verschachtelt in Steam Punk-Optik auf unterschiedlichen Ebenen befinden. Daneben drängt sich der Anschluss an Links im Internet auf, die, bevor man ihnen gefolgt ist, blau erscheinen und strukturell als (Lese)Wege ganz ähnlich verfahren wie der Signifikant des Hauses selbst – sie schlagen einen Weg (in eine andere, weiterführende Richtung) ein, dessen Abzweigungen, die wiederum neue Pfade anlegen, unendlich werden können (fast jede/r kennt das Gefühl, nach Stunden des Surfens im Internet nicht mehr genau zu wissen, wo man eigentlich gestartet ist). Zugleich klingt in der Blauschreibung die Blaupause an, die nicht nur ein Kopierverfahren, sondern unter ArchitektInnen vor allem die Konstruktionszeichnung eines Gebäudes meint; ironischerweise scheinen die blauen Buchstaben, aus denen das Haus (als Signifikant) zusammengesetzt ist, der einzig je verfügbare Blueprint eben jenes Hauses zu sein.

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tümliche bzw. unmögliche Veränderung bleiben. Kurz nach dem Entdecken dieser architektonischen Devianz beginnen Will und Karen Nachforschungen über ihr neues Heim anzustellen und beschaffen sich auch die Blaupausen vom örtlichen Liegenschaftsamt, um bei der Vermessung ihrer Immobilie festzustellen, dass »[t]he width of the house inside would appear to exceed the width of the house as measured from the outside by 1 « (ebd.: 30); das Haus geriert sich als »escherhafte Unmöglichkeit« (Zubarik 2014: 256): 4 Es ist innen messbar größer als außen – ganz wie die u.s.-amerikanische Buchversion von HoL, dessen Innengröße ebenso das Außenvolumen übersteigt (die Originalausgabe performiert jenes architektonische Paradox, das sie beschreibt, ist doch der vordere Buchdeckel kürzer als die restlichen Seiten – das Buch ragt über seine eigenen Ränder hinaus). Nach der Ankunft von Navidsons Zwillingsbruder Tom bemerken sie weitere Veränderungen, etwa in Form vergrößerter oder verkleinerter Abstände der Möbel zu den jeweiligen Wänden, ohne jedoch eine Erklärung finden zu können. Billy Reston, ein alter Freund Navidsons, der Jahre zuvor durch ein herabfallendes Kabel an den Rollstuhl gefesselt und nun zur Unterstützung gerufen wurde, ist zunächst noch überzeugt, die Ausrüstung der Brüder sei mangelhaft, muss jedoch nach eigenen Messungen selbst feststellen, dass er nicht erklären kann, was es mit dieser »goddamn spatial rape« (Danielewski 2000: 55) tatsächlich auf sich hat. Mitte Juli schließlich, wenige Monate nach Bezug des neuen Domizils, registriert die Familie eine »new addition to their house« (ebd.: 57), einen licht- und türlosen Flur, der sich an der Nordwand des Wohnzimmers im Erdgeschoss plötzlich aufgetan hat und der so weiträumig ist, dass die Stimmen der Kinder, die sogleich für kurze Zeit darin verschwinden, bevor ihr Vater sie wieder hinausholen kann, Echos erzeugen. Jener Flur bzw. die Öffnung durchwandert die Wände des Hauses, sie wechselt in der Geschichte ihren Platz, sodass nie ganz klar ist, wo die Öffnung zum Flur, die Labyrintheingang ist, sich eigentlich befindet bzw. sich diese genau nicht an einer festen Stelle befindet: Initially the doorway was supposed to be on the north wall of the living room (page 4), but now, as you can see for yourself, that position has changed. Maybe it’s a mistake. Maybe there’s some underlying logic to the shift. Fuck if I know. Your guess is as good as mine. (Ebd.) Die Öffnung durchläuft alle Wände des Hauses: Zunächst wird berichtet, dass sich eine Öffnung an der Nordwand des Hauses (ebd.:4) aufgetan hat. Später soll diese architektonische Unheimlichkeit an der Westwand (ebd.: 57) aufgetaucht sein; in Kapitel 13 wird die Südwand (ebd.: 319) als Ort der neuen Pforte markiert, wohingegen an späterer Stelle die östliche Wand des Hauses (ebd.: 385) diejenige sein soll, an der sich eine Öffnung aufgetan hat. Als Karen schließlich gegen Ende des Romans nach Navidsons Verschwinden ins Haus zurückkehrt, befindet sich die Öffnung (wieder?) in der nördlichen Wand (ebd.:

An den Bluescreen, also eine leere, bespielbare Projektionsfläche, erinnert der Blaudruck ähnlich wie an den blauen Bildschirm nach einem Systemabsturz; John Guares Theaterstück House of Blue Leaves (1966) echot im blauen House of Leaves und die blaue Leinwand, das einzige, was man in Derek Jarmans 76-minütigem Film Blue (1993) zu sehen bekommt, aktiviert ein Nachdenken über die Bedeutungsdimensionen dieser Farbe wie deren Effekte beim Betrachten ähnlich wie Danielewskis prominenter Signifikant.

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415). Eines Tages entwischen sogar Hund Hillary und Katze Mallory in jenen Flur, um wenig später im Garten des Hauses wieder aufzutauchen (vgl. ebd.: 75). Nachdem Navidson auch noch ein beunruhigendes Grollen aus dem kalten Flur wahrnimmt, macht er sich auf, zu erkunden, was in dem Labyrinth, das sich nun innerhalb seines Hauses bzw. als sein Haus5 in unregelmäßigen Abständen ausdehnt und zusammenzieht, vorgeht – stets begleitet von einer Videokamera. Innerhalb des neu aufgerissenen Flures, den Will in einem ersten, 5 12 Minute Hallway benannten Video bebildert und den sein Bruder Tom mit einer Tür, in die er vier Schließriegel einbaut, abzusperren versucht6 , tun sich weitere Gänge, Abzweige, fensterlose Räume und unzählige Türen auf7 . Was an dieser Architektur, die sich innerhalb der Architektur eröffnet hat, frappiert, ist nicht nur ihr unerklärbares Erscheinen, sondern ein modifizierender Grundzug, was Navidson im Video Exploration A, während sich der Flur bereits zu verändern beginnt, noch während er seine ersten Schritte wagt, aufzeichnet. Navidson pushes ahead, moving deeper and deeper into the house, eventually passing a number of doorways leading off into alternate passageways or chambers. […] Still, no matter how far Navidson proceeds down this particular passageway, his light never

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Eine ebenfalls sehr aktive, nach eigenem Interesse handelnde Architekt(e)ur(in) bekommen ZuschauerInnen in Das Haus (2021) von Rick Ostermann zu sehen: In einer nahen Zukunft, in der eine rechtsextreme Partei an die Macht zu kommen droht, bezieht das Ehepaar Hellström, gespielt von Tobias Moretti und Valery Tscheplanowa, ihr großzügiges Anwesen auf einer nicht weiter benannten Insel. Das Haus, in dessen Keller ein verdächtig an den Boardcomputer des Raumschiffs Discovery – HAL 9000 – aus 2001 (1968) erinnernder Zentralcomputer platziert ist, sorgt sich vor allem um die Belange von Johann Hellström, ist dieser schließlich als Hauptbewohner im System eingetragen; es beginnt daher allmählich, Ansprüche und Verhalten von Lucia Hellström zu missbilligen, was es am Ende soweit treibt, einen Mord zu begehen: Es lockt seine Opfer – Mandanten Lucias, die in der linken Szene aktiv sind und vom zukünftigen Regime in den Medien für Anschläge, die sie nicht begangen haben, mit gefälschten Beweisen verantwortlich gemacht werden – durch das automatische Öffnen und Schließen der überall im Haus installierten Schiebetüren in die Sauna, um sie dort qualvoll verbrennen zu lassen. Zunächst geschockt vom eigenmächtigen Handeln des Hauses, bleibt Johann Hellström schließlich allein in eben diesem zurück, da es trotz mehrmaliger Aufforderung seines Hausherren, die Terrassentür zu öffnen, vor der seine Frau eine Nacht lang kauert, nicht reagiert und sie schließlich auf einem Boot nach England flieht. Das Haus blickt, lauscht, bestellt Essen, führt seinen Besitzer zu versteckten Dingen und Dateien und durchstößt dabei immer wieder die Grenzen der eigenen Möglichkeiten – kurz: Es avanciert zum unheimlichen Akteur, dessen Begehren dem seines Besitzers voraus ist. Noch während Tom die Tür zum Flur einbaut, wächst dieser weiter: »During all this, Tom earns his keep by installing a door to close off that hallway. […] Last but not least, he puts in four Schlage dead bolts and colour codes the four seperate keys: red, yellow, green and blue. […] As the dead bolts glances the strike plate, the resulting click creates an unexpected and very unwelcome echo. Slowly, Tom unlocks the door and peers inside. Somehow, and for whatever reason, the thing has grown again.« (Danielewski 2000: 61). Melina Gehring schlägt im Zusammenhang mit der Idee, der Navidsons Haus als Chronotopos nach Bachtin zu klassifizieren den Begriff des selbstrekonfigurativen Labyrinths vor: »Indem das sich ständig verändernde Labyrinth nicht bewusst gesteuert werden kann und jene, die es erkunden, angreift, ist es nicht nach Monika Schmitz-Emans’ Typ des mobilen Labyrinths zuzuordnen, sondern erfüllt die Kriterien der hier neu etablierten Sonderform des selbstrekonfigurativen Labyrinths.« (Gehring 2009: 330).

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comes close to touching the punctuation point promised by the converging perspective lines, sliding on and on and on, spawning one space after another, a constant stream of corners and walls, all of them unreadable and perfectly smooth. Finally, Navidson stops in front of an entrance much larger than the rest. It arcs high above his head and yawns into an undisturbed blackness. His flashlight finds the floor but no walls and, for the first time, no ceiling. Only now do we begin how big Navidson’s house really is. (Ebd.: 64) Obwohl am Haus selbst keine Risse oder Abschürfungen bemerkbar sind, haben innerhalb des Flures permanent räumliche Transformationen statt; mal ist der sich immer wieder (neu) verschachtelnde Flur so groß, dass das Licht von Navidsons Taschenlampe zwar auf den Boden unter ihm fällt, nicht aber die Wände erreicht, die endlos entfernt zu sein scheinen, ein anderes Mal ist der Raum hinter der Tür geschrumpft oder hat sich zusammengezogen, die »changing nature of the house« (ebd.: 164) exponierend. Im Flur selbst gibt es keine Fenster, keinen Luftzug, keine Steckdosen oder Lichtschalter und Spuren, die man hinterlässt, werden gelegentlich absorbiert (das Haus reinigt sich von Neonmarkierungen, die in Expeditionen vergebens zur Orientierung angebracht werden und verschlingt scheinbar auch Proviant aus einem Zwischenlager, es besitzt »expurgating qualities« (ebd.: 124)). Navidson bewegt sich durch eine verlässliche Raumkonstanten widerstreitende, ihnen zuwiderlaufende Architektur, die sich auf unerfassbare Weise verschiebt, sodass kein Weg derselbe gewesen sein wird. Nur einige Minuten nach Beginn seines Alleingangs, er hatte einen Penny als Orientierungshilfe auf dem Boden an einer Abzweigung liegen lassen, ist der Raum, in den er (zurück)kehrt, bereits ein anderer; diese ›Veranderung‹ der Architektur, die in sich selbst mäandert und so das Heim zum Unheim verschiebt bzw. verunheimlicht, lässt Will – Navy genannt – panisch und ängstlich werden: Only now he discovers that the penny he left behind, which should have been at least a hundred feet further, lies directly before him. Even stranger, the doorway is no longer the doorway but the arch he had been looking for all along. Unfortunately as he steps through it, he immediately sees how drastically everything has changed. The corridor is now much narrower and ends very quickly in a T. He has no idea which way to go, and when a third growl ripples to that place, this time significantly louder, Navidson panics and starts to run. (Ebd.: 68) Enerviert rennt Navidson durch sein hauseigenes Labyrinth und ist der Erste, »who discover[s], how that place also seems to constantly change« (ebd.); Sicht und Übersicht verweigernd, entlässt das Labyrinth in ein sich veränderndes Netz aus Pfaden, Gassen und Abzweigen, die jederzeit auch anderswo sein können und deren Ausmaße nur zu erahnen sind. Nach einiger Zeit des Umherirrens findet er schließlich zurück ins Wohnzimmer – der Beginn einer Kette von Erkundungen8 , die nicht alle überleben werden. Je8

Ein ähnliches Szenario kennt man aus H.P. Lovecrafts The Shunned House (1924); in der Kurzgeschichte geht (eine Figur namens) E.A. Poe während seiner Brautwerbung jeden Morgen an einem merkwürdigen Haus vorbei, ohne je Notiz von ihm zu nehmen, geschweige denn selbst darüber zu schreiben, obwohl dieses Haus »equals or outranks in horror the wildest phantasy of the genius who so often passed it unknowingly, and stands starkly leering as a symbol of all that is unutter-

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ne bei dieser und den weiteren Expeditionen mitgeführte Kamera wie die im Haus fest installierten zeichnen so das Material, aus dem später das viel gesehene und heiß diskutierte Video namens The Navidson Record (TNR) geschnitten wird, permanent auf. Will, sein Bruder Tom und Billy Reston werden bei ihren darauf folgenden Explorations durch die sich stets verstellende Umgebung von Josh Holloway, einem »professional hunter and explorer« (ebd.: 80) und dessen beiden Angestellten, Jed Leeders und Kirby ›Wax‹ Hook unterstützt. Vermittelt wird diese Geschichte jedoch von Johnny Truant, der mit den Navidsons überhaupt nichts zu tun hat9 . Truant, ein in einem Tätowierstudio arbeitender Junkie, findet wiederum in der Wohnung eines gewissen Zampanò, der anscheinend blind ist und daher der Hilfe von Erzählerinnen und Vorleserinnen bedurfte, eine Truhe mit Aufzeichnungen, Beschreibungen und Rezensionen zu jenem – mittlerweile verschwundenen – Video, das Navidson in Haus und Garten fabriziert hat; das zu Beginn von Truants Editionsarbeit bereits verschollene Video The Navidson Record ist (ähnlich wie das Haus, in dem die Navidsons leben) demnach nur in diesem seinem Entzug gegeben. Die gesammelten Kommentare, ekphrastische Beschreibungen sowie anderweitige An- und Bemerkungen, die in der Kiste wild durcheinander lagern, stammen dabei nicht nur von Zampanò selbst, es haben sich auch Fans, LiteraturwissenschaftlerInnen und KritikerInnen zu dem Film, der wohl als eine Art found footage in die Kinos gelangte, geäußert.

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ably hideous« (Lovecraft 2014: 312). Jenes gemiedene und seit nunmehr über 60 Jahren leerstehende Haus in Providence zeichnet sich durch eine »noxious quality« (ebd.: 314), eine »morbid strangeness« (ebd.) wie eine »eldritch athmosphere« (ebd.) aus, ist umgeben von ungepflegtem Rasen und wird allmählich von Würmern zerfressen; der Putz bröckelt von der Außenmauer auf den angrenzenden Gehsteig der Benefit Street, das Holz der Fensterrahmen blättert ab und die Eingangstür ist halb zerfallen; im von einem fauligen Geruch durchzogenen Inneren stehen einige von den VorbesitzerInnen zurückgelassene Möbel, die Tapete schält sich bereits von den spinnenwebenverhangenen Wänden, die ihrerseits ähnlich wie Treppen und Fußböden klamm und morsch geworden sind. Zwar galt es unter BewohnerInnen von Providence nie als Spukhaus, dennoch starben und erkrankten in dieser 1763 auf einem ehemaligen Friedhofsgelände erbauten Villa im Kolonialstil mit ihren »uncanny shapes and distorted, half-phosphorescent fungi« (ebd.: 324) ungewöhnlich viele Menschen – diese »radically unhealthful nature« (ebd.: 319) des Hauses veranlasst den Erzähler, die alten Notizsammlungen seines Onkels Dr. Elihu Whipple durchzugehen; die ungeordnete Sammlung aus handgeschriebenen Notizen, Arztberichten, Zeitungsausschnitten, Sterbeurkunden und Aussagen von ehemaligem Dienstpersonal legt eine beunruhigende Chronik voller »tenacious horror and preternatural malevolence« (ebd.: 316) nahe. Ausgestattet mit wissenschaftlichem Gerät, darunter Flammenwerfer und Schattenkreuzröhre, zur Untersuchung der unheimlichen Architektur wollen Onkel und Neffe ähnlich wie das Team um Will Navidson einige Tage zu Erkundungszwecken im Keller des Hauses verbringen – aber nur einer von beiden wird wieder hinausgelangen. Oder doch? Kurz bevor Truant aus dem Hotel, in dem er weiter an seinem von ihm bereits als Buch bezeichneten Manuskript gearbeitet hat, verschwindet, um wenig später in einer Bar auf eine Band mit einem Exemplar von HoL zu treffen, begegnet er einem Husky, der durchaus Hillary sein könnte: »A while ago a great big gray coated husky emerged out of nowhere and started sniffing my clothes, nudging my arm and licking my face as if to assure me that though here was no fire or hearth, the night was over and the month was August and nothing close to seventy below would threaten me. After petting him for a few minutes, I walked with him around the park. He sprinted after birds while I stretched the sleep out of my legs.« (Danielewski 2000: 514f.).

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Zampanò, »a graphomaniac« (ebd.: xxii) stirbt noch während der Arbeit an seiner Monographie über TNR, die mehr Ansammlung als Manuskript ist. Aus all diesen (nicht immer lesbaren) Schnipseln an Informationen wird dann schließlich der LeserInnen vorliegende Text gezimmert, bei dem ebenso Korrekturen und Ergänzungen geleistet, Kommentare gebracht und Fußnoten10 angehängt werden, um in diesem Prozess auch die Geschichte Truants, die wiederum von seiner Editionsarbeit beeinflusst wird11 , mitzuerzählen. Truants Einschübe (die LeserInnen oft direkt ansprechen, sie voraussetzen) in Form von Fußnoten unterbrechen dabei Zampanòs selbst als Kommentar daherkommenden Text, lassen ihn abreißen, wodurch das Lesen immer wieder in Verzögerung gerät, insofern sich anderes Zu-Lesendes dazwischenschiebt, etwa wenn sich Truant, der schließlich selbst verschwunden sein wird, immer wieder in Zampanòs Aufzeichnungen in Form eigener Erzählungen aus dem Alltag eines Junkies einschreibt. Der Text blockiert sich auf diese Weise selbst und veranlasst seinen eigenen Aufschub, eine Verzögerung, lässt auf sich warten, setzt sich aus, unterbricht (sich) und erinnert dabei an die Labyrinthik evozierende Manier des Jump Cut, insofern die Fußnoten, die Johnny Truant an die Geschichte des von Zampanò analysierten TNR heftet, ein filmisches Verfahren signieren. Inspiriert von Einzelworten oder Zitaten in Zampanòs Text fügt der paranoide Junkie teils seitenlange, den eigentlichen Haupttext überschattende, Kommentare und Anmerkungen diverser Art ein. Das abrupte Abreißen der (eigentlichen) Erzählung erinnert an den Jump Cut; die Strategie des raschen Umschnitts ist in HoL jenes AbreißenLassen, das durch den Einschnitt von Truants Bemerkungen evoziert wird. Wie im Film von einem Bild auf das andere in rasanter Manier gesprungen wird, so schnellt man in 10

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Besonders seit den 1990-er Jahren haben sogenannte, Rand(bemerkungen) zum Konstituens erhebende Fußnotenromane, in denen Anmerkungspraktiken zum instituierenden Verfahren avancieren, Hochkonjunktur (vgl. Zubarik 2014: 25). Romane wie John Barths Sabbatical aus dem Jahr 1982 oder Terry Pratchetts dutzendfach erschienene, in der Scheibenwelt spielende Romane wie etwa Maskerade (1995) oder Snuff (2011), die mal humoristisch und mal auf dramatische Weise mit Fußnotenapparaten umgehen, halten den (vermeintlich) eigentlichen Haupttext in Absenz und setzen sich nahezu ausschließlich aus kommentierenden, ergänzenden und widersprechenden Fußnoten zusammen, darunter auch Dag Solstads 2006 erschienener Roman Armand V. Fußnoten zu einem unausgegrabenen Roman, darin die Geschichte der Beziehung des norwegischen Diplomaten Armand zu seinem in den Irakkrieg ziehenden Sohn erzählt wird oder aber den vermeintlichen Haupttext als weiße Fläche inszenierenden Roman L’Interdit (1986) aus der Feder Gérard Wajemans. Ebenfalls nur aus Fußnoten sich arrangierende Texte sind Jenny Boullys The Body: An Essay aus dem Jahr 2003 oder auch Mark Dunns IBID: A Life. A Novel in Footnotes, das ein Jahr später erschien; der wohl früheste als Anmerkung simulierte, also einen Haupttext aussparende, Text ist der 1745 erschienene Hinkmars von Repkow Noten ohne Text von Gottlieb Wilhelm Rabener, wo Randnotizen sich bereits nicht mehr an den Rand drängen lassen bzw. der Kommentar dem Kommentierten vorgängig zu werden scheint. Truant gerät etwa in Unruhe, als er an eine Übersetzung des Unheimlichkeitsparagraphen Heideggers gelangt, die er zuvor nur im deutschen Original abgeschrieben hatte; die Arbeit am Bericht über das verschollene Video TNR greift ein in Truants bisheriges Leben und führt soweit, dass er schließlich sein Zuhause verlassen wird. »The point is, when I copied down the German a week ago, I was fine. Then last night I found the translation and this morning, when I went to work, I didn’t feel at all myself. It’s probably just a coincidence–I mean that there’s some kind of connection between my state of mind and The Navidson Record or even a few arcane sentences on existence penned by a former Nazi tweaking on who knows what.« (Danielewski 2000: 25).

5 Unheimliche (Schrift)Räume: Das (Haus in) House of Leaves

Danielewskis Text von einem Erzählstrang zum nächsten. Der springende Schnitt wird zum unterbrechenden Abriss – der ein Abriss in doppelter Weise ist: Er zeigt sich als Abreißen des Erzählflusses sowie als Abhandlung, als verkürzte Aufzeichnung, also als ›Abriss des Truant‹ (überdies arbeitet auch TNR mit schnellen Schnitten, die eine Übersicht erschweren (vgl. etwa Danielewski 2000: 188)). Dieses Hin und Her lässt ebenso an die Bewegungen, die man in einem Labyrinth vollzieht, denken, sodass HoL in der Tradition labyrinthischer Texte, »die durch ihre materielle Gestaltung an Spielformen realisierter Labyrinthe anknüpfen und dabei implizit oder explizit an die Bedeutungsgeschichte des Konzepts ›Labyrinth‹ erinnern« (Schmitz-Emans 2011: 281), steht.

Abbildung 1: Selbst erstellte Graphik

Die (fiktiven) Herausgeber des Romans, die nach eigenen Angaben nie persönlich auf Truant getroffen sind, melden sich nur an wenigen Stellen zu Wort; meist handelt es sich um korrigierende Einschübe, die eine Fehlangabe oder Fehlübersetzung Truants berichtigen sollen, wobei die Konjekturen der Herausgeber mehr verunsichern als erhellen. Im Anhang schließlich findet sich diverses Material, darunter die (mittlerweile auch eigenständig publizierten) Briefe von Truants geisteskranker Mutter Pelafina (deren Nachname Lievre bereits auf ein dem Kontinuierlichen eine Absage erteilendes HakenSchlagen hinweist, wobei Hasen bereits auch ohne verfolgt zu werden unregelmäßig prophylaktische Sprünge zur Seite vollziehen, also auch ohne JägerInnen dem Schlin-

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gern verpflichtet sind) und die sogenannten Pelikan-Gedichte; jede Stimme des Textes kommt in ihrer eigenen Typographie daher, doch dazu später mehr.

5.1.2 Moving Houses: Shining Examples HoL ist nicht der erste Roman bzw. der nie gesehene, fiktive Navidson Record nicht der erste Film, die eine(n) labyrinthische(n) Architekt(e)ur ins Zentrum des Erzählten oder Gezeigten rücken; vielmehr schöpft Danielewskis Roman aus einem Repertoire, einem Archiv bereits existierender labyrinthischer Häuser, die das Spatiale zugunsten des Unheimlichen ausspielen, wie etwa das Overlook Hotel in Stephen Kings 1977 publizierten Roman The Shining, in dem ein in den Bergen Colorados gelegenes Gästehaus zum »maze of corridors« (King 2007: 469), dessen Gänge sich verzweigen und überlagern, aszendiert. Auch das Winchester Haus, von dessen Architektur sich das Navidson-Haus zweifellos inspiriert zeigt, eine noch heute bekannte Touristenattraktion in Form eines HausLabyrinths in San José im Staate Kalifornien, gibt sich konstitutiv beweglich. Die einstige Besitzerin, Sarah Winchester, ließ bis zu ihrem Tod nicht zu, dass das Haus sich nicht veränderte, wie in Paul Austers The Locked Room (1987), dem dritten Roman der New York Trilogie, in dem ein namensloser Erzähler die noch nicht edierten Texte eines vermeintlich toten Freundes zur Veröffentlichung bringen soll, zu lesen ist: Or Mrs Winchester, the widow of the rifle manufacturer, who feared that the ghosts of the people killed by her husband’s rifles were coming to take her soul – and therefore continually added rooms onto her house, creating a monstrous labyrinth of corridors and hideouts, so that she could sleep in a different room every night and thereby elude the ghosts, the irony being that during the San Francisco earthquale of 1906 she was trapped in one of those rooms and nearly starved to death because she couldn’t be found by the servants. (Auster 2011: 255) Sie verfügte wegen einer rätselhaften Prophezeiung das ständige Um-, An- und Weiterbauen ihres herrschaftlichen Wohnsitzes, das die Skurrilität wie Kuriosität der Architektur maßgeblich beeinflusst. Einerseits bleibt ein fest-stehender Grundriss versagt, andererseits sind die Umbauten selbst abstrus, grotesk, bizarr: Es gibt (buchstäblich verstiegene) Treppen, die kurz unter der Decke aufhören oder in diese hineinzulaufen scheinen; ähnlich wurden Gänge konstruiert, die zunächst nur hinabführen, um schließlich wieder hin zu anderen Zimmern aufzusteigen, wobei viele Räume nur dann zugänglich sind, wenn man vorher ein Labyrinth aus vorgelagerten, in sich verschachtelten Räumen passiert oder gar durch eine Schranktür hindurchsteigt. Etliche Türen des WinchesterHauses wiederum führen nicht in einen (anderen) Raum, sondern lassen auf dahinterliegende Wände stoßen oder eröffnen einen Abgrund, in den man zu stürzen droht. Von architekturalen Modifikationen des Winchester Anwesens12 nicht uninstigiert zeigt sich 12

Den eineiigen Zwillingen Peter und Michael Spierig diente der Mythos um das historische Haus als Vorlage ihres 2018 produzierten Horror-Films Winchester: The House That Ghosts Built, in dem Protagonistin Sarah Winchester, verkörpert von Helen Mirren, zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem nie stillstehenden Bauprojekt lebt: Die sich über mehrere Etagen erstreckende Villa im viktorianischen Stil mit mehreren hundert in sich verschachtelten Zimmern versammelt die Geister all derjenigen, denen einst mit einem Winchester-Gewehr das Leben genommen wurde und be-

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wiederum das bereits erwähnte Hotelgebäude in Stephen Kings The Shining, wo Korridore, weit über 100 Gästeräume, Flurnischen, Treppen, Boden- und Wandteppiche sowie Zimmerdecken, Türen und Fenster bis hin zu den im Garten gestalteten Heckentieren des Horrorhauses zu den eigentlichen Akteuren, die schnappen, greifen, jagen, avancieren. Das ins Dunkel des Winters gehüllte Overlook Hotel, in das Familie Torrance – Mutter Wendy, Vater Jack und der paranormal begabte Sohn Danny13  – einzieht, als nahezu das gesamte Personal die Ferienanlage14 verlässt, moduliert zum Übersicht verweigernden, Geister von Toten15 beheimatenden Labyrinth, das in seinen Kellerräumen ein Archiv aus diversen Dokumenten zur eigenen, mysteriösen Geschichte feilbietet. Das aus fünf Stockwerken bestehende und von Robert Townley Watson, dessen Enkel nach wie vor dort als Hausmeister arbeitet, unter widrigen Umständen errichtete Haus floriert in den Sommermonaten als beliebtes Hotel16 und wird im kalten Winter stillgelegt. Anfang

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findet sich ständig im Umbau. Ein laudanumabhängiger Psychiater soll der geistigen Gesundheit der vermeintlich verrückten (und dabei verrückenden) Protagonistin nachspüren und dabei zu seinem eigenen Erstaunen merken, dass die Geistergeschichten nicht nur Geschichten sind. Danny Torrance arbeitet später im Helen Rivington House, einem Altersheim, in dem er durch seine einfühlsame Art als Sterbebegleiter die Bezeichnung Doctor Sleep erhielt (vgl. King 2013: 161), wobei dieser Name zugleich Titel des 2013 erschienenen Fortsetzungsromans von The Shining ist, der bereits drei Jahre nach dem Verlassen des Hotels einsetzt und sich bis ins Erwachsenenalter des nach wie vor unter dem dort Erlebten leidenden Dannys spannt. Wie einst sein Vater Jack mit Alkoholproblemen kämpfend, kehrt er schließlich 40 Jahre nach dem Explodieren des Overlook Hotels an diesen Ort zurück, da sich dort die Mitglieder der Gruppe True Knot, eine Art Sekte, die paranormal begabte Kinder jagt, befindet – und die Danny zur Strecke bringen will. Fun Fact: Im Stanley Hotel, das wohl zu den Inspirationsquellen Stephen Kings gehörte, sind sowohl Stanley (!) Kubricks Verfilmung als auch die Ende der 1990-er Jahre entstandene Miniserie The Shining jederzeit für Gäste abrufbar; seit 2015 besitzt die Hotelanlage wohl als Reminiszenz an die berühmte letzte Szene der Kubrick-Adaption, in der Danny Torrance durch ein verschneites Labyrinth tappt und sein Vater schließlich darin erfriert, sogar ein ausgeklügeltes Heckenlabyrinth. Einen Konnex von Tod, Unheimlichkeit und Hotelräumen führt auch der 2020 unter Regie von Sebastian Marka entstandene Film Exit vor, dessen einziger Handlungsort ein (fiktives) Hotel in Tokio ist (wobei die Fiktivität auf mehreren Ebenen ausgespielt wird), in dem die Verhandlungen zur Vermarktung einer speziellen Virtual Reality-Software namens Infinitalk, die gewissermaßen den Tod durch Virtualisierung des Geistes aufhebt, stattfinden. Einer der EntwicklerInnen, der zu Beginn des Films bei einem Telephongespräch mit seiner bereits verstorbenen Mutter gezeigt wird, muss schließlich erkennen, dass er bereits während der mittlerweile über dreißig Jahre zurückliegenden Verhandlungen den Tod fand und nur noch innerhalb einer arrangierten Simulation existiert, die regelmäßig zurück an ihren eigenen Anfang springt, sodass es gilt, einen Ausgang aus diesem speziellen Labyrinth zu finden. In ein ähnlich unheimliches Hotel(zimmer) zieht Mike Enslin in Kings 1408; der Autor zahlreicher, Paranormales als Humbug abschreibende Bücher, arbeitet gerade an einer seiner nächsten Veröffentlichungen, als er in das Dolphin Hotel in New York City zieht, genauer in das Zimmer mit der Nummer 1408, das als einziges noch mit einem Schlüssel statt mit einer Magnetkarte geöffnet werden muss und in dem es angeblich spukt. Zwar wird Enslin eindringlich vom Hotelbesitzer Olin gewarnt, nicht in diesem Zimmer im 13. Stock zu übernachten, schlägt dessen Bedenken jedoch aus und bezieht den Raum, in dem bereits zahlreiche Menschen entweder durch eigenes Handanlegen oder das Verschulden Dritter zu Tode gekommen sind. Bereits beim Betreten des Zimmers verflüchtigt sich seine Überzeugung, alles ginge mit normalen Dingen zu, hängt die Tür mal verzerrt im Rahmen, um nur einen Wimpernschlag später wieder vollkommen gerade zu sein. Er wird nur 70 Minuten in dem Zimmer, dessen Wände sich wie die Haut eines Toten anfühlen (vgl. King

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des 20. Jahrhunderts erbaut, ereigneten sich dort unter schnell wechselnden EigentümerInnen immer wieder brutale Morde, merkwürdige Unfälle und seltsame bis tragische Suizide, an denen das Hotel, zeitweise durchzogen von einem »pounding thunder« (King 2007: 156), selbst mitgewirkt17 zu haben scheint. Jack, arbeitsloser Lehrer, durchaus zu körperlicher Gewalt neigend und als Autor von einigen Kurzgeschichten eher mäßig erfolgreicher Schriftsteller, will in den Wintermonaten nicht nur seiner Tätigkeit als Hausmeister nachgehen18 , sondern auch sein Stück The Little School fertig stellen, währenddessen sein fünfjähriger Sohn das Lesen lernen soll. Unterdessen moduliert das Overlook Hotel zum architektonischen Organismus, etwa wenn Danny im Garten umherstreift und das Hotel »seeming to stare at him with his many windows« (ebd.: 318) oder in dem Moment, als Wendy »could see that the carpet pattern appeared to move, swaying and twining sinously« (ebd.: 452f.) oder zu der Zeit, als der eigentlich beurlaubte Hotelkoch Dick Halloran mit dem Schneemobil fliehen will und »[t]he hotel seemed to surge toward it« (ebd.: 461), währenddessen die »hedge animals, all of them, were clustered at the base of the Overlook’s steps, guarding the way in, the way out« (ebd.). Das Hotel19 schließlich

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2011: 497) und die sich bedrohlich zu bewegen scheinen, verbringen und dabei eine Tonbandaufnahme aufzeichnen, die eher Verwirrung stiften als Klarheiten erzeugen wird. Ein selbst zum unheimlichen Akteur avancierendes Haus ist auch Protagonist in Robert Wises 1963-er Produktion The Haunting (36 Jahre später kommt eine weitere Adaption von Shirley Jacksons Roman unter gleichem Namen und unter Regie Jan de Bonts weltweit in die Kinos; mit The Haunting of Hill House veröffentlichte Netflix die von Mike Flanagan gestaltete Serie 2018): In der Tradition der Gothic Novel wird ein kolossaler und dabei eigene Interessen verfolgender Landsitz an der Ostküste der USA zum Ort eines Experiments des Parapsychologen John Markway. Dieser konnte die aktuelle Eigentümerin überzeugen, ihm das Gebäude zur Erbringung des Beweises der Existenz des Übersinnlichen für einige Zeit zu überlassen; verschiedene von Markway geladene Gäste, die sich teils schon bei ihrer Ankunft von dem schweren Gebäude beobachtet fühlen, sollen ihm dabei dienlich sein. Dass das Haus selbst aktive(r) Architekt(e)ur und dabei blickend ist, wird besonders in einer Szene deutlich, in der die junge Eleanor Lance in den mit schnörkeligen Blattreliefs verzierten Wänden des steinernen Hauses ein sie durchdringend anstarrendes Auge aufgehen sieht, während aus den Gemäuern das Weinen eines Kindes zu hallen scheint. Dieser dringend benötigte Job wurde Jack Torrance, der zuvor regelmäßig betrunken zum Unterricht erschien und schließlich sogar einen Schüler krankenhausreif prügelte, von einem alten Freund vermittelt – zumindest scheint dies zunächst der Fall zu sein, bis der Kellner Grady, der wiederum ein Doppelgänger jenes ehemaligen Hauswarts Grady, der seine Frau und seine beiden Töchter im Overlook Hotel auf grausame Weise ermordete, ist, Jack zu verstehen gibt, dass das Hotel sein eigener Manager ist und entsprechend dafür verantwortlich zeichnet, dass Jack hier angestellt wurde bzw. immer schon sein Angestellter war. »›You’re the caretaker, sir,‹ Grady said mildly. ›You’ve always been the caretaker. I should know, sir. I’ve always been here. The same manager hired us both, at the same time.‹ […] ›The manager,‹ Grady said. ›The hotel sir. Surely you realize who hired you, sir.‹« (King 2007: 387). Entsprechend bemerkt Thomas Allen Nelson in seiner Monographie zu Stanley Kubrick: »Wie ein gesichtsloser, allgegenwärtiger kafkaesker Staat bemächtigt sich das Overlook Jacks Seele und verpflichtet ihn als seinen lebenslänglichen Hausverwalter und offiziellen Biographen« (Nelson 1984:274). Sleep No More der von Felix Barrett 2000 gegründeten britischen Theatergruppe Punchdrunk lässt mehrfach verschiedene Gebäudekomplexe in verschiedenen Städten zum labyrinthisch verschachtelten Bühnenraum avancieren, bei dem ZuschauerInnen, die dazu angehalten sind, während der Performance Masken zu tragen, selbst entscheiden, welchen Szenen sie in welchen Räumen auf welchen Etagen zusehen und welchen nicht (vgl. Snider 2012: 15ff.), sodass auch immer

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wird zum »Tat/Ort« (Binotto 2013a: 14) einerseits, weil Jack mit einem Roque-Schläger bewaffnet versuchen wird, seine Familie zu töten und andererseits, weil es selbst als tätiger Ort, als unheimlich vitalisierte(r) Architekt(e)ur in Erscheinung tritt, die bzw. der »wanted Danny, maybe of all them but Danny for sure« (King 2007: 307) und die »really didn’t want them out of there. Not at all. The Overlook was having one hell of a good time« (ebd.: 308). Jack Torrance, der sich mit Danielewskis Johnny Truant nicht nur die Initialen teilt, kommt diesem insofern gleich, als beide zu Auf-Lesern einer maßlosen, zu ihrer Bearbeitung drängenden Materialsammlung werden. Jack findet im Keller des Overlook, in dem ein riesiger Heizkessel, dessen Druck er regelmäßig kontrollieren soll, untergebracht ist, eine Fülle an Papieren, alten Photographien, verstaubten Kisten, eine in Leder gebundene Sammelmappe und »something that seemed to be a poem, scribbled on the back of a menu in dark pencil« (ebd.: 235), die ihn schließlich gegen den Willen des aktuellen Mitinhabers Al Shockley dazu veranlassen, ein Buch über die Geschichte des Hotels verfassen zu wollen und »[h]e would write it because the Overlook had enchanted him – could any other explanation be so simple or so true? […] He would write it because he felt he had to« (ebd.: 244), woraufhin er sich zwar langsam, aber stetig verändert und sich einmal mehr dem Junkie Truant aus House of Leaves anähnelt: Er wird zunehmend blasser, fahriger und sieht kränklich aus, er verliert an Gewicht und raucht mehr; er beginnt, Angewohnheiten aus seiner Trinkerzeit wie das Abtupfen seines Mundes mit einem Taschentuch wieder aufzunehmen und fängt auch wieder an, Exedrin zu kauen. Er zeigt sich an den zufällig gefundenen Archivalien20 zunehmend mehr interessiert als

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etwas nicht gesehen werden kann und sich für jeden Besucher und jede Besucherin ein je eigener Weg durch die von Punchdrunk gestalteten, auf mehrere Stockwerke verteilten Räume ergibt. In dem innovativen, etwa dreistündigen Theaterexperiment/-event wird Shakespears MacBeth als multimediales Erlebnis inklusive Hitchcock-Soundtrack, Nebelanlagen, Lasershow- und Tanzeinlagen sowie Stroboskoplicht zum Besten gegeben, wobei SchauspielerInnen, deren Kostümierungen sich an Outfits der DarstellerInnen des expressionistischen Kinos wie des Film Noir orientieren und die nahezu kaum sprechen, in einem bestimmten Rotationsverfahren ihre Positionen regelmäßig wechseln, sodass ZuschauerInnen sich beispielsweise auch dazu entscheiden können, einem bestimmten Schauspieler oder einer bestimmten Schauspielerin auf den Fersen zu bleiben – ein Verfahren, dass der norwegische Horror-Film Kadaver aus dem Jahr 2020 aufgreift, wenn er seine ProtagonistInnen durch ein Hotel, in dem angeblich eine Theaterperformance à la Sleep No More aufgeführt wird, schickt und die feststellen müssen, dass sie in ein Schlachthaus geführt worden sind, in dem ZuschauerInnen buchstäblich zu Hackfleisch verarbeitet (und den ZuschauerInnen der nächsten ›Aufführung‹ als Festmahl vorgesetzt) werden. Der junge Konservator Dan Turner, der eigentlich in einem Museum Rollen längst verschwunden geglaubter Kinofilme bearbeitet, soll in der 2022 bei Netflix veröffentlichten Serie Archive 81 vom Feuer zerstörte Videokassetten restaurieren, die wiederum selbst, wie sich im Laufe der bislang acht Folgen herausstellt, mit einem verschollenen Film in Verbindung stehen. Für die zeitintensive Arbeit bezieht er den von seinem mysteriösen Auftraggeber Davenport bereitgestellten Betonbau mitten im Wald, in dem nicht nur er diverses Material sichtet und wiederherstellt, sondern auch ständig von unzähligen Kameras beobachtet wird, bis schließlich die Grenze der Zone vor dem Bildschirm und der Bildschirmzone selbst brüchig wird. Er bearbeitet die found footage-Aufnahmen der Doktorandin Melody Pendras, die gerade (auf der Suche nach ihrer Mutter) in das Visser-Gebäude in Manhattan, New York gezogen ist, in dem scheinbar von BewohnerInnen ein obskurer Kult gepflegt wird und das Mitte der 1990-er Jahre niederbrannte und dabei bis auf ange-

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an der Fertigstellung des eigenen Stücks, sodass er schließlich sogar trotz einsetzenden Schneetreibens in die Bibliothek des etwa 50 Kilometer entfernten Sidewinders fährt, um weiterreichende Recherchen über das Overlook, in dessen Hotelgarten eine Miniaturversion von sich selbst steht, anzustellen. He flickered the light around, whistling tunelessly between his teeth. There was a scale-model Andes range down here: dozens of boxes and crates stuffed with papers, most of them white and shapeless with age and damp. Others had broken open and spilled yellowed sheaves of paper onto the stone floor. There were bales of newspaper tied up with hayrope. Some boxes contained what looked like ledgers, and others contained invoices bound with rubber bands. Jack pulled one out and put the flashlight beam on it. […] There was history there, all right, and not just in newspaper headlines. It was burried between the entries in these ledgers and account books and room-service chits where you couldn’t quite see it. […] He walked slowly between the mountains of paper, his mind alive and thicking […]. (Ebd.: 168f.) Wie Truant ist auch Torrance nicht immer in der Lage, die Papiere vollständig zu entziffern, etwa wenn »a note begun and left unfinished in faded blue ink« (ebd.: 235). Jack jedoch wird sein Projekt nicht beenden, schließlich verbrennt er vorher in dem durch eine Gasexplosion gesprengten Overlook und bleibt sein ewiger Gast21 . Als er im Overlook in die Luft gejagt wird, scheint dies bereits sein zweiter Tod zu sein, fügt Wendy ihm doch zuvor bei einem Kampf eine tödliche Stichwunde zu, was Jack, bevor er seine Frau weiter mit dem Roquet-Schläger durch die Stockwerke des Hotels jagt, mit den Worten »You bitch. You killed me« (ebd.: 443) kommentiert; das Hotel selbst scheint an seinem Untod mitgewirkt zu haben und treibt ihn an, nicht von seiner Familie abzulassen. Stanley Kubricks The Shining von 1980 wiederum übertrifft die bei King22 nur leise angedeutete, für das Unheimliche verantwortlich zeichnende labyrinthische Struk-

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kokelte VHS-Kassetten einer Mieterin und die von Melody mit einem Sony Camcorder aufgezeichneten Hi8-Bänder kaum etwas übrig blieb – doch Melody, die Patientin bei Dans verstorbenem Vater war, ist scheinbar nicht so tot, wie zunächst angenommen, sodass Dan, der am Ende der ersten Staffel nicht mehr dort ist, wo er hingehört, eine Rettungsmission in Gang setzt, die Räume in Spannung versetzt und Zeit(en) aufbrechen lässt. Sowohl King als auch drei Jahre später Kubrick entwerfen ein der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zuarbeitendes Hotel, insofern das Overlook bei beiden zum Ort der zusammenfallenden, sich permanent wiederholenden Zeiten moduliert, was besonders in Szenen, in denen Danny den Grady-Schwestern begegnet oder solchen, in denen Luftschlangen im eigentlich unbenutzten Fahrstuhl von scheinbar (in Abwesenheit) anwesenden Partygästen auftauchen, überdeutlich wird. Das Ende von Kubricks King-Adaption lässt die Kamera langsam von einer schwarz-weißen Photographie zurückfahren, die Jack oder einen seiner Doppelgänger zeigt und auf 1921 datiert – Jack war immer schon hier, wie ihm Grady bei einer Party im Golden Room auch zu verstehen gibt. Ein Buch liefert nicht nur die Vorlage für Kubricks Horror-Film, vielmehr noch wird Schrift, die (vorrangig als Zwischentext) mit dem Tonfilm allmählich aus dem Filmbild verschwand, selbst (wieder) ins Filmbild (re)integriert, wenn Danny, der eigentlich noch gar nicht schreiben kann, mit rotem Filzstift das Wort Murder sowohl rückwärts als auch mit verdrehten Buchstaben an die Tür des Badezimmers schreibt und das seine Mutter erst dann als Warnung erkennt, als sie es im Spiegel des kleinen Appartements liest. »Das Shining ist nichts anderes als die Vorwegnahme der Projektion eines Filmbilds auf den Spiegel der Leinwand. Dieses Bild einer Schrift malt Dany an die Tür für dessen Erscheinen im Spiegel der Diegese. Schreiben und Schrift werden doppelt in den Film ein-

5 Unheimliche (Schrift)Räume: Das (Haus in) House of Leaves

tur und konfrontiert mit architektonischen Unmöglichkeiten23 , wobei Kubricks Overlook zunächst ein Mosaik aus Außenaufnahmen der Timberline Lodge, einem in den Bergen Oregons liegenden Hotel sowie der Fassade, die in den britischen Studios von Elstree gebaut wurde, als auch einem eigens errichteten Set, zu dem auch das bei King nicht vorhandene Heckenlabyrinth zählt, ist (vgl. Hill 2019: 649). Rob Ager24 analysiert in zwei 2011 veröffentlichten YouTube-Videos sowie in einem ausführlichen Blog, die er anfertigte, nachdem er bei einer Art virtuellem Nachbau einer Etage des Overlook Hotel aus Stanley Kubricks25 The Shining für ein Videospiel architektonische Ungereimtheiten entdeckte, das Setdesign als auch die genuin filmisch komponierte Architektur der KingAdaption und zeigt dabei detailliert anhand von eigens gefertigten Raumplänen auf, dass Türen zu Räumen führen, die nicht existieren können, dass Treppen dort auftauchen, wo sie Hotelräume eigentlich überlagern müssten, dass Flure dort zu sein scheinen, wo eigentlich bereits das Außen des Hotels begonnen hat, dass es Türen zu Hotelräumen gibt, die eigentlich nur nach draußen führen können, dass es Türen zu Zimmern gibt, die dort sein sollen, wo sich bereits das Treppenhaus oder ein Fahrstuhl befindet, dass das Appartement der Torrances aufgrund seiner Fenster an der falschen Stelle zu liegen scheint und »in addition to this there is also a doorway along the same wall, but any room behind it would overlap the Torrance apartment« (Ager 2008: Chapter 4). Gleich zu Beginn des Films werden ZuschauerInnen mit der »unübersichtliche[n], labyrinthartige[n] räumliche[n] Struktur des Hotels26 , die als architektonisch zusammenhanglos er-

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gebildet, indem das in den Spiegel der Leinwand geschriebene Wort noch einmal gespiegelt werden muss, damit es gelesen und verstanden werden kann.« (Paech 1994: 225). Auch die von Rodney Ascher 2012 veröffentlichte Dokumentation Room 237 fragt an einigen Stellen in einem Durcheinander kommentierender Stimmen nach der architekturalen Arrangiertheit des Overlook Hotels und bemerkt, dass das von Kubrick montierte Raumkonzept an mehreren Stellen von sich selbst abweicht, etwa, wenn Räume sich zu überlagern scheinen, sich also scheinbar an derselben Stelle befinden. Bisweilen gleitet diese eigenwillige Produktion ins Absurde und Abstruse ab, wenn etwa überlegt wird, ob Kubrick nicht die Bilder zur Mondlandung in einem Studio mit der Nummer 237 produziert habe oder inwiefern The Shining eine Erzählung über den Genozid an Native Americans oder auch die Shoah ist. Ager geht nicht nur architektonischen Skurrilitäten in Kubricks The Shining nach, sondern inszeniert eigene, dem Horror zugetane Räume: In der britischen Independent-Produktion Turn in your grave (nicht zu verwechseln mit dem Rape and Revenge-Streifen I Spit on Your Grave aus dem Jahr 2010) von 2012 lässt Ager als Regisseur Raum selbst zum Protagonisten eines Films, in dem ganz in Cube-Manier sieben Menschen in ein einziges Zimmer, in das sich auch zombieeske Kreaturen gesellen, gesperrt werden, avancieren. Kubricks unmögliche Raumkreationen finden sich nicht nur in The Shining, sondern sind auch in Produktionen wie 2001 – A Space Odyssey (1968) oder Paths of Glory (1957), aber auch in jüngeren Arbeiten wie Eyes Wide Shut (1999) zu sehen (vgl. Binotto 2005: 13ff.). Kubricks The Shining zitierend, beginnt Jessica Hausners Hotel in einem abgelegenen Waldhotel in den Bergen Österreichs, in dem die junge Irene, deren Name man erst nach gut einem Drittel des Films erfährt, eine Stelle als Rezeptionistin antritt, zu deren Aufgaben es gehört, täglich die Heizungsanlage im Keller (samt Aktenlager) zu überprüfen, durch den sie gleich zu Beginn des 2004 produzierten Spielfilms, der durch eine Höhle im Wald und Sagen rund um die Waldfrau auch Diskurse des Übersinnlichen streift, geführt wird. Ihre Vorgängerin Eva, deren Brille sie zeitweise als Ersatz für ihre zu Bruch gegangene trägt, hat zwar keine grausamen Morde begangen, ist aber auf nicht minder seltsame Weise verschwunden und Irene ist zwar nicht allein im Hotel, wird aber von den anderen Angestellten gemieden. Immer wieder sieht man Irene in dem wortkargen Film,

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scheint, was schon im Einstellungsgespräch Jacks deutlich wird, als Direktor Mr. Ullman (Barry Nelson), Jack das Hotel beschreibt« (Schulz 2012: 40) konfrontiert, bekommen sie doch im Büro von Stuart Ullman, in dem jenes Vorstellungsgespräch stattfindet, architekturale Devianz zu sehen: Das am Ende des Raumes direkt hinter Ullmans Schreibtisch eingelassene Fenster kann unmöglich an dieser Stelle sein, da sich dort, wie man zuvor beim Gang ins Büro, bei dem ein langer Flur gekreuzt wurde, beobachten konnte, keine Außenmauer des Hotels, sondern jener Korridor (in den später Danny vor dem ihn jagenden Jack fliehen wird) befindet (vgl. Ager 2008: Chapter 4) – und noch während des nur wenig später stattfindenden ersten Rundgangs, bei dem der Koch Halloran gemeinsam mit Danny und Wendy die Küchenräume inklusive begehbarem Tiefkühler und den scheinbar endlos befüllten Vorratskammern besichtigt, bemerkt sie die Labyrinthizität des Overlook, bevor die Tür, die in den Vorratsraum führt, sie seltsamerweise auf einem anderen Flur hat herauskommen lassen: »This whole place is such an enormous maze, I feel I’ll have to leave a trail of breadcrumbs every time I come in« (Kubrick 1980: 00:25:4400:25:49). Hier werden durch den Schnitt Räume montiert, die einerseits genuin filmisch arrangiert sind und andererseits sich nicht aneinander fügen wollen, scheint doch das Overlook nicht nur Fenster zu haben, wo keine sein dürften und Räume, die scheinbar an der gleichen Stelle sind, sondern auch ganz wie das Haus(labyrinth) in der Ash Tree Lane innen größer als außen zu sein. Vergleicht man die Außenaufnahmen des Hotels, das zu jeder Seite nie mehr als einige Meter Abstand zwischen seinen großzügigen Fenstern lässt, mit den Dimensionen des fensterlosen Golden Room, wird ersichtlich, dass dieser mit einer großzügigen Bar ausgestatte und über eine riesige Tanzfläche verfügende Raum in diesem Gebäude schlicht keinen Platz finden würde – »Kubrick plays yet more spatial mind games« (Ager 2008: Chapter 4). Auch die Innenmaße von Zimmer 237 scheinen seine Außenmaße deutlich zu übersteigen; in ein paar Meter Entfernung zu dem Raum, in dem sowohl Danny als auch sein Vater auf die lebende Leiche einer verwesenden Frau treffen werden, befindet sich bereits eine weitere Tür zum angrenzenden Hotelzimmer, doch dort, wo dieses andere Hotelzimmer sein müsste, befindet sich das hellgrün gekachelte Bad (zu dem auch noch Treppenstufen innerhalb des Raumes führen) von Raum 237, der zudem über ein großzügiges Wohnzimmer und ein geräumiges Schlafzimmer verfügt, sodass »[t]he apartment totally overlaps the position where the next apartment should be« (ebd.). Berühmt geworden sind zuvörderst Dannys Erfahrungen der sich ins Irreale verzerrenden Flure des Overlook, bei denen er von einem geisterhaften Blick, suggeriert durch die von Erfinder Garret Brown selbst bediente Steady Cam, verfolgt zu sein scheint27 ,

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der außer in von lautem Techno begleiteten Discoszenen kaum mit Musik arbeitet, im Schwarz eines Hotelflurs, an dessen Ende nur eine Blumenvase auf einer kleinen Kommode steht, und in einer Höhle im Wald, deren Eingang wie eine riesige Vulva anmutet, verschwinden; in einer Szene scheint sie sogar direkt vom Dunkel des Hotelgangs, in das sie verschwindet, in die Schwärze des Waldes zu gelangen. Zwischen den Einstellungen, die neben zahlreichen Shots auf den das Hotel umgebenden Wald ebendieses mit seinen langen Fluren, mit langen Vorhängen behangenen Fenstern und dem verwinkelten Angestelltentrakt zeigen, herrscht oft lange Schwärze – in die Irene am Ende des Films verschwinden wird, begleitet von einem langen Schrei. Eine der jüngsten und skurrilsten Zitationen dieser Fahrten lässt sich in der Anfang 2020 veröffentlichten HBO-Serie The New Pope, in deren letzter Szene ein kleiner nach dem nun verstorbenen

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wobei der Blick von ZuschauerInnen ins Taumeln gerät, wenn »Korridore und Treppen ein verwirrendes und unendiches Labyrinth [bilden], das ein Gefühl der Desorientierung und des Schwindels hervorruft, ähnlich der Wirkung der räumlich paradoxen Zeichnungen von M.C. Escher« (Pallasmaa 2004: 203). Besonders in diesen Sequenzen prozessiert The Shining, »dass die gesamte räumliche Anordnung des Hotels einen Irrgarten darstellt, der als einprägsames räumliches Gebilde nicht vorstellbar oder zu erfassen ist. […] Der Zuschauer, der THE SHINING sieht, ist gänzlich außerstande, eine geistige Karte des Overlook-Hotels anzulegen […]« (ebd.: 202). Die sich kreuzenden und übereinander liegenden Korridore mit angrenzenden Nischen, weiteren Abzweigungen, unzählig gleich aussehenden Türen und Notausgängen verschachteln sich zum sich bis ins Zweidimensionale der auffälligen Teppichmuster28 und Wandmalereien erstreckenden Labyrinth. Das Overlook verweigert Übersicht. Dannys dritte und letzte Dreiradfahrt ist eine durch die Komposition des Filmschnitts ermöglichte unmögliche Fahrt: Er beginnt seine Tour in den Kellerräumen, diesmal die Kamera weit hinter sich lassend, die noch im Flur des untersten Geschosses verweilt, als Danny rechts um die Ecke biegt – um nach einem Umschnitt seine Fahrt im ersten Stock, wo bereits am Ende des Flurs mit den kitschigen Blumentapeten die beiden Grady-Schwestern auf ihren neuen Spielkameraden warten, fortzusetzen (vgl. Ascher 2012: 00:48:32 – 00:49:23). So wie Danny immer andere Flure befährt, wird man mitnichten die gleichen Räume und niemals dasselbe Labyrinth gesehen haben, denn weder das labyrinthische Overlook noch auch nur ein einziges der weiteren im Film gezeigten Labyrinthe steht je still – »it’s so not put together« (ebd.: 01:32:04 – 01:32:06): Kubricks Overlook überlappt und verkantet sich, beim Betreten und Verlassen von Zimmern scheinen diese sich räumlich je anders zu arrangieren, während das Labyrinth aus Hecken seinen Eingang, der zu Beginn des Films an einer anderen Stelle als in der finalen, Jacks Erfrierungstod in Szene setzenden Sequenz sich befindet, verschiebt und zudem die im Film gezeigten (Bilder von) Labyrinthe(n), die suggerieren, einander zu entsprechen, voneinander differieren: Die zu Beginn noch am Eingang des Labyrinths sich befindende Karte des Labyrinths, die im Laufe des Films verschwinden wird, zeigt eindeutig nicht das von Danny und seiner Mutter erkundete Labyrinth, wie auch das Modell des Labyrinths in der mise en

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Papst Pius XIII benannter Junge mit einem Dreirad durch den Vatikan saust und dabei von einer Kamera verfolgt wird, sehen. Selbst das Muster des aus sich aneinanderreihenden Hexagonen bestehenden Teppichs im zweiten Stock scheint in Bewegung zu sein und sich stetig zu verschieben: Während Danny mit seinen Spielzeugautos unweit des Raums 237 allein auf dem Hotelflur spielt, sitzt die Kamera zunächst vor ihm, entfernt sich dann langsam höher werdend und gibt zu sehen, wie ein Ball auf einem auf Danny zuführenden braunen Streifen des Teppichs zugerollt kommt. Danny schaut auf und die Kamera schwebt kurz hinter ihm, um nach einem Schnitt wieder vor ihm positioniert zu sein, wobei sich das in sich bereits labyrinthische Teppichmuster verändert hat, ist nun nicht mehr der das Sechseck gewissermaßen öffnende Streifen vor Danny, sondern ein ihn nun umschließendes Hexagon; der Streifen, der sich zuvor wie eine Straße ausnahm, ist nun hinter Danny und lässt ihn quasi in einer Sackgasse stehen (vgl. Ascher 2012: 01:26:55 – 01:27:50). Der Ball liegt noch immer vor ihm, nun aber ist Danny umklammert, wird vom Teppich eingeschlossen, bis er schließlich aufsteht und den langen Hotelkorridor entlang schreitet.

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abyme-Szene – die keine ist – nicht mit dem im Garten angelegten übereinkommt29 . Jedes Labyrinth wird immer schon in Bewegung gewesen sein, wobei diese Bewegung der Unheimlichkeit insofern gereicht, als sie einerseits zur (De)Konstruktion architektonischer (Un)Möglichkeiten beiträgt und andererseits jeden Lokalisierungsversuch zugunsten von Irritation, Konfusion und Schwindel vereitelt. The Shining geriert sich als »Puzzle, bei dem nicht nur einige Teile fehlen, sondern auch die vorhandenen Teile nicht immer zusammenpassen. Die darin liegende Herausforderung ist einer der Gründe, stets von Neuem in den Irrgarten von Shining zurückkehren zu wollen« (Hill 2019: 664).

5.2 Unheimliches (Labyrinth)Haus Das Haus in House of Leaves geriert sich als kinetisches Labyrinth, das dem Unheimlichen insofern zuarbeitet, als es zu sich selbst in Differenz steht und unausgesetzt(e) Diversifizierung architekturaler Umgebung betreibt. Will Navidson, dessen Familie und die weiteren Expeditionsteilnehmer betreten, nachdem sie die wie aus dem Nichts aufgetauchte Öffnung passiert haben, einen nicht-statischen Raum, dessen Wege und Ausmaße sich auf unerfassbare Weise modifizieren. Die Architektur in der Architektur verschachtelt sich als »twisting labyrinth extending into nowhere« (Danielewski 2000: 99) je anders und verunmöglicht somit – wie alle Architekturen des Unheimlichen als kinetische Labyrinthe es tun – den Einsatz bekannter Labyrinthlösungsstrategien oder das Zeichnen einer Karte. Bereits auf den ersten Erkundungen, die Holloway, Jed und Wax in das Hauslabyrinth oder Labyrinthhaus – denn »no one has yet to disagree that the labyrinth is still a house« (ebd.: 122) – unternehmen, merken sie, dass diese in höchstem Maße digressive Architektur physikalische Gesetze unterläuft und wohl auch das Magnetfeld der Erde oder zumindest dessen Anzeigeobjekte manipuliert: »Karen immediately goes out and buys a compass […]. No matter what room she stands in, wether in the back or the front, upstairs or downstairs, the needle never stays still. North it seems has no authority here« (ebd.: 90). Gesetzmäßige und daher vertraute Zusammenhänge werden systematisch durchkreuzt, wenn die Architekteurin durch eigene Bewegungen Abstände zwischen Objekten variieren und auch architektonische Elemente und Objekte wie Treppen und Räume selbst sich ausdehnen oder zusammenschrumpfen lässt. Im Inneren des Hauses hat sich unheimlicher, eigene Begrenzungen unterlaufender Raum, der sich zu einem Labyrinthkomplex aufspannt, dessen Ausmaße ob seiner Größe und Transformationen sich entziehen, eröffnet bzw. sich Raum eingeräumt. Das labyrinthische Innen des Hauses wird, wie Zampanò anhand einer Szene um Team Holloway zu

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Selbst die Filmcrew, die immer wieder mit neuen und nur teilweise ausgearbeiteten Labyrinthen von Kubrick umgehen musste, fand sich nur schwer in den sich immer wieder verändernden Labyrinthsets zurecht: »Trotz des unvollständigen Charakters des Sets bereitete es dem Filmteam Mühe, ohne Hilfe einer Karte in das Labyrinth hinein- und wieder herauszufinden.« (Pallasmaa 2004: 206).

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lesen gibt, zugunsten des Aufschubs des Außen bzw. als inneres Außen mehrfach aufgefaltet, denn jede potentielle Außenwand30 erweist sich als weitere Innenwand31 : At one point Holloway even succeeds in scratching, stabbing, and ultimately kicking a hole in a wall, only to discover another windowless room with a doorway leading to another hallway spawning yet another endless series of emtpy rooms and passageways, all with wall potentially hiding and thus hinting a possible exterior, though ivariably winding up just as another border to another interior. (Ebd.: 119) Während der weiteren Erkundungen, die Holloway mitsamt seinem Team unternimmt, verändern sich sowohl die Räume als auch die Größe der Treppe, sodass der Rückweg länger ausfällt als geplant; die architekturale Unruhe des Hauses hintertreibt von den For-

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Immer wieder neue, die Differenz von Innen und Außen unterlaufende virtuelle Wände zieht sogleich David Cronenbergs eXistenZ; der 1999 vom Meister des Bodyhorror oder auch des Abjekt-Kinos selbst produzierte Film setzt nicht nur auf das ausgiebige Zeigen von Körperöffnungen und -flüssigkeiten, sondern verrätselt darüber hinaus Raum zu einer Science Fiction-Matrjoschka, deren Anfang ebenso wenig ausgemacht werden kann wie ihr Endpunkt. Zumindest der Beginn der filmischen Erzählung setzt in einer bis auf einen Stuhlkreis leerstehenden Kirche während des Testlaufs für das Spiel eXistenZ, das mithilfe einer aus organischem Material bestehenden Konsole – dem Metaflesh Game Pod – erlebt werden kann, ein und wird sogleich von AttentäterInnen gestört, sodass nicht nur die bei der Testvorführung persönlich anwesende Spieleentwicklerin Allegra Geller (dargestellt von einer großartigen Jennifer Jason Leigh), sondern auch ein weiterer Mitspieler namens Ted Pikul (gespielt von Jude Law) flüchten muss und dabei immer wieder in die Welt des Spiels, dessen verschachtelte Ebenen eine Trennung von physischer und virtueller Welt brüchig werden lässt, übertreten, wobei Allegra den »Übergang in die Spielrealität sogar mit Montage-Techniken des Films [beschreibt]: ›Das können sehr brutale Schnitte, weiche Blenden oder schimmernde Verzerrungen sein‹.« (Pühler 2007: 110). Kurz vor Ende des Films, der nicht nur dem Infektiösen und Parasitären Bild einräumt, sondern auch immer wieder zeigt, wie seine ProtagonistInnen von der sie umgebenden Spielewelt, deren Ebenen sich unversehens permanent ineinander schieben, zu Handlungen und Aussagen gedrängt werden – das Spiel arrangiert die Spielfiguren, nicht umgekehrt – realisieren ZuschauerInnen, dass sie einem Spiel im Spiel zugeschaut haben, sind Allegra und die anderen doch plötzlich von einer Art Exoskelett umschlossen, das als Verbindung zum eigentlichen Spiel namens TranCendeZ vorstellig wird: Weder ist Allegra eine gefeierte Spieleentwicklerin, noch gab es einen Anschlag und sie und Pikul geben sich vor MitspielerInnen als Pärchen zu erkennen – das nun allerdings tatsächlich einen Anschlag verübt, tritt es »nun als Terroristen des realistic underground auf, als Vertreter genau derselben Gruppe, die es auf Geller innerhalb des Spiels abgesehen hatte« (Hantke 2011: 53) und auf die (letzte) Frage (im gesamten Film), »Are we still in the game?« (Cronenberg 1996: 01:29:52-01:29:54), nur Schweigen zur Antwort gibt. Ihre Handfeuerwaffen auf das Kino- bzw. Fernsehpublikum richtend, starren die beiden wortlos in die Kamera, bis das Bild schließlich schwarz wird – es gibt kein Jenseits des Spie(ge)ls. Es ist gerade das Labyrinth, das diesen Kollaps (der Differenz) von Innen und Außen lanciert, wie Dirk Baecker in Die Dekonstruktion der Schachtel bemerkt: »Es gibt eine architektonische Form, die es erlaubt, die Unterscheidung von Innen und Außen sowohl zu setzen, wie auch nahezu nach Belieben kollabieren zu lassen: das Labyrinth. Einmal im Inneren des Labyrinths, wird dem, der den Ausweg sucht, jedes vermutete Außen immer wieder neu als Innen vorgeführt.« (Baecker 1990: 85).

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schern veranschlagte (Zeit)Planungen und torpediert jede Expedition, die sich ihr widmet, durch ihre Bewegungen, Verschiebungen, Dehnungen und Kontraktionen32 . It is not surprising then that when Holloway’s team finally begins the long trek back, they discover the staircase is much farther away than they had anticipated, as if in their abscence the distances had stretched. They are forced to camp for a fourth night thus necessitating strict rationating of food, water and light (i.e. batteries). On the morning of the fifth day, they reach the stairs and begin the long climb up. Aside from the fact that the diameter of the Spiral Staircase is now more than seven hundred and fifty feet wide, the ascent moves fairly quickly. (Ebd.: 122) Holloway, Wax und Jed kehren jedoch nicht wie erwartet zurück, sodass die restlichen Expeditionsteilnehmer, die im Wohnzimmer beim Funkgerät Posten bezogen haben, beschließen, ihnen nachzugehen. Sie registrieren schnell, dass sie sich nicht im selben Labyrinth bewegen wie das bereits eine Woche zuvor gestartete Erkundungsteam, da es sich bereits modifiziert hat; sie sind gewissermaßen zugleich im selben Raum wie sie es auch nicht sind. In nur wenigen Minuten erreichen sie das Ende der Wendeltreppe (die sich einem Schneckenhaus ähnlich bereits auf dem Cover der amerikanischen Originalausgabe abgebildet findet), während das Vorgängerteam für den gleichen Weg noch mehrere Tage brauchte (vgl. ebd.: 159).; Tom geht zunächst davon aus, dass sie auf der Suche nach Holloways Team einfach eine andere Treppe als diese hinabgestiegen sind, merkt jedoch, dass sich diese vielmehr verzogen hat: »Everything here is constantly shifting. It took Holloway, Jed and Wax almost four days to reach the bottom of the staircase, and yet we made it down in five minutes. The thing collapsed like an accordion.« Then looking over to his friend: »You realize if it expands again, you’re in deep shit.« (Ebd.: 164) Die Suche nach dem ersten Erkundungsteam führt Will und Reston, während Tom am oberen Ende der Wendeltreppe mit einem Funkgerät zurückbleibt, durch eine Serie an sich verzweigenden Wegen, von denen unzählbar viele – denn »it is impossible to calculate the exact number due the jump cuts« (ebd.: 188) – Türen abgehen, wobei sie schließlich auf eine knauflose Tür stoßen, die sich nur unter Gewaltanwendung öffnen lässt; als die Tür schließlich aus den Angeln kracht, gibt sie den Blick frei auf Jed und den zuvor von Holloway angeschossenen Wax, die im Raum dahinter völlig verängstigt und zusammengekauert sitzen. Noch während Jed sich ehrlich freut, gefunden worden zu sein, trifft auch ihn ein Schuss, Oberlippe und Kopf durchbohrend. Navidson und Reston schaffen die beiden aus der Gefahrenzone und begeben sich zurück zur Wendeltreppe,

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In Poes The Pit and the Pendelum (1862) trägt sich ein ähnliches Abhandenkommen des Außen im unfixen Raum zu, wenn nicht nur der Kerker mit Folterinstrumenten bestückt, sondern die Gefängniszelle selbst ein unendlicher Ort der Folter ist, wie Binotto herauspräpariert: »Der Kerker der Inquisition ist ein ganzes Universum, unentrinnbarer noch, weil es sich fortlaufend verändert. […] Aus einem Raum, dessen Wände sich verschieben lassen, der also jedes Mal, wenn der Gefangene einschläft und wieder aufwacht, ein ganz anderer sein könnte, wird es niemals einen Ausweg geben können.« (Binotto 2013a: 118).

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um wieder ins Wohnzimmer, in dem eine nervöse und besorgte Karen ungeduldig wartet, aufzusteigen. Als Reston fast das obere Ende der Treppe erreicht hat, beginnt diese, sich nach oben und den Seiten zu dehnen, was Will am Sicherungsseil, das ihm langsam aus den Fingern gleitet, bemerkt – sein Freund müsste ihm eigentlich entgegen fallen, doch: Then as the stairway starts getting darker and darker and as that faintly illuminated circle above–the proverbial light at the end of the tunnel–starts getting smaller and smaller, the answer becomes clear: Navidson is sinking. Or the stairway is stretching, expanding, dropping, and as it slips, dragging Reston up with it. (Ebd.: 288ff.) Die oben zitierten Zeilen bzw. deren Zeichenmaterial fällt in HoL an dieser Stelle ähnlich wie die Bewegungen der Architekteurin auf Ebene der Handlung buchstäblich auseinander, sind doch etwa die Worte stretching und expanding, die zudem auf dem Kopf stehen und unterschiedliche Leserichtungen (ersteres vertikal, letzteres horizontal) haben, so in die Länge gezogen, dass sie nahezu zwei Drittel der ohnehin schon übergroßen Buchseiten einnehmen. Will Navidson bleibt nach diesem Vorfall zunächst allein im Labyrinth seines Hauses zurück, ahnend, dass er unvorstellbar tief33 im Gebäude sein muss, während Karen, Tom, Reston und die Kinder vor der Tür auf ihn warten und beobachten müssen, wie der Flur zur Wendeltreppe sich verkürzt und seine Abzweige verschwinden34 , sodass sie annehmen, Will sei tot, vielleicht vom Raum zerquetscht. Nachdem Navidson einige Tage später jedoch relativ unversehrt und »out of the blue« (ebd.: 231) zurückkehrt – er kommt nicht nur aus heiterem Himmel, sondern buchstäblich aus dem Blauen, aus den blauen Buchstaben, die den Signifikanten Haus formieren – verschiebt sich nicht nur das neu angewachsene Flurlabyrinth, auch die anderen Räume des Hauses werden jetzt von jener »strange spatial violation« (ebd.: 24) heimgesucht. Gerade in dem Moment, in dem die Familie einige private Dinge wie das bisher gefilmte Material zusammenpackt und ins Auto tragen will, schlägt das Haus erneut zu. 33

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Tom, der am oberen Ende der Treppe einen Flaschenzug für Reston und die restlichen Expeditionsteilnehmer gebaut hatte, lässt immer dann, wenn er eine weitere Person nach oben ziehen kann, eine Münze fallen, um zu signalisieren, dass sich ins Seil gehangen werden kann. Die Münze, die Tom nach Restons Ankunft hinunter geworfen hat, fällt laut Navidson eine knappe Stunde, sodass dieser wiederum eigentlich tiefer sein müsste, als es der Erdmantel eigentlich zulässt (vgl. Danielewski 2000: 305). Tom und Reston begehen während der mehrtägigen Abwesenheit Navidsons den Flur, um festzustellen, dass er sich verändert hat bzw. sich weiter im Verändern befindet: »Much to their surprise, however, they discover the hallway now terminates thirty feet in, nor are there any doors or alternate hallways branching off it. […] Then Tom, though he is only wearing a t-shirt, takes a deep breath and marches into the hallway again. A minute later he returns. ›It’s not more than ten feet deep now‹, Tom grunts. And Navy’s been gone over four days.« (Danielewski 2000: 320f.). Wenn Navidson wiederum die Große Halle, in der er nach Tagen des Wendeltreppenaufstiegs endlich ankommt, betritt, scheinen für ihn die Abzweige nicht verschwunden, sondern anders arrangiert zu sein: »On the third night I tried to take another step and found there wasn’t one. I was in the Great Hall again. Oddly enough though, as I soon found out, I was still a good ways from home. For some reason everything has stretched there too. Now all of a sudden, there were a lot of new dead ends. It took me another day and night to get back to the living room […].« (Ebd.: 323).

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Karen is upstairs placing her hair brushes, perfume and jewelry box in a bag, when the bedroom begins to collapse. We watch the ceiling turn from white to ahs-black and drop. Then the walls close in with enough force to splinter the dresser, snap the frame of the bed, and hurl lamps from their nightstands, bulbs popping, light executed. Right before the bed is sheared in half, Karen succeeds in scrambling into the strange closet space intervening between parent and child. […] Karen avoids the threat in her bedroom only to find herself in a space rapidly enlarginging, the size swallowing up all light as well as Daisy’s barely audible cries for help. (Ebd.: 341) Schon bald nachdem die architekturalen Transformationen im Obergeschoss in dieser Nacht ihren Anfang nahmen, modifiziert sich das gesamte Haus, es wird geradezu gewalttätig gegenüber seinen BewohnerInnen, es reißt ge- und bewohnte Raumgefüge zugunsten des Unheimlichen auf. Im Erdgeschoss sackt wenige Momente nach dem Einfallen des Schlafzimmers der Boden weg (Navidson kann sich retten, indem er sich an der Klinke einer Tür festhält, die aber jeden Moment droht, aus den Angeln zu brechen), während es draußen in Strömen regnet. Navidson und Reston gelangen mit wenigen Schrammen in den Garten des Hauses, wobei genau das Heraustreten, jener Tritt über die Schwelle ein ausgesparter ist. Der nur wenige Sekunden dauernde Austritt, der den ProtagonistInnen als ins Unermessliche gedehnt erscheint (vgl. ebd.: 339ff.), lanciert als narrative Ellipse, denn es bleibt zu fragen, wie sie tatsächlich heraus gekommen sind. LeserInnen »[erfahren] nicht, wie es Navidson und Reston letztlich aus dem Haus geschafft haben, obwohl der Austritt aus dem Labyrinth naturgemäß ein Höhepunkt im Verlauf einer Labyrintherkundung ist« (Gehring 2013: 106). Tom gelingt es, sich durch das »heaving house« (Danielewski 2000: 345) bis zur nach Hilfe schreienden Daisy zu schlagen und schafft es schließlich, sie vor seinem eigenen Verschwinden in den Böden des Hauses aus dem Fenster zu reichen, während »[t]he whole place keeps shuttering and shaking, walls cracking only to melt back together again, floors fragmenting and buckling« (ebd.). Nach Toms Verschwinden – er wird, wie Holloway, nie wieder auftauchen – verlassen die Navidsons ihr Haus; Karen »immediately starts dragging suitcases and boxes out into the rain« (ebd.: 339) und zieht mit den Kindern nach New York, während ihr Mann das Filmmaterial in Billy Restons Appartement in Charlottesville bearbeitet und schließlich allein zum Haus in der Ash Tree Lane zurückkehrt. Fast ein Jahr, nachdem die Navidsons die ersten Veränderungen an ihrem Haus realisiert haben, bricht Will, denn »[h]e could not stop thinking about those corridors and rooms. The house had taken hold of him« (ebd.: 384), im April 1991 zu seiner letzten Erkundung, Exploration N°5 auf, um auch bei dieser Expedition, die er aufgrund der erlebten Ausmaße des Labyrinths mit einem Fahrrad antritt, jenen zahlreichen »continuous internal alterations«35 (ebd.: 120) ausgesetzt zu sein:

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Truant befürchtet, die Verschiebungen könnten nicht nur das Haus betreffen, (über) das er liest, sondern auch seinen eigenen Wohnraum befallen: »As a precaution, I’ve also nailed a number of measuring tapes along the floor and crisscrossed a few of them up and down the walls. That way I can tell for sure if there are any shifts. So far the dimensions of my room remain true to the mark.« (Danielewski 2000: 296).

5 Unheimliche (Schrift)Räume: Das (Haus in) House of Leaves

As we can see, when Navidsons first starts down the hallway he does not head for the Spiral Staircase. This time he chooses to explore the corridors. […] After two hours he has only managed to go seven miles. […] Soon, however, he realizes there is a definite decrease in resistance. After an hour, he no longer needs to pedal: ›This hallway seems to be on a decline. In fact all I do now is brake.‹ When he finally stops for the night, the odometer reads an incredible 163 miles. […] When Navidson wakes up the next morning, he eats a quick breakfast, points the bike home, and begins what he expects will be an appalling, perhaps impossible, effort. However within a few minutes, he finds he no longer needs to pedal. Once again he is heading downhill. Assuming he has desoriented, he turns around and begins pedaling in the opposite direction, which should be uphill. But within fifteen seconds, he is again coasting down a slope. (Ebd.: 424f.) Und weiter: Nor does this endless corridor he travels remain the same size./Sometimes the ceiling drops in on him,/getting progessively lower and lower until it begins to graze his head, only to shift a few minutes later,/rising higher and higher until/it disappears all together./Sometimes the hallway widens, until at one point navidson swears he is moving down some enormous plateau. […] And then the walls reappear, along with the ceiling and numerous doorways […]. (Ebd.: 426ff.) Was das Haus in Danielewskis House of Leaves als kinetisches Labyrinth, als unheimliche(n) Architekt(e)ur, auszeichnet, sind seine Kontraktionen und Relaxationen, das Aufbauen und Abreißen von Schächten wie das Errichten und Abbauen von Wegen, Säulen, Wänden und Treppen. Hier gibt es, in Abgrenzung etwa zu Cube keine Räume, die sich in zirkelähnlichen Bewegungen als diese (in sich stabilen) Räume hin- und her bewegen oder eine Architektur, die sich wie in Dark City in einem örtlich begrenzten Areal zunächst unbemerkt verformt, sondern die Bewegtheit der Räume gründet in deren eigener, in sich vollzogener, architekturaler Geschäftigkeit. Das Haus, im Inneren ein nicht länger messbarer, verfalteter Komplex, zieht sich in nicht kalkulierbaren Abständen zusammen, um sich genauso unvorhergesehen wieder auseinander zu dehnen, so (an) sich selbst um-, ab- und ausbauend. Die Bewegung hat nicht nur im Labyrinth als Expedition durch den Raum statt, sondern als Bewegung des Raumes selbst, der sich wie ein Muskel verhält, jedoch ohne einen klaren Ausgangs- und Zielpunkt auszuweisen. Der Logik von Anspannung und Abschlaffung folgend, arriviert das labyrinthische Haus zur entkörperten Muskulatur, die, in eine Aporie mündend, die Kontraktionen des Hauses zu einem hunderte Kilometer weiten Labyrinth aufspannt. Das von Navidson mit Beginn des Aprils im Alleingang erkundete »twisting labyrinth extending into nowhere« (ebd.: 99) wiederum beherbergt in sich ein weiteres, ebenfalls seine Morphologie über Nacht veränderndes Haus ähnlich einem Erkerturm inklusive der bereits zuvor prominent in Szene gesetzten, zur Allegorie des (spiralförmigen) Windens avancierenden Wendeltreppe und eine Tür, die verschwindet. Während er mit einem Mountainbike samt Equipment verstauendem Anhänger in die verzweigten Gänge des Hauses vordringt, wird es nie aufgehört haben, unter stetigem Grollen fortwährend seinen Baukörper umzuarbeiten. The first thing Navidson notices when he wakes up is that the only door out of there has vanished. Furthermore the stairs which were horizontal before he had gone to sleep

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are now directly above him, rising through the ceiling, suggesting that this tiny house within a house has rotated onto its side. (Ebd.: 438) Kaum hat er die gewundene Treppe betreten, »than the floor below him vanishes along with the bike, trailer and everything else he left behind, including additional water, food, flares, and lenses (ebd.: 439), sodass er während seiner letzten, wohl tausende Kilometer umspannenden Erkundung noch einmal die architekturale Aktivität des kinetischen Hauses buchstäblich erfährt, wenn Wände sich aufeinander zu- und voneinander wegbewegen, Durchgänge auftauchen, um wenige Augenblicke später ins Nirgendwo zu verschwinden, Wege sich während des Begehens ins Unendliche dehnen oder ruckartig zusammenschrumpfen, Decken ihn entweder zu zerquetschen drohen oder so hoch werden, dass man sie nicht länger ausmachen kann, Treppenstufen verschwinden oder anwachsen, Flure breiter oder beklemmend eng werden, man einen Anstieg beginnt, um wenige Augenblicke später steil bergab zu laufen. Der Roman selbst führt nicht weit entfernt von der oben zitierten Stelle die berühmte Escher-Radierung Haus der Treppen (1951) an (vgl. ebd.: 441), wobei nicht nur dieser Titel in Danielewskis Debütroman echot, sondern die Radierung auf visueller Ebene zugleich eine ähnlich aporetische Struktur auffährt wie das Haus auf narrativer und insofern die Frage nach einer spatialen Logik in Form von Himmelsrichtungen und der eigenen Positionierung im Raum obsolet werden lässt: »Is he floating, falling or rising? Is he right side up, upside down or on his side? Eventually, however, the spins stop and Navidson accepts that the questions are sadly irrelevant« (ebd.: 465). Das Haus der Navidsons bzw. HoL fordert nicht nur das Räumliche heraus, sondern irritiert zugleich zeitliche Strukturen, insofern es Zeitstränge36 so miteinander verschleift, dass es sich gewissermaßen in zwei prominenten mise en abyme-Szenen selbst abbildet und so »die Selbstbespiegelungen und Selbstaushöhlungen das narrative Ordnungsgefüge ins Wanken bringen« (Schmeling 1987: 301) und entsprechend die Desorientierung von LeserInnen vorangetrieben wird: Während Navidson bei seiner letzten Solomission37 das Haus bereist, hat er das Buch dabei, das erst nach seiner Her36

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Einer der beiden in einem mysteriösen Höhlenlabyrinth eingeschlossenen Camper aus Stanislaw Lems Kurzgeschichte Die Ratte im Labyrinth (1971), »in der sich mythologische Elemente (Aufenthalt im labyrinthischen Bauch Leviathans), Science Fiction und romantisches Kunstmärchen (Doppelgänger-Motiv) zu einem vieldeutigen Erzähllabyrinth formieren« (Schmeling 1987: 330) wird durch vom Raum indizierte Zeitschleifen zum Mörder seiner selbst. Auf der Suche nach der Einschlagstelle eines Meteoriten gelangen die Freunde Robert und Carol in ein weit verzweigtes, scheinar selbst lebendiges Höhlensystem, aus dem schließlich nur einer der beiden herausfinden wird; beide sehen sich während der Erkundung der Höhle immer wieder von Doppelgängererscheinungen bedroht, sodass Robert schließlich sein Pendant tötet. Navidson verschwindet bei dieser Expedition abermalig, kehrt allerdings nicht nach ein paar Tagen, wie bei seinem ersten Verschwinden, zurück, sondern bleibt für mehrere Wochen verschollen, während seine Partnerin im Gegensatz zu Billy Reston überzeugt ist, dass Navy noch lebt; im Mai 1991, also fast eineinhalb Monate nach dem Aufbruch zu Exploration N°5, entkommt Navidson gemeinsam mit Karen – LeserInnen erfahren mit keinem Wort, wie genau – jedoch dem Hauslabyrinth bzw. Labyrinthhaus; Karen, die zuvor die Kinder bei den Großeltern untergebracht hat, geht, dass zeichnen die Kameras im Haus der Navidsons noch auf, selbst ins Labyrinth, um eine knappe Stunde später gemeinsam mit Will, der einige Körperteile durch Erfrierungen verloren hat und auch sonst mächtig lädiert ist, auf der Wiese im Garten zu sitzen. Was sich innerhalb der 49 Minu-

5 Unheimliche (Schrift)Räume: Das (Haus in) House of Leaves

auskunft geschrieben sein wird: Zampanò beschreibt – bezeichnenderweise steht die Schrift hier Kopf –, dass Will Navidson House of Leaves mit nur einem übrig gebliebenen Streichholzbrief zu lesen beginnt und schließlich sogar die Buchseiten als Brennstoff dienen (wie Navidson überhaupt an sein Exemplar von HoL gekommen ist, bleibt zu fragen). Taking a tiny sip of water and burying himself deeper in his sleeping bag, he turns his attention to the last possible activity, the only book in his possession: House of Leaves./›But all I have for light is one book of matches and the duration of each ma–‹ (for whatever reason the tape cuts off here). (Danielewski 2000: 465) Auch Truant kommt mit dem Buch House of Leaves noch während seiner Editionsphase in einer Art Loop in Berührung, wenn er der Band Liberty Bell begegnet, die in einer abgeranzten Bar Lieder zu spielen scheint, die auch auf dem Poe-Album Haunted zu hören sind, die zudem auf ein Akrostichon anspielt, das Truant in dem Manuskript, an dem er noch arbeitet, auf einer Seite versteckt hat (vgl. ebd.: 117) und die bereits ausgiebig mit anderen Bargästen über das von Zampanò verfasste Buch samt Einleitung von Johnny Truant diskutiert, wobei das dem Schlagzeuger gehörende Exemplar selbst bereits wiederum mit Tinte befleckt und mit Randnotizen beschrieben ist. Fortunately, after studying me for a moment, presumably making one of those on-thespot decisions, the drummer shook his head and explained that the lyrics were inspired by a book he’d found on the Internet quite some time ago. […] As it turned out, not only had all three of them read it but every now and then in some new city someone in the audience would hear the song about the hallway and come up to talk to them after the show. (Ebd.: 513f.) Das Projekt HoL hört einerseits nicht auf, sich weiter zu schreiben und wird andererseits immer schon anderswo begonnen und sich bereits während seiner Entstehung wieder selbst zersetzt haben, insofern mise en abyme-Szenen die eigene Abgründigkeit als konstitutives Fehlen prozessieren.

ten im Dunkel des Hauses zugetragen hat, bleibt im Dunkeln. Auf die Frage, wie sie aus dem Haus gekommen seien, gibt Karen »It just dissolved« (Danielewski 2000: 524) zur Antwort, was den verdutzten Interviewer zur Frage treibt, wie ein Haus, das doch noch existiert, denn verschwunden sein kann: »How’s that possible? It’s still there, isn’t it?« (ebd.: 525) – mit dieser Frage reißt das Interview ab. Ob auch das Haus sich tatsächlich selbst abgerissen hat, umgezogen oder noch immer an seinem Platz ist, bleibt zu fragen.

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5.3 (Andere) Verräumlichung 5.3.1 HoL: Ein (De)Konstrukt

[T]here is no center, but always decenterings. (Foucault 1977: 165) Die Ausdehnen und Zusammenziehen inkludierende, Anbauen und Abreißen prozessierende Kinetik des Hauses der Familie Navidson provoziert sich stets je anders einräumende Labyrinthe; durch diese (dem anderen verpflichtete) in sich nicht auflösbare, paradoxe Bewegung wird ein nicht mehr in konventionellen Raumbegriffen denk- und beschreibbarer Raum eingeräumt, der »den Bezug zum anderen als solchem aufrecht« (Derrida 1988: 231) erhält. Das Haus der Familie Navidson ist nicht in sich geschlossen, kein mit sich identisches Innen, das sich gegen ein Außen verhält, sondern ein (De)Konstrukt, das die Differenz, die Grenze von Innen und Außen als solche unterläuft und aufrechterhält und damit an das erinnert, was Jacques Derrida, dessen Name in HoL mehrfach auftaucht, als Mechanismus »dekonstruktive[r] Architektur« (ebd.: 226)38 , im Besonderen für Bernhard Tschumis Gestaltung des Parc de la Vilette in Paris, den Folies39 , verstanden wissen will; zwar zielen Derridas Beschreibungen nicht auf erzählte Architek38

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Die als Dekonstruktivismus bezeichnete Architekturströmung ist eine von der Philosophie Derridas inspirierte Form des Entwerfens, Gestaltens und Bauens, die seit etwa Anfang der 1980-er Jahre (1988 gab es eine erste u.a. von Mark Wigley organisierte Ausstellung mit dem Titel Deconstructivist Architecture, die im Museum of Modern Art besucht werden konnte) durch VertreterInnen wie Zaha Hadid, Daniel Libeskind, Bernhard Tschumi, Rem Koolhaas, die ArchitektInnengruppe Coop Himmelb(l)au und Peter Eisenman versucht, sich bis dato geltenden Konventionen zu verweigern bzw. diese zugunsten einer der Ornamentik Vorzug gebenden und die Materialität wie Strukturalität (und deren inhärente Brüchigkeiten) betonende Architektur aufzureißen (vgl. Pahl 1999: 265f.), wobei diese die Gestalt präferierenden Gestaltungs- und Bautechniken »auf den russischen Konstruktivismus der zehner und zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts [des 20. Jahrhunderts, M.F.] zurückgreifen« (Johnson/Wigley 1988: 7). Häufig sind die realisierten Entwürfe aus geometrischen Figuren zusammengesetzte Gebäudekomplexe oder Häuser, deren Stein-, Glas- und Stahlfronten sich scheinbar leichtfüßig um sich selbst zu wickeln scheinen, wie etwa Frank Gehrys Guggenheim Museum Bilbao in Spanien, dessen stählerne Außenwände sich als Schleifen aus Seide oder Blättern präsentieren, die sich leicht ineinander falten und an verschiedenen Stellen eingedrückt oder geknickt sind (die zehn Jahre später, 2003, ebenfalls von Gehry entworfene Walt Disney Concert Hall in Los Angeles erinnert dabei etwa durch den Einsatz von Titan und rostfreiem Stahl bei der verschleifenden, an Segeltücher denken lassende Fassadengestaltung an ihren Vorgänger). Die vom Architekten Bernhard Tschumi als Folies – Verrücktheiten – betitelten und teils begehbaren Kuben, die in unterschiedlicher Nutzung im Parc de la Vilette in Paris verstreut sind, sind von persönlichen Gesprächen mit Derrida ebenso infiziert wie von der Haltung der bzw. zur Dekonstruktion: Keiner der riesigen, stets roten Kuben, die teilweise als Kindergarten oder Kino genutzt, aber auch als bloße Parkskulptur verstanden werden, ist mit einem anderen identisch. Die Kuben sind auf einem das Areal des Parks umfassenden Raster platziert und sind je verschieden (über Rasen, Steinwege oder eine sie verbindende und gleichzeitig den Park beleuchtende Rampe) miteinander verbunden. Das Parkgelände wird gewissermaßen umspannt von einer diskontinuierlichen Architektur, die immer schon im Plural da-steht und von sich selbst abweicht (vgl. Derrida 1988: 227ff.).

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turen, aber das Konzept einer »anderen Architektur« (ebd.), einer sich dem Anders-Sein verpflichtenden Architekur wird auch von HoL lanciert. Häuser40 , wie sie für gewöhnlich in Erscheinung treten, weisen immer eine irgendwie geartete Begrenzung nach außen (und somit innen) auf, sie haben Wände aus Stein, Holz oder Papier, die eine Trennung des häuslichen Innenraums (den sie allererst her-stellen) vom Draußen bewirkt, wobei sie einer »Oikonomie« (ebd.: 219), einer zur Architektur gehörenden Semantik, die sich in Vorstellungen wie Behaglichkeit, Dienlichkeit, Schutz ausdrückt, die ihrerseits Struktur, Verteilung, Entscheidung implizieren, folgen. Dieser Oikonomie entspricht HoL wie das in HoL erzählte Haus und tut dies zugleich nicht: Als Haus, das in der Ash Tree Lane bewohnt wird, hat es eine klare Begrenzung und steht fest auf dem Boden. Es hat einen Garten, mehrere mit diversen Fenstern ausgestattete Zimmer und liegt nahe der Straße, ohne dabei besonders auffällig zu sein – ein scheinbar ganz normales Familienhaus irgendwo im Staate Virginia. Dennoch (ver)läuft es über seine Ränder, transgrediert seine eigenen Hauswände, insofern es als Architekt(e)ur der Verräumlichung stattgibt, wenn es sich raumgebend/-bildend ins potentiell Unendliche ausdehnt, wo der Schall auf keine Mauer mehr trifft und sich Türen in endlosen Fluren aneinanderreihen. Als Buch wiederum ist Danielewskis Roman einerseits von Buchdeckel und -rücken abgeschlossenes Objekt, das jedoch zugleich über diese Begrenzungen hinausgeht, verunmöglichen u.a. Fußnoten als Verlinkungsstrategien ein Ankommen oder Sich-Stillstellen des Sinns, was HoL vielfältig vorführt und ausstellt. Wenn Zampanò im fünften Kapitel die verwackelten Aufnahmen Holloways mit denen Navidsons vergleicht, gerät er über dessen Bildschärfe und -tiefe ins Schwärmen und bemerkt fast nebenbei eine »otherness inherent in that place« (Danielewski 2000: 64), wobei diese Wendung vieldeutig ist, lässt sich jene otherness als ein Etwas, ein (konkretes) Objekt vorstellen, das in that place enthalten ist und zugleich als Typizität von that place. Ein grollendes Ding41 inmitten eines dunklen Ortes ruft den antiken Labyrinth40

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Der Begriff des Hauses ist untrennbar mit dem der Abdeckung – und somit auch der Absteckung – verbunden. Das Althochdeutsche hûs, von welchem das Neudeutsche Haus sich herleitet, steht für einen bestimmten (räumlich-geographisch abgegrenzten) Bereich, der als innerer gegen einen äußeren in Form von umrundenden Planen aus Tierhaut oder ähnlichem geschützt wurde. Da hûs zudem nahe am Signifikanten, aus dem sich die Bezeichnung für Haut (hūt) herleitet, kreist, zeigt sich, wie eng Haus und (das Hüllorgan) Haut etymologisch miteinander verknüpft sind und beide etwas bezeichnen, das eine Grenze errichtet bzw. diese Grenze, die schließlich durchlässiger ist, als sie sein sollte oder dürfte, darstellt (vgl. Baecker 1990: 83). Haus und Haut sind je errichtete Barrieren, die als Gehäuse vor Krankheit, Schmutz und anderen Eindringlingen bewahren sollen. Zur Bedeutung der (schwarzen, weißen) Haut als schützende und daher zugleich zu durchbrechende Körperhülle, beschreibbare Oberfläche und Folterobjekt siehe Benthien, Claudia (2001): Haut Literaturgeschichte – Körperbilder, Grenzdiskurse wie auch zur Haut als psychoanalytische Kategorie, die u.a. maßgeblich am Niederschlag (und daher auch der Verunsicherung) der Ich-Instanz beteiligt ist, siehe Anzieu, Didier (1996): Das Haut-Ich. Holloway etwa scheint, bis er im Schwarz des Labyrinths verschwindet, regelrecht besessen zu sein von einem Ding, dessen Grollen er hören und Anwesenheit er spüren kann und das er in Exploration N°4 zu jagen beginnt: »For Holloway, it is impossible to merely accept the growl as a quality of that place anymore. Upon seeing the torn marker and their lost water, he seems to transfigure the eerie sound into an utterance made by some definite creature, thus providing him with something concrete to pursue.« (Danielewski 2000: 123f). Tom wiederum, während er an seinem Innen-Außen-Posten allein die Nacht verbringen muss, phantasiert, um seine Angst zu überspielen, einen

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mythos auf, den HoL zunächst zitiert. Als Schutzraum und als Gefängnis entwirft der Architekt Daidalos im Auftrag von König Minos das den Minotaurus beherbergende und verbergende kretische Labyrinth; changiert die Figur des Minotaurus zwischen Bedrohlichem und Bedrohtem, ist es schließlich Theseus, der mit Ariadnes Faden Hilfe das Ungeheuer im Zentrum des Baus zur Strecke und sich wieder aus dem Labyrinth heraus bringt. Zugleich nimmt HoL diesen ungeheuren Bezug selbst insofern wieder zurück, als es weniger um ein Objekt innerhalb des Hauses zu gehen scheint, als vielmehr um das zum unheimlichen Akteur avancierende Haus selbst; der Roman selbst scheint keinen Unterschied zu machen bzw. suggeriert einerseits einen solchen Unterschied, um ihn aber andererseits wieder zusammenbrechen zu lassen. Die Andersheit ist in that place als that place. Diese Andersheit, diese Diskrepanz des Raumes des Unheimlichen, die House of Leaves feilbietet, streicht eine »Teleologie der Wohnstatt« (Derrida 1988: 220) durch und macht Platz für eine verheerende Raumdynamisierung, die »Destabilisierung, Dekonstruktion, Dehiszenz und zunächst Dissoziation, Disjunktion, Disruption und Differenz« (ebd.: 228) besagt und als »andere Verräumlichung« (ebd.: 225) formalisierbar wird. Danielewskis Roman geriert sich in zweifacher Hinsicht als Schau-Platz kinetischlabyrinthischer Architektur und insofern einer »anderen Architektur« (ebd.: 231), die vermeintlich still steht und (sich) doch entgleitet. Einerseits betrifft dies eine anhaltende Verräumlichung des Hauses zugunsten des Unheimlichen auf Ebene der Handlung, die den Prinzipien von Kontraktion und Expansion folgt, während zugleich der labyrinthische Raum der Textarchitektur aus einem noch anhaltenden, von differenziert indifferentem Stimmengewirr durchzogenen, Editierungsprozess hervorgegangen ist bzw. noch hervor geht – und entsprechend kein fertiges Produkt, sondern eine Textruine ist, durch die Gespensterstimmen hallen und die immer eine Ruine gewesen sein wird. (Das Haus in) HoL qualifiziert sich demnach als andere Architektur, als »Transarchitektur« (ebd.: 224) oder auch Defekte inkludierende »dekonstruktive Architektur« (ebd.: 226), die, mit dem Unheimlichen paktierend, »die landläufigen Bestimmungen und Normen der Architektur wie etwa Stabilität, Dienlichkeit und Funktionalität zugunsten der […] Veränderlichkeit von Raumordnungen [überschreitet]« (Busch 2009: 48). Diese an das Transarchitekturale gebundene andere Verräumlichung ist durch eine durch sie bewirkte »Dynamisierung des Raumes unheimlich« (ebd.), unterläuft sie doch stabile, bisher zuverlässige Raumsysteme und konfrontiert mit Räumen, die man nicht gewohnt ist, sondern die vielmehr Risse, Devianzen und Abnormitäten des Architekturalen produzieren, die letztlich das Leben kosten können, wie Toms trauriges Verschwinden zeigt; dekonstruktive Strategien, die, wie in Danielewskis Roman, das Architekturale betreffen, destabilisieren das »strukturale Prinzip der Architektur« (Derrida 1988: 226). Das Flurlabyrinth in Navidsons Haus entzieht sich durch »those terrifying shifts which can in a matter of moments reconstitute a simple path into an extremly complicated one«

»Mr. Monster«, der im Labyrinth lebt und von dem er fürchtet, er könnte Hunger haben: »Okay, Mr. Monster. I know you’re there and you’re planning to eat me and there’s nothing I can do about that, but I should warn you I’ve lived for years in fast food, greasy fries, more than a few polyurethane shakes« (ebd.: 254); auch Zampanòs Abhandlung widmet sich in zuvor gestrichenen, von Truant aber dennoch eingefügten Passagen dem Mythos des Minotaur (vgl. ebd.: 110f.).

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(Danielewski 2000: 69) jeder Versteh- und Beherrschbarkeit, es torpediert, wie oben gezeigt, die gekannten Regeln der Physik, es fügt ihnen Gewalt zu: »After all in a very short amount of time Navidson had seen the rape of physics« (ebd.: 395). Für BewohnerInnen und BesucherInnen des Hauses in der Ash Tree Lane kann das, was dort passiert, nur unheimlich sein – »Mortals cannot help but fear those curmurring walls« (ebd.: 123) – denn das andere wird von der Transarchitektur als Transarchitektur buchstäblich hof iert. Weder Architektur noch Anarchitektur42 : Transarchitektur! Sie setzt sich mit dem Ereignis auseinander, sie bietet ihr Werk nicht Benutzern, Getreuen oder Bewohnern, Betrachtern, Ästheten oder Verbrauchern an, sie beruft sich auf das andere, damit es seinerseits das Ereignis, Zeichen, Pfandzeichen oder Gegenzeichen erfindet: Sie ist um die Avance avanciert, die sie dem anderen macht, – und jetzt die Architektur! (Derrida 1988: 224) Im Haus der Navidsons tun sich Räume auf und verschwinden wieder, Raumgefüge modifizieren ihre architekturale Struktur, ohne dass dafür eine Formel oder eine bestimmte Strategie ausgemacht werden könnte und vollzieht damit eine »Bewegung, die in nichts anderem als der Tätigkeit des ständigen Differierens besteht« (Geisenhanslüke 2008: 110). Das Erscheinen, Ausdehnen/Eingehen und Verschwinden von Räumen, der ungreifbare Rhythmus, weist hier insofern Ereignischarakter auf, als er sich nie auf identische Weise wiederholt haben wird wie er zugleich unvorhersehbar ist, denn »[e]in Ereignis ist, was den Erwartungshorizont zerreißt. Es ist das Unerwartbare. […] Es hat die Notwendigkeit der Kontingenz« (Steinweg 2015: 73) und steht dem Schock, dem Imponderablen wie dem Unkalkulierbaren zur Seite. Die Architektur (der Architektur) »never seem[s] to replicate the same pattern twice, or so the film repeatedly demonstrates« (Danielewski 2000: 178); die Transformationen wiederholen nicht einfach einen raumändernden Rhythmus, vielmehr sind sie iterierend: Kein Arrangement aus Räumen

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Der Begriff Anarchitektur ist untrennbar mit dem Namen Gordon Matta-Clark verbunden (und zugleich der Titel eines Studioalbums von Einstürzende Neubauten); Matta-Clark, der nicht mal sein 40. Lebensjahr erreichte, gilt heute als einer der Begründer (oder Ent-Gründer) anarchitekturaler Verfahren und damit dekonstruktiver Architektur. 1943 als Sohn von Roberto Matta geboren, orientierte er seine künstlerische Arbeit an Zersetzungs- und Zerstörungsprozessen architekturaler Gebilde, darunter Fabrikhallen, leerstehende Häuser und Containeranlagen. Matta-Clark reißt in seinen Arbeiten buchstäblich die traditionelle Architektur auseinander, verletzt sie, bricht sie auf, um sich (immer wieder) gegen eine Architektur zu stellen, die nur Zweck und baulichen Konservatismus kennt. Die planvolle Zersetzung bzw. Demontage von Gebäuden, wie sie Matta-Clark mit seinen Cuttings genannten Arbeiten durch Zerschneiden von Wänden, Herausbrechen oder Zertrümmern von Fenstern aus ihren Rahmen, Entfernen tragender Konstruktionen wie Balken oder Zwischendecken, Durchlöchern von Fassaden und Innenwänden etc. vollzog, etablierte sich als (architektural-künstlerisches) Experimentierfeld genau in jener Zeit, als neben traditionellen Körpermodifikationen, wie sie u.a. aus Äthiopien, den Philippinen oder Tansania bereits bekannt waren, auch die Skarifizierung der Haut en vogue wurde: Narbentatauierung vollzieht sich sowohl am kalten Beton als auch am warmen Fleisch; Zier- bzw. Schmucknarben werden ähnlich wie in die Haut eines Menschen auch in die Hülle eines Gebäudes geritzt, mit Kettensäge oder ähnlichem Werkzeug; »Cutting, shattering, fragmenting, dissecting, mutilating, even decapitating: to consider the reception of Matta-Clarks art is to survey a language riven by violence – of gestures at once trenchant and brutalizing« (Lee 2000: 114).

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und Fluren kommt zweimal vor, sodass man ständig mit je anderen Raummodifikationen konfrontiert ist und sich nie ein festes Raumbild ergibt. Nicht innerhalb einer Architektur ereignet sich Unheimliches, vielmehr ist Architektur als verräumlichende das unheimliche und dabei unfassbare Ereignis43 selbst: [Das] Ereignis […], das die Architektur in einer Serie von »ein einziges Mal« wiedererfindet, die in ihrer Wiederholung immer einmalig sind, dieses Ergebnis, ist es nicht das, was jedesmal nicht in einer Kirche oder einem Tempel […], nicht in ihnen, sondern als sie stattfindet […] (Derrida 1988: 224)

5.3.2 Vor-, Aus-, An-, Umbauten oder Bau(t)en in Bewegung Im Folgenden ist es um einen kurzen Blick auf andere, dem a(A)nderen verpflichtete bzw. zuarbeitende Architekturen zu tun, die sich in das HoL-Archiv ebenso einschreiben wie es wiederum auf diese Wirkung gezeitigt haben wird – die »andere Verräumlichung« (ebd.: 225), die die »andere Architektur« (ebd.: 231) lanciert, ist immer auch die Verräumlichung des a(A)nderen, die sich als Architektur des anderen kundtut – es ist die »otherness inherent in that place« (Danielewski 2000: 64). Stephen Kings Rose Red, eine 2002 für das Fernsehen produzierte Miniserie von Craig R. Baxley in Zusammenarbeit mit Stephen King, erzählt die Geschichte eines Hauses, das aufgrund einer Prophezeiung nicht stillstehen darf, das also dem Verbot des NichtBauens unterworfen ist und damit wiederum das Winchester-Haus zitiert: Der jungen Ellen Rimbauer wird nach einer schweren Krankheit die Aufgabe erteilt, den Grundriss ihres großzügigen Anwesens in der Nähe Seattles immer wieder und weiter zu modifizieren, um sich selbst vor einem weiteren Ausbruch ihres körperlichen Leidens zu bewahren, was sie fortan tut. Bereits beim Bau des als Hochzeitsgeschenk geplanten gigantischen Anwesens zu Beginn des 20. Jahrhunderts ereignet sich Mysteriöses, fallen etwa zahlreiche Arbeiter (ja, nur Männer) vom Dach, ersticken auf rätselhafte Weise, werden unter seltsamen Umständen auf der Baustelle erschossen oder gar von fallenden (oder fällenden) Gegenständen geköpft. Ähnlich wie im Haus der Navidsons in der Ash Tree Lane spielen sich im Haus der Rimbauers unerklärliche, mysteriöse Vorfälle ab; besonders frappant erscheint hier die Tendenz des Hauses, Personen wie Dinge zu verzehren: April Rimbauer, die kleine Tochter der Hausherrin, verschwindet beim Spielen in der Küche, ohne je wieder aufzutauchen und ihr Kindermädchen, das des Mordes an ihrem Schützling verdächtigt wird, geht elf Jahre später selbst auf den Fluren des Hauses verloren; eine bekannte Theaterschauspielerin wird zuletzt in der Lounge des Hauses gesehen, bevor

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Peter Eisenman, hierzulande besonders bekannt für das 2005 errichtete Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, unterhielt regen Schriftverkehr mit Derrida und denkt in Aura und Exzeß (1995), einer Sammlung aus Essays, Briefwechseln und Gesprächen, die zwischen Mitte der 1970-er und Mitte der 1990-er Jahre geschrieben bzw. geführt worden sind, über den Nexus von Architektur und Ereignis nach und informiert dabei zugleich über das Haus der Navidsons: »Auch die Architektur kann nicht länger an die statischen Bedingungen von Raum und Zeit, von hier und dort, gebunden bleiben. In einer mediatisierten Welt gibt es keine Orte im alten Sinne mehr. Die Architektur muss sich heute mit dem Problem des Ereignisses auseinandersetzen.« (Eisenman 1995: 194).

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sie für immer zur Verschollenen wird – bis schließlich Ellen, die sich wohl gerade zur Spiegelbibliothek begeben wollte, selbst in ihrem Haus, das sie nie zu Modifizieren geendet hatte, verschwindet. Fast 100 Jahre nach dem Einzug der Rimbauers begibt sich ein Forscherteam unter Leitung der Parapsychologin Reardon in jenes Anwesen, um den Beweis paranormaler Phänomene anzutreten – ähnlich wie bei Navidson und seinem Team wird der Haus- zum Experimentalraum, in dem das Haus selbst erprobt werden soll – und schließlich feststellen muss, dass nicht länger Ellen für architektonische Transformationen verantwortlich zeichnet, sondern das Haus sich selbst umwandelt; bei King wie bei Danielewski avanciert das Haus zum sich selbst modifizierenden Protagonisten, zum Architekteur, innerhalb dessen sich Unheimliches ereignet wie es selbst unheimlich ist. Das Haus der Navidson erinnert außerdem zum einen an ein spezifisches architektonisches Element – die Treppe – russischer Science Fiction-Literatur, zum anderen an ein aus einer franko-belgischen Serie bekanntes Gebäude, die beide nicht minder eine Architektur des Ereignisses auf den Weg bringen. Eine wachsende und schrumpfende Stiege ist eine der Protagonistinnen in Alexander Shitinskis Die Treppe; in dem in den 1970-ern veröffentlichten Roman gelingt es Wladimir Piroschnikow bis zur letzten Seite nicht, ein merkwürdiges Wohngebäude über eine ungeheure Treppe zu verlassen, denn »[d]ie Treppe gab sich nicht geschlagen« (Shitinski 1984: 173). Ohne zunächst zu wissen, wie er, »Beleuchter in einem Theater oder Kulturpalast« (ebd.: 6) von einer verschneiten Brücke in die Wohnung seiner nächtlichen Bekanntschaft gekommen ist, versucht Wladimir auf knapp 200 Seiten, einen Ausgang aus der Mietskaserne zu finden. Während seines ersten Versuchs, hinauszugelangen, begegnet er nicht nur immer wieder derselben, sich scheinbar zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten befindenden Katze, sondern bemerkt zugleich, dass ein von ihm verändertes, sich an der Flurwand befindliches Kreidebild eines Schiffes auch an den Wänden über und unter ihm seine Gestalt wechselt. Ein bisschen hinauf- und hinabgestiegen – aus Langerweile machte er aus der Eigenart der Treppe ein Spiel. So wischte er auf dem Schiffsgemälde einen Mast weg und lief hinunter, zu sehn, was sich dort getan hatte. Das Ergebnis lag auf der Hand: Der Mast fehlte auch unten. Dann setzte er den Mast mit kreidebeschmiertem Finger wieder an und stieg hoch, wo sich selbstverständlich der aufgemalte Mast auch vorfand./Er beschloss, bloß noch treppab zu laufen (weil sich’s so leichter lief), und lief eine halbe Stunde, wohl vierzig Etagen oder mehr, und begegnete so etlichen Katzen und aufgemalten Schiffen. […] Am Ende blieb er stehen, beobachtete spöttisch die Kippe, die er oben weggeworfen hatte und die nun auf einer Stufe unten ausbrannte. (Ebd.: 20) Ohne zur ins Freie führenden Haustür zu gelangen, verbringt Piroschnikow »umlauert von rätselhaften, mysteriösen Vorfällen« (ebd.: 29) in der Folge einige Tage in der Wohnung von Nadja, die im Gegensatz zu ihm zu wissen scheint, wie sie das Mietshaus trotz der »Schelmereien der Treppe« (ebd.: 30) verlassen kann; kurz nachdem sie das Haus zum Einkaufen verlassen hat, will auch Piroschnikow gehen, doch Die Treppe wollte kein Ende nehmen. Mehr noch, sie stellte sich ganz hinterhältig an; er merkte nämlich bald, sie hatte nur noch eine stetig wiederkehrende Etage mit der

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geöffneten Tür von Nadjas Wohnung. Was blieb ihm da übrig, als zu passen und zurückzukehren ins Zimmer […]. (Ebd.: 39) Nach einer kurzen Begegnung mit Nadjas Ehemann, der nicht preisgeben möchte, wie er »dem Einfluss des Hauses« (ebd.: 44) und den »Tücken der Treppe« (ebd.: 69) entkommen ist, versucht Piroschnikow erfolglos über ein Fenster hinauszugelangen und auch an der Seite von Nadjas Onkel verwehrt das Haus einen Ausgang, stehen beide doch nach einem längerem Abstieg wieder vor der Wohnungstür, aus der sie zuvor getreten waren; die Stiege gerät zur Verstiegenheit, insofern »[i]m Wort Verstiegenheit […] die Vorstellung des Aufstiegs mit der Vorstellung des Irrwegs bedeutsam verknüpft [ist]« (Koerner 1983: 20). Mal spiegeln die Wände des Treppenhauses den Protagonisten in unkenntliche Tiefe, mal neigen und krümmen sich die Zimmer der Wohnung, die Nadja mit zwei anderen Damen bewohnt, entgegen jeder physikalischen Gesetzmäßigkeit, sodass Wladimir wie auf einem wackligen Schiffsrumpf sich kaum auf den Beinen halten kann. Nadjas Sohn Tolik bemerkt gegen Ende des Romans im Wohnungsflur eine Kammertür und betritt den kleinen Raum, dicht gefolgt von Wladimir Piroschnikow; die beiden befinden sich scheinbar nicht mehr (nur) im Appartement, sondern werden in »eine andre Welt« (Shitinski 1984: 163) versetzt: Die fensterlose Kammer erinnerte an eine Kapitänskajüte und war voller Dinge, die die beiden Eindringlinge gleich alles andre vergessen ließen. Vor allem fiel ein doppelt verglastes dickes Bullauge auf, hinter dem, so wunderlich dies war, Meer wogte, weit entferntes, wie durch ein umgedrehtes Fernrohr gesehn. […] Der Boden unter den Füßen bebte und schwankte. Durch die Kajütenwände drangen Pfiffe von Bootsmannpfeifen und das Fußgetrappel von Matrosen. Das Meer im Bullauge trieb immer schneller und schneller daher, wälzte Wellen heran in endloser Folge. (Ebd.: 163f). Und obwohl Nadjas Wohnung sich in einem der oberen Stockwerke befindet, sieht Piroschnikow vom Fenster des »exzentrischen Domizil[s]« (ebd.: 121) ihrer Zimmernachbarin direkt auf den Gehsteig: »Donnerwetter! Vierte Etage und Kellergeschoss in einer Wohnung!« (ebd.: 124f). Am Ende des Romans hängt Wladimir buchstäblich in der Luft – an die Dachrinne geklammert, steckt er zwischen Haus und Abgrund fest – ein echter Cliffhanger. Im an HoL erinnernden Roman Das Haus mit den tausend Stockwerken des tschechischen Science Fiction-Autors Jan Weiss wiederum erwacht ein Mann ähnlich wie Dark Citys Protagonist John Murdoch ohne Erinnerung an seinen eigenen Namen oder daran, wie er dort hingeraten ist, auf einer nicht minder merkwürdigen fenster- und türenlosen Treppe, die er nach einer kurzen Orientierungsphase hinaufzurennen beginnt, wobei der in Spalten gesplittete Text bis zum Ende seiner Reise auffällig viele Ellipsen in Form von Gedankenstrichen und Auslassungspunkten feilbietet. In seiner Brusttasche findet er einen Zeitungsausschnitt, der von einem Detektiv namens Peter Brok, der eine Prinzessin aus dem sogenannten Mullerdom herausholen will, handelt; er identifiziert sich als Peter Brok und ist fortan auf der Suche nach einer wohl in Gefangenschaft geratenen Prinzessin. Er, durch chemische Verfahren einige Tage unsichtbar, durchwandert den unüberschaubaren Mullerdom, der »keine Verbindung zur Welt [hat], aber aus ihr emporwächst« (Weiss 1977: 1020), der keine Stockwerke, sondern Gegenden und Zonen hat

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und außerdem ganze Städte wie die »Stadt der Finsternis« (ebd.: 1043) mit Hotels wie dem Eldorado einschließt, was auch den Protagonisten erstaunen lässt. Er lief durch einen schmalen Gang, über eine Treppe, öffnete ein eisernes Pförtchen – und stand plötzlich auf einer Straße! – Zwei Reihen von Häusern, Firmen, Gehsteigen. Nur eines fehlte hier, was zu jeder Straße gehört, auch wenn es niemand beachtet … Nämlich der Himmel. – Statt seiner wölbte sich eine romanische Decke, aus einem Glasstück gegossen, hoch über den Köpfen. Darunter glühte eine riesige Kugel, weiß und unerträglich wie die Sonne im Zenit. (Ebd.: 1034) Das Gebäude, in das laut einer im Dom virulenten Legende sein eigener Architekt eingemauert ist, ist eine stets wachsende, da sich im An- und Ausbau befindliche, Architekturen und Landschaften einschachtelnde, Architektur mit Wänden, in denen Öffnungen aufgehen, Türen ohne Klinken, Räumen, die zu Gaskammern werden, Türen, die plötzlich verschwinden, um sich an anderer Stelle wieder aufzutun, kugeligen Zimmern, Gängen, die sich wie aus dem Nichts auftun und einem Raum voller Hohlspiegel; es gibt einen Park mit Bäumen, einen See, in dessen Mitte eine Insel liegt, Paläste und kleine Hütten, große Tanzsalons und winzige Zimmerchen, riesige Fabrikhallen und enge ArbeiterInnenwohnungen. Ähnlich wie das Haus in Danielewskis Roman ist auch der im Auftrag von Ohisver Muller erbaute Dom eine Art lebendiges Gebäude, das sich rekonfiguriert: Mein Gott, wieviel Treppen und Stiegen gab es hier, die hinauf- und wieder hinunterführten, wieviel Korridore, deren Wände auseinandertraten und sich wieder verengten, deren Decken emporstrebten und wieder herabzufallen drohten. Durch wieviel Räume lief er, durch wieviel große Säle, dunkle Löcher und winzige Kämmerchen, die Gott weiß welchem Zweck dienten. Eben befand er sich auf einer Galerie, die sich um einen leeren, verstaubten Saal hinzog. Dann rannte er wieder über eine Brücke, die über dem Abgrund eines Lichtschachtes hing. […] Und wieder Gassen, neue Treppen, neue Arkaden, neue Räume … […] Und da begann der Boden unter ihm zu versinken. (Ebd.: 1060f.) Das Haus in der Ash Tree Lane in House of Leaves scheint zudem ein (in allen Facetten des Wortes) verzogenes Geschwister in einer namenlosen belgischen Kleinstadt zu haben, dessen Geschichte in der unter Regie von Hervé Hadmar und Marc Herpoux entstandenen dreiteiligen franko-belgischen Miniserie Au-delà Des Murs (2015), die nicht nur ihre von Veerle Baetens, Geraldine Chaplin und François Deblock verkörperten ProtagonistInnen zu BewohnerInnen, BesetzerInnen und ErbInnen einer alten Villa werden, sondern jene Villa selbst zur unheimlichen Hauptakteurin avancieren, lässt, erzählt wird. Au-delà Des Murs (bereits der Titel zielt auf ein Noch-Mehr ab, meint mehr als ein bloßes Dahinter, wie es der deutsche Titel Hinter den Mauern andeutet) ist die Schilderung eines Vor-Falls rund um eine junge Frau, die 2015 von dem ihr Unbekannten André Bainville, der zum Zeitpunkt der Testamentseröffnung bereits dreißig Jahre lang tot ist, ein Haus erbt: Einzelgängerin Lisa, als Logopädin für Kinder im Krankenhaus arbeitend und dabei Kontakt zu KollegInnen, denen sie vorlügt, verheiratet zu sein, meidend, lebt allein in einer anonymen belgischen Stadt, ihre Wohnung ist kaum eingerichtet, Besuch scheint sie nie zu empfangen, dafür aber ein Geheimnis zu haben. Das heruntergekom-

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mene Haus im viktorianischen Stil, das genau gegenüber von Lisas Mietwohnung liegt und zu dessen neuer Besitzerin sie bei einem nicht minder als sie selbst erstaunten Notar wird, wirkt zwischen den dreckigen, kastenförmigen Hochhäusern mit dem Charme eines zu groß geratenen Schuhkartons deplatziert, irgendwie aus der Zeit gefallen: links ein kleiner Turm mit einem wie aus Papier gefalteten Dach, das aussieht wie der Hut einer Hexe aus einem gruseligen Kindermärchen, eingeschlagene Fenster, eine halb eingefallene Eingangstreppe, klapprige Fensterläden, die Fassade von Abgasen grau-schwarz gefärbt. Trotzdem bringt Lisa eilig die wenigen Sachen aus ihrem spärlich eingerichteten Domizil in die neue Immobilie – kaum ist sie eingezogen, hört sie bereits in der zweiten Nacht hinter den mit einer Tapete voll von rohrschachartigen Mustern bezogenen Steinmauern ein Klopfen, ein Pochen, das sie die Wand einschlagen und hinter sie gehen lässt, wobei für Au-delà Des Murs nicht nur die Frage, wo jenes Dahinter sich befindet, frappant wird, sondern vor allem wann man ist, wenn man in, zwischen oder hinter den Mauern wandelt, denn »[i]m Labyrinth zu wandern bedeutet, das Chaos und die entfremdende Dimension der Zeit zu erfahren« (Koerner 1983: 36) – wie es bereits Will Navidson widerfahren ist. Tut sich im Wohnzimmer der Familie Navidson aus Virginia auf unerklärliche Weise eine Öffnung auf, ist es hier Lisa selbst, die sich zum Verfolgen des rätselhaften Geräuschs einen Weg (dem Tier in Kafkas Der Bau ähnlich) freischlägt. Sie gelangt in ein fensterloses Labyrinth, in dem hier und da Kerzen brennen (es ist also bereits jemand da, der sie angezündet hat), wobei schnell klar wird, dass Lisa sich in einem verzweigten System aus verschachtelten Gängen und vielen, in ihrer Zahl nicht abschätzbaren Räumen bewegt – sie erkundet einen modrigen und schummrigen labyrinthischen Komplex, der weitaus größer als die eigentliche Außenfläche der Stadtvilla ist. Einerseits wird an konventionellen Haunted House-Genremustern wie etwa einer zurückgezogen lebenden, rätselhaften Hauptfigur, die regelmäßig schweißgebadet aus Alpträumen erwacht oder einem mysteriösen Testament wie auch klassischen Motiven (Lampen, die nicht richtig funktionieren, knarzende Böden, dunkle Ecken voller Spinnenweben, halbfeuchte Wände, angefaulte Tapete und eingestaubte Möbelstücke) festgehalten, andererseits reißt das Haus sich selbst als einzigen Ort auf und erteilt wie HoL dem klassischen Kammerspiel der üblichen Heimsuchungen durch (Polter)Geister eine Absage. Zunächst gibt sich das Labyrinth, in das Lisa hineingerät, wie die übrige räumliche Gestaltung des Hauses, in das sie eingezogen ist: finster, voller Risse in den Wänden und wie ein altes Gemäuer von einer Schmutzschicht bedeckt. Einerseits selbst Andersheit, wird das Labyrinth im Inneren des Hauses auch von den anderen bewohnt, dabei HoL un-ähnlich auch auf den Mythos des Minotaur anspielend, der hier durch einen Mann mit einem Wildschweinkopf auf den Schultern ins Bild gerückt wird und vor dem Lisa nach dem Betreten des Hauslabyrinths davon läuft, um kurz darauf die Orientierung zu verlieren. Sie trifft während ihrer Erkundungstour, auf der immer wieder Operngesang hörbar wird und bei der sie nur eine Taschenlampe bei sich hat, schließlich auf einen jungen Mann in scheinbar nicht ganz zeitgemäßer Kleidung, der sich ihr als Julien vorstellt und nach eigener Aussage bereits mehrere Jahre in diesem Teil des Hauses umherirrt und sich dabei immer wieder vor Wesen, die er als »les autres« (Hadmar/Herpoux 2015: 00:39:29 – 00:39:30) bezeichnet, unter den Dielen des Bodens in einer Art Zwischenraum versteckt. Lisa und Julien versuchen im Folgenden gemeinsam, einen Ausweg aus der Villa heraus zu finden, denn das von ihr in die Wohnzimmerwand ge-

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schlagene Loch ist bereits zu einer den Ausgang verschiebenden Sackgasse geworden – Lisas Haus mit seiner halb verfallenen Fassade und dem morschen Treppenaufgang ist nicht nur innen größer als außen, sondern zugleich in Bewegung, sodass kein Weg dort gewesen sein wird, wo er sich zunächst befand. Dem Haus der Navidsons ähnlich »[t]he entire place can instantly change and without apparent difficulty change its geometry« (Danielewski 2000: 371). Gezeigt wird die sich über (scheinbar) mehrere Tage erstreckende Hausreise in sinisteren, Licht verschluckenden, kurz: unheimlichen Bildern, sodass ZuschauerInnen immer wieder eine Verortung erschwert bzw. verunmöglicht wird. Nachdem Lisa einem (gefallenen) Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg begegnet, der vorgibt, Juliens Freund gewesen zu sein und ihr als Beweis eine Photographie von sich und seinem Kameraden in einem Schützengraben präsentiert, stellen die beiden fest, dass sie in scheinbar verschiedenen Zeiten leben; Julien ist bereits während des Ersten Weltkriegs im Jahr 1916 in die alte Villa eingebrochen, um in einer regnerischen Nacht Schutz vor Nässe und Kälte zu suchen, wohingegen Lisa ihre Erbschaft und damit den Besitz des Hauses erst 2015 antritt – wann also ist das Hauslabyrinth? Immer, insofern Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft koinzidieren. Der Faltung des labyrinthischen Raumes steht eine Verfaltung sich voneinander unterscheidender Zeitebenen bei; Zeit und Raum geraten zu sich selbst in Schieflage, insofern die alte, im viktorianischen Stil gehaltene Villa zur Verzerrerin, Überlagerin oder Verschleiferin von Chronologie und Topologie zugunsten einer Gleichzeitigkeit des eigentlich Ungleichzeitigen avanciert. Sie suchen aufgrund einer von Lisa erinnerten, im Testament zitierten Bibelstelle44 nach einer roten Tür, die sie zunächst zu einer kleinen Kapelle führt, wo sie auf eine Tür treffen, die allererst durch das Blut und den Schmutz an ihren Händen rot gefärbt wird und durch die sie nicht nach Draußen, sondern in das Innere eines ob seiner Größe imposanten Theatergebäudes gelangen. Sie bewegen sich zum Bühnenraum, gehen zwischen der scheinbar nur bemalten Pappe einer barocken Waldkulisse hin und her, bis sie vom Nebel umspielt einander aus den Augen verlieren und Lisa sich schließlich in einer lichtdurchfluteten Waldlandschaft wieder findet, wobei im Wald selbst, wie man später durch die von Geraldine Chaplin verkörperte Figur Rose, die nicht minder mysteriös als das Haus selbst bleibt, erfährt, die Zeit langsamer als in an die Mauern angrenzenden Teile des Hauses vergeht – es lässt Ungleichzeitiges nicht nur koinzidieren, sondern rafft und dehnt diese je schon durcheinandergeschichteten Zeiten je nach (unmöglich in genaue Relation zu den Außenwänden auszumachendem) Standort. In einem weiteren Haus am See, das von der älteren Rose und der etwa zwölfjährigen Sophie bewohnt wird, ohne dabei besonders wohnlich zu sein, erfahren ZuschauerInnen vom etwa fünfzehn Jahre zurückliegenden Unfalltod von Lisas jüngerer Schwester, die eben jene Sophie aus dem Haus zu sein scheint. Das Au-delà des Titel weist nicht nur gemeinsam mit dem auf dem Schlachtfeld gefallenen Soldaten, sondern auch durch die Figur der jungen

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Einzig anstrengend an dieser spannenden und Raum aufspannenden Serie ist der christliche Drive; der unbekannte Erblasser zitiert in seinem Testament einen Bibelvers aus dem Evangelium des Johannes, Kapitel 10, Vers 9: »Ich bin die Tür. Wenn jemand an mir vorbeikommt, wird er gerettet, er kann eintreten, er kann hinausgehen und eine Weide finden« (EÜ 1980: 1284), durch den Lisa und Julien den Weg einschlagen werden, der sie schlussendlich aus dem unheimlichen Gebäude herausbringt.

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Sophie, deren Tod durch Ertrinken in einem See scheinbar mit Lisas Unachtsamkeit zusammenhängt, auf die Anwesenheit der (Un)Toten; das Jenseits der Mauern weist auf ein Jenseits der Differenz von Leben und Tod, von Vergangen(em) und Bestehend(em), von Innen und Außen – und damit auf die Aufhebung jeder Differenz. »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen« (Wolf 2007: 11), so zitiert Christa Wolf in Kindheitsmuster (1976) William Faulkners »The past is never dead. It’s not even past« (Faulkner 2015: 85) aus seinem Requiem for a Nun (1951) und bringt damit eine Formel für die Ereignisse hinter den Mauern, das kein bloßes Dahinter, sondern einen anderen Ort, einen anderen Schauplatz mit ganz eigener Chrono-Logik anspricht, auf den Weg. Das Innen desintegriert als Hauslabyrinth inklusive nicht absteckbarem Waldgebiet ein noch irgendwie denkbares Außen – die an Lisa vererbte Villa geriert sich als das ursprüngliche Prinzip des Kleiner-Werdens unterlaufende architektonische Matrjoschka, die in sich immer weitere und dabei scheinbar immer größer werdende Räume wie einen Theatersaal oder ein Kirchenschiff einschließt. Nach einigen Turbulenzen gelingt es Julien und Lisa, durch einen Sprung in die Tiefe in den kleinen Weiher nahe Roses Haus, in einem See außerhalb des Hauses wieder aufzutauchen – getrennt voneinander durch die Zeit, die sie schon im Haus insofern voneinander entfernt hatte, als sie sich für eine buchstäblich unbestimmbare Zeit aus den Augen verlieren: Während Lisa scheinbar nur zwei Tage bei Rose und ihrer kleinen untoten Schwester bleibt, scheint Julien mehrere Jahre allein im restlichen Teil des Hauses verbracht zu haben, was nicht nur sein langes Haar und sein mittlerweile gewachsener Bart indizieren, sondern die Bemerkung, er habe drei Jahre lang auf Lisa gewartet. Julien schließlich verfasst, wieder angekommen in seiner Zeit, unter dem Pseudonym Bainville, zu dem er sich macht, da er diesen nicht finden kann, das Buch Quand tu seras perdue (Wenn du verloren sein wirst), das Lisa, nachdem sie aus dem Haus heraus- und wieder in es hineingegangen ist, in dem Sessel, in dem Juliens Leichnam dreißig Jahre lang gelegen hat, findet. Julien wird Lisa das Haus vererbt haben und sie wird ihn daraus retten, nachdem er schon lange nicht mehr drin ist. Sie wird mit ihm gemeinsam das Haus verlassen, nachdem er bereits dreißig Jahre lang tot ist und er wird sie um Rettung bitten, nachdem er gerettet worden ist. Das Haus, wie das Haus der Navidsons in House of Leaves innen größer als außen, verschleift Zeiten als auch Räume in- bzw. schichtet sie untrennbar auf- und durcheinander, kurz: es erzeugt die Paradoxie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, dispensiert doch die Architektur diachrone Zeitabläufe, insofern sie Vor- und Nacheinander übereinander legt und somit die narrative Logik von Davor und Danach brüchig werden lässt oder gar umkehrt; das Haus produziert einen unmöglichen Raum bzw. ist dieser, innerhalb dessen Zeit kollabiert. Die Bewegung der labyrinthischen Architektur adressiert bzw. erstellt nicht nur räumliche, sondern auch und vor allem die Zeit betreffende unmögliche Konstellationen; obwohl die Zeiten (und damit Räume) der ProtagonistInnen sich gegenseitig ausschließen, spannt das Haus ein Netz aus Inkompatiblem, verzahnt Antagonismen und vereint Disparates. (Dekonstruktive) Transarchitekturen – sowohl die sonderbare Treppe Shitinskis als auch die Stadtvilla in Au-delà Des Murs sowie das im Inneren ein kinetisches Labyrinth einschließende Haus im Ostküstenstaat Virginia in Danielewskis Roman – geben dem (unheimlichen) Ereignis der (anderen) Verräumlichung und insofern der Verräumlichung des anderen statt. In der Formel »other areas of that place«, die im Roman auf

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Seite 178 begegnet, korrespondiert jenes other mit der bereits erwähnten »otherness inherent in that place« (Danielewski 2000: 64); diese other areas sind aufgrund ihres Iterativitätscharakters je auch areas of the other, Felder des a(A)nderen. (Labyrinthischkinetischer) Raum ist Effekt bzw. Produkt der (Bewegung der) von der Transarchitekur gestifteten Verräumlichung, einer »andere[n] Verräumlichung« (Derrida 1988: 225), die mit dem Unheimlichen konspiriert. Nicht Unbewohnbarkeit, sondern ein Begehren nach Ver-Rückung, Ver-Stellung des Wohnens und des Gekannten drängt ins und aus dem Architekturale(n), wenn es anders im Sinne einer stabile Raumordnungen verunsichernden Deformation wird, wie es das Labyrinth im/des Haus(es) durch jene »constant refiguration of doorways and walls« (Danielewski 2000: 120), »those replicating chambers and corridors« (ebd.: 90) ohne Unterlass vollzieht. Der Raum öffnet sich hier weniger auf das Außen, er faltet es vielmehr ein als ein Irritationen wie Erschütterung Verursachendes, das den homogenen Raum sabotiert. Eine andere Architektur, die die (verletzende) Öffnung – Loch, hole, HoL – herkömmlicher Bauformen leistet, erschließt »einen Raum, ›der nicht mehr nach den stabilen Ordnungsmustern traditioneller Architekturrationalität gefügt ist‹ und daher eine ganz andere räumliche Wahrnehmung und Erfahrung bereithält« (Busch 2009: 47). Die Verräumlichung der postmodernen Architektur ziele auf eine heterotopische Raumgestaltung, die offen genug ist, das Ereignis des anderen zu begünstigen, indem der Dissoziation gegenüber der Versammlung und dem Unheimlichen gegenüber dem Heimischen gewissermaßen der Vorzug gegeben wird. Eine solche Verräumlichung gibt einen anderen Raum. (Ebd.: 49) Die in HoL zu lesende, als dauerhaftes und dabei stets unterbrochenes Ausdehnen und Schrumpfen des Labyrinth-Raumes von statten gehende Verräumlichung, ist nicht (nur) unheimlich, weil sie das Außen, das radikal Andere, den Tod affiziert, sondern weil sie prozessiert, dass das Außen nicht in totaler Differenz zum Innen, sondern als ›verandertes‹, vielfach gefaltetes, Innen erscheint; das Innen wird nicht vom Außen befallen, infiziert oder heimgesucht, sondern ist die (zugleich aufgeschlossene wie versperrte) Gleichzeitigkeit von Innen und Außen. Unheimliche Architektur ist abwegig, befindet sich nicht nur in auf Dauer gestellter Bewegung und damit permanenter Veränderung, sondern setzt sich über physikalische Grundkonstanten hinweg, lässt nach oben fallen oder Räume Dinge verschlingen. Diese disparate, diskrepante, diskontinuierliche Devianz-Architektur erstattet nicht dem oikonomischen Wohnen, sondern dem Unerwarteten wie dem Sprunghaften einen Raum (vgl. ebd.: 47). Das Haus der Familie Navidson lässt sich nicht wie ein schützendes Heim bewohnen, sondern ist als von sich selbst differierendes »eine Architektur des Heterogenen, der Unterbrechung, der Nicht-Koinzidenz« (Derrida 1988: 228), die um eine »Formung und Aktivierung der Dissoziation« (ebd.: 228) bemüht ist, kurz: eine andere Architektur, »deren Transformationen sich nie in einem Kontinuum zufriedenstellen, stabilisieren, installieren, identifizieren lassen« (ebd.: 227). Nicht zuletzt ist auch das unterirdische, vom Tageslicht abgeschnittene Gangsystem in Kafkas Der Bau (1928) ein bewegliches Ensemble aus Kammern, Verbindungs- wie auch Hauptgängen und diversen Plätzen zum Verweilen. Die kaum zählbaren Gabelungen des stetig unter Inspektion stehenden architekturalen Systems stiften die »Mannig-

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faltigkeit des Baus« (Kafka 2012: 430), der ein »volles kleines Zickzackwerk von Gängen« (ebd.: 432) ist; die vom Tier gegrabenen Gänge verfalten sich zu einem permanent sich verschiebenden labyrinthischen Komplex mit »ungeheure[r] Ausdehnung« (ebd.: 428), insofern sich die stets beunruhigte und von potentiellen Eindringlingen (oder bereits Eingedrungenen) bedrohte tierische Erzählstimme, zugleich Herrin als auch Untergebene des »Labyrinthbau[s]« (ebd.: 433) als umarbeitend vorstellt: »Nach solchen Zeiten pflege ich, um mich zu sammeln, den Bau zu revidieren und, nachdem die nötigen Ausbesserungen vorgenommen sind, ihn öfters, wenn auch immer nur für kürzere Zeit zu verlassen« (ebd.: 432). Diese stetigen Umbaumaßnahmen bedingen zweifaches Irre-Gehen: Es kommt einerseits durchaus vor, dass sich das erzählende Tier im eigenen Labyrinth verirrt, andererseits scheint es allmählich ob seiner Bautätigkeit (und einem später auftretenden, nicht lokalisierbaren Zischgeräusch, das durchaus an das Zischen in Cube denken lässt) paranoid zu werden, wird es doch »besinnungslos vor Sorge um den Bau« (ebd.: 435), dem bereits »viele, vergebliche Bauversuche« (ebd.: 427) vorangingen und den es und sich bedroht sieht, sodass es beginnt, den »Traum eines ganz vollkommenen Baues zu träumen« (ebd.: 439), was unablässiges architekturales Planen, Entwerfen, »Verschönerungsarbeiten« (ebd.: 450) und Gestalten provoziert. Sein zum Schutz angelegter, wiederum über ein »Eingangslabyrinth« (ebd.: 434) erreichbarer Bau avanciert zur Architektur des Unheimlichen, die nicht nur »Wirkung« (ebd.: 442) tut, sondern die Grenzen zwischen Bauendem und Gebautem rissig werden lässt, wenn das Tier zu den Gängen und Plätzen spricht: »Ihr gehört zu mir, ich zu euch, verbunden sind wir, was kann uns geschehen« (ebd.: 443) und »die Empfindlichkeit des Baus hat mich empfindlich gemacht, seine Verletzungen schmerzen mich, als wären es die meinen« (ebd.: 454). Zwischen (der Stabilität von) Architektur und (den Bewegungen) organischer Masse und damit in der Nähe nicht nur von Kafkas Bau, sondern auch des Hauses der Familie Navidson bewegt sich wiederum das vom digitalen (Internet)Künstler Mark Napier als Alternierungsprozess entworfene Projekt Smoke von 2007, zu sehen in der New Yorker Bitforms Gallery, bei dem unter Heranziehen einer speziellen Software virtuell »ein bewegliches Gebäude45 , das sich krümmt und zurückschnellt« (Jaschko 2011: 113) feilge45

Helge Mooshammer beschreibt in Cruising – Architektur, Psychoanalyse und Queer Cultures zwei KünstlerInnenprojekte, die Architektur sich bewegen und zu Kinetikmaschinen bzw. Architekteurinnen avancieren lassen. Eines dieser Projekte ist ein Pavillon – transPORT 2001 –, der seinen Platz im Rotterdamer Hafen gefunden hat und der anlässlich der Ernennung Rotterdams zur Kulturhauptstadt Europas von den Architekten Kas Oosterhuis und Ole Bouman entworfen wurde (die zweite von ihm beschriebene bewegte Architektur ist die Aegis Hyposurface, eine Art interaktive(s) Kunstwerk(oberfläche), mit dem sich die ArchitektInnengruppe dECOI den ersten Platz in einem Wettbewerb um die künstlerische Gestaltung des Theaterfoyers des Birmingham Hippodrome sicherte). Die Besonderheit des transPORT 2001 nun ist in seiner eigentümlichen Bewegtheit zu suchen, biegen sich doch die Wände stets anders und beulen gewissermaßen immer wieder neu aus, »indem die Form der Gebäudehülle von den Bewegungen der anwesenden Personen gesteuert wird. Es wächst und schrumpft entsprechend der Frequenz seiner Benutzung. Um dies zustande zu bringen, sammeln im Gebäude angebrachte Sensoren Daten, die über vorentwickelte Mechanismen in der baulichen Konstruktion zu einer Formveränderung in Echtzeit führen.« (Mooshammer 2005: 131). BesucherInnen sind also in die (nicht ganz zu erfassende) Lage versetzt, durch ihr Verhalten die Oberflächenstruktur eines Gebäudes zu transformieren, zu morphisieren und zu

5 Unheimliche (Schrift)Räume: Das (Haus in) House of Leaves

boten wird, wobei Napiers architekturale Rigolade als »Objekt, das sich auf dem Grad zwischen Ding und Geschehen bewegt: eine organische, variable Form, die den ambivalenten Prozess von Dekonstruktion und Konstruktion darstellt« (ebd.) inszeniert wird, in dessen Folge »Architektur in eine dynamisierte46 Skulptur47 verwandelt« (ebd.) und auf eine Leinwand projiziert wird. Frank Gehrys Tanzendes Haus in Prag oder das Crooked House, das sich von den Architekturentwürfen des schwedischen Graphikers Per Dahlberg inspiriert zeigt (vgl. Hearst/Johnstone 2017: 48), erheben bereits das Prinzip der scheinbar sich im Abdrift des Materials befindlichen Fassade zur ästhetischen Strategie des Architekturalen – Kinetik wird trotz Statik integrativer Bestandteil des Bauwerks, denn »Flächen werden verzerrt, Körper verdreht, zerdrückt, zerknautscht, verwirbelt, als würde es sich um biegbares, textilartiges Material handeln. […] Der Eindruck von Instabilität, von Bewegung wird erzeugt« (Bauer 2020: 187)48 . Smoke zeigt ein sich auf-

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kinetisieren. Die Bewegung, die von transPORT 2001 vollzogen wird, unterliegt also keiner der Architektur eigenen Dynamik, sondern orientiert sich an den Subjekten, die den Pavillon entweder in Fleisch und Blut oder virtuell durchschreiten. Das im Jahr 1962 einen Monat im Amsterdamer Stedelijk Museum installierte, dabei experimentelle Ausstellungskonzept Dylaby sechs verschiedener KünstlerInnen, darunter etwa die besonders durch ihre Nanas bekannte Niki de Saint Phalle oder der kinetische Künstler Jean Tinguely, der auch und vor allem durch seine beweglichen (Maschinen)Skulpturen auffällig wurde (beide KünstlerInnen arbeiteten vier Jahre nach der Dylaby-Ausstellung an der Rauminstallation zu Hon im Museum für Moderne Kunst in Stockholm mit, bei welcher eine innen hohle, weibliche Körperskulptur zum begehbaren Labyrinth, das durch die von weit gespreizten Beinen umgebene Vagina betreten werden musste, avanciert (vgl. Hankwitz 1996: 162ff.)), war eine Art BesucherInnen involvierendes »induktive[s] Spiel« (Bätzner 2007: 120). Der von Robert Rauschenberg gestaltete Eingang bzw. die Eingänge des Dylaby führten BesucherInnen mal in ein vom Licht und damit von der Möglichkeit des Sehens abgeschnittenes Kammersystem, mal in einen zu durchkletternden Raum aus verschiedenen Holzbalkenkonstruktionen; jeder einzelne Raum unterschied sich in Konzept und Gestaltung von den jeweils anderen, wobei »der Tastsinn der Besucher bewusst adressiert wurde« (Tittel 2019: 142) und BesucherInnen etwa »in einen gekippten Museumssaal [gelangten], in dem sie auf den mit Gemälden bestückten ›Wänden‹ herumspazierten« (Bätzner 2007: 120); neben einem Schießstand gab es im Inneren dieser innerhalb des musealen Raums errichteten labyrinthischen Tastgallerie auch an den Wänden lehnende StatistInnen, eine Maschinenskulptur und verschiedene, oft nur fühl- oder riechbare Materialien (an den Wänden oder als Wände), durch die und an denen entlang getourt wurde. ArchitektInnen zeigen sich am Bewegungsdispositiv ähnlich interessiert wie VertreterInnen der Kinetischen Kunst; ihnen ist es neben Licht- und Farbspielen ermöglichenden Fassaden besonders um den Einsatz das Prinzip der Stabilität unterlaufender Baustoffe und adaptiver Bauelemente zu tun, die Gebäuden eine gewisse Dynamik verleihen. Vgl. hierzu Schumacher, Michael et al. (2010) MOVE: Architektur in Bewegung – Dynamische Komponenten und Bauteile, Basel als auch Schumacher, Michael (2019): New MOVE: Architektur in Bewegung – Neue dynamische Komponenten und Bauteile, Basel. Bereits Ende der 1950-er Jahre entwarf Frei Otto biomorphe, dabei flexible wie vergängliche Seil- und Drahtarchitekturen, wie etwa eine Zeltdachkonstruktion zur Überdachung der Sitzplätze der Felsenbühne Luisenburg oder das (immer wieder auf- und abgebaute und schließlich restaurierte) Sternwellenzelt des Kölner Tanzbrunnens und stellte damit die Weichen für von der Idee der Kinetik getragenen Architekturen. Frei Otto, neben Gottfried Böhm der einzige deutsche Pritzker-Preisträger, hatte sich besonders hängenden, dabei netzartigen Dacharrangements und Leichtbauten verschrieben. Transportable als auch in sich veränderbare Konstruktionen wie etwa Hans-Walter Müllers aufblasbares Vinyltheater bilden einen (weiteren) Nexus zwischen art ciné-

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lösendes, sich im kontinuierlichen Umschreibungsprozess befindliches bzw. zu dieser auf Dauer gestellten Umschreibung transformiertes Gebäude (das Empire State Building), das zuweilen an Erwin Wurms Kunstprojekt Fat House (2003), eine Art begehrbare Skulptur inklusive Videoinstallation im Inneren, bei dem ein aus Plastik gefertigtes Haus, das aussieht wie ein Schmelzkäse und scheinbar jeden Moment zerlaufen könnte, erinnert (wobei bereits Entwürfe von etwa Zaha Hadid eine gewisse Fluidität des Architekturalen ausspielen, also Kinetisches mitdenken bzw. ›verbauen‹) – und sich damit in ein Archiv beweglicher Häuser einschreibt.

5.4 Labyrinthische Architexturen Verräumlichung durchzieht als Ensemble expandierender und verschiebender Vorgänge House of Leaves; sie motiviert, dass und wie Personen handeln, determiniert ihre Aufenthalte und Bewegungen in Raum und Zeit – denn sie »[empfangen] von dieser anderen Verräumlichung die Erfindung [ihrer] Gesten« (Derrida 1988: 225) – und letztlich ihr Verschwinden darin. Es ist jedoch nicht nur von Vorgängen und Effekten (labyrinthischer) Verräumlichung zu lesen, sondern Verräumlichung ist vielmehr ›selbst‹ zu lesen bzw. von LeserInnen durch lektürekonstitutive Operationen zu verrichten. Die labyrinthische (Archi)Textur von HoL entsteht zunächst durch eine putativ endlose Fülle an zitathaften Verweisen (allen voran die von Zampanò zusammengetragenen Anmerkungen wie die von Truant eingestreuten Zusätze), sodass der Roman u.a. »networked novel« (Pressman 2006: 107), ein weitverzweigtes System aus Pfaden, Sackgassen und mehrspurigen Straßen ist. Die Möglichkeit des simulativen Verlinkens, die der exzessive Fußnotenapparat aufwirft, exponiert eine Lektüreerfahrung des ewigen Hin und Her, welches HoL wiederum auf Buchseiten (zurück)wirft. Links eröffnen eine Struktur des Verweisens49 ,

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tique und Architektur; der 1970, ein Jahr nach Entstehung seiner pneumatischen Kirchenkonstruktion angefertigte, ca. 600 kg schwere Theatersaal konnte in weniger als einer halben Stunde mit Hilfe von Pumpen aufgeblasen werden und fasste etwa 800 Menschen (vgl. Popper 1975: 96). Müller selbst lebt seit den 1970-er Jahren in einem von ihm entworfenen Haus zum Aufblasen in der Nähe von Paris, das sogleich die erst in den 1990-er Jahren sich entwickelnde Blob-Architektur antizipiert. Die Verweise, die vor allem Zampanò seinen Aufzeichnungen in Form von Fußnoten anfügt und die das Haus der Navidsons zu exponieren versuchen, reichen dabei u.a. von Heideggers Ausführungen zum Begriff des Unheimlichen, Otto Fenichels Aufsatz Zur Psychologie der Langeweile, dem Begriff des Echos, der Geschichte Magellans, A History of Architecture von Spiro Kostof über Anspielungen zu Ovids Metamorphosen, dem Buch der Bilder R.M. Rilkes, Goethes Gespräche mit Eckermann bis hin zu Kommentaren zum TNR, die u.a. von Stephen King, Jacques Derrida, Stanley Kubrick und Hunter S. Thompson stammen sollen. Man ist hier verführt, jenes Haus als leeren Signifikanten, der sich »nur mit-teilt, indem er sich zurückzieht« (Tholen 2001: 45) zu klassifizieren. Zampanò und mit ihm Truant schreibt um einen leeren Signifikanten herum, denn weniger als das Haus in der Ash Tree Lane tatsächlich zu signifizieren, signifiziert das Haus als leerer Signifikant die Unmöglichkeit jeder Signifizierung; leere Signifikanten entbehren nicht jeglicher Verweisfunktion – ganz im Gegenteil, sie treiben das Verweisen ins Exzessive – sondern performieren das Scheitern von Sinngebung, sprich: ihren eigenen Fort-Gang. Herum um den leeren Signifikanten Haus wird geschrieben, er wird als Verfehlung her-geschrieben in zahlreichen Um- und Beschreibungen von Zampanò, Truant und all den anderen Stimmen. Das Haus wird nicht erzählt, es wird – als ein

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ein tendenziell ewiges Weiter- und Wiederlesen durch An- und Verknüpfungen; sie sind gewissermaßen Abbiegungen oder -kürzungen, die man im Cyberspace nehmen kann, Sprünge in eine andere, neue oder zurück in die Richtung, aus der man kam und aus der heraus weitere virtuelle Schritte gegangen werden oder die ein dead end sein kann. Diese Verflechtungsstruktur aus Vor- und Rückwärtsbewegungen ähnelt (sich) labyrinthischer Bewegung (an), macht das Labyrinthische und das Kinetische dieser Architextur50 aus: Ein System aus Gängen und Pfaden, in dem man durch Wegfaltungen potenziell unendlich umherwandern kann, was die Buchseite in HoL insofern verunheimlicht, als sie LeserInnen auf die Materialität der Schrift stößt, die sonst als vermittelndes Medium in den Hintergrund tritt, also überlesen wird; wenn LeserInnen »auf diese Materialität der Schrift selbst gestoßen werden, wird uns die sonst so vertraute, heimliche Buchseite unheimlich« (Binotto 2013a: 122). Danielewskis Roman erscheint als labyrinthischer, multilinearer Hypertext, als Netz aus Verweisen, die wiederum auf etwas verweisen, das selbst auf einen anderen Zusammenhang deutet usw. HoL reizt das Prinzip einer Verweisstruktur bis hin zur Desorientierung aus: LeserInnen sind ›Lost in (uncanny) Hyperspace‹. Written in the age of the Internet boom and crash and published in 2000, House of Leaves reflects and refracts its digital environment in its print pages. Formally, the novel is structured as a hypertext, a system of interconnected narratives woven together trough hundreds of footnotes. (Pressman 2006: 108) All die Zitationen und Verweise erzeugen dabei jedoch keine (oder nicht nur) bedeutungsgenerative Neu- oder Anordnung, sondern betreiben bedeutungsdegenerative Unordnung – ein den Sinn zerstörendes Verzweigungssystem als Gleichzeitigkeit von Bruch und Kontinuität. Diese vom Roman eröffnete (potentiell misslingende) Verweisstruktur exponiert zugleich seinen räumlichen Charakter; der Fußnotenapparat

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den Widerstand der Bezeichnung prozessierender leerer Signifikant in einem als leere Fülle zu bezeichnenden Zitationsnetz – gewissermaßen ›verzählt‹. Das Haus ist in allen Facetten des Wortes Um-Schrift. Device 6 ist ein mit seiner eigenen textuellen Verfasstheit spielendes Text Adventure der besonderen Art: Von schwedischen SpieleentwicklerInnen des Konzerns Simogo für iOS entwickelt, lesen SpielerInnen hier nicht nur die Architektur der zu erkundenden Welt als Narrativ, sondern manövrieren sich durch den sich als Architextur gerierenden, dabei Soundelemente einsetzenden Text. Die Protagonistin (und mit ihr SpielerInnen) Anna, die ganz ähnlich wie die Figuren aus Dark City, Cube und Hypercube, ohne jegliche Erinnerung, wie sie an den ihr unbekannten Ort gelangt ist, plötzlich an jenem allein erwacht, sieht sich mit diversen Rätseln konfrontiert, die sie lösen muss, um den Ort wieder verlassen zu können. Teil des Rätsels ist das Rätsel als solches auszumachen: Es gibt keine klare Aufgabenstellung, sondern es muss versucht werden, die gestellten Rätsel der Architextur als solche zu erkennen, um sie zu enträtseln, sodass die architekturale Umgebung selbst zum Gegenstand der Verrätselung avanciert. Anna befindet sich, das wird nach dem ersten Level klar, auf einer Insel, von der sie nicht weiß, in welchem Teil der Welt sie liegt; auf dieser Insel befinden sich zwei gegenüberliegende, von außen identische Schlösser sowie ein Leuchtturm. Das Spiel erzeugt eine unheimliche Atmosphäre nicht nur durch dieses beunruhigende, wenn nicht bedrohliche, Ausgangsszenario, sondern wartet als multimediales Ereignis zugleich mit verstörenden Geräuschen und beklemmenden wie furchterregenden Klängen auf, wobei der virtuelle Text, die Buchstaben selbst zu einer zweidimensionalen Architextur arrivieren: Geht Anna beispielsweise eine Treppe hinunter, nimmt auch der Text die Form einer Treppe an – er wird zur Treppe und lässt die Differenz von Les- und Sichtbarkeit implodieren.

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erzwingt einen Umgang der LeserInnen mit dem Medium Buch als labyrinthischem Raum, es provoziert jene Bewegungen und Unterbrechungen, die das Labyrinth sowohl bedingt als einfordert: Verzögerung51 , Vor- und Rückwärtsgehen, Drehungen, Steckenbleiben, die Richtung wechseln, dieselbe Stelle abermals passieren. Lektüreprozesse sind nie geradlinig, Eindeutigkeiten produzierend, sondern ein von HoL radikalisiertes Hin-und-Her-Bewegen auf dem Blatt und zwischen den Seiten, denn »[m]an geht niemals durch den Text hindurch, ohne sich zwischendurch vielfach zu wenden, umzudrehen, die Richtung zu wechseln. Es ist der Parcours des Textes selbst, der diesen gewundenen Lese-Weg erzwingt […]« (Schmitz-Emans 2000b: 135). Besonders das neunte Kapitel52 , von desser spezieller Anordnung nicht gewusst werden kann, wer genau sie arrangiert hat (die Herausgeber weisen in Fußnote 165 darauf hin, dass Truant sich weigerte, darüber Auskunft zu geben, ob er oder Zampanò verantwortlich zeichnet) (vgl. Danielewski 2000: 134), zwingt LeserInnen dazu, jene labyrinthischen Bewegungen auszuführen, die das Lesen in einen Verzögerungsprozess von Vor- und Rückwärtsbewegungen geraten lassen, wobei »dieses typographische Labyrinth konstruiert [wird], indem der Text destruiert wird« (Gehring 2013: 132). Fußnoten tauchen etwa gedoppelt auf, erscheinen an mehreren Orten gleichzeitig, sodass ein Hin- und Herspringen unter Verlust der Orientierung im und vom Textraum eingefordert wird. Sie markieren ein Wort im Haupttext, an das sich eine Fußnote anschließt und sind zugleich an anderer Stelle die Fußnote einer Fußnote: Fußnote 134 etwa taucht im Haupttext und in den Fußnoten selbst auf (als Fußnote der Fußnote 137), sodass man wieder zurück lesen bzw. blättern muss; gleiches gilt für Fußnote 129. Fußnote 133 hingegen verweist explizit auf andere, zurückliegende oder noch kommende Kapitel und fordert zu einem Rückwärtsgang bzw. einem Vor(wärts)gehen auf, ein Verfahren, das Fußnote 123, die kapitelübergreifend sowohl auf Seite 110, 313 und 336 auftaucht, ähnlich ausreizt. Die Verschlungenheit des Textes wird einmal mehr sicht- und lesbar, wenn etwa Fußnote 146 auf Seite 120 am linken, oberen Rand der Blattseite beginnt und sich

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So wird die Geschwindigkeit, die die Möglichkeit, von Link zu Link zu springen, suggeriert, durch das Überangebot von ›linkischen‹ Abkürzungen massiv gedrosselt, wobei es zu einer Art »rasendem Stillstand« (Virilio 1997: 126) kommt. Ebenfalls im neunten Kapitel werden Segmente des Textes zu Krypten, dabei (vom Text) Ausgeschlossenes (in den Text) einschließend (man erinnert sich hier auch an Judith Butlers Verständnis des Rahmens: Was aus dem Rahmen ausgeschlossen wird, wird im Rahmen selbst kryptiert (vgl. Butler 2009: 75), eine »intime Exteriorität, die Extimität« (Lacan 1996c: 171)): Unvermittelt tauchen über mehrere Seiten hinweg blaurandige Quadrate auf, vorgebend, zu beinhalten, was der eigentliche Romantext ausspart. Ihre Gegenstücke auf der je anderen Seite des Blattes geben den gleichen Inhalt, allerdings in Spiegelschrift wieder, sodass vermeintlich Ausgespartes in verdrehter Weise auf der nächsten Seite wieder-kehrt. Der ›Inhalt‹ der Vierecke besteht aus Aufzählungen all dessen, was man im Haus-Labyrinth der Familie Navidson scheinbar nicht vorfinden kann (wie etwa einen Luftbefeuchter oder ein Doppelwandrohr). Diese Vierecke werden als nicht-deckungsgleiche zu Quadranten des Ausschlusses, erscheinen als kryptische Zonen, die eigentlich Ausgeworfenes/Verworfenes dem Text innerlich werden lassen, also eine Gleichzeitigkeit von An- und Abwesenheit erzeugen, was, Binotto an dieser Stelle folgend, unheimlich ist; und »[v]ielleicht eignet sich aber gerade auch diese Erkenntnis, nämlich den kryptischen Bau weniger als Architektur, sondern vielmehr als eine Architextur zu begreifen, als ein Geschenk, das die Psychoanalyse für ihre Anleihen nun ihrerseits an die Architektur zurückgeben kann« (Laquiéze-Waniek 2012: 67).

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in Form einer Spalte bis Seite 134 liest, wo sie wiederum auf eine weitere Fußnote (147) verweist, die ihrerseits auf Seite 135 beginnt, jedoch auf dem Kopf steht und am rechten Blattrand verläuft, sodass LeserInnen das Buch drehen und auf den Kopf stellen müssen, um im Rückwärtsblättern bis Seite 121 vorwärts zu kommen; schließlich endet auch diese Fußnote mit einer weiteren, 148, die wiederum am oberen, linken Seitenrand des Blattes sich befindet, sodass diese Fußnote am Außensteg vertikalisiert wird, die Randnotiz quergleitet, LeserInnen mit dem Buch also noch einmal eine Drehung vollziehen müssen, bis der quergedruckte Text lesbar wird. Fußnoten sind in HoL keine bloßen Ergänzungen, sondern haben »als Referenz auf die Gemachtheit des Textes, sowohl in seiner Materialität als Schriftstück, als auch in seiner Eigenschaft als fiktives Erzählwerk« (Zubarik 2014: 21) konstitutiven Charakter. Sie tragen auch und vor allem zur räumlichen Konstitution des Textes bei, indem sie voneinander verschiedene Spatiale einleiten – sie arbeiten an der Architexturalität mit, sie avancieren zur »textarchitektonischen Strategie« (ebd.: 26), denn sie gehören einer Geschichte der spatialen Ordnung des Textes an. In ihrer Vorform, den als Marginalien bei- und angefügten notae oder glossae organisierten sie die Fläche der pagina, wie sie selbst organisiert werden durch die Fläche der pagina. Es handelt sich um eine genuin schriftliche, nicht auf die Parameter der vox zurückführbare, sondern der Sichtbarkeit der Schrift angehörende Anordnung, die mit den notae organisiert und berufen wird. (Menke 2008: 169) Die durch den Fußnotenapparat und die exponierten Typographien provozierte Unübersichtlichkeit und die Unübersichtlichkeit des Labyrinths des soweit linear erzählten Haupttexts schieben sich immer schon ineinander; die vom labyrinthischen Raum im Text eingeforderten Bewegungen werden vom Labyrinth des Textes prozessiert – und umgekehrt. HoL, also die Konstellation aus Buchseite, verschiedenen Schrifttypen und Textstücken, die ostentative Organisiertheit als eine »spatiale Ordnung« (ebd.), die das Verhältnis von Text und Kommentar nicht einfach umkehrt, sondern in Bewegung geraten lässt, erweist sich durch den Zusammenhang von formaler und inhaltlicher Verräumlichung als kinetische »Schrift-Landschaft« (Derrida 1976: 317). Schrift avanciert zum Schriftraum, man muss sich in bzw. zwischen ihr bewegen, wobei es durchaus vorkommen kann, dass man einen falschen Weg eingeschlagen hat, den man wieder zurücklaufen muss, um in eine andere Richtung abzubiegen. Beispielsweise fordern die Buchseite 233 wie auch 432 LeserInnen dazu auf, einen Weg durch die zersprungene Schrift zu finden, ähnlich, wie Navidson das Labyrinth seines Hauses durchschreiten muss, wobei sich verschiedene einander nicht ausschließende Verknüpfungsmöglichkeiten einzelner Satzelemente auftun.

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Abbildung 2: Mark Z. Danielewski, HoL, Seite 233

Abbildung 4: Mark Z. Danielewski, HoL, Seite 286

Abbildung 3: Mark Z. Danielewski, HoL, Seite 432

Abbildung 5: Mark Z. Danielewski, HoL, Seite 287

5 Unheimliche (Schrift)Räume: Das (Haus in) House of Leaves

Nicht das Labyrinth-im-Text wird in der Schrift (im Labyrinth-des-Textes) zur Abbildung53 gebracht, sondern Schrift lässt das, was sie schreibt, als Labyrinth erstehen bzw. produziert das Labyrinth als unheimlichen Texteffekt. Wird etwa die Treppe, auf der Reston sich gerade befindet, gedehnt, zieht sich sogleich der Text in die Länge (vgl. Danielewski 2000: 289). In der gleichen Sequenz fällt Reston paradoxerweise nicht nach unten, sondern nach oben: Er befindet sich, ganz wie das Wort, das diesen Zustand beschreibt bzw. an- und einleitet, on the top of the page. Eine Repräsentationshierarchie zwischen Form und Inhalt kann nicht mehr ausgemacht werden, vielmehr »dezentriert sich ins Infinite« (Zubarik 2014: 260), was sich ineinander verfaltet; beides passiert gleichzeitig, sodass sich weiteres Schwanken zwischen Les- und Sichtbarkeit einstellt. House of Leaves ist nicht nur ein Roman, sondern zugleich ein (ver)räumlich(t)er Gegenstand. Form und Inhalt kehren, wie gezeigt, im Roman fortdauernd ineinander wieder – dass diese Bewegungen jedoch sowohl inhaltlich wie formal von statten gehen, dass also eine Differenz oder ein Differieren, ein Schwanken zwischen Les- und Sichtbarkeit sowie inhaltlicher und formaler Verräumlichung, wahrnehmbar ist, hängt wiederum mit Leseoperationen54 zusammen, die nicht als kontinuierliche Vollzüge vorzustellen sind. (Andere) Verräumlichung, von der einerseits zu lesen ist und die andererseits zu lesen bzw. als Lesen ist, ist auf weitere Verräumlichung(sstrategien) angewiesen, fällt der ›bewegliche‹ Grund dafür, dass man sie überhaupt als Verräumlichungen wahrnehmen und als solche in ein Verhältnis setzen kann, mit Kulturtechniken zusammen, die die Lektüre dieses Buchs ermöglichen sowie stets und ständig begleiten: Blättern und (Um)Drehen – wodurch sie nicht nur semantisch an der kinetischen Architektur des House of Leaves mit bauen. HoL diktiert eine spezielle Konnexion von LeserInnen und Buch; diese Kopplung, dieser Nexus, den HoL einfordert, ist eine Art Netzwerk aus menschlichem und nichtmenschlichem Akteur55 , 53

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Zugleich bietet HoL einen die Kinoleinwand vortäuschenden Mechanismus feil, etwa wenn sich ein Schuss löst und der Flug der Kugel als Schriftbild visualisiert wird, indem einige wenige, in sich selbst schon zerfallene, Worte auf der Buchseite (des)organisiert sind: Man blättert sehr schnell, die Kugel fliegt schnell; die wenigen bis vereinzelten Worte bilden dabei die Fluglinie des Projektils nach (vgl. Deterding/Hölter 2006: 215). Schließlich schlägt die Kugel in eine Tür ein, was durch einen großen schwarzen Punkt bebildert wird, bis schließlich das Splittern der Tür in ein Signifikanten-Splattering über-setzt wird (vgl. Danielewski 2000: 194ff.), wobei der Flug der Kugel durch den Raum die Imitation eines filmischen Verfahrens signiert:»Der Technik nach handelt es sich um eine »verdeckte Intermedialität«, die versucht, mit den Mitteln Sprache und Typographie u.a. das Medium Film zu simulieren. […] Das bedeutet […] einen Medienwechsel, der sich weitgehend innerhalb des Visuellen vollzieht: vom Filmischen zum Erzählerischen, von Zelluloid bzw. digitalem Video zum Papier.« (Deterding/Hölter 2006: 218f.). Gehring spricht im Zusammenhang mit der den linearen Leseprozess unterbrechenden Lesetätigkeit von einer »Raumpraxis des Lesens« als »Mimesis der Bewegung durch das Labyrinth« (Gehring 2009: 326), da etwa die Kollabierung der Statik des Labyrinths, das Navidson gerade durchfährt, mit dem Einbrechen des materiellen Textraumes einhergeht. Die Funktion der Anordnung zwischen Lesen und Gelesenem in HoL wird durch den Begriff der Mimesis jedoch nicht hinreichend erfasst, wie weiter unten präzisiert wird. Womit sich das Verhältnis von LeserInnen und Buch anschlussfähig an Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie, kurz ANT, erweist, die eine besonders in den späten 1980-er Jahren populäre sozialwissenschaftliche, die Differenz von Mensch und Objekt bzw. Nicht-Mensch hinter sich lassende Schule, die Konnexionen menschlicher und nichtmenschlicher AkteurInnen fokussiert und dabei

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wird die Kommunikation dieses Netzwerks doch besonders durch die Kulturtechnik des Blätterns, die hier die Operationen des Drehens und Wendens einschließt, hergestellt. Die formalen und inhaltlichen Bewegungen sind an diese Kulturtechniken gebunden, womit es schließlich auf LeserInnen zurückfällt, die unheimlichen Verschiebungen des Hauses als verräumlichende Kulturtechniken selbst zu vollziehen. LeserInnen wird durch das Objekt aufgetragen, mit ihm zu tun, wovon und was sie lesen. Dazu gibt es in HoL ein Pendant in Johnny Truant, dessen Beschäftigung mit den Blättern, die Zampanò hinterlassen hat, kulturtechnischer Art ist: Er sortiert, annotiert, editiert und blättert. Insofern allegorisieren die durch diverse Operationen bestimmte Lektüre und Johnnys operationaler Umgang mit dem Material einander. Man muss das Buch drehen, auf den Kopf stellen, schnell (gehen) blättern, schleichen, stehen bleiben, rückwärts oder sehr schnell (rennen) blättern, vorwärts (am unteren Buchrand) kriechen, (mit den Augen) nach oben fallen, nach unten steigen – Bewegungen, die man durch kulturtechnische Operationen mit- oder durchmachen muss und durch die sich das »Vielwegesystem« (ebd.: 259) HoL immer wieder neu aufblättert, um diese Operationen einzufordern. Der Lesevorgang wird somit zugleich zum Begehen56 des erzählten Labyrinths, das wiederum als architexturaler (Schrift)Raum verschachtelt ist. Es gibt keine Lektüre des Buchs ohne einen dezidierten Umgang mit dem Material, der als Technik vollzieht, wovon und was durch diesen Umgang allererst zu lesen ist: Verräumlichung. Eine in diesem dezidiert kulturtechnischen Sinn für HoL aufschlussreiche Analyse einer »türtechnischen Erfindung« (Siegert 2010: 158) des Künstlers Marcel Duchamp liefert Bernhard Siegert in seinem Türen-Aufsatz. Jene Erfindung befand sich in Duchamps Privatwohnung und betraf dessen konkrete Wohnsituation, bei der er zwei aneinanderstoßende Türen in einem Durchgangszimmer »durch eine einzige ›porte paradoxale‹« (ebd.) ersetzte. Interessant für HoL ist an Duchamps Tür, die stets sowohl geöffnet als auch verschlossen ist (wird die Tür zum Badezimmer verschlossen, steht die zum Schlafzimmer offen und umgedreht), dass sie nicht nur als Installation in einem Raum, son-

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fragt, wie sich dabei niederschlagende Netzwerke wie etwa die Universität gestalten, ist (vgl. Latour 2007: 130ff.). Ottmar Ettes Monographie zur Literatur in Bewegung (2001), die nicht nur über solche sprechen, sondern selbst »kreisförmige, diskontinuierlich springende, sternförmige und pendelartige Lektüreverfahren ermöglichen« (Ette 2001: 20) will, diskutiert besonders anhand von immer schon zwischen Fakt und Fiktion oszillierender friktionaler Reiseliteratur die durch verschiedene Schreib- und Lektüreverfahren sich aufspannenden relationalen Raumgefüge, die durch vielgestaltige Reiserouten und den Besuch unterschiedlichster Orte und (geographischer, nationaler und sprachlicher) Räume nicht nur innerhalb von Texten statthaben, denn »[n]icht nur die Orte, von denen berichtet wird, sondern auch die Orte des Schreibens und Lesens befinden sich in wechselseitiger wie je eigenständiger Bewegung« (ebd.: 11) – schließlich kommt es heutzutage selten vor, dass »ein längeres Buch an ein und demselben Ort [ge]lesen« (ebd.) wird. LeserInnen bewegen Bücher durch die Zeit an je verschiedene Orte, sei es das Bett, der Zug, das Schnellrestaurant oder die Parkbank; nicht nur werden dabei Bücher an mannigfache Leseorte befördert, gleichsam arbeiten LeserInnen an der Bewegtheit eines literarischen Textes mit: »Erst durch die Leserinnen und Leser wird Literatur letztlich in Bewegung gesetzt, das heisst in eine Dynamik übersetzt, die vorgängige, im Text verankerte Bewegungen in sich aufnimmt und verändert« (ebd.: 83).

5 Unheimliche (Schrift)Räume: Das (Haus in) House of Leaves

dern auch in Form von zwei Skizzen auf der Vorder- und Rückseite eines Blattes in einer Zeitschrift existiert: Da die Skizzen nur durch zwei Linien die Wände andeuten, welche die drei Räume (atelier, chambre und salle de bain) trennen, und die Öffnung der Tür nur durch eine Unterbrechung der einen Linie angedeutet ist, die Schließung hingegen durch eine durchgezogene Linie, gelingt es dem Betrachter der Skizzen, die Tür überhaupt nur dann zu sehen, wenn er das Blatt der Zeitschrift umwendet. […] Der Betrachter ist also gezwungen, mit der Seite in der Zeitschrift eine Klappoperation auszuführen, die eine Analogie zu der Klappoperation darstellt, die man mit einer Tür ausführt, damit er sieht, was die Überschriften der beiden Seiten zu zeigen behaupten: La porte de Duchamp. Es ist das Klappen, welches die Tür allererst konstituiert. Die Operation geht der Sache voraus, sie verhilft der Sache allererst zum Sein. Erst in der Beobachtung der Einheit der Differenz von Vorderseite und Rückseite erscheint die porte de Duchamp und verweist damit auf die kulturtechnische Definition der Tür als Einheit der Differenzen von innen und außen. (Ebd.: 160f.) »Die Rückseite des Blattes, die die Tür zwischen chambre und salle de bain geöffnet zeigt, steht auf dem Kopf«, sodass man das Blatt wenden und »die gesamte Zeitschriftennummer um 180 Grad drehen« (ebd.: 162) muss. Ganz wie die Zeitschrift muss man auch HoL immer wieder (um)drehen, um lesen bzw. sehen zu können. Zudem bietet HoL die Analogie von Türöffnen und -schließen und der Operation des Blätterns feil, fordert es »das wiederholte Fort-Da-Spiel […], das man mit Vorder- und Rückseite des Blattes zu spielen genötigt ist« (ebd.), immer wieder ein. Wenn Will Navidson auf einen langen Flur stößt, der zu beiden Seiten mit Türen gepflastert ist, wird dieses Verhältnis besonders frappant. Kurz nachdem er gemeinsam mit Reston Jed und Wax gefunden hat, sieht Navidson, im Versuch, Holloways Schüssen auszuweichen, zu, wie die Türen nacheinander wie von Geisterhand zuschlagen. Sie schlagen schnell und plötzlich zu, wobei je nur ein bis zwei Worte auf der Buchseite gedruckt sind, sodass LeserInnen sehr schnell vorwärts blättern (vgl. Danielewski 2000: 216–278). Abgesehen von einer gewissen hier aufgerufenen Horror-Filmästhetik korrespondiert das Zuschlagen der Türen der Kulturtechnik des (Um)Blätterns, das wie das Zuschlagen von Türen eine Klappoperation ist; die Operation des Blätterns ist in den die Tür involvierenden Operationen des Öffnens und Schließens zu erkennen. Blättrige Verrücktheit, die Blatt und verrückt ist, weil sie sich keiner Festigkeit versichern kann: weder des Bodens noch des Baums, weder der Horizontalität noch der Vertikalität, weder der Natur noch der Kultur, weder der Form noch des Grundes, noch des Zwecks. (Derrida 1988: 225f.) House of Leaves geriert sich dabei als labyrinthisches Haus aus blättrigen Türen: Jede Seite, jedes Blatt des Buches ist beweglicher Teil einer Tür, ist Tür, die neue räumlich-textuelle Dimensionen immer wieder eröffnet und verschlossen haben wird – House of Leaves ist Ort der door leafs (Türblätter) bzw. der leaf doors (der Flügeltüren). Das Blatt des Buches ist zwar glatt, aber ebenso wenig wie das Blatt eines Baumes zweidimensional, sondern abgründiges, wendbares Objekt, das immer schon eine andere Seite, seinen Um-Schlag oder Fort-Gang, birgt, wobei HoL die spezifische mediale Verfasstheit des Buches, die

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nicht in digitale Textformate übertragen werden kann, ausspielt. Blättern heißt, wegzuschlagen und dabei zu zerlegen, insofern blättern Lesen und Gelesenes fragmentiert, um es weiter offen zu halten. Programmatik des Textes ist entsprechend die Gleichzeitigkeit von Anbieten und Verweigern, von Auf- und Abzug, die sich weniger abwechseln, als in einem nie endenden Prozess ineinander verschlingen, insofern HoL zu einer Art »Nicht-Ort« (Augé 1994: 83) des infiniten Verweisens wird und immer schon woanders herkommt. Kein Buch geht zu Ende; die Bücher sind nicht lang, sie sind breit. Die Seite ist, auch ihrer Gestalt nach, nichts anderes als eine Tür, die in die hinter ihr liegende Gegenwart des Buches führt oder eigentlich zu einer anderen Tür, die wieder zu einer Tür führt. Ein Buch zu Ende zu lesen heißt die letzte Tür öffnen, damit sie sich nie mehr schließt, weder sie noch die anderen, die wir bis jetzt geöffnet haben, um ihre Schwellen zu überschreiten, und alle, die sich in unendlicher Reihe geöffnet haben, fahren fort, sich zu öffnen, werden sich mit einem unendlichen Rauschen der Angeln öffnen. (Manganelli 1993: 208) Die Operationen des Blätterns und Drehens werden immer wieder (neu) und je anders eingefordert, sodass Form, Inhalt und Operation nicht harmonisch zusammengeführt werden, sondern sich in Disharmonie gegenseitig aufschieben, blockieren und umlenken, kurz: verräumlichen. Diese Verräumlichung findet einzig zwischen diesen Ebenen statt und bedarf ihrer Inkongruenz, wird doch die blättrige Verrücktheit des Hauses der Blätter und des Blätterns, die andere Verräumlichung, nicht durch das mimetische Verhältnis von Form, Inhalt und Leseoperation, sondern durch das nie restlos zu simultanisierende oder zu hierarchisierende Ineinander von formaler, inhaltlicher und lektüreoperativer Verräumlichung realisiert. Die Bewegungen gehen nicht ineinander auf, sie entsprechen nicht völlig einander, hängen aber doch untrennbar als verfaltete Komplexe zusammen. Sie sind nie simultan zu vollziehen oder zu greifen, man kann sie nur ungleichzeitig, dissoziierend, haben, denn sobald eine Ebene auffällt, fallen zwei andere weg (ist eine da, sind die anderen fort). So bleibt stets ein Rest, ein anderer Raum, eine »other area« (Danielewski 2000: 178) zurück – eine Spreizung oder ein Aufklaffen und keine Synthetisierung oder Kongruenz der Ebenen. Die Verräumlichung insistiert, lässt sie sich nicht fassen, synthetisieren oder in ein mimetisches Verhältnis einfrieden, als andere Verräumlichung.

5.5 Vielstimmigkeit HoL liest sich auf den ersten Seiten als Fort-Schreibung der Gothic Fiction-Tradition, ist schließlich auch hier der Beginn der Erzählung verunklart, von Rauschmitteln, Schlafentzug oder dem bloßen Vergessen57 ; zahlreiche Schauergeschichten setzen nach

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Nicht wenige Erzählungen Poes werden angestimmt durch die Schilderung einer gewissen Verwirrtheit, bedingt etwa durch einsetzende Demenz, das Ende eines langen Fiebertraums oder das Abklingen eines Rausches. Ligeia (1838) etwa beginnt mit dem Geständnis des Erzählers zur Ungenauigkeit in Bezug auf Ligeia selbst: »I cannot for my soul, remember how, or even precisely

5 Unheimliche (Schrift)Räume: Das (Haus in) House of Leaves

starkem Fieber, einer langen Krankheit oder einem Opiumrausch ein und verunsichern die Glaubwürdigkeit ihrer ErzählerInnen. Danielewksis Roman, in den ein intradiegetischer, von diversen Drogen getrübter Erzähler (ein)führt, setzt ein am HalloweenAbend, einer Nacht, in der die Grenze zwischen Lebenden und Toten durchlässig wird; so reiht sich HoL zunächst ein in diese Tradition, berichtet Truant doch von schlaflosen Nächten und berauschten Tagen, die seine Zuverlässigkeit beim Erzählen und seine Gewissenhaftigkeit beim Editieren fragwürdig werden lassen: I still get nightmares. In fact I get them so often I should be used to them by now. I’m not. No one ever really gets used to nightmares./For a while there I tried every pill imaginable. Anything to curb the fear. Excedrin PMs, Melatonin, L-tryptophan, Valium, Vicodin, quite a few members of the barbital family. A pretty extensive list, frequently mixed, often matched, with shots of bourbon, a few long rasping bong hits, sometimes even the vaporous confidence-trip of cocaine. […] I’m so tired. Sleep’s been stalking me for too long to remember58 . Inevitable I suppose. Sadly though, I’m not looking forward in the prospect. I say »sadly«, because there was a time when I actually enjoyed sleeping. (Ebd.: xi) Truant gibt sich jedoch nicht nur als Erzähler, sondern inszeniert sich als Bote, als Überbringer einer Erzählung oder eines Berichts, der längst anderswo begonnen hat und lässt HoL damit die Anschlüsse an Erzähltraditionen rund um die Gothic Novel übersteigen, insofern ein immer schon verunsichertes Erzählen in mehrere Erzählungen disseminiert und diese schließlich auf formaler wie inhaltlicher Ebene zerspringen; der Roman zitiert Spuk- und Gruselhäuser und reiht sich derart ein in einen mithin klassischen Diskurs

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where, I first became acquainted with the Lady Ligeia. Long years have since ellapsed, and my memory is feeble through much suffering. Or, perhaps, I cannot now bring these points to mind, because, in truth, the character of my beloved, her rare learning, her singular yet placid cast of beauty, and the thrilling and enthralling eloquence of her low musical language, made their way into my heart by paces so steadily and stealthy progressive, that they have been unnoticed and unknown.« (Poe 2009b: 134). Der (untote) Erzähler aus The Pit and the Pendelum (1862) wiederum ist von den Schmerzen der Folter und des (wahnhaften) Fiebers gezeichnet: »I was sick – sick unto death with that long agony; and when they at length unbound me, and I was permitted to sit, I felt that my senses were leaving me. The sentence – the dread sentence of death – was the last of distint accentuation which reached my ears. […] Yet, for a while, I saw; but with how terrible exagerration! […] I saw, too, for a few moments of delirious horror, the soft and nearly imperceptible waving of the sable draperies which enwrapped the walls of the apartment« (Poe 2009d: 269). In der vom Erzähler durchgehaltenen Verneinung des eigenen Wahnsinns scheint sich dieser zu affirmieren: »True! – nervous – very, very dreadfully nervous I had been and am; but why will you say that I am mad? The desease had sharpened my senses – not destroyed – not dulled them. Above all was the sense of hearing acute. I heard all things in the heaven and in the earth. I heard many things in hell. How, then, am I mad?« (Poe 2009c: 166), wie der (die Hälfte der Erzählung auf der Türschwelle stehende) Erzähler am Anfang von Tell-Tale Heart (1843) verlautet. Das erinnert auch an den namenlosen Protagonisten aus Chuck Palahniuks Fight Club (1996), der ebenfalls unter permanenten Schlafstörungen leidet und deswegen nie richtig wach ist: »Three weeks I hadn’t sleep. Three weeks without sleep and everything becomes an out-of-body-experience. […] This is how it is with insomnia. Everything is so far away, a copy of a copy of a copy. The insomnia distance of everything, you can’t touch anything and nothing can touch you.« (Palahniuk 2006: 19ff).

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zum Unheimlichen, um dessen Regeln sowohl inhaltlich als auch strukturell zu überbieten. House of Leaves ist voller schräger Typen. Die zahlreichen Stimmen, die in diesem Fußnotenroman aufeinanderprallen und sich gegenseitig ins Wort fallen, unterscheiden sich auch typographisch voneinander, das Gewirr an Sprechinstanzen wird gewissermaßen sicht- und lesbar, wobei der Roman auf diese Weise akzentuiert, dass Stimmen in Texten stets fingiert, ohne ihr schriftliches Supplement nicht zu haben sind. Die diversen Schrifttypen kennzeichnen dabei nicht nur die jeweilige Sprechinstanz (wobei stets unklar bleibt, ob man dieser Unterteilung tatsächlich zu jeder Zeit trauen kann), sondern wissen etwas über ›ihre‹ TrägerInnen auszusagen. Truant, der sich in häufig ausschweifenden Fußnoten zur Materialsammlung Zampanòs äußert, erscheint in Courier. Dieser verkrachte Typ, dem Namen nach truant, also abschweifend, abwesend, flüchtig, impulsiv und unzuverlässig, unbedacht und etwas nachlässig, funktioniert seiner Schrifttype entsprechend als Kurier, als Bote, der die von ihm gefundenen Aufzeichnungen eines toten, blinden Mannes übermittelt, dessen Vorhaben, das Textgewimmel aus Aufzeichnungen, Ausdrucken, Photos etc. ›in Ordnung‹ zu bringen, vom Tod abgebrochen wurde; zudem verweist Courier auf den Parcour, also auf ein Durchlaufen, ein Durchwandern Truants Zampanòs fragmentarischer Sammlung. Als Junkie und Faulenzer erscheint Truant als unzuverlässiger Erzähler, bei dem man nie sicher sein kann, wie sein Editierungsprozess verlaufen ist. Er gibt an einigen Stellen ganz freimütig zu, eigenmächtig in Zampanòs Textsammlung eingegriffen zu haben, um einen Fließtext zu extrahieren oder aber, um Sequenzen Zampanòs, die dieser verschwinden lassen wollte, was durch rote Schrift und Durchstreichungen (angeblich) sichtbar ist, wieder in den Text zu integrieren, was er selbst kommentiert. Wether you’ve noticed or not–and if you have, well bully for you–Zampanò has attempted to systematically eradicate the »Minotaur« theme troughout The Navidson Record. Big deal, except while personallys preventing said eradication. (Ebd.: 336) Truant wird darüber verfügt haben, welche Zettel aus des toten Blinden Kiste sich wie aneinanderreihen; durch das Ausstellen seiner Eingriffe fordert er die Skepsis, die man seinem Schreiben und seiner editorischen Arbeit entgegnen sollte, selbst ein; er verändert in seiner als solche nicht kaschierten, sondern exponierten Montage mehrfach die Inhalte des Textes oder Eigenheiten einzelner Worte (vgl. ebd.: 1659 ). Zugleich ist der Prozess der Montage gehemmt durch das Lesen erschwerende Tintenflecke, Aschereste oder Löcher im Papier. Wenn Truant in Kapitel IV einen beschmutzen Notizzettel mit einer Fußnote Zampanòs findet, kann er dessen Inhalt nicht mehr rekonstruieren, denn 59

Truant nimmt zwar stellenweise nur kleine Änderungen an Zampanòs Aufzeichnungen vor, die aber werden in einigen Fällen zum Anlass des Ausschweifens, etwa wenn zum Heizkessel das Wort Wasser hinzukommt, sodass Truant gewissermaßen frei assoziierend, quasi inspiriert vom Signifikanten, zunächst das morgendliche Duscherlebnis, bei dem das heiße Wasser nicht laufen wollte, schildert, um anschließend von nächtlichen Erlebnissen mit Frauen zu berichten; es ist hier die Aufzeichnung, das (bereits manipulierte) Erzählen Zampanòs, das Truants Erzählen anstößt: »Now I’m sure you wondering something. Is it just coincidence that this cold water predicament of mine also appears in this chapter? Not at all. Zampanò only wrote »heater«. The word »water« back there–I added that. Now there’s an admission, eh? Hey, not fair, you cry. Hey, hey, fuck you, I say.« (Danielewski 2000: 16).

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»Zampanò left the rest of this footnote buried beneath a particularly dark spill of ink. At least I’m assuming it’s ink. Maybe it’s not« (ebd.: 38). Zerfetzte Blätter, Flecken, angebliche orthographische Fehler oder unauffindbare Informationen lassen Truants Arbeit zu einem vielfach durchlöcherten60 Flickenteppich werden; einige Auslassungen sind als solche markiert, gleichzeitig durchziehen viele nicht gekennzeichnete Lücken den labyrinthischen Text. Etwa bleibt Truant eine Ergänzung schuldig, die er in Fußnote 252 nachtragen wollte: »This formula isn’t entirely accurate. A more precise calculation be made by [fill in later]« (ebd.: 305). Diesbezüglich melden sich die Herausgeber, deren Schrifttype Bookman heißt, in Fußnote 253, um anzumerken, dass just diese Fußnote, wie auch 201 (ebd.: 165), in Johnnys Aufzeichnungen fehlt bzw. nur als Lücke vorhanden ist; in Fußnote 349 erklären sie außerdem, das unerklärlicherweise 17 Seiten von Truants Manuskript unauffindbar sind (vgl. ebd.: 376) und mal ist es Truant selbst, der mehrere wie auch immer verloren gegangene Seiten als solche durch Einsetzung des Buchstabens X markiert; zweifelsohne, dass diese Auslassungsmarkierungen jedoch nicht immer dann auftauchen, wenn auch etwas fehlt. I wish I could say that mass of black X’s was due to some mysterious ash or frantic act of deletion on Zampanò’s part. Unfortunately this time I’m to blame. […] Anyway there must have been a hairline crack in the glass because all of the ink eventually tunneled down through the paper., wiping out almost forty pages, not to mention seeping into the carpet below where it spread into a massive black bloom. The footnotes survived only because I hadn’t incorporated them yet. (Ebd.: 376) Evident wird gerade bei allen Kontingenzen, die LeserInnen vom Boten Truant mit auf den Weg gegeben oder in den Weg gelegt werden, dass der vorliegende Roman durch die Arbeit Truants allererst gelesen werden kann bzw. als das zu lesende Material zur Beschreibung des Hauses in der Ash Tree Lane vorgelegt wird, aus dem dieses Haus letztlich gemacht – oder zu machen – ist. House of Leaves ist ein Roman, der her gelesen – eingesammelt – wird; Johnny Truant liest Zampanòs Aufzeichnungen, die allesamt in Times New Roman (eine Schrifttype, die eher in wissenschaftlichen Kontexten genutzt wird und das gleiche Kürzel wie The Navidson Record trägt) gehalten sind, über ein unheimliches Haus (auf), was zugleich meint, dass er sich diese im Akt des Stehlens zu eigen macht und insofern das Editieren zur Tätigkeit in eigener Sache werden lässt, begreift man Lesen als Inbesitznahme, die als transgressives Verfahren aggressiv und entstellend vorgeht, lautet doch die berühmt-berüchtigte Formel für das Lesen von Kristeva: Das Wort »lesen« hatte in der Antike eine Bedeutung, die es verlohnt, erinnert und für das Verständnis der literarischen Praxis fruchtbar gemacht zu werden. »Lesen« hieß auch »sammeln«, »pflücken«, »erspähen«, »aufspüren«, »greifen«, »stehlen«. »Lesen« weist also auf eine aggressive Teilnahme, auf eine aktive Aneignung des anderen hin. 60

Frappant wird die augenfällige Durchlöcherung des Textes besonders dann, wenn Holloway, in dessen Name bereits eine gewisse Löchrigkeit anklingt, in Zampanòs Text Platz eingeräumt wird; die gesamte von Truant feilgebotene Abschrift ist an diversen Stellen sowohl mit Tinte bedeckt als auch verbrannt (vgl. Danielewski 2000: 330). Die letzte von Truant erzählte Geschichte wiederum ist die eines kranken Babys, das nicht überlebensfähig ist, da die Hirnmasse des Säuglings mit Löchern versetzt bzw. von ihnen zersetzt ist – ganz so, wie die Erzählung selbst.

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»Schreiben« wäre demnach ein zur Tätigkeit gewordenes »Lesen«: Schreiben-Lesen [écriture-lecture]. (Kristeva 1972: 171) Sobald er liest, verfälscht er sein Lesematerial und macht es so erst zu diesem immer schon ver-stellten, verzerrten, lückenhaften; er bastelt an den Texten anderer herum, er beutet fremde Texte aus, denn »lesen heißt wildern« (de Certeau 1988: 293), wobei er die Texte »von ihrem (verlorenen oder zufälligen) Ursprung [löst]. Er kombiniert ihre Fragmente und schafft in dem Raum, der durch ihr Vermögen, eine unendliche Vielzahl von Bedeutungen zu ermöglichen, gebildet wird, Un-Gewusstes« (ebd.: 300). Truant avanciert zum aus einem Text-Repertoire schöpfenden Bricoleur. Die Erzählung (über das Haus in) House of Leaves ist eine Erzählung der Unterbrechungen, der Abrisse und des Abreißens; in der exzessiven Fülle an echten wie fiktiven Verweisen61 , echten wie fiktiven Zitationen62 die zum (Miss)Verstehen der Architektur

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House of Leaves betreibt mit seiner LeserInnen in die Irre führenden Redundanz an Verweisen, Anspielungen und fiktiven bibliographischen Angaben etwas, das bereits einige Texte vor ihm angestellt haben, allen voran die hochkomplexen inter- und intratextuellen Verweisungsnetzwerke in den Texten Jorge Luis Borges; in El Inmortal (1947) etwa berichtet der Erzähler, der sich als viele Erzähler entpuppt haben wird, von einem Buch namens A coat of many colours des Autoren Nahum Cordovero, das sich de facto in keiner Bibliothek finden lässt (vgl. Borges 2000b: 265f.), wie sich auch etliche der fiktiven Quellenangaben in der Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius (1940) nicht auftreiben lassen werden (vgl. Borges 2000c: 103ff.). Das wohl berühmteste nicht existierende Buch dürfte aber das in der 1924 veröffentlichten Erzählung The Hound erstmals erwähnte Grimoire Necronomicon von H.P. Lovecraft sein; das in arabischer Sprache verfasste Original der mysteriösen und nicht minder wahngeistigen Figur Abdul Alhazred ist schon lange verschollen, es gibt nur Übersetzungen von Übersetzungen von Übersetzungen, von denen manche nicht einmal in den Druck gekommen sind (vgl. Lovecraft 1989: 307ff.). Wiederum Rezensionen zu fiktiven Texten verfasste der vor allem durch seine Sterntagebücher (1957) populär gewordene polnische Science Fiction-Autor Stanislaw Lem: Vollkommene Leere (1971) enthält, inklusive einer Rezension zu Vollkommene Leere selbst, Besprechungen imaginärer Romane und kurzer Erzählungen, darunter etwa Sexplosion von Simon Merril, Die Kultur als Fehler von Wilhelm Klopper oder Raymond Seurats Toi. Einzig die Rezension zum (autorlosen) Experimentalbuch Do yourself a book widmet sich keinem abgeschlossenen fiktiven Text, sondern einem an Nabokovs Karteikartensystem erinnernden »Roman-Baukasten« (Lem 1981: 108), seines Zeichens »eine Schachtel von den Ausmaßen eines umfangreichen Buches, sie enthielt eine Anleitung, ein Verzeichnis sowie einen Satz ›Bauelemente‹. Die Elemente waren Papierstreifen unterschiedlicher Breite, bedruckt mit Prosa-Fragmenten. Jeder Streifen hatte am Rand Löcher, die zum Einbinden dienten, sowie einige in Farben gedruckte Ziffern« (ebd.). Hier ist es entsprechend um ein Spiel mit Zetteln, die vertausch- also permutierbar sind, zu tun – es geht darum, die aus Versatzstücken anderer Texte, deren Urheberrecht erloschen war (darunter etwa Textbausteine von Balzac und Tolstoi), bestehenden Fragmente untereinander zirkulieren zu lassen, also »die Elemente zu mischen« (ebd.); dieses »Zusammensetzspiel« (ebd.: 109) ermöglicht nahezu unendliche Kompositionsmöglichkeiten und korrespondiert der Arbeit Johnny Truants insofern, als sie loses Material zu einer Art »Potpourri« (ebd.: 113) miteinander (re)kombiniert (jedoch verkaufte sich laut Lems Rezension Do yourself a book, auch nach einigen Überarbeitungen, nicht annähernd so gut wie Danielewskis House of Leaves, sodass sein Vertrieb nahezu völlig eingestellt wurde). Zitieren heißt Ent-Setzen; heißt, etwas hervorzuholen, als seine eigene Wiederholung, jedoch woanders, wiederkehren zu lassen und es durch dieses Vorgehen mit sich selbst in Uneinigkeit zu bringen. Zitieren heißt infizieren. Zitate besetzen einen Ort, dringen in ihn ein oder werden von diesem verschlungen bzw. aufgenommen (versteht man das Zitat als vom Text einverleibte Äu-

5 Unheimliche (Schrift)Räume: Das (Haus in) House of Leaves

beitragen sollen, verliert sich die Beschreibung selbst, insofern sie brüchig und faserig wird. Ähnlich wie der Text immer wieder ab- und zerreißt, wird das Haus der Navidsons in der Ash Tree Lane eher abgerissen als aufgebaut. Die literarische Verhandlung eines Bauwerks und die damit einhergehenden Sichtungs- und Ordnungsprozesse, die ein abwesendes Bauwerk (durch ein abwesendes Video) vorstellen und im gleichen Moment bei dessen Präsentation fehlschlagen, bilden einen lückenhaften und insofern vorstellungsrepräsentativen Zusammenhang, der House of Leaves auszeichnet. Der Sichtungsund Ordnungsprozess ist durchzogen von anderen Geschichten, die mal kontinuierlich, mal unterbrochen anderes erzählen, ihr Augenmerk auf nebenbei Gesagtes richten und somit ein ganz eigenes, instabiles (Archi)Text(ur)gebäude errichten, das durch Erzählstränge wie durch Streben und Pfeiler aufrechterhalten wird. Fast schon zwanghaft beschäftigt sich Truant mit dem Material, das er in Zampanòs Kiste gefunden hat. Er verdreckt und fängt an zu stinken, weil er statt zu duschen lieber weiter über dem Papier

ßerlichkeit, gerät das Zitieren zu einem melancholischen Verfahren, das sich gegen den Verlust eines anderen Textes wehrt). Sie sind Eindringlinge, die da auftauchen, wo sie sich selbst un-heimlich werden. Besonders exponiert und noch einmal potenziert wird diese Differenz (eines zitierten Textes) zu sich selbst in Fußnote 49, die ein bereits bestehendes, Verwirrung stiftendes Spiel von Autor- und Textinstanzen anspricht. In einem Kapitel, das sich besonders dem Phänomen des Echos, also dem Widerhall, dem Rückklang und der Rück-Kehr widmet und betont, wie bereits Ovids Echofigur davon berichtet, dass die Sprache und das Sprechen sich in der Wiederholung ungleich machen, performiert eine Notiz Zampanòs die un-identische, ent-heimtlichte Wiederkehr: Das als Randtext vorhandene Zitat aus Don Quijote (1605), das in der originalen Ausgabe zum ersten Mal am Textrand in einer Fußnote von Zampanò auftaucht, wird bereits auf der gleichen Seite als »exquisite variation« (Danielewski 2000: 42), nämlich der von Borges’ Pierre Menard (Pierre Menard, Autor des Quijote (1939) ist eine der Erzählungen aus Borges’ Ficciones, die selbst auffällig um ein Spiel(en) mit Fiktionalitäten und Textinstanzen bemüht ist) wiederholt, wobei Truant in seiner eigenen Fußnotenkommentierung nicht nachvollziehen kann, warum ein scheinbar identisches Textstück als seine eigene Variation gehandelt wird. Die deutsche Ausgabe weicht von der spatialen Anordnung der englischen Originalausgabe von 2000 ab, sodass sich in Bezug auf diese Sequenz eine Besonderheit einstellt. Die Fußnote Zampanòs beginnt hier mit der Zitation im unteren Drittel der Seite, um sich nach dem Umblättern im oberen Drittel der folgenden Seite zu wiederholen: Dieser kurze kleine Satz, der von Cervantes hergeholt wird, gerät in HoL zu einer topologischen Variation seiner selbst, indem er zunächst in der unteren Blatthälfte, in Wiederholung dann aber in der oberen Hälfte der folgenden Buchseite abgedruckt ist. Durch Hineinholen in den eigenen Text vollzogenes Aneignen von Fremdem, das genau durch diesen Prozess nicht mehr mit sich selbst identisch ist, wird exponiert, insofern vermeintlich Gleiches sich ent-gleicht. Die Sequenz bei Menard, so bemerkt der Erzähler der Geschichte, ist schon je eine andere, da sie in einer anderen Zeit zu Papier gebracht wurde; ihr Sinn verschiebt sich, je nachdem, wann wer spricht. Abhängig von der Frage, wer zu welcher Zeit als Autorinstanz gehandelt wird, ändern sich Aussagekraft und Stil eines vermeintlich identischen Textabschnitts: »Verfasst im 17. Jahrhundert, verfasst von Cervantes dem ›Laienverstand‹, ist diese Aufzählung ein bloßes rhetorisches Lob auf die Geschichte. […] Lebhaft ist auch der Kontrast der Stile. Der archaisierende Stil von Menard – immerhin ein Ausländer – leidet an einer gewissen Affektiert. Nicht so der des Vorläufers, der unbefangen das seinerzeit geläufige Spanisch schreibt« (Borges 2000: 127f.). Die Sequenz in HoL, in der Zampanò Cervantes zitiert, der wiederum bei Menard widerhallt, ist je eine andere als die, die man bei Borges lesen kann; in HoL rangieren nun beide Autoren, Menard und Cervantes, zeitlich auf der gleichen Ebene und lassen die Grenzen zwischen einer fiktionalen Instanz und einem historischen Autor verschwimmen.

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hängen bleibt; er vernachlässigt, von lockeren Affären abgesehen, seine sozialen Kontakte und isoliert sich stattdessen lieber in seiner Wohnung, umgeben, regelrecht eingehüllt von Zampanòs Papierkram. Er ergänzt, schlägt nach, korrigiert, verfälscht und schreibt ab: Truant hat die Aufgabe, die immer Auftrag wie Scheitern zugleich ist, des Schreibens, des Ordnens, des Editierens auf sich genommen. Truant lässt hier nicht nur an Jack Torrance denken, sondern an eine andere Romanfigur erinnern, die bei Nabokov begegnet und in ähnlich unzuverlässiger Weise ähnliches tut: Charles Kinbote, der, die Funktion des Boten, des Überbringers bereits im Namen tragend, in Pale Fire (1962), einem der acht englischsprachigen Romane Nabokovs, die Aufgabe, das gleichnamige Gedicht seines mittlerweile verstorbenen Nachbarn, mit dem ihn nach eigener Aussage eine »close friendship« (Nabokov 2000: 22) verband, zu editieren und mit einem Kommentar versehen zu veröffentlichen, übernimmt, wobei er eigene »notes to the poem« (ebd.: 13) hinzufügt. Der erschossene Nachbar namens John Shade, der einerseits ein Schatten bleibt, zugleich überschattet wird und Schatten wirft, hinterließ jenes nun als Buch gedruckte63 Gedicht mit 999 Zeilen, das von seinem angeblich engen Freund und Bewunderer mit zahlreichen Kommentaren, Randbemerkungen und Ergänzungen versehen wird, auf diversen Karten64 , etwa »a batch of eighty cards was 63

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Die in einem Schrank aufbewahrten Handschriften – »boxes and binders and folders and notebooks cramming the shelves« (Auster 2011: 210) – des verschollenen oder eher untoten Schriftstellers Fanshawe aus Paul Austers The Locked Room (1987) werden zwar auf ähnliche Weise von einem namenlosen Freund, der nicht nur des Öfteren mit dem verschollenen Fanshawe verwechselt wird und schließlich sogar dessen Frau heiratet und Sohn adoptiert, sondern zugleich als Erzähler fungiert, soweit editiert, dass sie recht erfolgreich veröffentlicht werden. LeserInnen von Austers drittem New York-Roman kriegen jedoch bis auf einige wenige zusammenhanglose Textpassagen keinen Text des verschwundenen Autors zu lesen: Gibt Nabokovs Pale Fire auch das gleichnamige Gedicht seines ermordeten Verfassers John Shade inklusive den dieses Volumen um ein Vielfaches übersteigenden Kommentar zu lesen, wird bei Auster lediglich der Titel der herausgegebenen Romane ohne inhaltlichen Bezug angegeben, aber bemerkt, dass diese Texte ähnlich wie TNR in House of Leaves ein breites Publikum gefunden und diverse Besprechungen erfahren haben: »It has been read and discussed, there have been articles and studies, it has become public property« (ebd.: 225). Der namenlose Erzähler, nun »guardian of his work« (ebd.: 207), verschreibt sich ähnlich wie Truant und Kinbote der Aufgabe eines selbst zu verschwinden drohenden Editionsphilologen: »It took me about a week to digest and organize the material, to divide finished work from drafts, to gather the manuscripts into some semblance of chronologial order. The earliest piece was a poem, dating from 1963 (when Fanshawe was sixteen), and the last was from 1976 (just one month before he disappeared). In all there were over a hundred poems, three novels (two short and one long), and five one-act plays – as well as thirteen notebooks, which contained a number of aborted pieces, sketches, jotting, remarks on the books Fanshawe was reading, and ideas for future projects.« (Ebd.). Die durch Klipper und Gummis zusammengehaltenen Karten aus dem Archiv bzw. Nachlass John Shades berichten zugleich etwas über Nabokovs eigenes literarisches Schreiben, der neben Notizheften auch und vor allem (die Möglichkeit zur Zirkulation und Permutation bietenden) Karteikarten zum Beschreiben nutzte – was besonders bei Publikation seines letzten, 2009 post mortem veröffentlichten Romanfragments The Original of Laura augenfällig wird, insofern dieses Romanfragment (auch) in einer Ausgabe, aus der insgesamt 138 einzelne Karteikarten an entsprechenden Perforationslinien aus dem Buch heraustrennbar sind, erschienen ist (es existiert ebenso eine die Karteikarten als Bilder abdruckende Ausgabe). Nabokov war sowohl handschriftlicher als auch mobiler Schreiber, der nicht nur seine beschrifteten Papiere hin- und herschob, sondern sich wäh-

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held by a rubber band« (ebd.) oder »[a]nother, much thinner, set of a dozen cards, clipped together« (ebd.). Schließlich gerät Kinbotes Kommentar überlang, er »verselbstständigt sich immer mehr, er bricht aus seiner dienenden, untergeordneten Funktion aus« (Hüppe 2003: 118), er ufert aus und gibt dessen eigene Geschichte zu lesen. Beide, Kinbote und Truant, sehen sich mit Unlesbarkeiten der zu editierenden Texte konfrontiert. Mal fehlt ein Stück beschriebenes Papier, mal ist die Handschrift selbst nicht richtig entzifferbar oder ganze Blätter kamen abhanden. Beispielsweise befindet sich in der Kiste mit Zampanòs Notizsammlung Papier, das so stark verschmutzt bzw. durchlöchert ist, dass man geschriebene Worte nicht mehr ausmachen kann: Some kind of ash landed on the following pages, in some places burning away small holes, in other places eradicating large chunks of text. Rather than try to reconstruct what was destroyed I decided to just bracket the gaps–[]. Unfortunately I have no idea what stuff did the actual charring. It’s way to copious for cigarette tappings, and anyway Zampanò didn’t smoke. Another small mystery to muse over, if you like, or just forget, which I recommend. (Danielewski 2000: 323) Charles Kinbote korrespondiert Danielewskis Johnny Truant insofern, als dieser nicht einfach neutraler Überbringer einer chronologisch erzählten Geschichte ist, sondern die Instanz, die mit und durch ihren Kommentar die Story, die sie inklusive Korrekturen überliefert, allererst erschreibt, collagiert, arrangiert, wobei in HoL der Kommentar den (ein Video kommentierenden) Text, den er kommentiert, immer schon ver-stellt haben wird. Die Unordnung und die Lückenhaftigkeit, die in Zampanòs Aufzeichnungen herrscht, lässt Truant nicht hinter sich. Zusammengehalten in einer Kiste, erscheinen die Aufzeichnungen eben durch die sie archivierende Kiste zunächst stabil, aber sobald sie zum Lesen und Ordnen geöffnet wird, geraten die Aufzeichnungen in massive Unruhe und verpflichten sich gerade nicht einer Ge- oder Abgeschlossenheit, sondern vielmehr einer unabschließbaren Offenheit. Zampanòs Kiste adressiert insofern das immer zugleich diverse Dokumente sichernde und deren Zerstörung bergende Archiv: Die Fokussierung auf die physische Seite des Werks macht auf seine Fragilität und Zerstörbarkeit aufmerksam. Das Kunstwerk […] hat in seiner Physis teil am Biozyklus, wo nicht des Werdens, so doch des Vergehens. (Assmann 2001: 274) Das von Zampanò archivierte Material kommt nicht ohne die Möglichkeit seiner Zerstörung – Papier zerreißt, Schrift verblasst, Photos vergilben65  – und die eigene Unvoll-

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rend des Schreibens auch selbst bewegte, etwa wenn er im Zimmer mit Papierfetzen und Zetteln in der Hand auf- und ablief oder als Sozius seine Notizen während der Autofahrt in Schreibhefte oder auf Karteikarten anfertigte (vgl. Geyersbach 2006: 91); die Transkription bzw. das (hinzufügende und auslassende) Kopieren seiner Niederschriften besorgte nach der Heirat vornehmlich seine an Bedeutung nicht zu unterschätzende Frau Véra, die, nachdem sie zunächst als Nabokovs Sekretärin tätig wurde, sowohl die Schreibmaschine bediente als auch an weiteren Editionsprozessen beteiligt war (vgl. Schiff 2001: 69f.). Peter Schuck weist in seiner Monographie zu Vielen untoten Körpern (2018) mit Blick auf die finalen Szenen von George A. Romeros Night of the Living Dead (1968), in denen nicht nur Leichen, sondern auch Bilder brennen, auf die Zerstörbar- und Verletzlichkeit archivierten Materials hin: »Fragilität ist ein grundsätzliches Merkmal archivalischen Materials: Papier zersetzt sich, Schrift verblasst,

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ständigkeit, den eigenen Mangel, die eigene Lücke66 aus. Johnny entscheidet außerdem, was von Zampanòs defektiver Hinterlassenschaft wie editiert wird, womit nicht allein hierarchische Verhältnisse ins Wanken gebracht, sondern Fragen nach dem Status des als Primärtext bzw. Original ausgewiesenen Textes aufgeworfen werden. Wie originär ist das, was Truant LeserInnen als Original überbringt? (Und wie original, originell oder originär ist Truant in Bezug auf seine intertextuellen Editorenvorbilder Kinbote und Torrance?) Was im Fall von Danielewskis Roman als Primärtext gelten könnte wird durch die paratextuellen Vorfälle zum Einsturz gebracht, wuchern diese doch in den Textbau wie Parasiten, wodurch HoL texthierarchisch unentwirrbar aus- bzw. ineinanderbricht. Oft fallen die Fußnotenkommentare Truants, die eigentlich unter der Barre der Textseite verlaufen, über den Raum des vermeintlich eigentlichen Textes her – einzig ein Strich am oberen Rand der Seite erinnert typographisch noch an die Fußnote67 . Sie drücken sich aus ihrer randständigen Position hinauf an den Ort, an dem Zampanò Platz eingeräumt werden sollte, der durch dieses Verfahren zu einer Signatur wird, die sich letztlich selbst aussticht. Die von Johnny aufgefundene Truhe ist ein Appell des Edi(ti)erens, die das Wuchern der Kommentare veranlasst, eine »babylonische Vielfalt von Lesewegen« (SchmitzEmans 2000b: 162) erzeugt und die die eigene Stimme als andere wi(e)derkommen lässt. Ein Gewimmel an Gerede, sich hinzufügende Kommentare avancieren zu Konkurrenten auf derselben Seite, widersprechen und ergänzen sich und hören damit auch nicht auf, wenn das Buch wieder zugeklappt ist – es geht genau nicht ums Letztliche, sondern ums Prozessieren eines unbeendbaren Fort-Gangs, schließlich weiß HoL, »dass alle Bücher immer von anderen Büchern sprechen« (ebd.). Die Grenzen eines Buches sind nie sauber und streng geschnitten: über den Titel, die ersten Zeilen und den Schlusspunkt hinaus, über seine innere Konfiguration und die es autonomisierende Form hinaus ist es in einem System der Verweise auf andere Bü-

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Schimmel, Verunreinigungen und Oxidationsprozesse können die Archivalie materialiter unlesbar machen oder sie gar vernichten. Speziell die Archivierung fotografischen Materials garantiert keinesfalls für den ewig gespeicherten Bestand des chemisch fixierten Augenblicks, sondern generiert potentiell Beschädigungen und Verzerrungen auf chemischer Basis, die das Reale des Materials und der Umstände seiner Lagerung dokumentieren: Gesichter verschwimmen, wirken zerfressen, Flächen verdunkeln sich. Das Abbild tendiert dazu, sich zur Grimasse zu verzerren.« (Schuck 2018: 335). Didi-Huberman verweist wiederum in Das Archiv brennt (2007) auf die Lücke als konstitutives Prinzip des Archivs: »Das Eigentliche des Archivs ist seine Lücke, sein durchlöchertes Wesen. […] Das Archiv ist häufig grau, nicht allein durch die verstrichene Zeit, sondern auch von der Asche des Umgebenden, des Verkohlten.« (Didi-Huberman 2007: 7f). Truant hängt an der Nadel; neben Heroin konsumiert er regelmäßig Cannabis, Kokain, »Melatonin, L-tryptophan, Valium, Vicodin, quite a few members of the barbital family« (Danielewski 2000: xi). Er ist ein Junkie, eine Existenz, die sich an den gesellschaftlichen Peripherien eingerichtet hat. Die Randfigur des Junkie hängt auch in HoL zunächst genau dort rum: an der Peripherie des Textes, in seinen Fußnoten, an seinen Rändern. Der Junkie jedoch durchbricht seine eigene Randständigkeit immer wieder, wenn er sich, manchmal fast und oft sicher vollkommen unbemerkt, in den Haupttext stiehlt. DrogenuserInnen sind nicht nur am Rand ansässig, sondern sie sind vor allem transgressive Existenzen – KonsumentInnen sind zwar an den Rand gedrängt, aber beteiligen sich ständig an der Aufhebung jener Ränder.

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cher, andere Texte, andere Sätze, verfangen: ein Knoten in einem Netz. (Foucault 2008: 495f.) Lose Zettel, wie Truant sie findet und durch eigene Aufzeichnungen auch selbst herstellt, sind immer wieder verstellbar, können anders angeordnet und somit neu verbunden oder abgetrennt werden; sie als auch ihre immer schon begonnenen Permutationen sind unabschließbar und stets in Bewegung – sie dissoziieren den Text. Zampanòs Text ist dem dauerberauschten Junkie Truant überantwortet, der verfügt, was wie geschrieben steht – nie gab es eine »Festigkeit der Texte«, sondern nur »bewegliches Abenteuer« (Kiening/Stercken 2008: 351), wobei die Stimmen als (zuordenbare) Stimmen verunsichert werden, was weiter zu denken ist: Zampanò ist bereits verstorben, als seine Aufzeichnungen von einem Fremden gefunden werden, sodass immer fraglich bleibt, wer genau sie aufgeschrieben hat und ob die Handschrift überhaupt auf allen Dokumenten dieselbe ist (was wiederum Einfluss auf deren Lesbarkeit hat). Jene ungeordneten Zettel sind bereits mehrstimmig, sind sie doch in der ersten Person Plural notiert: In dieses Wir, in dem Zampanò zu sprechen pflegt, ist einerseits eine Vielstimmigkeit in Form von KritikerInnenaussagen, Fankommentaren und psychologischen Gutachten wie andererseits jene forschende und editorische Vorarbeit eingeschrieben, die Zampanò nicht ohne fremde (sehende) Hilfe hat bewerkstelligen können. Er ist streng genommen nie allein, wenn er Umgang mit TNR und dessen medialem Weiterleben hat, sondern befindet sich stets in Gesellschaft, ist mit anderen: Verschiedene Vorleserinnen, Schreiberinnen und Frauen, die die Handlung von Filmen nacherzählen, halten sich in seiner Nähe auf und scheinen auch die letztgültige Entscheidung über das, was aufgeschrieben wird, treffen zu können – wie könnte Zampanò es merken, wenn eine von ihnen etwas anderes aufschreibt, bereits im Vorfeld falsche Angaben etwa zu TNR macht, Dinge ergänzt oder beiseite lässt? Zampanòs readers. Easily over a hundred of them, though as I quickly discovered more than a few of the numbers are now defunct and very few of the names have last names and for whatever reason those that do are unlisted. (Danielewski 2000: 35) Die Frauen, mit denen Zampanò sich umgibt und von denen auch Truant die eine oder andere kennen lernen wird, lesen ihm nicht nur Texte vor, sie notieren auch all das, was Zampanò ihnen diktiert. Nicht alle Notizen sind in der Kiste, die Johnny zu Beginn findet, gelagert, sondern liegen teilweise wohl noch bei den Schreiberinnen zu Hause, sodass HoL sich aus weiterem Material speist, das gar nicht erst zu lesen ist: Actually a woman by the name Tatiana turned me onto that bit of info. She’d been one of Zampanò’s scribes and –»lucky for me« she told me over the phone–still had, among other things, some of the old book lists he’d requested from the library. (Ebd.: 107) Neben den verstreuten, zirkulierenden Aufzeichnungen Truants, die denen Zampanòs hinzukommen, existiert etwa ein von Navy angefertigtes, nun aber nicht mehr auffindbares, Notizbuch; während Tom von Zeit zu Zeit zum Kiffen das Haus verlässt, »his brother jots down notes in some now lost journal« (ebd.: 99); auch Karen fabriziert neben eigenen Videos diverses, handschriftlich notiertes Material, nachdem sie beschlossen hat, wieder ins Haus einzuziehen. Sie schreibt unablässig, »filling page after page« (ebd.: 415),

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aber »not one word is ever visible in The Navidson Record. To this day the contents of her journal remain a mystery« (ebd.). So wie sicher auch mancher Code, der sich in Truants, Zampanòs oder Pelafinas Aufzeichnungen versteckt, noch immer nicht gefunden worden ist… Zampanòs ehemalige Vorleserinnen übersetzen schließlich auch für Truant oder versorgen ihn neben Informationen über den toten Blinden mit Bibliothekslisten, sodass er nachvollziehen kann, welche Texte Zampanò während der Anfertigung seines Berichts konsumiert hat; Amber Rightacre etwa hat nicht nur Zampanò aus Tolstois Krieg und Frieden (1869) vorgelesen, sondern hilft Johnny mit der Translation: »I guess you might say in a round about way the old man introduced us« (ebd.: 35). HoL widersetzt sich konsequent und auf ironische Weise dem Konzept der Sinn gebenden Autor(schafts)instanz zugunsten eines Übereinanderstapelns verschiedener Stimmen, die schließlich durcheinander sprechen, sich gegenseitig ins Wort fallen und zur Debatte stehen lassen, welche Figur überhaupt spricht und wer wen erfunden hat. Ohne von Truant oder seiner folgenden Arbeit wissen zu können, scheint Zampanò auch ihn (und die Herausgeber) bereits als sprechende (und dieses Sprechen begleitende) Instanz mitzudenken bzw. mitzuschreiben, unterstellt man jenem pluralistischen Wir, die Stimme Truants (der KommentatorInnen und der Bookman sowie all der Frauen, die Zampanò umgaben) schon mit zu meinen; Zampanò (s Schreiben) antizipiert Stimmen, die (sich in) seinen Text geschrieben haben werden. Eine diesem Wir wohl gleich eingeschriebene Sprechinstanz ist Pelafina, die in einer Nervenheilanstalt namens Whalestoe68 lebende Mutter Truants, die eigentlich nur im Anhang ihren Platz und scheinbar keinerlei Beziehung zum Graphomanen oder den Navidsons hat und sich dennoch in den eigentlichen Teil des Romans schiebt, schließlich ist das Titelblatt in dem ihr zuordenbaren Schrifttyp Dante gehalten. Sie arbeitet nicht nur versteckte Codes in ihre in HoL abgedruckten Briefe ein, sodass sie Johnny von Vorfällen berichten kann, die, wie sie meint, sonst nicht erzählt werden könnten (etwa überführt sie am 08.05.1987 einen ganzen Brief über die an ihr begangenen Vergewaltigungen in ein akrostichorales System, von dem sie hofft, dass nur ihr Sohn es als solches erkennt und entschlüsseln kann (vgl. ebd.: 620f.)), sondern adressiert zugleich in einem in ihren Briefen an Truant versteckten Akrostichon den ihr eigentlich unbekannten Zampanò, wenn sie, verborgen im eigenen Text, fragt: »My dear Zampanò, who did you lose?« (ebd.: 615). Daher ist es unmöglich, die oben suggerierte Trennung von Stimmen im Text anhand der typographischen Taxonomie restlos aufrecht zu halten: Zampanòs Wir ist eine Gespenstergemeinschaft, jede Stimme ist der anderen Gespenst (womit sich zunächst der sprachliche und damit ein Zug des Unheimlichen in HoL bestätigt: »Das Unheimliche ist, im Grund, ein Sprachliches«, schreibt Lacoue-Labarthe. »Die Sprache ist der

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Whalestoe: Ein Wal hat keine Zehen! Auch nicht Melvilles Moby Dick (1851), der seinerseits als Roman ähnlich wie HoL das Erzählen anderer Geschichten und das Herstellen theoretischer wie literarischer Anschlüsse leistet und damit zu einem weiteren Vortext für Danielewskis Roman wird; das – oder eher ein weiteres – ›Zentrum‹ beider Romane ist ein leeres, entleertes, insofern das (titelgebende) Objekt im Zentrum eine Leere repräsentiert; Whalestoe ist der Name einer Abwesenheit.

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Ort – vorausgesetzt, dass es ihn gibt, des Unheimlichen« (Lacoue-Labarthe 1988: 38))69 . Truant pulverisiert als Gespenst(ische Stimme) seine eigene Zeitlichkeit; als Wiederkehr des Vergangenen spukt er in Zampanòs Text als dessen Zukünftiges und lässt jede voreilige Unterscheidung von Vor- und Nachher implodieren – Truant führt geistreich durch Zampanòs Aufzeichnungen hindurch. Gespenstisch beredet, bespricht und zerspricht er den von ihm gefundenen Text, der nicht der ist, den man gelesen haben wird. Truants Lesen avanciert zum deplatzierenden Schreiben bzw. zum schreibenden Deplatzieren, wobei er – und damit auch all die anderen Stimmen, die im Roman anwesen – sich auf zweifache Weise in Zampanòs Text einschreibt: Als (erkennbarer, vom Fließtext weitestgehend abgrenzbarer) Fußnotenapparat, der kommentiert, ergänzt und berichtigt und andererseits als (schriftbildlich) nicht mehr nachzuweisender Konstrukteur, als jemand, der das Eigentliche immer schon uneigentlich werden lässt und dabei das Fremde, das Andere einschiebt, ohne es als Fremdes zu erkennen zu geben. Truants Stimme wird zur geisterhaften, gerade weil man nicht weiß, wo sie eigentlich ist; er wird zum Gespenst70 , zur Gespensterstimme und alle anderen mit ihm. Mehr noch: Truants Einschübe sind in Bezug auf den als Haupttext ausgewiesenen Bericht Zampanòs Übergangszonen, Dazwischen-Geschobenes, das die Strategie des Textes, zwischen heimlich und unheimlich zu schweben, prozessiert. Ein unbeendbarer Prozess des Ein- und Ausklammerns, der immer auch ein In-der-Klemme-Sein ist, problematisiert Lesbarkeit und wird selbst problematisch. Durch unterschiedliche Verfahren und Strategien auf verschiedenen Ebenen gibt sich HoL als typographischer Ausnahmezustand; zwar sind keine der Strategien, die HoL verfolgt, tatsächlich neu71 oder gravierend innovativ (vgl. Zubarik 2014: 232), aber in einer überbordenden Fülle anwesend. Der Roman neigt 69

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Das Unheimliche der Sprache »might arise from the seemingly mechanical repetition of a word, such as ›it‹« (Royle 2003: 1); wiederholt man ein Wort, ist es immer schon nicht mehr dasselbe, ist es immer schon anderes, sich selbst entfremdet und unheimlich. Das stets in blau abgedruckte Wort begegnet dabei immer wieder als sein anderes; der Haus-Signifikant wird zu seinem eigenen Echo, dessen Ursprung immer schon verloren ist, womit jenes eigentümliche Fungieren des Echos, Konturen zu verunsichern und Worte nicht länger sie selbst sein zu lassen, exponiert und prozessiert wird; Sprache wird sich selbst un-heimlich, hängt das Unheimliche an »[der] beständige[n] Wiederkehr des Gleichen, [der] Wiederholung der nämlichen Gesichtszüge, Charaktere, Schicksale, verbrecherischen Taten, ja der Namen […] (Freud 1989a: 257) – so erscheint die »Wiederholung des Gleichartigen […] als Quelle des unheimlichen Gefühls« (ebd.: 259), insofern Wiederholtes nie mit sich identisch gewesen sein wird. Derrida unterscheidet zwischen Geist und Gespenst, wobei ein Gespenst jenes Wesen bezeichnet, das in seinem (An)Kommen schon wieder im Verschwinden ist: »Oder vielmehr ist das Gespenst […] eine paradoxe Verleiblichung, das Leib-Werden, eine bestimmte leibliche Erscheinungsform des Geistes. Er wird vielmehr zu einem ›etwas‹, das schwer zu benennen bleibt: weder Seele noch Leib, und doch beides zugleich. Denn der Leib und die Phänomenalität sind das, was dem Geist seine gespenstische Erscheinung verleiht, doch sogleich in der Erscheinung verschwindet, im Kommen selbst des Wiedergängers oder der Wiederkehr des Gespenstes.« (Derrida 2004: 19). Bereits im 18. Jahrhundert lieferte Laurence Sterne mit seinem Roman Tristram Shandy eine Verknüpfung visueller und poetischer Strategien, wie sie auch HoL darbietet. Der über einen Zeitraum von fast zehn Jahren publizierte Roman (in neun Bänden) spielt seinerzeit bereits mit (als solchen markierten) Auslassungen, verweigert dem Erzählen eine lineare Struktur und imitiert handschriftliche Linien und Anmerkungen, die stellenweise wie die Herzkurven eines EKGs anmuten. Hier wird nicht nur mit der Schrift geschrieben, sondern Schrift wird vielmehr aufgeführt.

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zum Übermaß, zum Exzess, zum Rausch(haften) und ist in jeder Hinsicht innen größer als außen: eine Hyperbel des Lesens. Das Haus, das Video, der Text – betreiben die anhaltende Zerstörung von Kontinuität als Simultanität von Unterbrechung und Kontinuität; harte Schnitte, Verschiebungen und Unsichtbarkeiten betreffen sowohl die Architektur des Hauses wie auch die Architextur, wie auch »[c]onsequently, in lieu of a schematic, film offers instead a schismatic rendering of empty rooms, long hallways and dead ends, perpetually promising but forever eluding the finality of an immutable layout« (Danielewski 2000: 109). Jenes Hallen und Schallen sich ineinander verhakender und durchkreuzender Sprechinstanzen metastasiert fast zehn Jahre nach Erstveröffentlichung von House of Leaves ins experimentelle Hörspiel; das zunächst im Radio gesendete und schließlich auf DVD veröffentlichte Hörspiel Das Haus prozessiert durch das Aufsplitten des zu Hörenden – das gleichzeitige Abspielen verschiedener Tonspuren – auf drei Frequenzen ein ähnliches Aufspreizen unterschiedlicher Rezeptionsebenen (und -verfahren), wodurch HoL nicht nur doppelten, sondern vielfachen Boden oder eher Bodenlosigkeiten eingezogen haben wird.

5.6 Architektonisches Stimmengewirr – ein Aufnahmezustand72 Dass beim Umgang mit dem Medium HoL immer ein unheimlicher Rest bleibt, äußert sich auch in seinen weiteren Bearbeitungen: Das Hörspiel73 Das Haus ist komplexes La-

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(Hörspiel) – ein Aufnahmezustand ist der Titel eines 1969 produzierten Hörspiels von Mauricio Kagel, bei dem die Aufnahmen für eine vermeintliche Musikprobe, zu dem er seine Tochter wie sechs BerufsmusikerInnen eingeladen hatte, inklusive Unterbrechungen, Mikrophoneinstellungen, Besprechungen und Anweisungen zwischen den einzelnen Probeaufnahmen zu einem Hörstück montiert werden, was die Mitwirkenden erst nach den Aufnahmen erfahren: »Spielerisch dokumentierte dieses Hörspiel seine Herkunft aus der Apparatur.« (Zeyn 2001: 200). Ersonnen wurde der Hörspiel-Begriff bereits 1876, dem Jahr, in dem Nietzsche zum ersten Mal den Bayreuther Festspielen beiwohnte und anschließend in den Unzeitgemäßen Betrachtungen diesen Präradio-Neologismus zur Beschreibung auditiver Strategien von Wagner-Aufführungen, die insofern als Schauspiele nicht nur das Auge, sondern zugleich auch das Ohr affizieren, einführte: »Wir fühlen es dann auf das bestimmteste: in Wagner will alles Sichtbare der Welt zum Hörbaren sich vertiefen und verinnerlichen und sucht seine verlorne Seele; in Wagner will ebenso alles Hörbare der Welt auch als Erscheinung für das Auge ans Licht hinaus und hinauf, will gleichsam Leiblichkeit gewinnen. Seine Kunst führt ihn immer den doppelten Weg, aus einer Welt als Hörspiel in eine rätselhaft verwandte Welt als Schauspiel und umgekehrt; er ist fortwährend gezwungen – und der Betrachtende mit ihm – die sichtbare Bewegtheit in Seele und Urleben zurück zu übersetzen und wiederum das verborgenste Weben des Innern als Erscheinung zu sehen und mit einem Schein-Leib zu bekleiden« (Nietzsche 1976: 342). Zugleich findet sich der Hörspiel-Begriff, dessen Schöpfung oft fälschlicherweise Hans Siebert von Heister, einem Düsseldorfer Künstler, der als Chefredakteur des Deutschen Rundfunks und Mitglied der berühmten Novembergruppe, zu der auch Otto Dix und Hanna Hösch gehörten, maßgeblich an der Etablierung der deutschen Radiolandschaft mitgewirkt hat, zugeschrieben wird, auch in Also sprach Zarathustra, wo er als »vielfältiger seltsamer Schrei«, der »sich aus vielen Stimmen zusammensetzte« (Nietzsche 1994: 367), akzentuiert wird. – Anders als Nietzsche setzt von Heister den Begriff allerdings ausschließlich für die spezifisch akustische Erfahrung von RadiohörerInnen ein, bezeichnete er das von Beginn

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byrinth aus verschiedenen, ineinander greifenden und sich zuwiderlaufenden Sprechebenen, Klängen, Stimmen, Geräuschen, Tönen und Lauten, das dabei von Störungen getragene Hörmuster – oder eher Hörtumulte – einschließt. Ausgebrochen wird hier aus gewohnten Hörkonventionen durch das Ohr schmerzende Kratzgeräusche, störendes Zischen, irritierendes Knacken, lauter werdendes Rauschen und Überblendungsstrategien, die Zuordnungsverhältnisse erschweren, wodurch das Hören labyrinthisch verschachtelt wird. Dieses experimentelle Hörspiel der besonderen Art, »das sich mit Hilfe modulierter elektrischer Wellen auf drahtlosem Wege einer unbegrenzten Anzahl von HörerInnen über Tausende von Kilometern hinweg mitteilen lässt« (Fischer 1964: 7) konnte man im Dezember 2009 beim WDR nur zum Preis des Verlusts haben: Auf drei unterschiedlichen Wellen wurde je eine Tonspur des Hörspiels Das Haus übertragen, sodass das Hörspiel eigentlich drei bzw. (und zugleich) ein in sich abgerissenes und zerhacktes Hörspiel ist; unter Leitung dreier verschiedener RegisseurInnen entstanden unter Mitwirkung von u.a. Tom Schilling (als die Stimme von Johnny Truant), Roberto Ciulli (als Stimme Zampanòs) und Sascha Icks (die Karen Navidson ihre Stimme leiht) drei Tonspuren, ausgestrahlt auf drei Sendern, sodass ZuhörerInnen einerseits gezwungen waren, entweder zwischen den Sendern hin- und herzuschalten oder sich für eine Tonspur zu entscheiden und andererseits dadurch immer etwas nicht hören können (die Spielzeit aller drei Tonschichten beträgt insgesamt 2 Stunden und 39 Minuten, wobei der Hörspielabend aufgrund seines Simultanitätsprinzips nur etwas über 50 Minuten in Anspruch nahm). Die erste Ebene namens Labyrinth, die vor allem Zampanò zu Wort kommen lässt und dabei die architekturalen Ereignisse im Haus der Navidsons erzählt, läuft zeitgleich zur zweiten, als Fäden betitelten Frequenz; simultan ist auf einer dritten Welle die unter Regie von Martin Zylka entstandene Dunkelkammer zu hören. Verhören fällt leichter als Verlesen, kann man doch im Radio Vernommenes nicht erneut abspielen, wie man etwa im Buch vor- und zurückblättern oder ein Wort erneut lesen kann – besonders Gehörtes (ver)schwindet schnell, was Verstehen verkompliziert, verzögert und blockiert. Das Haus ist zwar in seiner Komplexität und medialen Zerstreutheit ein so nicht gekanntes Hörevent, jedoch gab sich das Medium Radio bereits in seinen Anfangsjahren als Experimentierfeld, das nicht nur mit Störungen wie Stimmversagen, technischem Rauschen, Mikrophonverzerrungen und -ausfällen konfrontiert war, sondern mit diesen als konstitutive Größen für Hörereignisse umging (wie das erste Hörspiel (1924) Zauberei auf dem Sender von Hans Flesch beweist) – eine Strategie, die sich bis heute erhalten hat, wenn auch das Radio im Alltag an Präsenz verloren hat. So gibt sich beispielsweise Andreas Ammers (Texter) und FM Einheits (ehemaliges Mitglied von Einstürzende Neubauten) preisgekröntes Radio Inferno – Hörspiel in 34 Gesängen aus dem Jahr 1993 als Geräuschan dem Experimentieren mit Hörbarem verpflichtete Hörspiel als »das arteigene Spiel des Rundfunks« (Ladler 2001: 52), wobei Zauberei auf dem Sender aus dem Jahre 1924 vom 1945 verschollenen Flesch, der u.a. Walter Benjamin und Theodor Adorno an das Radio brachte bzw. dieses an jene, als eines der ersten gesendeten überhaupt gilt und dabei bereits die Tücken des recht neuen (Massen)Mediums in Szene zu setzen wusste, insofern das Spiel, unterschrieben mit Versuch einer Sendespiel-Groteske, mit potentiellen Störungen des Übertragungsmediums eben dies tut: spielen (80 Jahre später ging Ein Zauberer auf dem Sender – die Lange Nacht des Rundfunkpioniers Hans Flesch von Armin H. Flesch und Wolfgang Hagen als Rundfunkpionierhommage über den Äther).

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choreographie aus Versatzstücken, der Dantes Inferno als Grundlage dient, die zusätzlich mit Musik, ModeratorInnenstimmen, O-Tönen von TerroristInnen und Lesungen von Textpassagen zu einem einzigartigen Hörerlebnis montiert wird. Bei dem im Rahmen der Hörspielreihe Rauschzeichen von Deutschlandradio Kultur gesendeten Stück wird nicht nur das übliche Personal Dantes, sondern auch ProtagonistInnen wie James Joyce, John Cage und Marcel Duchamp Teil des Geschehens, das in deutscher, englischer und italienischer Sprache über den Äther ging und dabei das eigene Funktionieren ausstellt bzw. bespricht: »Radio Inferno zitiert nicht nur einen existenten Text, sondern das gesamte Hörspiel ist ein Zitat auf das Radio mit seinen unterschiedlichen Formen: Originaltonreportage, Moderation, Hitparade, Lesung etc.« (Zeyn 2001: 204)74 . Ein 1970 der Redaktion des WDR zugesendetes, eigens produziertes Hörspiel des damaligen Schülers Michael Glasmeier mit dem Titel Kaputt wurde tatsächlich ausgestrahlt und 2012 wiederholt gesendet (vgl. Rinke 2017: 115); nicht nur das Stück selbst, das mit einem Kasettenrecorder, der einen Wackelkontakt hatte, aufgenommen wurde, sodass der technische Defekt konstitutiv für die Dramaturgie des Hörstücks wurde, sondern auch seine Ausstrahlung sind dem Experimentieren75 verschrieben: »Dass damals der WDR Glasmeiers Hörspiel sendete, kann als mediengeschichtlich revolutionäre Tat gelten« (ebd.: 116). Zu hören ist Glasmeiers Stimme, die aus einem Interview mit William Burroghs über Marx und Hasch zitiert, während zeitgleich Musik von Spooky Tooth und dem Elektronikmusiker Pierre Henry wie von der Band Traffic läuft (auf knackenden Schallplatten); diverse Passagen werden, während zwischendurch auch mitgesungen wird, mehrfach und dabei je anders intoniert vorgetragen, wobei sich Glasmeier auch verliest – er »ist sich also des Materialcharakters von Sprache und Musik bewusst und er bezieht die technischen Störungen als Gestaltungselemente in seine Produktion ein« (ebd.: 117). Auch die Strategie des Hörspiels Das Haus besteht darin, Unterbrechungen, Irritationen und Störungen, die nicht nur den Hörsinn aufrühren, sondern auch Sinn versperren bzw. immer wieder aufs Neue anordnen, verweigern und aufschieben, konstitutiv werden zu lassen. Durch jenes strukturinhärente Zerreißprinzip auf narrativer wie auf rezeptiver Ebene baut sich ein massiver Widerstand gegen das Festschreiben imaginärer Konsistenz auf – Bedeutung scheint nur dann kurz auf, wenn man die Ebenen durch akustisches Zappen vernäht – aber nur um den Preis, eine andere Naht wieder aufdröseln zu müssen. Nicht-Orientierbarkeit und Unordnung werden zum strukturellen Prin-

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Auf ähnliche Weise stellt Paul oder Die Zerstörung eines Hörbeispiels des Thüringers Wolf Wondratschek »beständig den Konstruktionscharakter aus« (Friedrich 2020: 49); das 1969 zum ersten Mal beim WDR gesendete Hörspiel collagiert verschiedenste SprecherInnenstimmen und Geräusche wie reißendes Papier, laufendes Wasser, Hühnergegacker und Motorensound, Schreibmaschinengeklapper, Hupen und Schritte auf Asphalt zu einer Soundscape, die mit nur einem Musikstück auskommt: I’m so tired der Beatles. Diverse Zitate aus Filmen, Fernsehsendungen, einem Text mit dem Titel Also von Wondratschek selbst und Zeitungsartikeln sind ebenso Teil des akustischen Arrangements. Nicht zu vergessen sind hier die herausragenden Arbeiten von John Cage, der zwischen den Dreißiger und Vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht nur verschiedene Imaginary Landscapes speziell für das und mit dem Radio angefertigt hat, sondern in Auseinandersetzung mit Texten von James Joyce diverse Hörspielarbeiten wie etwa Muoyce (ein Schachtelwort aus Music und Joyce) komponierte (vgl. Bayerl 2002: 267f.).

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zip erhoben. Das Hörspiel Das Haus bleibt programmatisch sperrig, es avancieren radioeigene Geräusche wie etwa Rauschen zu MitspielerInnen; die Apparatur selbst wird mit und durch ihre technischen Mittel konstitutiv für ein Hörerlebnis, das nur als im Radio gesendetes (all) seine Effekte zeitigen kann. Dieses taumelnde, schizophone und damit der Vielstimmigkeit des Romans im anderen Medium Rechnung tragende Stimmenlabyrinth ist an zahlreichen Stellen mit Störgeräuschen, die man vom täglichen Radiohören bereits kennt, durchzogen – zumindest können das HörerInnen der nachträglich publizierten DVD leicht behaupten, da ihnen klar ist, dass diese Frequenzgeräusche Teil des Hörspieluniversums selbst sein müssen. RadiohörerInnen jedoch wissen davon nichts und können sich nie sicher sein, ob es nun eine tatsächliche Störung des Senders bzw. des technischen Geräts gegeben und sie etwas Inhaltliches verpasst haben, oder ob die Knack- und Kratzgeräusche je schon der Tonspur zugehörig waren. Beispielsweise übersteuert an einigen Stellen der Ton, als hätte man das Radio zu laut aufgedreht oder das Sprechen wird von einem plötzlichen Rauschen zerschnitten, als würde der Empfang unterbrochen. Simulierte Tonlücken und Stimmausfälle, Geräusche von Geigerzählern und verstimmten Klavieren kolportieren Unheimliches, das nicht aufhören kann, sich nicht als Aufklaffen, als Störung oder Riss der Tonspur einzumischen. Truants Stimme etwa drückt sich auf der ersten Ebene namens Labyrinthe, die aus 24 Kapiteln besteht und in der vor allem Zampanò zu Wort kommt, häufiger durch dessen Rede nach oben durch, begleitet von Übersteuerungsgeräuschen und Rauschen, sodass sein Sprechen wie eine Frequenzstörung klingt (vgl. Schlüter 2009: 00:12:44-00:13:23); im Abschnitt Dunkelkammer (des Hörspiels dritte Ebene, die vor allem Kommentare zu TNR sammelt und mit nur sieben Kapiteln auskommt) fällt Truant abermals Zampanò nach Störgeräuschen ins Wort und verschwindet nach einer guten halben Minute wieder (vgl. Zylka 2009: 00:12:27-00:13:00). Die DVD nun ermöglicht ein permanentes Trennen und WiederZusammenführen der einzelnen Tonspuren untereinander, sodass jedes Hören je anders verlaufen kann und gibt mit jeder Neukombination eine andere, die vorhergehende ergänzende oder ihr widersprechende, Geschichte zu hören. Diese auditive Architektur ist insofern kein feststehendes Gebäude, sondern ein architektonischer Komplex, der sich mit jedem Hören neu organisiert; die Permutation(en) einzelner Stimm- und Tonsequenzen eröffnet eine beinahe unendliche Fülle an unterschiedlichen Kombinationen, was Hörspiel-HörerInnen ermöglicht, je abweichende Soundscapes anzulegen, um sie wieder zu zerschmettern. Zu sehen sind auf der DVD zunächst verschwommene menschliche Silhouetten, hinter ihnen handbeschriebene Zettel. Anschließend kann man in Courier die Worte »Das hier ist kein normales Hörspiel« lesen, denen ein in Times New Roman gehaltener Text, der selbstverständlich das Wort Haus immer blau schreibt, folgt: Sie betreten ein Haus, das sich permanent verändert. Auf drei Ebenen wird eine der unheimlichsten und verstörendsten Geschichten erzählt, die je bezeugt wurde. Auf jeder Ebene lernen Sie das Haus aus einer anderen Perspektive kennen. Bewegen Sie sich zwischen den Ebenen und erleben Sie so das Grauen in seiner ganzen Dimension! Das Haus birgt nahezu unendlich viele Möglichkeiten. Suchen Sie sich ihren eigenen Weg! (Schlüter et al. 2009: DVD-Intro)

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Anschließend kann man zwischen der One Way-Option, bei der alle drei Stränge hintereinander abgespielt werden, der Own-Way-Variante, bei der man beliebig oft zwischen den einzelnen Hörsträngen hin- und herspringen kann und einer Follow-Way-Version, bei der ein bereits festgelegter Weg abgeschritten bzw. abgehört wird, wählen. Die teils identischen Kapitelnamen der insgesamt drei soweit orchestrierten Hörstränge geben Unidentisches zu hören; etwa trägt das vierte Kapitel auf allen drei Ebenen den Titel Die Entdeckung des Hauses, ist aber mitnichten mit sich selbst identisch: Hört man auf der ersten Ebene Zampanòs fast schon über sich stolpernde Stimme über die Raumveränderungen im Haus der Navidsons berichten, drängt sich auf der zweiten Ebene Johnny Truant, der die Aufzeichnungen Zampanòs in Händen hält, vorlesend nach vorne, wohingegen die dritte Ebene ein wieder neu arrangiertes Stimmengewirr zu hören gibt. Zugleich tauchen identische Kapitelnamen wie etwa Navidsons erste Erkundung (auf der ersten Ebene das siebte Kapitel, auf der zweiten hingegen das sechste; das letzte Kapitel der dritten Ebene Dunkelkammer ist mit Navidsons erste Erkundung des Raumes betitelt) oder Im Labyrinth auf, aber nur, um mit unterschiedlich arrangiertem Hörmaterial zu je unterschiedlichen Zeiten zu konfrontieren. Die Stimmen der jeweiligen Hörstränge infiltrieren ihre diegetischen Ebenen gegenseitig – oft ist nicht klar, wer gerade das Wort hat – und provozieren dadurch anhaltendes Verhören, so etwa wenn Pelafina (deren Wege sich im Roman nicht mit denen der Navidsons kreuzen) auf der zweiten Ebene namens Fäden (die vorrangig Truant zu Wort kommen lässt und 17 Kapitel beinhaltet) echoartig die Worte von Tom, die er spricht, während er allein im Labyrinth des Hauses Station bezogen hat, wiederholt und sich dabei zusätzlich ihre eigene Stimme zu verdoppeln scheint (vgl. Leist 2009: 00:32:1000:32:14). Das Hörspiel ist ein Stimmengelage, was sich nahezu in jeder Sequenz bemerkbar macht: So wird Beatrice, eine der Vorleserinnen Zampanòs, beim Zitieren eines Textes über Rätsel von ihrer eigenen, kaum hörbaren Stimme untermalt, die wenige Sekunden zeitverzögert das spricht, was im Vordergrund laut gelesen wird; begleitet wird ihre zusätzlich noch hallende Stimme von künstlichen Synthesizer-Klängen und metallisch klingenden Geräuschen (vgl. Schlüter 2009: 00:09:16-00:10:05); die über Rätsel sprechende Beatrice wird in dieser Sequenz von ihrem eigenen Echo heimgesucht und berichtet (und prozessiert ex aequo) gewissermaßen doppelzüngig von der immer schon bestehenden Nicht-Zugehörigkeit der Stimme zum Körper des Subjekts sowie vom in sich gespaltenen Sprechen des Subjekts. Eine konstitutive Asymmetrie kennzeichnet die Stimme, eine Asymmetrie zwischen der Stimme, die vom Anderen stammt, und der eigenen Stimme. Sich die Stimme des Anderen einzuverleiben, ist unabdingbar, wenn man überhaupt sprechen lernen will; denn der Spracherwerb hängt nicht nur davon ab, die Signifikanten nachzuahmen, sondern besteht wesentlich darin, sich die Stimme einzuverleiben. Die Stimme ist der Exzess des Signifikanten, der sich zunächst als Exzess des Anspruchs des Anderen darstellt, des Anspruchs als solchem, und ist zugleich der Anspruch an den Anderen, wobei beide zusammen für die Asymmetrie von Verlautenlassen und Ausgesetztsein stehen. (Dolar 2007: 110f.)

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Die Stimme gehört ganz weder dem Subjekt noch dem a(A)nderen – sie bleibt gewissermaßen zwischen ihnen stecken; weder im Inneren des Sprechenden noch im Außen des a(A)nderen vollständig lokalisierbar windet sich die Stimme als unheimliche. Heidegger reduzierte diese Stimme auf ein Minimum: eine Öffnung hin auf eine radikale Andersheit, auf das Sein, einen der Selbstaneignung und Selbstreflexion ausweichenden Ruf, etwas außerhalb des Seienden, im Bereich des Unheimlichen Angesiedeltes. (Ebd.: 140) Wenn Zampanò, dessen Akzent nicht ganz zuordenbar ist, zu Wort kommt, mutet es stets so an, als ob er in sein eigenes Sprechen hineinreden würde, seine Rede wird überbzw. ineinander geblendet. Er fällt sich gewissermaßen selbst ins Wort, der Ton wirkt stellenweise wie abgeschnitten oder wird vom Schalltod verschluckt, als ob die Stimme selbst zum Phonophagen werden würde. Dieses technische Verfahren – dass Zampanò sich selbst über-redet – gemahnt nicht nur an die immer wieder ein-fallende Stimme des a(A)nderen, sondern zugleich an das Andere der Stimme, die nie ganz beim (sprechenden) Subjekt ist76 . Es lässt ähnlich wie die oben beschriebene Sequenz von Beatrice daran erinnern, dass die Stimme je schon im Feld des Anderen imaginiert wird, bedeutet jedes Hören immer auch ein Stück Gehorsam leisten. Werden ZuhörerInnen an/auf ihren Platz als Hörigkeit, die gehorsam lauscht, verwiesen, erscheint die Stimme als jenes zwielichtige Ding, das sich, wie Mladen Dolar gezeigt hat, an der Schnittstelle von Körper und Sprache ansiedelt. Nie gehört die Stimme ganz zum Körper, noch geht sie in der Sprache oder im Sprechen auf, sondern ist jenes unheimliche Zwischenwesen, das sich im Raum in between, in einer Nische positioniert. Etwas Ähnliches lässt sich auch hören, wenn Truant kommentiert, wie er und sein Kumpel Lude erstmals Zampanòs Wohnung betreten; man hört zwei zeitlich versetzte Truant-Stimmen, wobei diejenige, die später spricht, tonal über derjenigen, die früher spricht, liegt: Truant spricht buchstäblich über sich selbst, während bzw. indem seine Stimme ständig zerfällt und sich selbst vor- und nachhallt (vgl. Leist 2009: 00:09:17-00:09:31). Das Wort Haus selbst wird immer wieder über die Grenzen der Tonspuren hinweg zu einem rauschhaften Zischen verzerrt; jenes Ver-rauschen des Signifikanten wird zur konstitutiven Störgröße77 bzw. –wirkung, die das Un-Fassbare, das Un-Heimliche des Hauses einmal mehr (und dabei über-)betont . 76

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Dass die Stimme »immer woanders« (Wünsch 2012: 118), also eine »Exteritorität der Stimme« (Krämer 2006: 79) zu konstatieren ist, exponiert eine 2007 uraufgeführte Performance mit dem Titel the voice as performance, act and body der Künstlerin Valie Export: Mit Hilfe eines in den Rachen von Export eingeführten Laryngoskops wurden Aufnahmen ihrer Glottis, während sie einen selbst geschriebenen Text vortrug, auf einem separaten Bildschirm abgebildet, was durchaus an Freuds Beschreibung des Traums von Irmas Injektion erinnert (vgl. Wünsch 2012: 125). Die Stimme ist nicht länger an einen sprechenden Körper gebunden, sondern erscheint vielmehr zerhackt und in bzw. als unterschiedliche Medien – die »stimmliche Äußerung« ist immer schon »Entäußerung« (ebd.: 80). Martin Burckhardts 1997 gesendetes Hörstück Die Offenbarung des Daniel Paul Schreber rührt die Sinne von ZuhörerInnen mit ähnlichen Strategien auf wie Das Haus: Das von verschiedenen SprecherInnen vorgetragene und mit zahlreichen Klängen, Lauten, Fremdmaterial und ungewohnten Geräuschen angefüllte Experimentalstück, bei dem man sich ständig fragt, wer denn nun gerade spricht, teilt sich in zwölf Abschnitte, die insgesamt etwa eine Stunde Hörerlebnis bieten. Diverses Material aus Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903) werden von männlichen

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Stimmen werden besonders im Radio insofern unheimlich, als sie als acousmêtre, also als vom (sprechenden) Körper losgelöst wahrgenommene, entkörpert herumgeisteren; Michel Chion erinnert in The Voice in Cinema (1982) daran, dass die vermeintliche Zusammengehörigkeit von Stimme und Körper allererst kulturtechnisch erlernt wird und dass Radiostimmen immer schon akusmetrisch, also körperlos, sind, insofern ihre SprecherInnen nicht gesehen werden können; »It should be evident that the radio is acousmatic by nature« (Chion 1999: 21). Mehr noch expedieren sie im Radio den Tod, was der Heidegger-Schüler Wilhelm Hoffmann bereits 1933 auf die Formel »Ein primäres funkisches Thema ist der Tod« (Hoffmann 1975: 374) brachte; Radio und seinen Stimmen haftet immer schon etwas totes, gar tödliches an, sodass Stimme einmal mehr im Modus des Realen erscheint, teilt sie in jedem Sprechen das Sterben und den Tod mit, teilt ihn also mit HörerInnen und lässt den Tod an ihre Körper herantreten, infiziert sie gewissermaßen (vgl. Zeyn 2001: 205) mit Tod (und bewirkt eine Art ›Vertotung‹). So erklart auch Lacans Aussage, eine Stimme, die aus dem Radio tönt, richte sich nicht nur an die Lebenden, sondern auch an die Toten: Das Sprechen aus der Apparatur wendet sich nicht nur HörerInnen zu, sondern auch deren (durch dieses Sprechen) getöteten Leib, der allererst durch das Angerufen-Sein, durch das Hören der Stimme als eben dieser in Erscheinung tritt. Ein Radiovortrag wird in der Tat nach einem ganz besonderen Modus des Sprechens gemacht, sofern er von einem unsichtbaren Sprecher an eine unsichtbare Hörermasse gerichtet wird. Man kann sagen, dass er sich in der Phantasie des Sprechers nicht zwangsläufig an diejenigen richtet, die ihm zuhören, sondern auch an alle, an die Lebenden wie an die Toten. (Lacan 2015: 44) Das eine gestörte Soundscape entwerfende gespaltene Hörspiel Das Haus lässt HörerInnen mit allen Implikationen in die Irre gehen, wobei HoL’s Personal nicht verkörpert, sondern viel eher ver-stimmt wird und HörerInnenerwartungen ähnlich radikal und konsequent durchbrochen werden wie bereits der Roman Erwartungshaltungen von LeserInnen aus der Kurve wirft.

als auch weiblichen Stimmen verlesen, wobei diese durcheinander reden, sich gegenseitig ab- und unterbrechen, zum Echo der eigenen wie auch von fremden Stimmen werden und die mal sachlich nüchtern, mal flüsternd und wieder ein anderes Mal hektisch und angespannt die verschiedenen Sequenzen zum Nervenanhang, den diversen ab- und angewunderten Organen, Lungenwürmern, getöteten Seelen etc. rezitieren. Die körperlosen Stimmen berichten etwa auf dem dritten Track der CD über Weltordnung, den ewigen Juden und Entmannung durch göttliche Strahlen, während einzelne Versatzstücke aus bekannten deutschen Samstagabend- Quiz- und Talkshows, darunter Ausschnitte der Sendungen Hans Meiser und Arabella, immer wieder eingeschoben werden. Der nächste Track hingegen, der vorrangig über die Enge und das Eingesperrt-Sein (in) der Anstalt berichtet, ist mit sphärischem Elektrosound unterlegt, der immer lauter wird und an verschiedenen Stellen SprecherInnen übertönt, bevor er sich wieder zurückzieht; im darauffolgenden Titel sind Kirchenglocken und Chorgesänge zu hören, einzelne Stimmen tauchen (im rechten Ohr) auf, um ein kurzes Textfragment laut werden zu lassen, und verschwinden (im linken Ohr) wieder. Zu hören ist eine konstitutiv irritative Soundscape, die mit teils nicht identifizierbaren, zumindest doppel- und mehrsinnigen Geräuschen, die mal an Geigerzähler, mal an das Zählen eines industriellen Maschinenwerks erinnern, umgeht und dabei HörerInnen in Verwirrung entlässt.

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Marc-Antoine Mathieus Die Verschiebung wartet mit vielem auf, von dem in den vorherigen Kapiteln bereits zu lesen war: Prekäre Ver-rückung nicht nur von räumlichen, sondern auch zeitlichen Strukturen, labyrinthisches Verschachteln des architexturalen Schriftraumes inklusive einer paradoxalen (De)Struktur, die an das in sich verzwirbelte Möbiusband gemahnt, einem oft ratlosen Figurenensemble und einem desparaten Protagonisten. Die Verschiebung ist nicht nur Titel des 2013 erschienenen Comics (über das Erzählen im und Verfahrensweisen des Comics1 ) von Mathieu, sondern auch Programm desselben: Finden sich das Cover als auch der Opening-Splash gemeinsam mit den ersten Seiten erst am Ende des Comics, beginnt die Erzählung auf der siebten Seite, während etwa die Seiten des siebten Kapitels nahezu vollständig aus der Bindung gerissen scheinen und nur noch Fetzen übrig und damit lesbar bleiben, wobei sich aus den Überlagerungen der Seitenfragmente je anderes zu lesen gibt. Der Protagonist ist kein Unbekannter, er taucht bereits in zahlreichen Graphic Novels Mathieus, der vor allem durch Gott höchstselbst (2010) einem breiteren Publikum bekannt wurde, auf; der alleinstehende Julius Corentin Acquefacques, der im Ministerium für Humor arbeitet, wo er für die Aktualisierung des Glossars für Witze und Schimpfworte verantwortlich zeichnet und dessen Name – ein (phonetisches) Anagramm des Namens Kafka, klingt Acquefacques rückwärts wie eben dieser – bereits eine gewisse Sprengkraft birgt, wird im sechsten Band der Comic-Reihe aus der (zeitlichen wie räumlichen) Spur – und aus den Panels – geworfen. Bereits zuvor erlebte Acquefacques allerhand Abenteuer, von denen nicht ganz gewusst werden kann, ob sie von ihm erträumt

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Bereits im ersten Teil der Acquefacques-Reihe Der Ursprung (1990), auf den Die Verschiebung explizit in einer Art Fußnote (vgl. Mathieu 2015: 16) hinweist, verhandelt Mathieu die Strukturen und Verfahrensweisen von Comics, um sie in diesem Verhandeln aufzusprengen: Protagonist Acquefacques erhält anonym einen vertraulich zu behandelnden Umschlag, in dem er die erste Seite des Comics findet, den LeserInnen gerade in Händen halten, um erstaunt festzustellen, dass er scheinbar die Figur einer fiktiven Geschichte ist, wie ihm Professor Igor Ouffe, seinerseits tätig im Forschungsministerium, erklärt und dabei darauf hinweist, dass sie in einer zweidimensionalen Welt leben, die wiederum von einer dreidimensionalen umschlossen sei (was ihn in die Nähe des erzählenden Quadrats aus Abotts Flatland rückt).

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werden oder nicht. Das erste Blatt des Comics, das nicht der Beginn und doch der Beginn der Erzählung ist und sich als Seite 7 (und Seite 8) ausweist, zeigt Acquefacques auf einem klapprigen Bett nicht nur durch den dunklen Raum, sondern auch quer durch die Panels fliegen, er ist also mitten in einer Bewegung, wobei der Begleittext es ihm gleichtut, nur, um schon bald darauf im Off, das keine Panel- und Gutterstrukturen mehr kennt, zu landen2 . In den Captions informiert der mal wieder abhanden gekommene Held der Geschichte, nachdem er mit seinem Bett auf eine riesige Wand bestehend aus unzähligen Comiczeichnungen zugeflogen und schließlich in ein Bild gewissermaßen eingetaucht ist, was ihn (zurück?) in seine beengte Wohnung führt, dass er einem Geist gleich unsichtbar und auch unhörbar ist, also keine Gestalt hat, wobei er sich fragt, ob er denn wirklich aus seinem Traum aufgewacht sei; er ist bis zum Ende (und Anfang) der Handlung ein unsichtbarer Begleiter und Kommentator der Figuren, deren Welt durch seinen Flug aus den Fugen gerät bzw. aus den Rahmen der klassischen Comicstruktur ausbricht. Bedingt durch seine mit Speedlines unterlegte Flugreise in einem defekten Zeitreisebett kommt der Held der Erzählung Acquefacques eben dieser abhanden, fliegt ihr gewissermaßen davon, denn »die Zeit schien entgleist zu sein« (Mathieu 2015: 14) und ist in Bezug auf seine Sichtbarkeit in Abwesenheit anwesend, sodass die zurückbleibenden Figuren, die sich ihrer Existenz als fiktionale Figuren innerhalb eines gezeichneten Raums durchaus bewusst sind, ins Nichts, wo sie »irgendwo und nirgendwo zugleich« (ebd.: 23) sind, geraten und von wo aus sie versuchen, zurück in die Erzählung – also wieder in die Spur – zu gelangen, was ihnen gleichzeitig gelingt wie sie auch scheitern, insofern die Erzählung und die vermeintliche »Abwesenheit des Abenteuers« (ebd.: 22), also eine Art ›Nicht-Erzählung‹ ebenso zusammenfallen (in doppeltem Sinne: geraten sowohl ineinander als sie implodieren) wie Anfang und Ende. Unabhängig davon, ob sich LeserInnen für den chronologischen Weg entscheiden oder der durcheinandergeratenen Anordnung folgen, am (vermeintlichen) Ende oder am (vermeintlichen) Anfang treffen sie auf ein doppelseitiges Interior-Splash, das die Figuren einerseits dabei zeigt, wie sie ihren Weg (scheinbar) zurück in die Erzählung finden, also 2

Während das Panel das in der Regel mit einem Rahmen versehene Einzelbild in einer Sequenz aus mehreren Bildern meint, bezeichnet das Gutter den Zwischenraum zwischen zwei Panels, in dem trotzdem allerhand Informationen stecken und Nicht-Gezeigtes sich ereignen kann – ein (besonders u.s.-amerikanischen) LeserInnen seit Ende des 19. Jahrhunderts (durch die Zugabe von Comic Strips zu Tageszeitungen, was deren Auflage teilweise beträchtlich steigerte) vertrautes graphisches Schema; diese LeserInnen bekannte Rasterung bricht Mathieus Die Verschiebung radikal und konsequent auseinander. Scott McCloud wiederum stellt in Understandig Comics. The Invisible Art genau jene Strukturen und Rasterungen von Comics auf einzigartige Weise vor und aus: Das Anfang der 1990-er Jahre erschienene Sachbuch über Comics, das wiederum selbst ein Comic ist, also etwa Begriffe wie Panel und Gutter nicht nur ausführt, sondern zugleich performiert bzw. prozessiert, wurde von McCloud sowohl illustriert als auch textuell gestaltet und führt LeserInnen, die bisher wenig oder gar keinen Umgang mit dem hybriden Medium hatten, durch die Linien und Flächen der Comicseite. Bis auf den kurzen Abschnitt A Word About Color in schwarz-weiß gehalten, informiert der zugleich unterhaltsame Comic über die Anfänge seiner selbst, welche Konsequenzen etwa Panelgröße, Bildgestaltung und Strichführung für das mit und durch sie Dargestellte bereit halten oder auch, auf welch diverse Art und Weise das Vergehen – ob rasend oder schleichend – von Zeit ins Bild gesetzt werden kann.

6 Auf dem Sprung

das Ende ihrer Reise markieren und andererseits den (eigentlichen) Beginn der Erzählung zu sehen geben, an dem Acquefacques ein riesiges Lager gefüllt mit lädierten, aber reparablen Betten betritt, wobei der Rahmen der Eingangstür des Bettenlagers und die Strichlinie des Panels des ersten Kapitels, das mit Zum Bruch überschrieben ist, interferieren. Die Rückseite von Blatt 27 und die Vorderseite von Blatt 28 bilden zusammen ein doppelseitiges (nicht mit Seitenzahlen versehenes) Interior-Splash; dieses Splash-Panel gleicht dem Twist des Möbiusbandes insofern, als es zugleich Anfang und Ende, sowohl innen als auch außen ist, sodass man erneut lesen kann und dann wieder und dann noch einmal… Der Opening-Splash, der bereits Teil der erzählten Geschichte ist, und eine der letzten Seiten, die eine Rückkehr ins (organisierte) Bild setzt, fallen in eins, sodass sich der Comic in sich selbst einfaltet und insofern labyrinthisch wird, wobei auch die Figuren das Gefühl haben, sich ursprungs- und ziellos im Kreis zu drehen – sie sind immer schon, das exponiert der fliegende Einstieg, den man, da er sich an der Stelle befindet, an der eigentlich das Cover platziert werden würde, nicht übersehen kann, auf dem Sprung, immer schon (Teil einer) Bewegung, die einerseits das Erzählen nicht zur Ruhe kommen und andererseits die Erzählung kein Ende finden lässt. Architekturen des Unheimlichen sind, das hat diese Studie anhand ausgesuchter Beispiele diagnostiziert, ur-sprünglich, d.h. – man denke an die Verwendung des Wortes Ursprung in Heideggers Ursprung des Kunstwerks und Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels – sie sind immer schon auf dem Sprung zur Vera(e)nderung, immer schon in Bewegung und verunmöglichen so das (in allen Facetten des Begriffs) Feststellen von Anfang und Ende, von Beginn und Schluss; sie prozessieren permanent und sich dabei selbst sabotierend Disposition und entziehen sich einerseits jeglicher präsenzmetaphysischer Vorstellungslogik und (damit) andererseits jeder Vollständigkeit beanspruchenden Explikation. Nicht einholbare, sich selbst fremd gewordene und dabei in sich gefaltete Pfade artikulieren die Fasson unheimlicher Architektur, insofern diese architekturaler Transformation3 verpflichtet ist und sich so gewissermaßen selbst abreißt, was zugleich die Darstellung selbst betrifft. Zugunsten von Bodenlosigkeit(en) prozessieren unheimliche Architekturen einen nie zur Ruhe kommenden Ab-Riss und (Wieder-)Aufbau und Abriss und (Wieder-)Aufbau … ihrer selbst – wie auch ihrer Darstellung, die stets zwischen Gelingen und Nicht-Gelingen, zwischen Anschlag und Fehlschlag, zwischen Form und Inhalt selbst oszilliert. Strategie des hier analysierten Romans ist ein Hervorbeischreiben einer (in sich) wandernden Architektur – sowie die analysierten Filme ein komplementäres Hervorbeizeigen verrichten; Texte und Filme, deren Gegenstand unheimliche Architekturen sind, können nicht umhin, ihren Gegenstand hervorbeizutreiben. Was zu sehen, zu lesen und zu hören ist, konstelliert sich als unheimliches Flimmern.

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Man findet unheimliche Architekturen zuweilen auch dort, wo man nicht mit ihnen gerechnet hätte, wobei anderswo aufzutauchen auch zum Programm eben dieser gehört: Plan des Spiels Das verrückte Labyrinth ist es, genau jenes immer wieder zu verschieben und damit neu anzuordnen; SpielerInnen legen das mit Spielfiguren zu durchlaufende Labyrinth immer wieder mit diversen Kartenbausteinen neu zusammen und erschließen somit neue Wege, bilden Sackgassen und finden sich an anderen Stellen des Labyrinths als noch einen Spielzug zuvor wieder.

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Architekturen des Unheimlichen

Unheimliche Architekturen sind Architekt(e)ur(inn)en des (Ab-)Risses wie des (Ein-, Auf- und Durch)Reißens und -reisens – sie stürzen zusammen, reißen sich selbst ein, brechen ab, unterbrechen sich selbst, um sich neu aneinander zu fügen, wobei sie Leerräume generieren, die ihre Versetz- und Verletzbarkeit garantieren und für anhaltende Instabilität und nicht festzumachende Bewegung sorgen. Am nicht (mehr) auszumachenden Anfang wird die Bewegung gewesen sein: Bei aller Gleichzeitigkeit der metaphorischen und metonymischen Bewegungen der in Differenz zu sich selbst (und anderen Elementen des Systems) stehenden Signifikanten geht die Metonymie der Metapher voraus, ist sie doch als Bewegung des Signifikanten als solche, ohne die ein Niederschlag von Bedeutung (also Signifikaten) nicht möglich ist, zu denken (vgl. Weber 2000: 81); einerseits ist die Metonymie Bewegungseffekt des Signifikanten, andererseits (und zugleich) Bedingung der Möglichkeit jener Effekte zeitigenden Bewegung. Immer schon in Bewegung gewesen zu sein ist nicht nur wesentliche Eigenschaft der signifikanten Kette, sondern trägt sich auch unheimlichen Architekturen insofern ein, als sie nie vollkommen (metaphorisch) stillgestanden haben, sondern (metonymisch) immer auf dem Weg zur Umwandlung gewesen sein werden – wie jeder Beschreibungsversuch nur vorläufig sein kann. Sie sind unabgeschlossen – einerseits nicht versperrt im Sinne von (medial) zugänglich, da auf je spezifische Weise sicht- und/oder lesbar, andererseits, wie die Bewegungen des Signifikanten, »notwendigerweise unabgeschlossen« (ebd.: 55), auf dem Sprung bzw. den Sprüngen, die sie bewegt haben werden. Architekturen des Unheimlichen – also Architekturen, die einerseits die Signatur des Unheimlichen tragen, also schauerlich, Angst erregend und stellenweise gespenstisch sind und andererseits bzw. zugleich Architekturen, die das Unheimliche in und mit seiner, als auch durch seine Bewegung, Bewegtheit und Beweglichkeit errichtet haben wird, wobei sich beide immer schon möbiusbandartig ineinander verschleift haben werden – »aktivieren unsere What-the-Fuck-Synapsen« (Wachowski 2021: 00:22:53-00:22:55).

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Architekturen des Unheimlichen

The Harold Greenberg Fund/The Movie Network/Téléfilm Canada/Union Générale Cinématographique. Cure, The (2004): Labyrinth (Song). The Cure: Geffen Records. Daves, Delmer (1947): Dark Passage, USA: Warner Bros. Eisenstein, Sergej (1925): Streik, UdSSR: Kinostudiya MosFilm. Fincher, David (1997): The Game, USA: Propaganda Films. Findlay, Michael&Roberta/Fredriksson, Horacio (1976): Snuff, Argentien/USA: Produced by Jack Bravman&Allan Shackleton. Franz, Veronika/Fiala, Severin (2014): Ich seh Ich seh, Österreich. Ulrich Seidl Filmproduktion. Frusciante, John (2004): Every Person (Song). Shadows Collide With People (CD): Produced by John Frusciante. Gaztelu-Urrutia, Galder (2019): El Hoyo, Spanien: Basque Films/Mr. Miyagi Films/ Plataforma La Película/A.I.E. Glaser, Paul Michael (1987): The Running Man, USA: Braveworld Productions/Taft Entertainment. Grune, Karl (1923): Die Straße, Deutschland: Stern Film. Hadmar, Hervé/Herpoux, Marc (2015): Au-delà Des Murs, Miniserie, Frankreich/Belgien: Lincoln TV/Arte France. Haneke, Michael (1992): Bennys Video, Österreich/Schweiz: Filmfonds Wien. Harron, Mary (2000): American Psychoa, USA/Kanada: Edward R. Pressman Productions/Muse Productions. Hathaway, Henry (1946): The Dark Corner, USA: 20th Century Fox. Hausner, Jessica (2004): Hotel, Österreich. coop99/Essential Filmproduktion. Henson, Jim (1969): The Cube (Folge der Anthologieserie NBC Experiment in Television), USA: Produced by Jim Henson. Higuchi, Akihiro (2000): Uzumaki. Japan: Studio Omega Micott. Hitchcock, Alfred (1960): Psycho, USA: Shamley Productions. Hitchcock, Alfred (1963): The Birds, USA: Alfred J. Hitchcock Productions. Jarman, Derek (1976): Blue, USA: Basilisk Communications Ltd. Johnson, Lamont (1961): Five Characters in Search of an Exit (Folge der Anthologieserie The Twilight Zone), USA: Cayuga Productions, Inc./CBS Productions. Kren, Marvin (2020): Freud (Fernsehserie ORF), Österreich/Deutschland/Tschechien: Satel Film/Bavaria Fiction. Kubrick, Stanley (1971): Clockwork Orange, USA/GB: Polaris Productions/Hawk Films. Kubrick, Stanley (1980): The Shining (DVD US-Fassung, 143min.), GB/USA: Elstree Studios Borehamwood (Hertfordshire). Lang, Fritz (1924): Die Nibelungen: Kriemhilds Rache, Deutschland: UFA. Lang, Fritz (1924): Die Nibelungen: Siegfried, Deutschland: UFA. Lang, Fritz (1927): Metropolis, Deutschland: UFA. Lang, Fritz (1931): M, Deutschland: Nero-Film A.G. Lang Fritz (1944): The Woman in the Window, USA: International Pictures. Lang, Fritz (1945): Scarlet Street, USA: Walter Wanger Productions/Fritz Lang Productions/Diana Production Company.

Film- und Medienverzeichnis

Lang, Fritz (1947): Secret Beyond the Door, USA: Walter Wanger Productions/Diana Production Company. Lang, Fritz (1950): House by the River, USA: Fidelity Pictures Corporation. Leist, Claudia Johanna (2009): Fäden. Ebene 2 Hörspiel Das Haus Ein Hörspiel auf drei Ebenen nach dem Roman von Mark Z. Danielewski (DVD), Deutschland. WDR/Der Audio-Verlag. Lisberger, Steven (1982): Tron, USA: Walt Disney Productions/Lisberger-Kushner Productions. Lynch, David (2001): Mullholland Drive, USA/Frankreich: Universal Pictures/BAC Films. Lynch, David (2005): Lost Highway, USA: Asymmetrical Productions, CiBy 2000/Lost Highway Productions LLC/October Films. Maas, Dick (1988): Amsterdamned, Niederlande: First Floor Features. Mann, Michael (1995): Heat, USA: Regency Enterprises/Forward Pass. Mann, Michael (2004): Collateral, USA: Parkes&MacDonald Productions/Edge City. Marka, Sebastian (2020): Exit, Deutschland: ARD. May, Joe (1914): Der Mann im Keller, Deutschland: Continental-Kunstfilm. May, Joe (1929): Asphalt, Deutschland: UFA. Murnau, Friedrich Wilhelm (1924): Der letzte Mann, Deutschland: UFA. Myrick, Daniel/Sánchez, Eduardo (1999): The Blair Witch Project, USA: Haxan Films. Nakata, Hideo (1998): Ringu, Japan: Ringu/Rasen Production Committee. Natali, Vincenzo (1996): Elevated. Kanada: Produced by Steve Hoban&Vanessa C. Laufer. Natali, Vincenzo (2004): Cube, Kanada: Cube Libre/Feature Film Project/Telefilm Canada. Nolan, Christopher (2010): Inception, USA: Warner Bros. Pictures/Legendary Pictures/ Syncopy. Oshii, Mamoru (2007): Ghost in the Shell 2 Innocence, Japan. Production I.G. Ostermann, Rick (2021): Das Haus, Deutschland: Wüste Medien GmbH in Koproduktion mit NDR/rbb/arte. Peele, Jordan (2019): Us, USA: Monkeypaw Productions/Perfect World Pictures. Phillips, Lucy (2013): Abducted, USA: Hidden Agenda. Powell, Frank (1915): A Fool There Was, USA: Fox Film Corporation. Powell, Michael (1960): Peeping Tom, UK: Michael Powell (Theatre). Proyas, Alex (2008): Dark City (Director’s Cut), USA/Australien: New Line Cinema/ Mystery Clock Cinema. Proyas, Alex (2021): Mask of Evil Apparition, USA/Australien. Reed, Carol (1949): The Third Man, UK/USA: London Films. Robitel, Adam (2019): Escape Room, USA: Columbia Pictures/Original Film. Roeg, Nicolas (1973): Don’t Look Now, UK/Italien: Casey Productions/Eldorado Films. Rusnak, Josef (1999): The Thirteenth Floor, USA: Columbia Pictures/Centropolis Entertainment. Schlüter, Jörg (2009): Labyrinthe. Ebene 1 Hörspiel Das Haus Ein Hörspiel auf drei Ebenen nach dem Roman von Mark Z. Danielewski (DVD), Deutschland, WDR/Der Audio-Verlag. Schneider, Alan (1965): Film, USA: Evergreen Theatre.

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Architekturen des Unheimlichen

Schumacher, Joel (1999): 8mm, USA/Deutschland: Columbia Pictures/Global Entertainment Productions. Schumacher, Joel (2007): The Number 23, USA: Contrafilm/Firm Films. Scorsese, Martin (2010): Shutter Island, USA: Phoenix Pictures/Sikelia Productions/ Appian Way Productions. Scott, Ridley (1982): Blade Runner, USA: The Ladd Company/Shaw Brothers/Blade Runner Partnership. Siodmak, Robert (1946): The Dark Mirror, USA: International Pictures/Nunnally Johnson Productions. Sonnenshine, Rebecca (2022): Archive 81, Serie, USA: Atomic Monster Productions/ Sonnenshine Productions. Sorrentino, Paolo (2020): The New Pope, Serie, Italien/Frankreich/Spanien: The Apartment Wildside/Haut et Court TV/Mediapro/Sky Studios. Spierig, Peter&Michael (2018): Winchester: The House That Ghosts Built, USA: Bullitt Entertainment/Diamond Pictures/Imagination Design Works. Tarantino, Quentin (1992): Reservoir Dogs, USA: Live America Inc./Dog Eat Dog Productions. Tarantino, Quentin (1994): Pulp Fiction, USA: A Band Apart/Jersey Films. Tati, Jacques (1958): Mon Uncle, Frankreich/Italien: Produced by Jacques Tati. Tavernier, Bertrand (1980): La Mort en direct, Frankreich/Deutschland: SELTA Films. Tetzlaff, Ted (1949): The Window, USA: RKO Radio Pictures. Trier, Lars von (2018): The House That Jack Built, Dänemark/Schweden/Frankreich/ Deutschland: Zentropa/Film i Väst/Eurimages/Nordisk Film/Les films du losange. Trikonis, Gus (1978): The Evil, USA: Rangoon Productions. Tsukamoto, Shin’ya (2005): Haze, Japan: Kaijyu Theatre. Verhoeven, Paul (1990): Totall Recall, USA: Carolco Pictures. Vertov, Dziga (1929): Der Mann mit der Kamera, UdSSR: VUFKU (Vse-Ukrains’ke Foto Kino Upravlinnia). Wachowski, Lana (2021): Matrix Resurrections, USA: Warner Bros. Pictures/Village Roadshow Pictures/Venus Castina Productions/The Wachowskis Productions Wachowski, Lana&Lilly (1999): The Matrix, USA/Australien: Warner Bros./Village Roadshow Pictures/Groucho II Film Partnership/Silver Pictures. Walsh, Raoul (1940): They Drive By Night, USA: Warner Bros. Watterson, Bill (2017): Dave made a maze, USA: Butter Stories/Dave Made An LLC/Foton Pictures. Wegener, Paul (1913): Der Student von Prag, Deutschland: Deutsche Bioscop. Welles, Orson (1947): The Lady from Shanghai, USA: Mercury Productions. Welles, Orson (1962): Der Prozess, Frankreich/Italien/Deutschland: Produced by Alexander&Michail Salkind. Wiene, Robert (1920): Genuine, Deutschland: Decla-Bioscop AG. Wiene, Robert (1929): Das Cabinet des Dr. Caligari, Deutschland: Continental-Kunstfilm. Wise, Robert (1963): The Haunting, UK: MGM-British Studios. Zingman, Alon (2015): Shtisel, Serie (Staffel 2), Israel: yes Ltd.

Film- und Medienverzeichnis

Zylka, Martin (2009): Dunkelkammer. Ebene 3 Hörspiel Das Haus Ein Hörspiel auf drei Ebenen nach dem Roman von Mark Z. Danielewski (DVD), Deutschland. WDR/Der Audio-Verlag.

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Zusammenfassung Architekturen des Unheimlichen – Kinetische Labyrinthe des Horrors in Film und Literatur

Angeregt durch ein spezifisches Interesse an psychoanalytischen Modellen, nähert sich die vorliegende Studie über den Begriff des Unheimlichen einer Denkfigur von Architektur, die sich mit einer (Art von) Unheimlichkeit gemeinsam denken lässt und dadurch Spannungen verursacht, die neue Sichtweisen sowohl auf die Begriffssystematik des Architekturalen als auch auf den Diskurs von Unheimlichkeit bereithalten. Eingangs wird sogleich die (De)Strukturierung unheimlicher Architekt(e)ur(inn)en, um die es der vorliegenden Arbeit zu tun ist, konturiert, um in Anschluss die spezifische architekturale Verfasstheit von als unheimlich ausgemachten Architekturen anhand ausgesuchter Film- und Textbeispiele zu analysieren: Ausgehend von der Systematisierung des Unheimlichkeitssignifikanten, wie ihn die Psychoanalyse vorschlägt und durchmacht, wird mit dieser über diese hinausgegangen, insofern einerseits eine dem Unheimlichen immer schon inhärente Architekturalizität diagnostiziert und andererseits anhand der dem Unheimlichkeitsbegriff eigenen Bewegtheit eine Kinetik des (unheimlich) Architekturalen eruiert wird. Dabei wird wiederholt nach den je (medien)spezifischen Darstellungsmodi und ihren Effekten auf das Dargestellte gefragt, wobei mit einer Art psychoanalytischem Begriffskatalog umgegangen wird, der die spezifischen Modalitäten signifiziert. Das erste Kapitel widmet sich, um sich dem Komplex unheimlicher Architekturen zu nähern, über die Idee eines städtischen und dabei labyrinthischen Bewegungsraumes dem Komplex der Straßen- und Architekturfilme, um über diese den Blick auf Dark City (1998) von Alex Proyas freizugeben, einem Film, der eine sich buchstäblich architekturaler Transformation verpflichtete Stadt ins Bild rückt: Die titelgebende dunkle Stadt modifiziert jede Nacht ihre Gestalt – Häuser, Straßen, Brücken, Höfe und Schienen werden je anders von unheimlichen Aliens und ihrem menschlichen Helfer, Dr. Schreber, arrangiert – und avanciert zur Hyperbel eines städtischen Labyrinths, wie es noch bei Walther Benjamin gedacht wird. Mehr noch wird herauspräpariert, inwiefern unheimliche Architekturen mit dem psychoanalytischen Begriff der Vorstellungsrepräsentanz zusammenzudenken sind und welche Implikationen diese Signifikantenkopplung in Hinsicht auf Darstellbarkeit (auch für die folgenden Ausführungen) bereithält.

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Architekturen des Unheimlichen

Nachstehend führt der Über-Gang, der einen flüchtigen Blick auf drei einem Schleifenprinzip Folge leistenden Filme (Uzumaki von Higuchinsky, David Lynchs Lost Highway sowie mother! von Aronofsky), wirft, an die Struktur des Möbiusbandes heran, die in den darauf folgenden Sektionen prominent wird. Die Produktionen Cube (1997) und Hypercube (2002) sind Gegenstand des dritten und vierten Abschnitts der vorliegenden Arbeit zu Architekturen des Unheimlichen – Labyrinthe auf Tour und stellen je verschieden aktive (De)Konstrukte des unheimlich Architekturalen vor: Zwar setzen beide Filme eine kinetische Architektur in Form einer gigantischen Würfelkonstruktion in Szene, doch setzen sie dabei auf je unterschiedliche medienspezifische Verfahren: Cube von Vincenzo Natali ist es um einen kargen, düsteren, dabei kerkerartigen architekturalen Raum zu tun, der klassische Labyrinthe insofern übersteigt, als sich das Filmensemble nicht länger nur im Raum bewegt wird, sondern Raum selbst – und somit auch ein potenzieller Ausgang – einer unbestimmbaren Permutationsbewegung verschrieben ist und sich entsprechend immer wieder verstellt, wobei der Film selbst eine gewisse Ver-Stellung gewahrt, insofern er der (Un)Logik des Möbiusbandes gehorcht, also in sich gewunden ist und sein Ende zum Anfang hin auffaltet; zugleich wird diese kinetisch-labyrinthische Architektur als eine des unheimlichen Blicks konturiert, die zugleich über den Wirkmechanismus filmischer Betrachtung informiert. Hypercube von Andrzej Sekuła hingegen ist ein stechend heller Film, der jedoch mehr verbirgt als er tatsächlich zeigen kann und dabei exzessiv mit der Figur des/der DoppelgängerIn operiert; die Nachfolgeproduktion, die einen vierdimensionalen, sich windend bewegten Raum aufspannt, verhandelt sich als Darstellungsproblem aufgefalteten Raumes unter Einsatz von Körpervervielfältigungen, die ebenfalls etwas über das (unheimliche) Medium Film selbst zu berichten haben. Das letzte Kapitel zu Mark Z. Danielewskis House of Leaves (2000) bespricht den hier einzig zur Diskussion stehenden literarischen Text sowie ein auf Grundlage dieses Textes produziertes Hörspiel (Das Haus aus dem Jahr 2009), in deren ›Zentren‹ eine unheimliche Architektur sich immer wieder entzieht und in diesem Entzug eine Fülle an Verweisen auffährt: Danielewskis Erstlingsroman erzählt von einem Haus, in dessen Inneren sich ereignishaft labyrinthisch verschachtelte Wege immer wieder neu arrangieren, wobei sich Räume, Treppen und Türen auftun als auch jederzeit verschwinden können, sodass jenes Haus als Entwurf dekonstruktiver Architektur (ein Begriff, der von Jacques Derrida entliehen wird), die einer unheimlichen Verräumlichung Folge leistet, lesbar wird; dabei arbeitet der Text an jener Verräumlichung insofern mit, als er einerseits selbst architextural verfährt und andererseits LeserInnen Verräumlichung mit und durch das Lesen und dafür not-wendige Operationen verrichten müssen. Abschließend wird der Verschiebung in Die Verschiebung (2013) von Marc-Antoine Mathieu Raum eingeräumt, insofern ein Comic, der durch seine spezifische Verfasstheit dem (Schrift)Raum und dem Räumlichen verpflichtet ist, vorstellig und dabei einmal mehr die Struktur des Möbiusbands prozessiert wird und sich dieser Abschnitt als eine Art mise en abyme (mit allen Konsequenzen) der vorliegenden Studie geriert.