Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt 9783837626841, 9783839426845

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Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt
 9783837626841, 9783839426845

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Imaginationsraum Dorf
DÖRFLICHE LEBENSWELTEN I: ASPEKTE DER FORSCHUNG UND GESTALTUNG
Das Dorf (er-)finden. Wissensfabrikation zwischen Geschichte und Gedächtnis
Fragile Räume, fragile Körper. Überlegungen zur Erforschung ländlicher Gesellschaften
Facetten des Ländlichen aus einer kulturgeographischen Perspektive. Die Beispiele Raumplanung und Landmagazine
Dorf und Stadt als idealtypische Konturen und Lebensräume in Ost und West
(R)urbane Landschaften. Räume zwischen Stadt und Land entwerfen
Neu-Wilhelmsdorf, Wertheim Village und der Wiederaufbau der Frankfurter Altstadt. Der Einfluss dörflicher Strukturen auf die Architektur der Gegenwart
Die Stadt als Dorf. Über die Generalisierung von Nahräumen und ihre Grenzen
DÖRFLICHE LEBENSWELTEN II: PERSPEKTIVEN DEUTSCHSPRACHIGER LITERATUR
Von romantischen Landschaften, sozialistischen Dörfern und neuen Dorfromanen. Zur Inszenierung des Dörflichen in der deutschsprachigen Literatur zwischen Vormoderne und Spätmoderne
»Ueberbleibsel der ältern Verfassung« Zur primitivistischen Imagination des Dorfes im 19. Jahrhundert
Heidegger light: Granit der Heimat, Vorschein der Dinge im Dorf. Zu einem Phantasma in der Heimat-Literatur der 1930er und 1940er Jahre
Eskapismus ins Außerirdische: Das Dorf als post-utopischer Raum in Arno Schmidts KAFF auch Mare Crisium und Jan Brandts Gegen die Welt. Auktoriale Selbstinszenierung im Zeichen des Dörflichen
»Es war alles anders, als ich dachte, ganz wie zu Hause« Die Versehrtheit der dörflichen Lebenswelt in der Gegenwartsliteratur am Beispiel der Werke Arnold Stadlers
»Immer schneller die Zeit« Der Verlust dörflicher Strukturen und die veränderte Zeitwahrnehmung in Peter Kurzecks Vorabend
Das Jahrhundertdorf. Moritz Rinkes Roman Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel als raumzeitliche Verdichtung deutscher Geschichte im Dorf Worpswede
Die zerstörte Dorfidylle an der österreichisch-slowenischen Grenze: Maja Haderlaps Engel des Vergessens
DÖRFLICHE LEBENSWELTEN III: PERSPEKTIVEN INTERNATIONALER LITERATUREN UND FILME
»Im Hinterland« Das Dorf im Roman des neuen amerikanischen Realismus
Marketingidylle. Michel Houellebecqs Roman La carte et le territoire, oder: Liegt die Zukunft auf dem Lande?
Parodie und Dekonstruktion des Bergdörflichen. Vea Kaisers Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam und Ursula Meiers L’enfant d’en haut
Fernsehserien, Ethnoromane, Ethnodörfer. Suche nach neuen Sinnhorizonten oder konservative Emanzipation? Das Beispiel Serbien
Das Dorf als Anti-Idylle. Polnische literarische und filmische Narrative des Verdrängten
Dorf – dörflicher – Heimat? Zum Politischen in der ungarischen Gegenwartsliteratur und -kultur
Ontologie des Nicht-Mehr. Rurale Räume bei Béla Tarr und László Krasznahorkai, oder: Der Mensch in der Landschaft danach?
Rentner, Roma, Resignierte. Slowakische Dörfer im Film
Imaginationen des Hinterlands. Filmische Inszenierungen ruraler Lebenswelten im zeitgenössischen brasilianischen Kino
Die Wahrheit des Dorfes. Zu Michael Hanekes Das weiße Band
Autorinnen und Autoren
Abbildungen

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Werner Nell, Marc Weiland (Hg.) Imaginäre Dörfer

Rurale Topografien | Band 1

Editorial Rurale Topografien erleben nicht nur gegenwärtig in den medialen, literarischen und künstlerischen Bilderwelten eine neue Konjunktur – sie sind schon seit jeher in verschiedensten Funktionen ganz grundsätzlich am Konstituierungsprozess sowohl kultureller als auch individueller Selbst- und Fremdbilder beteiligt. Imaginäre ländliche und dörfliche Lebenswelten beeinflussen die personale und kollektive Orientierung und Positionierung in bestimmten Räumen und zu bestimmten Räumen. Dabei entwerfen sie Modelle, mit denen individuelle und gesamtgesellschaftliche Frage- und Problemstellungen durchgespielt, reflektiert und analysiert werden können. Auch in ihren literarischen Verdichtungsformen und historischen Entwicklungslinien können sie als narrative und diskursive Reaktions-, Gestaltungs- und Experimentierfelder verstanden werden, die auf zentrale zeitgenössische Transformationsprozesse der Koordinaten Raum, Zeit, Mensch, Natur und Technik antworten. Damit wird auch die Frage berührt, wie eine Gesellschaft ist, war, sein kann und (nicht) sein soll. Die Reihe »Rurale Topografien« fragt aus verschiedenen disziplinären Perspektiven nach dem Ineinandergreifen von künstlerischer Imagination bzw. Sinnorientierung und konkreter regionaler und überregionaler Raumordnung und -planung, aber auch nach Möglichkeiten der Erfahrung und Gestaltung. Indem sie die Verflechtungen kultureller Imaginations- und Sozialräume fokussiert, leistet sie einen Beitrag zur Analyse der lebensweltlichen Funktionen literarisch-künstlerischer Gestaltungsformen. Ziel der Reihe ist die interdisziplinäre und global-vergleichende Bestandsaufnahme, Ausdifferenzierung und Analyse zeitgenössischer und historischer Raumbilder, Denkformen und Lebenspraktiken, die mit den verschiedenen symbolischen Repräsentationsformen imaginärer und auch erfahrener Ländlichkeit verbunden sind. Die Reihe wird herausgegeben von Werner Nell und Marc Weiland. Wissenschaftlicher Beirat: Friederike Eigler (Washington, D.C.), Dietlind Hüchtker (Leipzig), Jens Jetzkowitz (Halle), Sigrun Langner (Weimar), Ernst Langthaler (St. Pölten/Wien), Susanne Marschall (Tübingen), Magdalena Marszałek (Potsdam), Barbara Piatti (Basel), Marc Redepenning (Bamberg), Bernhard Spies (Mainz), Marcus Twellmann (Konstanz)

Werner Nell, Marc Weiland (Hg.)

Imaginäre Dörfer Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Instituts für sozialpädagogische Forschung Mainz (ism e.V.)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Simone Henninger, Halle/Saale unter Verwendung einer Fotografie von irgendlink.de Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2684-1 PDF-ISBN 978-3-8394-2684-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 11 Imaginationsraum Dorf

Werner Nell & Marc Weiland | 13

DÖRFLICHE LEBENSWELTEN I: ASPEKTE DER FORSCHUNG UND GESTALTUNG Das Dorf (er-)finden. Wissensfabrikation zwischen Geschichte und Gedächtnis Ernst Langthaler | 53 Fragile Räume, fragile Körper. Überlegungen zur Erforschung ländlicher Gesellschaften Dietlind Hüchtker | 81 Facetten des Ländlichen aus einer kulturgeographischen Perspektive. Die Beispiele Raumplanung und Landmagazine Christoph Baumann | 89 Dorf und Stadt als idealtypische Konturen und Lebensräume in Ost und West Detlef Baum | 111 (R)urbane Landschaften. Räume zwischen Stadt und Land entwerfen Sigrun Langner | 137 Neu-Wilhelmsdorf, Wertheim Village und der Wiederaufbau der Frankfurter Altstadt. Der Einfluss dörflicher Strukturen auf die Architektur der Gegenwart Martin Bredenbeck | 157 Die Stadt als Dorf. Über die Generalisierung von Nahräumen und ihre Grenzen Werner Nell | 175

DÖRFLICHE LEBENSWELTEN II: P ERSPEKTIVEN DEUTSCHSPRACHIGER LITERATUR Von romantischen Landschaften, sozialistischen Dörfern und neuen Dorfromanen. Zur Inszenierung des Dörflichen in der deutschsprachigen Literatur zwischen Vormoderne und Spätmoderne Carsten Gansel | 197 »Ueberbleibsel der ältern Verfassung« Zur primitivistischen Imagination des Dorfes im 19. Jahrhundert Marcus Twellmann | 225 Heidegger light: Granit der Heimat, Vorschein der Dinge im Dorf. Zu einem Phantasma in der Heimat-Literatur der 1930er und 1940er Jahre Norman Kasper | 247 Eskapismus ins Außerirdische: Das Dorf als post-utopischer Raum in Arno Schmidts KAFF auch Mare Crisium und Jan Brandts Gegen die Welt. Auktoriale Selbstinszenierung im Zeichen des Dörflichen Jeanine Tuschling | 267 »Es war alles anders, als ich dachte, ganz wie zu Hause« Die Versehrtheit der dörflichen Lebenswelt in der Gegenwartsliteratur am Beispiel der Werke Arnold Stadlers Anton Philipp Knittel | 285 »Immer schneller die Zeit« Der Verlust dörflicher Strukturen und die veränderte Zeitwahrnehmung in Peter Kurzecks Vorabend Christoph Seifener | 309 Das Jahrhundertdorf. Moritz Rinkes Roman Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel als raumzeitliche Verdichtung deutscher Geschichte im Dorf Worpswede Johanna Canaris | 323 Die zerstörte Dorfidylle an der österreichisch-slowenischen Grenze: Maja Haderlaps Engel des Vergessens Jožica Čeh Steger | 339

DÖRFLICHE LEBENSWELTEN III: P ERSPEKTIVEN INTERNATIONALER LITERATUREN UND FILME »Im Hinterland« Das Dorf im Roman des neuen amerikanischen Realismus Sascha Seiler | 359 Marketingidylle. Michel Houellebecqs Roman La carte et le territoire, oder: Liegt die Zukunft auf dem Lande? Simone Sauer-Kretschmer | 373 Parodie und Dekonstruktion des Bergdörflichen. Vea Kaisers Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam und Ursula Meiers L’enfant d’en haut Martina Kopf | 387 Fernsehserien, Ethnoromane, Ethnodörfer. Suche nach neuen Sinnhorizonten oder konservative Emanzipation? Das Beispiel Serbien Angela Richter | 407 Das Dorf als Anti-Idylle. Polnische literarische und filmische Narrative des Verdrängten Magdalena Marszałek | 425 Dorf – dörflicher – Heimat? Zum Politischen in der ungarischen Gegenwartsliteratur und -kultur Stephan Krause | 439 Ontologie des Nicht-Mehr. Rurale Räume bei Béla Tarr und László Krasznahorkai, oder: Der Mensch in der Landschaft danach? Marc Weiland | 463 Rentner, Roma, Resignierte. Slowakische Dörfer im Film Meike van Hoorn | 481 Imaginationen des Hinterlands. Filmische Inszenierungen ruraler Lebenswelten im zeitgenössischen brasilianischen Kino Peter Grüttner | 501

Die Wahrheit des Dorfes. Zu Michael Hanekes Das weiße Band Ansgar Mohnkern | 517 Autorinnen und Autoren | 535 Abbildungen | 541

Vorwort

Ist das Dorf eine Lebens- und Sozialform, die Zukunft hat? Während die Welt des Dorfes durch globale und regionale Strukturveränderungen zu verschwinden droht, lebt sie gegenwärtig in Literatur, Film und Populärkultur wieder auf. Etwas zugespitzt ließe sich formulieren: ›Das Dorf‹ boomt und die Dörfer sterben. Die hier versammelten Beiträge ergründen explorativ die gegenwärtige(n) Situation(en) der Dörfer im globalen Kontext und in ihren historischen Entwicklungslinien aus verschiedenen disziplinären Perspektiven und mit verschiedenen Methoden. Eine der leitenden Fragen – und gewissermaßen der Rahmen aller Beiträge – ist die nach der Verschränkung imaginärer Räumlichkeit und lebensweltlicher Raumorientierung bzw. -ordnung. Insbesondere die medialen, literarischen, filmischen und wissenschaftlichen Bilderwelten des Dörflichen und Ländlichen sind es, die nicht nur Einblicke in dörfliche Lebenswelten und Sozialformen bieten, sondern ebenso auf deren immer auch standortgebundene Wahrnehmungsweisen und Funktionalisierungen verweisen. Dabei zielt der Sammelband darauf ab, die verschiedenen Aspekte eben jener Dorf-Bilder sowohl aus theoretischen als auch praktischen Perspektiven zu analysieren und Forschungsansätze disziplinenübergreifend miteinander ins Gespräch zu bringen. Er vereint dafür Beiträge u.a. aus den Bereichen Komparatistik, Germanistik, Slawistik, Romanistik, Filmwissenschaft, Soziologie, Sozialgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Kulturgeographie, Landschaftsarchitektur und Architekturgeschichte. Entstanden ist der vorliegende Sammelband im Rahmen eines an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg seit 2012 bestehenden Forschungsprojekts. Wir danken in diesem Zusammenhang Anke Tornow, Inna Margoulis, Corina Szarka, Magdalena Dick, Claudia Ulbrich, Simone Henninger, Dr. Katrin Schumacher und Margitta Drosdziok herzlich für ihre tatkräftige und freundliche Unterstützung. Der Fritz Thyssen Stiftung und dem Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz (ism e.V.) danken wir für großzügige finanzielle Förderung. Werner Nell & Marc Weiland

Imaginationsraum Dorf W ERNER N ELL & M ARC W EILAND

D ORFBILDER : T RADITION , I MAGINATION , L EBENSWELT Bezüge auf das Dörfliche finden wir allerorten wieder. Sei es in den Zeitschriftenregalen oder im Fernseh- bzw. Kinoprogramm, in der wochenendlichen Fahrt ins Grüne oder im Gang durch unser Stadtquartier, in der Alltagspraxis und Festivalkultur, und nicht zuletzt in den internationalen Literaturen und Literaturgeschichten. Sie erleben Zeiten, in denen sie boomen, und Zeiten, in denen sie nahezu verschwinden; freilich sind sie, so die in diesem Band weiter zu verfolgende Hypothese, nicht nur Spielmaterial unterschiedlicher diskursiver Praktiken oder künstlerischer Sprachspiele, auch nicht nur Instrumente unterschiedlicher Planungs- und Verwertungsvorhaben. Imaginäre Dörfer bilden ein Feld, auf dem sich Lebenserfahrungen formulieren und gestalten lassen, Wünsche, Belastungen und Ängste zum Vorschein gebracht werden und nicht zuletzt auch die uralte Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen eines ›guten Lebens‹ angesprochen und so zum Thema gesellschaftlicher Kommunikation und Aushandlung werden kann. Die öffentliche Rede fokussiert ›sterbende‹ und ›lebendige‹ Dörfer: Immer schon, vielleicht schon wieder oder immer noch stellt das Dorf mehr als nur eine Siedlungsform oder einen Aufenthaltsort für Menschen zu einer bestimmten Zeit und in einer besonderen Funktion dar. Offensichtlich werden Dörfer als etwas gesehen, das sich entwickeln kann, das der Pflege bedarf, allerdings eben auch vernachlässigt werden und schließlich sterben kann. Schutz und Sicherheit, Versorgung und Geselligkeit, Kooperation und Nothilfe bilden die Leistungen, die vom Dorf erwartet und gegebenenfalls auch in ihm erfahren werden. Zwang und Enge, Gruppendruck und Hierarchie, Unbeweglichkeit und Zurückgebliebenheit gehören freilich auch zu dieser Lebens-, Arbeits- und Organisationsform und verweisen auf deren grundlegende Ambivalenz, Ungesichertheit und immer wieder auch auf die dadurch geforderte Notwendigkeit der Neubestimmung, Neugestaltung und Neubesinnung.

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Entsprechend sind die Bilder des Dorfes ebenso wie die damit verbundenen Erfahrungen und Erwartungen mit Gefühlen und Vorstellungen hoch besetzt. Das Dorf wurde und wird daher immer wieder auch zum Thema und Gestaltungsmittel politischer Diskurse, künstlerischer Hervorbringungen, individueller und kollektiver Ansprüche und Obsessionen und nicht zuletzt ideologischer Manipulationen und ökonomischer Kalkulationen. Obwohl das Leben auf dem Dorf unter den Rahmenbedingungen der Moderne zunächst als Überbleibsel und Restgröße einer vergangenen Zeit erscheint, hat sich der Bezugsraum des Dörflichen als Bilderbereich, Projektionsfigur und Wunsch- bzw. Schreckensraum nicht nur erhalten, sondern feiert aktuell vielfach Wiederauferstehung. Trotz – oder vielleicht sogar: wegen – des aktuellen soziostrukturellen Aussterbens ruraler Landstriche und Siedlungsformen zieht sich deren imaginäre Wiederbelebung nicht nur im Rahmen der gegenwärtig wahrnehmbaren »Land-Euphorie« durch nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche: »Die Bildwelten bäuerlicher Lebensformen haben gerade dann Konjunktur, wenn durch massive Modernisierungsschübe die Frage nach Konzepten langer Dauer virulent wird.« (Neumann/Twellmann 2014: 32) Sicherlich spielen auch gegenwärtig Kulturkritik und Nostalgie angesichts wahrgenommener und realer Krisenphänomene ebenso eine Rolle wie Unterhaltungsbedürfnisse und regionale Entwicklungen. 1613, drei Jahre vor seinem Tod, nimmt Miguel de Cervantes Saavedra (15471616) in seinem pikaresken G ESPRÄCH ZWEIER H UNDE (C OLLOQUIO DE LOS PERROS) ein landläufiges Sprichwort auf: »Quien necio es en su villa, necio es en Castilla«, »Wer in seinem Dorf ein Narr, ist’s auch anderswo fürwahr.« (Cervantes 1963: 650) Schon hier wird der Raum des Dorfes als Raum der Erfahrung und des Weltwissens genutzt: Wer dort nicht lernt, klug zu sein, wird es auch sonst nirgendwo schaffen. Gute zweihundert Jahre später wird es zwischen Aufklärung und Romantik der deutsche Dichter Jean Paul (1763-1825) ebenso sehen und zudem neben der ihm vertrauten übersichtlichen und gefühlsdichten Erfahrungswelt des Dorfes insbesondere auch die Möglichkeit hervorheben, dort selbst zu einem Künstler und Dichter, einem Beobachter, Kenner und gar exemplarischen Vertreter der Menschheit zu werden: »Lasse sich doch kein Dichter in einer Hauptstadt gebären und erziehen, sondern womöglich in einem Dorfe« (Jean Paul 1975: 1051), heißt es in der 1818/19 niedergeschriebenen SELBERLEBENSBESCHREIBUNG. Dabei stellt für ihn das Dorf noch eine Schule der Welt (und des Lebens) ohne Ausgrenzung dar: »Aber im Dorfe liebt man das ganze Dorf und kein Säugling wird da begraben, ohne daß jeder dessen Namen und Krankheit und Trauer weiß; […] – und dieses herrliche Teilnehmen an jedem, der ein Mensch, welches daher sogar auf den Fremden und den Bettler überzieht, brütet eine verdichtete Menschenliebe aus und die rechte Schlagkraft des Herzens.« (Ebd.)

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Gerade also der Nahbereich des Dorfes kann hier an der Schnittstelle von aufklärerischem Universalismus und romantischer Individualität auch auf eine umfassende, ja kosmopolitische Liebe zur Welt einstellen: »Und dann, wenn der Dichter aus seinem Dorfe wandert, bringt er jedem, der ihm begegnet, ein Stückchen Herz mit und er muss weit reisen, eh er endlich damit auf den Straßen und Gassen das ganze Herz ausgegeben hat.« (Ebd.: 1051f.) Einer solchen Idealisierung kann freilich auch ein ganzes Panoptikum an deutlich kritischeren Perspektiven gegenübergestellt werden. Bereits Friedrich Hebbel wendet sich gegen die, so schreibt er 1859 in einem Brief, »absurde[] Bauernverhimmlung unserer Tage« (zit. nach Hein 1974: 109); literarisch gestaltet findet sich eine solche Perspektive schon in Annette von Droste-Hülshoffs »Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen«, so der Untertitel der Novelle DIE JUDENBUCHE (1842). Exemplarisch schildert sie die teils selbstverschuldeten elenden Lebensverhältnisse und das Erscheinungsbild im »Dorf B.«: »In diesen Umgebungen ward Friedrich Mergel geboren, in einem Hause, das durch die stolze Zugabe eines Rauchfangs und minder kleiner Glasscheiben die Ansprüche seines Erbauers sowie durch seine gegenwärtige Verkommenheit die kümmerlichen Umstände des jetzigen Besitzers bezeugte. Das frühere Geländer um Hof und Garten war einem vernachlässigten Zaune gewichen, das Dach schadhaft, fremdes Vieh weidete auf den Triften, fremdes Korn wuchs auf dem Acker zunächst am Hofe, und der Garten enthielt, außer ein paar holzichten Rosenstöcken aus besserer Zeit, mehr Unkraut als Kraut. Freilich hatten Unglücksfälle manches hiervon herbeigeführt; doch war auch viel Unordnung und böse Wirtschaft im Spiel.« (Droste-Hülshoff 1992: 5f.)

Vor diesem ebenso ambivalent wie allegorisch lesbaren Hintergrund stellt das Dorf bis in die Literaturen und Filme des 20. Jahrhunderts nicht nur eine Kulisse, sondern auch eine anthropologische und soziale Versuchsanordnung dar – quasi ein Vergrößerungsglas der zu ergründenden menschlichen ›Natur‹, ihrer Entwicklungschancen und Entwicklungsgrenzen. Ganz im Gegensatz zu Droste-Hülshofs Verelendungserscheinungen präsentiert Knut Hamsuns 1917 veröffentlichter und wenige Jahre später mit dem Nobelpreis prämierter Roman SEGEN DER ERDE das bäuerliche Leben in der Einsiedelei als blühend: »Hier wächst und gedeiht alles, Menschen und Tiere und die Früchte des Feldes. Isak sät. Die Abendsonne bescheint das Korn, er streut es im Bogen aus seiner Hand, und wie ein Goldregen sinkt es auf die Erde.« (Hamsun 1999: 341) Doch ist dieser paradiesische Zustand der Einheit von Mensch, Natur und Kosmos nicht etwa ein zunächst vorhandener oder gar göttlich geschaffener – der Mensch selbst ist es, der ihn erst durch harte und selbstlose Bearbeitung der natürlichen Verhältnisse erzeugt; und zwar in Opposition zu den vermeintlich entfremdeten und entfremdenden Strukturen der modernen Großstadt. Denn gerade die Abgeschiedenheit von der Stadt und dem dortigen modernen Leben in »unnatürlichen[n] Verhältnisse[n]« (ebd.: 323) ist es, die, so der Roman,

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einen »Zusammenhang und ein Ziel« (ebd.: 341) bietet – und dadurch die Möglichkeit, »ruhig […] zu schaffen und zu wirken und die große Welt zu vergessen« (ebd.: 139). Wodurch der Mensch schließlich befähigt wird, »seinen natürlichen Platz auf der Erde« (ebd.: 131) zu finden. Dieses Finden geht dann einher mit der (Wieder-) Entdeckung der eigenen Natur. Freilich kann diese Ent-Deckung der menschlichen Natur auf dem Lande bzw. im Dorf positive wie negative Ausmaße annehmen. In Agatha Christies Detektivgeschichten um Miss Marple lassen sich beispielhaft eben jene immer auch produzierten Gegenbilder und -entwüfe zu solch idealisierten Modellen des Landlebens finden. Auch sie zielen auf die Ergründung dessen ab, was es heißt, als Mensch unter Menschen zu leben. In der erstmals 1927 publizierten Kurzgeschichte THE TUESDAY NIGHT CLUB – dem allerersten literarischen Auftritt von Miss Marple überhaupt – äußert sich die Hobby-Ermittlerin über ihr Leben und ihre Erfahrungen im fiktiven Dorf St Mary Mead folgendermaßen: »I am afraid I am not clever myself, but living all these years in St Mary Mead does give one an insight into human nature.« (Christie 2008a: 307) Gerade dieses Wissen ist es dann, das die Aufklärung der verschiedensten Fälle befördert. Dabei stellen die Figuren in THE THUMB MARK OF ST PETER (1928) schließlich auch Folgendes fest: »›God forbid that I should ever regard village life as peaceful and uneventful,‹ said Raymond with fervour. ›[…] The cosmopolitan world seems a mild and peaceful place compared with St Mary Mead.‹ ›Well, my dear,‹ said Miss Marple, ›human nature is much the same everywhere, and, of course, one has opportunities of observing it at close quarters in a village.‹« (Christie 2008b: 354)

So ist es dann häufig eben jene vermeintlich heile – gemeinhin idyllisierte, idealisierte und ideologisierte – kleine Welt (eine Welt, die heute wieder auf dem Zeitschriftenmarkt gegenwärtig ist), über die nicht etwa die Zerstörung von außen hereinbricht, sondern aus deren Innersten sie unvermittelt hervorbricht. Es sind v.a. die engen Grenzen des Dorfes sowohl nach innen als auch nach außen, die es auch zu einem Ort der Depravation, der Ausschließung des Fremden und der Zerstörung von Lebenssinn machen (vgl. Spies 2009: 140f.). Robert Schneiders Bestseller SCHLAFES BRUDER (1992) schildert die Lebensgeschichte des in einem Bergdorf geborenen musikalischen Genies Johannes Elias Alder. Diese Lebensgeschichte ist allerdings nur erzählbar als »die traurige Aufzählung der Unterlassungen und Versäumnisse all derer, welche vielleicht das große Talent dieses Menschen erahnt haben, es aber aus Teilnahmslosigkeit, schlichter Dummheit oder […] aus purem Neid verkommen ließen.« (Schneider 2011: 13) Ist bei Jean Paul noch das Dorf ein Raum, der individuelles Leben ermöglicht und fördert, so wird es bei Schneider zu einem in sich geschlossenen Raum, der eben all dies verhindert:

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»Die Aufgabe, Leben und Bräuche der Lamparter und Alder in einem Buch niederzulegen, die Vermischung beider Geschlechter mit präziser Feder in hundert sich kreuzenden Strichen glücklich zu entwirren, die körperlichen Inzuchtschäden, den überdehnten Kopf, die geschwellte Unterlippe im tiefliegenden Kinn als gesundes Ursein zu verteidigen, diese Aufgabe mag sich ein Freund der Heimatgeschichte stellen […]. Trotzdem wäre es in allem vertane Zeit, die Geschichte der Eschberger Bauern zu beschreiben, das armselige Einerlei ihres Jahreslaufs, ihre bösen Händel, ihren absonderlich fanatischen Glauben, ihren nicht zu übertreffenden Starrsinn gegen die Neuerungen von draußen« (ebd.: 12f.).

Diese wie viele andere Texte stehen dabei weder am Anfang noch am Ende einer langen Reihe von Entwürfen, in denen das Dorf als ein Ort dient, an dem eine bestimmte Welterfahrung gemacht und von dem aus diese Erfahrung in andere Kontexte übertragen und dort angewandt werden kann. Denn auch die beiden Straßenhunde, Cipion und Berganza, die Cervantes in seiner »exemplarischen Novelle« zu Wort kommen lässt, sind in Wirklichkeit Städter, die ihr ländliches Erfahrungswissen auf die Stadt applizieren und sich dabei zugleich mit den idealtypischen Bildern des ländlichen Lebens auseinandersetzen. Eine solche Übertragung und (literarischkünstlerische) Auseinandersetzung kann – damals wie heute – aus dreierlei Gründen geschehen. Zum Ersten war und ist das Dorf als ein zentraler Lebens- und Gestaltungsraum der longue durée zu sehen. Während Fernand Braudel in seiner großen Studie zur Zivilisationsgeschichte der Mittelmeerwelt das »Reich der Städte« (Braudel 1990a: 402) als Grundform der mediterranen Zivilisationen hervorhebt,1 stellt die Siedlungsform des Dorfes wohl die älteste und global am weitesten verbreitete Form menschlichen Zusammenlebens dar (Pittioni 1976: 237ff.; Piggott 1983: 73ff.; Döbler 1971: 193-198). Braudel selbst hat seinen Weg als Historiker, sein Interesse am Raum als historischer Größe und seine Konzeption der longue durée in einer autobiographischen Skizze aus den Erfahrungen seines zeitweiligen Aufwachsens in seinem Geburtsdorf in der Champagne hergeleitet und damit zugleich konzeptionelle Ansätze angesprochen, die für die weitere Beschäftigung mit dem Dorf als kultureller Konstruktion und sozialem Erfahrungsraum festzuhalten sind: »Ich bin der Überzeugung, dass diese langen und häufigen Aufenthalte auf dem Land von nicht eben geringer Bedeutung für die Entwicklung gewesen sind, die ich später als Historiker genommen habe. Dinge, die andere aus Büchern lernen mussten, waren mir aus eigener An-

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»Die menschliche Ordnung des Mittelmeeres ist ein Abbild der alles beherrschenden Straßen- und Städteordnung. Die gesamte Landwirtschaft, auch wenn sie nur im kleinen Stil betrieben wird, läuft auf die Stadt hinaus, richtet sich nach ihrem Kommando.« (Braudel 1990a: 402)

18 | W ERNER N ELL & M ARC W EILAND schauung von Kindesbeinen an vertraut. […] von Anfang an [war ich] ein Historiker aus bäuerlichem Geschlecht, und ich bin es bis heute geblieben. Ich kannte die Pflanzen und Bäume dieses ostfranzösischen Dorfes und alle seine Bewohner, und ich sah ihnen bei der Arbeit zu: dem Grobschmied, dem Stellmacher, den durchziehenden Holzmachern, den ›bouquillons‹. Ich verfolgte den alljährlichen Fruchtwechsel auf der Gemarkung des Dorfes […]. Ich beobachtete das Mühlrad der alten Mühle, die, glaube ich, vor langer Zeit von einem meiner Vorfahren für die ansässige Herrschaft erbaut wurde.« (Braudel 1990b: 7)

Der Lebensraum des Dorfes bietet so einen Erfahrungsraum, der der subjektiven Lebenswirklichkeit eines Großteils der Menschen entspricht, der sich aus gewissen Traditionslinien ergibt und an dem zugleich auch das individuelle Imaginationsvermögen einen gewissen Anteil hat. Er ist aber zugleich ein Lebensraum, der aktuell mehr denn je der Erfahrung des Verschwindens ausgesetzt ist – wodurch sich freilich auch die bekannten Bilderwelten des Dörflichen und Ländlichen transformieren (vgl. Nora 1995: 88-91). Wenn es stimmt, dass es auch »eine gewisse Topologie des Verschwindens« ist, die – so Katrin Lange und Rudolf Scheutle im Vorwort des Text- und Bildbands LAST AND LOST. EIN ATLAS DES VERSCHWINDENDEN EUROPAS – »das Gesicht Europas [prägt]« (Raabe/Sznajderman 2006: 14), dann sind es wohl ebenso die Dörfer, die das Gesicht Europas auch gegenwärtig noch prägen und enthüllen; vor allem eben aus der Perspektive, dass diese nicht nur aufgrund aktueller und länger währender Strukturveränderungen (demografischer Wandel, Bildungsaufstiege, räumliche Mobilität, gesteigerte Infrastrukturanforderungen etc.) von einem inneren Zerfall2 und damit auch von einem äußerlichen Verschwinden bedroht sind, sondern offensichtlich im gesellschaftlich und künstlerisch Imaginären wieder aufzuerstehen scheinen. Und so sind auch Cipion und Berganza heute noch aktuelle Figuren, die die Landflucht bereits hinter sich haben, zugleich jedoch in der Stadt mit den idealisierten Bildern des Landlebens – den damals gängigen und populären Schäferromanen – konfrontiert werden und sich nicht zuletzt auch an Dorfbildern zu orientieren suchen.3 Immerhin kann ihnen ihr länd-

2

So führt Beetz (2008: 48) in seiner Studie zum sozialen Wandel in einer ostdeutschen ländlichen Region aus: »Charakteristisch für den Wandel der ländlichen Gesellschaft ist das – teilweise sehr konfliktreiche – Auseinanderfallen von Landwirtschaft, Ländlichkeit und Dorf, also von Lebensbereichen, die früher als identisch angesehen wurden.«

3

Entsprechend hat Mario Vargas Llosa in einem 2005 von der FAZ abgedruckten Beitrag die Bezüge von Dorfwelt und Heimat im DON QUIJOTE erkundet: Das Spanien des Miguel de Cervantes erscheint ihm als »ein Archipel von Gemeinden, Dörfern und Weilern, welche die Personen als ›Heimaten‹ bezeichnen. […] Die Romangestalten reisen durch die Welt, sozusagen mit ihren Dörfern und Weilern im Gepäck. Wenn sie sich vorstellen, geben sie ihre Heimat als Referenz an.« (Vargas Llosa 2005: 31) Gehört es idealtypisch

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lich basiertes Erfahrungswissens dabei helfen, ihr Überleben in der Stadt zu sichern; und zwar nicht zuletzt deshalb, weil ihnen das dörflich-ländliche Leben auch ein Modell sozialer Beziehungen bietet, dessen Elementen universelle Geltung zukommt – zumal dann, wenn es darum geht, mit der Unbeständigkeit der Lebenszusammenhänge und der schwankenden ›Natur‹ des Menschen zurecht zu kommen. Der angesprochenen Ubiquität des Dorfes als Siedlungsform entspricht hier eine Universalität der Dorferfahrung im Umgang mit Menschen in sozialen Nahbereichen und angesichts knapper Güter – seien diese nun ökonomischer, sozialer oder symbolischer Art – unter kooperativen oder konflikthaften Vorzeichen. In ihrer Grundgestalt als sozialer Nahbereich – idealtypisch als »kleinste gesellschaftliche Einheit eines ganzheitlichen Lebensvollzugs« (Hugger 1988: 215) – wird die dörfliche Lebenswelt, zum Zweiten, zu einem Muster, das auch in anderen Kontexten das individuelle und soziale Wahrnehmen, Tun und Erleiden vorstrukturiert. In ihm werden Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Lebensvollzug in ihrer Verschränkung an einem jeweils konkreten und bestimmten Ort gezeigt. »Wenn wir«, so der Philosoph Rudolf Zur Lippe in einer Studie zur Anthropologie der Raumerfahrung, »für Dauer das Wort Zeitraum bilden, geben wir damit zu erkennen, dass wir unter Raum eben jede Art von Ausdehnung verstehen, also in der qualitativen Dauer der Aufmerksamkeit sich auch ein qualitativer Raum bilden kann. Das ist ein Ort, nämlich die Begegnung einer bestimmten Existenz unter bestimmten Umständen mit dem anders uns unbestimmten Ganzen des Weltenganges.« (Zur Lippe 1997: 171)

Insofern die städtische Lebenswelt der beiden Hunde ebenso von sozialen Nahräumen und den in ihnen gelagerten konkreten Erfahrungen geprägt ist wie die des Dorfes, lassen sich auch die einmal gemachten Erfahrungen als Deutungsmuster und Handlungsanleitungen übertragen. Doch mehr noch: diese Deutungsmuster und Handlungsanleitungen sind auch für diejenigen vorhanden, die selbst nie auf dem Lande waren. Damals war es der zeitgenössisch populäre Schäferroman, der Cipion und Berganza mit ihrer vermeintlich eigenen Lebensform konfrontierte – und zu einer kritischen Erörterung über das Verhältnis von dichterischen Wirklichkeitsentwürfen und sozialer Realität führte. Heute sind es Landmagazine, Ratgeberliteratur und Fernsehserien, die von einer neuen (alten) Ländlichkeit künden und sich dabei

zur Konzeption des Dorfes, als eine Welt der langsamen Abläufe eine kontinuierliche Raumerfahrung zu ermöglichenden, so sind doch auch schon jene Zeiträume vor der ›Erfindung‹ des »flexiblen Menschen« (Sennett 1998) dadurch geprägt, dass eben diese Orte auch verlassen werden und gerade durch diesen Akt erst ihre eigentliche Geltung erlangen können.

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nicht zuletzt in ihrer ästhetischen Erscheinung auf ältere Traditionslinien und semantische Codierungen beziehen. Schon Berganza erkannte die idealtypische Form und Verzerrung des Schäferromans. Von einem Versteck beobachtete er, so ist in seinem Erfahrungsbericht zu lesen, wie zwei Hirten den besten Hammel der Herde ergriffen und töteten, und zwar in einer solchen Weise, dass man am nächsten Tag glauben würde, es wäre ein Wolf gewesen: »Ich erschrak und staunte, als ich sah, dass die Hirten selber die Wölfe waren und gerade jene, die die Herde hätten schützen sollen, in sie einbrachen.« (Cervantes 1963: 624) Berganza lernt daraus aber nicht nur etwas über die idealisierte Welt der Schäferromane und damit verbunden über den Stellenwert von Literatur und anderer Medien, sondern auch etwas für sein eigenes Menschenbild und seine Lebenspraxis; nämlich: »dass alle jene Bücher zur Unterhaltung Müßiger erträumte, gut geschrieben Dinge erzählen, dass sie aber keine einzige Wahrheit enthalten; denn wäre dem so, dann wäre unter meinen Schäfern noch irgendein Abglanz jenes überaus glücklichen Lebens zu entdecken gewesen« (ebd.: 622).

Nun lässt sich eine solche Ambivalenz von Idealbild und Gegenbild auch für heute wieder aufzeigen. Finden sich im eher popkulturellen Bereich zumeist affirmative Zeichnungen oder komödiantische Inszenierungen des Dorfes, so stehen diesen im eher künstlerischen Bereich von Literatur und Film kritisch orientierte und phantasmagorische Ausformungen dörflicher Lebenswelten gegenüber. Gerade die literarischen und filmischen Konstruktionen des Dörflichen erscheinen und fungieren dabei, zum Dritten, als Laboratorien, in und mit denen gesellschaftliche Aushandlungsprozesse unter erkenntnistheoretischen und lebenspraktischen Perspektiven vollzogen werden. Bereits Norbert Mecklenburg stellt in seiner auch heute noch lesenswerten Monografie ERZÄHLTE PROVINZ fest, »daß im Phänomen des Regionalismus und seinen literarischen Manifestationen Grundfragen unserer Gesellschaft aufgeworfen sind.« (Mecklenburg 1982: 8) Die Dorfgeschichte bildet in diesem Rahmen seit jeher ein Medium, das gesellschaftliche Transformationen in sich aufnimmt, darstellt und reflektiert: »Das Dorf mag mitunter als eine abgeschlossene Totalität imaginiert werden, die von den Prozessen der Vergesellschaftung unberührt bleibt. In einer Vielzahl von Geschichten aber werden gerade diese Prozesse thematisiert. In ihnen werden Umbruchs- und Schwellensituationen verhandelt, die kleine Gemeinschaften im Zuge von raumgreifenden Prozessen der Vergesellschaftung auch andernorts und zu anderen Zeiten betreffen. Wie keine andere Gattung gibt die Dorfgeschichte Auskunft über die historische Wahrnehmung dieser Prozesse aus lokaler Perspektive« (Neumann/Twellmann 2014: 41f.).

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Bilder vom ›Dorf‹ stehen auch gegenwärtig wieder im Mittelpunkt gesellschaftlicher Diskurse; und zwar sowohl als Orte der Affirmation, Lebensreform und Zukunftsgestaltung als auch als Orte der Ambivalenz, Irritation und Vergangenheitserkundung. Sie präsentieren und inszenieren imaginäre Räume und Raumordnungen, die im individuellen und sozialen Kontext als lebensweltlich relevant erscheinen. Dies führt zusammengenommen jedoch zu der ganz grundlegende Frage, wie diese modellhaften Laboratorien aus dem Bereich des Imaginären lebensweltliche Geltung erlangen können, ja, wie literarische Raumentwürfe auf die Lebenswirklichkeit zurückwirken. Einen Ansatz dazu bietet Paul Ricœurs Erzähltheorie. Die in ZEIT UND ERZÄHLUNG entwickelte Konzeption der dreifachen Mimesis ermöglicht es, einen analytischen Verstehensansatz zu entwickeln, mit dessen Hilfe der Prozess der Konstituierung mentaler Raumbilder durch narrativ strukturierte Texträume veranschaulicht und in seiner Wirkung nicht nur auf das literarische, sondern auch auf das außerliterarische Selbst – und damit zugleich auch auf die außerliterarische Wirklichkeit – bezogen werden kann.4 Laut Ricœur wird die Zeit »in dem Maße zur menschlichen, wie sie narrativ artikuliert wird« (Ricœur 1988: 13). Doch Zeit und Erzählung stehen nicht in einem einseitigen Konstitutionsverhältnis – das eine bedingt das andere –, sondern in einem gegenseitigen Wechselverhältnis, das dem des hermeneutischen Zirkels ähnlich ist (Römer 2010: 293) – angewandt auf die menschliche Lebenswelt. Denn auch »umgekehrt ist die Erzählung in dem Maße bedeutungsvoll, wie sie die Züge der Zeiterfahrung trägt.« (Ricœur 1988: 13) Überträgt man diesen Ansatz auf das menschliche Raumerleben und die menschliche Raumerfahrung, so ließe sich als Hypothese und Ausgangsüberlegung formulieren, dass der Raum auch dadurch zum menschlichen Raum wird, indem er narrativ angeeignet – und das heißt zumindest zweierlei: erzählt und gelesen – wird. Wobei dann auch umgekehrt anzunehmen ist, dass die narrative Funktion menschliche Raumerfahrungen in sich trägt und dadurch an der Erzeugung und Vermittlung sozialer, kultureller und historischer Raummodelle beteiligt ist.

4

Auf die Relevanz Ricœurs in diesem Kontext wird sowohl von Nünning, dem zufolge das von Ricœur entwickelte Modell der Konfiguration der Zeit vermittels des literarischen Erzählens »in gleichem Maße für die Dimension der Raumdarstellung« gelten könne (Nünning 2009: 42) als auch von Hallet/Neumann, denen es plausibel scheint, »dass die von Ricœur angenommene mediierende Position der Literatur auch für Raumpraktiken und -vorstellungen gilt« (Hallet/Neumann 2009b: 22), verwiesen. Und Frank (2009: 65) schreibt, dass das raumbezogene Gegenstück zu Ricœurs ZEIT UND ERZÄHLUNG noch zu schreiben sei. Eine Auseinandersetzung mit Ricœur im Blick auf literarische Räume findet sich auch bei Peters (2012).

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Legt man Bachtins Begriff des Chronotopos zugrunde, so befinden sich die räumliche und die zeitliche Dimension der Erzählung ebenfalls in einem konstitutiven Wechselverhältnis: »Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.« (Bachtin 2008: 7)

Die narrativ vermittelten Zeit-Räume stehen jedoch immer auch in Beziehung zu jeweils – ebenfalls narrativ vermittelten – individuellen und kollektiven Selbstbildern. Denn im Unterschied zum homogenen mathematischen Raumschema befinden sich »gelebte« (Waldenfels 1985: 195ff.) bzw. »belebte« (Assmann 1992: 38) Räume als »Bezugsgrößen der eigenen Subjektivität« (Hallet/Neumann 2009a: 25) immer in einer bestimmten Beziehung zum Menschen: »Figuren werden durch die Räume identifiziert, in denen sie sich aufhalten, und durch die Art und Weise charakterisiert, in der sie in einem Raum handeln, Grenzen überschreiten, mobil werden oder immobil bleiben. Räumliche Strukturen ermöglichen Handeln und schränken Handlungsmöglichkeiten gleichzeitig ein.« (Ebd.)

Was für den literarischen Bereich gilt, kann auch für den außerliterarischen gelten. Imaginäre Räume beeinflussen die Orientierung und Positionierung des Menschen in einem bestimmten Raum und zu einem bestimmten Raum, sie können Orientierung geben oder wieder verwirren. Dieser Prozess durchläuft drei verschiedene Ebenen, die in einem zirkulären Verhältnis zueinander stehen und sich mit Ricœur anhand der Begriffe »Präfiguration« (Mimesis I), »Konfiguration« (Mimesis II) und »Refiguration« (Mimesis III) beschreiben lassen. Im Zentrum steht dabei die vermittelnde Leistung der erzählten Welt, die sich nicht nur über den Horizont der Zeitlichkeit, sondern auch den der Räumlichkeit erstreckt: »Es geht also um den konkreten Prozeß, durch den die Textkonfiguration zwischen der Vorgestaltung (préfiguration) des praktischen Feldes und seiner Neugestaltung (refiguration) in der Rezeption des Werkes vermittelt.« (Ricœur 1988: 88) Im Zusammenspiel dieser drei Ebenen können literarische Werke zu »poetische[n] Medien der Raumaneignung, -auslegung und -schaffung« (Neumann 2009: 117) werden und ihr »realitätsstiftendes Potential« (Piatti 2008: 57) entfalten. Denn insofern Raum »als gesellschaftlicher Produktionsprozess der Wahrnehmung, Nutzung und Aneignung« (Bachmann-Medick 2006: 292) verstanden wird, steht er immer auch in einer direkten Verbindung mit seinen symboli-

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schen Repräsentationsformen. In ihnen werden die kulturellen, sozialen und personalen Raumordnungen und -deutungen einer bestimmten Zeit dargestellt, reflektiert, verfestigt, hinterfragt, verändert und/oder neu gesetzt (vgl. Peters 2012: 83).5 Das imaginäre Dorf nun scheint gegenwärtig in besonderem Maße an diesen Prozessen teilzuhaben.

P RÄFIGURATIONEN : D ÖRFLICHKEIT UND W IRKLICHKEIT

ALS I DEE

Bilder des Dörflichen boomen. Aber sie sind nicht ganz neu. Seien es die medialen Phänomene der Neuen Ländlichkeit, der Wiedereinzug des Dorfes in das Kino und in den Spielfilm oder die Tatsache, dass die gesellschaftserörternden Fragen und Probleme der Gegenwartsliteratur, insbesondere auch einer jüngeren Autorengeneration, von der Stadt auf das Land verlagert werden – sie beziehen ihre Stoffe und Motive aus einer ausgeprägten Tradition des Denkens, Schreibens und Sprechens über das Dörfliche, auch und vor allem in Abgrenzung von der Stadt; wobei sie doch zugleich und zumeist aus deren Perspektive geformt wurden.6 Die gegenwärtige Vorstellungswelt des Dörflichen – bzw.: das Dörfliche als imaginäre Vorstellungswelt – ist also immer schon präfiguriert. Doch scheint es gewissermaßen heute wieder so wie im 19. Jahrhundert zu sein. Schon damals kam den Lesern die Entdeckung des Dorfes – wiewohl ebenfalls nicht neu – mit Berthold Auerbachs Dorfgeschichten der »Entdeckung eines neuen Weltteils« (Hein 1997: 22) gleich.7 Dass

5

Dabei geht es, so Barbara Piatti (2008: 57), mitunter auch um die Frage, »wie Literatur einem Ausschnitt aus der realen Welt buchstäblich ihren Stempel aufdrücken kann.« In ähnliche Richtung geht auch der Herausgeber des ATLAS OF LITERATURE, Malcom Bradbury, wenn er schreibt, »that our maps of the world have been shaped by literary writings« und »that literature and geography are intimately related.« (Bradbury 1996: 8f.)

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Dass Dorf und Stadt bzw. Provinzialität und Urbanität nahezu seit jeher in einem polaren Verhältnis stehen, wird von Burdorf/Matuschek (2008a: 9) ausgeführt. Diese dichotomen Pole sind jedoch, das wird sich auch im weiteren Verlauf des Aufsatzes zeigen, als »hermeneutische Größen, mit denen sich der komplexe Zusammenhang von Lebensraum, Lebensweise und Lebensgefühl […] polar ordnen lässt« (ebd.) zu verstehen.

7

Besteht doch bereits seit der Antike eine enge Verbindung zwischen Dorf- bzw. Landliteratur und den jeweils aktuellen literarischen Entwicklungen in Europa (Hein 1997: 22). Gerade seit dem 19. Jahrhundert kann dann die Dorfgeschichte als international äußerst erfolgreiches literarisches Phänomen betrachtet werden, anhand dessen sich die verschiedensten Wirkungsgeschichten und verschlungene Rezeptions- und Einflusslinien aufzeigen lassen (vgl. Mecklenburg 1982: 82-110, Wild 2011). So zeigt auch Bettina Wild in

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von solch einem wiederentdeckten neuen alten Weltteil auch gegenwärtig wieder eine gewisse Faszination – sei es nun die Faszination des Fremden, das doch so nah erscheint und dadurch mit einem Exotismus behaftet wird, oder die des reinen Gegenbildes zur eigenen städtischen Welterfahrung – ausgeht, hängt paradoxerweise auch damit zusammen, dass immer schon ein gewisses Vorverständnis des Dörflichen besteht. Denn indem sich imaginäre Räume auf reale Räume beziehen, sind sie zugleich durch die dort vorherrschenden kulturell vermittelten Raumkonzepte und Raummodelle präformiert (vgl. Neumann 2009: 116). Wir alle besitzen schon ein bestimmtes Raummodell (nicht nur) des Dörflichen bzw. Ländlichen, das sich aus verschiedenartigen Quellen – literarischen und filmischen Genres, erworbenem Wissen und eigenen Erfahrungen – speist (vgl. Dennerlein 2009: 181) und unsere Wahrnehmung aktueller Dorfbilder vorstrukturiert. Solch ein (literarisches) Raummodell lässt sich bestimmen als »eine Konfiguration von Rauminformationen, die aus zwei Komponenten besteht: zum einen aus Wissen über die materielle Ausprägung, zum anderen aus Wissen über typische Ereignisabfolgen, die gegebenenfalls auch mit bestimmten Figuren und/oder Figurentypen bzw. Handlungsrollen verknüpft sein können.« (Dennerlein 2011: 162)

Das heißt, dass bestimmte räumliche Gegebenheiten nicht nur eine bestimmte Struktur aufweisen, sondern mit dieser Struktur auch bestimmte Ereignismuster bzw. -abfolgen erzeugen (Dennerlein 2009: 180; vgl. Peters 2012: 87). Daher übt auch der literarisierte Schauplatz bzw. Handlungsort einen gewissen Einfluss auf den möglichen bzw. wahrscheinlichen Verlauf der Handlung aus, den er nicht nur »in eine bestimmte Bahn lenkt« (Frank 2009: 63), sondern dessen mögliche bzw. unmögliche Elemente (bspw. hinsichtlich der in ihr enthaltenen Figuren, Objekte und spezifischen Handlungsweisen) er auch gemäß der Wahrscheinlichkeit ihres dortigen Vorhandenseins strukturiert; oder anders ausgedrückt: »im modernen Roman hängt das, was passiert, stark davon ab, wo es passiert« (Moretti 1999: 98, Hervorhebung im Original; vgl. dazu auch Piatti 2008: 15f.). Dadurch sind bestimmte Raummodelle mit bestimmten Raum- und Handlungsschemata (frames und scripts) verbunden: »Die von Figuren aufgesuchten oder auch bloß imaginierten Räume prästrukturieren individuelle Handlungen; sie ermöglichen bestimmte Handlungsoptionen und vereiteln andere.« (Hallet/Neumann 2009a: 24) Katrin Denner-

ihrer umfangreichen Analyse und Kontextualisierung der SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN:

das Unerhörte der Dorfgeschichte im 19. Jahrhundert ist nicht, dass Dörfer

und ländliche Räume Einzug in die Literatur erhalten, sondern die formale Weise, in der sie dargestellt werden und spezifische Funktionen in einem übergreifenden Diskurs erfüllen (Wild 2011: 25, vgl. Mettenleiter 1974: 304f.).

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lein (2009: 180f.) verweist in ihrer Untersuchung zur NARRATOLOGIE DES RAUMES auch auf kognitionstheoretisch orientierte Untersuchungen zum Begriff des Raumschemas.8 Dabei führt sie auch eine Studie von Mary-Laure Ryan (2003) an. Diese ließ College-Studenten nach der Lektüre von Gabriel García Márquez’ CHRONIK EINES ANGEKÜNDIGTEN TODES den erzählten Raum kartografisch darstellen. Fast die Hälfte aller Karten (45%) wies auf dem Dorfplatz einen Brunnen auf, obwohl sich dieser weder im Text noch in einer Illustration wiederfinden ließ (Ryan 2003: 225).9 Ryan vermutet, »that the students used standard cultural images of what a South American Plaza looks like« (ebd.: 225).10 Interessant ist dabei vor allem auch, dass hierbei eine Übertragung städtischer Raumbilder auf einen dörflichen Lebensraum vollzogen wird. Aber auch grundlegend gilt: Ein Dorfbrunnen gehört laut Einbildungskraft eben prototypisch zu einem Dorfplatz und ein Dorfplatz eben wiederum zu einem Dorf dazu – selbst dann, wenn er sich, da schon längst funktionslos geworden, real nicht mehr auf bzw. in einem solchen befindet. Die einmal erzeugten Bilder bzw. Bildbestandteile bestimmter Lebenswelten überdauern im Bereich des Imaginären, weil sie untrennbar mit den kulturell vorherrschenden symbolischen und narrativen Formen, in denen sie erscheinen, verbunden sind. Es gehört zum menschlichen In-der-Welt-Sein, sich in den vorgeprägten und vorprägenden narrativen Strukturen der Lebenswelt zu bewegen (Meuter 1995: 122; Römer 2010: 299) und diese Lebenswelt eben erst durch die Vermittlungsfunktion narrativer Strukturen zu verstehen.11 Es ist der symbolische Raum, der mit seinen spezifischen Sinn-

8

Dieser Begriff geht Dennerlein zufolge auf Untersuchungen von Brewer/Treyens (1981) zurück, die »gezeigt haben, dass Versuchspersonen dazu neigen z.B. bei Wohnzimmern Objekte zu erinnern, die sich nicht darin befanden, die aber normalerweise in Wohnzimmern vorgefunden werden können, z.B. ein Fernseher oder ein Sessel. Umgekehrt werden solche Objekte schlechter erinnert, die üblicherweise nicht in Wohnzimmern zu finden sind.« (Dennerlein 2009: 180)

9

Dass Ryan den Schauplatz der Handlung eher als »town« und Dennerlein eher als »Dorf« bezeichnet, kann hier vernachlässigt werden. Dennoch wird bereits zu Beginn der englischen Version des Textes die Örtlichkeit folgendermaßen benannt: »I returned to this forgotten village, trying to put the broken mirror of memory back together from so many scattered shards.« (García Márquez 1982: 6)

10 Und dass diese selbst noch einmal durch die Tatsache bestätigt wurden, dass sich ein Brunnen auch auf dem zentralen Platz des Collegestädtchens befindet. 11 Dies greift auch dann, wenn wir unter dem Begriff der Lebenswelt den »uns alltäglich vertraute[n] Sinnzusammenhang, in dem wir gewöhnlich ohne spezielle – etwa explizit wissenschaftliche – Anstrengungen wahrnehmen, erleben, handeln« (Meuter 1995: 122), verstehen. Denn Ricœur sieht in der »Erfahrung als solcher einen Ansatz zum Narrativen

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ordnungen den rein physikalischen Raum zwar überlagert, ihn durch diese Überlagerung aber auch zugänglich macht. Das heißt aber auch, dass die Ebene der Präfiguration selbst wiederum schon immer als konfigurierte besteht – und zwar allein schon aufgrund der Tatsache, dass der Mensch als (natürliches) Kulturwesen (oder, mit anderen Worten: als animal symbolicum) nicht anders als in einem symbolischen Universum leben kann und daher sein Vorverständnis sowohl der Innen- als auch Außenwelt von den Konfigurationsformen des kulturellen Symbolnetzes bestimmt ist: »Der Mensch kann der Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar gegenübertreten; er kann sie nicht als direktes Gegenüber betrachten. Die physische Realität scheint in dem Maße zurückzutreten, wie die Symboltätigkeit des Menschen an Raum gewinnt. Statt mit den Dingen hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts mehr sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe.« (Cassirer 2007: 50)

Diese Voraussetzung findet auch Ricœur im Werk Cassirers: »ihm zufolge nämlich sind die symbolischen Formen kulturelle Prozesse, in denen die gesamte Erfahrung artikuliert wird.« (Ricœur 1988: 94) Welche symbolisch vermittelten historischen und regionalen Erfahrungen dörflicher Lebenswelten sind es aber, die nicht nur immer noch zu einem gewissen Teil die gegenwärtigen mentalen Bilder des Dörflichen bestimmen, sondern selbst wiederum den Nährboden bilden, aus denen die zeitgenössischen künstlerischen und popkulturellen Dorfbilder in ihren Aneignungs- und Abgrenzungsbestrebungen erwachsen? Von welchen literarisch gestalteten Raummodellen und Wissensfigurationen werden sie präfiguriert – und das heißt auch: Mit welchen anthropologischen, soziologischen, geschichtsphilosophischen, ökonomischen, juristischen etc. Theorien und Theorieansätzen sind sie konstitutiv verbunden? Das klassische ›Raummodell Dorf‹ ist zu einem nicht geringen Anteil geprägt von der klassischen Dorfgeschichte, die sich v.a. im 19. Jahrhundert ausbildete und bei der es sich, anders als in deutschen Zusammenhängen gerne angenommen, um ein europäisches, wenn nicht, zum Beispiel bei Washington Irving oder Angela Carter, sogar über diesen Rahmen hinausgehendes Werkmodell handelt (Spies 2009: 138). Dabei lässt sich die Dorfgeschichte zum einen von ihrer Thematik her bestimmen: Das Dorf als Ort der Handlung, seine Bewohner als handelnde Figuren und schließlich auch seine Geschichte als umfassende Rahmung der dort inszenier-

[…], der nicht auf der Projektion […] der Literatur auf das Leben beruht, sondern ein authentisches Erzählbedürfnis konstituiert.« (Ricœur 1988: 118)

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ten Begebenheiten. Zum anderen spielt das Publikum im Blick auf die Definition der Dorfgeschichte eine differenzierende Rolle (vgl. Greiner 1958: 276). Einerseits wenden sich Dorfgeschichten in didaktisch-aufklärerischer, dann auch sozialkritischer Hinsicht an die Bewohner der Dörfer selbst, suchen ihre Lebensverhältnisse anzusprechen und zu verbessern und nutzen dabei auch – so zum Beispiel in den Dorfschilderungen des Naturalismus, den Sozialreportagen in der Zwischenkriegszeit und in der kritischen Heimatliteratur der 1970er Jahre – die Welt des Dorfes als Ausgangspunkt für Sozial-, Kultur- und Zivilisationskritik oder sozialpädagogische Reformvorstellungen; in diesen Rahmen gehören auch Erzählungen wie DIE JUDEN VON BARNOW (1876), in denen Karl Emil Franzos die Lebensverhältnisse in den gemischt-religiösen Dörfern Ostmitteleuropas schildert und damit Fragen der Emanzipation durch Bildung, der Diskriminierung von Minderheiten und des menschlichen Lebens unter elenden Bedingungen anspricht. Andererseits wenden sich Dorfgeschichten an ein nicht-dörfliches – sei es wie in spätmittelalterlichen Texten adliges, später stadtbürgerliches, dann durch die bürgerliche Gesellschaft und die Industriemoderne gekennzeichnetes – Publikum, wobei hierbei je nach Interessenlagen und ideologischen Besetzungen Verachtung und Distanzierung oder Romantisierung und Exotik den Ton angeben; in Mischungen und Vereinseitigungen finden sich diese Impulse dann auch in Dorfgeschichten und Dorfbildern wieder, die sich seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in den verschiedensten Bereichen der Unterhaltungs- und Massenmedien, v.a. aber auch in der Populärkultur, ausgebildet haben. Mit ihnen teilen die Dorfgeschichten dann auch die Wechselbäder literarischer Wertung, werden also bspw. mit den Konjunkturen der Kriminalliteratur oder bestimmten TV-Adaptionen nicht nur verbunden, sondern auch aufgewertet oder sogar gehypt. Wenn sich die mit der Industriemoderne aufkommenden Muster gesellschaftlichen Verhaltens, individueller Selbstinterpretation und Erfahrung auf Stichworte wie Mobilität, Transgression, »Unruhe der Moderne« (Berger 1986; Giddens 1995: 12ff.) und die Fragmentierung von Lebenszusammenhängen reduzieren lassen, so bieten demgegenüber die Imaginationen des Dorfes – natürlich nicht die zugehörigen sozialhistorischen Entwicklungen – eine Art von Gegenwelt an, die zumindest dazu geeignet scheint, die Vorstellung einer geschlossenen Gesellschaft, eines organisch zu denkenden Handlungszusammenhangs und eines einigermaßen kollektiv ausgerichteten Sozialmodells zu bebildern. Deren Fragwürdigkeit wird dann aber auch in der neueren Dorfforschung betont: »Oft hat man das Dorf als Ort sozialer Harmonie und der Geselligkeit gesehen. Aber die Rigidität der Strukturen erschwert Innovationen; Neuerungen begegnet man mit Misstrauen. Persönliche Nähe und geringe Innovationsbereitschaft, Immobilismus, führen zu Spannungen, zu verschärften, dauerhaften Konflikten. Mangelnde Toleranz kennzeichnet vielfach dörfliches Leben. Die soziale Hierarchie wird stärker und bewusster erfahren. So entspricht das

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Auch wenn es in den bildenden Künsten bereits im 19. Jahrhundert problematisch geworden war, das ländliche Leben als eine Ganzheit darzustellen (Schütte 1997: 40), so hat doch die literarische Gattung der Dorfgeschichte – erst recht in Form ihrer idealtypischen, trivialliterarischen oder ideologisch besetzten schematisierten Ableger – eben jenen Eindruck nicht zuletzt aufgrund seiner, zumindest in bestimmten sozialen Schichten verbreiteten, Wünschbarkeit suggeriert. Denn die erzeugten und vermittelten Dorfbilder richteten sich zuvörderst auch an städtisches Publikum, »das Bilder einer nicht-entfremdeten, in Einklang mit der Natur stehenden Arbeits- und Lebenswelt erwartet und von den Künstlern vorgestellt bekommt« (ebd.: 41). Wenn bestimmte Räume und Raummodelle – in der Realität wie auch in der Fiktion – mit bestimmten Lebensformen verbunden sind, dann ist es das Raummodell Dorf wohl am ehesten mit den Vorstellungen von Gemeinschaft. Die traditionelle literarische Dorfgeschichte jedenfalls »ist im wesentlichen Gemeinschaftsdichtung« (Hein 1974: 106). Doch lässt sich das Modell des Dorfes als in sich geschlossene gemeinschaftliche Ganzheit nicht nur in der Literatur, im Film und in Alltagsvorstellungen, sondern ebenso in der (kultur-)wissenschaftlichen Forschung finden: »Obwohl man den ideologischen Gehalt der alten Vorstellungen von ›Gemeinschaft‹ weithin erkannt hat, erscheint das Dorf also immer noch tendenziell als abgeschlossen und dauerhaft, als ›Ding‹ mit starren räumlichen und zeitlichen Grenzen. Das befriedigt zum einen pragmatische Interessen, Dorfforschung nicht allzu komplex werden zu lassen, zum anderen aber auch Sehnsüchte in einer unübersichtlichen und hektischen Gegenwart, Bilder der eindeutigen sozialen Zugehörigkeit und Beständigkeit zu produzieren – Wünsche und Sehnsüchte, denen sich auch Wissenschaftler/innen nicht immer entziehen können.« (Langthaler/Sieder 2000: 24)

Dabei entwickelte das idealtypische Konzept der Gemeinschaft eine immense, auch transkulturell verfolgbare, Sogwirkung.12 Ihre Grundlage findet die auch wissen-

12 Aus transkultureller Perspektive ließe sich bspw. auf die Untersuchungen zur Dorfgeschichte in der indischen Literatur bei Jain (2006) verweisen. Insbesondere zur Ambivalenz des vermeintlich dorfspezifischen Gemeinschaftskonzepts führt diese in ihrer Einleitung aus: »The romantic ideal conceives it as an organic community, a place of harmony and belonging, an emotional bonding and a sense of protection towards the vulnerable, a place of stability and of innocence with the village banyan tree and the panghat presenting places of congregation along gender lines. But this myth remains a myth. The feudal-

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schaftliche Ganzheitsimagination in einer scharfen Abgrenzung zur Stadt: räumliche Begrenzung, zeitliche Entschleunigung und eine kohärente und stabile Sozialordnung sind die Säulen der begrifflichen Konzeption des Dorfes (vgl. ebd.) – auch und gerade angesichts moderner gesellschaftlicher Entwicklungen (vgl. Beetz 2004: 42ff.).13 Oder anders ausgedrückt: »Es ist wohl so, dass die Idee des Dorfes immer über ihre Wirklichkeit triumphiert« (Köstlin 2011: 13).14 Doch die klassischen Bildentwürfe des Dörflichen erweisen sich angesichts der komplexen Situation, in der sich ländliche Lebensräume gegenwärtig befinden, als nicht mehr adäquat: »Das Land verändert sich. Soziale Verhältnisse, Landnutzungen, gewohnte Bilder des Raumes verschieben sich, lösen sich auf, neue entstehen. Die aktuellen Veränderungen in den ländlichen Räumen in Deutschland haben dabei mehrere, zum Teil auch widersprüchliche Ursachen und Wirkungen. Einerseits führen die regional sehr unterschiedlichen Bevölkerungsund Wirtschaftsentwicklungen zu einer Polarisierung ländlicher Lebenswelten. So sind einige Regionen Deutschlands von einem nach wie vor starken Wachstum geprägt, andere schrumpfen, entleeren sich geradezu. Andererseits führt eine allgemein als Verstädterung zu beschreibende Modernisierung von Lebensstilen und Lebensbedingungen zu einer Angleichung ländlicher Lebenswelten. Der Ausbau der Kommunikationsnetze und der Mobilität ermöglichen auch auf dem Land, von der Kleinstadt bis zum Einzelhof, die Entfaltung typisch städtischer, urbaner Lebensstile. Das Internet, die digitalen sozialen Netzwerke, aber auch die Flexibilisierung der Arbeitswelten und Erwerbsbiographien führen dazu, dass der Abstand zwischen ländlichen und städtischen Lebensformen sich verringert.« (Schöbel 2011: 50)

istic social patterns and the family feuds of village life are legendary. The gender segregation, the caste divisions, the economic exploitation are all reflected even in the myth of an organic community. It is a fractured community, where the individual is coerced into conformity.« (Jain 2006a: 3) 13 Dabei gehen einige Ansätze auch soweit, die »Rückkehr der Provinz« als konstitutiv für moderne Entwicklungen zu betrachten: »Die Verstädterung brauche zwar die Agrargesellschaft auf, in der Folge dissoziieren aber auch die bestehenden Stadtzusammenhänge und agrarische Bilder behaupten sich erneut: beispielsweise die Fiktion der Gemeinschaft, die Wertsetzung des Bodens oder die Sesshaftigkeit.« (Beetz 2004: 43f.) 14 In Bezug auf das »Dorf als Muster« schreibt Köstlin (2011: 11): »Bei aller Unterschiedlichkeit sind Dorfbilder prinzipiell einheitlich mit bestimmten Attributen ausgestattet, die sich in einzelnen Gesellschaften ausgeprägt haben.« Demgegenüber formuliert der Schweizer Gemeindeforscher Paul Hugger (1988: 216): »Es gibt kein ›Durchschnittsdorf‹, dessen Wesen und Form ohne weiteres auf andere Gebiete übertragbar wäre. Darum greifen Versuche, das Dorf ›an sich‹ zu beschreiben, zu kurz.«

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Die wissenschaftliche Erforschung der Dörfer in historischer, sozialwissenschaftlicher und kulturgeographischer Hinsicht und des Dorfes in typologischer, kulturhistorischer und kulturkritischer Sicht bewegt sich zunächst in Bahnen und Zusammenhängen, die von gesamtgesellschaftlichen und auch wissenschaftsexternen Impulsen angeregt, wenn nicht gar bestimmt wurden und werden. Modernisierungstheorie, Nationalstaatsbildung und kulturphilosophische Annahmen bestimmten zunächst die Perspektiven, aus denen seit dem 19. Jahrhundert Siedlungsformen, Lebensbedingungen, vor allem aber auch kulturelle Bindungen in dörflichen Lagen erkundet wurden (Riehl 1936). Je nach Standpunkt wurde dabei das Dorf als Relikt vormoderner Gesellschaften und unter der Perspektive seines Bedeutungsverlustes in Zusammenhängen fortschreitender Modernisierung gesehen; einmal als zu erinnernder und zu restituierender Hort gemeinschaftlicher Werte gegenüber einer auf Individualisierung und Gruppenpluralismus ausgerichteten Moderne, einmal als residuale Lagerung von (in der Moderne unakzeptablen) Zwängen, Machtausübungen und ideologischen Verblendungen. Während unter nationalistischen und modernisierungskritischen Vorgaben Germanistik, Geschichtswissenschaft, Volkskunde und namentlich die sogenannte ›deutsche Bewegung‹ vor und nach der Jahrhundertwende an der ideologischen Positionierung des Dorfes als Gegenmoderne arbeiteten und damit der Volkstumsideologie (Emmerich 1971) der 1920er und schließlich der Zeit des Nationalsozialismus Vorschub leisteten, setzten erste empirische Forschungen zur Erforschung der Landbevölkerung, bspw. in Schlesien, auch schon in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ein. Hier schlossen sich nach 1945 vor allem empirische Studien zur Wandlung der Agrargesellschaft unter insgesamt industriegesellschaftlichen Bedingungen an, in denen ländliche Lebensräume unter der Perspektive ihrer möglichen Urbanisierung in einer Lage des Übergangs gesehen wurden. Im Rahmen eines in den 1970er Jahren aufkommenden neuen Regionalismus fanden dann auch Dörfer und ihre Bewohner als Kulturträger, Kulturproduzenten und sinnhaft ausgerichtete Akteure das Interesse sowohl neuerer Regionalforschung (Elkar 1980; Lipp 1986; Ruge 2003) als auch einer Geschichtswissenschaft ›von unten‹. Ihre Erforschung wurde selbst zum Ferment und Paradigma einer sich neu formierenden »empirischen Kulturwissenschaft« (Bausinger 1971), die schließlich auch zu einer postmodernen, pluralistischen und kritischen Sicht auf die sich transformierenden Lebensformen der Industriemoderne, auf die Vergesellschaftungsformen städtischer und ländlicher Siedlungsgemeinden und auf die damit verbundenen Vorstellungen und Erwartungen unterschiedlichster Akteure und Gruppen führte. Auch aktuell sind es gesamtgesellschaftliche Trends, die in der Dorfforschung wieder zu finden sind: demographische Entwicklungen, ökologische Probleme, soziale Mobilität, Ausdifferenzierung unterschiedlich codierter sozialer Lebensstile und nicht zuletzt kulturelle Prägungen und Ansprüche haben aufs Neue die Frage ›Wie sollen/wollen wir leben?‹ aufgeworfen, die auch im Blick auf die Traditionsformen und aktuellen Möglichkeiten dörflicher Entwicklung gestellt

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wird. Gerade in dem Maße, wie dabei die Dimension des subjektiven Sinns in den Vordergrund tritt, werden auch literarische und sonstige künstlerisch-imaginative Entwürfe dahingehend befragbar, wie Realitätserfahrung, künstlerische Gestaltung und wissenschaftliche Forschung aufeinander bezogen sind und welchen Anteil diese Beziehung selbst wieder am Prozess gesellschaftlich-diskursiver Sinnorientierung hat. Wenn es darum geht, »die sozialen Repräsentationen des Raumes zu untersuchen, die über gesellschaftliche Definitionen und Wahrnehmungen Aufschluss geben können« (Beetz 2004: 46), so ist hinsichtlich der imaginären Ausformung des Dörflichen nicht zuletzt auch die »Verflechtung von Gattungsgeschichte und Wissenschaftsgeschichte« (Neumann/Twellmann 2014: 29) zu analysieren.15 Damit gerät die kulturelle Schaffung des ländlichen Raumes im Medium von Literatur und Film in den Blick. In diesem Rahmen erhält auch Norbert Mecklenburgs noch immer maßgebliche Untersuchung zur ›erzählten Provinz‹ neue Relevanz. In ihr stellt er die – wenn auch nicht so genannte – Grundfrage nach dem Verhältnis von Mimesis I und II: »Wie transformiert die poetische Intentionalität, Technik, Struktur eines Romans den vorstrukturierten Wirklichkeitsbereich Provinz?« (Mecklenburg 1982: 25) Damit eröffnet er die Möglichkeit, die literarisch-künstlerischen und populärkulturellen Repräsentationen des Dorfes auch als spezifische Ausformungen eines die Gegenwartsgesellschaften betreffenden Raum-Diskurses (Sasse 2010) aufzunehmen und für eine poetologische, soziologische und kulturwissenschaftliche Erkundung im Rahmen der verschiedenen Ansätze des ›spatial turns‹ (siehe z.B. BachmannMedick 2006; Günzel 2007; Döring/Thielmann 2008; Hallet/Neumann 2009) und der Geopoetik (Marszałek/Sasse 2010) auch im Blick auf das in ihnen ausgeformte Verhältnis von Imagination und Wissen zu nutzen und die imaginären Dörfer als kulturelle Deutungsmuster zu verstehen. Doch verfährt Mecklenburg, indem er von den Strukturen des gelebten Raums auf die des erzählten Raums schließt, nur in einseitiger Richtung.16 Dies bietet jedoch noch Raum für einen weitergehenden

15 Michael Neumann und Marcus Twellmann befassen sich in ihrem Ansatz zur Entwicklung einer transdisziplinären Kulturtheorie der Dorfgeschichte mit den narrativ erzeugten, tradierten und weiterhin wirkenden Sinnmustern verschiedenster literarischer und wissenschaftlicher ›Dorfgeschichten‹. Aus dieser Perspektive bilden die »wissenschaftlichen Studien […] nicht den Hintergrund neuer Interpretationsmöglichkeiten, sie sind vielmehr Teil einer kontinuierlich gegebenen Problemkonstellation, die in unterschiedlichen Feldern ausformuliert wird; sie gehören, mit anderen Worten zum Textkorpus der Dorfgeschichten.« (Neumann/Twellmann 2014: 28) 16 »Die Strukturen des gelebten Raumes liefern nun in dem Maße Beschreibungsmodelle für die Analyse literarischer Texte, ihrer Räumlichkeit und Regionalität, wie deren fiktional entworfene Welt mimetisch auf die Lebenswelt bezogen ist.« (Mecklenburg 1982: 31)

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Ansatz, der sich mit dem Verhältnis von Mimesis II und III beschäftigt und nach der Rückwirkung imaginärer Dörfer auf die konkrete Lebenswirklichkeit und dem damit einhergehenden Ineinandergreifen von künstlerischer Imagination bzw. Sinnorientierung und konkreter regionaler und überregionaler Raumordnung, -planung und -gestaltung fragt. Dies heißt dann eben auch, die Rückwirkungen des erzählten Raums auf den gelebten Raum zu thematisieren. Inwiefern dienen die imaginären Konfigurationen des Dörflichen der Rekonfiguration von (auch und vor allem: städtischer) Lebenswelt? Lassen sich aus ihnen – sowohl in positiver Setzung als auch in negativer Abgrenzung – Parameter, Impulse und Ansatzpunkte für die Gestaltung sozialer Nahräume gewinnen, die sich in ihrer Breite auf konkrete Stadt-, Siedlungs- und Landschaftsplanung beziehen lassen? Um diese Fragen zu beantworten, muss jedoch zunächst noch ein Blick auf die aktuellen Erscheinungsformen imaginärer Dörfer geworfen werden

K ONFIGURATIONEN : D IE NARRATIVE O RDNUNG DES DÖRFLICHEN L EBENSRAUMES Auf der Ebene der Mimesis II wird die poetische Zeit- und Raum-Gestaltung realisiert. Die narrative Funktion ist es, die einer heterogenen Ansammlung von Räumen, Orten und Figuren eine verstehbare Gestalt gibt und so zu einer »Synthese des Heterogenen« (Ricœur 1987: 60; Ricœur 1996: 174) führt, ohne jedoch die spezifischen Eigenarten ihrer Elemente zu zerstören. Ricœur spricht diesbezüglich auch von einer Kompositionskunst, die zwischen den Diskordanzen und Konkordanzen einer Erzählung vermittelt. Nach Ansgar Nünning (2009: 39ff.) stehen erzählte Räume immer auf drei Ebenen in spezifischen Relationsverhältnissen. Zum Ersten auf einer paradigmatischen, die das Verhältnis des jeweils erzählten Raums zu seinen historischen, literarischen und lebensweltlichen Präfigurationen beschreibt. Hier wird eine Selektion aus einem Fundus an möglichen Themen, Modellen und Darstellungsweisen, die mit spezifischen Räumen verbunden sind, vorgenommen. Zum Zweiten auf einer syntagmatischen, die das Beziehungsgefüge der einzelnen Raumbestandteile innerhalb des erzählten Raumes thematisiert. Hier werden die

Dabei geht Mecklenburg – quasi parallel zu dem historisch orientierten Ansatz von Reinhard (2004) – so weit, »Provinz überhaupt als Element der Lebenswelt« (Mecklenburg 1982: 15) zu verstehen. Zur weiteren Erklärung führt er dazu aus: »Dieses ist freilich nicht in der Weise phänomenal gegeben wie geographische Regionen, da es eigentümlich zwischen realer und symbolischer Ebene liegt: Objektiv erscheint es als erfahr- und beschreibbarer gesellschaftlicher Bereich, subjektiv als perspektivische Sicht auf diesen Bereich.« (Ebd.)

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jeweiligen Elemente des erzählten Raums in eine spezifische Ordnung gebracht. Zum Dritten auf einer diskursiven, die für die jeweilige Perspektivierung der narrativen Raumvermittlung durch eine Erzähl- bzw. Wahrnehmungsinstanz sorgt. Hier wird deutlich, inwiefern der erzählte Raum nur aus einer bestimmten, gegebenenfalls leiblich und räumlich gebundenen, Stellung zu ihm diskursiv vermittelt wird – ist er doch nicht zuletzt Teil eines »subjektiven Semantisierungsprozesses« (Hallet/ Neumann 2009a: 25), in dem individuelle Wahrnehmung, kulturelle Wissensordnung und materielle Räumlichkeit ineinander übergehen (ebd.). Lässt sich im Blick auf die zeitliche Dimension der erzählten Welt behaupten, dass Erzählen und Erzählungen »eine unüberschaubare Menge an zunächst kontingenten Daten gegen alle Wahrscheinlichkeit in eine beherrschbare kognitive Ordnung überführen« (Koschorke 2013: 286), so könnte man im Blick auf die räumliche Dimension der erzählten Welt von einer Modellhaftigkeit imaginärer Räumlichkeiten sprechen, die sich aus verschiedenen typischen Raumkonstellationen und Handlungs- bzw. Geschehenssequenzen ergibt. Die Erzählung organisiert und strukturiert durch ihre spezifischen narrativen Verfahren ausgewählte Elemente und entwirft dadurch nicht etwa Abbilder realer Räume, sondern Raummodelle, in denen die einzelnen Elemente (Schauplätze, Figuren, Objekte) in bestimmten Relationen zueinander stehen (vgl. Nünning 2009: 42f.). Insofern ein literarisches Raummodell als »Konfiguration von Rauminformationen« (Dennerlein 2009: 179) verstanden werden kann, synthetisiert und vermittelt es Wissen über die sich in diesem Raum befindlichen möglichen (bzw.: unmöglichen) Elemente und das sich aus diesen Elementen entwickelnde mögliche Geschehen. Erst durch diese literarische Konfiguration entsteht »ein kohärentes fiktionales Raum- und Wirklichkeitsmodell« (Nünning 2009: 42). Damit lässt die narrative Funktion den Rezipienten zwar nicht unbedingt das Ganze des Raumes und der Zeit wahrnehmen, suggeriert ihm jedoch gewissermaßen, beide als Ganzes zu erfassen. Dies kann selbst bereits »als ein Verfahren der Wirklichkeitsbewältigung« (Koschorke 2013: 65) verstanden werden; und zwar auch dann, wenn die jeweilige Erzählform keinen realistischen Anspruch erhebt (ebd.). Der Raum der erzählten Welt wird dadurch zum kognitiven Modell für außerliterarische Zusammenhänge. Betrachtet man die Verbindungen inhaltlicher und formaler Aspekte des in einer spezifisch narrativen Weise dargestellten spezifischen Lebensraumes Dorf, so lässt sich für das kulturelle Deutungsmodell Dorf selbst noch einmal eine Steigerung des durch die narrative Funktion (einer ›wohlgeformten‹, mimetisch orientierten Erzählung) erzeugten Ganzheitsmodells feststellen – und die Kontrastfolie ermessen, vor der aktuelle imaginäre Dörfer entworfen bzw. abgegrenzt oder transformiert werden. Bereits Mecklenburg diskutiert das Verhältnis formaler und inhaltlicher Aspekte und kommt dabei zu den Begriffen der »offenen« und der »geschlossenen Provinz« (vgl. Mecklenburg 1982: 45-50), denn: »Geschlossenheit und Offenheit stehen eng mit anderen epischen Strukturzügen sowie mit thematischen Konzepten

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erzählter Provinz in Zusammenhang.« (Ebd.: 46) Zum einen sind es jeweils abgeschlossene provinzielle Lebensräume, die sowohl raumzeitlich (durch Orientierung an natürlichen und den erzählten Alltag vorstrukturierenden Raum-Zeit-Ordnungen) als auch sozial (durch Orientierung an der noch immer wirkmächtigen OrganismusMetapher der Gemeinschaft) in sich geschlossene Systeme darstellen. Dies kann sowohl auf positiv erscheinende utopisch-nostalgische Gegenwelten als auch auf negativ erscheinende dystopische Zwangssysteme hinauslaufen (vgl. ebd.: 48). Die Reise in bzw. das Entkommen aus dem Dorf kann gleichermaßen Anfangs- und Endpunkt von Selbstfindung und Selbstentfremdung bedeuten. Das Dorf kann als etwas erscheinen, das in Gefahr ist; und als etwas, von dem selbst Gefahr ausgeht. Zum anderen ist es aber auch die offene Provinz, die in ihren Vernetzungen und Verflechtungen mit der außerdörflichen ›weiten‹ Welt in einer nicht primär mimetisch orientierten Darstellungsweise erzählt wird. Verfahren der Fragmentierung und Collage sollen das Dorf in seinen durchaus vorhandenen komplexen und ungeordneten Zusammenhängen darstellen (vgl. ebd.: 49; Schütte 1997: 39) – und dadurch im Vergleich mit der traditionellen geschlossenen Form ein adäquateres Bild der modernen Gegebenheiten erzeugen; wodurch sie selbst wiederum als realistische Darstellungsformen interpretiert werden können. Die offene literarische Form »trägt der Einsicht Rechnung, daß realistisch Provinz nicht mehr als autonom und geschlossen dargestellt werden kann, und zugleich durchbricht sie den Geschlossenheitseffekt, der von der ästhetischen Form des traditionellen Romans ausgeht« (Mecklenburg 1982: 49). Diese Tendenz – seinerzeit noch »sporadisch zu beobachten« (ebd.: 49) – hat sich bis in die Gegenwart weiter verstärkt. Wobei sich ihre spezifische Spannung auch gegenwärtig daraus ergibt, dass sich anhand imaginärer Dörfer ein Aufeinandertreffen von geschlossenen (mitunter auch: vormodernen) Sozialraummodellen und offenen künstlerischen (modernen und postmodernen) Darstellungstechniken simulieren und die Verschränkung von Lokalität und Globalität thematisieren lässt. Imaginäre Dörfer erscheinen sowohl aus theoretischer als auch praktischer Perspektive als Laboratorien, in denen die unterschiedlichsten persönlichen, historischen und regionalen Erfahrungen mit philosophischen, anthropologischen und politischen Theorien und Theorieversatzstücken gepaart und in einem vermeintlich überschaubaren und handhabbaren Kontext experimentell erprobt und reflektiert werden können. Dies ergibt sich bereits aus dem ursprünglichen Ziel der Dorfgeschichte, »im modellhaften Kontext des ländlichen Raums einen begrenzten gesellschaftlichen Wirklichkeitsausschnitt zu zeigen« (Wild 2011: 337). Denn gerade das »Realitäts- und Reduktionsmodell des Dorfes macht es möglich, Erfahrungen der gesellschaftlichen Modernisierung in personenbezogenen, überschaubaren und ethisch zu regulierenden Handlungszusammenhängen zu erfassen.« (Schönert 2002: 339, zit.

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nach Wild 2011: 341, Anm. 15)17 Dadurch wurde es sowohl in der Literatur als auch in den bildenden Künsten (vgl. Schütte 1997) zu einem Medium der gesellschaftlichen Selbstreflexion – und auch Wunschartikulation – mit kritischem und emanzipatorischem Anspruch (vgl. Lehmann 2011: 120; Wild 2011: 36). Daher waren, so Bettina Wild, die dargestellten Bauern im 19. Jahrhundert immer auch schon »verkappte Bürger« (Wild 2011: 69) und der dargestellte ländliche Raum gleichermaßen »Spiegel der städtisch-bürgerlichen Gesellschaft« (ebd.: 76) und »utopischer Gesellschaftsentwurf« (ebd.: 71). Die Auerbachsche Dorfgeschichte kann daher als »städtische und ländliche Literatur zugleich« (ebd.: 76) betrachtet werden.18 Insofern aber auch schon die literarisch-künstlerische Dorfgeschichte des 19. Jahrhunderts sowohl im Blick auf ihre Autoren als auch Leser vor allem in städtischen Kontexten verhaftet war und zugleich deren Leitbilder transportierte, unterlag sie nicht etwa nur den jeweils gegenwärtigen erzähltechnischen Moden und Experimenten, sondern bot sich selbst als Diskurs- und Versuchsfeld für literarische Neuerungen an. Zum einen wurden an ihr, bspw. von Keller und Hebbel, »immer wieder grundlegende ästhetische und poetologische Fragen erörtert« (Lehmann 2011: 121; vgl. Hein 1974). Zum anderen erschien sie selbst als »Experimentierfeld verschiedener Spielarten realistischen Schreibens.« (Wild 2011: 63) In Bezugnahme auf und im Ausgang von Auerbachs Dorfgeschichten führt Wild dazu aus: »Für ihn dienen die Dorfgeschichte und damit der ländliche Raum als poetisches und gewissermaßen auch als gesellschaftsphilosophisches Labor. Der Mikrokosmos Dorf dient der Erklärung des Makrokosmos bürgerliche Gesellschaft. In diesem ungleich kleineren und damit deutlich überschaubaren Raum können gleichermaßen die Ansprüche der neuen Art des realistischen Schreibens wie auch die Herausforderungen der sich neu formierenden und definierenden bürgerlichen Gesellschaft bewältigt werden.« (Ebd.: 69)

Als ein solches Experimentierfeld im doppelten Sinne ist das imaginäre Dorf auch in seinen gegenwärtigen literarischen und filmischen Erscheinungsformen präsent. Die imaginierten und fiktionalisierten dörflichen Lebensverhältnisse können auch noch unter den heutigen Bedingungen einer fortgeschrittenen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft als Modelle verstanden werden, mit denen sich zentrale Frage-

17 Siehe dazu auch Mecklenburg (1982: 48), der von einem »hermetische[n] Experimentalraum« und »epische[n] ›Versuchslabor‹« spricht, »das es erlaubt, Wirklichkeit auf wenige, leicht kontrollierbare Elemente zu reduzieren.« 18 So sieht auch Martin Greiner in seinem 1958 erschienenen Artikel die Dorfgeschichte »durch ihren literarisch-soziologischen Ort auf der Grenzscheide zwischen bäuerlicher und städtischer Lebensführung« (Greiner 1958: 276) angesiedelt. Des Weiteren spricht er von »Salonbauerntum« und »Sommerfrischenbüchern« (ebd.).

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stellungen des gesellschaftlichen Lebens – v.a. hinsichtlich der Frage nach dem ›guten Leben‹ (bzw. dessen Gegenteil) – aushandeln und in Beziehung zu Vorstellungen sozialräumlicher Gestaltung von individuellen und kollektiven Lebenswelten und Vergesellschaftungsformen setzten lassen. Dies steht nicht zuletzt auch in Verbindung mit nachhaltigen Erschütterungen dieser Fortschrittsvorstellungen und damit auch im Kontext aktueller (bspw. im Blick auf die Finanzmarktkrise) und wiederkehrender (bspw. im Blick auf die verschiedensten Vergangenheitsdiskurse) regionaler und globaler Problemstellungen. Insbesondere in wahrgenommenen Krisen- und Umbruchszeiten erscheinen sie wieder von verstärktem Interesse für eine breitere Autoren und Leserschaft zu sein. Landlebenliteratur, so Jürgen Lehmann, erscheint dadurch als »ein Wahrnehmungsorgan, mit dessen Hilfe gesellschaftliche Umbrüche und Veränderungen erkannt und auf sprachlich hohem Niveau artikuliert werden können.« (Lehmann 2011: 136) Reagiert die Dorfgeschichte des 19. Jahrhunderts als nahezu gesamteuropäisches Phänomen auf die gesellschaftlichen und technischen Umbrüche der Industrialisierung und Modernisierung, die auch eine neue Raumerfahrung nach sich ziehen, dadurch, dass sie diese Entwicklungen teilweise ausblendet, teilweise als unabänderlich darstellt und teilweise ablehnt (Wild 2011: 17), so lässt sich in den gegenwärtigen literarischen und filmischen Dorfbildern eine deutlich kritische Grundhaltung wahrnehmen. Zum einen erscheint das Dorf als etwas, mit dem Sozialkritik geübt wird, zum anderen als etwas, auf das sich Sozialkritik bezieht. Doch kann die Labormetapher nur dann von Bedeutung sein, wenn innerhalb des Labors auch etwas verhandelt wird, was für gegenwärtige Lebenswelten von Relevanz ist. Bereits das obige Zitat von Wild verdeutlicht die grundlegende Funktion imaginärer dörflicher Lebenswelten im historischen Prozess der Aushandlung jeweils gegenwärtiger gesellschaftlicher Wirklichkeit. Diese Funktion können sie, neben anderen Funktionen, aber nur dann haben, wenn der dargestellte poetische Raum in einem besonderen Verhältnis zum real erfahrenen Lebensraum – sei es in der Stadt oder sei es auf dem Dorf – steht. Dieses Verhältnis ist zumindest ein dreifaches (vgl. ebd.: 20). Denn der poetische Raum erscheint erstens als narratives Strukturmoment, das eine bestimmte innerliterarische Ordnung der erzählten Objekte und Figuren erzeugt und bestimmte Geschehensverläufe beeinflusst und damit kognitive Modelle möglicher Welten für die außerliterarische Nutzung erzeugt (Goodman 1984). Zweitens erscheint der poetische Raum als ästhetisches Strukturelement, das bspw. aufgrund bestimmter deiktischer Marker oder aber gewisser erkennbarer Strukturähnlichkeiten (bzw. -überhöhungen oder -verzerrungen) in einem Verhältnis zu lebensweltlich-geografischen Räumen steht und diese quasi lokalisiert. Dabei kann es diese mit Hoffmann (1978) in einer je spezifischen Weise gestalten und wahrnehmbar machen; und zwar als ein gestimmter Raum, der auf den expressiven Charakter seiner Inhalte und deren Beziehung zum erlebenden Subjekt abzielt, als ein Aktionsraum, dem v.a. funktionale Qualitäten für den Hand-

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lungsverlauf zugemessen werden, und schließlich als ein Anschauungsraum, der in seiner bildhaften Statik sich v.a. auf ein betrachtendes Subjekt bezieht (vgl. Petz 2012: 35f.). Drittens schließlich erscheint der poetische Raum als symbolisches Strukturelement, das bestimmte individuelle, historische, soziale und kulturelle Zustände und Veränderungen visualisiert und verbalisiert. Die Art und Weise der Ästhetisierung und Symbolisierung beeinflusst dabei zugleich auch die funktionalen Möglichkeiten der jeweiligen Dorfbilder. Dabei können diese – in Anlehnung und leichter Abwandlung der STADT-BILDER von Andreas Mahler (1999: 25-35) – typologisch zumindest in drei verschieden ausgerichteten, jedoch nicht notwendig voneinander geschiedenen Weisen diskursiv hergestellt werden: als Dörfer des Realen, des Allegorischen und des Fiktiven.19 In den Dörfern des Realen steht der mimetische Abbildcharakter der erzählten Lebenswelt im Mittelpunkt; d.h.: das jeweilige Dorf erscheint als Spiegelung der Realität und gibt sich den Anschein, als würde es sich auf einen bereits real existierenden Ort beziehen (vgl. ebd.: 28). Neben sozialgeschichtlichen Bezügen finden in diesen Geschichten dann auch soziale Erfahrungen sowie die Arbeit an jeweils aktuellen Problemstellungen – Integration und Ausschluss, Gewaltbelastung, individuelles Aufwachsen in Familiennetzwerken und Gemeinschaftsstrukturen, Nachbarschafts-Konzeptionen – ebenso wie wirtschaftliche Themen und Fragen der sozialen Gerechtigkeit ihren Platz. Das damit verbundene realistische Grundmuster ergibt sich aus der traditionellen Form der Dorfgeschichte. Dennoch ist es als Effekt des Textes anzusehen: »Regionalität in einem literarischen Text, also seine ländlich-provinzielle Bestimmtheit, kann niemals als unmittelbares Abbild einer Region oder von Provinz genommen werden, sie ist vielmehr als Spezifikation poetischer Räumlichkeit zunächst immer ein Strukturmoment des Textes und hat als solches an den Funktionen teil, die dem Raum im komplexen Zeichengefüge eines sprachlichen Kunstwerks zukommen.« (Mecklenburg 1982: 31)

In den Dörfern des Allegorischen wird die erzählte Lebenswelt mit Begriffen und Semantiken verbunden, die auf ein anderes als sie selbst verweisen; d.h.: das Dorf bietet den Anlass und die Struktur, um etwas außerhalb seiner selbst liegendes zu symbolisieren. Dies kann sowohl in Bezugnahme auf etwas Größeres – das Dorf als Modell der Welt, des Staats oder der Gesellschaft, als Gegen-Welt, ganze Welt oder als Weltausschnitt (vgl. ebd.: 38f.) – oder auf etwas Kleineres – das Dorf als individueller Erinnerungsort und als Visualisierung psychischer Zustände – geschehen. Gerade aufgrund seines Laborcharakters lassen sich in und mit ihm die verschie-

19 Dass diese drei Formen wiederum allesamt »immer schon ein Produkt der Imagination« sind, wird von Mahler (1999: 25) ebenso angeführt.

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densten Welt-, Selbst- und Raummodelle versinnbildlichen und im Blick auf individuelle und kollektive historische Erfahrungen miteinander verbinden. Dadurch richten sich Allegorisierung und Symbolisierung auch nach innen: auf ein ›Mehr‹, das das imaginäre Dorf im Vergleich zu anderen Lebenswelten bewahrt und transportiert. Einerseits kann es den Ausgangspunkt kultureller psychosozialer Phänomene bilden und als Erinnerungsort bzw. »topographischer Wissensspeicher« (Marszałek/Sasse 2010a: 14) das (Wieder)Erinnern an vergangene, im Untergang begriffene oder aber auch noch gegenwärtige Lebenswelten erzeugen. Es erscheint dadurch als bedeutsame Form des kollektiven und kulturellen Gedächtnisses (Lehmann 2011: 136).20 Andererseits kann es sowohl in realistischem Anstrich als auch in fiktionalisierter Überhöhung bestimmte Sinngebungsprozesse initiieren bzw. Sinnmodelle transportieren und vermitteln. Es erscheint dann als Idylle und AntiIdylle, als anthropologischer Ort und als Nicht-Ort, als metaphysischer Residualraum und als verlorene Lebenswelt, als natürliches Reservoir und totalitaristisches Lager, als Mikro- und als Makrokosmos. Die Dörfer des Fiktiven hingegen stellen ihre eigene zeichenhafte Strukturiertheit aus; d.h.: als rein sprachliche Konstrukte verweisen sie mit ihren je spezifischen sprachlichen Mitteln auf sich selbst in ihrer sprachlichen Gemachtheit und geben sich bereits »an der Textoberfläche als die Konstruktionen zu erkennen […], die sie sind.« (Mahler 1999: 32) So etwa nimmt der dem russischen Konzeptualismus der 1980er Jahre verbundene Vladimir Sorokin in seinem 1994 in Moskau erschienenen Roman ROMAN Ortsbeschreibungen, Handlungselemente und Erzählverfahren der großen russischen Dorfliteratur des 19. Jahrhunderts auf, um anhand ausführlich entworfener Dorfbilder die mit der literarischen Gattung des Romans ebenso wie mit entsprechenden Vorstellungen eines literarischen Realismus verbundenen Totalitäts- und Ganzheitsvorstellungen als Spielarten der ideologischen Besetzung des menschlichen Vorstellungsvermögens und der Literatur selbst vorzuführen; zumindest als poetischer Stoff und Sinnreservoir wird das Dorf damit auch in das Archiv bzw. den Bildervorrat postmoderner Literatur aufgenommen. Indem solche Dörfer des Fiktiven nicht nur den Akt ihrer eigenen sprachlichen Herstellung, sondern auch die konstitutive Zeichenhaftigkeit von Orten und Räumen thematisieren, verhandeln sie zugleich auch die Frage nach der Stellung des Imaginären und Fiktiven in der Lebenswelt. In Péter Esterházys Roman HARMONIA CAELESTIS (2001) – der auch, aber nicht nur, auf dem Dorf spielt – laufen dabei alle drei Darstellungsweisen zusammen: das realistische Abbild, die fiktionale Konstruktion und die allegorische Deu-

20 Vgl. z.B. für die Dorfgeschichte in der DDR-Literatur als Medium der Erzeugung und Vermittlung kollektiver Erinnerungsorte (auch im schulischen Kontext) Schubert-Felmy (2012).

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tung. In einem der 371 Textfragmente, aus denen der erste Teil von Esterházys postmoderner Familiengeschichte besteht, heißt es beispielsweise: »Achtzehntes Jahrhundert: Mein Vater treibt Gänse die Straße entlang (niemals trieb mein Vater Gänse die Straße entlang), pflückt im Straßengraben Gras (niemals pflückte er im Straßengraben Gras), stülpt einen Krug über den Lattenzaun (ein Krug war’s nie), holt Wasser aus dem Brunnen (nein; oder doch, natürlich, er war alles (nichts)), holt Wasser aus dem Brunnen, schärft in der Scheune die Hacke (schärfte die Hacke), füttert die Schweine im Koben, hilft im Stall der Kuh kalben, brennt Holzkohle im Meiler, fegt den Stein der Kirche, richtet auf dem Friedhof das Grab, bringt in der Schmiede das Eisen zum Glühen, läßt den Hengst die Stute decken, schmeißt Kadaver in den Bach, bestellt beim Schuster einen Bundschuh, säuft Schnaps beim Juden, kauft Salz vom Wanderkrämer, sucht sein Recht beim Richter, schlägt im Haus sein Weib, versteckt Tabak im Bett, jagt den Hund über den Hof, drischt den Roggen in der Tenne, wälzt sich mit einem Mädchen im Heu, fährt den Wagen mit dem Neunten zum Lehnsherrn, ißt im Schatten seine Bohnen, läßt den Wind in seine Hose fahren – und mitten in der größten Arbeit lungert wie ein Schwachsinniger die Geschichte im Dorf herum.« (Esterházy 2001: 67f.)

Indem der Erzähler »eine Sache genauso gut wie ihr Gegenteil« (Lyotard 2007: 52) behauptet, löst er das Erzählte von einem legitimierenden Wahrheitsanspruch. Er verwendet Versatzstück des Idyllischen, stellt diesen aber zugleich realistische und auch anti-idyllische Situationen gegenüber. Aber doch ist der Textausschnitt zugleich in all seinen Fragmenten und selbst wiederum als Fragment des Gesamttextes ein umfassendes Sittengemälde des 18. Jahrhunderts auf dem Dorf. Der Vater als Jedermann verweist auf die jeweils spezifischen Unfreiheiten und Freiheiten des Einzelnen. Dabei zeigt sich hier ebenso das Ineinandergreifen von großen und kleinen, politischen und privaten, globalen und lokalen Geschehnissen; heißt es doch nicht umsonst erst am Ende des Zitats, dass immer mit der »Schwachsinnigkeit« – d.h. auch: der Unkontrollierbarkeit und Unberechenbarkeit – der Geschichte, welcher sich letztlich niemand, auch nicht in der entlegensten Provinz, entziehen kann, zu rechnen ist. Ja, möglicherweise dient dieses Dorf dann auch als umfassendes Modell nicht nur der (in satirischer Absicht als grundsätzlich provinziell gekennzeichneten) Lebenswelt des 18. Jahrhunderts, sondern geschichtlicher Abläufe generell. Über die Ankunft seiner Familie auf dem Dorf Mitte des 20. Jahrhunderts schreibt der Erzähler im zweiten Teil des Romans Folgendes: »Zum Hauptplatz führte eine lange, gerade Straße. Wir sahen zu, wie der Himmel zuerst rot, dann blau wurde. Als hätte man uns zu Ehren Freudenfeuer angezündet, aber es war nur ein Haus, das brannte. Auch die Vögel fingen zu singen an, sie dachten wohl, die Sonne sei aufgegangen. ›Ist das die Hölle?‹ fragte ich. ›Nein‹, antwortete mein Vater knapp. In der bizarren

40 | W ERNER N ELL & M ARC W EILAND Beleuchtung erblickten wir seltsame Tiere auf dem Feld. Sie starrten uns an. ›Was ist das, Papa?‹ ›Kühe, mein Junge.‹ ›Was sind Kühe, Papa?‹ ›Eine Kuh ist eine Kuh, mein Junge.‹ Als wir weiter über die immer heller werdende Straße fuhren, begegneten wir neuen Tieren, haarigen, weißen Vierbeinern. ›Wer sind die, Papa?‹ ›Schafe, mein Junge.‹ ›Was sind Schafe, Papa?‹ Mein Vater zerrte mich wütend an seine Knie, als wollte er mich in die Erde rammen, er brüllte mich an, nimmt denn diese Fragerei nie ein Ende? ›Ein Schaf ist ein Schaf, eine Kuh eine Kuh, und das da ist eine Ziege. Eine Ziege ist eine Ziege. Die Ziege gibt Milch, das Schaf Wolle und die Kuh, die gibt alles. Was zum Teufel willst du noch wissen?‹ Ich fing zu heulen an, mein Vater sprach nie grob zu mir, nie.« (Esterházy 2001: 753)

In Zeiten des Sozialismus wurde die Familie Esterházy enteignet und in die Provinz verbannt; der Ausschnitt birgt also möglicherweise historische Erfahrungen, aufgrund derer man geneigt ist, die Szene als authentische Schilderung subjektiver Wahrnehmung der Ankunft auf dem Land zu lesen. Das hier angeführte Zitat stammt jedoch in Teilen aus Frank McCourts Roman DIE ASCHE MEINER MUTTER (ANGELA’S ASHES, 1996), der zugleich als Strukturmodell des zweiten Teils von HARMONIA CAELESTIS dient (vgl. Hemon 2004). In diesem lautet die entsprechende Stelle in der deutschen Übersetzung: »Wir […] machten uns zu Fuß auf den zwei Meilen langen Weg über die Landstraße zum Haus von Großvater McCourt. […] Wir […] beobachteten, wie der Himmel erst rot und dann blau wurde. Auf den Bäumen fingen Vögel an zu zwitschern und zu singen, und als dann die Morgendämmerung kam, sahen wir seltsame Geschöpfe auf den Feldern, die so dastanden und uns ansahen. Malachy sagte, was sindn das, Dad? Kühe, mein Sohn. Was sindn Kühe, Dad? Kühe sind Kühe, mein Sohn. Wir gingen weiter die immer heller werdende Straße entlang, und dann standen da andere Geschöpfe auf dem Feld, weiße, pelzige Geschöpfe. Malachy sagte, was sindn das, Dad? Schafe, mein Sohn. Was sindn Schafe, Dad? Mein Vater bellte ihn an, hört das denn nie auf mit deinen Fragen? Schafe sind Schafe, Kühe sind Kühe, und das da drüben ist eine Ziege. Eine Ziege ist eine Ziege. Die Ziege gibt Milch, das Schaf gibt Wolle, die Kuh gibt alles. Was willst du in Gottes Namen denn noch alles wissen? Und Malachy jaulte vor Angst, weil Dad sonst nie so sprach, nie barsch zu uns war.« (McCourt 1996: 56f.)

Was bei McCourt als subjektive Entdeckung des idyllischen Landlebens mit zwitschernden Vögeln und einem farbenfrohen Lichtspiel der Morgendämmerung erscheint, wird bei Esterházy zur Kulisse des sich ankündigenden alltäglichen Schreckens, mit dem hinzugekommenen brennenden Haus als Vorzeichen der Hölle. Vor dem Hintergrund des vorausliegenden und vorstrukturierenden Textes zeigt Esterházys Text sowohl Bild als auch Gegenbild des Dörflichen. Ein solches Zitat ist in dem Roman kein Einzelfall. Insofern Esterházys narrativ entworfene Raummodelle mit unzähligen intertextuellen Verweisen und Zitaten gespickt sind, ver-

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weisen sie auf ihren eigenen sprachlichen – präfigurierten – Charakter, und damit auch auf die Präfiguration der Wahrnehmung des erzählenden Subjekts und die Refiguration der Wahrnehmung des lesenden Subjekts durch imaginäre Raum- und Ereignisschemata. Das imaginäre Dorf bildet einen Erfahrungsraum aus, der in verschiedenen Kontexten – seien sie literarischer, filmischer oder popkultureller Natur – immer wieder neu angeeignet und in neue Situationen transformiert werden kann, denen sie zugleich ein Erzähl- und Verstehensmodell bieten. Doch verweist hier bereits die innertextuelle Ebene der Konfiguration auf die grundsätzliche Verbindung imaginärer und realer Lebenswelten – und damit auf ihre eigenen Grenzüberschreitungen sowohl in Richtung anderer fiktionaler Werke als auch in Richtung lebensweltlicher Wahrnehmungsweisen und Verstehensprozesse. Im Übergang von der Konfigurations- auf die Refigurationsebene, am »Schnittpunkt zwischen der Welt des Textes und der des Zuhörers oder Lesers« (Ricœur 1988: 114), wird das Wechselverhältnis und die Verschränkung von gelesenen, erzählten und gelebten Räumen sichtbar; auch und gerade unter der Perspektive, dass literarische Raumdarstellungen meist anderen Gesetzmäßigkeiten als der kartografischen Logik gehorchen (Borsó 2007: 279) und die »Landkarte der Literatur tatsächlich niemals deckungsgleich mit der realen Geographie sein kann« (Piatti 2008: 31) – worin gerade auch ihr lebensweltliches Potenzial besteht: den Raum nicht nur innertextuell, sondern eben auch außertextuell (um)gestalten zu können.

R EFIGURATIONEN :

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Imaginäre Dörfer sind Bestandteil sowohl imaginärer als auch lebensweltlicher Topografien. Doch sind solche Topografien eben nicht nur als Repräsentationen und Modelle von Raumordnungen zu verstehen (Hallet/Neumann 2009a: 24), sondern als lebenspraktisch orientierte Wirklichkeitsmodelle. Hartmut Böhme schreibt dazu: »Die Handlungsrelevanz von Topographien bedeutet, daß diese nicht nur Verzeichnungen sondern Vorzeichnungen sind, Vorzeichnungen nämlich möglicher Handlungen. Topographien sind Präfigurationen von Aktionen. Sie performieren einen Aktionsraum.« (Böhme 2005: XIX, Hervorhebungen im Original)

Erst dann, wenn Text- und Lebenswelt als miteinander verschränkt und ineinander übergehend gedacht werden, können auch ihre gegenseitigen Wechselbeziehungen verstanden werden. Die Ebene der Mimesis III beschreibt die Aneignung der narrativen Raum-, Zeit- und Selbstkonfigurationen durch den Leser und bezieht sich eben dadurch auf »die narrative Neugestaltung unseres praktischen Bereiches« (Römer 2010: 297). Auch aufgrund solcher Refigurationen »überwinden Erzählun-

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gen die Barriere zwischen Imagination und Realität.« (Koschorke 2013: 64) Literarische Werke und Traditionen beeinflussen nicht etwa nur die mit den alltagsweltlichen Konzepten von ›Dorf‹, ›Provinz‹, ›Stadt‹ oder ›Metropole‹ verbundenen Lebensräume, Lebensgefühle und Lebensweisen (Burdorf/Matuschek 2008a: 9). Die narrative Ordnung des erzählten Raums dient auch als ein kognitives Ordnungsund Verstehensmodell des erlebten Raums. Narrationen haben einen »maßgeblichen Anteil […] an der Produktion kultureller und erkenntnistheoretischer Vorstellungen von Raum.« (Hallet/Neumann 2009a: 24) Insofern narrative Raumordnungen nicht nur zwischen Realität und Fiktion vermitteln, sondern auch grundlegende Vorstellungen vom ›guten Leben‹ (bzw. dessen Gegenteil) in sich tragen, besitzen sie selbst wiederum ein handlungsleitendes und realitätsstiftendes Potenzial. Verstärkt wird dies noch zusätzlich, wenn der jeweils erzählte Raum den Anschein der Lokalisierbarkeit seiner Schauplätze erzeugt. Durch eben jene situiert er sich direkt in der Lebens- und Erfahrungswelt des Lesers. Dadurch wird er für den Rezipienten »zur Möglichkeitsform erfahrenen und erfahrbaren Lebens überhaupt und damit in die eigene Biographie integrierbar.« (Rose 2012: 51) Aber diese Rückwirkungen lassen sich nicht nur aus einer handlungstheoretischen und kognitiven, sondern eben auch aus einer sozialräumlichen Perspektive feststellen. Indem literarische und filmische Orte sich – als per definitionem mögliche Orte – auf reale lebensweltliche Orte beziehen, stellen sie deren Faktizität zugleich dadurch in Frage, dass sie sie als auch anders möglich erscheinen lassen und die faktische Gestalt realer Orte somit als eine Möglichkeit unter anderen verstanden werden kann (vgl. ebd.: 55). Und so bilden reale räumliche Gegebenheiten nicht nur die Vorlage imaginärer Schauplätze, sondern können, werden und wurden auch nach deren Inhalten und Strukturen umgebildet (vgl. Dennerlein 2009: 1). Insofern schafft und schuf Literatur Raumvorstellungen, die »entscheidend zur Entstehung neuer kultureller Räume beigetragen haben.« (Hallet/Neumann 2009a: 23) »Der Ort der Literatur ist somit ein zweifacher: Zum einen, je nach Grad der Referentialität, innerhalb der empirisch-historischen Realität; zum anderen im System der Literatur selbst. Gerade in dieser Doppelung erscheint die Literatur – und zwar weit stärker als die anderen, nicht-diskursiven Künste – als eine Möglichkeitsvariante des Weltbezugs und der Weltgestaltung, deren Freiheitscharakter nicht zuletzt in jenem Modellcharakter gründet, der sich aus der nie restlos gelingenden Referenz auf die empirische Wirklichkeit ergibt.« (Rose 2012: 55)

Vor diesem Hintergrund entwickeln imaginäre Dörfer eine doppelte Rückwirkung auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Zum einen ist die Beschäftigung mit ihnen mit verschiedenen lebensweltlichen Funktionen verbunden, zum anderen dienen sie, damit zusammenhängend, auch ganz konkrete als Bilder, Modelle und Impulse für sozialräumliches Zusammenleben, die wiederum einen gewissen Anteil an der auch

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architektonischen, raum- und landschaftsplanerischen Refiguration von (urbanen, ruralen und ›rurbanen‹) Lebensräumen haben. So schreibt Doris Bachmann-Medick in Auseinandersetzung mit Arjun Appadurai (1998: 23) in Bezug auf das Imaginäre des konkreten lokalen Raumes: »Keineswegs bleibt das Lokale auf handfeste physische Räumlichkeit beschränkt. Denn es ist geradezu durchsetzt von der Imagination möglicher Lebensentwürfe, die ›von anderswo herkommen‹ und durch die Massenmedien, durch Filme usw. vermittelt werden.« (BachmannMedick 2006: 296)

Gerade solche »imaginären Geographien«21 des Lokalen sind es, die – selbst dann, wenn sie global-grenzüberschreitend verbreitet und vermittelt werden (BachmannMedick 2006: 296) – sowohl das individuelle und kulturelle Selbstverständnis als auch die jeweiligen Fremdbilder prägen.22 Man muss gar nicht soweit gehen und die Umgestaltung real vorhandener Dörfer nach imaginären Vorbildern anführen – beispielhaft sei nur auf die Verbindung von Imagination, Marketing, Infrastruktur und Regionalentwicklung verwiesen, die in den Initiativen LES PLUS BEAUX VILLAGES DE FRANCE und SACHSENS ERLEBNISDÖRFER zum Ausdruck kommt –, es genügt schon ein Blick auf die jeweils individuelle Vorstellung einer gelingenden Alltagspraxis und die medial vermittelten dörflichen Raum- und Sinnorientierungen, die dieser zugrunde liegen. Doch steht dabei zunächst einmal nicht mehr nur die gesellschaftliche Kompensationsfunktion, nach der die imaginären ländlichen Lebenswelten als ideelle Ausgleichsformen für die mit der modernen beschleunigten Lebenswelt einhergehenden Mangel- bzw. Verlusterfahrungen entschädigen, im Vordergrund. Die Wiederentdeckung des Lokalen und damit auch des Dörflichen ist, so Bachmann-Medick, »nicht identisch mit dem Sichern von Rückzugsorten gegenüber den Zumutungen der Globalisierung« (ebd.: 288) und der damit einhergehen-

21 Edward Saids Begriff der »imaginative geographies« (Said 1978) kann auch hier Anwendung finden, beschreibt er doch treffend die symbolischen Repräsentationsformen einer nach jeweils spezifischen Wunsch- oder Schreckensvorstellungen modellierten Räumlichkeit, die die kollektive und individuelle Wahrnehmung lenkt. 22 So hebt z.B. Keith Snell hervor, dass die literarischen Inszenierungen des Dorfes St Mary Mead in Agatha Christies Detektivgeschichten um Miss Marple einen großen Einfluss auf die global verbreiteten Vorstellungen eines englischen Dorfes haben: »[T]he detective fiction of Agatha Christie is the most common way in which the English village has come to be known world-wide. Her fictional St Mary Mead is globally the most widely known village in writing of any form. Millions of people have learnt English by reading about this village, and their presumptions about the English have been saturated with Christie’s discernment.« (Snell 2010: 21)

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den – wiewohl auch nicht außer Acht zu lassenden – Ausbreitung der Nicht-Orte im Sinne Marc Augés (2012).23 Demgegenüber findet sich auch schon bei Mecklenburg (1982: 26) die Diskussion einer Komplementärfunktion, der zufolge die erzählte Provinz nicht auf eine utopische Alternative, sondern auf die Möglichkeiten innergesellschaftlicher Spielräume verweist und diese zugleich gestaltet. Wenn sich das Dorf als Ort der Lebens- und Welterfahrung ansprechen lässt und mit dieser auch, wie bspw. in Jean Pauls Text, eine gewisse Fremdheitskompetenz (vgl. Matthes 1999: 423f.) verbunden ist, so umfasst dies auch die Befähigung und das Wissen, wie man mit anderen leben kann und dass es möglich ist. Die Grundfigur des Dorfes – ebenso wie die Vielfalt der real vorhandenen Dörfer – stellt in diesem Sinne sowohl einen Erfahrungsraum und -vorrat als auch ein Motiv-, Bilder- und Sinnreservoir dar. Fragen gesellschaftlichen Zusammenlebens wie auch Gestaltungsmöglichkeiten eines individuellen Lebens und die damit verbundenen Vorstellungen und Erwartungen auf ein jeweils spezifisch ›gutes Leben‹ können hier ebenso angesprochen, ausgearbeitet und weiter verfolgt werden. Gerade daraus ergibt sich auch Sinn und Funktion der Labormetaphorik: Imaginäre Dörfer bringen individuelle und gesellschaftliche Möglichkeiten und Erfahrungen zur Sprache oder verweisen eben auf das Fehlen dieser Möglichkeiten. Damit verbunden ist ihre grundlegende Orientierungsfunktion: Im Sozial- und Imaginationsraum Dorf wird die Frage diskutiert, wie eine Gesellschaft ist, war, sein kann und (nicht) sein sollte.

23 Im Blick auf die vermeintlich antimoderne Tendenz des gegenwärtigen medialen Rückbezugs auf vormoderne Lebensformen im Rahmen der »Neuen Ländlichkeit« schreibt auch Ulf Hahne: »[Die] Aufwertung ländlicher Lebensweisen kann als antimoderner Reflex im Jahrhundert der Städte abgetan werden, sie kann aber auch als neues Phänomen des Wandels in der Spätmoderne aufgefasst werden, in dem ländliche Räume eine eigenständige Rolle einnehmen.« (Hahne 2011: 12) Dass Regionalismus und Moderne sowohl auf einer literarischen als auch historischen und politischen Ebene in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis stehen, wurde auch schon von Mecklenburg (1982: 11, 31) angemerkt. Dass es sich hierbei auch ökonomisch betrachtet nicht allein um zwei einander ausschließende Konzepte handelt, zeigt wiederum Hahne mit Verweis auf die Verbindungslinien zwischen lokalen und globalen Akteuren: »Ländliche Räume können direkt eingebunden auf der globalen Ebene sein, sie können sich also ohne die Umwege entlang einer räumlichen Hierarchie von Metropolen, Regiopolen und Hinterland direkt in den Austausch etwa mit Metropolen begeben, wie es viele versteckte Weltmarktführer (›hidden champions») mit Sitz in ländlichen Räumen vormachen.« (Hahne 2011: 14)

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Dörfliche Lebenswelten I: Aspekte der Forschung und Gestaltung

Das Dorf (er-)finden Wissensfabrikation zwischen Geschichte und Gedächtnis E RNST L ANGTHALER

E INLEITUNG : G ESCHICHTE

ALS

G EDÄCHTNIS

Das Gedächtnis ist seit geraumer Zeit in aller Munde: »The notion of ›memory‹ has taken its place now as a leading term, recently perhaps the leading term, in cultural history.« (Confino 1997: 1386) Gemäß der modernen, in der Postmoderne fragwürdig gewordenen Auffassung erscheint das Gedächtnis als der Geschichte entgegengesetzte Form historischen Wissens: Die wissenschaftliche Geschichte sei – wenn auch nicht real, so dem Ideal nach – kritisch, faktisch und objektiv; das alltägliche Gedächtnis sei affirmativ, fiktiv und subjektiv (vgl. Kansteiner 2004: 122ff.). Diesem erkenntnisleitenden Gegensatz folgen auch die in den Sozial- und Kulturwissenschaften breit rezipierten Gedächtnismodelle des Historikers Pierre Nora und der Kulturwissenschafterin Aleida Assmann. Im enzyklopädischen Publikationsprojekt LES LIEUX DE MÉMOIRE zieht Nora (1990) eine klare Trennung zwischen Gedächtnis und Geschichte: Während ersteres sakralisierend, gruppenbezogen und punktuell ausgerichtet sei, arbeite letztere entzaubernd, verallgemeinernd und kontinuierlich. Kurz, »das Gedächtnis ist ein Absolutes, die Geschichte kennt nur das Relative« (ebd.: 13). Nora sieht diese Trennung als spezifischen Zug der Moderne und deutet diesen kulturpessimistisch als Herrschaft der Geschichte über das Gedächtnis – als »Entlegitimierung der gelebten Vergangenheit« (ebd.: 13). Dort, wo sich die Geschichte der milieux de mémoire, der gelebten Gedächtnisse, bemächtigt, sieht Nora die lieux de mémoire, die Gedächtnisorte, im Entstehen. Die Gedächtnisorte liegen zwischen Gedächtnis und Geschichte – dem Gedächtnis nicht mehr, der Geschichte noch nicht zugehörig. Die Gedächtnisorte, die als Museen, Archive, Denkmäler, Feste oder Wallfahrtsstätten fassbar werden, schützen das Gedächtnis vor dem Zugriff der Geschichte: »Das Gedächtnis klammert sich an Orte wie die Geschichte an Ereignisse.« (Ebd.: 30)

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Im Gedächtnismodell Assmanns steht die Spannung zwischen ars (Kunst) und vis (Kraft) im Zentrum. Das Gedächtnis als ars, wie es in der rhetorischen Gedächtniskunst seit der Antike geübt wird, bezieht sich auf Verfahren des reproduzierenden Gedenkens nach räumlichen Vorbildern. Dagegen wendet sich seit der Aufklärung immer deutlicher das Gedächtnis als vis, die Kraft der transformierenden Erinnerung in der Zeit. Daraus leitet Assmann die Unterscheidung von Funktions- und Speichergedächtnis ab. Das bewohnte Funktionsgedächtnis umfasst jene lebendigen Erinnerungen, die in der jeweiligen Gegenwart Sinn generieren. Das unbewohnte Speichergedächtnis hingegen – so etwa die institutionalisierte Geschichtswissenschaft – versammelt tote, sinnentleerte Fakten. Zwischen Funktions- und Speichergedächtnis bestehe aber keine Trennung, sondern eine Übergangszone für den »Binnenverkehr zwischen aktualisierten und nichtaktualisierten Elementen«, der die Dynamik des Gedächtnisses ermögliche (vgl. Assmann 1999: 130ff.). Der bei Nora noch scharfe, bei Assmann bereits gemilderte Gegensatz von Geschichte und Gedächtnis stößt zunehmend auf Skepsis, so etwa beim Historiker Peter Burke: »Sowohl die Erinnerung an die Vergangenheit als auch das Schreiben darüber besitzen wohl kaum noch jene Unschuld, die ihnen einst zugestanden worden ist. Wir haben inzwischen erkannt, dass in beiden Verfahren bewusste und unbewusste Auswahlmechanismen, aber auch Deutung und Entstellung zu bedenken sind. Aber weder Auswahl noch Deutung, noch Entstellung sind allein vom Individuum zu verantworten, sie sind vielmehr gesellschaftlich bedingt.« (Burke 1991: 289)

Unterstützung findet dieses Argument beim Soziologen Maurice Halbwachs, der bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Begriff Kollektivgedächtnis (mémoire collective) prägte: »Man kann ebensogut sagen, daß das Individuum sich erinnert, indem es sich auf den Standpunkt der Gruppe stellt, und daß das Gedächtnis der Gruppe sich verwirklicht und offenbart in den individuellen Gedächtnissen.« (Halbwachs [1925] 1985: 23) Doch während Halbwachs das standpunktgebundene Gedächtnis noch scharf von der darüber erhabenen Geschichtswissenschaft schied, weist Burke diesen Gegensatz zurück: »Die Historiographie wird in neueren Studien über deren Geschichte kaum anders behandelt als das Gedächtnis in der Perspektive von Halbwachs, nämlich als Produkt sozialer Gruppen« (Burke 1991: 290) – kurz, Geschichte als Kollektivgedächtnis. Wenn wir mit Burke die Standpunktabhängigkeit jeglichen historischen Wissens anerkennen, dann verflacht auch das Deutungsmachtgefälle zwischen der wis-

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senschaftlichen, Objektivität beanspruchenden Dorfgeschichte1 und dem alltäglichen, notgedrungen subjektiven Dorfgedächtnis – ohne es völlig einzuebnen. Wie die Laien des Dorfgedächtnisses vermischen auch die Experten der Dorfgeschichte als Angehörige einer Interpretationsgemeinschaft inner- und außerwissenschaftlich generiertes Wissen, Fakten und Fiktionen, Funde und Erfindungen. Unterschiede bestehen freilich im Reflexivitätspotenzial, das der Wissensfabrikation (vgl. KnorrCetina 1991) kritische Maßstäbe auferlegt. Die Dorfgeschichte samt ihren sozialund kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen verfügt über ein reiches Arsenal an Werkzeugen, um Fiktionen, denen das alltägliche Dorfgedächtnis anhängt, sowie – freilich nur vorläufig gültige – Fakten zu erkennen. Dieser graduelle Unterschied hinsichtlich des Dekonstruktions- und Rekonstruktionspotenzials ändert jedoch nichts an einer prinzipiellen Gemeinsamkeit der Wissensfabrikation von Dorfgeschichte und Dorfgedächtnis: der vom Beobachterstandpunkt innerhalb einer Interpretationsgemeinschaft nicht völlig unabhängigen Konstruktion des Dörflichen (vgl. Kansteiner 2004: 122ff.). Die standpunktabhängige Konstruktion historischen Wissens in Dorfgeschichte und Dorfgedächtnis ist Gegenstand dieses Aufsatzes. Zum einen beleuchtet er das durch Standpunktabhängigkeit beschnittene Reflexivitätspotenzial der sozial- und kulturwissenschaftlichen Dorfforschung im deutschsprachigen Raum im 20. Jahrhundert.2 Zum anderen unterstreicht er das erhebliche, vielfach unterschätzte Reflexivitätspotenzial des Dorfgedächtnisses am Beispiel einer niederösterreichischen Landgemeinde.3 Beide Felder der Fabrikation historischen Wissens über das Dorf verdeutlichen die zwar begrenzte, aber dennoch stets vorhandene Eigenmacht von Akteuren im Kontext machtvoller Diskurse, hier verstanden als Ensembles geregelter Aussagen zu einem Gegenstand (vgl. Landwehr 2008: 91ff.). Das im ersteren Fall wissenschaftlich, im letzteren alltäglich gepolte Kollektivgedächtnis erscheint jeweils nicht als raum- und zeitumspannendes Sein, sondern als auf das Hier und Jetzt bezogenes Tun. Diese praxeologische (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996) Wendung des Gedächtnisbegriffs fasse ich als doing memory (vgl. Langthaler 1999).

1

Unter »Dorfgeschichte« wird hier nicht die gleichnamige literarische Gattung, sondern die sozial- und kulturwissenschaftliche (historische, soziologische, ethnologische usw.) Dorfforschung in (zumindest einige Jahrzehnte umfassender) zeitlicher Perspektive verstanden.

2

Dieser Abschnitt ist eine gekürzte und aktualisierte Fassung von Langthaler/Sieder (2000a).

3

Dieser Abschnitt ist eine gekürzte und aktualisierte Fassung von Ecker/Langthaler/Neubauer (2002) und Langthaler (2003).

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I M F ELD DER D ORFGESCHICHTE Leitmotiv »Gemeinschaft« Unter den außerwissenschaftlichen Leitmotiven der sozial- und kulturwissenschaftlichen Dorfforschung im 20. Jahrhundert war »Gemeinschaft« zumindest im deutschen Sprachraum das denkmächtigste. Manche Forscher/-innen propagierten es uneingeschränkt, andere distanzierten sich vorsichtig, einige verkehrten es zur Pathologie der Gemeinschaft – aber kaum jemand, der das Dorf erforschte, kam an ihm vorbei. So eignet sich auch die GESCHICHTE DES DORFES, ein aktuelles Überblickswerk für die deutschen Länder, die vom Soziologen Ferdinand Tönnies Ende des 19. Jahrhunderts scharf von der »Gesellschaft« geschiedene »Gemeinschaft« als heuristisches Konzept in selektiver Weise an: Man wolle nach den »historischen Mischungsverhältnissen der Elemente von ›Gemeinschaft‹ und ›Gesellschaft‹ in der Dorfgeschichte« (Troßbach/Zimmermann 2006: 11) fragen. Die Vorstellung der (Dorf-)Gemeinschaft gewann im deutschen Sprachraum Kontur in intellektuellen und forthin popularisierten Selbstbeschreibungen der Gesellschaft in den vergangenen zwei Jahrhunderten. Die Versuche, sich über die gesellschaftliche Ordnung zu vergewissern, fielen mit dem Ringen um einen parlamentarisch-demokratisch verfassten und industriewirtschaftlich geprägten Nationalstaat zwischen der politisch-ökonomischen Doppelrevolution im Vorfeld von 1848 und der Konsolidierung von Parteiendemokratie und Wohlfahrtsgesellschaft nach 1945 zusammen. Die Erfahrung der realgeschichtlichen Umwälzung durch die hereinbrechende Moderne befeuerte die Erwartung einer idealen Ordnung, die sich als sozialharmonische Gemeinschaft von der konflikthaften Gesellschaft abhob. Die Fiktionalisierung sozialer Ordnungsvorstellungen rund um den Kampfbegriff der »Gemeinschaft« entsprang nicht nur der intellektuellen Ambition schmaler Eliten, ›Fortschritt‹ zu denken, sondern auch der verbreiteten Ungewissheit darüber, welche Ordnung sich schließlich anstelle der obsolet gewordenen feudalen Ständegesellschaft etablieren werde. Diese Schwebelage zwischen dem Vergehenden und Kommenden begünstigte säkularisierte Ursprungsmythen und Heilserwartungen, die sich als diametral entgegengesetzte Entwürfe gemeinschaftlich verfasster Gesellschaftsordnungen – einer »klassenlosen« auf der Linken, einer »völkischen« auf der Rechten – äußerten (vgl. Nolte 1997: 285ff., Gertenbach u.a. 2010: 30ff.). Der aufbrechende Gegensatz zwischen den beiden Begriffen, die bis weit ins 19. Jahrhundert weitgehend gleichbedeutend in Gebrauch standen, wurde in Tönnies’ 1887 erschienenem Hauptwerk GEMEINSCHAFT UND GESELLSCHAFT akademisch festgeschrieben und zählt seither im deutschsprachigen Bereich zum Grundrepertoire soziologischer Gesellschaftsdiagnosen (vgl. Riedel 1975) – von

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Max Webers (1922) »Vergemeinschaftung« und »Vergesellschaftung« bis zur Jürgen Habermas’ (1981) »Lebenswelt« und »System«: »Während der Begriff der ›Gemeinschaft‹ oder der ›Kultur‹ im Sinne einer gesellschaftstheoretischen Kategorie auf eine wertrationale, durch lebensweltlich gewachsene Gruppenzugehörigkeiten und Traditionen, individuell zurechenbares Handeln, verhaltensregulierende Normen und kulturelle Sinnvorstellungen konstituierte Form der sozialen Integration zielt, werden mit ›Gesellschaft‹ eher die durch zweckrationale Interessenkalküle, strukturelle Handlungsbedingungen, systemische Mechanismen sowie formalisierte Rechtsbeziehungen geprägten Aspekte und Prozesse der menschlichen Lebensführung benannt.« (Jaeger 1997: 299)

Tönnies charakterisierte in kulturpessimistischer Manier das Dorfleben, zusammen mit dem Familien- und städtischen Leben, als vom Untergang bedrohte Formen dauerhafter, ›echter‹, gefühlsbetonter, traditionaler, selbstzweckhafter, ›warmer‹ und organischer Verbindungen von Menschen im »Zeitalter der Gemeinschaft«; denn großstädtisches, nationales und kosmopolitisches Leben als Formen temporärer, ›künstlicher‹, kalkulierter, moderner, zweckgerichteter, ›kühler‹ und mechanischer Beziehungen gewännen im darauf folgenden »Zeitalter der Gesellschaft« die Oberhand. Gemeinschaftliches (Dorf-)Leben – kurz, »Sitte« – basiere auf den Gemeinschaften des Blutes (Verwandtschaft), des Ortes (Nachbarschaft) und des Geistes (Freundschaft) (vgl. Tönnies [1887] 1979: 207ff.). Tönnies’ Dorfgemeinschaft schließt damit an die vom Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl Mitte des 19. Jahrhunderts geprägte Vorstellung des »Bauerntums« als »Gesittungskreis« der Tradition (»Mächte der Beharrung«) in Konfrontation mit der Moderne (»Mächte der Bewegung«) an (vgl. von Altenbockum 1994: 167ff.). In diesem Kontext erschienen das Dorf und mit ihm die schollenverwurzelte Bauernfamilie als Archetypen jener alteuropäischen Tradition, die an der staatsbürokratischen und marktkapitalistischen Moderne zu zerbrechen drohte. Trotz mancher Gegenentwürfe – etwa der auf Tönnies und dessen Wirkmächtigkeit reagierenden GRENZEN DER GEMEINSCHAFT des Philosophen Helmuth Plessner ([1924] 2002) – setzte sich der Gemeinschaftsradikalismus im deutschen Gelehrtendiskurs durch und wurde nach dem Ersten Weltkrieg weiter politisiert (vgl. Gertenbach u.a. 2010: 44ff.). »Gemeinschaft« diente in der Zwischenkriegszeit antidemokratischen Gruppierungen im linken, vor allem aber im rechten Spektrum als zugkräftiger Kampfbegriff. In der Ideologie des austrofaschistischen »Ständestaates«, die sich auf die Ganzheitslehre des Soziologen Othmar Spann (1921: 191ff.) – mit der egalitären Gemeinschaft als Zelle der hierarchischen Gesellschaft als Organismus – berief, stand die patriarchalische Bauernfamilie als sozialharmonisches Gegenmodell zum polarisierenden Klassenkampf. Schließlich rückte die bäuerliche Dorfgemeinschaft in der expansionistischen und rassistischen »Blut und Boden«-Ideologie ins Zen-

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trum der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« (vgl. Günther 1939), die der Rechtfertigung von Vernichtungskrieg und Völkermord diente. Mit der traumatischen Erfahrung des Zerstörungspotenzials faschistischer und kommunistischer Megaprojekte im »Zeitalter der Extreme« verloren utopische Gemeinschaftsentwürfe in Westdeutschland, Österreich und der Schweiz nach 1945 an Attraktivität – während in Ostdeutschland die Vision der »klassenlosen Gesellschaft« bis 1989 Staatsdoktrin blieb. Der parlamentarisch-demokratische Wohlfahrtsstaat konzentrierte seinen Zeithorizont auf die gegenwartsnahe Zukunft und akzeptierte die kapitalistische Gesellschaft als Reformprojekt. Die Dorfgemeinschaft erschien nun nicht mehr als zukunftsträchtiges Modell, sondern als modernisierungsbedürftiges Relikt der Vergangenheit, das erst in die Gegenwart geholt werden müsse (vgl. Hahn 2005). Mit der Abschwächung sozialer Ungleichheiten in der ideologischen Rede von der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« verloren Stand und Klasse ihre Leitfunktion im ordnungspolitischen Diskurs; bestärkt durch die 68er-Bewegung traten andere Leitkategorien wie Geschlecht, Generation und Ethnie hervor (vgl. Nolte 1997: 285ff.). Die Ausblendung sozialer Ungleichheiten im Inneren der Gesellschaft lenkte den Blick zunehmend auf ihre äußeren »Grenzen des Wachstums« im Sinn kapitalistischer Profitmaximierung. Neue Soziale Bewegungen begannen die gesellschaftlichen Naturverhältnisse, die bipolaren Militärblöcke und die »Dritte Welt« zu problematisieren (vgl. ebd.). Im Sinn von think global – act local, der Maxime umwelt-, friedens- und entwicklungspolitisch Engagierter, gewann der US-amerikanische Kommunitarismus als zivilgesellschaftliches Ordnungsmodell auch im deutschsprachigen Raum an Attraktivität (vgl. Jaeger 1997). Damit reüssierte die (Dorf-)Gemeinschaft für viele erneut als Archetyp einer ›natürlicheren‹, ›friedlicheren‹ und ›gerechteren‹ Lebensweise – ohne jene Polarisierung gegenüber der Gesellschaft zu erreichen wie ein Jahrhundert zuvor. Neben ältere, oft auch fundamentalistische Gemeinschaftsentwürfe traten in der Zivilgesellschaft der Spätmoderne neue »posttraditionale Gemeinschaften«, deren medial vermittelte Netzwerke (social media) kommunitaristische und individualistische Züge flexibel verbanden (vgl. Gertenbach u.a. 2010: 61ff.). Akademische Interpretationsgemeinschaften Die sozial- und kulturwissenschaftliche Dorfforschung im deutschsprachigen Raum im 20. Jahrhundert war in das zuvor skizzierte Diskursfeld um »Gemeinschaft« eingebettet. Ihre Vertreter/-innen besetzten darin verschiedene Standpunkte, die den forschenden Blick auf das Dorf – Fragestellung, Methodik und Interpretation – in bestimmte Richtungen leiteten, wenn auch nicht völlig bestimmten. Diese Standpunkte unterschieden sich nach ihrem jeweiligen – angenäherten oder distanzierten

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– Verhältnis zu Tönnies’ Vorstellung einer zeitlich dauerhaften, räumlich geschlossenen und soziokulturell prägenden Dorfgemeinschaft im Spannungsfeld von Tradition und Moderne. Die Einzelstandpunkte im Diskursfeld lassen sich nach ihren Lagebeziehungen zu Paradigmen, um die sich akademische Interpretationsgemeinschaften versammelten, verdichten. Das älteste Paradigma folgte der Vorstellung einer durch die »völkische Sitte« geleiteten Dorfgemeinschaft. Es erzählte die Geschichte des Dorfes als Ringen der traditionellen Gemeinschaft, die im tragenden »Bauerntum« die ›gesunden‹ Werte des »Volkes« verkörpere, mit den Pathologien der modernen Gesellschaft. Hochkonjunktur hatte dieser Diskursstrang zwischen den 1920er und 1950er Jahren in Gestalt der ethnozentrischen und xenophoben Volksgeschichte, die Geschichte, Geographie, Volkskunde, Soziologie und Philologie zu verbinden suchte. Die theoretisch aus einer Riehl-Renaissance gespeiste und methodisch höchst innovative Volksgeschichte gliederte sich in zwei parallele Zweige: die lokal und regional, an breiten Bevölkerungssegmenten interessierte Kulturraumforschung mit dem Landeshistoriker Hermann Aubin (1925) als Promotor und die national, eng auf das »Bauerntum« fixierte Bevölkerungswissenschaft mit dem »Landvolk«-Soziologen Gunther Ipsen (1933) als Leitfigur. Gemeinsam folgten sie dem durch die Grenzänderungen nach 1918 radikalisierten Bestreben, der Zersetzungstendenz der industriell-urbanen Gesellschaft »deutsch-völkisch« vereinheitlichende Gemeinschaftsmodelle entgegenzuhalten – und damit vor allem im NS-Regime ›anwendungsorientierte‹ Wissenschaft im Dienst des »Volkstums« zu betreiben (vgl. Oberkrome 2003). Die dörflich fokussierte Volksgeschichte zeigte in ihren Befunden eine erstaunliche Varianz. Auf der einen Seite des Spektrums etwa steht die 1939 erschienene Lokalstudie BAUERNDORF AM GROSSSTADTRAND des Soziologen Max Rumpf unter Mitarbeit eines Dorflehrers, die an einer gemischt bäuerlich-proletarischen Landgemeinde nahe Nürnberg eine überraschend »gesund« gebliebene, die »großdeutsche Volksgemeinschaft« stärkende Dorfgemeinschaft vorfand (vgl. Rumpf/Behringer 1939). Auf der anderen Seite findet man etwa die im selben Jahr erschienene Studie EIN DEUTSCHES BAUERNDORF IM UMBRUCH DER ZEIT, die an einer bäuerlich geprägten, stadtfernen Landgemeinde eine Pathologie der Dorfgemeinschaft zeichnet: »negative Auslese« durch die Abwanderung der Höherbegabten; Vernachlässigung von Haushalt und Kinderaufzucht durch die überlastete Bäuerin; Bedeutungsverlust der gemeinschaftsbildenden »Sippe«; Vordringen einer verstädterten, individualistischen und »materialistischen Lebensauffassung«, vor allem in der Jugend; mangelndes »Verhaftetsein mit Volk und Staat« und so fort. Das Fazit lautet: »Aus einer Dorfgesellschaft muss sich wieder eine Dorfgemeinschaft entwickeln.« (Müller 1939: 147) Zwischen den Weltkriegen entstanden vereinzelt auch vom »völkischen« Denken distanziertere Analysen wie DAS DORF ALS SOZIALES GEBILDE des Soziologen

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Leopold von Wiese (1928). Er rezipierte neben der deutschen Tönnies-Schule auch internationale, vor allem US-amerikanische Stränge des Soziologiediskurses. Obwohl an das Begriffspaar »Gemeinschaft und Gesellschaft« anknüpfend, kritisierte er das verbreitete »Bauerntums«-Denken und forderte eine Soziologie der dörflichen »Lebensgemeinschaft« unter Einschluss der nichtbäuerlichen Bevölkerung. Deren Aufgabe sei, »das zwischenmenschliche Verhalten und die – positiven und negativen – Vergesellschaftungen im Dorfe, sowie den Niederschlag dieser sozialen Beziehungen und Gruppierungen in der Auffassung und in der Haltung der Menschen zu beobachten und zu systematisieren« (von Wiese 1928: 6). Dieser Ansatz wies bereits über die bis nach 1945 dominierende Volksgeschichte hinaus. Das folgende Paradigma von Dorfforschungen, das in den 1950er und 1960er Jahren boomte, erzählte die Geschichte des Dorfes als im Zuge der Modernisierung zwangsläufige Anpassung der agrarisch-ländlichen Arbeits- und Lebensweise an industriell-urbane Maßstäbe. In Abwendung von der über 1945 hinaus wirkmächtigen »Blut und Boden«-Ideologie und mit Bezug auf die US-amerikanische Forschung verfestigte sich in Agrargeographie und Landsoziologie die Vorstellung eines »Stadt-Land-Kontinuums« als eines gerichteten Entwicklungsgangs, der von rein ländlichen zu rein städtischen Arbeits- und Lebensformen verläuft (vgl. Hahn 2005). Damit brach die Vorstellung von der räumlichen Geschlossenheit und zeitlichen Beständigkeit der Dorfgemeinschaft auf; vielmehr fokussierte das Modernisierungstheorem überregionale Einflüsse und beschleunigten Wandel. Über die bäuerliche Bevölkerung hinaus weitete sich der forschende Blick auf die ländliche Gemeinde als Konglomerat »globaler Gesellschaften« im Sinn lokaler Subgemeinschaften, in denen »Menschen zusammen wirken, um ihr wirtschaftliches, soziales und kulturelles Leben zu fristen« (Kötter 1972: 12). Das allzu geradlinige Modernisierungstheorem wurde bald relativiert durch empirische Gemeindestudien, in die im Zuge der Reeducation-Bestrebungen erhebliche US-amerikanische Forschungsgelder flossen (vgl. Vonderach 2005). Die »Darmstadt-Hinterland-Studie« STRUKTUR UND FUNKTION VON LANDGEMEINDEN IM EINFLUSSBEREICH EINER DEUTSCHEN MITTELSTADT des Soziologen Herbert Kötter erwies den täglich pendelnden Nebenerwerbslandwirt als Prototyp einer für städtische Randzonen zukunftsträchtigen Arbeits- und Lebensweise, in der sich urbangesellschaftliche und rural-gemeinschaftliche Muster verbanden und wechselseitig beeinflussten (vgl. Kötter 1952: 96ff.). Sie zeichnete sich ebenso wie die Studie DAS DORF IM SPANNUNGSFELD INDUSTRIELLER ENTWICKLUNG im Auftrag des deutschen UNESCO-Instituts, die ein erhebliches Maß an dörflicher Individualisierung feststellte (vgl. Wurzbacher/Pflaum 1954), durch innovative, multimethodische Ansätze aus. Beispielgebend war auch die von der Forschungsgesellschaft für Agrarpolitik und Agrarsoziologie koordinierte Studie über LEBENSVERHÄLTNISSE IN KLEINBÄUERLICHEN DÖRFERN in den 1950er Jahren, die in den 1970er und 1990er Jahren mit ähnlichen Forschungsdesigns wiederholt wurde (vgl. Becker 1997).

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In den 1970er Jahren verengte sich das Modernisierungsparadigma auf den Anspruch, die Fortschritte der Landbevölkerung in ihrer Anpassung an die industriellurbane Gesellschaft mittels standardisierter Erhebungen zu ›messen‹. Das Hindernis für die zum Teil vollzogene, zum Teil noch zu leistende Anpassung an die Moderne sahen die Forscher im cultural lag der ländlichen Akteure – im ›rückständigen‹ Bewusstsein, das an traditionellen Orientierungen festzuhalten schien. Das mehr oder weniger offen deklarierte Ziel der ›Bewusstseinsberichtigung‹ machte diesen Forschungsstrang zur Komplizin des fordistischen Modernisierungsprojekts auf dem Land (vgl. Pongratz 1996: 343f.). Auf diese Weise arbeitete die Dorfforschung tatkräftig an der Auflösung ihres Gegenstandes mit. Folglich wurde in den 1970er Jahren das Ende der Landsoziologie festgestellt; man sprach nun von der »Soziologie der Stadt-Land-Beziehungen« (vgl. Kötter 1977). Mit der Krise des ›bürgerlichen‹ Modernisierungsparadigmas und befeuert von der 68er-Bewegung formierte sich in den 1970er Jahren ein kritisch-emanzipatorisches Forschungsparadigma, das ländliche Klassenverhältnisse mit den Mitteln (neo-)marxistischer Gesellschaftskritik analysierte. Das Erkenntnisinteresse richtete sich auf die Aufspaltung der Dorfgesellschaft in ›akkumulierende‹ und ›proletarisierte‹ Klassen mit je eigenen Bewusstseinsausprägungen – eine Perspektive, die in der ostdeutschen Agrarsoziologie doktrinäre Geltung besaß (vgl. Krambach u.a. 1985). Der gesellschaftskritische Standpunkt der meist jüngeren Forscher im Westen äußerte sich in Studien zum politischen (›falschen‹) Bewusstsein der Landbevölkerung als Ansatzpunkt für emanzipatorische Veränderungen (vgl. Pongratz 1996: 345f.). Seit den 1980er Jahren wich das gesellschaftspolitische Engagement distanzierteren Betrachtungsweisen (vgl. Schmals/Voigt 1986). Kritisch-emanzipatorische Forschungen wählten meist großflächigere Untersuchungseinheiten – so etwa die Dissertation ANALYSE EINER AUSBEUTUNG des Politologen Josef Krammer (1976) über die historischen Klassenverhältnisse und das aktuelle bäuerliche Bewusstsein im ländlichen Österreich. Eine der wenigen Gemeindestudien, in diesem Fall in Westfalen situiert, stammte von der Entwicklungssoziologin Christa Müller. Die Antwort auf die Forschungsfrage: »Durch welche Mechanismen wurde die Transformation der lokalen Ökonomie in ein globalisiertes Dorf begünstigt?« (Müller 1998: 10) zielt mit Bezug auf den Wirtschaftsethnologen Karl Polanyi (1979) auf die »Entbettung« des Wirtschaftens aus den lebensweltlichen Beziehungen der dörflichen Moralökonomie und dessen Einverleibung in das kapitalistische (Welt-)Marktsystem seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Während »neoliberale Einzelkämpfer« profitierten, drängte die Abwertung subsistenzwirtschaftlicher Produktionsweisen Kleinbauern, Gewerbetreibende und Frauen in die Lohnabhängigkeit: »Aus eigenständigen und eigenmächtigen Produzenten werden konsumierende Lohn- und Lohnersatzleistungsempfänger.« (Müller 1998: 59) Gegen die neoliberale Globalisierung mobilisierte sich in den 1990er Jahren eine Bürgerinitiative, die wiederum regionale Warenkreisläufe zu stärken suchte (vgl. ebd.: 183ff.).

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Was bei Müller eher am Rand firmiert, steht im historisch-kulturwissenschaftlichen Forschungsparadigma, das sich seit den 1980er Jahren im Kontext der Neuen Sozialen Bewegungen formierte, im Zentrum: der Eigensinn dörflicher Lebenswelten gegenüber Anreizen und Zumutungen gesellschaftlicher Systeme wie Staat, Markt und Wissenschaft (vgl. Lüdtke 1998, Sieder 1994). Die aus der erneuerten Europäischen Ethnologie, der internationalen Sozial- und Kulturanthropologie sowie der Neuen Kulturgeschichte gespeiste, mithin interdisziplinäre (vgl. Zimmermann 1986: 91) Dorfforschung fragt nicht nach ortsgebundenen und zeitlosen Gemeinschaften und sie misstraut zielgerichteten Großerzählungen wie Modernisierung und Proletarisierung. Das Dorf erscheint weder als sozialharmonische Ganzheit, noch als nach klar umrissenen Schichten oder Klassen differenziert, sondern als von Machtbeziehungen durchdrungenes Kräftefeld, in dem verschiedene Akteure gemäß angeeigneter Denk- und Handlungsmuster um ökonomische, soziale und kulturelle Kapitalien ringen (vgl. Bourdieu 1976, 1993). Die Schlüsselkategorie des Eigensinns unterscheidet sich von den statischen Konzepten »Sitte«, cultural lag und ›falsches Bewusstsein‹ durch ihre Dynamik im Wechselspiel von Struktur und Praxis, in dem die Akteure über begrenzte, aber erhebliche Manövrierräume verfügen (vgl. Lüdtke 1998). Eine in mehreren Teilen erarbeitete Pionierstudie der sich in den 1970er Jahren als »empirische Kulturwissenschaft« erneuernden Volkskunde beleuchtete den Alltag der arbeiterbäuerlichen Einwohnerschaft einer württembergischen Landgemeinde im 19. und 20. Jahrhundert. Während Albert Ilien und Utz Jeggle (1978) das LEBEN AUF DEM DORF sozialpsychologisch als ›Zwangsgemeinschaft‹ – mit der Tendenz, ihren Angehörigen Fremdes aufzunötigen und dadurch die Sehnsucht nach Heimat hervorzutreiben – zeichneten, fokussierten Wolfgang Kaschuba und Carola Lipp (1982) in DÖRFLICHES ÜBERLEBEN auf das »Leben in zwei Welten«. Die arbeiterbäuerliche Doppelexistenz konfrontierte die Familien mit den ›ungleichzeitigen‹ Logiken von ›traditionellem‹ Dorfleben und ›moderner‹ Industriearbeit. Doch anstatt einander zu verdrängen, stützten sich beide Welten wechselseitig: Einerseits subventionierten die Industrielöhne der Männer und die von den Frauen betreuten Parzellenbetriebe einander, was den Familien vor allem in Krisenzeiten eine Subsistenzbasis sicherte. Andererseits federten Verwandtschafts-, Nachbarschafts- und Freundschaftsbindungen industriebetriebliche Entfremdungen ab und stärkten so die arbeiterbäuerlichen Identitäten. Dörflicher Eigensinn meinte hier kein passives Festhalten an der Tradition, sondern die aktive Aneignung wechselnder Anreize und Zumutungen der Moderne. Das historisch-kulturwissenschaftliche Paradigma erbrachte eine Vielzahl weiterer Dorfstudien unter verschiedenen Labels: Die Mikrogeschichte erforschte ›große‹ Phänomene, etwa die frühneuzeitliche Protoindustrialisierung, in ›kleinen‹ Dörfern (vgl. Medick 1997). Die Historische Anthropologie spürte an außergewöhnlichen Fällen, die etwa vor Gericht landeten, der darin eingeschriebenen Normalität

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des Dorflebens nach (Schulte 1989). Die Alltagsgeschichte zeichnete die Aneignung ökonomischer, politischer und kultureller Strukturen, etwa machtvoller Mediendiskurse, in dörflichen Praxisfeldern nach (Langthaler/Sieder 2000b). Die Geschlechtergeschichte erkundete im dörflichen Mikrokosmos die Wirksamkeit von Geschlechterdifferenzen im Zusammenhang mit Unterschieden der Klasse, Generation oder Religion (Ulbrich 1999). Die Kultursoziologie suchte die verborgenen, aber umso wirkmächtigeren Regeln des Dorflebens zu entschlüsseln (Brüggemann/ Riehle 1986). Die Liste ließe sich gewiss noch fortsetzen. Die vorstehende Skizze der wichtigsten Paradigmen der sozial- und kulturwissenschaftlichen Dorfforschung im 20. Jahrhundert zeigt: Die wissenschaftlichen, gesellschaftlich eingebetteten Diskurse über das Dorf fabrizierten über die Angehörigen akademischer Interpretationsgemeinschaften ihren Gegenstand. In diesem Diskursraum nahmen die Paradigmen der Gemeinschaft, der Modernisierung, der Proletarisierung und des Kräftefeldes bestimmte Standpunkte ein. Abbildung 1: Diskursraum der deutschsprachigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Dorfforschung im 20. Jahrhundert

Entwurf des Autors

Der Raum der sozial- und kulturwissenschaftlichen Dorfforschung lässt sich durch zwei Dimensionen bestimmen (Kearney 1996: 108ff.): Die horizontale Dimension unterscheidet ›rechte‹ und ›linke‹ Positionen. ›Rechte‹ Positionen sehen im Dorf ein vorbildliches (romantische Variante) oder anpassungsbedürftiges Element (moderne Variante) nationalstaatlicher Ordnung. ›Linke‹ Positionen verstehen das Dorf als

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Ort des aussichtsreichen (romantische Variante) oder legitimen, aber letztlich hoffnungslosen Widerstandes (moderne Variante) gegen die industriell-kapitalistische Ordnung. Die vertikale Dimension unterscheidet die Positionen von Romantikern und Modernisierern. Romantische Positionen plädieren für das Überleben des Dorfes als Hort der traditionellen »Sitte« (›rechte‹ Variante) oder als Ort dörflichen Eigensinns (›linke‹ Variante). Modernisierer behaupten den Tod des Dorfes, sei es als wünschbares Resultat gesellschaftlicher Modernisierung (›rechte‹ Variante) oder als bedauerte, aber unvermeidliche Proletarisierung (›linke‹ Variante). Gegenüber den hier idealtypisch zugespitzten Unterschieden zwischen den Paradigmen bestehen in der Forschungsrealität Berührungen, Überlappungen und Vermischungen. So etwa verweisen die Konzepte »Sitte«, cultural lag, ›falsches Bewusstsein‹ und Eigensinn allesamt auf die nicht vom Materiellen ableitbare, aber gleichwohl damit verknüpfte Eigenlogik des Ideellen (vgl. Kearney 1996). Zwischenfazit: Das Dorf als Netzwerkknoten Im Raum der Dorfforschung variiert das Maß, in dem das Dorf als zeitlich dauerhaft, räumlich geschlossen und soziokulturell prägend gedacht wird. Während das Gemeinschafts-Paradigma diese Vorstellung am vehementesten vertritt, haben die Paradigmen der Modernisierung, der Proletarisierung und des Kräftefeldes diese mehr oder weniger aufgeweicht. Doch obwohl man die Problematik der alten Vorstellung von Gemeinschaft weithin erkannt hat, erscheint auch in neueren Studien das mit der bäuerlichen Kultur gleichgesetzte ›alte Dorf‹ vor seinem unvermeidlichen Untergang in der Moderne immer noch als dauerhaft, geschlossen und prägend (vgl. Girtler 1996). Das befriedigt zum einen wissenschaftspragmatische Interessen, Dorfforschung nicht allzu komplex werden zu lassen, zum anderen aber auch außerwissenschaftliche Sehnsüchte in einer hektischen, unübersichtlichen und problembehafteten Welt nach Bildern der Ruhe, Überschaubarkeit und Routine – Wünsche, denen sich auch Wissenschafter/-innen nicht immer entziehen können oder, auf den Publikumsgeschmack schielend, wollen. Wie aber kann das Dorf sozialund kulturwissenschaftlich konstruiert werden, ohne dabei in zählebige (Wunsch-) Vorstellungen zu verfallen? Eine Antwort auf diese Frage eröffnet der spatial turn der Sozial- und Kulturwissenschaften (vgl. Döring/Thielmann 2008). Daraus lassen sich für die Dorfforschung zwei Erkenntnisse ziehen: Erstens ist der (Dorf-)Raum nicht (nur) vorgegeben, sondern wird (auch) durch materielle, soziale und symbolische Praktiken von Akteuren erzeugt. Zweitens besteht der (Dorf-)Raum nicht (nur) als Behälterraum innerhalb absoluter Grenzen, sondern entsteht (auch) als Verflechtungsraum aus den Relationen seiner jeweils lokalisierten Elemente. Das Dorf bildet diesem konstruktivistisch-relationalen Raumbegriff nach einen lokalen Knoten, der sich über

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materielle, soziale und symbolische Austauschbeziehungen mit anderen lokalen Knoten zu translokalen, potenziell weltumspannenden Netzwerken verknüpft – ein local village im global village sozusagen (vgl. McLuhan/Powers 1995). Die dörflichen Akteure eignen sich die über Austauschbeziehungen ins Dorf vermittelten ›Dinge‹, ›Menschen‹ und ›Ideen‹ im Sinn der »Glokalisierung« (vgl. Robertson 2001) vor Ort an – gemäß ihrer Stellung im jeweiligen Kräftefeld, gemäß ihrer ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen und gemäß ihrer habitualisierten Denk- und Handlungsmuster. In der Alltagspraxis knüpfen sie die translokalen Netzwerke, die ihr Denken und Handeln vor Ort begrenzen und zugleich ermöglichen, in derselben oder veränderter Weise erneut (vgl. Langthaler 2012a, 2012b). Follow the actors – das Leitmotiv der Akteur-Netzwerk-Theorie, den translokalen Beziehungen der jeweils lokalisierten Akteure zu folgen, vermag auch der sozialund kulturwissenschaftlichen Dorfforschung ein tragfähiges Netz zu spannen (vgl. Latour 2010). Einige dieser translokalen Relationen stellen machtvolle Diskurse dar, die auf das Gerede vor Ort und auf den Alltag der Bewohner/-innen einwirken, indem sie in denk- und handlungsleitende Erzählungen übersetzt werden. Machtvolle (Spezial-) Diskurse gesellschaftlicher Subsysteme (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft usw.) werden überwiegend nicht im Dorf, sondern an anderen Orten hergestellt und über diverse Medien (Zeitschriften, Rundfunk, Filme usw.) und Mediatoren (Prediger, Lokalpolitiker, Lehrer usw.) in die dörfliche Lebenswelt vermittelt. Eben deshalb macht es Sinn, die Akteure im Dorf dabei zu beobachten, wie sie machtvolle Diskurse durch ihr Denken und Handeln vor Ort praktisch werden lassen – und dabei übernehmen, abändern oder zurückweisen (vgl. Sieder 1999: 242ff., Langthaler/Sieder 2000b). Vom Versuch, eine solche Perspektive in der historisch-kulturwissenschaftlichen Dorfforschung umzusetzen, ist nun die Rede.

I M F ELD DES D ORFGEDÄCHTNISSES Versuchsanordnung Einer von mehreren Zugängen zu einer praxeologisch angeleiteten Gedächtnisforschung führt über die Erzähltheorie: »Eine Erzählung stellt eine Form der Rede dar, dank derer jemand jemandem ein Geschehen vergegenwärtigt.« (Martinez/Scheffel 2002: 17) Ausgehend von dieser knappen Begriffsklärung können wir die Merkmale von doing memory ausführlicher benennen: Erstens werden Gedächtnisse narrativ, in Form mündlich, schriftlich, bildlich, gestisch oder anders gestalteter Erzählungen konstruiert. Zweitens werden Gedächtnisse interaktiv, zwischen Erzählern und deren Publikum konstruiert. Drittens werden Gedächtnisse retro- und prospek-

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tiv, im gegenwartsgebundenen Blick auf Vergangenheit und Zukunft, konstruiert. Die Betonung von Narration, Interaktion und Retro-/Prospektive setzt voraus, dass Menschen deutend und handelnd die vorgefundene Welt zu ihrer Welt machen. In diesem Sinn erzeugen Gedächtnisse nicht etwas Irreales, sondern eine Realität sui generis. Erzählen in diesem komplexen Verständnis bezeichnet jedoch nur eine Seite der Konstruktion von Gedächtnissen; die andere Seite umfasst das NichtErzählen: Über etwas zu sprechen heißt zwangsläufig, über anderes zu schweigen. Gerade solche latenten, unausgesprochenen Erzählungen sind auf Grund ihres hohen Maßes an Selbstverständlichkeit vielfach wirksamer als manifeste, ausgesprochene Erzählungen (vgl. Müller-Funk 2002: 87ff.). Im Jahr 2000 erprobte ich gemeinsam mit Bernhard Ecker und Martin Neubauer ein solches Konzept von doing memory in einer historisch-kulturwissenschaftlichen Feldforschung in einer niederösterreichischen Landgemeinde: Wie kommt es, dass Individuen beim lebensgeschichtlichen Erzählen sich mit Kollektiven identifizieren und damit identifiziert werden – und darüber Einverständnis erzielen oder in Streit um das Geschichtsbild geraten?4 Um Antworten auf diese Frage zu finden, arrangierten wir im Lauf des Projektes unterschiedliche Kontexte, die jeweils eigene Erzählspielräume absteckten. Zwar begrenzten diese Kontexte die erzählerische Vielfalt; doch das Zusammentreffen von konkreten Menschen an konkreten Orten zu konkreten Zeiten machte das Erzählen erst möglich. Auf diese Weise intervenierten wir, in höherem oder geringerem Maß, in unseren Forschungsgegenstand. Kurz, wir wurden zu Teilnehmern jenes Geschehens, das wir beobachteten – ein Faktum, das bei der Interpretation der Erzählungen zu reflektieren war (vgl. Langthaler 2002). Im ersten Drittel der Projektlaufzeit führten wir biografisch-narrative Einzelinterviews mit elf Frauen und Männern aus dem Dorf in deren Privatwohnungen durch. Unsere Intervention beschränkte sich darauf, lebensgeschichtliche Erzählungen in Gang zu setzen. Die Erzählungen sollten durch ein hohes Maß an Offenheit gekennzeichnet sein; demgemäß lautete unsere Erzähleinladung: »Wir interessieren uns für die Erlebnisse, die Menschen in der Zeit zwischen den dreißiger und sechziger Jahren an verschiedenen Orten erfahren haben. Ich bitte Sie daher, mir über Ihr Leben zu erzählen.«5 Das zweite Drittel der Projektlaufzeit war der Herstellung

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Das Forschungsprojekt DENK-ORTE. ERINNERN UND VERGESSEN IN DER LÄNDLICHEN KULTUR (Leitung: Ernst Langthaler, Mitarbeit: Bernhard Ecker und Martin Neubauer) lief 2000/01 im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur im Rahmen des Forschungsschwerpunkts Kulturwissenschaften/Cultural Studies.

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Die elf Interviewpartner, sechs Frauen und fünf Männer, gehören den Geburtsjahrgängen zwischen etwa 1910 und 1930 an und stammen aus dem Bauern-, Handwerker- und Lohnarbeitermilieu. In der Interviewführung orientierten wir uns am narrativbiographischen Interview (vgl. Sieder 1998): Haupterzählung, immanentes und exmanen-

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einer Audio-CD gewidmet, die wir der lokalen Öffentlichkeit im Rahmen einer Folkloreveranstaltung in einem Dorfgasthaus vorstellten. In die Erzählung, die sich der Hörerschaft darbot, flossen mehrere Interventionen von unserer Seite ein: Wir wählten ereignisreiche, eindringliche Interviewpassagen aus; wir verfassten Kommentartexte, die auf den manifesten und latenten Sinn des Gesagten Bezug nahmen; wir orientierten uns bei der Gestaltung der CD an einem essayistischen Stil.6 Beide Kontexte, jener der Einzelinterviews in der Privatsphäre und jener der öffentlichen Präsentation, waren wenig geeignet, die narrative, interaktive und retro-/prospektive Konstruktion von Gedächtnissen zu erfassen. Im ersteren Fall fehlten die dafür nötigen Interaktionspartner/-innen, im letzteren Fall entzog sich die Interaktion unserer Wahrnehmung. Aus diesem Grund arrangierten wir im letzten Drittel der Projektlaufzeit einen neuen Kontext. Wir luden eine aus acht Frauen und Männern bestehende Fokusgruppe zu einer Diskussion ein, in der wir Sinn und Zweck der CD zur Debatte stellen wollten. Obwohl ein Projektmitarbeiter die Rolle eines Moderators übernahm, waren Form und Inhalt der Diskussion weitgehend offen. Die Fokusgruppe setzte sich nach Geschlechtern, Generationen, Klassen, Lagern und Milieus vielfältig zusammen: Sophie, geboren 1955, Sozialarbeiterin; Georg, geboren 1956, Vollerwerbsbauer und ehrenamtlicher Mitarbeiter im Arbeiter-Samariterbund; Margarete, geboren 1930, Hausfrau; Theresia, geboren 1925, pensionierte Fabrikarbeiterin und ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Pfarrgemeinde; Friedrich, geboren 1926, pensionierter Angestellter der Österreichischen Bundesbahnen und ehrenamtlicher Tourismusbeauftragter der Gemeinde, Rudolf, geboren 1943, pensionierter Arbeiter der Österreichischen Bundesbahnen, Nebenerwerbsbauer und Obmann des Trachtenvereins; Karl, geboren 1939, pensionierter Installateurmeister und ehemaliger Gemeinderat der Österreichischen Volkspartei;

tes Nachfragen. Die zwei- bis vierstündigen Interviews wurden mittels MiniDiscRecorder aufgezeichnet und anschließend in zwei- bis dreiminütige Spuren gegliedert, die jeweils eine Sinneinheit bilden. Jede Sinneinheit wurde nach Form (Geschichte, Bericht, Beschreibung, Argumentation, Evaluation) und Inhalt mit Hilfe eines Datenbankprogramms beschlagwortet. 6

Die von uns gestaltete Audio-CD erschien 2000 unter dem Titel DENK-ORTE. AUS DEM GEDÄCHTNIS EINES DORFES. In mehreren Abfragedurchgängen wurden aus dem rund 25 Stunden umfassenden Interviewmaterial jene Passagen ausgewählt, die auf der CD veröffentlicht werden sollten. Diese etwa 50 Minuten umfassenden Passagen wurden für die Textanalyse transkribiert, die nach manifester Bedeutung und latentem Sinn des Erzählten fragte. Aus dem Analysematerial entstanden schließlich die etwa 30 Minuten umfassenden Kommentare, die die Interviewpassagen verbinden.

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Irene, geboren 1976, Absolventin des Studiums der Landschaftsplanung und ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Landjugend.7 Die Interpretation dieser Gruppendiskussion erforderte, unser Konzept von doing memory zu verfeinern. Anknüpfend an Maurice Halbwachs’ Vorstellung des Individuums, das sich auf den Standpunkt einer Gruppe stellt und dorthin gestellt wird, begreifen wir die Konstruktion von Gedächtnissen als Bewegung im symbolischen und sozialen Raum. Dahinter steht die Annahme, dass symbolische und soziale Praktiken wechselseitig aufeinander Bezug nehmen. Wer man ist, beeinflusst, was man sagt; umgekehrt wirkt sich der Standpunkt im symbolischen Raum auf den Standort im sozialen Raum aus. Der soziale Raum der Handlungen und der symbolische Raum der Deutungen konstituieren sich aus Beziehungen zwischen einzelnen Positionen. Im einen Fall sind es unterschiedlich mächtige Akteure, die Positionen im sozialen Raum besetzen. Im anderen Fall sind es unterschiedlich mächtige Diskurse, die Positionen im symbolischen Raum bezeichnen. In Sprechsituationen treten diese beiden Räume miteinander in Beziehung: Akteure mit einer bestimmten Sprecherposition im sozialen Raum bringen eine bestimmte Sprechposition im symbolischen Raum zum Ausdruck. Wir bezeichnen solche symbolischen Positionen, die Einzelne oder Gruppen einnehmen können, als Denk-Orte (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, Sperber 1998: 106ff., Hall 1999, Johnson 1996, Woodward 1997). Diese Beziehung zwischen Handeln und Sprechen ist keineswegs beliebig; sie folgt einer »Ökonomie des sprachlichen Tausches«: Die sozialen Positionen von Akteuren strukturieren und sind strukturiert durch die symbolischen Positionen, die

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In der Planung, Durchführung und Analyse der Gruppendiskussion folgten wir entsprechenden methodischen Anregungen (vgl. Flick 1995: 131ff.). Unsere interne Rollenverteilung sah vor, dass Bernhard Ecker, der als einziger nicht im Ort wohnhaft war, die Diskussionsleitung übernahm; Ernst Langthaler vertrat die Position des Forschers; Martin Neubauer achtete als stiller Beobachter auf nonverbale Äußerungen der Teilnehmer/innen. Wir hatten mehrere Impulse vorbereitet, die eine offene Diskussion in Gang setzen sollten. Die Diskussion wurde mit einer Vorstellungsrunde eröffnet; daran schloss eine Schilderung der Hörsituationen an; danach fragten wir nach dem Lokalspezifischen, das auf der CD zu hören war oder darauf fehlte. Den weiteren Verlauf ließen wir offen und streuten je nach Bedarf zusätzliche Impulse ein. Die etwa zweieinhalbstündige Diskussion, die wir auf MiniDisc aufzeichneten, wurde vollständig transkribiert, in Sinneinheiten gegliedert und auf fünf Ebenen analysiert: Kontext der Gesprächssituation, Paraphrase des Gesprächsinhaltes, Assoziationen zu vorangegangenen Sinneinheiten, manifeste Bedeutung und latenter Sinn der Äußerungen. Nach einer Grobanalyse des gesamten Transkripts, die wir einzeln durchführten, erfolgten Feinanalysen einzelner Sinneinheiten und die Theoriebildung in der Gruppe.

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sie sprachlich zum Ausdruck bringen. Sprechen erscheint aus dieser Sichtweise als Tauschvorgang, der durch Nachfrage und Angebot auf einem sprachlichen Markt bestimmt ist. Das Angebot, die Neigung eines Akteurs zu bestimmten Aussagen, erwächst aus den verinnerlichten Strukturen des Habitus, den im Lauf der Lebensgeschichte einverleibten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata. Die Nachfrage, die Unterscheidung zulässiger und unzulässiger Aussagen, wird durch die äußerlichen Strukturen des sprachlichen Marktes in Form machtvoller Diskurse bereitgestellt, die über Medien und Mediatoren Dauerhaftigkeit erlangen. Im Wechselspiel von Habitus und Diskurs entwickeln Akteure bewusste und unbewusste Deutungs- und Handlungsstrategien, um Profit auf dem sprachlichen Markt zu erzielen (vgl. Bourdieu 1990). Doing village memory Der erste mögliche Denk-Ort war durch die CD vorgegeben. Wo werden sich nun die Teilnehmer/-innen der Gruppendiskussion in Bezug auf das veröffentlichte Dorfgedächtnis verorten? Ohne die Bewegungen der einzelnen Sprecher/-innen im Detail nachzuzeichnen (vgl. Ecker/Langthaler/Neubauer 2002), soll der Verlauf der Diskussion hier grob skizziert werden. Die Sprecher/-innen nützen in den ersten Etappen der Diskussion das affirmative Potenzial der CD; sie gruppieren sich im Zentrum, im Nahbereich oder am Rand einer imaginierten Dorfgemeinschaft. Dabei erscheinen die Topoi von ›Fleiß und Genügsamkeit‹, ›Gemütlichkeit‹ und ›Bodenständigkeit‹, um die sich die Individuen scharen, als Gravitationszentren eines kollektiven Gedächtnisses. Vermutlich bezeichnen diese drei Denk-Orte das, was man das »Ethos des Dorfes« nennen könnte: die Neigung zu wie der Ausdruck von einer dörflichen Lebensform. ›Fleiß und Genügsamkeit‹, ›Gemütlichkeit‹ und ›Bodenständigkeit‹ erscheinen als jene unhinterfragten Gewissheiten, in deren Gestalt kulturelle Repräsentationen von bäuerlich-handwerklichen Gruppen bestimmend für einen Großteil der Dorfgesellschaft geworden sind. Das dörfliche Ethos konturiert durch räumliche Differenzen nach außen hin eine Lokalidentität, die klassen-, geschlechter- und generationenspezifische Differenzen im Inneren verblassen lässt (vgl. Lindner 1994). Fleißig und genügsam, gemütlich und bodenständig – so sieht sich die typische Gemeindebewohnerin und der typische Gemeindebewohner, und so möchten sie und er von anderen gesehen werden.

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Abbildung 2: Diskursraum des Dorfgedächtnisses einer niederösterreichischen Landgemeinde im Jahr 2000

Entwurf des Autors

Die weitere Diskussion nimmt dann einen ambivalenten Verlauf. Einerseits zeigt sich das Dorfgedächtnis über weite Strecken als zähe, reproduktive Struktur. Die Topoi ›Fleiß und Genügsamkeit‹ sowie ›Bodenständigkeit‹ werden von niemand auch nur ansatzweise hinterfragt. Andererseits wird das Dorfgedächtnis in gewisser Weise auch als flüssige, transformative Struktur fassbar. Indem einige Sprecher/innen das kritische Potenzial der CD entfalten, stellen sie den Denk-Ort der ›Gemütlichkeit‹ in Frage. Es sind die Vertreter/-innen der mittleren Generation, die in den 1940er und 1950er Jahren Geborenen (Karl, Sophie und Georg), die das unausgesprochene Schweigegebot der älteren Sprecher/-innen brechen, die sich im Kernbereich des Dorfgedächtnisses eingefunden haben (Friedrich, Theresia, Margarete und Rudolf). Sie betreten ein vermintes Gelände: »das Politische« im Allgemeinen, die nationalsozialistische Ära im Besonderen; darüber zwingen sie die »Zeitzeugen«, klarer Position zu beziehen. Zunächst können die Älteren konfliktträchtige Topoi umgehen, indem sie das Handeln der dörflichen Elite – Bürgermeister, Pfarrer, Lehrer – erörtern. Doch bald betritt Theresia das gefährliche Terrain des alltäglichen Handelns der Dorfbevölkerung. Sie schildert ihr aufmüpfiges »Heil Hitler«-Schreien vor den Ohren der Eltern nach dem »Anschluss« Österreichs an Nazi-Deutschland 1938. Dies wird vor allem gegenüber den Jüngeren erklärungsbedürftig; Externalisierung und Infantilisierung bieten sich als Auswege an: Den ohnmächtigen Kindern wird das Politische von mächtigen Erwachsenen »eingeimpft«, wie sie sagt. Auf diese Weise besetzt sie den Denk-Ort des Opfer-Seins. Dieser Rückzug auf den außerdörflichen Opfer-TäterDiskurs (vgl. Uhl 2001) veranlasst Karl, den Weg zurück ins Dorf zu gehen. Er

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lokalisiert die ehemaligen Soldaten der Deutschen Wehrmacht, denen er zumindest Mitwisserschaft unterstellt, im Denk-Ort des Täter-Seins. Friedrich, der einzige ehemalige Wehrmachtssoldat in der Diskussionsrunde, gerät nun unter Druck, das Soldaten-Kollektiv zu verteidigen. Die Mangelgesellschaft der 1930er Jahre, so die Argumentation, habe die Verführbarkeit durch die Nationalsozialisten erst ermöglicht. Noch einmal kommt ihm Karl entgegen, indem er Verständnis für die Verführungskraft des Nationalsozialismus bekundet; doch dann lokalisiert er die Diskussion endgültig im Dorf. Er prangert diejenigen Stammtischbesucher an, die von der NS-Zeit nicht nur keinen Abstand genommen haben, sondern diese Ära sogar noch verherrlichen. Noch werden keine Namen genannt, aber unmissverständlich hat die imaginierte Dorfgemeinschaft Risse bekommen. Es leben auch Täter im Ort – ehemalige Wehrmachtssoldaten, die Partisaninnen getötet haben und ihre damaligen Taten noch heute verherrlichen. Nun ist das Kampffeld abgesteckt; es entsteht ein offener Schlagabtausch zwischen der älteren und der jüngeren Generation. Auch die Forscher geraten nun zwischen die Fronten, weil manche ihrer Fragen als Regelverletzungen empfunden werden. Im Zuge dieses Wortgefechts pendeln die Sprecher/-innen mehrmals zwischen dem veröffentlichten Dorfgedächtnis und den beiden Sphären des Politischen. Die Leitfiguren dieser Konfrontation sind Friedrich als Verteidiger der dörflichen ›Gemütlichkeit‹ und Karl als deren Ankläger. An beiden Kontrahenten lassen sich die Wechselwirkungen von Habitus und Diskurs exemplarisch zeigen. Friedrich wie Karl werden durch Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster, die sie sich im Lauf ihrer jeweiligen Lebensgeschichten einverleibt haben, zu bestimmten DenkOrten hingezogen: der eine als ehemals vom NS-Regime faszinierter Hitlerjunge und Wehrmachtssoldat, der sich mit dem Vorwurf des Mitmachens und -wissens konfrontiert sieht; der andere als Sohn einer Betroffenen und eines Augenzeugen des NS-Terrors, der die Hitlerjugend- und Soldatengeneration mit dem Vorwurf des Mitmachens und -wissens konfrontiert. Machtvolle Diskurse, die mögliche DenkOrte markieren, üben Anziehungskraft auf Friedrich und Karl aus: im Fall des ersteren Spielarten des Opfer-Diskurses, etwa Guido Knopps Fernsehdokumentation HOLOKAUST, welche die Verantwortung der wenigen Mächtigen für Krieg und Genozid betonen (vgl. Kansteiner 2003);8 im Fall des letzteren Varianten des Täter-

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Diese dreiteilige Fernsehdokumentation des ZDF-Fernsehhistorikers Guido Knopp über den nationalsozialistischen Genozid wurde im Jahr 2000 von deutschen und österreichischen Sendern ausgestrahlt.

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Diskurses, etwa die »Wehrmachtsausstellung«, die den Vielen eine direkte oder indirekte Mitverantwortung an den NS-Verbrechen zuschreiben (vgl. Heer 2002).9 Die Schärfe der Auseinandersetzung erklärt sich nicht allein aus dem Spannungsverhältnis von Verteidigern und Anklägern, die zeitlich befristete Bündnisse mit anderen Anwesenden eingingen. Die Diskussion über Mitwisser- und Mittäterschaft in der NS-Zeit war wohl auch darum so heftig, weil so unterschiedliche Auffassungen über die private und öffentliche Tradierung dieses Wissens an die jüngere Generation bestanden. Vor diesem Hintergrund wurden die Forscher weniger über Beruf, Geschlecht oder Herkunft, sondern vor allem über ihr Alter auch als Mitspieler wahrgenommen. Unser Interesse an einer Zeit, die wir selbst nicht erlebt hatten, ließ uns, je nach sozialer und symbolischer Position des jeweiligen Sprechers, als Verbündete oder Gegner im Tauziehen um Anerkennung erscheinen. Zusammen mit einigen Jüngeren repräsentierten wir die Generation der »Nachgeborenen«, gegenüber der die Generation der »Zeitzeugen« ihre Deutungen und Handlungen zu rechtfertigten suchte. Vielleicht war aber gerade Irene, die jüngste und schweigsamste Teilnehmerin, diejenige, um deren Anerkennung die Kontrahenten am heftigsten rangen. Sie erhielt, ohne dass dies jemand beabsichtigt hätte, zusehends die Rolle einer über den Streitparteien stehenden Richterin zugesprochen – eine Rolle, die sie schließlich auch wahrnahm. Am Ende der heftigen Kontroverse stand Irenes salomonischer Vorschlag eines Denkmals für die Opfer des kurz vor Kriegsende durch das Dorf ziehenden »Todesmarsches« jüdischer Häftlinge am Friedhof und ihr Plädoyer gegen die Verurteilung einer Zeit, in der man nicht selbst gelebt hat. Damit war gewissermaßen das versöhnliche Schlusswort einer konfliktreichen Debatte gesprochen. Auf diese Weise wurde am Ende der Diskussion die Dorfgemeinschaft in der Imagination wieder hergestellt. Zwischenfazit: Das Dorfgedächtnis als Kräftefeld Die genaue Lektüre der Gruppendiskussion widerspricht allen Vorstellungen von raum- und zeitübergreifenden Gedächtnissen; vielmehr erscheint das Kollektivgedächtnis des Dorfes in synchroner Perspektive als heterogen und in diachroner Perspektive als dynamisch. Die Heterogenität und Dynamik des dörflichen Kollektivgedächtnisses speisen sich aus dem Wechselspiel zweier grundlegender Gedächtnispraktiken: Gedenken und Erinnern. Unser spezieller Fall zeigt, dass sich weder Aleida Assmanns (1999) Komplementaritätsmodell noch Pierre Noras (1990) Konfrontationsmodell generalisieren lassen. Zu Beginn der Diskussion überwiegt die

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Die Ausstellung VERNICHTUNGSKRIEG. VERBRECHEN DER WEHRMACHT 1941 BIS 1944 wurde in den 1990er Jahren in Wien und einigen österreichischen Landeshauptstädten gezeigt.

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Komplementarität zwischen den Denk-Orten erster Ordnung und der CD als DenkOrt zweiter Ordnung. Doch bald zeichnet sich – zunächst unbemerkt und erst in der nachfolgenden Analyse erkennbar – die kommende Konfrontation ab. Ab nun werden Verschärfung, Höhepunkt und Abklingen der Konfrontation zwischen DenkOrten erster Ordnung und massenmedialen Diskursen als Denk-Orten zweiter Ordnung fassbar. In der Auseinandersetzung um Mitwisser- und Mittäterschaft in der NS-Zeit manifestiert sich nun besonders deutlich das Wechselspiel von Gedächtnis und Geschichte (im Sinn Noras), von Funktions- und Speichergedächtnis (im Sinn Assmanns). Einerseits zwingen machtvolle Gedächtnisdiskurse die Subjekte in vorgegebene Positionen. Die Vehemenz, mit der Friedrich gegen die von Karl vertretene Täter-Position der »Wehrmachtsausstellung« seine Opfer-Position verteidigen muss, verdeutlicht die Dominanz der Geschichte beziehungsweise des Speichergedächtnisses. Die CD dient ihm in diesem symbolischen Abwehrkampf, gleich einer Bastion, als lieu de mémoire. Andererseits ermöglichen machtvolle Gedächtnisdiskurse den Subjekten, sich vorgegebene Positionen zu eigen zu machen. Die Vehemenz, mit der sich Friedrich als Opfer darstellt, speist sich auch aus der selektiven Aneignung der Fernsehdokumentation HOLOKAUST; dies steht gewissermaßen für die Dominanz des Gedächtnisses beziehungsweise des Funktionsgedächtnisses. Populäre und elitäre Gedächtnisdiskurse stecken Erzählspielräume ab, indem sie Äußerungen von Akteuren erzwingen und ermöglichen. Diese Zwänge und Möglichkeiten werden in praxi erst dann wirksam, wenn Sprecher/-innen in Interaktion mit anderen solche Diskurse in Erzählungen umformen. Kurz, Positionen für Subjekte und Positionierungen durch Subjekte im Kräftefeld des Dorfgedächtnisses sind wechselseitig aufeinander bezogen. Einmal gehen sie ein konfrontatives Verhältnis ein, ein andermal ein komplementäres. Wie unsere Studie gezeigt hat, ist in solchen Sprachspielen auch die Dynamisierung statischer Geschichtsbilder angelegt.

S CHLUSSFAZIT : E RFINDEN ,

UM ZU FINDEN

Was sich in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Debatte über Geschichte und Gedächtnis im Allgemeinen abzeichnet, zeigen Dorfgeschichte und Dorfgedächtnis im Besonderen: Sie repräsentieren nicht den ›objektiven‹ und ›subjektiven‹ Teil eines epistemologischen Gegensatzpaares, sondern zwei Spielarten der Fabrikation historischen Wissens, die zu einem erheblichen Teil – wenn auch nicht zur Gänze – von den Standpunkten der Akteure der jeweiligen Interpretationsgemeinschaft abhängen. In beiden Feldern fabrizieren herrschende Diskurse und diese in Erzählungen übersetzende Akteure im Zuge des doing memory hybride Wissensformen, die ›objektive‹ und ›subjektive‹ Momente verschmelzen. Kurz, um das Dorf zu finden, muss man es erfinden.

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Die Vermessung der beiden Felder historischer Wissensfabrikation hat überraschende Erkenntnisse über das jeweilige Reflexivitätsniveau erbracht. Im Feld der sozial- und kulturwissenschaftlichen Dorfforschung beschnitten die erkenntnisleitenden Paradigmen akademischer Interpretationsgemeinschaften die Reflexion ideologischer Einflüsse. Unter den Leitmotiven akademischer Interpretationsgemeinschaften war im 20. Jahrhundert das Spannungsverhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft das wirkmächtigste. Je nach weltanschaulichem Standpunkt gerieten Forscher/-innen in Komplizenschaft zur Dorfgemeinschaft, deren »Sitte« (rechte Romantiker) oder Eigensinn (linke Romantiker) als Stütze dörfliche Eigenständigkeit erschien, oder zur Gesellschaft, die sich via Modernisierung (rechte Modernisierer) oder Proletarisierung (linke Modernisierer) des Dorfes bemächtigte. An diese Komplizenschaft knüpften sich in höherem oder geringerem Ausmaß vereinfachende (ethnozentrische, antimoderne, teleologische usw.) Denkschablonen, die der Komplexität der dörflichen Welt nicht gerecht wurden. Im Feld des Dorfgedächtnisses einer niederösterreichischen Landgemeinde vermochte die Intervention eines Forschungsprojekts eine Reflexion eingefahrener Geschichtsbilder in Gang zu setzen. Einerseits zwangen machtvolle Gedächtnisdiskurse die Subjekte in vorgegebene Positionen; andererseits ermöglichten sie diesen, sich vorgegebene Subjektpositionen zu eigen zu machen. Diese Zwänge und Möglichkeiten wurden in praxi erst dann wirksam, wenn Sprecher/-innen in Interaktion mit anderen solche Diskurse in bedeutsame Erzählungen umformten. In der Auseinandersetzung um die dörfliche Mitwisser- und Mittäterschaft in der NS-Zeit manifestierte sich das teils konfrontative, teils komplementäre Wechselspiel von Gedächtnis und Geschichte (im Sinn Noras), von Funktions- und Speichergedächtnis (im Sinn Assmanns). Kurz, die Dorfgeschichte zeigt sich weniger reflexiv, das Dorfgedächtnis reflexiver als der klassisch-moderne Gegensatz von Geschichte und Gedächtnis nahelegt. Man wäre nun versucht, aus der epistemologischen Dialektik von Erfinden und Finden des Dorfes im radikal-postmodernen Sinn die Gleichsetzung der Geschichte mit dem Gedächtnis – und damit deren illusionären Wissenschaftlichkeitsanspruch – abzuleiten. Dagegen möchte ich aus gemäßigt-postmoderner oder, was etwa auf dasselbe hinausläuft, reflexiv-moderner Perspektive einwenden: Auch wenn wir die Geschichte als Gedächtnis einer wissenschaftlichen Interpretationsgemeinschaft auffassen, unterscheidet sich dieses von außerwissenschaftlichen Kollektivgedächtnissen hinsichtlich der Regulative der Wissensfabrikation. Wie etwa unsere Feldforschung gezeigt hat, verfügen bereits alltägliche Gedächtnisgemeinschaften über erhebliches Reflexivitätsspotenzial. Dies gilt umso mehr für die Interpretationsgemeinschaft der historischen Sozial- und Kulturwissenschaften: Wendet eine (selbst-)reflexive Dorfforschung ihre Theorie- und Methodenwerkzeuge auf sich selbst an, dann vermag sie über die Erkenntnis ihrer Stellung im akademischen Feld auch die damit verbundene Standpunktabhängigkeit zu erkennen – und wenn schon

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nicht auszuschalten, so doch zu kontrollieren. Wissenschaftliche (Selbst-)Reflexivität hebt zwar die Dialektik von Erfinden und Finden nicht auf; denn wir können die Dorfwirklichkeit nie an sich, sondern immer nur für uns erkennen. Doch sie vermag ein weniger ideologisch grundiertes und realitätsgerechteres Wissen über das Dorf zu erzeugen.

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D AS D ORF ( ER -) FINDEN

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Fragile Räume, fragile Körper Überlegungen zur Erforschung ländlicher Gesellschaften D IETLIND H ÜCHTKER

Vor Kurzem, genauer am 18. Februar 2014, erschien in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG der Artikel »Kabelschau. Energiewende ja, Stromleitung nein? Im Kampf gegen die ›Monstertrassen‹ zeigt sich die Identitätskrise der Moderne« (Matzig 2014: 9). Der Beitrag beschäftigt sich mit den Planungen quer durch das Land führender Stromtrassen, die erneuerbare Energie transportieren sollen. Die Windkraftanlagen der in Norddeutschland gewonnenen Windenergie stehen ähnlich in der Kritik wie die »Monstertrassen«. Ausgerechnet gegen die Infrastruktur der Energiewende gründen sich derzeit aller Orten Bürgerinitiativen, die »Eingriffe ins Landschaftsbild«, »Elektrosmog«, die akustischen Auswirkungen des Stromtransports, Verschattung durch Windkraftanlagen und Wertverlust ihres Besitzes beklagen. Die politischen und ethischen Dilemmata, die diese Planungen regelmäßig und auch in diesem Artikel aufwerfen, sind nicht überraschend: erneuerbare Energie ja, aber nicht vor meiner Haustür, Schutz des individuellen Körpers und Besitzes gegenüber Gemeinschaftsinteressen, deutlich teurere Stromanlagen unter der Erde oder »wir verzichten auf ein Mehr an Strom, um ein mehr an Umwelt zu erhalten« (ebd.). Über die Verknüpfung der Kritik an Strommasten mit einem gesamtgesellschaftlichen Umdenken hinaus geht es dem Autor um »die Bilanz einer Ära zwischen Elektrifizierungseuphorie einerseits und der Kritik an ihrer zunehmend als Umweltzerstörung wahrgenommenen Infrastruktur andererseits. Letztlich ist es die Moderne selbst, die in der Krise ist« (ebd.). Der Artikel konstatiert einen grundlegenden Wandel im Verhältnis zwischen Technik und Gesellschaft. Die Konkurrenz zwischen Natur und Kultur bzw. präziser zwischen Technik und Umwelt verschärft sich hin zu einer neuen Qualität. Diese Verschiebungen als eine »Identitätskrise der Moderne«, als »Bilanz einer Ära«, zu bezeichnen, verweist nicht nur auf die Wahrnehmung eines fundamentalen Wandels, denn eine »Krise der Moderne« ist nicht neu, sie wurde schon um 1900 dia-

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gnostiziert – von den Zeitgenoss/innen wie von späteren Beobachter/innen. Es geht offenbar auch um die Bedeutung des Ländlichen selbst als Natur, Umwelt und Landschaftsbild. Ausgehend von dieser Gegenwartsdiagnose werde ich im Folgenden einige eher essayistische Überlegungen über Historizität und die Bedeutung von ländlichen Gesellschaften anstellen. Der genannte Artikel berührt nämlich Debatten, die seit einiger Zeit in den geistes- und sozialwissenschaftlichen (historischen wie ethnologischen, kulturwissenschaftlichen, literatur- oder medienwissenschaftlichen) Fachrichtungen Beachtung finden: die Beziehungen zwischen Mensch und Tier oder Mensch und Technik, Umwelt und Geschichte, zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Wer oder was sind historische Akteure und was strukturelle Regeln? Wie gehen Technik, Tiere und Pflanzen, Umwelt, Klimafaktoren in Geschichte und Gesellschaft ein? Vor dem Hintergrund des cultural turns sind die Heterogenität historischer und sozialer Phänomene, die Akteursperspektive und die Praxis als gleichermaßen strukturiert und strukturierend (Pierre Bourdieu) selbstverständlich auch in den Forschungen zur Agrargeschichte angekommen. Die großen Theorien über Guts- und Grundherrschaft, Realteilung und Anerbenrecht oder Idealtypen landwirtschaftlicher Produktionsweisen abgeleitet von Landschaft, Bodenqualität u.a. haben ausgedient zugunsten Forschungen entlang von Lebensverläufen, Erfahrungen, Deutungsmustern, diskursiver Praxis etc. Włodzimierz Mędrzecki (2002) beschäftigt sich mit der für die Geschichtswissenschaft zentralen Frage des Wandels – und untersucht ihn für den Raum, der als Hort der Tradition, als nachholend gilt: das Land. Er hinterfragt anhand seiner Untersuchungen zur Sozialisation polnischer Jugendlicher im geteilten Polen und der Zweiten Republik die immer wieder anzutreffende Annahme, Wandel auf dem Land resultiere aus einem Generationenwechsel und dem Einfluss städtischer Kultur. Er wendet sich dagegen, die Jugend per se sowie Migration im Besonderen als entscheidende Faktoren anzusehen. Erich Landsteiner und Ernst Langthaler konstatieren im Themenheft LANDWIRTSCHAFTSSTILE der HISTORISCHEN ANTHROPOLOGIE von 2012, dass die Großthese vom Untergang des Bauerntums im 20. Jahrhundert, wie sie beispielsweise von Eric Hobsbawm und Hans-Ulrich Wehler vertreten worden ist, an Überzeugungskraft verloren habe. (Landsteiner 2012: 273; Langthaler 2012: 276) Stattdessen betonen sie die Heterogenität des bäuerlichen Wirtschaftens nicht nur in globaler Perspektive, sondern auch in Europa jenseits von Entwicklungslinien wie einem Nord-Südoder Ost-Westgefälle oder von Familien- zu agrokapitalistischen Großbetrieben. Angelehnt an das Konzept der »Landwirtschaftsstile« von Jan Douwe van der Ploeg untersucht das in dem Heft vorgestellte österreichische Forschungsprojekt mit Ansätzen von Bruno Latour (Akteure-Netzwerke), Pierre Bourdieu (Habitus) und Michel Foucault (Diskurs) die sozio-technischen Netzwerke ländlicher Gesellschaften als Verknüpfungen von symbolischem, sozialem und materiellem Raum. Kann

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(und sollte) man dieser komplexen Anlage eines Projekts weitere Aspekte der Spezifizierung oder noch weitere Ansätze hinzufügen? Der oben angeführte Artikel regt zu anders gelagerten Überlegungen an. Nimmt man die »Krise der Moderne« als Hinweis auf die Problematisierung des Historischen selbst (und nicht als absolute Zeitkategorie), so stellt sich die Frage nach dem Gegenstand »ländliche Gesellschaften«. Ländliche Gesellschaften sind historische Phänomene, keine anthropologischen Konstanten seit der neolithischen Revolution, sie beruhen auf einer relationalen Beziehung, nämlich der zu ihrem Gegenpol, der Stadt, gleichzeitig aber auch auf der Vorstellung von einer räumlichen (rechtlichen) wie definitorischen Grenze oder Unterscheidung. Was städtisch ist, kann nicht ländlich sein. In Europa, so die generelle Annahme, habe sich die Trennung von Dorf und Stadt in unterschiedliche Wirtschafts- und Rechtsbereiche mit divergierenden, ja einander entgegengesetzten Lebens- und Landschaftsvorstellungen im Mittelalter ausgebildet. (Troßbach 2008: 505f.) Die Konstatierung einer Krise verweist darauf, dass genau diese Selbstverständlichkeit in den Blick kommt. Um zu analysieren, wie Landschaft, Technik und Gesellschaft zusammenhängen, reicht es daher nicht, nach einer oder auch mehreren Definitionen von »ländlichen Gesellschaften« zu fragen, auch nicht einfach von ihrer Reflexivität und Relationalität im Hinblick auf städtische Gesellschaften auszugehen. Vielmehr erscheint es mir weiterführend, von den Grenzen des Gegenstands her zu denken, der Verschiebung, Überwindung, Etablierung von Grenzen zwischen Wissens- und Wahrnehmungsweisen, Gegebenem und Gedeuteten. Um die Konsequenzen in den Blick zu bekommen, die aus Grenzziehungen, -überwindungen und -verschiebungen für empirische Forschungen resultieren, sind ländliche Gesellschaften ein geeignetes Beispiel. Zwei Aspekte scheinen mir dabei im Besonderen weiterführend: die Konstruktion und Dekonstruktion von Raum und die Konstruktion und Dekonstruktion von Körpern.

F RAGILE R ÄUME Ländliche Gesellschaften werden zumeist durch Wirtschafts- und Produktionsweisen, durch Bevölkerungsdichte und Verwaltungsstrukturen definiert. Vor allem sind sie lange als Gegensatz zur Stadt gedacht worden. Während Stadt mit Dynamik, Wandel, Modernität, mit Unübersichtlichkeit, Vielgestaltigkeit und Anonymität assoziiert worden ist – im negativen wie im positiven Sinn –, gilt das Dorf als verharrend, übersichtlich, als Ort von Nahbeziehungen, Nachbarschaft und sozialer Vergemeinschaftung. Ländlichkeit stellt das Gegenteil dar zur Metropole, zum Zentrum: die Provinz oder die Peripherie, oftmals Provinzialität, Abgeschiedenheit,

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Traditionalität (in Moralvorstellungen beispielsweise). Mit Blick auf die Zunahme von Kommunikationsdichte und Technisierung, die Durchdringung von Stadt und Land durch Markt- und Planwirtschaft, Verwaltung und Staat im 20. Jahrhundert erscheinen eindeutige und essentialisierbare Trennungen zwischen städtischen und ländlichen Gesellschaften obsolet. (Lehmbrock 2011; am Beispiel der DDR Bauerkämper 2002) Die Räume der modernen wie der postmodernen Gesellschaften sind urban, transnational, global, jedenfalls nicht ländlich. Der heute vielfach beklagte Verlust des Städtischen der Stadt bedeutet ebenfalls nicht, dass sie zum Dorf geworden wäre; sie gilt stattdessen als Nicht-Ort. Ländliche Gesellschaften werden daher vielfach mehr oder minder implizit am Städtischen, wenn nicht gar Großstädtischen gemessen, wobei ›städtisch‹ als Synonym für ›bedeutende Entwicklungen‹ steht. Das Ländliche erscheint als das Besondere, eine Studie über das Dorf exemplarisch und mit der Frage der Repräsentativität konfrontiert. (Hann 1985: 3) Diese dichotomisch aufgebauten Modernitätsdiskurse haben schon lange vor der Vernetzung im global village, der Wahrnehmung des Dorfs in der Stadt rsp. des Stadtteils als Dorf (Nell 2013: 15), der Charakterisierung von Großstädten als Agglomeration von aneinandergefügten Dörfern kapituliert. Räume sind nicht gegeben, sondern Konstruktionen. Vorstellungen vom Raum repräsentieren nicht nur historische Phänomene, sondern gestalten diese auch. (Dünne/Günzel 2006) Dennoch wirkt die Dichotomie weiter, weil das Spiel mit der Auflösung von Gegensätzen nur vor dem Hintergrund ihrer Existenz funktioniert, aber auch weil die Auflösung vor allem eine Richtung annimmt: das Dörfliche der Stadt (oder des globalen Raums, der modernen Agglomeration) zu zeigen. Die Umkehrung, das Städtische des Dorfs, spielt argumentativ bislang keine große Rolle, denn in dem Moment, wo das Städtische im Ländlichen auftaucht, wird das Dorf zur (Klein-)Stadt. Aus anderer Perspektive, der Mikrogeschichte, wurde dagegen schon in den 1980er Jahren gefordert, im Kleinen das Große zu erforschen: die Welt im Dorf. Ähnlich ist in der Migrationsforschung herausgestellt worden, wie Dörfer oder periphere Regionen transkontinentale Migrationswege konstruieren und konstituieren. (Hoerder 2002) In der Umwelt- und Klimageschichte setzen sich neuerdings multipolar, asymmetrisch und vor allem nicht linear argumentierende Perspektiven durch. (Hölzl/Hünniger: 2008, 98) Aus deren Langzeitperspektive könnte sich der seit dem europäischen Mittelalter ausgeprägte Stadt-Land-Unterschied als relativ unbedeutend erweisen, Nicht-Orte, Orte die weder Stadt noch Land sind, dagegen als historische Normalität. Über das mental mapping, die divergierenden Landkarten im Kopf, hinaus hat Arjun Appadurai die Mobilität ökonomischer Geographien betont. (Appadurai 1994) Ländliche Gesellschaften im Hinblick auf die Materialität des Raums als Natur und Kultur, Umwelt, Dorf und Stadt und seine Bedeutung für die Konstruktion des Historischen, von Zeit, Wandel und Entwicklung zu erforschen, könnte neue Perspektiven auf das Historische ländlicher Gesellschaften eröffnen. In den Blick kommen damit nicht nur die definitorischen Grenzen zwi-

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schen Stadt und Land oder deren Verschiebungen, sondern auch die Historizität der Grenzziehungen und die Beteiligung nichtmenschlicher Entitäten an der Soziabilität von Räumen im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie (Bruno Latour).

F RAGILE K ÖRPER Im Rahmen des oben erwähnten Landwirtschaftsforschungsprojekts hat Ulrich Schwarz (2012) eine komplexe Analyse der Diskurse einer österreichischen Bauernzeitung zwischen 1950 und 1981 vorgelegt. Durch ihre qualitative und quantitative Auswertung kann er unterschiedliche diskursive Räume zeigen, von Agrarpolitik über Bewahrung des Bauerntums, von betriebswirtschaftlichen, technischen und lebensweltlichen Modernisierungsratschlägen und Familienerhalt, von männlichen und weiblichen Bereichen usw. Für die hier angestellten Überlegungen ist besonders interessant, dass in allen diesen Diskursräumen Körper eine wichtige Rolle spielen. In seiner Zusammenstellung von zentralen Begriffen fallen die Körperbezüge auf: Maschinenkörper, Tierkörper, körperliche Leistungen, Gesundheit der Tiere wie der Familie, Arbeitskörper, Körper des Bauernstands, Körper der Marktproduktion. Diese Beispiele zeigen, dass Körper materielle und symbolische Bezüge und Praktiken, vorausgesetzte Natur und gestaltende Technik, Idealvorstellungen und Produktionsorientierung verbinden. Der Körper erscheint als ein wesentliches Agens und gleichzeitig als ein Medium zur Präsentation und Repräsentation von Gesellschaften. Zunächst zielten die sozial- und geschichtswissenschaftlichen Forschungen vor allem darauf, Biologismen und essentialistische Annahmen zu dekonstruieren, Körper als historisch gemacht und historisch veränderbar zu etablieren. (Lorenz 2000) So historisierte die Geschlechterforschung die Vorstellungen vom weiblichen (und männlichen) Körper als Ideologien zur Verfestigung von heterosexueller Norm, Familienstruktur und Geschlechterhierarchien. (Butler 1993) Damit wurde die Grenze zwischen Naturund Kulturwissenschaften vor allem zugunsten letzterer aufgehoben. Eine Reihe von medizinischen und technischen Entwicklungen wie Stammzellenzüchtung, Invitro-Befruchtung, Roboter, Klonen, Gentechnologie in der Pflanzen- und Tierzucht haben jedoch Selbstverständlichkeiten unseres Wissens über Körper weitergehend infrage gestellt. Mit Blick auf die Verbindung von Körper und Technik in der Reproduktionstechnologie und Kybernetik stellt sich auch, und dies erneut, das Problem, wie relevant Materialität für die Analyse von Gesellschaften ist. Welche Veränderungen provozieren Reproduktionstechnologien in Bezug auf Tiere und Menschen? Donna Haraway konstatiert eine fortschreitende Grenzverwischung zwischen Mensch und Tier (oder Maschine). Sie analysiert beispielsweise die Beziehungen zwischen Haustieren/Hunden und Menschen – als co-constitutive

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relationship, eine Art Liebesbeziehung zum significant other (der/m wichtigen anderen Partner/in). Mit companion species übernimmt sie einen Begriff aus der amerikanischen Tiermedizin, mit der diese die neuerdings beobachteten engen Beziehungen von Menschen und Haustieren beschrieben haben. Cyborgs, kybernetische Maschinen, betrachtet sie als Feld, um gesellschaftliche Ordnungssysteme und Dualismen zu hinterfragen. (Haraway 2012: 4f.; Haraway 1995: 33-72) Die Human-Animal Studies und die Umweltgeschichte reflektieren zeitgenössische Phänomene: die Verrechtlichung von Subjekten (Tierrechte) ebenso wie Klimakatastrophen und Umweltbewegungen, die die Gestaltbarkeit (oder Beherrschbarkeit) der Umwelt, sprich Natur, durch den Menschen radikal problematisieren. Medizinische und technische Machbarkeit haben ethische und philosophische Fragen aufgeworfen, deren (historische) Bedeutung noch zu klären wäre. Alle diese Ansätze eint daher die Frage nach dem Gegenstand des historischen und empirischen Forschens und damit auch die Frage nach den Akteuren oder Subjekten sozialer Prozesse. Dass Tiere, Reproduktionstechnologien, Zuchtverfahren, Klimawandel und Landschaft zur Geschichte ländlicher Gesellschaften gehören, dass sie wichtig ja geschichtsmächtig sind, insofern ihre An- oder Abwesenheit, ihre Verhaltensweisen Geschichte verändern (Nahrungs- oder Wirtschaftsweisen, Bedrohung und Nutzen) ist also kaum zu bezweifeln; inwiefern sie als Subjekte historischer (und sozialer) Prozesse (als agens) betrachtet werden können oder sollen, wohl. Nun wurde das Subjekt schon von Michel Foucault verabschiedet und der Schwerpunkt auf die Relationalität von Subjekt und Objekt gelegt, auf Diskursivität. In dieser Perspektive erwächst agency nicht aus einem gegebenen Subjektstatus im Sinne der Ausstattung mit freiem Willen, sondern aus relationalen, diskursiven Momenten. Diese Konzepte haben die (geschichts-)wissenschaftlichen Diskussionen hinsichtlich der Beziehungen zwischen Struktur und Akteur weitergebracht. Einerseits sind daher der linguistic turn, Dekonstruktivismus und Human-Animal Studies als ein vielleicht am meisten programmatisch argumentierendes Feld nicht so weit voneinander entfernt, andererseits beruht Dekonstruktivismus auf Sprachmächtigkeit, auch symbolischer, nicht-verbaler, und damit implizit auf menschlichen Sprachsystemen. Stellen Tier- und Umweltgeschichte einen Ansatz infrage, der Symbolwelten, Handlungsweisen, Traditionen und Interessen verbindet, aber explizit oder implizit von Menschen als historischen Akteuren ausgeht? Stellt eine radikale Historisierung der Grenze zwischen Natur und Kultur auch die Frage nach der Reichweite der Geschichtswissenschaft selbst? Inwiefern ist das Historische auch historisch? Die Historisierung der naturwissenschaftlichen Episteme ist nicht neu, Evolution gilt als eine historisch argumentierende Wissenschaft. (Breidbach 2011: 44-50) Ewelina Szpak (2005) hat vorgeschlagen, Foucaults ARCHÄOLOGIE DES WISSENS zu nutzen, seine Analyse von dessen Regeln und Gebrauch, um historische Forschung über Agrarwirtschaft, Landwirtschaftskollektive und Landarbeiter im Sozialismus neu zu

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konzeptionalisieren. Sie macht auf die Dynamiken der Wissensformation aufmerksam, das Spiel mit Begriffen und ihren Konnotationen, und sie verweist darauf, dass die Wissensformationen nicht nur in der Selbstwahrnehmung der Kolchosearbeiter/innen, sondern auch in der Analyse der Historiker/innen wirken. Es geht also nicht einfach darum, Tiere, Maschinen oder das Klima in die bisherige Geschichtsschreibung zu integrieren – sondern nach der Historizität, Genealogie, Diskursivität von Leben, Natur und Technik, von Subjektivität und Geschichtsmächtigkeit zu fragen. Subjektivität und Geschichtsmächtigkeit müssen nicht als Synonyme betrachtet werden – Geschichtsmächtigkeit muss nicht identisch sein mit Subjektivität und Subjektivität meint nicht nur einen eigenen, individuellen Willen. Die materiellen und symbolischen Körper der ländlichen Gesellschaften könnten als neue Herausforderungen begriffen werden. Körper und Raum in ihren vielschichtigen Bedeutungen und Ausdehnungen öffnen den Blick für Grenzen, für Grenzziehungen und -überschreitungen begrenzter Körper und räumlicher Grenzen, nicht nur zwischen Stadt und Land oder körperlicher und geistiger oder technischer Arbeit, sondern auch für die Grenzen des Fachs und des Gegenstands. Betrachtet man Körper und Raum als relationale und aufeinander bezogene, vieldeutige Perspektiven auf Gesellschaften, so kommt man den Umdeutungen des Historischen auf die Spur. Die Krise der Moderne böte ein Potential für eine Reflexion über Sozial- und Kulturwissenschaften. Das Reizvolle scheint mir daher weniger eine Antwort zu sein, als die Möglichkeit, aufs Neue das Denken in Bewegung zu bringen.

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Facetten des Ländlichen aus einer kulturgeographischen Perspektive Die Beispiele Raumplanung und Landmagazine C HRISTOPH B AUMANN

1. D ER

AKTUELLE

S TATUS

DES

L ÄNDLICHEN ?

Es ist mittlerweile eine Selbstverständlichkeit geworden, unsere Zeit als ein urbanes Zeitalter zu beschreiben. Immer mehr Menschen leben in Gebieten, die als städtisch klassifiziert sind. In sogenannten (Post-)Industriegesellschaften liegt der Verstädterungsgrad häufig über 75%.1 Betrachtet man entsprechende Statistiken und Prognosen, so ist kein Ende der Verstädterung in Sicht. Der Begriff ›Urbanisierung‹ bezieht sich dabei auf mehr als auf bloße Demographie. Bereits 1938 betonte der Stadtsoziologe Louis Wirth: »The degree to which contemporary world may be said to be ›urban‹ is not fully or accurately measured by the proportion of the total population living in cities« (Wirth 1938: 2). Folglich bestimmte er »Urbanism as a way of life«, der zwar am deutlichsten in als städtisch klassifizierbaren Orten auftrete, sich aber keineswegs auf diese begrenze und somit ein gesellschaftliches Phänomen mit raumübergreifendem Einfluss darstelle (vgl. ebd.: 7). Folgt man dem Common Sense der Stadtforschung scheinen diese Einflüsse mittlerweile umfassend zu sein – oder wie es die Geographen Ash Amin und Nigel Thrift formulieren: »The city is everywhere« (Amin/Thrift 2002: 1). In der Studie

1

Verstädterungsgrad oder -quote meint den »Anteil der Stadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung eines Gebietes« (Heineberg 2003: 306). Exemplarische Verstädterungsquoten gemäß des UN World Urbanization Prospects im Jahre 2011 sind: Global 52,1%, More developed countries 77,7%, Western Europe 79,8%, Germany 73,9% (vgl. United Nations 2012).

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URBANITÄT ALS HABITUS analysiert der Sozialgeograph Peter Dirksmeier die »Urbanisierung als eine Diffusion von Urbanität in nicht-städtische Räume« (Dirksmeier 2009: 15) und versucht für den deutschen Kontext empirisch nachzuweisen, dass »die Gesellschaft […] ohne jeden Zweifel bis in den letzten Winkel urbanisiert» (ebd.: 42) sei. Wenn die Stadt oder das Städtische überall ist, wenn jeder Winkel urbanisiert ist, wo (und was) ist dann das Ländliche? Wenn sich in Folge der Urbanisierung die Grenzen zwischen Stadt und Land zu Gunsten einer allumgreifenden Urbanität aufgelöst haben, macht es dann überhaupt noch Sinn, aus einer gegenwartsbezogenen, wissenschaftlichen Perspektive mit den Beobachtungskategorien ›städtisch‹ und vor allem ›ländlich‹ zu arbeiten? Ja, macht es. Dies soll in diesem Beitrag exemplarisch für das Ländliche gezeigt werden.2 Auch wenn wir in einem Zeitalter des Städtischen zu leben scheinen, so hat das Ländliche eine gewisse Hartnäckigkeit. Das »alltägliche Geographie-Machen« (vgl. Werlen 1997) – wie wir also in unserer Alltagspraxis raumbezogen denken, sprechen und handeln – ist nach wie vor maßgeblich von den Konzepten ›Stadt‹ und ›Land‹ geprägt. Sie helfen, Räume oder Räumlichkeiten zu ordnen. Wenn etwa eine von dem Unternehmen Allianz in Auftrag gegebene Forsa-Studie nach den Wohnpräferenzen der Menschen fragt, so dienen die Kategorien »auf dem Land«, »in einer kleinen Stadt«, »am Rande einer Großstadt« und »mitten in der Großstadt« als Antwortvorlagen (Allianz 2011). Abbildung 3: Wohnpräferenzen in Deutschland

Allianz 2011; Darstellung minimal verändert

2

Für eine gegenteilige Auffassung im Bereich der Stadtforschung: Bahrenberg (2003) (vgl. auch Dirksmeier 2009: 13); im Bereich der Landforschung: Hoggart (1990).

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Es wird davon ausgegangen, dass die Befragten sich unter den genannten begrifflichen Zuschreibungen etwas vorstellen und sie mit Bedeutungen verknüpfen können; drücken sie doch bestimmte Raum- und Lebensverhältnisse aus. Die Befragten wählen möglicherweise »auf dem Land«, weil sie eine ruhige Lebensweise oder Naturnähe »im Grünen«, was immer dies auch genau bedeuten mag, schätzen. Oder sie kreuzen »in der Großstadt« an, weil sie vielleicht das »Tempo und d[ie] Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens« – wie Georg Simmel (1995: 17) die Großstadt in seinem berühmten Essay DIE GROSSSTÄDTE UND DAS GEISTESLEBEN charakterisierte – als Raum- und Lebensverhältnis präferieren. Das Ergebnis dieser Erhebung deutet auch an, dass das Ländliche keineswegs »out« ist. DER SPIEGEL geht noch einen Schritt weiter, wenn er eine gegenwärtige »Land-Euphorie« diagnostiziert und schreibt: »Die Landliebe ist groß wie nie, sie ist zum Megatrend gewuchert, der den Stil der Deutschen bestimmt wie kaum etwas anderes, vom Wohnen übers Essen bis zur Kleidung« (Amann/Brauck/Kühn 2012: 81). Das Phänomen einer (neuen) Lust am Ländlichen hat verschiedene Ausdrucksformen. Man sieht es beispielsweise an Trends wie der urbanen Landwirtschaft (Müller 2011) oder des wwoffings, dem willing working on organic farms3, an TVFormaten wie BAUER SUCHT FRAU, am Auftauchen immer neuer Bücher über das Leben auf dem Land oder das ländliche Leben in der Stadt und nicht zuletzt am immensen Erfolg von Landmagazinen wie LANDLUST, LANDIDEE oder MEIN SCHÖNES LAND. Gerade den letztgenannten Beispielen wird häufig eine unechte Ländlichkeit attestiert. So unterscheidet der erwähnte SPIEGEL-Artikel mit Blick auf LANDLUST und Co die »neue deutsche Landprosa« von einem »tatsächliche[n] Land«, das er erkunden will: »Höchste Zeit, eine Reise zu seinen Bewohnern [des Landes, C.B.] zu unternehmen, um sich ein Bild zu machen von der Realität« (Amann/Brauck/ Kühn 2012: 81). Doch was ist nun die Realität bzw. welche Realität ist tatsächlich »real«? Die SPIEGEL-Redakteure vollziehen die klassische geographische Praxis der Länderkunde (siehe Kap. 2). Sie brechen auf in einen Raum, um diesen in seinem Wesen und in seinen Elementen zu erkunden und zu beschreiben. Das Ziel ist das Land bzw. der ländliche Raum. Sie gehen in dieser Weise a priori von einem Raum aus, der ländlich ist. Das Ländliche erscheint so als eine unhintergehbare Eigenschaft des Raumes. Dieses Vorgehen ist durchaus legitim, um sich mit der Frage nach dem gegenwärtigen Status des Ländlichen zu beschäftigen. In diesem Beitrag soll diese Frage allerdings mit einer anderen Perspektive angegangen werden. Im

3

Auch world-wide opportunities on organic farms genannt. Siehe dazu www.wwoof.de, www.wwoof.net (02.01.2014).

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Zentrum steht nicht die Frage: Was ist das Wesen des Ländlichen? Sondern vielmehr: Was wird in unserer Gesellschaft als ländlich beobachtet? Welche Bedeutungen werden dem Ländlichen in welcher Konstellation zugesprochen? Das Ländliche wird in dieser Weise zum Gegenstand einer Beobachtung zweiter Ordnung. Auf der Basis neuerer Ansätze der Geographie wird hier Ländlichkeit also weniger als objektives Raummerkmal, sondern vielmehr als symbolisch vermittelte und ausgehandelte soziale Repräsentation verstanden. Dabei gibt es verschiedene, zum Teil widersprüchliche Repräsentationen oder »Figuren« (vgl. Redepenning 2010). Das Ländliche ist ein »vielstimmiges Gebilde« (Redepenning 2009a: 46). Die Stimmen kommen aus den unterschiedlichsten Quellen und sind dabei in unterschiedliche Praxiskontexte eingebettet. Es ist daher durchaus angebracht, im Plural von ›Ländlichkeiten‹ zu sprechen. Den aktuellen Status des Ländlichen (in einer häufig als urbanisiert beschriebenen Gesellschaft) zu analysieren heißt demnach, zu fragen, in welchen Bereichen Ländlichkeit wie auftritt. Nachdem in den folgenden zwei Kapiteln die eben skizzierte Perspektive auf Ländlichkeit vor dem Hintergrund konzeptioneller Diskussionen innerhalb der Geographie etwas näher erörtert wird, zeigen die Kapitel 4 und 5 exemplarisch zwei aktuelle Facetten des Ländlichen: politische Ländlichkeiten der Raumplanung und mediale Ländlichkeiten der bereits angesprochenen Landmagazine.

2. E INE

NEUERE GEOGRAPHISCHE AUF DAS L ÄNDLICHE

P ERSPEKTIVE

Die eben angedeutete Herangehensweise resultiert aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive, wie sie sich in der Geographie in den vergangenen Jahren etabliert hat. Inspiriert durch den cultural turn (vgl. Bachmann-Medick 2009) entwickelte sich innerhalb eines Diskussionszusammenhangs, der gerne mit dem Label Neue Kulturgeographie belegt wird, eine Neukonzeptualisierung von Raum, der zentralen geographischen Kategorie (vgl. u.a. Gebhardt et al. 2007, Germes/Glasze/ Weber 2011). Kritisiert werden dabei insbesondere Konzepte, die Raum als unhintergehbare, wesenhafte Ganzheit sowie als objektiv gegebenen Container, in dem bestimmte Elemente (z.B. Klima, Vegetation, Wirtschaftsweise, Kultur) vorhanden sind, begreifen. Die auf diesem Verständnis beruhende geographische Praxis der sogenannten Länderkunde besteht darin, entsprechende räumliche Entitäten dadurch in ihrem Wesen zu analysieren, in dem etwa Kausalitäten zwischen den jeweiligen Elementen, oft in einer spezifischen Hierarchie, beschrieben werden (z.B. Klima prägt Vegetation, Vegetation prägt Wirtschaftsweise, Wirtschaftsweise prägt Kultur) (vgl. Wardenga 2002).

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Auch wenn durch verschiedene Ansätze dieses an einem traditionellen Raumbegriff orientierte Denken relativiert wurde, so zeigt(e) sich die prinzipielle Vorstellung von gegebenen Raumcontainern als hartnäckig – in der Geographie wie in anderen Disziplinen (vgl. Lossau/Lippuner 2004: 203). Das liegt sicherlich auch daran, dass das Container-Denken überaus praktikabel ist, kann es doch in hohem Maß Komplexität reduzieren, indem es verschiedenste Phänomene auf eine (räumlich fixierbare) Grundlage herunterbricht und subsumiert (vgl. Jones 2009: 185; Redepennig 2010: 75). Die theoretische Problematik und generelle Gefahr dieses Konzeptes ist der implizite Geodeterminismus, bei dem Soziales durch Natürliches oder (Erd-) Räumliches erklärt wird (vgl. Lossau/Lippuner 2004: 204). »Um diese Naturalisierung von Nicht-Natürlichem, oder: die reifizierende Verräumlichung von Sozialem, aufbrechen zu können, bräuchte es einen Raumbegriff, der seinen Gegenstand nicht als physisch-materiellen, sondern konsequent als ›anthropomorphischen‹ denkt« (ebd.). Ausgehend von unterschiedlichen Ansätzen legen neuere Arbeiten der Humangeographie einen eher »anti-essentialistischen und konstruktivistischen Blick« (Gebhardt et al. 2007: 14) an und konzipieren Raum stärker als sozial hergestellt, als »Element von Handlung und Kommunikation« (Wardenga 2002). Diese Perspektive wird in der jüngeren Vergangenheit in verschiedenen geographischen Subdisziplinen eingenommen. Ein Schattendasein fristet sie bislang in der deutschsprachigen Geographie des Ländlichen (Raumes). So stellt Marc Redepenning fest: »In der deutschsprachigen Geographie ist die Schnittstelle zwischen Neuer Kulturgeographie und den Geographien des Ländlichen Raumes hingegen noch dünn besetzt. So hat die Neue Kulturgeographie ihre Fragestellung bislang kaum auf den Bereich des Ländlichen bzw. auf das Phänomen der Ländlichkeit bezogen. Zugleich haben sich geographische Forschungen über den Ländlichen Raum ebenso resistent gegen den Einbezug des cultural turn in ihren Forschungen gezeigt, wie dies bei der Neuen Kulturgeographie gegenüber dem Ländlichen der Fall ist. Es fehlt derzeit an Forschungen mit einer dezidiert kulturorientierten Zugangsweise zur Frage des Ländlichen, die dazu einen konstruktivistischen Begriff von Kultur verwenden. […] Man hat es also mit einer Situation der Marginalität zu tun, die sich offenbar den eingeschliffenen Routinen auf der einen (Geographie des Ländlichen Raumes) wie der anderen Seite (Neue Kulturgeographie) entzieht.« (Redepenning 2009b: 368, Hervorhebung im Original) 4

4

Eine Ausnahme, neben den Arbeiten von Redepenning, stellt etwa Ermann/Hock (2004) dar.

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Anders sieht es hingegen in den anglophonen rural studies aus. »Kulturelle Geographien des Ländlichen« (ebd.; vgl. auch Boeckler/Berndt 2005) spielen dort seit den 1990er Jahren eine weitaus größere Rolle (vgl. u.a. Halfacree 1993, Cloke 1997). »Rural geographers […] drew upon ideas of identity and representation to examine the ways in which rurality is discursively constructed […]. Additionally, several of the key concerns that were developed in cultural geography more broadly, including the spatiality of nature, landscape and otherness […], all led to constructive engagement with rural spaces and environments.« (Woods 2005: 24)

In der deutschsprachigen Ländlichkeitsforschung besteht hier also durchaus ein konzeptioneller wie empirischer Nachholbedarf. Einen wichtigen Beitrag dazu hat Marc Redepenning geliefert. Aus system- und beobachtungstheoretischer Perspektive analysiert er »Prozesse des Grenzziehens und Unterscheidens am Phänomen des Ländlichen bzw. an der Komplexität unterschiedlicher Figuren des Ländlichen, in denen man Ordnungen gegenwärtiger und Ordnungsentwürfe für zukünftige gesellschaftliche Raumverhältnisse erkennen kann.« (Redepenning, 2010: 14, siehe auch Redepenning 2009a, b). Im vorliegenden Beitrag wird die prinzipiell sozialkonstruktivistische Perspektive auf das Ländliche durch diskurstheoretische Überlegungen konkretisiert.

3. D ISKURSE

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Diskurstheoretische bzw. -analytische Ansätze in Anschluss an Michel Foucault gehören zu den wichtigen theoretischen Bezügen der Neuen Kulturgeographie. Die entsprechenden Arbeiten nutzen dabei in aller Regel einen breiteren Diskursbegriff und betrachten »überindividuelle Muster des Denkens, Sprechens, Sich-selbstBegreifens und Handelns sowie der Prozesse, in denen bestimmte Vorstellungen und Handlungslogiken hergestellt und immer wieder verändert werden« (Glasze/ Mattissek 2009: 11f.). Insofern auch Sprache bzw. Text zu einem Gegenstand geographischer Forschung wird, ergibt sich eine Annäherung an Disziplinen wie die Sprach-, Literatur- oder Medienwissenschaften. Wenn auch »die Analyse sprachlicher Sinngebungsstrategien in vielen empirischen Untersuchungen eine prominente Stellung« einnimmt, betonen geographische Arbeiten insbesondere »die Verbindung von symbolischen Praktiken (Sprach- und Zeichengebrauch), materiellen Gegebenheiten und sozialen Institutionen« (ebd.: 12). Für die rural studies bringt dies Keith Halfacree auf den Punkt:

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»Besides researching lay narratives of rurality in their own right and/or in order to critique them, a central reason for acknowleding the popular resilience of rurality is that it has very real material, geographical and sociopolitical consequences. In short, people act on or through their understandings of rurality in their everyday lives and the rural world is partly produced thus.« (Halfacree 2009: 451)

Diskurse sollten demzufolge nicht als abstrakte oder unabhängige »Ideen« verstanden werden, sondern buchstäblich als praktisch, als in verschiedenen Handlungskontexten eingebettet und materialisiert. Eine solche praxisorientierte Diskurskonzeption formulierte auch Foucault, wenn er schreibt, die Diskursanalyse sei »[e]ine Aufgabe, die darin besteht, nicht – nicht mehr – die Diskurse als Gesamtheiten von Zeichen […], sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zu Bezeichnung der Sachen.« (Foucault 1981: 74)

Diskurse sind komplex und verästelt. Sie lassen sich im Zuge diskursanalytischer Studien nur heuristisch isolieren. Das trifft natürlich auch für das Ländliche zu. Vor allem aus Gründen der Übersichtlichkeit schlagen Autoren wie Owain Jones (1995: 37ff.) und Michael Woods (2011: 30ff.) eine Unterscheidung der Ländlichkeitsdiskurse in vier Felder vor:5 Academic discourses of rurality beziehen sich darauf, wie das Ländliche in wissenschaftlichen Disziplinen verstanden und erforscht wird. Für die anglophonen rural studies liegen hier mehrere selbstreflexive Ausführungen vor, die unterschiedliche Ländlichkeitsbegriffe in verschiedenen wissenschaftlichen Paradigmen betrachten (z.B. Halfacree 1993; Woods 2005; Cloke 2006) Political oder policy discourses of rurality »enable the state to know the rural and frame the governance of […] space« (Woods 2011: 30). Michael Woods hat in verschiedenen Studien solche Politiken des Ländlichen, insbesondere für den britischen Kontext, in Augenschein genommen (z.B. Woods 2006). Ein weiteres Beispiel liefert etwa Michael Shambaugh-Miller (2007), der verschiedene, z.T. sehr inkongruente Ländlichkeitskonzepte in der US-amerikanischen Politik untersucht sowie die jeweiligen sozioökonomischen und materiellen Effekte skizziert hat. Media discourses of rurality betreffen die (Re-)Produktion des Ländlichen in verschiedenen Medienangeboten, seien sie fiktional oder faktual, lyrisch oder prosaisch, schriftlich oder audiovisuell, etc. In diesem Bereich gibt es offensichtliche

5

Jones unterscheidet die Felder academic, professional, popular und lay discourses, die offensichtlich Woods Einteilung in academic, political bzw. policy, media und lay discourses, die hier vorgestellt wird, inspiriert hat.

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Überschneidungen zur Literatur- oder Medienwissenschaft. So ist ein häufiger Bezugspunkt für die medienorientierte Ländlichkeitsforschung das 1973 von Raymond Williams veröffentlichte Buch THE COUNTRY AND THE CITY, eine vor allem literaturhistorische Analyse verschiedener Stadt- und Landvorstellungen in Großbritannien (vgl. Woods 2011: 3). Für eine vom cultural turn beeinflusste Geographie des Ländlichen spielen Medien in ihrer Funktion als (Re-)Produzenten gesellschaftlicher Wirklichkeiten eine wichtige Rolle. Beispiele hierfür sind u.a. David Bells (1997) Betrachtung des ländlichen »Anti-Idylls« in Filmen wie THE BLAIR WITCH PROJECT, Martin Philips, Rob Fishs und Jennifer Aggs (2001) »symbolic analysis of rurality in the British mass media« oder Arunas Juskas (2007) Studie über »Discourses on rurality in post-socialist news media«. Lay discourses of rurality schließlich beziehen sich auf entsprechende alltägliche Vorstellungen, Beschreibungen und Handlungen. Sie sind »informed by, and provide feedback into media discourses, policy discourses and academic discourses, but they are different in that they are grounded in the everyday practice of life« (Woods 2011: 38). Arbeiten wie die von Keith Halfacree (1995), Owain Jones (1995) oder Florian Dünckmann (2010) zeigen, inwiefern bestimmte lokale Kontexte von der jeweiligen Bevölkerung als ländlich wahrgenommen werden. Andere Studien fokussieren Fragen der (Re-)Produktion und Abgrenzung ländlicher Identitäten (z.B. Bye 2009) oder widmen sich Ländlichkeitsvorstellungen im Zusammenhang mit Migration (z.B. Halfacree 2007). Wenngleich Kategorisierungen wie die eben vorgestellte als »fuzzy rather than sharp in distinction« (Jones 1995: 38) betrachtet werden sollten, so eignen sie sich doch als erste Orientierung für die Analysen kontextueller Ländlichkeiten. Anhand von zwei Fallbeispielen werden nun zwei Facetten des Ländlichen im deutschsprachigen Kontext näher beleuchtet, die den Bereichen policy discourses of rurality (Kap. 4) sowie media discourses of rurality (Kap. 5) zugesprochen werden können.

4. P OLITISCHE L ÄNDLICHKEITEN : B EISPIELE AUS DER R AUMPLANUNG Raumplanung ist eine komplexe politische Praxis, an der zahlreiche Institutionen und Akteure – von der europäischen bis zur kommunalen Ebene, von Politikern und Raumplanungsbeamten bis zu diversen wissenschaftlichen wie unternehmerischen Beratungsgremien, etc. – beteiligt sind. Der Blick auf die Ländlichkeiten der Raumplanung beschränkt sich im Folgenden auf die LAUFENDE RAUMBEOBACHTUNG des Bundesinstituts für Bau, Stadt- und Raumforschung (BBSR), das im

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Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR)6 eingegliedert ist, und dem vor allem eine politikberatende Funktion zukommt. Ein wesentliches Vorgehen des Programmes liegt in der Abgrenzung und Kategorisierung unterschiedlicher Raumeinheiten, etwa in Form Siedlungsstruktureller Gebietstypen oder Raumstrukturtypen bzw. Raumtypen.7 Abbildung 4: Typisierung von Regionen

www.bbsr.bund.de; leicht veränderte Darstellung

6

Während diese Bundesbehörde in den vergangenen Legislaturperioden dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (jetzt: Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur) zugeordnet war, ist der übergeordnete Geschäftsbereich nun das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau- und Reaktorsicherheit. Die LAUFENDE

RAUMBEOBACHTUNG ist dabei im Referat I 6 Raum- und Stadtbeobachtung der

Abteilung I Raumordnung und Städtebau eingeordnet. 7

Ein umfangreicher Überblick über die Arbeiten des BBSR, insbesondere über die Typisierungen der LAUFENDEN RAUMBEOBACHTUNG, findet sich auf: www.bbsr.bund.de/ BBSR/DE/Raumbeobachtung/Raumabgrenzugen/raumabgrenzungen_node (03.01.2014).

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Die zugrundeliegende Ordnungslogik der BBSR-Gebietstypen basiert auf der Gliederung in städtischen und ländlichen Raum. Auch in Zeiten einer urbanisierten Gesellschaft bleibt die klassische »Unterscheidung Stadt/Land intakt« (Redepenning 2010: 120, Hervorherbung im Original)8 und spielt so nach wie vor eine sehr prominente Rolle in der Raumordnung. Auf der Basis dieser Grundunterscheidung differenziert das BBSR in diversen Typisierungen verschiedene Unterkategorien. Bei den Regionstypen 2011 beispielsweise werden ›Städtische Regionen‹, ›Regionen mit Verdichtungsansatz‹ und ›Ländliche Regionen‹ auf der Basis der »Bevölkerungsdichte und Größe bzw. zentralörtliche Funktion der Kerne von Regionen« (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2004) unterschieden. Das Ländliche ist so eine »klare[e], eindeutig[e] und berechenbar[e]« (Redepenning, 2010: 120) Eigenschaft, die auf einen abgrenzbaren Raum projiziert wird. Das zugrunde liegende Raumkonzept ist das eines Container-Raumes inklusive dessen eingelagerter Elemente. »[D]as Ländliche [ist] der weniger dichte Container, der zugleich auch weniger Elemente [hier: Wohnbevölkerung, C.B.] enthält« (ebd.). Auf die generelle Praktikabilität des Container-Konzepts wurde bereits eingegangen (Kap. 2). Versteht man Politik als eine Praxis der gesellschaftlichen, bevölkerungsbezogenen Ordnung, Kontrolle und Steuerung, liegt die Affinität der politischen Raumbeobachtung zu einer solchen eindeutig (gerade auch territorial) klassifizierbaren Ländlichkeit auf der Hand. Auch wenn die Quantifizierung dabei den Eindruck vermeintlicher Objektivität vermittelt, handelt es sich auch bei dieser Form um eine kontingente Ländlichkeit. Mit dem Raumordnungsbericht von 2005 werden »den siedlungsstrukturellen Gebietstypen des BBSR die Raumstrukturtypen als neue Raumgliederung zur Seite gestellt« (Schürt/Spangenberg/Pütz 2005: 1; Hervorherbung C.B.; vgl. Redepenning 2010: 121). Ziel dabei ist nicht zuletzt eine »stärkere Realitätsnähe« (Schürt/ Spangenberg/Pütz 2005: 12) durch eine neue Typisierungspraxis. So bilden etwa im Gegensatz zu den siedlungsstrukturellen Gebietstypen nicht mehr politischadministrative Gemeindegrenzen, sondern »gleichförmige[e] Rasterzellen […] mit 1 km Kantenlänge« (ebd.: 2) die Beobachtungsgrundlage. Der wesentliche Indikator ist nun die Zentrenerreichbarkeit, die mittels »PKW-Fahrtzeit zu hochrangigen Zentren« (ebd.: 4) operationalisiert wird. Ausgehend davon werden die drei Typen ›Zentralraum‹, ›Zwischenraum‹ und ›Peripherraum‹ gebildet. Eine Ausdifferenzierung erhalten diese Kategorien durch die Messung von Bevölkerungsdichten.

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Bei der Analyse der BBSR-Typen beziehe ich mich auf die Arbeit von Marc Redepenning, der in seiner Habilitationsschrift die Vorgängerversionen der aktuellen Typen analysiert hat: Siedlungsstrukturelle Gemeindetypen 2009 und Raumstrukturtypen 2005 (Redepenning 2010: 119-124).

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Auch wenn der BBSR im Zuge dieser Typologie erwähnt, dass die Kategorie ›Peripherraum‹ nicht mit der Kategorie ›Ländlicher Raum‹ identisch sei (ebd.: 6), so wird die Unterscheidung ›Stadt/Land‹ hier zu einem gewissen Grad in die Unterscheidung ›Zentrum/Peripherie‹ übersetzt (vgl. Redepenning 2010: 122). In der aktuellen Klassifizierung ›Raumtypen‹ werden die Raumstruktur- und die siedlungsstrukturellen Gebietstypen gewissermaßen synthetisiert und so die beiden Ordnungslogiken ›Zentrum/Peripherie‹ und ›Stadt/Land‹ kombiniert. Auf den ersten Blick mag die Einführung der Raum(struktur)typen als ein rein statistisch-methodischer Optimierungsversuch erscheinen. Doch damit einher geht eine teilweise Neukonzeptualisierung von Raum und somit auch von Ländlichkeit. Durch das Aufgeben von administrativen Grenzen kommt es zu einer Abschwächung des Containerdenkens, durch den Fokus auf Zentrenerreichbarkeit wird den Aspekten Zentralität und Mobilität eine herausragende Rolle zugewiesen (vgl. ebd.: 122). Raum wird wesentlich stärker als Netzwerk gedacht9: »Damit wird die Abgeschlossenheit der jeweiligen Raumcontainer (sei es auf regionaler, kreisbezogner oder kommunaler Ebene) aufgehoben und das Verwischen und Überschreiten der politisch-administrativen Grenzen im Zuge einer hochmobilen Gesellschaft aufgewertet. Im Resultat erscheint die Aufwertung netzwerkräumlicher Strukturen[…].« (Ebd.)

Dieser raumkonzeptionelle Wandel steht im direkten Zusammenhang mit diskursiven Veränderungen von Leitbildern der Raumplanung und -entwicklung. Neben dem bislang dominierenden wohlfahrtsstaatlichen Gleichwertigkeitsgrundsatz mit ausgleichender Förderungspolitik, gesellt sich im Kontext von wettbewerbsorientierten Globalisierungsdiskursen mehr und mehr eine Orientierung auf Zentren, Metropolen oder Wachstumskerne (vgl. Leber/Kunzmann 2006). Zentralität oder Lagegunst werden dabei als Faktoren der Wettbewerbsfähigkeit begriffen. So schreibt der BBSR bei der Vorstellung der Raumstrukturtypen: »Die räumliche Nähe zu den wirtschaftlich aktivsten Räumen mit den größten Kontaktpotenzialen bildet einen wesentlich Aspekt von Lagegunst und damit Wettbewerbsfähigkeit ab« (Schürt/Spangenberg/Pütz 2005: 3). Eine rein auf Zentren orientierte Förderungspolitik konzentriert ihre Aktivitäten einerseits auf die Aufwertung (groß)städtischer Infrastruktur, etwa durch städtebauliche Großprojekte, andererseits auf den Ausbau

9

Zum Konzept des Netzwerkraumes vgl. u.a. Law/Mol 2001, Castells 2001, Redepenning 2010: 86f. Einen generellen historischen Überblick des Wandels (raumbezogener) Regierungsrationalitäten hin zu eher netzwerkartigen, zirkulationsorientierten Techniken liefert Foucault (2004a, b) mit seiner Arbeit zur Gouvernementalität. Ferner greifen neuere Ansätze der Ländlichkeits- sowie Dorfforschung netzwerkbezogene Konzepte auf (u.a. Woods et al 2013, Langthaler/Sieder 2000).

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von Verkehrswegen, die insbesondere die Verbindung zwischen den Metropolen sowie zwischen den Metropolen und ihrer unmittelbaren Umgebung stärken. Im deutschen Kontext ist eine solche Förderungsstrategie bislang noch nicht zum »zentralen« Paradigma der Raumentwicklung geworden. So ist beispielsweise das offizielle übergeordnete »Leitziel der bayerischen Landesentwicklung […] gleichwertige Lebens- und Arbeitsbedingungen in allen Landesteilen« (Bayerisches Staatsministerium für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr und Technologie 2013: 7). Versuche an diesen zu rütteln, wie etwa die Diskussion um die raumordnerischen Empfehlungen des Bayerischen Zukunftsrates10 zeigen, werden allgemein sehr kritisch betrachtet. Dennoch deuten diverse raumplanerische Praktiken, wie nicht zuletzt die Konstruktion die Raum(struktur)typen, in eine solche Richtung. In Bezug auf das Ländliche ist dabei insbesondere ein Blick auf eine neuere BBSR-Typisierung – ›Raumtypen 2010‹ – interessant. Durch die Überlagerung der Ordnungslogiken ›Zentrum/Peripherie‹ und ›Stadt/Land‹ entsteht ein etwas komplexeres Bild von Ländlichkeit, als bei den siedlungsstrukturellen Gebietstypen. Neben der Bestimmung unterschiedlicher »Intensitäten von Ländlichkeit« (Redepenning 2010: 100) auf der Basis von Bevölkerungsdichten, wird das Ländliche hinsichtlich seiner Zentralität, also Nähe und Erreichbarkeit zu übergeordneten Zentren, bewertet und ausdifferenziert. Somit entstehen eher zentralere Ländlichkeiten im urbanen Umfeld, die dann unter den Vorgaben wettbewerbsorientierter Politiken förderungswürdiger wären, sowie Ländlichkeiten der absoluten Peripherie, die in entsprechender Logik außen vor blieben. Bereits an diesem skizzenhaften Beispiel dreier Typisierungen im Rahmen der LAUFENDEN RAUMBEOBACHTUNG des BBSR sieht man, dass Ländlichkeiten im hohen Maße kontextuelle, diskursive Konstellationen darstellen.

10 Der sogenannte Bayerische Zukunftsrat war ein von 2010 bis 2011 aktives, »unabhängiges« Beratungsgremium, das u.a. den Vorschlag formulierte, die Bayerische Förderungspolitik solle sich primär auf die fünf bis sieben Großstädte Bayerns konzentrieren. Das publik gewordene Gutachten sorgte in Bayern für eine stark emotional geführte Diskussion. Eine ausführliche Analyse dazu findet sich bei Lehmeier/Glötzl (2014).

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5. M EDIALE L ÄNDLICHKEITEN : D AS B EISPIEL L ANDMAGAZINE 11 Während die Verkaufszahlen von Printmagazinen im Allgemeinen sinken, verkaufen sich Magazine wie LANDLUST, LANDIDEE oder MEIN SCHÖNES LAND zunehmend. Die ab 2005 publizierte LANDLUST hat seit 20l2 eine Käuferschaft von über einer Million Menschen. Bei den Magazinen handelt es sich um multithematische Zeitschriften (hier vereinfacht Landmagazine genannt), die sich dadurch von eher monothematischen Heften (z.B. LANDHAUS LIVING, LANDGARTEN) unterscheiden. Über zehn vergleichbare Formate sind mittlerweile auf dem Markt.12 In dieser Weise zählen die Landmagazine zu den erstaunlichsten und erfolgreichsten Medienphänomenen der vergangenen Jahre. Offensichtlich gibt es Nachfrage und Bedarf für solche Ländlichkeiten. Die Magazine schließen zunächst an idyllische Repräsentationen der Ländlichkeit an. Das ländliche Idyll ist eine der andauerndsten und am fest verankertsten diskursiven Figuren des Ländlichen (vgl. Woods 2011: 21f.). Wenngleich idyllische Konzeptionen bis vor die Antike nachzuweisen sind, erfahren sie im 19. und 20. Jahrhundert eine neue Dimensionierung im Kontext von Industrialisierung und zunehmender Verstädterung (vgl. Short 2006). Idyllen sind Ergebnisse von Abgrenzungsprozessen auf unterschiedlicher Ebene. Am augenscheinlichsten ist die raumbezogene Ebene, etwa ›ländlich/städtisch‹, die durch weitere Zuschreibungen konkretisiert wird, z.B. ›einfach‹, ›naturnah‹, ›entschleunigt‹, ›heilend‹, ›authentisch‹, ›gemeinschaftlich‹, ›aktiv-selbstproduzierend‹ vs. ›komplex‹, ›naturfern‹,

11 Da sich dieses Kapitel auf einen Gegenstand bezieht, der derzeit einer größer angelegten empirischen Analyse, die sowohl die Landmagazine als auch deren Leser umfasst, unterzogen wird, verzichtet die folgende Darstellung auf eine detaillierte empirische Beschreibung samt entsprechender Beispiele und arbeitet stattdessen vereinzelte, aber verallgemeinerungsfähige Aspekte des Phänomens heraus. Eine vergleichende Analyse von Ländlichkeit im Rahmen einer spanischen und einer norwegischen Zeitschrift findet sich bei Baylina/Berg (2010). 12 Neben den drei genannten sind beispielsweise erschienen: LIEBES LAND, LANDSPIEGEL, SERVUS IN STADT UND LAND, LANDKIND, LANDZAUBER, LANDFEE. Dazu kommen auch noch regionalisierte Versionen (z.B. LAND&BERGE, LANDLUFT – DAS WENDLAND MAGAZIN, MEIN LANDGEFÜHL IM NORDEN, LANDGANG IM SCHÖNEN NORDEN) und Übersetzungen internationaler Formate (COUNTRY, COUNTRY LIVING, LANDLEBEN, LANTLIV).

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›beschleunigt‹, ›schädlich‹, ›künstlich‹, ›anonym‹, ›passiv-konsumierend‹, etc. (vgl. u.a. Halfacree 1996: 51, Redepenning 2010: 21ff., Woods 2011: 21).13 David Bell (1997: 95, vgl. auch Bell 2006) weist darauf hin, dass die Begrifflichkeit des (ländlichen) Idylls sehr unterschiedliche Bedeutungen in unterschiedlichen Kontexten haben kann. Der Fokus richtet sich nun explizit auf die Idyllen der Landzeitschriften und ihrer Leser. Die Ländlichkeit der Landmagazine ist eine durchweg positiv konnotierte. Das sieht man am deutlichsten – neben den Magazintiteln – an dem, was man nicht sieht. Probleme der Raumplanung (z.B. demographischer Wandel, Infrastruktur), Tierseuchen und Umweltprobleme oder Konflikte um die Platzierung von Windrädern finden nicht statt. Einen ersten Einblick darüber, was durch die Magazine verhandelt wird, bekommt man durch eine Betrachtung ihrer Inhaltsverzeichnisse: Tabelle 1: Gliederung der Landmagazine (Inhaltsverzeichnisse, Januar 2014) LANDLUST Im Garten In der Küche Ländlich Wohnen Landleben Natur erleben

MEIN SCHÖNES LAND

Garten Schönes&Kreatives Rezepte Wohnen&Haushalt Gesund leben Natur&Tiere Land&Handwerk Region&Heimat

LANDIDEE LandBlick LandSaison LandKüche LandGarten LandHaus LandApotheke LandLeben

An Tabelle 1 erkennt man einige Parallelen zu den einleitend dargestellten idyllischen Semantisierungen. Es geht um Naturnähe (sei es in »der Natur« oder im Garten), um Wohlfühlen und Gesundheit, um handwerkliche oder kultivierende Aktivität, etc. Bereits an der Themenwahl lässt sich auch herauslesen, in welcher Weise das Idyllische in diesen (Kon-)Texten konkretisiert wird: Es geht vor allem um das (gewünschte) Eigene, um Idyllen des eigenen Bereichs. Thematisiert werden der (eigene) Garten, das Anbauen von Pflanzen und das Zubereiten von Essen, die Einrichtung der eigenen vier Wände, die Verschönerung des eigenen (Be-)Reichs, etc. Selbst Landwirtschaft erscheint primär als Subsistenzwirtschaft, also als selbstbezogene, eigene Landwirtschaft.

13 Daneben wird in vielen idyllischen Figuren auch eine zeitbezogene Unterscheidung zwischen Früher bzw. Traditionalität und Heute bzw. Modernität vollzogen (vgl. u.a. Woods 2011: 28f., Bachtin 2008: 160ff.).

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Mit der Konzentration auf das Eigene sind Landmagazine weniger Magazine über den (siedlungsstrukturellen) ländlichen Raum, sondern vor allem Magazine über Lebensstil. Natürlich werden auch Orte in (siedlungsstrukturell typisierten) ländlichen Räumen dargestellt, die Mehrheit der Artikel erlaubt allerdings keine konkretere Lokalisierung solcher städtischen oder ländlichen Gebiete. Der Fokus auf Lebensstil und Alltagspraxis zeigt sich an den Untertiteln der Zeitschriften – z.B. Die schönsten Seiten des Landlebens (LANDLUST), Land leben und genießen (LANDIDEE), Die beste Art zu leben (LIEBES LAND) – aber vor allem in den einzelnen Artikeln, in denen Modelle und Empfehlungen, wie man verschiedene Aspekte seines Lebens gestalten kann, skizziert werden. So zeichnen die Magazine Portraits von Menschen, die als Ausschnitte eines guten, harmonischen Lebens angelegt sind und sie geben zahlreiche praktische Tipps, etwa zum Gärtnern, zur Lebensmittelauf- und -zubereitung, zum Basteln oder Handwerken, zum Naturerleben, etc. Diese referenzierten Praktiken, die einen Großteil der Magazine ausmachen, können in Anschluss an den Soziologen Andreas Reckwitz (2008) als »ästhetische Praktiken« bezeichnet werden. Ausgehend von einem breiten Begriff der Ästhetik fasst Reckwitz darunter insbesondere auch Praktiken der sinnlichen Wahrnehmung und des Erlebens sowie Praktiken der Gestaltung (vgl. ebd.: 267). In Anlehnung an einen Begriff des Soziologen Gerhard Schulze (2000) lassen sich die Magazine als Mittel einer »Ästhetisierung des Alltags« verstehen, die sich durch entsprechende ästhetische Praktiken vollziehen – von der Verschönerung des Gartens und der Wohnung durch Zierpflanzen oder handwerklich hergestellte Gegenstände bis zum Erfahren von »Wundern« der Natur. Diese verschiedenen Praktiken werden – schon durch die spezifische Rahmung der Zeitschriften, die sich ja bereits per Titel explizit als Landmagazine ausweisen – mit der Kategorie des Ländlichen verbunden und zugleich damit als »Bausteine« einer ländlichen Lebensweise ausgestellt. Land (er)leben und genießen ist so eine treffende Beschreibung für die Magazine und ihre Angebote. Dabei ist Land weniger als eine siedlungsstrukturell verortbare, containerräumliche Kategorie zu begreifen, sondern vielmehr als ein (zu verfolgendes) Prinzip der Lebensführung oder auch als eine Art imaginierter Raumpraxis. Ländlichkeiten bzw. Idyllen des eigenen Bereichs lassen sich prinzipiell überall herstellen, im Zentrum, im Zwischenraum oder auch in der Peripherie.14

14 Dies bestätigt ein Blick auf die Leserstatistiken der LANDLUST, der zufolge sich in verschieden Siedlungsgrößen eine relativ ausgeglichene Anzahl an Lesern findet (Landwirtschaftsverlag 2013). Dass es natürlich dennoch Ausschlusskriterien für die Herstellung der Idyllen des eigenen Bereichs gibt, die vor allem ökonomischer Art sind, kann hier nicht weiter ausgeführt werden.

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Im Unterschied zu den räumlich klar fixierbaren und vergleichsweise statischen Ländlichkeiten der Raumplanung haben wir es also bei der Ländlichkeit der Landmagazine – um die in Kapital 1 erwähnte Idee Louis Wirths (1938: 7) zu übertragen – mit einem gesellschaftlichen Phänomen raumübergreifenden Einflusses zu tun. Dieses Phänomen ist aber natürlich räumlich, insofern es auf die (Re-)Produktion (immer auch räumlicher) Idyllen auf die Sphäre des eigenen Lebensbereichs verweist und somit auf den Körper –wo immer dieser auch aktuell positioniert ist.

6. Z USAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Vor dem Hintergrund der Diagnose eines urbanen Zeitalters versuchte dieser Beitrag mittels eines sozialkonstruktivistischen Zugangs exemplarisch dem aktuellen Status des Ländlichen nachzugehen. Während sozialkonstruktivistische Konzepte inzwischen sowohl in vielen Bereichen der deutschsprachigen Humangeographie wie auch der internationalen rural studies ein sehr wichtiges Paradigma darstellen, wurden sie in der deutschsprachigen Geographie des Ländlichen (Raumes), mit wenigen Ausnahmen, bislang kaum rezipiert. Die Analyse »kultureller Geographien des Ländlichen« ist zunächst repräsentationsorientiert. Der Fokus richtet sich auf die Frage, wie Ländlichkeit in welchem Kontext beobachtet bzw. mit Bedeutung versehen wird. In dieser Weise ist in diesem Beitrag auch im Plural von (bereichs-) spezifischen Ländlichkeiten bzw. Ländlichkeitsdiskursen die Rede. Anhand zweier Beispiele wurden dabei verschiedene Facetten des Ländlichen analysiert. Ein kurzer Blick auf die politischen Ländlichkeiten der BBSRRaumbeobachtungen hat gezeigt, dass das Ländliche nach wie vor eine wesentliche Ordnungskategorie raumbezogener Politiken darstellt, dabei aber auch eine gewisse Neuakzentuierung im Rahmen globalisierungs- und wettbewerbsorientierter Argumentationsweisen erfährt. Eine Betrachtung der medialen Ländlichkeiten von Landmagazinen hat v. a. eine aktuelle Spielart der traditionellen Figur des ländlichen Idylls – Idyllen des eigenen Bereiches – skizziert sowie verdeutlicht, dass Ländlichkeit in diesem (Kon-)Text als ein raumübergreifender, lebensstilbezogener Diskurs auftritt, der ebenso auf eine entsprechende Nachfrage eines bestimmten Milieus verweist. Die wissenschaftliche Erforschung des Ländlichen – gerade im deutschsprachigen Kontext – bedarf weiterer kulturorientierter Analysen verschiedener Ländlichkeiten, um so ein umfangreicheres Bild zeichnen zu können und um mögliche bereichsübergreifende Muster, diskursive Verschiebungen und so gesellschaftliche Änderungen zu identifizieren. Ein solches Projekt sollte interdisziplinär ausgerich-

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tet sein und unterschiedliches Fachwissen einfließen lassen, um der »Komplexität des Landes« (Redepenning 2009a) gerecht zu werden.15 Gerade für die Geographie des Ländlichen ist dabei wichtig, repräsentationsorientierte Analyse nicht als Selbstzweck zu verstehen, sondern entsprechende Diskurse in ihrer Situiertheit, alltagspraktischen Relevanz und Wirkung zu analysieren. So wären repräsentationsorientierte, eher textualistische Analysen, wie sie hier skizzenhaft vorgestellt wurden, mit praxisorientierteren, ethnographischen Betrachtungen zu ergänzen.16 In dieser Weise könnte etwa, um bei den hier skizzieren Beispielen zu bleiben, genauer verstanden und gezeigt werden, wie (und ggf. auch warum) ländlichkeitsbezogene Typisierungen, lokale Praktiken, Institutionen und andere materielle Aspekte zusammenhängen oder wie Idyllen des eigenen Bereichs in unterschiedlichen Konstellationen alltagspraktisch (re)produziert werden. Es macht also weiterhin Sinn, sich konzeptionell wie empirisch mit dem Ländlichen zu beschäftigen – auch in einem sogenannten urbanen Zeitalter.

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15 Die in diesem Band dokumentierte Tagung IMAGINÄRE DÖRFER wie auch die vom 15.16.11.2013 in Bamberg stattgefundene Tagung RURALITY. NEW PERSPECTIVES AND THEMES machen in ihrem interdisziplinären Charakter Mut, dass ein derartiges Projekt angeschoben bzw. (weiter) vorangetrieben werden kann. 16 Siehe dazu auch die Diskussion um eine Erweiterung der Diskursanalyse (Bührmann/Schneider 2007; Keller 2011; Wrana 2012) sowie die Diskussion um eine »morethan-representational geography« (Lorimer 2008). Für letztere gibt es bereits erste Diskussionsbeiträge aus den RURAL STUDIES (Halfacree 2006, 2009).

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Dorf und Stadt als idealtypische Konturen und Lebensräume in Ost und West∗ D ETLEF B AUM

E INLEITUNG Gerade in Zusammenhängen weltweiter Globalisierung und wachsender Mobilitätserfahrungen werden Dörfer, Städte und Stadtteile bzw. Quartiere als Gemeinwesen immer bedeutsamer für die soziale und sozialräumliche Verortung von Menschen. Dies konnte in vielen Gemeindestudien aufgezeigt werden (vgl. Löw 2001, Baum 2010, 2014). Identifikation mit dem Ort und Domizilbindung werden immer wichtiger für die Identitätssicherung der Bewohner; Gemeinschaftserfahrungen werden zu integrationsstiftenden Momenten. Im Kontext der sozialräumlichen Strukturen des Quartiers entwickeln Menschen bestimmte Formen der Lebensstilführung und gewinnen das Vertrauen in die Strukturen alltäglicher Lebenspraxis; in Kommunikationen und Interaktionen erfahren sie Anerkennung und können das Gefühl der Zugehörigkeit entwickeln. Für Andere von Bedeutung zu sein wird zunehmend zu einem konstitutiven Merkmal eines lokalen Sozialzusammenhangs. Nur wenn man länger im Quartier lebt, erfährt man diese Form sozialer Verortung als biographisch-räumlich prägendes Gefühl des Dazu-Gehörens. Die sich immer wiederholende Alltagspraxis gegenseitigen Kommunizierens und des Umgangs miteinander wird als vertrauensbildende Struktur erlebt (Herlyn 2010). In diesem Zusammenhang werden dann auch die Wohnung und das Wohnumfeld im Kontext des Lokalen zunehmend zu Orten gesellschaftlicher Verankerung –



Der Text entstand im Rahmen der Realisierung des Projektes Erweiterung und Entwicklung des wissenschaftlichen Forschungsteams der Ostravská-Universität in Ostrava, Fakultät für soziale Studien, Projekt-Nummer: CZ.1.07/2.3.00/20.0080, mitfinanziert aus dem Europäischen Sozialfonds und aus dem Staatsbudget der Tschechischen Republik.

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und zwar bei gleichzeitiger Abgrenzung von der Gesellschaft. Erst mit der Entstehung der Bürgerstadt im Mittelalter konnte sich ein Prozess durchsetzen, der die Privatsphäre vom öffentlichen Raum trennte. Voraussetzung war die Entwicklung des Bürgertums als einer neuen gesellschaftlichen Gruppe, die sich den feudalen Abhängigkeiten allmählich entzog. »Stadtluft macht frei« war ein Rechtsgrundsatz, dem der Satz: »Landluft macht eigen« entgegen stand. Mit der nunmehr neuen Repräsentationsform des Bürgertums entwickelte sich auch der Prozess der Vergesellschaftung als einer Kommunikations- und Repräsentationsform, die nicht mehr auf gemeinschaftlicher Bindung beruhte, sondern auf rationalen, von Anonymität geprägten, distanzierten und sozial disziplinierten Formen der Umgangs miteinander. Öffentliche Räume wurden jetzt auch in ihrer Dialektik wahrgenommen; sie zugänglich zu finden bei gleichzeitiger Abgrenzung zum Privaten gehört zum konstitutiven Erfahrungsschatz des Städters. Die Wohnung kann als ein Ort gesellschaftlicher Repräsentation betrachtet werden; was früher der Öffentlichkeit vorbehalten war, wird zunehmend auch im Privaten Praxis. Zugleich bleibt dem öffentlichen Raum auch nicht mehr alles vorenthalten, weil es privat zu sein scheint. Mit der Stadt kann zunächst einmal – idealtypisch gefasst – das Konzept der Gesellschaft verbunden werden: rationale Strukturen, institutionalisierte Formen sozialer Kontrolle, Formen der Präsentation, die auf unvollständiger Integration beruhen, auf gegenseitiger Fremdheit und Anonymität und auf funktionalen Beziehungen. Man wird in der Stadt nur immer partiell mit seiner Identität in spezifischen Rollen wahrgenommen, die man in bestimmten Kontexten spielt. Gleichzeitig wird die Stadt immer nur partiell zur Kenntnis genommen (Simmel 1908, Bahrdt 1971); man besetzt Handlungsräume in der Stadt, wenn sie von einer besonderen Bedeutung für einen sind: die Innenstadt als Handlungs- und Erlebnisraum, andere Stadtteile, mit denen Freizeitaktivitäten verbunden sind, in denen Freunde und Bekannte wohnen oder in denen die eigenen Kinder zur Schule oder in andere Institutionen gehen. Dorf ist – ebenfalls idealtypisch – zunächst Vergemeinschaftung: Informelle Dichte, auch diffuse und ganzheitliche Beziehungen und Kommunikationsmuster, die auf gegenseitigem Kennen und gegenseitiger Anerkennung beruhen, sind Wesenzüge von Gemeinschaften. Man nimmt in der Regel den gesamten Sozialraum Dorf als eine sozialräumliche Einheit und nicht nur als bestimmte Ortsteile oder Straßen wahr. Man kennt sich gegenseitig nicht nur als Individuen, sondern als Angehörige von bestimmten Familien, Höfen, Lebensgemeinschaften. Soziale Kontrolle funktioniert noch zum Teil über informelle Netzwerke und Nachbarschaften und auf der Basis von Überzeugungen, Werten und Normen, die noch alle mehr oder weniger teilen. Es handelt sich also bei Stadt und Dorf offensichtlich um zwei unterschiedlich geprägte und verfasste idealtypische Lebensräume und Sozialzusammenhänge, die sich seit der ersten Urbanisierungswelle im Mittelalter in Europa getrennt entwi-

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ckelt haben und die bei aller Unterschiedlichkeit doch auch in Wechselbeziehung zueinander stehen und auch historisch wie strukturell aufeinander verwiesen sind. Nicht zuletzt lassen sich Veränderungen dieser sozialen Lebensräume beobachten, die auf eine Interdependenz dieser beiden Lebensräume schließen lassen und die es auch wohl rechtfertigen können, Stadt und Dorf noch einmal unter einer bestimmten Fragestellung genauer anzuschauen – nicht zuletzt auch als Idealtypen, die das individuelle und kollektive Wahrnehmen und Befinden ebenso wie die jeweiligen Ansprüche an einen bestimmten Lebensraum noch immer beeinflussen; eben auch trotz und entgegen ihrer verschiedenen Formen der Wechselbeziehungen und Verschränkung. Denn einerseits werden Formen der Vergemeinschaftung und sozialen Kohäsion zunehmend auch in urbanen Kontexten relevant. Um sich sozial verorten zu können, bedarf es auch dort dichter und auf Dauer gestellter sozialer Beziehungen im Kontext des Lokalen: Man muss bzw. möchte wissen, wo man hingehört und wo man zuhause ist – und man kann halt nicht überall in der Stadt zuhause sein. Andererseits verändert sich das Dorf vor allem im Einzugsgebiet der Städte zu einer modernen urbanisierten Form des Zusammenlebens und auch der Siedlungsgestaltung. Demgegenüber hat das klassische stadtabgewandte Dorf mit seiner Anschlussfähigkeit an die moderne Gesellschaft zu kämpfen. Vor dem Hintergrund dieser Betrachtungen sollen im Folgenden die Stadt und das Dorf als je spezifische Lebensräume und Sozialzusammenhänge analysiert werden. Dabei geht es in diesem Beitrag um drei Fragen: 1. Ist die Stadt als Spiegelbild der Gesellschaft ein Lebensraum, der eigentlich nur dadurch funktionieren kann, dass alle ihre jeweiligen Rollen spielen und sich in den jeweiligen sozialen Räumen und Kontexten der Stadt auch bei Aufrechterhaltung sozialer Differenzen und kultureller Vielfalt angemessen verhalten und präsentieren können – also unter den Bedingungen unvollständiger Integration? 2. Kann das klassische traditionelle Dorf als Dorfgemeinschaft mit seinem Prinzip umfassender Vergemeinschaftung in der modernen Gesellschaft überleben oder muss es sich »urbanisieren«, um anschlussfähig an die Entwicklung moderner Gesellschaften zu werden oder zu bleiben? 3. Bedarf die Stadt der Strukturelemente dörflicher Vergemeinschaftung, damit dem Städter in dieser vermeintlich unübersichtlichen und komplexen Umgebung soziale Verortung gelingt – wenn er/sie diese für seine/ihre Identität als Städter überhaupt benötigt – und/oder findet das klassische Dorf mit seinem Grundmuster vollständiger Integration seine Identität gerade darin, als Gegenpol zu einer städtischen Vergesellschaftung in Erscheinung zu treten? Bevor Antworten auf diese Fragen formuliert werden, soll das Charakteristische der europäischen Stadt und des europäischen Dorfes herausgearbeitet werden, da eben jene Wesenszüge des europäischen Dorfes und der europäischen Stadt die Grundla-

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gen für die die Beantwortung der Fragen bieten. Anschließend soll die Beziehung von Stadt und Land ebenso wie das Verhältnis der Stadt zum Dorf diskutiert werden, auch um fragen zu können, was die Stadt als Gesellschaft und das Dorf als Gemeinschaft ausmachen.

AUSGANGSPUNKT : D IE DAS ALTEUROPÄISCHE

EUROPÄISCHE

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Die europäische Stadt und das alteuropäische Dorf waren immer schon prägend für die Entwicklung einer spezifischen Lebensweise und Spiegelbilder des gesellschaftlichen Wandels. Eigentlich gilt dies seit es überhaupt Städte gibt. Babylon, Rom und die Städte des frühen Assyriens waren immer schon der Inbegriff von Welt (Benevolo 2007). Allerdings kann man für die europäische Stadt Eigenarten herausarbeiten, die diesen Stadttypus von anderen Städten in anderen Kulturkreisen unterscheidet und die sicher zusammenhängen mit der europäischen Urbanisierungsgeschichte, die ja immer auch geprägt war von fürstlichen Stadtgründungen, Abgrenzungen zum Land, und der bereits erwähnten Entwicklung eines städtischen Bürgertums (vgl. Reulecke 1985, Siebel 2004, Mieg/Heyl 2013). Die europäische Stadt steht wie kein anderer Stadttyp für die Entwicklung des Bürgertums und einer bürgerlichen Gesellschaft seit der frühen Neuzeit, die bis in die heutige Zeit mit ihren Normen und Wertvorstellungen wesentliche Integrationsbedingungen und damit auch Ausgrenzungsbedingungen formuliert hat. Dies ist sicher eines der hervorstechenden Merkmale der europäischen Stadt. Dort wo sich Städte nicht als Bürgerstädte entwickelten, konnte sich auch ein Bürgertum nicht entfalten. Mit der europäischen Stadt bildete sich eine bestimmte städtische Lebensweise und mit dieser ein urbaner Lebensstil heraus, der eben nur durch die Stadt und ihre spezifische Struktur und Dynamik entstehen kann (Sennett 2000) und durch die Dialektik von Integration und Ausgrenzung getragen wird; unabhängig davon, dass jede Stadt ihre je eigene Dynamik und eine je eigene Logik hat, nach der sie eine spezifische kulturelle, ökonomische und soziale Kerndynamik entfaltet (Löw 2008: 65ff.). Auch das europäische Dorf hatte von jeher eine spezifische soziale Struktur und politische Verfasstheit, die es von Dörfern außerhalb Europas wesenhaft unterscheidet (vgl. Blickle 2006, Troßbach/Zimmermann 2006). Das europäische Dorf signalisiert dazu den Beginn einer spezifischen politischen Kultur und Verfasstheit der Gemeinde, später der Gemeinde als Gemeinschaft und Gemeinwesen, ja als Kommune kann das alteuropäische Dorf als »Urgestein des Politischen« (Blickle 2008: 62ff.) angesprochen werden.

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Z UM V ERGLEICH Eine ost-westeuropäische Vergleichsperspektive bezieht sich zum einen auf die Charakteristika der europäischen Bürgerstadt, die sich in den Kernländern Westeuropas ausgebildet hat und die sehr stark mit der bereits erwähnten Entstehung des Bürgertums als gesellschaftlich dominanter Schicht in den unterschiedlichen Ländern und Territorien Westeuropas verbunden ist. Dort aber, wo sich auch in Europa ein Bürgertum nicht oder nur rudimentär ausbilden und sich dementsprechend auch keine spezifische bürgerliche Lebensform entwickelt konnte, hatten die Städte einen anderen Charakter. So bildeten sich in Russland eher Herrscherstädte aus, Städte, in denen der Herrscher Hof hielt und die eine entsprechende vom Adel geprägte Ministerialität, das Militär und die Beamten, herausbildete, die die Stadt bewohnten. Dies wird im Anschluss am Beispiel typischer Merkmale der europäischen Stadt noch zu verdeutlichen sein. Ein weiterer Vergleichpunkt besteht in der unterschiedlichen Urbanisierungsgeschichte bzw. dem unterschiedlichen Verlauf der Urbanisierung, die die Formen der Städte in Westeuropa und in Osteuropa verschieden macht. In der ersten Urbanisierungsphase des Mittelalters haben sich in Westeuropa flächendeckend Dörfer und Marktflecken zu Kleinstädten, Landstädten und Mittelstädten ausbilden können, während in den mittel- und osteuropäischen Gesellschaften um diese Zeit nur punktuell Städte entstanden und Dörfer sich zwar entwickelten, aber eben Dörfer blieben – das hat sicher auch etwas zu tun mit der politischen Verfasstheit kommunaler Selbstverwaltung und ihren Entwicklungsmöglichkeiten in einigen Kernländern Westeuropas, auf die Gerhard Oestreich am Beispiel des Kameralismus als Verwaltungsform eingeht, die in Abhebung zum absolutistisch geprägten Merkantilismus zur Philosophie des aufgeklärten Absolutismus avancierte (Oestreich 1969; vgl. auch Baum 1988). So blieb in den mittel- und osteuropäischen Staaten die Gemeinde lediglich als Untergliederung des Staates erhalten, während sich in Westeuropa durch die Selbstverwaltung der Gemeinden eine subsidiär getragene Struktur entwickelte. Auch blieb der Gegensatz von Metropolen und Großstädten einerseits und kleineren Landstädten und Dörfern andererseits eher erhalten, als dass es dort zu Annäherungen hinsichtlich ihrer strukturellen Gestalt und funktionalen Ausrichtung gekommen wäre. Schließlich hat die Industrialisierung in den Kernländern Westeuropas, aber auch in Mitteleuropa (bspw. in Polen oder Tschechien), zu jener spezifischen Industriestadt geführt, die einen besonderen Charakter aufwies bzw. noch immer aufweist, weil sich in ihr Arbeit und Leben auch sozialräumlich aufs engste miteinander verband und dies seinen Ausdruck auch ihrer spezifischen städtebaulichen Gestaltung fand. Die Industriestädte Osteuropas hatten diese Form so nicht.

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Auch wenn sich in ganz Europa Industrialisierungsprozesse unterschiedlich entwickelt haben – zum Teil bildeten sich Industrieregionen aus, zum Teil kam die Fabrik aber auch ins Dorf und bildete eine neue Struktur des Nebenerwerbs für die dortige Bevölkerung –, die industrie-kapitalistische Ausprägung der Stadtstruktur war schon etwas sehr typisch für die Entwicklung und für die Erscheinungsformen der europäische Stadt. Seit dem 18. Jahrhundert hat sie zu einer sozialräumlichen Differenzierung von Arbeiterquartieren, bürgerlichen Vierteln und Mittelschichtquartieren entscheidend mit beigetragen. Gerade in den europäischen Industriestädten spiegelt die horizontale sozialräumliche Verteilung der Bevölkerung die vertikale soziale Schichtung der Gesellschaft wider – eine der zentralen Thesen der Chicagoer Schule und ihren stadtsoziologischen Untersuchungen (vgl. Burgess/Park 1925). Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich im Rahmen der Trennung Europas durch den »Eisernen Vorhang« auch die industrie-kapitalistische Entwicklung der Stadt im Westen von der durch den Sozialismus beeinflussten Stadtentwicklung und vom sozialistischen Städtebau im Osten zunächst getrennt. Die Fragen, wer wie und wo in der Stadt leben und arbeiten soll und welche Funktionen eine Stadt zu erfüllen hat, wurden nunmehr sehr unterschiedlich bearbeitet und beantwortet. Gleichwohl blieb die jeweilige bürgerliche Vorgeschichte der Städte, z.B. in der DDR und in anderen sozialistischen Ländern, auch noch während des Sozialismus virulent.

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MACHT DIE EUROPÄISCHE

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SO EINZIGARTIG ?

Walter Siebel (2004) macht auf fünf Merkmale aufmerksam, die die europäische Stadt von anderen außereuropäischen Städten unterscheidet. Wie bereits erwähnt, ist die europäische Stadt der Ort, an dem das Bürgertum, die bürgerliche Gesellschaft entstanden ist. Diese Geschichte der Stadt spiegelt sich auch in ihren öffentlichen Bauten und ihren Plätzen wider. Verbunden damit ist die Geschichte der Stadt als Emanzipationsgeschichte. Max Weber hat bereits die Stadt des Mittelalters als conjuratio, als Verbrüderung von Bürgern gegen den Usurpator, beschrieben. Es ging auch damals schon um die Emanzipation eines erstarkenden Bürgertums von der politischen Herrschaft des Landesherren oder kirchlicher Obrigkeit unter der Maßgabe der Selbstbestimmung (Weber 1920/1999: 45-199). Strukturgeschichtlich ging es um die Emanzipation des Wirtschaftsbürgers – des Bourgeois – aus der Ökonomie des oikos, des Ganzen Hauses zum Markt hin, der gleichzeitig das Handlungsfeld und den Inbegriff öffentlicher Kommunikation bildet. Und es handelte sich schließlich um die Emanzipation des Citoyens aus feudalistischen Herrschaftsverhältnissen zur Selbstverwaltung einer Gemeinde freier

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Bürger, aus denen dann Vorstellungen einer Republik und partizipatorische Ansprüche heutiger Bürgergesellschaften erwachsen konnten (und wohl auch sollten). Darüber hinaus ist die Stadt ein Ort einer urbanen Lebensweise, die durch die bereits erwähnte Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit entsteht. Wir greifen hier auf die Thesen von Hans-Paul Bahrdt zurück, dass ein städtisches Leben umso urbaner ist, je größer die Spannung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit ist (vgl. Bahrdt 1971). Ob diese Polarität und die daraus erwachsende Spannung heute noch eine Lebensweise urban macht oder ob es erst die Spannung zwischen Wohnung und Markt als konstitutiver Faktor des Öffentlichen ist, die eine städtische Lebensweise urban macht, mag zunächst dahin gestellt bleiben. Aber diese Art der Trennung dürfte eine ländliche Kleinstadt von einer Großstadt wie z.B. Halle unterscheiden und eben wiederum Halle von Paris. Die europäische Stadt ist des Weiteren, wie Wacquant feststellte, eine sozialstaatlich regulierte Stadt (vgl. Wacquant 1997). Ihre Lebensbedingungen, ihre sozialen Verhältnisse – auch die sozialen Konflikte und Spannungen –, ihre soziale Infrastruktur, ihr sozialer Wohnungsbau, ihre kommunale Sozialpolitik mit dem Ziel der Gestaltung sozialräumlicher Lebensverhältnisse weist sie zugleich als sozialplanerisch gewollte Stadt aus. Kommunale Sozialpolitik ist in dieser Hinsicht konstitutiv mit der Stadt verbunden. All dies zeigt sich auch in ihrer physischen Gestalt, in ihrer städtebaulichen Anordnung von Straßen, Plätzen, öffentlichen Bauten und Wohnhäusern. So hängt z.B. der Geschosswohnungsbau, der für die Stadt typisch geworden ist, zunächst mit einer städtischen Wohnungsbaupolitik zusammen, die das Ziel hatte, in der wachsenden Industriestadt Mitte des 19. Jahrhunderts geeigneten Wohnraum für die vom Land zuströmenden Arbeiter, schließlich aber auch für alle zu schaffen – auch für diejenigen, die es alleine nicht vermögen, sich geeigneten Wohnraum auf dem Markt und zu Marktbedingungen zu beschaffen. In einer Bürgerstadt gehörten die erwähnte Emanzipation von den Fesseln feudalistischer Herrschaft und die Entwicklung eines autonomen Wirtschaftsbürgertums zusammen, auch in dem Sinne, dass sie das urbane Leben geprägt haben. Die Entwicklung des Handelskapitalismus hat Städte zu Handelsstädten gemacht, in denen ein ausgeprägtes weltweit agierendes Wirtschaftsbürgertum sich entwickeln und ausbreiten konnte. Das Kontor wurde damit zum Inbegriff bürgerlicher Öffentlichkeit und diese wiederum zum Forum eines wirtschaftlich und politisch räsonierenden Publikums. Wir kennen Residenzstädte, in der die Ministerialität einen spezifischen bürgerlichen Habitus des Hofbeamten ausbildete (Vierhaus/Botzenhardt 1966) und wir kennen Industriestädte, in denen eine sich bourgeoise gerierende industriekapitalistische Klasse die Herrschaft innehatte und zusammen mit einer proletarischen Arbeiterschicht die Kerndynamik der Stadt bestimmte. Knut Schulz (2008) weist anhand einiger zentraler Beispiele die Entwicklung der Ministerialität in den

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Städten nach und kann dabei aufzeigen, wie sehr das städtische Bürgertum über diese Funktionen als Ministeriale die Geschicke der Stadt bestimmte. Die aus dem Patriziat entwickelte ministeriale Bearbeitung sozialer, regionaler oder sonstiger Fragen der Stadt zeigt sich bereits in Reichsstädten wie Worms, Nürnberg, Regensburg u.a., die auch Bischofsstädte waren, wo sich diese Form der Ministerialität eher entwickelte. Dazu zählen u.a. auch Mainz, Trier und Köln. Auch die Ausbildung einer spezifisch städtischen Öffentlichkeit verdanken wir dem europäischen Bürgertum (vgl. Habermas 1990). Was das Öffentliche dabei ausmacht, ist, dass diese Öffentlichkeit zum einen als typischer Repräsentationsrahmen des Bürgertums in Erscheinung trat. Zum anderen entwickelten sich neue Formen des politischen Diskurses im öffentlichen Raum, an denen jeder teilhaben konnte. Der Adel hatte seine Repräsentationsform in der Hofhaltung, das Dorf kannte das Wirtshaus als Ort eines räsonierenden Publikums oder, um mit Jaroslav Hašeks DIE ABENTEUER DES BRAVEN SOLDATEN SCHWEJK zu argumentieren: »Hospoda je centrem místní inteligence«, das Wirtshaus ist das Zentrum der lokalen Intelligenz (Hašek 1985). Das Bürgertum kannte in diesem Kontext seine Privatsphäre, die sich klar abgrenzen ließ von der Öffentlichkeit, der Salon war eine besondere Form der Herstellung von Öffentlichkeit im Kontext des Privaten (Habermas 1990).

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IST PRÄGEND FÜR DAS EUROPÄISCHE

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In Europa bildeten sich Dörfer zunächst als Notgemeinschaften von Häusern aus. Die eigentliche Einheit war das Haus als Inbegriff von Wirtschaftsbetrieb, Sozialzusammenhang, kultureller Einbindung und sozialräumlicher Verortung (vgl. Blickle 2008, Brunner 1980, Riehl 1976, Hofmann 1959). Mit dem Haus und der Hauswirtschaft tritt der Mensch, soweit er darüber verfügen kann, aus dem »Naturzustand« heraus, die Gemeinschaft der Häuser bildet den Grundstein für das Dorf. Hausfriede und Hausherrschaft bildeten wesentliche Voraussetzungen für die Beziehung zum Nachbarn und entwickelten sich institutionell zu Dorffriede und Dorfherrschaft als zentralen Elementen bäuerlicher Vergemeinschaftung. So bildeten sich zunächst Gemeinden aus, die erst einmal als autonome Verwaltungen des Alltäglichen entstanden und politisch auf das gemeine Ganze, auch das »gemeine« Beste ausgerichtet waren. Die Allmende war dafür das reale Symbol, der Inbegriff gemeinschaftlichen Handelns und auch der alltäglich konkrete Bezugsort dafür, dass man nicht nur in der Not zusammenhalten musste, sondern auch der alltägliche Nutzen des Gemeinen, des Gemeinsamen zu organisieren war. Wenn Peter Blickle (2000) darauf verweist, dass die Kommune das Urgestein des Politischen ist, dann zielt er genau auf dieses Charakteristikum in der Verfasstheit des europä-

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ischen Dorfes ab: auf die aus der Not erwachsene Gemeinschaft der Häuser, die ihren Alltag gemeinsam organisierte, auf ihre Selbstorganisation, auf ihre Selbstverwaltung und damit auch auf kommunale Repräsentation gegenüber übergreifenden Ansprüchen und Mächten. Für die Integrationspotentiale sorgte aber nicht nur die Allmende; auch auf die Kirche im Dorf war Verlass, auf die Pfarrei als Integrationsund Bewältigungshilfe durch das Heil, insoweit es sich nicht um gemischte konfessionelle Bevölkerungsgruppen handelte und die Prozesse bzw. Auswirkungen der Konfessionalisierung (Schilling 1991) auf dieser Ebene zu bewältigen waren. Im Grundriss erscheinen Gemeinden somit als Nachbarschaften, die ihre Beziehungen institutionalisiert haben und die im gegenseitigen Einverständnis Institutionen ausgebildet haben, die das Gemeindeleben regeln. Darauf verweisen René König und einige Autoren der frühen Gemeindestudien in Deutschland (vgl. König 1958, Kötter 1956). Zum Teil sind es alt hergebrachte Regeln mit überkommenen, zuweilen aber auch durchaus rekursiv gesetzten, mitunter auch nach rückwärts erfundenen Traditionsbezügen (Bausinger 1961). »Weil es immer schon so war«, konnte man sich vielfach einen anderen Zustand als den jetzigen nicht vorstellen. Diese erfahrene oder angenommene »Unvordenklichkeit des Rechts« (Maier 1980) bildete lange die Grundlage jedweder Kommunikation der Häuser untereinander, zumal deren Erinnerungen und Geschichten an Generationsfolgen und biographische Phasenverläufe gekoppelt waren (vgl. Bausinger 1961). Zum Teil entstanden aber auch immer wieder neue Regeln, die Normen ausbildeten, Erwartungen formulierten, die auch die Kommunikation strukturierten und Kompetenzen zuschnitten. Historische Erfahrungen, religiöse und konfessionelle Divergenzen und nicht zuletzt ökonomische Entwicklungen spielen für diese Prozesse eine zentrale Rolle. Diese Form der Institutionalisierung der Gemeinschaftsbildung aus einem »corps naturel« stellt dabei für den großen französischen Verfassungshistoriker Roland Mousnier (1980) die Voraussetzung dessen dar, was dann auch unter bürgergesellschaftlichen und verfassungstheoretischen Gesichtspunkten seit dem 18. Jahrhundert als bien commun bzw. bonum commune bekannt war: das Gemeinwohl der Gemeinde (vgl. Blickle 2008: 65).

V ERÄNDERUNGEN

DES

S TADT -L AND -V ERHÄLTNISSES

Die Stadt hatte schon immer ihr besonderes, immer auch ambivalentes Verhältnis zum Land und das Land wusste um die Bedeutung der Stadt als Ort der Macht, der Herrschaft, der Kultur – allerdings auch der Fremdheit. Schon früh waren somit die Stadtmauer, der Wall, die Stadttore nicht nur Einrichtungen der Ordnung, des Schutzes und der Sicherheit, sondern auch Symbole für die Trennung vom Land und damit eben auch Markierungen des Gegensatzes

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von Stadt und Land. Auch dies ist ein typisches Merkmal der europäischen Stadt: die klare Unterscheidbarkeit von Stadt und Land. Es gehörte auch von Anfang an zum Selbstverständnis der Stadt, dass sie sich als emanzipierte Bürgergesellschaft vom Land abgrenzen konnte, das demgegenüber im feudalen Zustand grundherrschaftlicher Abhängigkeiten verharrte. Gleichwohl konnte sich die Stadt nur dadurch entwickeln, dass die landwirtschaftliche Produktion Überschüsse erzielte, mit denen wiederum die Stadt versorgt wurde. Insofern damit die Stadt auch immer abhängig vom Land war, muss das Stadt-Land-Verhältnis zwangsläufig als ein ambivalentes gesehen werden. Zunächst ist festzuhalten, dass sich jener Dualismus von Stadt und Land, der bereits im 19. Jahrhundert vor allem von Heinrich Wilhelm Riehl (vgl. Riehl 1854, 1897, 1976) und Ferdinand Tönnies (vgl. Tönnies 1935/1991, zuerst 1887) angesichts industrie-kapitalistischer Entwicklungen sorgenvoll beobachtet wurde, sehr lange in der soziologischen Diskussion gehalten hat. Das Riehlsche Verständnis eines Dualismus von einem entstehenden städtischen Bürgertums als Kraft der sozialen Bewegung (Riehl 1976: 153) einerseits und dem Landadel und den Bauern als »Kräften der Beharrung« (ebd.: 57) andererseits hat lange auch in wissenschaftlicher und nicht zuletzt ideologischer Hinsicht einen Stadt-Land-Gegensatz konstruiert. Agrarromantik war die eine Seite der Medaille; die andere Seite war eine romantizistische und anachronistische Großstadtkritik. »Das deutsche Volk ist von Hause aus ein Landvolk gewesen«, so Riehl in seiner um die Jahrhundertwende 1900 – Berlin war gerade auf dem Weg zu zwei Millionen Einwohnern, einer Zahl, die dann 1905 bereits überschritten war – durchaus populären Studie zur Familie als Handlungsfeld der Sozialpolitik: »Das deutsche Volk siedelte sich zuerst nur in Höfen und Weilern an, unter fremdländischem Einfluss bildeten sich nachgehends die Städte.« (Riehl 1897: 290) Eine zunehmende industriell geprägte Verstädterung, auch Verelendung, verstärkte die Angst vor dem Moloch Stadt.1 Tönnies’ Entgegensetzung von Gemeinschaft und Gesellschaft ist bis heute prägend geblieben, zumindest für die theoretische und mitunter auch ideologisch geführte Diskussion um die jeweiligen Integrationslogiken von Stadt und Dorf. Wir haben es aber heute noch mit einem ganz anderen Prozess zu tun, der die Unterscheidung von Stadt und Dorf oder Stadt und Land zumindest schwieriger macht, weil ihr im Zuge weiterer Entwicklungen die klare Konturierung fehlt. Nicht nur, dass durch Suburbanisierungsprozesse das Land um die Kernstadt herum urbanisiert wird, zumindest aber verstädtert wirkt. Wir kennen seit dem von Thomas

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In seiner vierbändigen NATURGESCHICHTE DES DEUTSCHEN VOLKES ALS GRUNDLAGE EINER DEUTSCHEN

SOZIALPOLITIK spricht Riehl von der Gefahr, dass »die Zunahme der

großstädtischen Volksmassen« zu »einer wahrhaft vernichtenden Entscheidung für unsere ganze Civilisation« (Riehl 1854: 76) werde.

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Sievert (1998) eingeführten Begriff der »Zwischenstadt« eine Siedlungsform, die weder Stadt noch Dorf ist, die zum einen den Bezug zur Stadt strukturell braucht und dennoch zum anderen Wohn- und Lebensformen entwickelt, die eher an das Dorf erinnern. Wer dort wohnt, fährt – wie auf dem Land auch – in die Stadt. Auch die Wohnform der Einfamilienhaus-Bebauung mit Gartengrundstück erinnert an ländliche Strukturen. Und trotzdem ist es kein Dorf. Sieverts weist darauf hin, dass der Prozess des Übergangs von nicht besiedelten – ruralen – zu besiedelten – städtischen – Räumen stets geplant und auch gestaltet werden muss; dies gilt auch für das jeweilige Verhältnis der beiden Siedlungsformen zueinander. Bereits 1952 hat Herbert Kötter in seiner Darmstadt-Studie die Beziehung von Stadt und Land, von agrarisch geprägtem Umland und Stadt neu zu ordnen versucht, indem er den in die Stadt pendelnden Nebenerwerbslandwirt zum Prototyp einer Lebensform erhob, die sich in den Randzonen der Städte etabliert hatte und die Dörfer um die Stadt herum zu ihrem Einzugsgebiet erklärte (vgl. Kötter 1952). Dabei war auch eine Verschmelzung urbaner und ruraler Sphären und eines darauf bezogenen Lebens zu beobachten, in deren Folge es zu einer Interpenetration der Lebensstile kam. Dabei handelt es sich freilich um einen langen und auch nicht sehr einfachen, in gewisser Weise auch widersprüchlichen Prozess. Denn zum einen haben wir es im europäischen Raum in allen Gesellschaften immer noch mit Formen des traditionellen, auch stadtabgewandten Dorfes zu tun. Vielleicht ist es nicht mehr unbedingt hauptsächlich agrarisch geprägt, aber es hat eine traditionelle Lebensweise aufrechterhalten. Auch seine Integrationslogik beruht – vielleicht sogar gerade gegenläufig zu aktuellen sozialen und auch kommunalpolitischen Prozessen – auf einem durchaus noch traditionellen Verständnis von Dorfgemeinschaft. Die soziale Integration beruht im Selbstverständnis vieler Dorfbewohner noch immer eher auf dem Verständnis, einen bestimmten Wertehorizont gemeinschaftlich zu teilen, als dass unterschiedliche Wertvorstellungen unter den Bedingungen eines respektvollen Umgangs miteinander ausgehandelt werden können. Heterogenität und Vielfalt der Lebensstile sind dagegen eigentlich noch immer der Stadt vorbehalten, weil dafür auch sozialstrukturelle Differenzierung und soziale Ungleichheit als strukturelle Voraussetzungen notwendig sind, die das Dorf herkömmlicher Weise nicht kennt – zumindest aber nur in einem geringeren Maße zulassen kann, so dass Heterogenität und Vielfalt eher desintegrierend wirken, oder zumindest so erscheinen können. Zum anderen haben wir es vor allem in den industriell bzw. im Dienstleistungssektor fortgeschrittenen Gesellschaften mit Dörfern im Einzuggebiet von Städten oder in Metropolregionen zu tun, die zwar auch Dörfer bleiben wollen, in die aber bereits ein urbaner Lebensstil Einzug erhalten hat, weil ihre Bewohnerschaft auf dem Dorf wohnt, aber in der Stadt arbeitet, bzw. sich in ihren Wohnzusammenhängen und Freizeitansprüchen aus der Stadt ausgekoppelt hat. Dies wird später unter der Urbanisierung des Dorfes noch einmal aufgegriffen werden.

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Ist die Stadt als Spiegelbild der Gesellschaft und zugleich als ein Lebensraum zu verstehen, der eigentlich nur dadurch funktionieren kann, dass alle – wie in der Gesellschaft auch – in bestimmten Handlungsräumen ihre jeweiligen Rollen spielen und in den jeweiligen sozialen Räumen und Kontexten der Stadt sich angemessen, also funktional verhalten und präsentieren – gerade unter Aufrechterhaltung sozialer Differenzen und Tolerierung kultureller Vielfalt? Moderne, funktional differenzierte Gesellschaften integrieren ihre Mitglieder ohnehin nur unvollständig. Man ist in solchen Gesellschaften in einigen zentralen, weil konstitutiven Handlungsfeldern integriert – meist in Bildung, Wohnen, Arbeit und in den Gesundheitsbereich. In ganz vielen anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern ist man aber gleichzeitig gar nicht integriert oder nur rudimentär – und dies bewusst. Maßgeblich ist und bleibt aber auch hier, dass man dann gesellschaftlich integriert bzw. handlungsfähig ist, wenn man in den genannten zentralen Bereichen der Gesellschaft einen gleichberechtigten Zugang zu den dortigen Institutionen und institutionellen Kontexten hat. Moderne Gesellschaften sind in der Regel auch durch soziale Ungleichheit gekennzeichnet, also durch sozialstrukturelle Differenzierungen, kulturelle Heterogenität. Und moderne Gesellschaften sind von einem bestimmten sozialstaatlich verfassten Wohlfahrtsstaatsregime geprägt, was seinen Ausdruck findet in den sozialstaatlich vorgegebenen Rahmenbedingungen staatlichen Handelns und einer kommunalen Sozialpolitik (vgl. Mundt 1983, Grohs 2010). Kommunale Sozialpolitik hatte dabei schon immer klassische Aufgaben in der Wohnraumversorgung, der Gesundheitsversorgung und -fürsorge, im Bereich der Arbeit und der Versorgung der erwerbslosen Armen sowie der Jugend und in der Gewährleistung bzw. Sicherung ihres Hineinwachsens in die Gesellschaft durch sozialpädagogische Maßnahmen der Jugendhilfe. Zentrale sozialpolitische Aufgaben der Stadt in modernen Gesellschaften sind auch heute immer noch die Wohnraumversorgung, das Gesundheitswesen und die Jugendhilfe. Das ist deshalb erwähnenswert, weil die Stadt auch heute noch mit genau diesen Problemen zu kämpfen hat und gerade auch ihre Attraktivität als Stadt mitsamt ihrer Integrationspotentiale von der Frage abhängen, wie sie in diesen Bereichen sozialpolitisch aufgestellt ist, in welchem Maße sie diese Aufgaben in den Augen ihrer Bürger angemessen und zufriedenstellend bewältigen kann. Ein anderes Problem heutiger Städte stellt sich darüber hinaus angesichts der negativen Folgen sozialräumlicher Segregationsprozesse. Wir haben bereits weiter oben festgestellt, dass sich eine Bewohnerschaft nach bestimmten Kriterien in einem sozial-geographischen Raum einer Stadt verteilt (vgl. Burgess/Park 1925). Für das Grundmuster der Stadt sind solche Verteilungsprozesse sozialer, ökonomischer

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und ggf. auch kultureller Differenzierung zunächst normal und typisch, und dazu gehört auch, dass diese dann auch zu einer bestimmten Segregation von Wohnstandorten führen. Auch Segregation ist in diesem Zusammenhang zunächst kein problematischer Prozess. Denn Wohnstandortentscheidungen führen immer zu einer spezifischen sozialräumlichen Verteilungsdynamik. Diese Wohnstandortentscheidungen werden getragen von familienzyklischen Faktoren, sozioökonomischen Ressourcen, Zugängen zu Arbeit, zu Bildung, zu Gesundheit, Freizeit etc. Das Ergebnis dieser Ausdifferenzierung sind in der Regel sozial homogene Quartiere, in denen sich eine Bewohnerschaft trifft, die aufgrund ihres ähnlichen sozialökonomischen Status ähnliche Vorstellungen des Lebens und Wohnens teilt. So kommt es zur sozialen Entmischung; das sozial durchmischte Quartier hat sich inzwischen vielfach als eine Illusion entpuppt. Sozialistische Gesellschaften kannten Segregationsprozesse in den Städten auch, allerdings nach anderen als sozialökonomischen Kriterien. Wir beobachten vor allem in der Transformation postsozialistischer Städte inzwischen den Beginn eines solchen Prozesses, in dem vorher sozial durchmischte städtische Quartiere sich entmischen. In den fortgeschrittenen Gesellschaften Westeuropas hat dieser Prozess inzwischen einen Grad erreicht, wo wir von einer sozialen Spaltung der Städte sprechen können, deren erste Bedingung und erster Anfang die eben beschriebene sozialräumliche Differenzierung ist. Sozialräumliche Spaltung der Quartiere hat dann aber auch zur Folge, dass sich bestimme Milieus sozialräumlich abschotten, quasi unter sich bleiben. Das führt dazu, dass die einen mit den anderen aus anderen Quartieren nichts mehr zu tun haben, sich noch nicht mal mehr im öffentlichen Raum begegnen. Es kommt in der Folge zur sozialen Spaltung; der unkomplizierte Zugang anderer zu einem Quartier ist schwieriger geworden, wenn er überhaupt noch stattfindet. Dieser Prozess wird in dem Maße für sozial benachteiligte Quartiere in dem Maße prekär, in dem die Wohnadresse als Kriterium für die soziale Integration oder die soziale Ausschließung in der Stadt an Bedeutung gewinnt (vgl. Häußermann 2004, Dangschat 2000). Man wohnt nicht in einem privilegierten Quartier, weil man privilegiert ist, sondern man wird durch das Quartier privilegiert. Und man ist benachteiligt durch das Quartier. Der Ruf des Quartiers in der Stadt, die mangelnde urbane Struktur und die unzureichende Anbindung an die Kernstadt führen dann dazu, dass aus dem benachteiligten Quartier ein benachteiligendes Quartier wird und aus einem privilegierten Quartier ein privilegierendes Quartier: »Sage mir, wo du wohnst und ich sage dir, wer du bist.« Die bereits erwähnte Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit ist in diesem Zusammenhang nicht lediglich ein weiteres konstitutives Merkmal für die Stadt; auch wenn sie nicht mehr von der Spannung getragen wird, die ihr noch Bahrdt (1971) unterstellen konnte. Sie ist zugleich auch ein Merkmal für moderne Gesellschaften, denn die Privatsphäre wird immer bedeutsamer für die Lebensstilführung

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und die Wohnung zum Ausdruck dieser Präsentation von Lebensstil, zugleich aber auch ggf. unterlaufen bzw. konterkariert durch eine seit den 1960er Jahren fortlaufend zu beobachtende wachsende Bedeutung medialer Vermittlungen und entsprechender Anschlussmöglichkeiten an Medien und elektronisch getragene »soziale Netzwerke« (Castells 1977). Die Stadt kennt die beiden Bereiche des Öffentlichen und des Privaten sowohl als getrennte als auch aufeinander bezogene Sphären. Der Städter lernt oder weiß, dass er sich im öffentlichen Raum anderes verhalten und präsentieren muss, als er dies im privaten Raum tut; Georg Simmel spricht in diesem Zusammenhang von der Blasiertheit und einer nervösen Gereiztheit, an denen sich Städter nicht nur erkennen lassen, sondern die sowohl die Voraussetzungen als auch die Rahmenbedingungen für Kommunikation und Interaktion im städtischen Raum abgeben (Simmel [1908] 2008). Und eigentlich reicht für die Integration in die Stadt aus, dass man sich angemessen: zurückhaltend, »blasiert« und neutral im öffentlichen Raum bewegen und präsentieren kann, egal, wie man privat lebt; was zugleich erneut auf die für die Stadt konstitutive unvollständige Integration in die Gesellschaft der Stadt verweist. Viel wichtiger ist aber für die Stadt der Charakter und die Funktion einer bürgerlichen Öffentlichkeit, in der die Repräsentation im Verhältnis zu den anderen unter den Bedingungen ihrer Fremdheit und Anonymität und ihrer potentiellen Andersartigkeit das herausragende Merkmal ist und die die Interaktion zwischen den Akteuren im öffentlichen Raum kennzeichnet. Man gehört dazu und ist doch jedem anderen fremd. Simmels immer wieder gern zitierte Stelle aus seinem Aufsatz DIE GROSSSTÄDTE UND DAS GEISTESLEBEN (Simmel [1908] 2008), dass der Großstädter blasiert, intellektuell und reserviert seien, macht an dieser Stelle zugleich deutlich, dass es sich auch um Schutzmechanismen handelt, die der Großstädter braucht, um nicht in eine Kommunikationsdichte hineinzugeraten, in der er hoffnungslos verloren wäre. Städtische Öffentlichkeit ist damit zugleich geprägt durch Überraschendes, Widersprüchliches, durch Ambivalenzen, Fremdheit und kulturelle Andersartigkeit. Kulturelle und soziale Heterogenität waren immer schon typisch für die Stadt, haben in der Geschichte immer wieder auch zu Konflikten geführt oder wurden ausgehalten; der Städter hatte die Aufgabe, die daraus erwachsende Spannung immer wieder auch auszuhalten und die dazu notwendige Ambiguitätstoleranz zu entwickeln. Es geht dabei um die Fähigkeit, mit der potentiellen Möglichkeit eines Ereigniseintritts umzugehen, der sich der Vorausschau und der logischen Begründung aus einem spezifischen Handlungs- und Sinnkontext auch entzieht. Dass dies in der Geschichte der Städte unterschiedlich ausgeprägt war, unausweichliche Belastungen zu Bürgerkrieg oder auch – antisemitisch ausgerichtet – zu Pogromen führen konnte und geführt hat, lässt sich in nahezu jeder Stadtgeschichte Europas wiederfinden; Ludwig Tiecks 1831 erschienene umfangreiche Novelle DER HEXENSABBAT

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schildert diese Zusammenhänge aus der Geschichte der nordostfranzösischen Stadt Arras in einer bis heute ebenso verstörenden wie anschaulichen Weise. Allerdings entwickelt sich daraus auch für die Stadt ein besonderes Integrationsmodell. Eben weil jeder jedem fremd ist, kann bzw. sollte die Stadt die Heterogenität von Verhaltensmustern strukturell ertragen. Unvollständige Integration ist ja gerade das Grundprinzip sozialer Integration in der Stadt – übrigens mit der Folge, dass es deswegen auch nicht zur vollständigen Exklusion von bestimmten Individuen durch den öffentlichen Raum aufgrund spezifischer unerwünschter oder abweichender Verhaltensweisen kommen kann bzw. sollte. Der Städter lernt, dass es Verhaltensmuster und Präsentationsformen im öffentlichen Raum gibt, die er weder akzeptieren noch teilen muss, ihnen aber dennoch mit Respekt zu begegnen ist.

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Das Dorf integriert dagegen auf einer anderen Grundlage. Als »Urform« gemeinschaftlichen Lebens entwickelte das Dorf im Laufe seiner Geschichte ein kollektives Gedächtnis, das bei allen Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Dörfer das eine Dorf abgrenzt vom jeweils anderen. Ein kollektives Gedächtnis dient in diesem Rahmen zunächst der Abgrenzung gegenüber anderen, auch gegenüber dem Fremden und ist zugleich die Grundlage einer kollektiven Identität. Während der Städter die Geschichte seiner Stadt nicht kennen muss und trotzdem integriert sein kann, ist es im Dorf Voraussetzung der Zugehörigkeit, dass man jenes kollektive Gedächtnis kennt, das sich auf Erzählungen, Geschichten und Erfahrungen stützt. Aus der Dialektik von Abgrenzung vom Fremden und Integration der Dazugehörenden entsteht ein kollektiver Habitus. Der Dörfler interpretiert seine Gegenwart und seine Zukunft im Lichte der Vergangenheit, der Erinnerungen, der Traditionen, Sitten, Bräuche, die ein selbstverständliches Dazugehören signalisieren. Insofern war und ist die Dorfgemeinschaft nur Gemeinschaft im Sinne der Traditionen, die sie hervorgebracht hat und im Sinne der kollektiven Rituale, die Gemeinschaft erzeugten und immer noch erzeugen sollen. Integration gelingt hier in dem Maße, in dem man die spezifischen Traditionen, Bräuche, Sitten, Regeln teilt und den Habitus kennt und anerkennt, die die Menschen auf Grund ihres je spezifischen Raum- und Gemeindeverständnisses dort entwickeln und integrativ und identitätsstiftend wirken. Mit Habitus ist hier ganz in der Bourdieu’schen Tradition ein Begriff gemeint, mit dem man die Erzeugung und Reproduktion eines ganz bestimmten Lebensstils verbindet und dessen Repräsentation durch Symbole manifest wird. Ein solcher Habitus kann nur ein Produkt der sozialen und kulturellen, aber auch der sozialräumlichen Kontexte sein, in denen er gilt und präsentiert wird, die Anderen ihn als

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solchen wahrnehmen und darauf zu reagieren vermögen. Ein solcher Habitus entwickelt sich im Kontext des Alltäglichen. In den alltäglichen Interaktionen, in der alltäglichen Bewältigung des Lebens, in alltäglichen Formen der Repräsentation, des Umgangs miteinander und der Kommunikation untereinander wird ein bestimmter Lebensstil deutlich (vgl. Bourdieu 1991). Gemeinden entfalten aufgrund eines solchen, ggf. vorauszusetzenden, Habitus in der Regel sehr spezifische Logiken und Mechanismen sozialer Integration auch auf der Basis ihrer je spezifischen Geschichte, der besonderen regionalen und räumlichen Rahmenbedingungen ihrer Entwicklung. Man ist eine Dorfgemeinschaft in dem Maße und in der Art, wie man Geschichten, Erzählungen und Erinnerungen reproduziert. Dieses wiederum ermöglicht – idealtypisch – einen unkomplizierten Umgang mit der lokalen Realität, schafft Vertrauen in die Strategien der Alltagsbewältigung im Kontext der sozialräumlichen Gegebenheiten, ermöglicht Anerkennung und schafft das Gefühl, dazu zu gehören. Und Dörfer zielen, versprechen oder ermöglichen es, mit ihren überlieferten, erfahrenen und durch Erinnern tradierten Praktiken und Handlungsmustern einen Eigensinn zu schaffen, mit dessen Hilfe ihre Bewohner die Zukunft deuten, Phantasien entwickeln und Lebensentwürfe im Lichte der Traditionen, des Vergangenen und des kollektiven Gedächtnisses planen bzw. ggf. auch umsetzen können (vgl. Kaschuba/Lipp 1982). Dadurch entstehen lokalspezifische Interpretationen der Welt »draußen«, Erzählungen und Strategien sozialer Verortung. Es entstehen daraus spezifische Netzwerke, auch Machtkonfigurationen und soziale Vernetzungen, die hier eine höhere Dignität und Plausibilität besitzen als anderswo; solange der Rahmen des Dorfes in Geltung erscheint können diese auch entsprechend eingefordert bzw. ggf. auch »konstruiert« werden. Und es entwickeln sich unter Umständen spezifische Formen der Orts- und Domizilbindung, der sozialen Interaktionen und der damit verbundenen speziellen Ausprägungen von Konfliktbearbeitungs- und Aushandlungsprozessen, die nur hier und nirgends sonst gelten. Deshalb kann es sein, dass sich daraus auch unterschiedliche Integrationslogiken, -mechanismen und -praxen ergeben, die an diesen Ort gebunden sind. Erst dann kann der Raum des Dorfes imaginär und ggf. de facto durch die »Einheit des Ortes« (Bausinger [1961] 1986: 56) charakterisiert werden. Solche Orte sind dann durch die Zusammengehörigkeit des Geschehens und durch die nur dort gegebenen Verständigungsmöglichkeiten sowohl gekennzeichnet als gleichzeitig auch begrenzt. Was über diesen Verständigungshorizont und über den Erfahrungshorizont des Geschehenen im Dorf hinausgeht, wird ausgeblendet und bleibt fremd (vgl. ebd.). Die Dorfbewohner können – im Idealtypus des Dorfes als isolierter gemeinschaftlicher Lebenszusammenhang – in diesem Rahmen das Dorf nur je spezifisch als ihren besonderen gelebten Sozialzusammenhang identifizieren und, soweit sei auf ihr Dorfbewohner-Sein begrenzt werden, nicht darüber hinaus konstruieren.

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Während man sich im Dorf Gedanken darüber macht, warum man nicht gegrüßt wird, würde dem Städter diese Form der Kommunikation Stress machen, wenn ihn Fremde grüßen würden (vgl. Bausinger 1987). Die Anonymität der städtischen Öffentlichkeit erlaubt dagegen eigentlich erst jene Vielfalt und Heterogenität von Verhaltensweisen und Repräsentationsformen, die wir der Großstadt zuschreiben und die wir dort zumindest auch nicht als desintegrierend bezeichnen würden. Im Dorf führen Vielfalt und divergierende Verhaltensmuster allerdings wohl eher zu Irritationen, die eine oder andere Verhaltensweise kann dann durchaus zu einer devianten erklärt werden. Man kennt den anderen nicht nur als Individuum, sondern kann ihn meist verorten, zu diesem Hof zugehörig identifizieren, man kennt seine Familie und seine Lebensumstände. Meistens ist der Wohnort in solchen Dörfern auch noch der Arbeitsort (gewesen) oder man hat seinen Arbeitsplatz im Nachbarort oder der nächsten Stadt, ohne dass die Chance besteht, in diesem oder dieser soweit integriert zu sein, dass man seinen oder ihren Lebensstil mit nach Hause bringt. Insofern dies noch gilt oder stattfindet, integriert das Dorf den einzelnen dann jeweils »total«. Diese Unterscheidungsmerkmale sind auch wichtig für das Verständnis des klassischen, idealtypischen Dorfes und seiner Schwierigkeiten, Anschluss an die moderne Gesellschaft zu finden. Sie zeigen auch die Herausforderungen auf, die ein Dorf auf sich nimmt auf dem Weg in die Moderne als urbanisiertes Dorf.

D AS D ÖRFLICHE

IN DER

S TADT

Wo finden wir das Dörfliche in der Stadt? Wir entdecken inzwischen auch wieder in städtischen Zusammenhängen eine Form von sozialer Vernetzung und sozialer Kohäsion, die wir nur auf dem Dorf kennen. Über einen längeren Zeitraum aufrecht erhaltene nachbarschaftliche Kontakte schaffen auch in Stadtteilen Traditionen und Rituale, die auf gegenseitiger Anerkennung und einer Form von sozialer Kontrolle beruhen, die wir sonst nur im ländlichen Raum kennen: Formen des gegenseitigen Aufpassens und auch Schützens; wobei sicherlich auch die Möglichkeiten besteht, die Kontrolle devianter Verhaltens- und Lebensweisen mit einer breiteren Toleranzerwartung zu verbinden. Vielleicht auch als Reaktion auf die immer globaler und unübersichtlicher werdenden Stadtgesellschaften (vgl. Sassen 2001) lassen sich solche Vergemeinschaftungstendenzen in den Stadtteilen vor allem von Großstädten und Metropolen feststellen. Eben weil Zu-Hause-Sein auch Übersichtlichkeit und Vertrautheit mit den Strukturen bedeutet, ist die Herausbildung lokalspezifischer Kommunikationsmuster und Traditionen inzwischen auch in der Stadt eine Reaktion auf Formen vergesellschaftender unvollständiger Integration – und damit als Chance und Risiko in einem zu verstehen.

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Im Zuge dieser Entwicklung kommt es, zumindest in westeuropäischen Ländern, auch in urbanen Siedlungs- und Lebensverhältnissen zu einer Renaissance der sozialen Verortung durch Vergemeinschaftung, die auf Zugehörigkeit und auf Vertrauen in die Alltagsbewältigung im Kontext des Wohngebietes beruht und die gegenseitige Anerkennung erlaubt. Indikatoren der Entwicklung lokalspezifischer Traditionen sind z.B. Straßenfeste, Nachbarschaftsfeste und nachbarschaftliche Unterstützungssysteme, die eher auf Ansprüche von Vergemeinschaftung hindeuten als auf Gesellschaft und auf deren institutionalisierte Systeme und Netzwerke unter den Voraussetzungen moderner, also prinzipiell unvollständiger, Integration. Es muss ja nicht gleich das Dorf in der Stadt sein, das sich im Zuge der zunehmenden Bedeutung lokaler Vernetzung ausbildet. Es geht in den Stadtteilen und Quartieren auch nicht vorderhand um dörfliche traditionelle Vergemeinschaftung in Abgrenzung zum anderen Stadtteil oder zu moderneren Entwicklungen der Urbanisierung, obwohl es solche quasi-dörflichen Grenzziehungen auch zwischen städtischen Quartieren gibt und diese bspw. bei der Herausbildung subkultureller Jugendstile eine Rolle spielen (vgl. Hall/Hey 1980). Allerdings gibt es ein Wiederbeleben spezifischer Integrationsmodi in der Großstadt, die ihrerseits auch eine Geschichte haben, wie in Berlin der Kiez, mitunter sogar den Linien der ehemaligen Dörfer folgen, bevor sie in die jeweils städtischen Strukturen integriert wurden (Bornheim, Bonames und Eschersheim in Frankfurt am Main, Neukölln, Grünaus oder Schönefeld in Berlin). Es ist mitunter noch nicht einmal nur der Wunsch nach Nähe und sozialer Verortung angesichts urbaner Distanz zum Anderen, der auf neue suburbane Integration Wert legt. Vielmehr sind es historisch gewachsene, traditionelle Formen der Aneignung und Gestaltung des öffentlichen, eben auch »gemeinen« Raumes, die die städtebauliche Gestaltung mitbestimmen werden und die sich nur dort ausbilden, wo die dort lebenden Menschen das Gefühl haben, der Raum gehöre auch ihnen und es sei legitim, ihn so zu besetzen, dass man sich in ihm wohl und mit anderen verbunden fühlt. In Quartieren, in denen eine alte angestammte Bewohnerschaft sich etabliert hat, die den einen oder anderen Zugezogenen in sich aufnimmt, weil er so ähnlich ist, wie die anderen erscheint und deshalb auch dazugehört, entstehen ggf. solche dorfähnlichen Formen der Vergemeinschaftung, die vom Respekt vor dem Anderen (vielleicht auch vor seiner Unnahbarkeit) getragen sind, dem man aber jeden Tag begegnet, weil er auch da ist und der dann ebenfalls feststellt, dass man einander immer begegnet; und wenn dann einer der beiden fehlt, wird deutlich, dass auch dieser bei aller respektvollen Distanz dazugehörte. Anschaulich wird dieser Gedanke in der Filmdokumentation EINER FEHLT (2013) von Mechthild Gaßner, die einmal mehr auf die Problematik unserer Städte verweist, dass sie offensichtlich auch für eine angestammte Bewohnerschaft in den gewachsenen Quartieren z.B. im Zuge von Gentrifizierungsprozessen immer weniger integrationssichernde und identitätsstiftende Handlungsräume bieten.

D ORF

D AS S TÄDTISCHE DES D ORFES

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D IE U RBANISIERUNG

Wo entdecken wir das Städtische im Dorf? Im modernen Dorf haben inzwischen Veränderungsprozesse eingesetzt, die das Dorf urbaner machen. Gemessen an den erläuterten typischen Prozessen des sozialen Wandels entwickeln sich Tendenzen, die von einer Urbanisierung des Dorfes sprechen lassen. Früher waren es der Lehrer und der Pfarrer, die einen urbanen Lebensstil mitbrachten, zu dem die bäuerliche Gesellschaft allerdings dann auch keinen Zugang hatte – auch nicht brauchte und meistens ebenso wenig fand. Im modernen Dorf haben wir es inzwischen auch mit strukturellen Veränderungen zu tun, die darauf hindeuten, dass sich die Kommunikation dort im öffentlichen Raum verändert hat und sich inzwischen auch hier Privatheit von Öffentlichkeit derart unterscheidet, dass sich auch die Präsentationsformen verändern und die Themen im öffentlichen Raum anders gelagert werden als jeweils zuhause. Man tauscht sich nicht mehr mit allen im Dorf über das aus, was eigentlich privat ist (und was herkömmlicherweise auch für alle kommunikativ zugänglich war). Auch das Dorf integriert unter den Bedingungen fortgeschrittener und fortscheitender Moderne den einzelnen nicht mehr vollständig. Viele Aspekte der Lebensstilführung entziehen sich der sozialen Kontrolle und basieren nicht mehr auf den Traditionen und Bräuchen, aus denen das Dorf bisher sein kollektives Gedächtnis, seinen Anspruch auf Gemeinschaft sowie seine Funktionen der Integration begründete. Und was die sozialräumliche Differenzierung der Bewohnerschaft im Dorf betrifft, so lassen sich auch hier Annäherungen zwischen Stadt und Dorf beobachten. Zwar lassen sich Segregationsprozesse immer noch vor allem bei einer bestimmten Größenordnung der Städte oder Kommunen feststellen, aber auch auf dem Dorf gibt es inzwischen eine Form der sozialräumlichen Segregation, die vor allem die Bewohnerschaft von Neubaugebieten von den Alteingesessenen unterscheidet. Nun darf man sich die Urbanisierung des Dorfes nicht so vorstellen, dass sich das Dorf zur Stadt entwickelt oder Stadt wird. Vielmehr haben wir es mit einer dialektischen Verknüpfung urbaner Elemente und dörflicher Strukturen zu tun, die das Dorf weiterhin Dorf sein lassen, während sich aber im Dorf zugleich die Formen und Bedingungen sozialer Integration und die Art der Teilhabe an öffentlichen Diskursen und Kommunikationsprozessen verändern. Die Dorfgemeinschaft nimmt zudem in einer bestimmten Weise stadtgesellschaftliche Element auf, so dass auch im öffentlichen Raum der Dörfer Fremdheit, Anonymität und Unvorhergesehenes auftreten und somit auch dort der öffentliche Raum Spannungen und Ambivalenzen erzeugt, die man aushalten muss und die zugleich Anstöße zur Innovation unterschiedlichster Art bedeuten können.

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Kann denn vor diesem Hintergrund der Idealtypus des klassischen, »traditionellen« Dorfes als Dorfgemeinschaft mit seinem Prinzip umfassender Vergemeinschaftung unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft überleben oder muss es sich im Ganzen »urbanisieren«, um anschlussfähig an die Entwicklungen einer sich fortschreitend modernisierenden Gesellschaft zu werden oder zu bleiben? Oder findet angesichts dieser Entwicklungen das klassische Dorf seine Identität gerade als Gegenpol zu einer städtischen Vergesellschaftung mit ihrem Grundprinzip unvollständiger Integration? Der klassische Idealtypus Dorf ist sicherlich noch immer sehr stark geprägt von der Dorfgemeinschaft, auch als Notgemeinschaft der Häuser. Demnach tritt man noch immer auch aus der Hausgemeinschaft heraus und formiert sich als »Solidargemeinschaft« des Dorfes, in der die Geschicke des Einzelnen mit den Geschicken der Dorfgemeinschaft auf Identität hin beobachtet und ggf. bearbeitet werden. Diese Form der Vergemeinschaftung steht allerdings deutlich im Widerspruch zur Autonomie und zur Individuation, wie sie moderne Gesellschaften versprechen und erzeugen, fordern und reproduzieren; zumindest aber erscheint sie vor diesem Hintergrund ambivalent. Moderne Wohlfahrtsregimes versorgen und versichern Individuen, die Dorfgemeinschaft ist dagegen eine Solidargemeinschaft, in der der Einzelne dann seinen Platz hat, wenn er über bestimmte Verbindungen (Familien, Vereine, Konfession, Besitz und Funktion) verfügt. Während mit der Urbanisierung des modernen Dorfes die Chance besteht, traditionelle Formen des Zusammenlebens mit modernen Prozessen der Individualisierung zu verbinden und dadurch zu neuen, in gewissem Sinn individualisierteren Lebensstilführungen im modernen Dorf zu kommen, hatte das traditionelle Dorf zunächst keinen Zugang zur Moderne und ihren Vergesellschaftungstendenzen. Man kennt vielleicht die Stadt – sie bleibt dem Dörfler aber auch fremd, er hat zu ihren Facetten und deren Vielfalt keinen nachhaltigen mentalen Zugang. Für die west- und osteuropäischen Gesellschaften werden diese in sich deutlich begrenzten Dörfer aber offensichtlich immer mehr zum Problem. Durch Abwanderung der Jungen und die zurückbleibenden Alten drohen diese Dörfer tatsächlich auszusterben. Gerade in westeuropäischen Gesellschaften werden solche Dörfer im Einzugsgebiet der Städte und in Metropolregionen, ebenso aber auch in Zwischenregionen wie bspw. dem Elsass, inzwischen ganz allmählich zu Wohnorten oder Rückzugs- und Freizeitorten einer privilegierten Mittelschicht, die bewusst diesen (teilweise auch wieder neu inszenierten) ländlichen Lebensstil als Erholung von der Stadt und dem beruflichen Alltag betrachtet und sich geradezu wünscht, dass diese Dörfer nicht in dem Maße urbanisiert werden – weil dann schließlich zu befürchten wäre, dass auch dort die gleichen »Stressfaktoren« auftreten, die man aus der Stadt schon kennt.

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C ONCLUSIO Stadt ist – idealtypisch – noch immer Ort der Gesellschaft und das Dorf vermeintlich Ort der Gemeinschaft. Die Stadt vergesellschaftet mit allen Konsequenzen, die moderne funktional differenzierte Gesellschaften mit sich bringen, was zugleich auch bedeutet, dass sie per se und systematisch immer nur partiell integriert. Die Stadt mit ihren typischen Merkmalen – wie der Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit, der sozialräumlichen residentiellen Segregation ihrer Wohnquartiere sowie eben ihrem Integrationsmodus der unvollständigen Integration –, diese Stadt ist auf der einen Seite eine Chance für kulturelle Heterogenität und Vielfalt, auf der anderen Seite bedarf sie eines sehr hohen Integrationspotentials und bewirkt damit auch die Suche nach Gegenwelten, ggf. in den Sphären der eigenen Pluralität. Denn sie ist in der Komplexität ihrer urbanen Lebensstilführung zugleich auch dann eine Überforderung, wenn man keinen mentalen Zugang und die dazu notwendigen Handlungskompetenzen zu dieser Form der Stadt als Handlungs- und Erlebnisraum gewinnt; zumal auch in den sozialen Gruppen und Schichten, denen entsprechende Kapitalausstattungen (ökonomische, kulturelle, soziale und symbolische) fehlen. Wenn man heute junge Studierende fragt, wo sie lieber wohnen wollen, dann sagen diese häufig auch: auf dem Dorf. Die Stadt wird mit Dreck, Verkehrslärm, schlechter Luft, schlechten Bedingungen für Kinder und Jugendliche, mit Unübersichtlichkeiten, Risiken, Komplexität identifiziert und seltener mit ihrem kulturellen Wert, ihrem Zugang zur Urbanität als einem spezifischen Lebensstil in Verbindung gebracht. Außerdem sei die Stadt zu teuer zum Wohnen und Leben und im Zugang zu Freizeit- und Bildungseinrichtungen. Die Stadt erscheint (wieder) als Moloch, der sie vermeintlich schon in der Kulturkritik der Jahrhundertwende 1900 war (vgl. Riehl 1854, Tönnies 1935) – aber dennoch man will auch heute nicht ganz weg von ihr, denn man braucht sie auch. Das klassische Dorf ist – idealtypisch – demgegenüber in seiner Übersichtlichkeit, aber auch in der Begrenztheit und Beschränktheit seiner Möglichkeiten, noch immer mit der Vorstellung und ggf. auch Erfahrung einer begrenzenden und beschränkenden Gemeinschaft verbunden, die einer besonderen Mentalität bedarf – auch deshalb, weil man erwartet, in ihr umfassend integriert zu sein und sich prinzipiell im öffentlichen Raum nicht anders präsentieren kann und muss als zuhause – weil es dort eine spezifische Öffentlichkeit (noch) nicht gibt. Diese Gemeinschaft soll noch immer durch eine hohe Kohäsion und ihre auch umfassende soziale Kontrolle als Gemeinschaft auf sich selbst verwiesen sein, was nicht zuletzt dazu führt, dass die Behauptung des Einzelnen als autonomes und sich distanzierend ins Verhältnis zu anderen setzendes Individuum dort schwieriger ist als in der Stadt. Ist deshalb das urbanisierte Dorf – das traditionelle Formen der Vergemeinschaftung mit städtischen Strukturen verbinden und diese damit ins Dorf bringen

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kann – die Lösung? Und ist andererseits die Sehnsucht des Städters nach sozialer Verortung, Anerkennung, Zugehörigkeit und Vertrauen in die sozialräumlichen Strukturen des Quartiers als ein Gegenpol zu einer Unübersichtlichkeit, Komplexität und Verlorenheit in der modernen Stadt zu verstehen? Bietet darüber hinaus das Dorf etwas, was wir mit Heimat umschreiben können (Bausinger 1980) und was auch der Städter sucht: als etwas, was ihn emotional an einen Ort bindet, weil dieser für ihn eine besondere Bedeutung hat? Und kann eine solche Gefühle ansprechende und Sicherheiten versprechende Bedeutung über die Schaffung von Strukturen, die man auf dem Dorf für normal hält bzw. gehalten hat, in städtischen Umgebungen hergestellt werden? Wir haben es offensichtlich mit zwei Prozessen zu tun, die sich gegenseitig vermutlich auch bedingen. Der eine Prozess deutet darauf hin, dass die Stadt das Dorf braucht, oder besser: der Städter das Dorf wieder braucht, um im Kontext des Urbanen einen Lebensstil zu pflegen, der es erlaubt, auch in teilintegrierten Verhältnissen zuhause zu sein, sich zu etwas zugehörig zu fühlen, das auf Gemeinschaft gründet bzw. als solche erscheint. Es bilden sich also wieder Gemeinschaftsformen aus, die trotz Vergesellschaftungstendenzen der modernen Großstadt so etwas wie soziale Verortung, Vertrauen in die Alltagsbewältigung und Lebensstilführung sowie Vertrauen und Anerkennung im Kontext des Quartiers ermöglichen, insgesamt also zumindest den »Sinn« der Zugehörigkeit erzeugen. Das beweist noch einmal mehr: Man kann in einer globalisierten Welt nicht überall zuhause sein; man muss wissen, zumindest sich vorstellen können, wo man hingehört. Andererseits entsteht vor allem in den westeuropäischen Gesellschaften, aber auch zunehmend im Einzugsgebiet mittel-, ost- und südosteuropäischer Metropolen ein allmählicher Prozess der Urbanisierung des Dorfes, in dessen Verlauf das Dorf zwar nicht zur Stadt verändert werden soll, aber modernisiert und pluralisiert wird. Attraktiv bleiben in jedem Fall jene Dörfer als Wohnstandorte, die in der Nähe einer Stadt oder in einer Metropolregion liegen, weil und wenn sie eine Mentalität ermöglichen und ein Lebensgefühl vermitteln, dass man sich zum einen als Städter in der Stadt angemessen bewegen und zum anderen in einem Dorf wohnen und dort – je nach Wahl – sich auch unterschiedlichen Formen der Dorfgemeinschaft anschließen kann.

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F ILM Einer fehlt (2013) (D, R: Mechthild Gaßner)

(R)urbane Landschaften Räume zwischen Stadt und Land entwerfen S IGRUN L ANGNER

AUF

DER

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NACH

ARKADIEN

Am Wochenende packt der Städter den Picknickkorb und fährt hinaus aufs Land. Doch wohin fährt er dann überhaupt, wo hört die Stadt auf und wo beginnt das Land? In den alltagsweltlichen Zusammenhängen herrscht ein Landschaftsbegriff vor, der auf einem Dualismus zwischen Stadt – als dicht bebauten Raum – und Landschaft – als hauptsächlich unbebauten, natürlichen Raum – basiert. Landschaft wird idealtypisch als ländlich-harmonische Gegend verstanden, die geprägt ist von arkadischen Landschaftsszenerien. Mit Landschaft verbinden wir im alltagsweltlichen Gebrauch die offene, weite, unbebaute und grüne Gegend, die draußen hinter der Stadtgrenze beginnt. Die sich auf das Jahr 1976 beziehenden semantischen Untersuchungen von Hard/Gliedner (1978) können diesbezüglich nach wie vor noch als aktuell gelten. Die Bilder im Kopf erweisen sich als relativ fest und stabil. Dieses in den Köpfen manifestierte Gegensatzpaar entspricht schon längst nicht mehr den sozialen und räumlichen Realitäten aktueller urbaner Landschaften. Der Städter auf der Suche nach dem Land durchquert im Auto auf der Schnellstraße ein Konglomerat aus Supermärkten, Einfamilienhaussiedlungen, Gewerbebauten, Autobahnzubringern, Brachflächen und Sukzessionswäldern, um schließlich, wenn sich das Dickicht etwas lichtet, in einer hochtechnologisierten Agrarlandschaft anzukommen. Die Suche nach Versatzstücken eines idealisierten arkadischen Landbildes mit weidenden Schafherden, Bauerngehöften, Almen, blühenden Obstwiesen und kleinteiligen Feldfluren, die allesamt Weite erleben lassen und doch durch Sölle und Feldgehölze dem Auge Abwechslung bieten, ist die Suche nach dem Verschwindenden. Diese Raumbilder sind mit Wirtschafts- und Lebensweisen verbunden, die

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es tatsächlich kaum noch gibt und geben kann. Die Produktionsprozesse auf dem Land sind industrialisiert und technologisch optimiert. Dort, wo natürliche Bedingungen eine industrielle Landwirtschaft erschweren, tritt der Landwirt zunehmend als Landschaftspfleger in Erscheinung. Die Landwirtschaft wird hier zum Dienstleistungsunternehmen des Tourismus, indem bestimmte Bewirtschaftungsweisen musealisiert werden, wie beispielsweise in der Lüneburger Heide oder den Alpen, oder sie führt Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen des Naturschutzes aus. Nur noch 2,4 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland sind überhaupt noch in der Landwirtschaft tätig (Siebel 2009: 88). Die hochtechnologisierte und rationalisierte Agrarwirtschaft benötigt nur noch wenige Arbeitskräfte für den Anbau vor Ort. Das Land ist die Produktionsfläche für die Nahrungsmittel- und Energieindustrie, deren Bewirtschaftung von globalen Marktprozessen bestimmt wird. Die Landbewohner selbst sind größtenteils nicht mehr in die Bewirtschaftung des Landes eingebunden. Die räumliche und soziale Struktur der Dörfer ist entkoppelt von der sie umgebenden Produktionszone (Overmeyer/Schelle 2010: 845). Mit dem Wandel ländlicher Lebens- und Wirtschaftsweisen ändert sich auch die Landschaft. »Das, was üblicherweise als Kulturlandschaft verstanden wird, das Ensemble von Wald, Wiese, Acker und Dorf, ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen agrarischen Arbeit, der Interaktion von Mensch und Natur« (Pretthofer/ Spath/Vöckler 2010: 28). Dieser dynamische Prozess aus dem Zusammenspiel naturräumlicher Bedingungen und menschlichen Handelns, der Landschaft produziert, ist nicht abgeschlossen (Corboz 2001: 148). Die Industrialisierung der Landwirtschaft und die Globalisierung ihrer Produktionsweise formen und verändern die Landschaft. Ein romantisierendes Kulturlandschaftsbild, gekoppelt an die Bedingungen einer traditionellen Bewirtschaftung des Landes, ist in den Bildausschnitten der Tourismusbranche, in Bilderbüchern für Kinder oder auf Lebensmitteletiketten sehr lebendig, lässt sich aber kaum noch in der aktuellen räumlichen Realität eines urbanisierten und durchsiedelten Europas finden. Das Land als das »Andere« der Stadt scheint es nur noch als Sehnsuchtsort zu geben, für den es immer schwieriger wird räumliche Strukturen zu finden, die diesem Bild entsprechen (Pretthofer/Spath/Vöckler 2010: 17).

D IE AUFLÖSUNG DES S TADT -L AND -G EGENSATZES IM » SPACE OF FLOWS « Die Trennung zwischen Stadt und Land basiert auf einem gesellschaftlichen Gegensatz, der durch unterschiedliche Wirtschafts- und Lebensweisen gekennzeichnet ist. Politische, ökonomische und kulturelle Unterschiede, die historisch zwischen Stadt und Land bestanden, sind jedoch weitgehend verschwunden. Urbane und ländliche

(R) URBANE L ANDSCHAFTEN

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Lebensweisen haben sich angeglichen. Die gesamte Gesellschaft ist urbanisiert (Siebel 2008: 89). »Berufstätigkeit außerhalb der Landwirtschaft, marktförmige Organisation der Ökonomie; demokratische Verfassung der Politik und die urbane Lebensweise, all das, was historisch die Stadt als das ganz Andere, als räumliche Gestalt einer anderen Gesellschaft gegenüber dem Land kennzeichnete, hat sich von der Stadt gelöst. Die Gesellschaft als ganze ist heute urbanisiert. Stadt und Land sind keine gesellschaftlichen Gegensätze mehr sondern ein Mehr oder Weniger vom Gleichen.« (Siebel 2008: 89)

Die Auflösung des traditionellen Stadt-Land-Gegensatzes ist mit globalen Urbanisierungsprozessen verbunden, die ein »urbanes Gewebe« spinnen, das sich mal mehr, mal weniger dicht über das Land legt. Mit diesem metaphorischen Bild beschreibt Henri Lefèbvre (2003 [1970]) die These der vollständigen Urbanisierung der Gesellschaft. Diese bezieht sich jedoch nicht nur auf räumlich-bauliche Strukturen, die sich grenzenlos ausbreiten und verdichten, sondern auf »die Gesamtheit der Erscheinungen, welche die Dominanz der Stadt über das Land manifestieren. So verstanden sind ein zweiter Wohnsitz, eine Autobahn, ein Supermarkt auf dem Land Teil des Stadtgewebes« (ebd.: 14).

Dieses »urbane Gewebe« beschreibt eine gesellschaftliche Realität, die aufgrund von Individualisierung und Globalisierung von einer fast vollständigen Urbanisierung geprägt ist. Der Stadt-Land-Gegensatz löst sich im so genannten »space of flows« auf (Castells 2001: 431). Unterstützt durch eine erhöhte Mobilität und vielfältige Kommunikationsströme organisieren sich der Wirtschaftsraum, der kulturelle Raum sowie der soziale Raum immer stärker in Netzwerkstrukturen, die keine räumlichen Grenzen kennen. Die Zunahme von räumlichen und funktionalen Verflechtungen über einen begrenzten Stadtraum hinaus führen zu einer grenzenlosen Ausdehnung des urbanen Raumes. Der Begriff »Stadt« erfährt eine weitgehende Entgrenzung, da Stadt nicht mehr als eine physisch-siedlungsstrukturelle Einheit verstanden wird, sondern als ein fließender Raum von Personen, Informationen und Gütern, der nach Kriterien der Verflechtung definiert wird. In diesem Sinne beschreiben Baccini und Oswald (1998) ein »urbanes System« als ein flächendeckendes und dreidimensionales Netzwerk von vielfältigen sozialen und physischen Verknüpfungen, in dem die klare Trennung zwischen Stadt und Land verschwindet, selbst wenn land- und forstwirtschaftliche Flächen die räumliche Ausprägung dominieren. In diesem Netzwerk gibt es Knoten, die durch eine hohe Dichte von Menschen und Gütern gekennzeichnet sind. Zwischen den Knoten strömen »hohe Flüsse von Personen, Gütern und Informationen« (ebd.: 19).

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Geografische Barrieren existieren nicht mehr im »space of flows«. In diesem scheinbar hierarchielosen Raum bildet sich allerdings in den Knotenpunkten eine neue Zentralität heraus. Diese Knoten beschreibt Saskia Sassen als Konzentrationen wirtschaftlicher Macht- und Entscheidungsstrukturen (Sassen 2000: 33ff.). Diese Entwicklung führt zur räumlichen Konzentration von Finanz- und Dienstleistungszentren. Die Knoten im globalen Netzwerk sind untereinander stärker verbunden als mit ihrem lokalen Umfeld (ebd.). Innerhalb eines jeden Landes reproduziert sich die Netzwerkarchitektur wieder in Form von regionalen und lokalen Zentren, die Anschluss an das globale Netz suchen. Dadurch entstehen neue Disparitäten zwischen Agglomerationsräumen und Peripherien. Das »Hinterland« übernimmt in dieser globalen Netzwerkarchitektur mit Distributionszentren, Verkehrsinfrastrukturen und Gewerbelandschaften die Aufgabe, den Fluss von Waren und Gütern zu gewährleisten bzw. dient als Flächenressource für globalisierte Produktionsprozesse von Nahrung und Energie. Das Beziehungsgefüge innerhalb eines globalen Netzwerkes ist in ständiger Bewegung. Regionen strukturieren sich neu, um konkurrenzfähig zu sein (Castells 2001: 436ff.). Schrumpfungs- und Wachstumsprozesse bedingen sich gegenseitig. Dabei ist es nicht grundsätzlich der ländliche Raum, der schrumpft und die Stadt, die wächst. Die Herausbildung von Disparitäten verschiebt sich auf eine regionale Ebene, zwischen wachsenden Verdichtungsregionen (wie z.B. Rhein/Main) und »abgehängten« und sich entleerenden Regionen (wie z.B. der Altmark in SachsenAnhalt). Räumlichen Veränderungsprozessen sind die ländlichen Regionen in beiden Raumtypen unterworfen. Das Dorf in Agglomerationsräumen wird zum attraktiven Wohnort für Pendler. Verkehrsinfrastrukturen und Netzanschluss ermöglichen hier ein urbanes Leben auf dem Lande und verändern gleichzeitig dessen räumliche Charakteristik durch Suburbanisierungsprozesse. Dörfer sowie Klein- und Mittelstädte in peripheren Regionen haben mit Leerstand und Überalterung zu kämpfen, auch wenn sie von ökonomisch leistungsfähigen Produktionszonen der Agrar- und Bioenergieindustrie umgeben sind (Willisch 2013: 65).

D IE V ERSCHRÄNKUNG VON S TADT ZU ( R ) URBANEN L ANDSCHAFTEN

UND

L AND

Urbanisierungsprozesse lassen sich räumlich nicht begrenzen und führen zu einem flächendeckenden urbanen Gewebe, das nur über Relationen beschreibbar ist. Jenseits der Dichotomie von Stadt und Land unterstützt ein relationales Raumverständ-

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nis das Denken in Zusammenhängen und Verbindungen beider Raumtypologien.1 Ein solches Verständnis äußert sich in verschiedenen Raumbegriffen: urbanes Gewebe (Lefebvre 2003 [1970]), Zwischenstadt (Sieverts 1997), Netzstadt bzw. urbanes System (Baccini/Oswald 1998), Territorium (Corboz 2001)2, urbane Landschaften (Seggern 2010)3. Über diese Begriffe werden räumliche Beziehungsgefüge beschrieben. Diese Raumkonstrukte beziehen sich nicht nur auf räumlich erfahrbare Verknüpfungen, sondern beschreiben ebenso ein System vielfältiger ökonomischer, kultureller und politischer Beziehungen und spiegeln eine gesellschaftliche Realität, die durch globale Urbanisierungsprozesse geprägt ist. Der Begriff »urbane Landschaften« hilft, den Blick auf das Wechselspiel zwischen naturräumlichen und lokalen Bedingungen sowie Urbanisierungsprozessen zu fokussieren. Sowohl der Begriff »Landschaft« als auch der Begriff »urban« sind umgangssprachlich besetzt und mit bestimmten Bildern aufgeladen: Landschaft in der umgangssprachlichen Verwendung und Vorstellung bezieht sich auf das grüne, arkadische Bild im ländlichen Raum. Urbanisierung als Begriff bleibt oft nur auf die Megacities und Metropolregionen, auf die »hot spots« der baulichen Entwicklung bezogen und schließt weniger die suburbanen oder gar ländlichen Räume mit ein, die jedoch durch Urbanisierungsprozesse ebenso eine Transformation erfahren. Der Begriff »urbane Landschaften« schließt in der Betrachtung von Urbanisierungsprozessen auch die weniger klassischen Raumtypologien mit ein und nimmt die Zwischenzonen und Mischformen, wie z.B. »rural metropolis« und »urban countryside« (Shannon 2004: 107), in den Blick. Solch ein heterogenes Gebilde, das die aktuellen urbanen Realitäten widerspiegelt, setzt sich aus einzelnen räumlichen Fragmenten wie Einfamilienhaussiedlungen, landwirtschaftlichen Flächen, historischen Dorfkernen und Stadtzentren, Industrie- und Gewerbegebieten, Naturschutzgebieten, urbanen Freiräumen und Verkehrsinfrastrukturen zusammen. Verschiedenartige und nicht aufeinander be-

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Martina Löw (2001) entwickelte aus soziologischer Perspektive einen relationalen Raumbegriff. Sie versteht Raum »als eine relationale (An)Ordnung von Körpern, welche unaufhörlich in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert.« (Ebd.: 131)

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Als Konsequenz aus der Auflösung des Stadt-Land-Gegensatzes führt André Corboz (2001) den Begriff des »Territoriums« ein. Mit diesem Begriff beschreibt er nicht allein die Verstädterung des Landes bzw. die Auswirkungen von Urbanisierungsprozessen, sondern ein komplexes Wechselspiel aus natürlichen Bedingungen und menschlicher Inbesitznahme (ebd.: 148).

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Hille von Seggern (2010) beschreibt »urbane Landschaften« als eine Sichtweise, die verdeutlichen soll, dass alle naturräumlichen Bedingungen in unserer heutigen Welt mehr oder weniger durch urbane Lebensweisen beeinflusst und geprägt sind (ebd.: 220).

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zugnehmende Interessen überlagern sich in ihren Einzelwirkungen, verleihen einem Gebiet spezifische Funktionsmuster, die in ihrer komplexen Entstehung allerdings nicht vorhersagbar sind (Eisinger 2006: 134). Die unterschiedlichsten Raumeinheiten können als »urbane Landschaft« gelesen werden, wenn sie miteinander in Beziehung gebracht und als Teil eines Ganzen verstanden werden. Ein landschaftlicher Blick fahndet nach Zusammenhängen im Raum. Die Fähigkeit, durch eine integrierende Betrachtungsweise Beziehungen zu beschreiben, ermöglicht das Aufdecken produktiver Verbindungen von vormals als isoliert betrachteten Elementen des Raumes. Die integrierende Betrachtungsweise einer »Gegend« als »urbane Landschaft« zielt nicht allein auf eine neue Lesart eines heterogenen Gefüges als Landschaft ab. Solch eine integrierende Sicht, die die Zusammenhänge einer Landschaft in den Fokus rückt, ist auch praktisch orientiert. Denn eine grundlegende Herausforderung nachhaltiger Raumentwicklung ist es, selbstbezügliche Funktionssysteme zu öffnen und in ihrem lokalen Umfeld zu integrieren.4 »Das bedeutet partielle Öffnung, über die Mindestverbindungen hinaus, und Überlagerung von Systemen« (Sieverts 2008: 258). In »urbanen Landschaften« bestehen vielfältige Überschneidungen und Verbindungen zwischen den einzelnen Raumeinheiten, zwischen unterschiedlichen Nutzungsanforderungen, zwischen Wahrnehmungsebenen, zwischen Akteuren, zwischen dem Globalen und dem Lokalen, zwischen Natur und Kultur, zwischen ruralen und urbanen Strukturen und Praktiken. Erst wenn sie aufgedeckt sind, können sie in ein produktives Zusammenspiel überführt werden. (R)urbane Landschaften beschreiben Raum jenseits der Kategorien von Stadt und Land und fragen nach den Verschränkungen zwischen urbanen und ruralen Lebenswelten und Raumstrukturen. Wie urban ist das Land? Wie ländlich die Stadt? Wo gehen Stadt und Land neuartige und produktive Verbindungen ein?

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Die Herausbildung fragmentierter Räume beschreibt Sieverts (2008) vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die sich in nach innen stark ausdifferenzierte Funktionssysteme organisiert. Diese Funktionssysteme sind weltweit vernetzt und verzweigt und gehorchen ihrer jeweils eigenen Logik, ohne Beziehungen zu ihrem lokalen Umfeld aufzunehmen. Der agrarindustrielle, transportindustrielle oder handelsindustrielle Bereich unterliegt jeweils eigenen ökonomischen Bedingungen. Die einzelnen Bereiche werden dabei nur sektoral betrachtet und neigen dazu, selbstbezüglich zu sein und sich abzuschließen; z.B. Logistikzentren, Verkehrsinfrastrukturen, landwirtschaftliche Produktionsbetriebe. (Ebd.: 252ff.)

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Urbanes Leben auf dem Lande André Corboz (2001: 147) verdeutlicht, wie sich aufgrund der Ausbreitung von Massenmedien urbane Lebensweisen auch unabhängig von bestimmten Raumtypologien verbreiten: »›Stadt‹ ist also nicht unbedingt dort, wo eine dichte Bebauung vorherrscht, sondern dort, wo sich die Bewohner eine städtische Mentalität angeeignet haben« (ebd.: 146). Urbanes Leben ist nicht notwendigerweise an einen Raumtypus wie die dichte europäische Stadt gebunden, sondern dank Glasfaserkabel auch auf einem abgelegenen Gehöft in der Altmark möglich. Dean und Trummer (1998) interpretieren in diesem Sinne das australische Outback als eine Metropole. Es stimmt zwar so gar nicht mit dem traditionellen Erscheinungsbild einer Metropole überein, aber eine neue urbane Form wird hier durch Infrastruktur ermöglicht. Urbanität und eine urbane Lebensweise werden nicht durch räumliche Dichte erzeugt, sondern durch Verbindungen und Beziehungen innerhalb eines Netzwerkes hergestellt. Gemeinsamkeiten werden durch »Time-Sharing« erreicht. Lokalisierte und nichtlokalisierte Ereignisse finden in einem gemeinsamen Zeitraum statt und werden über ein Netzwerk simultan von vielen geteilt. Das Netzwerk basiert auf einer Infrastruktur, die sich aus einem offenen Radiosystem, Flugzeugen und dem Royal Flying Doctors System ergibt (ebd.: 99). Dünn besiedelte Länder wie Australien oder Schweden mit einem hohen Lebensstandard können Hinweise liefern, wie in sich entleerenden ländlichen Regionen die Daseinsvorsorge gewährleistet und darüber hinaus eine urbane Dichte ohne räumliche Konzentration erzeugt werden kann (Faber/Oswalt 2013: 7). Geht man von der These einer vollständigen Urbanisierung aus, dann existieren nur noch unterschiedliche Formen des Urbanen. Vor diesem Hintergrund beschreibt das ETH Studio Basel mit der Studie DIE SCHWEIZ – EIN STÄDTEBAULICHES PORTRAIT die gesamte Schweiz als einen städtischen Zusammenhang (Diener et al. 2005). Diese These ist nicht ohne Brisanz in einem Land, das in der Selbst- und Fremdwahrnehmung stark ländlich geprägt ist. Dieser urbane Raum ist allerdings nicht homogen. Er beinhaltet unterschiedliche Formen von Urbanität. Die Forschergruppe entwickelte fünf vereinfachte Typologien, die diese Unterschiedlichkeit zum Ausdruck bringen: Metropolitanregion, Städtenetz, Stille Zonen, Alpine Brachen, Alpine Resorts. Es bilden sich regionale urbane Räume, die sich alltagsweltlich, ökonomisch und sozial unterscheiden. Diese Differenz wird als urbanes Potenzial betrachtet. Von dieser Position aus ist es wichtig, die Differenzen der Räume zu erkennen, sie herauszuarbeiten und zu stärken. Eine daraus abgeleitete urbane Strategie wäre es, nicht überall im Land alles gleichermaßen zu fördern und die Unterschiede zu nivellieren, sondern die spezifischen Qualitäten der Räume zu

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entwickeln (ebd.: 221). Die Voraussetzung für eine solche Strategie ist das Erkennen und Darstellen der unterschiedlichen Raumqualitäten. In diesem Sinne erscheint es sinnvoll, die »Qualitäten des Unspektakulären« in einer Region wie der Altmark zu fördern5 oder nach »Neuland« in den aus den ökonomischen Verwertungszyklen gefallenen Landesteilen zu fahnden (Kil 2004: 156), die durch Experimentierfreudige und Raumpioniere bewirtschaftet werden (Faber/ Oswalt 2013). Rurale Praktiken in der Stadt Einerseits ist der urbane Raum grenzenlos geworden und urbane Lebensweisen sind überall zu finden (Corboz 2001, Siebel 2009, Seggern 2010), andererseits haben aber auch rurale Praktiken längst Einzug in urbane Kontexte erhalten. Baugruppenprojekte und Nachbarschaftsgärten pflegen kleine vernetzte Struktureinheiten und transportieren die soziale Nähe des Dorfes in die Stadt. Mit Projekten zur urbanen Landwirtschaft und zum »urban gardening« werden Fragen der Selbstversorgung diskutiert und erprobt (vgl. Müller 2011). Aus historischer Sicht wurde die Städtebildung erst mit der Freistellung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen von der Landwirtschaft möglich. In der mittelalterlichen europäischen Stadt waren das die Handwerker und Kaufleute. In der Stadt bildete sich eine marktförmige Organisation der Ökonomie mit spezialisierten Berufsbildern heraus, die das Gegenbild zur Selbstversorgungswirtschaft auf dem Lande darstellte. (Siebel 2009: 88) Der derzeitige Boom von Nachbarschaftsgärten zeigt, dass gerade in urbanen Milieus die Selbstversorgung mit Lebensmitteln wieder zu einem aktuellen Thema wird. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer kritischen Haltung gegenüber der industrialisierten und globalisierten Agrarwirtschaft und einem gesteigerten Interesse an lokal erzeugten Nahrungsmitteln. Die Nachbarschaftsgärten in Berlin, Leipzig

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Der Entwurf LANDSCHAFTEN DER ALTMARK – QUALITÄTEN DES UNSPEKTAKULÄREN von Linlin Du, Annika Henne und Caroline Hertel entstand im Rahmen eines studentischen Entwurfsprojektes am STUDIO URBANE LANDSCHAFTEN der Universität Hannover. Die Arbeit beschreibt unterschiedliche Landschaftscharaktere (z.B. Weites Feld, TiefGrün, Waldland, Flutland), die in ihrer undramatischen Escheinung das »Ideal des Unspektakulären« darstellen. Durch gezielte Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen sollen die Landschaftscharaktere in ihrer Prägnanz gestärkt und die Region somit in Differenz zu wachsenden Metropolregionen einerseits und monostrukturierten Agrarregionen andererseits in ihrer Eigenart entwickelt werden. (Langner/Rabe 2009: 47f.)

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oder Stuttgart6 dienen jedoch nicht allein der Versorgung mit selbstgezogenem Gemüse, sondern besitzen wichtige soziokulturelle Funktionen und stehen für die selbstbestimmte Aneignung des städtischen Raumes. Die Besetzung von Brachflächen und ihre gärtnerische Nutzung kann als eine Stadtentwicklung von unten beschrieben werden. Das »Recht auf Grün« muss dabei oft hartnäckig erkämpft werden (Krasny 2012: 10). Vorbild der zeitgenössischen Gartenaktivist/innen ist die Community-Garden-Bewegung der 1970er Jahre in New York. Brachflächen in der Lower East Side Manhattans wurden durch Künstler/innen, aktivistische Gärtner/innen und Immigrant/innen vor allem aus Puerto Rico in Kultur genommen (Krasny 2012: 27ff.). Auch in den »Prinzessinnengärten« von Berlin-Kreuzberg besitzt ein Großteil der Besucher/innen einen migrantischen und ländlichen Hintergrund. Ihre landwirtschaftlichen und gärtnerischen Kompetenzen sind hier auf einmal in der Großstadt gefragt. In den neuen städtischen Gärten treffen unterschiedlicher Milieus und Kulturen aufeinander. Durch die Ausübung ruraler Praktiken entstehen extrem urbane Orte. Die landwirtschaftlich produktive Stadt ist jedoch keine Erfindung der urban gardening-Bewegung. Gerade in Krisenzeiten wurde die Selbstversorgung im städtischen Raum zur Notwendigkeit. Im Zuge der Industrialisierung und der Migration vom Land in die Städte führten Hunger und Armut zur Landnahme in der Stadt. So entstanden beispielsweise Ende des 19. Jahrhunderts Laubenkolonien am Rande von Berlin (Krasny 2012: 13). Städtische Grünanlagen wurden in Kriegszeiten zu Selbstversorgergärten. Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges formulierte Leberecht Migge sein GRÜNES MANIFEST, in dem er produktive Freiflächen in der Stadt und das Recht auf Selbstversorgung forderte. »Wer rettet die Stadt? Das Land rettet die Stadt. Die alte Stadt kann ihr Dasein nur retten, indem sie sich mit Land durchsetzt: Schafft Stadtland! Die Städte sollen ihr eigenes Land umarmen. Hunderttausende Hektar liegen brach: Bauland, Kasernenland, Straßenland, Ödland. Man lege Hand darauf. Man pflanze: Öffentliche Gärten – für die stadtgebundene Jugend. Man pflanze: Pachtgärten – für die stadtgebundenen Häusler. Man pflanze: Siedlungen – für die stadtgebundene Arbeit. Und man pflanze: Mustergärten für die Unversorgten! Man pflanze!« (Migge 1919, zit. nach Mohr/Müller 1984: 33)

Die urbane Landwirtschaft kann als eine Verbindung zwischen der ländlichen Praktik der Subsistenzwirtschaft und der lohnabhängigen städtischen Industriearbeit gesehen werden. Sie fand Eingang in modernistische, dezentralisierte Stadtplanungs-

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»Prinzessinnengärten« in Berlin-Kreuzberg, »Annalinde« in Leipzig-Lindenau, »stadtacker WAGENHALLEN« in Stuttgart sind nur einige Beispiele vielfach publizierter und ausgezeichneter Nachbarschaftsgarten-Projekte.

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utopien wie Frank Lloyd Wrights BROADACRE CITY (1934-1935) oder Ludwig Hilberseimers THE NEW REGIONAL PATTERN (1945-1949), mit denen eine deutliche Sozialkritik an der Ungleichheit in der industriellen Stadt geübt wurde (Waldheim 2010: 124). Vor allem vor dem Hintergrund der schrumpfenden Stadt werden aktuell wieder Bilder einer ruralen Stadt aufgerufen. Die Brachfläche einer abgerissenen Fabrik für landwirtschaftliche Geräte in Leipzig-Plagwitz wurde 1999 in einer Kunstaktion symbolisch umgepflügt und mit Roggen eingesät. Mit dem sogenannten Jahrtausendfeld entstand ein wirkmächtiges und provokantes Bild der schrumpfenden Stadt. Doch was bedeutet es für die dichte europäische Stadt, wenn sie großflächig von landschaftlich und landwirtschaftlich geprägten Räumen durchzogen wird? Verliert sie an Urbanität durch die Abnahme baulicher Dichte oder gewinnt sie eine neue Form von Urbanität durch den Zuwachs neuer Freiräume? In Bezug auf die schrumpfende Stadt fordert Holger Lauinger das »Prinzip der Rurbanität« ein und fragt nach Potenzialen der urbanen Landwirtschaft. »Die Suche nach Potenzialen einer Verschneidung von Urbanität und ruralen Elementen hat gerade erst begonnen. Der ästhetisch langweiligen extensiven Flächenpflege oder sogar hilflosen Flächenaufgabe der Kommunen muss das Prinzip der ›Rurbanität‹ entgegen gesetzt werden.« (Lauinger 2005: 164)

Bereits 1977 entwickelten Oswald Mathias Ungers und Rem Koolhaas in ihrem Manifest BERLIN: EIN GRÜNES ARCHIPEL für die damals schrumpfende Stadt Berlin die Vision eines grünen Stadtarchipels. Dieses Idealstadtkonzept geht davon aus, dass überflüssige bzw. schlecht funktionierende Stadtteile abgerissen werden und so Stadtinseln mit spezifischer Identität innerhalb eines »Naturrasters« entstehen. Die grünen Zwischenräume waren als ein »künstliches Natursystem« gedacht, die neuartige Freiraumtypologien aufnehmen können. In den Zwischenzonen verbinden sich Verkehrsinfrastrukturen, suburbane Strukturen, Landwirtschaft, Wälder, ökologische Reservate zu einem fließenden Raum, der Raumstrukturen und vagabundierende Lebensstile aufnehmen kann, die in der bestehenden Stadtgestalt keinen Platz finden. »Neben diesen verschiedenen Dichten der suburbanen Entwicklung, Wäldern, Wildreservaten, städtischen Landwirtschaften und der Infrastruktur der Moderne, würde auch der Grüngürtel temporär genutzt werden, um mobile Einrichtungen – wie mobile Häuser, Luftströme, Messen, Märkte, Zirkusse – ›unterzubringen‹, die über Jahre auf den Koordinaten des Naturrasters reisen würden, ohne je in die Stadt einzudringen.« (Hertweck/Marot 2013: 18 )

Die Ausdünnung der baulichen Struktur und das Entstehen von Zwischenzonen erzeugt Kontraste und Spannungen. Die landschaftlichen Zwischenzonen mit ihren

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Möglichkeiten, neuartigen Raumtypologien und Nutzungen sind für die Fiktion eines Grünen Archipels wesentlich, um Urbanität zu erzeugen und »ein Metropolengefühl eher [zu] intensivieren als [zu] vermindern« (Hertweck/Marot 2013: 18). In dieser Vorstellung einer postindustriellen Stadt wird das Bild einer »Naturmetropole« skizziert, das ein »neues Verhältnis von Stadt und Land, beziehungsweise von Kultur und Natur verfolgt« (Hertweck 2013: 67). Als Denkmodell hat Ungers’ Stadtarchipel gerade in der Schrumpfungsdebatte wieder eine neue Aufmerksamkeit erfahren (ebd.: 68).

(R) URBANE L ANDSCHAFTEN ENTWERFEN Ein verändertes Raumverständnis jenseits der Dualismen Stadt-Land, Natur-Kultur, und natürlich-artifiziell erfordert das Gestalten von Relationen in (r)urbanen Landschaften. Bei der Qualifizierung (r)urbaner Landschaften müssen Beziehungen innerhalb fragmentierter Räume erkannt und in ein produktives Verhältnis gebracht werden. Das bedeutet, Relationen in einem Beziehungsgefüge zu gestalten. Ein landschaftlicher Blick ermöglicht es, produktive Zusammenhänge zwischen globaler und lokaler Ebene, zwischen Systemzusammenhängen und Raumeinheiten, zwischen naturräumlichen Bedingungen und dem menschlichen Handeln und Wirtschaften, zwischen Stadt und Land zu entdecken, zu beschreiben und zu entwickeln. Das Entwerfen (r)urbaner Landschaften sucht nach produktiven Verbindungen zwischen urbanen und ruralen Praktiken. Wie können nachhaltige und zukunftsfähige Formen der ländlichen Stadt und des urbanen Landes aussehen? »Bern rUrban« Welche räumlichen Qualitäten können entstehen, wenn landwirtschaftliche Strukturen und die Siedlungsentwicklung in einem wachsenden Agglomerationsraum wie der Region Bern integriert gedacht werden? Wie verbinden sich rurale und urbane Lebensstile auf engstem Raum? Wie können Räume für einen urbanen Lebensstil im landwirtschaftlichen Kontext entworfen werden? Das Projekt BERN RURBAN spielt mit den unterschiedlichen Qualitäten urbaner und ländlicher Räume und den damit zusammenhängenden Lebensstilen.7 Das Pro-

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Der Beitrag BERN RURBAN entstand innerhalb des offenen Testplanungsverfahrens »Ein Bild für die Region Bern«, durchgeführt vom »Verein Region Bern«, der aus der Stadt Bern und ihren 26 Umlandgemeinden besteht. BERN RURBAN wurde in einem interdisziplinären Team bearbeitet: yellow z urbanism architecture, Berlin, Zürich (Raum- und

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jekt setzt an einem Spezifikum der Region Bern an: die Durchsetzung mit bäuerlichen Hofstellen bis fast in die Kernstadt. Um diese charakteristische räumliche Strukturierung durch die Hofstellen und deren umgebenden landwirtschaftlichen Flächen auch in Zukunft und trotz Wandel in der Landwirtschaft zu erhalten, wurden Transformationsstrategien für die landwirtschaftlich genutzten Flächen entwickelt. Ein räumliches Grundgerüst wurde entworfen, in dem die landwirtschaftlichen Flächen in eine weitere Siedlungsentwicklung der Agglomeration Bern integriert werden können. Die bestehenden sternenförmigen Infrastrukturachsen des Agglomerationsraumes werden in Entwicklungskorridoren aufgegriffen. Sogenannte »Landschaftsintarsien« sollen in diesen Entwicklungskorridoren jedoch von einer zukünftigen Bebauung frei gehalten werden, um die räumliche Qualität aus dichter baulicher Struktur und offener landwirtschaftlicher Fläche zu erhalten und zu entwickeln. Abbildung 5: Landschaftsintarsien und Ränder als gliedernde Elemente der zukünftigen Siedlungsentwicklung

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Die Ränder der landwirtschaftlich geprägten »Landschaftsintarsien«, können entweder mit einem städtebaulichen oder einem landschaftlichen Programm verdichtet und qualifiziert werden. Die Mitte bleibt als offener und charakteristischer Freiraum erhalten. Gleichzeitig wurden Überlegungen angestellt, wie diese räumliche Qualität auch bei einem Wegfall landwirtschaftlicher Bewirtschaftung erhalten werden kann – als Agropark, Allmende oder Prärie. Die Hofstellen wurden als »Landlofts« neu interpretiert. Hier bieten sich Möglichkeiten, einen urbanen Lebensstil mit landwirtschaftlichen Strukturen zu verbinden. (Langner/Rabe 2009: 51ff.)

Stadtplanung), lad+, Hannover (Landschaftsarchitektur), IBV Hüsler AG, Zürich (Verkehrsplanung)

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Abbildung 6: Entwicklungsmöglichkeit Landschaftsintarsie: AgroPark

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Der Beitrag BERN RURBAN arbeitete bereits mit konkreten räumlichen Entwurfsbildern, anhand derer auch eine heftige Diskussion über die Bewahrung eines ländlich geprägten Bildes und die Zukunftsfähigkeit landwirtschaftlicher Wirtschaftsformen im Berner Umland angestoßen und geführt wurde. Der ernsthafte Versuch der Planer, zu überlegen, wie diese Kulturlandschaft transformiert werden kann, stieß in den Bevölkerungsforen auf Ablehnung, da hier an einem Tabu – der Veränderung einer Landschaft, die auf bäuerlichen Bewirtschaftungsformen basiert – gerüttelt wurde (Marti 2006: 48). »Urbane Kerne und Landschaftliche Zonen« Während das Projekt BERN RURBAN die Zukunftsfähigkeit landwirtschaftlicher Flächen in einem wachsenden Agglomerationsraum diskutiert, steht beim Projekt LANDSCHAFTSZUG DESSAU die Frage im Vordergrund, welche Potenziale landwirtschaftlich bewirtschaftete Flächen bei der Neustrukturierung schrumpfender Städte bieten. Welche neuartigen Landschaften entstehen, wenn der bauliche Zusammenhang der Stadt sich aufzulösen beginnt? Dessau-Roßlau ist eine schrumpfende Stadt, die seit 1990 ein Fünftel ihrer Einwohner verloren hat. Die Stadt hat frühzeitig auf diese demografische Entwicklung reagiert und mit ihrem Stadtentwicklungskonzept URBANE KERNE UND LANDSCHAFTLICHE ZONEN ein Leitbild im Umgang mit diesen Schrumpfungsprozessen formuliert. Um durch Abriss von Wohnsubstanz, Industrie und Gewerbe keine perforierte Struktur zu erzeugen, versucht die Stadt, notwendige Abrisse auf die »landschaftlichen Zonen« zu konzentrierten und gleichzeitig die »urbanen Kerne« in ihrer Substanz und Infrastruktur zu stärken. Die extensiven »Landschaftlichen Zonen« verbinden sich mit dem sie umgebenden Dessau-Wörlitzer Gartenreich. Der »Landschaftszug« als Bestandteil der »Landschaftlichen Zonen« ist ein ca. 110 ha großes Gebiet, das den Flussraum der Mulde über die Innenstadt mit dem Flussraum der Elbe verbindet und in dem anlässlich der Internationalen Bauausstellung (IBA) Stadtumbau 2010 in Sachsen-Anhalt erste Schritte zur Realisierung unternommen wurden.

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Für diesen langfristigen Prozess wurde als Orientierungshilfe ein prozessorientiertes Entwick- Abbildung 7: Landschaftszug in Dessau in Verbindung mit lungskonzept erarbeitet, auf dessen Grundlage dem Dessau-Wörlitzer mittlerweile über 30 ha des Landschaftszuges Gartenreich 8 umgesetzt wurden. Zu drei Hauptthemen wurden im Entwicklungskonzept Entwurfsstrategien formuliert: »Das Gartenreich in die Stadt holen«, »Gestaltende Pflege« und »standortangepasste Vegetationsentwicklung«. Das räumliche Bild, das mit dem Landschaftszug entstehen soll, ist das einer »kultivierten Weite«: eine extensiv gepflegte Landschaft, die durch verschiedene Akteure »in Kultur genommen« werden kann. Dieses Bild nimmt Bezug auf das angrenzende Dessau-Wörlitzer Gartenreich mit seiner durch Eichengruppen durchsetzen offenen Wiesen- und Agrarlandschaft, die durch Blickachsen und Parkanlagen mit Kleinarchitekturen akzentuiert ist. Das Motto »das Gartenreich in die Stadt holen« wurde im Rahmen der IBA durch einen partizipatorischen Prozess entwickelt und knüpft an das positive Image des Gartenreiches an. Es Station C23 geht allerdings weniger darum, durch ein simples »copy + paste« landschaftshistorische Raumbilder zu reproduzieren, sondern um die Transformation der Idee einer im regionalen Maßstab bewirtschafteten und gestalteten Landschaft auf die Bedingungen einer schrumpfenden Stadt. Mit dem Leitthema »das Gartenreich in die Stadt holen« wird sowohl an das räumliche Bild einer offenen und extensiv bewirtschafteten Wiesenlandschaft angeknüpft als auch an das Prinzip, Bewirtschaftung und ästhetische Gestaltung miteinander zu verbinden. Räumliche Elemente des Gartenreiches werden aufgegriffen, neu interpretiert und ein gestalterisches Vokabular für den Landschaftszug entwickelt. Aus diesem wiederkehrenden Vokabular entsteht ein räumlich-gestalterisches Grundgerüst, das den Rahmen für eine prozessorientierte, ökologische und durch soziale Aneignung geprägte Freiraumentwicklung bietet. Das räumliche Bild des Landschaftszuges entsteht durch die Zonierung verschiedener Pflege- und Bewirtschaftungsformen und durch die Einbindung ver-

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Das Entwicklungskonzept LANDSCHAFTSZUG DESSAU wurde zwischen 2007 und 2010 von Station C23 – Büro für Landschaftsarchitektur, Architektur und Städtebau in Zusammenarbeit mit der Stadt Dessau erarbeitet.

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schiedener Akteure in die Raumproduktion über einen langen Zeitraum. Eine kleinteilige, intensive und gärtnerische Pflege erfolgt vor allem auf Flächen in der Nähe der urbanen Kerne und entlang der Wege und Querungen durch den Landschaftszug. Die extensive und großflächige Pflege der Wiesen soll durch landwirtschaftliche Methoden erfolgen. Zusätzlich können im Landschaftszug durch Paten sogenannte »Claims« bewirtschaftet und genutzt werden.9 Landwirte und Paten werden so zu Produzenten städtischer Freiräume (Langner 2009: 16). Abbildung 8: Aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure in der Bewirtschaftung und Pflege entsteht das Bild der »kultivierten Weite«

Station C23

Neben der Entwicklung des Landschaftszugs durch verschiedene Bewirtschaftungsund Aneignungsstrategien nehmen Standortbedingungen und ökologische Prozesse bei der Gestaltung des Landschaftszuges Schlüsselpositionen ein. Standortangepasste Vegetationskonzepte wurden entwickelt, die sowohl die Kosten von Herstellung und Pflege als auch ökologische und gestalterische Ziele berücksichtigen sollen. Auf einem ehemaligen Kohlenhandelgelände mit schwierigen Standortverhältnissen wurden dazu Experimentierfelder angelegt, auf denen verschiedene naturnahe Begrünungsmethoden auf unterschiedlichen Substraten getestet wurden.

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Unter dem Motto »400 m2 Dessau« wurden 20 x 20 m große Flächen als sogenannte »Claims« an Bürger und Vereine als Paten vergeben. Unter anderem gibt es einen Apothekergarten, einen multikulturellen Garten und Testfelder für Kurzumtriebsplantagen (Wiens 2010: 41). Neben diesen Claimnutzungen gibt es Patenschaften, die sich nicht in ein festes räumliches Raster zwängen lassen: ein BMX-Verein nutzt eine Dirtstrecke im Landschaftszug, über Wissenspatenschaften werden beispielsweise Experimentierfelder zu naturnahen Begrünungsmethoden durch die Hochschule Anhalt ausgewertet.

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Abbildung 9: Experimentierfelder und BMX-Strecke auf einem ehemaligen Kohlenhandelgelände

medial mirage

Das weite offene Wiesenbild, das der Städter auf seinem Landausflug sucht, taucht plötzlich inmitten der Stadt auf. Hier sind die Wiesenlandschaften allerdings ungewohnt und verursachen Akzeptanzprobleme. Das vorherrschende und erwartete Vegetationsbild in der Stadt ist der kurz geschorene Rasen, umgrenzt von Rabattenbepflanzung. Extensive und naturnahe Wiesenflächen werden hingegen als ungepflegt interpretiert und erwecken den Eindruck des Unzivilisierten (Wiens 2010: 42). Ein gestalterischer Rahmen und die »In-Kulturnahme« durch verschiedene Akteure verdeutlicht, dass es sich nicht um ein Stück aufgegebene Stadt handelt, sondern ein neuer Typus urbanen Freiraumes entsteht. Eigenarten (r)urbaner Landschaften im Entwerfen aufspüren und imaginieren Entwerferische Herangehensweisen tragen dazu bei, neue Sichtweisen auf urbanrurale Zusammenhänge zu erzeugen, jenseits bekannter Raumtypologien neue (r)urbane Räume zu erfinden und zu entwerfen, Möglichkeitsräume (r)urbaner Landschaften aufzuzeigen und zu kommunizieren. Globale Urbanisierungsprozesse verändern sowohl den ehemals städtischen als auch den ehemals ländlichen Raum und führen zu neuartigen (r)urbanen Landschaften. Das Aufspüren und Entwickeln besonderer Eigenarten dieser Landschaften, die Verankerung globaler Urbanisierungsprozesse in den lokalen Bedingungen gerade auch in Differenz zu anderen Regionen ist ein wesentlicher Aufgabenbereich ihrer Qualifizierung (Sieverts 2008: 264). Trotz der Entgrenzung und zunehmenden Homogenisierung des Raumes im »space of flows« gibt es immer lokale räumliche Bedingungen und Ereignisse, die Einfluss auf die Ausprägung spezifischer Eigenarten einer (r)urbanen Landschaft besitzen. Keine Landschaft ist eigenschaftslos. »Erkennen Sie den ästhetischen Irrtum, der in der Unterwerfung unter ein Gesetz liegt: das Weghobeln des lokalen Ereignisses führt zu langweiligen, häßlichen Ergebnissen: zu einer

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Welt ohne Landschaften, zu Büchern ohne Seiten, zu Wüsten. [...] Das Fehlen des Erzählerischen ist ebenso langweilig wie das Gesetzmäßige, und es macht noch häßlicher. Komponieren verlangt eine Spannung zwischen dem Lokalen und Globalen, zwischen dem Nahen und Fernen, zwischen Erzählung und Regel, zwischen Einheitlichkeit des Wortes und dem nichtanalytischen Pluralismus der Sinne, zwischen Monotheismus und Heidentum, zwischen der internationalen Autobahn und den einsamen Dörfern, zwischen Wissenschaft und den Literaturen.« (Serres 1995: 321)

Wie kann die spezifische Eigenart und »Eigenlogik« (Berking/Löw 2008) einer Landschaft entdeckt und entwickelt werden? Im Wechselspiel zwischen globalen Prozessen und lokalen Ereignissen gilt es, die Eigenarten einer Landschaft aufzuspüren und daran mit der Raumentwicklung anzuknüpfen. Das setzt eine intensive Auseinandersetzung mit den bestehenden morphologischen, sozioökonomischen, kulturellen oder naturräumlichen Bedingungen einer Landschaft voraus. Im Lesen und Verstehen des Bestehenden liegt die Ideenfindung und das Entstehen von Neuem begründet (Seggern 2008: 68ff.). Entwerfen ist eine Fähigkeit, »Künftiges noch nicht Gesagtes und Gedachtes zu denken, Ungestaltetes zu gestalten – in der Kunst, aber ebenso in der Architektur, Philosophie, der Wissenschaft« (List 2009: 327). Für das Entwerfen (r)urbaner Landschaften bedeutet das, bisher ungesehene aber produktive, spannungsreiche Beziehungen und Verbindungen zwischen dem urbanen und dem ruralen, zwischen dem globalen und lokalen Raum aufzudecken und sie in ihren Potenzialen durch räumliche Bilder und Erzählungen vorstellbar werden zu lassen. Das spezifische Zusammenspiel aus Natur und Kultur prägt die Eigenart einer Landschaft. Wenn Arkadien als eine »sinnstiftende Utopie von der gelingenden Balance zwischen Natur und Kultur« (Grosse-Bächle 2009: 94) verstanden wird, dann ist die Suche nach Arkadien das Entwerfen und Erzählen von Landschaften, in denen eine solche Balance erfahren werden kann, ohne die Wirkungskräfte und Dynamiken globaler Urbanisierungsprozesse zu negieren und auszublenden.

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Neu-Wilhelmsdorf, Wertheim Village und der Wiederaufbau der Frankfurter Altstadt Der Einfluss dörflicher Strukturen auf die Architektur der Gegenwart∗ M ARTIN B REDENBECK

H EIMAT , D ORF , L ANDSEHNSUCHT Sowohl das Dorf als auch das einzelne Haus bzw. Gebäude und auch die Kulturlandschaft sind ständig mit menschlichen Erwartungen hinsichtlich Veränderung und Konservierung konfrontiert. Kulturlandschaften findet man nach weit verbreitetem Verständnis vor allem im ländlichen Raum – also dort, wo dörfliche Strukturen als Siedlungsform prägend sind. Das Dorf gehört in der Tat zu den Kulturlandschaftselementen von besonderer Bedeutung: Kulturlandschaften, also die von den Menschen durch ihre Wirtschafts- und Siedlungsweisen geformten Landschaften, sind ohne die Dörfer als Keimzellen kaum vorstellbar.1



Die folgenden Überlegungen sind aus der fachlichen Perspektive der Kunstgeschichte (mit Schwerpunkt Architektur- und Städtebaugeschichte) und auf der Grundlage von Erfahrungen in der Arbeit des Bund Heimat und Umwelt (BHU) als Bundesverband der Bürger- und Heimatvereine in Deutschland entstanden. Baukultur und Denkmalpflege sowie die Erhaltung und behutsame Entwicklung von Kulturlandschaften sind für diesen 1904 gegründeten Verband wichtige Arbeitsfelder. Beide sind eng mit den Begriffen Heimat und Identität verbunden, bei denen es auf eine sorgfältige Balance zwischen Bewahren und Gestalten, zwischen Abgrenzen und Einbeziehen ankommt.

1

Neben dem Dorf bilden beispielsweise auch einzelne Bauernhöfe eine solche Keimzelle bzw. einen Ausgangspunkt der Entstehung und Prägung agrarischer Kulturlandschaften.

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Das Dorf seinerseits lässt sich in eine Vielzahl von Elementen zergliedern: Wohnhaus, Stall und Scheune, Backhaus, Milchhaus, Acker, Hecke, Weide und viele andere Bestandteile mehr stehen traditionellerweise in einem engen Funktionszusammenhang und bedingen einander. In Ordnung und Gestaltung oft eng aufeinander abgestimmt, ist von diesen Elementen keines ›überflüssig‹ oder ›Dekoration‹ im Sinne eines reinen Ornaments. Das schließt natürlich nicht aus, dass dörfliche Bauten geschmückt sind (vgl. May 2010). Im Gegenteil: Auch im Dorf bricht sich ein gewisses menschliches Schmuckbedürfnis sowie die menschliche Strategie, mit Ornamenten Botschaften z.B. von wirtschaftlicher Potenz, Einfluss und Legitimation zu kommunizieren, allenthalben Bahn. Auch hier entstehen mit räumlichen zugleich symbolische Ordnungen, die die dörfliche Lebenswelt gleichermaßen kennzeichnen. Die Symbolhaftigkeit dieser Bauten ist kein Selbstzweck, sondern übernimmt wichtige soziale und kulturelle Funktionen.2 Neben dem ländlichen Raum stellt selbstverständlich auch die Stadt, der urbane Raum, eine besondere Form von (Kultur-)Landschaft dar und weist ihre eigenen spezifischen Bestandteile und Funktionszusammenhänge sowie daraus abgeleitete städtebauliche und architektonische Formen auf.3 Es wird im Folgenden unter anderem darüber nachzudenken sein, wie und welche Elemente des Dörflichen in der Architektur der Gegenwart verwendet werden, wie sie beispielsweise in die Stadt eindringen oder Neubaugebiete prägen, wer dies aus welchen Gründen in Gang setzt und was diese dörflichen Motive im urbanen Kontext signalisieren sollen. In der Arbeit der Heimatpflege beobachten wir eine deutliche Sehnsucht auch größerer Bevölkerungsgruppen nach ›Land‹ und ›Heimat‹ – und damit zusammenhängend immer mehr auch nach dem ›Dorf‹. Möglicherweise sind die Träger dieses Interesses besonders soziale Schichten, für die der Kontakt mit realem Landleben zur Seltenheit geworden ist oder in denen solcher Kontakt und das Wissen zum Beispiel um landwirtschaftliche Produktionszusammenhänge gar nicht mehr bestehen. Landsehnsucht war seit jeher schon ein städtisches Phänomen. Die auf dem populären Markt in immer neuen Variationen zu findenden Magazin-Angebote zu diesem Themenkomplex spiegeln, vielleicht auch deswegen, keine ausdrücklich tiefgründigen Konzeptionen wider und scheinen sich auch nicht als solche verstehen zu wollen. Sie stammen aus einem Bereich, den Formulierungen wie ›Es sich ohne schlechtes Gewissen gut gehen lassen‹, ›Nachhaltiger Genuss‹, ›Bewusster Konsum regionaler Produkte‹, ›Ursprünglichkeit und Handwerklichkeit‹, ›Deutsch-

2

Ein aus ökonomischer Perspektive überreichlicher bis unnötiger Ressourceneinsatz, also eine Verschwendung, kann natürlich auch eine ›Funktion‹ sein, doch soll dieser Gedanke hier außer Betracht bleiben.

3

Für weitere Überlegungen zu vertrauten und neuen Formen von Landschaft siehe Krebs (2012).

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land ist schön – wir zeigen es‹ einigermaßen umreißen. Dies kann durchaus problematisch werden, denn sowohl der facettenreiche ländliche Raum wie auch der überaus vielschichtige, dynamische und ggf. immer wieder auch ideologisch aufladbare Begriff ›Heimat‹ werden trivialisiert oder instrumentalisiert, wenn sie auf die konsumierbaren Landfreuden reduziert werden. Die Freude an schönen und farbenfrohen Landlust-Magazinen und den dort präsentierten Inszenierungsformen soll aber natürlich mit diesem Hinweis keinesfalls getrübt werden. Es handelt sich bei diesen Publikationen um ansprechende und inspirierende Medien. Ihr ungeheurer Verkaufserfolg spricht für sich. Aber die Motivation dieser Publikationen ist offenkundig eine ökonomische, und daran sollten sie sich messen lassen. Denn demgegenüber sind es vor allem auch die zahlreichen, von ehrenamtlichem Engagement geprägten Heimat- und Bürgervereine sowie weitere vergleichbare Vereinsformen, die im ländlichen Raum, in der Kleinstadt und im Dorf sehr präsent sind und dort für den sozialen Zusammenhalt eine große Bedeutung haben. Diese Vereine sind der Ort, wo häufig unmittelbar auf den Alltag des Kleinraums bezogene Diskussionen darüber stattfinden, wie die Dorfbewohnerinnen und -bewohner leben wollen.

D REI F ORMEN NEUER D ÖRFLICHKEIT ›Land‹ und ländlicher Raum sind also derzeit als Themen wieder populär, zumal auch das Dorf als Traum- und Sehnsuchtsort. Auch aus baukultureller Sicht ist das Dorf aktuell: In Architektur und Städtebau fallen markante Strukturen auf, die mehr oder weniger deutlich an frühere Dorfstrukturen anknüpfen und einen Vergleich interessant machen. Drei charakteristische Beispiele sollen vorgestellt werden, bevor die Merkmale der historischen, sozusagen ›echten‹ Dörfer vor diesem Hintergrund bestimmt werden sollen. Abbildung 10a + 10b: Schuss und Gegenschuss: das historische Dorf im Tal (energetisch sinnvoll) und die dorfähnliche Neubausiedlung auf dem Berg (windumtost und ungeschützt).

Stefan Blaufelder (Aufnahmen 2013)

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Wohnsiedlungen als Dörfer In der Nähe historischer Dörfer und Dorfkerne entstehen weiterhin Neubausiedlungen (diejenige aus Abbildung 10b sei hier als Fallbeispiel ›Neu-Wilhelmsdorf‹ genannt). Einige von ihnen entsprechen in ihrer Gesamtanmutung als geordnete Gruppierung freistehender Ein- und (seltener) Mehrfamilienhäuser dem landläufigen Bild eines Dorfes. Sie sind von außen betrachtet als Einheit erkennbar und meistens klar konturiert gegen ihre Umgebung abgesetzt und in ihrer Binnenstruktur durch Haupterschließungsstraßen und Seitenstraßen gekennzeichnet. Oft ist eine räumliche Mitte als Platzanlage mehr oder weniger stark erkennbar. In diesen Siedlungen lässt sich häufig ein gewisser architektonischer ›Stilpluralismus‹ feststellen, der nicht zuletzt dem gegenwärtigen ästhetischen Bedürfnis breiter Schichten entspricht, zahlreiche bauliche Anspielungen auf historische Dorf-Architektur sowie Inszenierungen des Ländlichen sichtbar zu machen – und damit den äußeren Eindruck von Historizität zu verstärken bzw. erst zu erzeugen. Historie, geschichtliche Tradition, ist ohnehin ein Merkmal, das Dörfern zugeschrieben wird, was auf dem mehr oder weniger deutlich reflektierten Allgemeinwissen beruht, dass die heute besiedelten Plätze in der Mehrzahl der Fälle eine Kontinuität aufzuweisen haben, die wenigstens bis zum 19. Jahrhundert zurückreicht – in vielen Fällen auch viel weiter zurück. Merkmale des Außenraumes solcher Siedlungen, wie einheitliche Bodenbeläge und Beleuchtungskonzepte oder die Namensgebung der Straßen, verknüpfen die Häuser und den Außenraum zu einem Ensemble, das aber seinerseits gestalterisch meist wenig mit der landschaftlichen Umgebung verknüpft ist. Die Grenzen sind vielfach scharf, oft zusätzlich mit Bepflanzung – den bekannten Thuja-Hecken und dergleichen – abgesteckt. Die Unterschiede zum historischen Dorf sind aus funktionaler Hinsicht evident: Die für das Dorf grundlegende Definition der geringen Arbeitsteiligkeit und der agrarischen Prägung greift hier (natürlich) nicht; im Gegenteil, wirtschaftliche Verflechtungen zwischen den Nachbarn bestehen häufig gar nicht und mit Landwirtschaft haben die wenigsten Bewohner zu tun. Mit dem Dorf als wirtschaftlicher Struktureinheit haben diese Siedlungen also sehr wenig gemeinsam. Oft fehlen auch die sozialen Kristallisationspunkte und Kontaktflächen: Kirche, Kneipe und Schule sind selten vorhanden. Diese modernen Dörfer sind Siedlungen, die existieren können, weil es Referenzstrukturen gibt, die die Infrastruktur vorhalten und die Versorgung garantieren – das kann der zugeordnete historische Dorfkern sein, aber beispielsweise auch eine nahe gelegene Stadt oder ein Einkaufs- und Gewerbegebiet. Es fehlen konsequenterweise auch die charakteristischen Straßennamen, die die Sozialstruktur und Wirtschaftszusammenhänge der historischen Dorfzeit widerspiegeln und lebendig halten bzw. Ausdruck des Funktionszusammenhangs Dorf sind: Kirchgasse, Fleischergasse usw. Es fehlt auch das ins kollektive Gedächtnis über-

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gegangene baukulturelle Wissen, das die Strukturen des historischen Dorfes prägt, beispielsweise die energiesparende und daher Wind und Wetter möglichst wenig Angriffsfläche bietende Anlage der Siedlung im Tal oder einer vergleichbaren naturräumlich geschützten Stelle. Während die Gestalt historischer Dörfer sich aus der baukulturellen Umsetzung eines solchen (oft in mühsamer Erprobung erworbenen) Wissens ergibt, brauchen die modernen Wohnsiedlungs-Dörfer eben jenes Wissen im Grunde nicht mehr gestalterisch umzusetzen. Es ist die teilweise bis auf ein Minimum reduzierte Ästhetik eines Dorfes (Kleinteiligkeit, Historizität der Bauformen, Anordnung der Baukörper usw.), die auf der dekorativen Ebene verbleibt und keine historischen Strukturen fortführt oder funktionale Zusammenhänge ausdrückt. Das Aussehen historischer Dörfer erklärt sich zu einem bedeutenden Teil aus Notwendigkeiten (vgl. zu diesem Komplex Wieland 1984). Diese modernen WohnDörfer hingegen müssten nicht so aussehen wie es der Fall ist. Grundlage für ihre Erscheinung sind vielmehr ästhetische Wünsche und Vorlieben derjenigen, die hier bauen.4 Einkaufsdörfer Ein bedeutendes Kapitel europäischer Sozial- und Architekturgeschichte ist die Herausbildung des Wirtschafts- und Bautypus Warenhaus. Ausgehend von frühmittelalterlichen Markthallen entwickelten sich verschiedene Formen und Motivationen, Geschäfte baulich zusammenzufassen. Der entscheidende Faktor für die neuzeitlichen Entwicklungen war die Zusammenführung mehrerer, früher wirtschaftsgeschichtlich bzw. -organisatorisch getrennter Handels- und Dienstleistungszweige in einer Hand. Für den entsprechend tätigen Unternehmer bedeutet dies eine wirtschaftliche Binnendifferenzierung. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand das Konzept zwar andere gestalterische Formen (sie prägen beispielsweise mit den Betonformsteinfassaden noch heute das Bild mancher Innenstadt), aber das Konzept blieb im Grunde gleich. Warenhäuser des 19. und 20. Jahrhunderts sind bis heute attraktive Anziehungspunkte vieler Innenstädte. Ein zweiter Typus der räumlichen und organisatorischen Zusammenfassung von Geschäften, hier jedoch von selbständigen Einzelhandelsgeschäften und Dienstleistungsbetrieben, ist das Einkaufszentrum. Die Grenzen zum Warenhaus sind nicht immer völlig trennscharf zu ziehen. Gestalterische und funktionale Vorbilder finden beide Typen in den Passagen, die im 19. Jahrhundert populär wurden. In den 1990er Jahren wurde der verstärkte Ausbau sogenannter Malls (einschlägig bekannt ist das CentrO in Oberhausen) zum Trend, auch setzten sich zunehmend die Shop-in-Shop-Konzepte bzw. die innere

4

Gestaltprägende Faktoren wie Fragen des Baurechts usw. werden hier bewusst außen vor gelassen.

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Zerlegung von Warenhäusern in firmenbezogene Einzelstände und Einzelangebote durch. Der Boom des Einkaufszentrumsbaus nach der Wende 1989 und der deutschen Vereinigung 1990 hat selbstverständlich bedeutende ökonomische Motive, denen hier nicht nachgegangen werden soll. Interessant ist hier vor allem die Form bzw. Gestaltung, die das Einkaufsangebot findet: Die Erklärung für die Übernahme von neuen Trends, beispielsweise aus den USA, liegt natürlich darin, dass das Einkaufserlebnis immer wieder neu inszeniert werden muss, um die Aufmerksamkeit der Kunden auf sich zu ziehen und Kaufkraft zu binden. Zudem scheinen sie in Zeiten, in denen einzelnen Marken immer größere Bedeutung beigemessen wird, unerlässlich, um die Wiedererkennbarkeit stets gleichbleibend zu garantieren. Die gestalterischen Auswirkungen sowohl der ›Stores‹ wie des Inszenierungsbedürfnisses sind in einer Ausprägung im Zusammenhang mit dem Dorf sehr interessant: Waren die großen Kaufhäuser und Einkaufszentren früher oft ihrer Grundform nach kompakte Quader und vor allem geschlossene, wind- und wettergeschützte und somit hinsichtlich Licht-, Akustik und Geruchsregie ausgezeichnet kontrollierbare Räume, gibt es einen Trend, ganze Einkaufszentren in kleinteilige Dorf-Erlebniswelten unter freiem Himmel aufzulösen (zum Thema vgl. Uffelen 2008): Eines der bekanntesten ist das nahe der überhaus romantischen fränkischen Kleinstadt Wertheim oberhalb der Autobahn A 3 gelegene Outlet-Store ›WertheimVillage‹, dessen Name in diesem Zusammenhang auch vielsagend ist. Das auffällig und aufwendig gestaltete, vieltürmige Ensemble ist für Vorbeifahrende ein echter Blickfang und dürfte dadurch auch Spontanbesuche anregen. Ähnlich bekannt ist das Outlet-Store in Roermond (Niederlande). Abbildung 11: Alles, was das Herz begehrt – und das im gemütlichen ›Dorf‹ (mit vieltürmiger Silhouette), nicht im großen unübersichtlichen Warenhaus

Stadt Wertheim (Aufnahme 2012)

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Diese Anlagen sind natürlich organisatorische Großkomplexe von hoher Rationalität. Um dies zu erahnen, reicht schon der Blick auf die funktional gestalteten Rückseiten der Gebäude, wo die Anlieferung erfolgt. Auf der Vorderseite sind sie dagegen gestalterisch stark untergliedert: Das Einkaufen wird mit Anspielungen auf dörfliche Strukturen und historische Architektur in Szene gesetzt, wobei Bezüge auf kleinteilige Parzellierung, auf historische Bauformen und Anspielungen auf dörfliche Strukturen erkennbar sind. Sie werden in einer Weise eingesetzt, die man als Staffage bezeichnen kann. Es handelt sich um bauliche Ausstattungsstücke, bei denen sich die Form von der historischen Herleitung gelöst hat und als bauliches Signal oder auch für die reine Freude eingesetzt wird. Solche Praxis ist z.B. aus den architektonischen Gärten des Barock oder den Landschaftsgärten des 19. Jahrhunderts bekannt und hat dort (nicht nur) künstlerische Bedeutung. Fast etwas ironisch ist, dass sogar der Marktplatz – als zentrales Element städtischer und dörflicher Strukturen – im Dorf-Outlet wieder vorkommt, oft genutzt von der und für die (Außen-) Gastronomie. Damit ist zwar durchaus eine Handelssituation gegeben, aber der Bezug zum ›altehrwürdigen‹ Markt mutet zumindest fahl an. Anspielungen auf Rathäuser, die Manifestation bürgerschaftlicher Selbstverwaltung und Hoheitlichkeit, kommen baulich nur selten vor, beispielsweise in Turm-Motiven. Spannenderweise spielt aber Sakralität eine Rolle, vermittelt durch bauliche Anspielungen unter Verwendung von Stilformen, die ohne weiteres mit Kultus-Architektur in Verbindung gebracht werden können. In (oder: im) ›Wertheim Village‹ sind dies die neu-neugotischen Spitzbogenformen der Eingänge. Es ist interessant, dass auf die Gestaltung der Torsituation so großer Wert gelegt wird. Die Verflechtung des Outlets mit der umgebenden Landschaft beschränkt sich auf die Zuwegungen für die Anlieferung und Straßen zum Heran- und Abführen der Einkaufswilligen, natürlich mit dem PKW (oder Reisebus). Abgesehen davon handelt es sich (wenn man einmal von den Versorgungsleitungen absieht) um eine in sich geschlossene autarke Struktur. Dörfer im urbanen Raum Auch in den Innenstädten ist das probehalber so genannte Dorf-Motiv wirksam. Beispielsweise zeigt sich das an einer eher an Vororte erinnernden Bauweise von Neubauten selbst in urbanen Zentren: Der kompakte Stadtkörper, den die Nachkriegsmoderne seit den 1960er Jahren mit der Devise »Urbanität durch Dichte« anstrebte, wird an vielen Orten wieder poröser; Großbauten und Dominanten weichen einer kleinteiligen Bebauung. Auch in Stadtvierteln des 19. Jahrhunderts wird die Blockrandbebauung aufgerissen, z.B. wenn die Mietinteressenten fehlen, wenn der Sanierungsstau der Altbauten zu groß wird und es sich schlicht nicht lohnt, die Bausubstanz zu (er-)halten. Leipzig ist hierfür ein bekanntes Beispiel. In der historisti-

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schen, vielgeschossigen Blockrandbebauung der Südvorstadt tauchen hin und wieder kleine Einfamilienhäuser als Neubauten auf. Für diese Formen der Verdörflichung der Stadt gibt es eine Fülle von Ursachen, sie sind allerdings hier nicht die einschlägig zu besprechende Form. Im Zusammenhang dieser Untersuchung ist vielmehr der Hang zum Dörflichen interessant, der sich in der bewussten Rekonstruktion längst nicht mehr vorhandener Bauten und Bauensembles zeigt. Rekonstruktionen verlorener historischer Bauten dokumentieren eine Haltung, die sich Ende der 1970er Jahre entwickelte, sich in den 1980er Jahren etablierte (Hildesheim, Frankfurt/M. usw.) und ihren Höhepunkt jüngst mit der Wiedergewinnung der Dresdner Frauenkirche erlebte. Mit dem Neubau des Palais Thurn und Taxis in Frankfurt/M., der Stadtschlösser in Braunschweig und Potsdam (dort, nota bene, als Einkaufszentrum, hier immerhin als Landtag) und des Humboldt-Forums sub specie des Berliner Stadtschlosses zeichnet sich das Ende dieses Trends zumindest in qualitativer Hinsicht ab. Besonders interessant sind die Fälle, in denen solche Rekonstruktionen die Zeitschicht der Nachkriegsmoderne ablösen, die dafür zunächst abgerissen wird (die ›Neue Altstadt‹). Frankfurt/M. ist hierfür wohl das aktuelle Paradebeispiel. Nach dem Kriegsverlust der Fachwerkaltstadt gewann Frankfurt im Wiederaufbau für sein Stadtzentrum verstärkt die Urbanität, die die Nachkriegsmoderne als Erbin der progressiven 1920er Jahre anstrebte: dichte Bebauung mit Großbauten, breit flutender Verkehr, Modernität allenthalben. Das Technische Rathaus, 1972-1974 erbaut, war der Schlusspunkt dieser Entwicklung und wurde fertig gestellt, als diese Ideale schon durch neue abgelöst waren und das Zeitalter der Rekonstruktionen bereits heraufdämmerte, zunächst mit dem Europäischen Denkmalschutzjahr 1975. Das Technische Rathaus war natürlich auch deswegen umstritten, weil es mit der Hypothek belastet war, dass diejenigen, unter deren Augen es gebaut wurde, den Vorzustand der kleinteiligen Fachwerkaltstadt gekannt und seinen Verlust nie verschmerzt hatten. Als Bauwerk war das Technische Rathaus von hoher Qualität, stand aber nach Meinung vieler Frankfurter schlicht am falschen Platz. Es gehörte jedenfalls in den 1960er Jahren im Stadtrat eine bemerkenswerte Visionsfähigkeit dazu, diese imposante und selbstbewusste Geste zu beschließen! Der für die Gegenwart entscheidende Impuls kam mit der 1981 begonnenen Rekonstruktion der Fachwerkbauten der Römerberg-Ostzeile und der in Formen der Postmoderne (Historismus des 20. Jahrhunderts) neugestalteten Saalgasse (gebaut 1981-1984). Das Ergebnis der davon ausgehenden Entwicklungen ist bekannt. Abbruch (etwas beschönigend ›Rückbau‹ genannt) der Nachkriegsmoderne in Frankfurt, Neubau der historischen Strukturen. Trotz der angestrebten und technisch aufgrund vorhandener Pläne und Messfotos möglichen akribischen Rekonstruktion von sogenannten Leitbauten wäre es wohl zutreffender zu sagen, dass Neubauten entstehen, die sich an den historischen Strukturen orientieren. Auch hier sind eine Rückkehr zur Kleinteiligkeit, ein Rücksprung im Maßstab (also ein bewusstes Aufgeben der zwischenzeitlich höheren

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Grundstücksausnutzung) und die Verwendung von Bauformen, die Geschichtlichkeit signalisieren, festzustellen. Der Umgang mit dem Historischen Museum fügt sich nahtlos ein: Der waagerecht strukturierte Betonbau mit Flachdächern (1974 eingeweiht) weicht zwei Neubauten mit Satteldächern, die die verlorene Struktur aufzugreifen versuchen. Abbildung 12: Eine neue Altstadt – wie ein Museumsdorf inmitten des längst von Bauten der Nachkriegsmoderne geprägten, hier aber nicht sichtbaren Stadtkörpers

DomRömer GmbH, Frankfurt a.M. (Visualisierung 2013)

Es sei darauf hingewiesen, dass die verlorene historische Altstadt Frankfurts selbstverständlich kein Dorf war, sondern ein Stadtkern. Dieses Beispiel ist daher durchaus ein Sonderfall. Das Dörfliche kommt dabei aber ins Spiel, wenn man, wie unten, die aktuellen Entwicklungen analysiert.

E CHTE D ÖRFER !? Angesichts dieser drei Vergleichsstrukturen ist zu fragen: Was ist das echte Dorf, was sind seine charakteristischen Merkmale? Die oben skizzierte Antwort ist komplex, jedenfalls kann festgehalten werden: Das Dorf ist eine spezifische soziale und wirtschaftliche Struktur und Siedlungsform, die ihren gestalterischen Ausdruck in daraus abgeleiteten Grundrissbildungen und Architekturstilistiken findet. Dörfer sind kleine, eher kompakte und zumeist agrarisch geprägte Siedlungen, die auf die naturräumlichen Gegebenheiten optimal abgestimmt sind, beispielsweise durch die Vermeidung exponierter Lagen, durch die Schaffung geschützter Binnenräume zwi-

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schen den Einzelbauten und die optimale Ausnutzung des kostbaren Ackerbodens. Aspekte der Grundrisse von Dörfern und einzelner dörflicher Bautypen sollen hier nicht weiter diskutiert werden: Die Zusammenhänge zwischen Grundriss des Ensembles bzw. Einzelbaus und der sozialen bzw. ökonomischen Funktion sind so zwingend, dass sich genuin dörfliche Grundrissmerkmale kaum für neue Zwecke umnutzen lassen. Im Wohnsiedlungs-Dorf, im Einkaufs-Dorf oder im urbanen Dorf spielen sie daher keine über das Dekorative hinausgehende Rolle. Festzuhalten ist, dass nicht jede Dorftypologie sich dazu eignet, in der Gegenwart für neue Funktionen baulich nachgeformt zu werden, sondern dass sich nur bestimmte historische Dorfformen, namentlich das Haufen-, Straßen- oder Angerdorf, ihrer Anlage nach dafür anbieten. Betrachtet werden im Folgenden vor allem die einzelnen Bauformen und im weiteren Sinne ansatzweise ihre Gruppierung. Unabhängig von der regionalen Verortung unterschiedlicher Dorfformen, Bautypen und Gestaltungsformen lassen sich wiederkehrende Merkmale benennen, die die Baukultur des Dorfes allgemein kennzeichnen. Neben den Wohnhäusern sind Bautypen von Wirtschaftsbauten (Stall, Scheune etc.) vorherrschend. Der Fachwerkbau darf als eines der Grundprinzipien dörflicher Architektur gelten (vgl. im Folgenden Gerner 1986, geschrieben vor dem Hintergrund der Gefährdung des Fachwerkbaus, und Gerner 1989). Bei höchster regionaler und auch chronologischer Differenzierung ist er durchgehend von einem ressourceneffizienten Umgang mit Material geprägt: Stein, der zwar nicht überall selten, aber fast immer schwierig zu bearbeiten ist, ist nur im notwendigen Maß eingesetzt. Hauptkonstruktionsmaterial bleibt Holz, wozu dann das jeweils am Ort vorhandene Material für Ausfachungen, Verkleidungen und sonstige Gestaltungen tritt. Die dörflichen Fachwerkbauten sind geprägt von einem hohen Maß an Reparabilität, also der mühelosen Austauschbarkeit defekter Einzelteile; die wenigen für den Bau verwendeten Materialien sind zumeist regional bezogen, aufwendige Verbundwerkstoffe finden sich kaum. Die Anordnung der Einzelbauten des jeweiligen Hofes wie des Dorfensembles berücksichtigt die Topographie, indem zum Beispiel windgeschützte Lagen ausgenutzt werden. Der Umgebung wenden die Bauten häufig ihre geschlossenen Seiten zu, öffnen sich hingegen verstärkt nach innen. Die individuellen Wirtschaftsflächen, aber auch Gemeinschaftsflächen werden dadurch besonders geschützt. Es findet sich natürlich auch Bauschmuck, oft von hoher gestalterischer Qualität. Die Kunstgeschichte, die Schnitzereien oder Fassadenmalereien lange Zeit eher beiseite gelassen hatte, hat die Volks- oder Dorfkunst als bedeutendes Genre entdeckt (vgl. z.B. Nagel/Bedal 2001). Baulich-gestalterischer Höhepunkt auch des Dorfes sind Sakral- und Hoheitsbauten, sowohl im Hinblick auf die Materialien als auch hinsichtlich des Bauschmucks und der Ausstattung. Die Gliederung des ländlichen Raumes durch die Dörfer und die verbindenden Straßen und Wege ist nicht denkbar ohne das Motiv des Kirchturms, der den Ort des Dorfes schon von weither markiert, beispielsweise durch eine die Hügel überragende Turmspitze.

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F ALSCHE D ÖRFER ?! Mit alledem haben die drei geschilderten neuen Dorfformen nur ausschnitthaft etwas gemeinsam. Sie stellen freie Aneignungsweisen einzelner Motive dar und erzeugen durch deren Verwendung dörfliche Anmutungen, hinter denen aber jeweils andere Beweggründe wirksam sind. Das soll ihre gestalterische Qualität und ihre unterhaltsame Wirkung im Einzelnen nicht schmälern, doch ist es wichtig, sich diese Inszenierungen eben zu vergegenwärtigen. Es gibt phänotypische Ähnlichkeiten, die aber keine tiefergehende Fundierung haben bzw. sich aus anderen Motiven erklären lassen müssen. Die Reihung im Einkaufs-Dorf hat nichts mit dem historischen Straßendorf gemein, die öffentliche Fläche im Siedlungs-Dorf ist der Kinderspielplatz, nicht der Anger. Das Neubaugebiet ist nicht mehr der soziale Dorfverband: Produziert wird hier nichts, Pendeln zum Arbeitsplatz ist angesagt; Kirche und Geschäfte bleiben unten im historischen Dorf (die Geschäfte auch in Einkaufszentren nahe gelegener Städte), die neuen Häuser sind oben auf dem Berg. Ihre großen Fenster blicken auf die Landschaft, die die Bewohner aus dieser bevorzugten Lage heraus natürlich genießen möchten. Hinsichtlich der Baukultur gilt der Grundsatz des ›anything goes‹: Form- und Materialwahl sind nicht von Faktoren wie Regionalität oder Ressourcenschonung bestimmt. Vielfach sind die Bauten – sofern es sich nicht um Fertigteilhäuser mit geringen Variationsmöglichkeiten handelt – geradezu verschwenderisch ausgestattet. Spätestens bei der Gestaltung des Außenbereichs kommen beispielsweise Granit und andere Importsteine ins Spiel, die historisch für diese Aufgaben nicht verwendet worden wären. Die Schlüssigkeit des Gesamtbildes lässt oft zu wünschen übrig, ist (für unsere heutigen Augen?) buntscheckig. Auffälligste Merkzeichen der funktionalen Inhomogenität und Inkonsistenz ist zumeist die Dachlandschaft, die in historischen Dörfern immer von einer gewissen Einheitlichkeit und Geschlossenheit gekennzeichnet ist, und zwar im Bezug auf die Dachform (Satteldach usw.), die Neigungswinkel und die verwendeten Materialien. Daher bieten solche historischen Dörfer aus der Fernsicht vielfach ein kompaktes Bild, das den Zusammenhang erkennbar macht. In Zeiten baukultureller Vielfalt – kritische Publikationen sprechen von den »Sünden« (Gerner 1986) usw. – geht dieses Gesamtbild verloren: Bekannt sind die glänzend blau glasierten Dachziegel, die eine Zeitlang eben Mode waren und es gelegentlich noch sind. Die Bauten, die diese neuen Siedlungs-Dörfer bilden, sind bautechnisch auf dem allerneuesten Stand: Sie hätten beispielsweise sichtbares Holztragewerk nicht nötig. Trotzdem finden sich vielfach solche gestalterischen Rückgriffe auf konstruktiv eigentlich obsolet gewordene Techniken. Erklären lässt sich dies wesentlich mit dem Bedürfnis nach sichtbarer Geschichtlichkeit und heimeliger bis heimatlicher Anmutung. Heiztechnik ist ein bestimmendes Thema im modernen Wohnungsbau. Systeme wie die Holzpellet-Heizungen interpretieren interessanterweise historische Motive wie die

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Nutzung von Laubstreu und Heckenschnitt neu, freilich wird das Brennmaterial oft nicht aus der umliegenden Landschaft bezogen, denn die dorfkonstituierenden Wirtschaftszusammenhänge eines historischen Dorfes bestehen nicht. Angesichts der technischen Möglichkeiten müssten die Häuser der neuen Wohn-Dörfer keine Bezüge zu historischen Bautechniken und -formen haben, sie könnten auch ganz anders aussehen und ganz woanders stehen. Dass sie diese aber aufgreifen, muss daher mit ästhetischen Vorlieben der Bauherren erklärt werden, sofern diese bewusst reflektiert sind. Auch die Einkaufs-Dörfer als modische Form der Outlet-Stores beziehen sich stilistisch auf allgemeine, leicht erkennbare und gut umzudeutende Gestaltungselemente aus der Dorftradition und rekombinieren diese in freier Form, kreativ und gewiss lustvoll. Leitend dürfte die Absicht der Betreiber sein, eine angenehme und ansprechende Atmosphäre zu kreieren, die als hochwertig empfunden wird und daher absatzsteigernd wirkt. Da dies funktioniert (die Besucherzahlen in Wertheim Village sind gut), treffen diese Einrichtungen offenbar den Geschmack einer ausreichenden Zahl von Menschen. Weil funktionale Hintergründe und Bedingungen historischer Dörfer auch hier keine Rolle spielen, können Einzelmotive beliebig zitiert und dabei vor allem technisch modern umgesetzt werden: Fachwerk, dem Wesen nach ja eine Konstruktionsweise, wird, statt eine Wand zu bilden, zum Dekor, das einer verputzten Betonwand vorgeblendet wird. Stilformen unterschiedlicher Baukulturregionen finden sich nebeneinander wieder (was zugegeben auch historisch immer wieder vorgekommen ist), die Proportionen der Bauteile verdanken sich moderner Bautechnik und den Gestaltungswünschen, nicht den naturräumlichen Bedingungen oder den vorhandenen Ressourcen. Bautypen aus dem Dorfzusammenhang werden gestalterisch aufgegriffen und inhaltlich neu definiert: Eine Scheune ist natürlich keine Scheune mehr, der Markt kein Markt im Wesenssinn. Und auch wenn, wie im Falle eines geplanten Themenparks »Allgäuer Dorf« bei Füssen, ein Investor funktionsgetreue und original anmutende Bauten zur anschaulichen Vermittlung von Dorfleben, Baukultur und Handwerkstradition in Aussicht stellt, bleibt doch der Eindruck von Künstlichkeit und Kommerzialität. Besonders interessant ist die Rekonstruktion historischer Altstadtzusammenhänge, da hier die zwischenzeitlich erfolgten authentischen Veränderungen der Stadtgeschichte bewusst rückgängig gemacht werden. So entsteht letzten Endes eine Art Museumsdorf mitten in einer Stadt, deren Gesamtbild längst von anderen städtebaulichen Paradigmen geprägt ist. Die im Internet leicht zugänglichen Visualisierungen der im Bau befindlichen neuen Frankfurter Altstadt, das Dom-RömerProjekt, blenden wohl aus diesem Grund die Umgebung der neuen Struktur zumeist aus: Die Frankfurter Innenstadt, geprägt von Bauten der 1950er bis 1980er Jahre, wird hier mit einer Struktur konfrontiert, die hinsichtlich ihrer Proportionen, Materialien und Bauformen längst untergegangen ist. Auch diese historisierenden Neubauten sind technisch auf dem neuesten Stand und werden bei aller handwerklichen

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Qualität ihrer Konstruktion mit neuesten technischen Errungenschaften hinsichtlich Klimatisierung und Dämmung ausgestattet sein. Ähnliches wäre für Berlin zu erwarten, wo im Schatten des Fernsehturmes die verlorene Altstadt neu erstehen und der Marienkirche ihr historischer städtebaulicher Rahmen wiedergegeben werden soll. Von den drei hier vorgestellten Zweitverwendungen des Dorfes ist die Rekonstruktion historischer Altstädte sicher die am wenigsten genuin Dorf-bezogene Form, da bei ihr viele andere Beweggründe eine Rolle spielen, darunter die etwas voreilige Ablehnung der städtebaulichen Entwicklungen der Nachkriegsmoderne angesichts von deren aktuellem Pflegezustand – und natürlich der oben angesprochene Phantomschmerz, den verschwundene Bauten offenbar auslösen können. Die Dorfmotive im urbanen Raum sollten hier gleichwohl Erwähnung finden, denn das Bild des Museums-Dorfes bringt ihren Charakter gut zum Ausdruck, und Motive aus den Neubausiedlungen und den Einkaufszentren durchdringen auch diese Dorfform. Wenn wir ›echte‹ Dörfer definieren, ergibt sich daraus die Möglichkeit, ›falsche‹ zu benennen. Zu fragen ist, ob ein solches Urteil nicht zu hart ist. Was spricht dagegen, dass Siedlungen, Einkaufszentren und Innenstädte Motive aus dem DorfFundus aufgreifen? Warum sollte man denn nicht neue Fachwerkhäuser bauen? Dies alles einfach als billige Kopien abzulehnen, wäre zu kurz gegriffen.

N EUE D ÖRFER

ALS

G EFAHR ?

Aus der Perspektive der Baukultur sind die drei geschilderten Formen einer Imagination bzw. Anmutung und Rückkehr des Dörflichen unbedingt im Blick zu behalten. Hier entstehen zweifellos interessante Anlagen, teils auch mit nicht geringem gestalterischem Anspruch. Doch sie enthalten ein Risikopotential, und damit lässt sich die kritische Haltung diesen Adaptionsformen gegenüber begründen: Sie gefährden latent oder konkret den Bestand dessen, mit dem zu beschäftigen jetzt dringend geboten wäre. Zudem sind sie verbunden mit Motiven, die nicht dem Gemeinwohlinteresse entstammen, sondern rein ökonomischen Interessen. Da ist zum einen die historische Bausubstanz der traditionellen Dörfer und Dorfkerne, in denen Leerstand und Abbruch nicht nur von Baudenkmälern längst an der Tagesordnung sind und wo die historischen Mitten zugunsten eines Wachstums an den Rändern brach fallen: ein Phänomen, mit dem die ländlichen Räume in West und Ost, regional je unterschiedlich, aber grundsätzlich überall vertraut sind. Hintergrund ist der Sog der urbanen Zentren und der Einkaufsparadiese. Gelegentlich versucht dann ein Dorf oder eine Kleinstadt, sich die Instrumente dieser Einkaufsparadiese und Outlet-Stores zunutze zu machen: Bad Münstereifel (NRW) erfindet

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sich derzeit als Outlet-Store im Gewand (s)einer historischen Altstadt neu. Welche Perspektiven lassen sich damit verbinden? Das echte Dorf ist, siehe oben, eine Sozialstruktur, die ihre Stärke aus nachbarschaftlichen Strukturen bezieht. Die Bedingungen von Nachbarschaft sind im modernen Siedlungs-Dorf aber gänzlich andere als im historischen, und beim Einkaufs- und Erlebnisdorf sind die im Hintergrund wirksamen Motive noch ganz andere. Man könnte überspitzt formulieren, dass in den Neubausiedlungen auf technisch hochmoderne Gebäude historische Bauformen zitathaft übertragen werden, während sich viele Bauherren und Architekten immer noch schwer damit tun, moderne technische Errungenschaften wie Heizung und Dämmung auf den historischen Altbaubestand der Dörfer zu übertragen und diesen damit dauerhaft zu ertüchtigen. Dabei wäre diese Vorgehensweise, konsequenter umgesetzt, eine wichtige Strategie, um historische Dörfer und ihren Baubestand zu erhalten! In Kauf nehmen müssten die Bewohner der Häuser natürlich Dorftypisches, seien es niedrige Räume oder kleine Fenster, sei es die geforderte Kreativität, wenn es darum geht, einen Wagenstellplatz, ein Badezimmer oder moderne Heiztechnik unterzubringen. Solche Herausforderungen des Baubestandes im historischen Dorf seien hier einmal bewusst holzschnittartig genannt, es sind Herausforderungen, denen sich alle am Bau Beteiligten ohne weiteres stellen sollten und natürlich längst stellen können. Ausdrücklich kritikwürdig ist bei den Neubausiedlungen die fortgesetzte Flächeninanspruchnahme. Die schon vor Jahren formulierte Devise »Innenverdichtung vor Außenerweiterung« sollte längst Allgemeingut sein, trotzdem entstehen weiterhin Neubausiedlungen, während historische Dorfkerne ungenutzt zurückbleiben. Die Inanspruchnahme und Versiegelung von Flächen hat nicht nur ökologische Auswirkungen, auch ästhetische Fragen verbinden sich damit, wenn nämlich die Siedlung in die Breite geht und kein prägnant-kompaktes Kulturlandschaftselement mehr ist. Bedauerlich ist auch, dass die Siedlungs- und Einkaufs-Dörfer oft keinen funktionalen Bezug zur umgebenden Landschaft haben. Zum anderen ist die baugeschichtliche Epoche gefährdet, deren Erforschung und Bewertung unbedingt zu bewerkstelligen ist: die Nachkriegsmoderne. Im Zuge der Popularisierung historischer Baukultur durch das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 und durch die folgenden Aktivitäten von Akteuren wie dem Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz und der Interessengemeinschaft Bauernhaus gewannen historische Dörfer und ihre Bauten inzwischen starke Popularität. Publikationen der damaligen Zeit erreichten ein großes Publikum und schufen eine breitenwirksame Verankerung baukultureller Qualitäten der Dörfer und ihrer Häuser. Aus heutiger Sicht lässt sich die Strategie einer etwas aggressiven Publizistik, die an den Leistungen der 1950er bis 1970er Jahre kaum ein gutes Haar ließ, zwar nachvollziehen – angemessen ist sie aber nicht. Aus der verständlichen Sorge um fortschreitende Verluste resultierte das Schlechtreden einer Epoche, deren Qualitäten heute aber auch wieder erkannt werden können.

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In der Zusammenschau dieser sehr unterschiedlichen Entwicklungen lässt sich folgende Diagnose stellen: Durch das fortgesetzte freie und auch willkürliche Zitieren von Dorfarchitektur sowie die Idee der prinzipiellen Wiederholbarkeit von verlorener Architektur wird unser Blick auf die ›authentische‹ historische (ältere wie jüngere!) Substanz und das historische Wachstum der Dörfer verstellt. Deren Wertschätzung läuft dadurch Gefahr, beständig abzunehmen. Ich stehe den neuen Strukturen aus diesen Gründen skeptisch gegenüber. Die Chance, dass beispielsweise die geschilderten neuen Siedlungen eines Tages zu veritablen (neuen) Dörfern heranreifen könnten, soll nicht geleugnet werden, aber mit ziemlicher Sicherheit werden auch viele dieser Ensembles eines Tages einfach brach liegen.

E CHTE C HANCEN

FÜR ECHTE

D ÖRFER ?

Das ›echte‹ Dorf ist parallel dazu aber auch Gegenstand interessanter Überlegungen, die auf eine Erneuerung und langfristige Stabilisierung zielen. Die Erneuerungsbedürftigkeit der dörflichen Lebenspraxis und Dorfgestaltung führte schon in den 1970er Jahren zu Forschungen und Praxisbeispielen einer Wiederbelebung von Landgemeinden (vgl. aus der zahlreichen Literatur nur: Kulke/Grube 1974, dann auch: Schindler/Grube 1983, aktuell: Grube 2006). Sprichwörtlich geworden ist der Wettbewerb »Unser Dorf soll schöner werden«. Begründet 1961, also in jener Zeit, in der überall Urbanität angestrebt wurde und die Menschen in die Städte strömten und dafür ihre Dörfer aufgaben, war der Wettbewerb in den 1990er Jahren teilweise als reiner ›Blümchenwettbewerb‹ verschrien: Dorferneuerung durch Geranien?, so und ähnlich fragten Kritiker damals pointiert. Seit 1998 hat der Wettbewerb eine neue Ausrichtung und heißt »Unser Dorf hat Zukunft«. Es geht nicht mehr um Schönheiten, wie sie auch die genannten neuen Dörfer anbieten. Vielmehr stehen strukturelle und funktionale Überlegungen im Vordergrund: Wie kann die Lebensqualität im ländlichen Raum und im Dorf erneuert, neu definiert und insgesamt gesteigert werden? Wie können die vorhandenen Gebäude für neue Zwecke genutzt und dafür angepasst sowie, wo nötig, ergänzt werden? Wer muss in die Gestaltung der ›Gemeinschaft Dorf‹ einbezogen werden, wer sind die Menschen, die sich hier engagieren und verantwortlich fühlen? Was ist mit den Erneuerbaren Energien und regionaler Wertschöpfung? Und auf wen muss man verstärkt zugehen? Der in diesem Sinne erneuerte Dorfwettbewerb zielt auf Vorbilder und Beispiele, die die Bedeutung des ländlichen Raumes und seiner Siedlungsformen als Lebensraum für Mensch, Tier und Pflanze darstellen und impulsgebend wirken können. Das Dorf als Wirtschaftsform und als Kulturort soll wieder in den Blick genommen werden. Kulturlandschafts- und Heimatpflege arbeiten dabei darauf hin,

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die Landschaft wieder stärker in den Dorfzusammenhang einzubeziehen und die Verbindungen zwischen Dorf und Landschaft (wieder) herzustellen: Denn das Dorf ist keine isolierte Erlebniswelt, sondern braucht eine funktionelle Grundlage. Abbildung 13: Bechstedt in Thüringen: nicht neues, sondern erneuertes Dorf – als Energiedorf mit einem Holzschnitzelheizkraftwerk, das die Dorfgemeinschaft energieautark macht, im Bild übrigens nicht sichtbar, da baulich geschickt eingefügt

Burkhardt Kolbmüller, Heimatbund Thüringen (Aufnahme 2012)

Neue funktionelle Grundlagen und Verbindungen zwischen Dorf und Landschaft etablieren Dorf-Formen und Dorf-Erneuerungsstrategien, die in den letzten Jahren erfreulicherweise starken Zulauf gefunden haben: Energiedörfer und andere Themen-Dörfer. Gerade die Energiedörfer dürften sich als zukunftsweisend herausstellen. Erstes energieautarkes Dorf (dank Blockheizkraftwerk mit Hackschnitzelnutzung) wurde 1998 Lieberhausen im Bergischen Land, das mittlerweile viele Nachfolger gefunden hat. Historische Dörfer erhalten durch solche Energieerzeugung mit moderner Technik eine neue wirtschaftliche Grundlage, die erstaunlicherweise auf historischen Wirtschaftsweisen beruht: nämlich dezentral, an die umgebende Landschaft angebunden, weil deren Bio-Ressourcen verwertend. Der enge Landschaftsbezug zeigt sich beispielsweise in der Verwendung von Holzschnitzeln und Schnittmaterial aus Hecken, alles Materialien aus dem Nahbereich der Siedlung. Während in vielen dieser Energiedörfer das Brennmaterial teilweise auch zugekauft wird, empfiehlt ein in Arbeit befindlicher Kulturlandschaftsplan des Landesheimatbundes Sachsen-Anhalt sogar eine größtmögliche Beschränkung auf das Dorfumfeld als Bezugsquelle. Unabhängig von der Herkunft der Brennmaterialien wird das gemeinsame Wirtschaften jedenfalls häufig auch als Grundlage einer neuen Dorfgemeinschaft empfunden; die Selbstversorgung definiert das Selbstverständnis des Dorfes und die Dorfgemeinschaft neu. Die lokalen, kleinteiligen Stoff-Kreisläufe

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wirken den überregional, national und global wuchernden Nutzungsketten entgegen, die tendenziell auf Übernutzung und Verschwendung hinauslaufen. Eine solche Erneuerung des ›Prinzips Dorf‹ bietet die Chance, historische bauliche Abbildung 14: Erzeugung erneuerbarer Zeugnisse wie Wohnhäuser und Wirt- Energien im ländlichen Raum kann dem schaftsgebäude funktional neu zu defi- historischen Dorf auch eine neue Umgebung geben, wie hier die nieren. In diesem Zusammenhang wäre Photovoltaikfreiflächenanlagen in zu überlegen, wie sich notwendige VerStraßkirchen (Niederbayern). Die neuen sorgungsstrukturen dezentralisieren und Kulturlandschaftselemente sind jetzt dem Dorf zurückgeben lassen: Ein Einvielleicht noch ungewohnt, werden aber kaufs-Dorf, bei dem der örtliche Bürmöglicherweise zum landläufigen Bild ger- oder Heimatverein als Genossendes Dorfes eines Tages dazugehören schaft den Supermarkt betreibt – das wäre ein attraktiver Gedanke. Die Erneuerung funktioniert ergänzend zur Umnutzung vorhandener Bauten auch mit zeitgenössischen, geschickt eingepassten und auf den Bestand abgestimmten Neubauten. Denn es muss nicht die überlieferte gestalterische Hülle des Dorfes sein, die in den drei kritisierten Formen Gefahr läuft, inhaltlich entleert und beliebig zu werInge Gotzmann (Aufnahme 2013) den. Das schöne, kunstvoll-künstliche dörfliche Erleben in der Ausnahmesituation samstäglicher Einkaufsfreuden sei allen Interessierten gegönnt. Zu einer nachhaltigen Gestaltung der Lebenswelt tragen Einkaufs-Dörfer und die neuen Wohnsiedlungen freilich nicht viel bei. Wird sich weiterhin viel, auch: zu viel Aufmerksamkeit auf diese Formen des Dörflichen fokussieren, dann würde dem ›echten‹ Dorf weiterhin die Substanz entzogen, seine Potentiale blieben genutzt. Es ist schön, dass das Dorf zurückkehrt, aber es wäre schrecklich, wenn dies lediglich in Form von imaginativ erzeugten Wiedergängern der Fall wäre. Daher sollten Konzepte wie die Energiedörfer unbedingt stärker forciert werden. Das Dorf ist mehr als eine Architekturkulisse: als Struktur könnte es wesentlich zur Weiterentwicklung unserer Gesellschaft beitragen.

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LITERATUR Gerner, Manfred (1986): Fachwerksünden. Bonn: Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz, Geschäftsstelle beim Bundesminister des Inneren (Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, Band 27). Gerner, Manfred (1989): Fachwerk. Entwicklung, Gefüge, Instandsetzung. Stuttgart: DVA. Grube, Joachim (2006): Lebensraum Dorf. Methoden, Inhalte und Ergebnisse der Dorferneuerung. Berlin: Bauwerk Verlag. Krebs, Stefanie (Hg.) (2012): Landschaft quer Denken. Theorien – Bilder – Formationen. Unter Mitarbeit von Guido Fackler. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, Band 39). Kulke, Erich/Grube, Joachim (1974): Abbenrode. Modell einer ländlichen Ortserneuerung. Münster/W.: Deutscher Heimatbund. May, Herbert (Hg.) (2010): Farbe und Dekor am historischen Haus. Beiträge zur gleichnamigen Tagung im Fränkischen Freilandmuseum in Bad Windsheim vom 26. bis 28. Juni 2008. Bad Windsheim: Verlag Fränkisches Freilandmuseum (Schriften und Kataloge des Fränkischen Freilandmuseums, Band 61). Nagel, Friedrich August/Bedal, Konrad (Hg.) (2001): Dörfer, Höfe, Stuben. Spuren vergangener bäuerlicher Welten Frankens aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bad Windsheim: Verlag Fränkisches Freilandmuseum (Schriften und Kataloge des Fränkischen Freilandmuseum, Band 34). Schindler, Gertraud/Grube, Joachim (1983): Dorferneuerung und kommunale Praxis. Erwartungen und Erfahrungen in der Gemeinde. Dokumentation eines Seminars vom 17. bis 18. Oktober in Burgschwalbach. Berlin: Deutsche Akademie der Forschung und Planung im Ländlichen Raum (Schriftenreihe der Deutschen Akademie der Forschung und Planung im Ländlichen Raum, Reihe A Heft 3). Troßbach, Werner/Zimmermann, Clemens (2006): Die Geschichte des Dorfes von den Anfängen im Frankenreich zur bundesdeutschen Gegenwart. Stuttgart: Ulmer. Uffelen, Chris van (2008): Malls & Department Stores. Berlin: Braun. Wieland, Dieter (1984): Bauen und Bewahren auf dem Lande. Bonn: Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz, Geschäftsstelle beim Bundesminister des Inneren (Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz).

W EBSITE http://www.dorfwettbewerb.bund.de

Die Stadt als Dorf Über die Generalisierung von Nahräumen und ihre Grenzen∗ W ERNER N ELL Die gestaltete Stadt kann ›Heimat‹ werden, die bloß agglomerierte nicht… MITSCHERLICH 1965: 15

Wer sich auf die Konnotationen der von Marshall McLuhan zu Beginn der 1960er Jahre geprägten und seitdem vielfach wieder aufgenommenen Formel des »global village« (McLuhan 1995b: 127) einlässt, wird auf eine größere Haupt- und eine kleinere, allerdings nicht weniger wichtige Nebenstraße geführt. Beide, so soll es im Folgenden angesprochen werden, sind freilich nützlich, ja unverzichtbar, wenn es um »die Stadt als Dorf« geht, damit also auch um das Verhältnis von Dorf und Stadt und um die Beantwortung der hier in Rede stehende Frage: Was ist ein guter Stadtteil? Offensichtlich, so belegt es die Konjunktur des Bildes vom globalen Dorf bis heute, ist die weit in die Siedlungsgeschichte nicht nur Europas zurückreichende Vorstellung eines wie auch immer global zu denkenden überschaubaren Nahbereichs mit »Nachbarn, die man kennt« attraktiv genug, um sowohl gesellschaftliche Verhältnisse und Prozesse als auch Sinnerwartungen und Gefährdungsvorstellungen einzelner Menschen und bestimmter sozialer Gruppen anzusprechen. Demgegenüber steht die Stadt, auch dies eine Vorstellung, die sich bis in die Antike zurück verfolgen lässt, schon immer für Vielgestaltigkeit und Dynamik, allerdings bis weit in die Neuzeit hinein stets in einer bestimmten, sowohl machtpoli-



Der Beitrag stellt die überarbeitete und ergänzte Version eines Arbeitspapiers dar, das im Rahmen der Fachtagung WAS IST EIN GUTER STADTTEIL? 2012 an der Hochschule Koblenz vorgelegt wurde.

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tisch als auch heilsgeschichtlich grundierten und ausgerichteten Ordnung. Dies gilt, so hat es Volker Klotz beobachtet, schon für die Schilderung des himmlischen Jerusalem in der Apokalypse des Johannes und noch für die Städte des Barock, also des frühmodernen Territorialstaates, zumindest in den darauf bezogenen Bildansichten, Architekturentwürfen und nicht zuletzt literarischen Schilderungen: »Nicht von ungefähr erscheint sie [die Stadt, W.N.] als Gefäß. Denn als entscheidendes Merkmal wird allzumal die Mauer hervorgehoben: vornehmlich zum Kreis, zum Quadrat oder zum regelmäßigen Sechseck schematisiert. Es beschreibt einen geschlossenen, nach außen abgeschlossenen Bezirk für sich, in den die allegorischen Einzelbilder als Bedeutungsträger gleichsam eingetopft sind.« (Klotz 1969: 444)1

Prozessverläufe der Generalisierung und Spezifizierung/Differenzierung treten damit ebenso im Ganzen wie in ihren jeweiligen Eigenbezügen und Verschlingungen vor Augen, und dies gilt für Stadt und Dorf gleichermaßen, aber auch in wechselseitiger Entsprechung und ggf. komplementärer Verteilung.

I. Auf der Hauptstraße des Bedeutungsfeldes »Dorf« finden sich dabei jene Konnotationen und Assoziationen, Hoffnungen und zum Teil auch überschießenden Erwartungen wieder, in denen sich das Zusammenleben der Menschen auch im globalen Maßstab noch als lokale Nachbarschaft, als Zusammenhang direkter Kommunikation und Interaktion und – damit verbunden – im Rahmen eines gemeinsamen Raumbezugs und in vermittlungsloser Gleichzeitigkeit vorstellen lässt. Spätestens über Facebook wird aber auch der Fernste zum Klassenkameraden, lässt sich trotz versetzter Zeitzonen in Echtzeit chatten und inzwischen bildgetragen auch skypen. Die Welt wächst im Ganzen zu einem Dorf zusammen, wobei, dies wird das Thema sein, das dann vor allem auf der Nebenstraße zu diskutieren ist, natürlich niemand – trotz aller Folklore – gerne Bauer bzw. von »vorgestern« sein möchte. Auch im »globalen Dorf« hat der »Dörfler« keinen guten Klang, sondern steht v.a. für einen Anachronismus ein, der sich bestenfalls nostalgisch oder humoristisch, ansonsten aber eher satirisch, polemisch oder kritisch nutzen bzw. auch instrumentieren lässt; auf reaktionäre Gebrauchsmuster dieses Rückbezugs wird noch weiter unten einzugehen sein. Immerhin bedarf die Vorstellung raumzeitlicher

1

Dass Symmetrie und Ordnung offensichtlich weltweit den Grundriss der Stadt, zumindest bis zum Anbruch der Industriegesellschaft, bestimmen, zeigen die Abbildlungen assyrischer und chinesischer Städte bei Reinhard (2004: 490f).

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Gleichheit auch im Globalen offenbar noch immer einer Rückbindung, ja Verschränkung mit einer vormodernen, ggf. imaginierten Unzeitgemäßheit in lokalen Mustern. Dabei zielt die Metapher des globalen Dorfes nicht nur auf eine entsprechende Generalisierung der in dörflichen Nahbereichen verorteten bzw. vorgestellten Handlungsmöglichkeiten und Gestaltungsvorlagen im Hinblick auf globale Zusammenhänge, namentlich auch auf die Wahrnehmbarkeit und Gestaltbarkeit von Lebensmöglichkeiten in jenen Megastädten, die Saskia Sassen unter dem Stichwort der »global cities« (vgl. Sassen 1996) in den Blick genommen hat. Vielmehr bietet sie – gerade in den Zusammenhängen aktueller Medienpräsentationen, in denen großstädtisches Leben angesichts der damit verbundenen Unüberschaubarkeit äußerer wie innerer Verhältnisse auf die Anschaulichkeit von Wohn- und Praxisgemeinschaften, extended families oder auf Straßenzüge und Charaktere wie diejenigen aus der »Linden«- oder »Sesamstraße« zurückgeführt wird – vor allem eine Ebene gefühlsmäßiger Ansprache, Selbstverortung und Selbstverständigung. Die Eckkneipe wird dann zum »Dorfkrug« vermeintlich älterer Provenienz, zumindest teilt sie mit ihm die Aura eines auf ältere und überschaubarere Lebensverhältnisse verweisenden – in der Regel eher »erfundenen« – Traditionsbezugs. Hier spätestens beginnt, mündet oder kreuzt dann jene Nebenstraße, auf der – ebenfalls unter dem Straßenschild des »global village« – die mit der Vorstellung des Dorfes verbundene Unzeitgemäßheit, ja Überholtheit, zumindest Rückständigkeit einer auf räumlicher Nähe und dauerhaften Sozialbeziehungen beruhenden Sozialordnung zur Debatte steht. Schließlich galt doch bzw. gilt das Dorf schon in der zunächst ritterlichen, dann stadtbürgerlichen Literatur des Spätmittelalters und seitdem immer wieder auch als Ort der Beschränktheit, als Schauplatz verlangsamter bzw. auch versperrter Entwicklungen und entsprechender Lebens-, nicht zuletzt Bildungsgeschichten. Noch Georg Simmel hebt die mit dörflichen, vormodernen Strukturen verbundene Enge in seiner im Gegensatz zur Großstadt entworfenen Schilderung der Kleinstadt hervor: »Je kleiner ein solcher Kreis ist, der unser Milieu bildet, je beschränkter die Grenzen lösenden Beziehungen zu anderen, desto ängstlicher wacht er über die Leistungen, die Lebensführung, die Gesinnungen des Individuums, desto eher würde eine quantitative und qualitative Sonderart den Rahmen des Ganzen sprengen.« (Simmel 1984: 199)

Eine Missachtung und Abwertung des Dorfes wird damit in den Blick gerückt, die sich aus spezifisch bürgerlicher und dann auch bildungsbürgerlicher Perspektive erst in den Zusammenhängen einer im 18. Jahrhundert erstmals und dann zunehmend stärker in Erscheinung tretenden Suche nach Gegenwelten zur bürgerlichstädtischen Gesellschaftsordnung und einer damit verbundenen Idealisierung und Ideologisierung des Landlebens änderte (vgl. Sengle 1963: 620f.), wobei die höfi-

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schen Schäferromane des 17. Jahrhunderts dieser Möglichkeit bürgerlicher Selbstkritik und Selbstreflexion ebenso vorgearbeitet haben wie die ältere Bukolik und Idyllen-Literatur; das Kapitel »Zur Soziogenese der höfischen Romantik im Zuge der Verhofung« in Norbert Elias’ bereits zu Beginn der 1930er Jahre verfassten, 1969 aber dann erstmals erschienenen Studie zur »höfischen Gesellschaft« (vgl. Elias 1975: 320-393) ist auch in diesem Zusammenhang noch immer nicht nur für Soziologen lesenswert. Mit dem bereits bei Rousseau sich abzeichnenden, dann von der Romantik beförderten, schließlich von unterschiedlichen kulturkritischen und durchaus dann auch reaktionären Strömungen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts getragenen bzw. provozierten Einzug des Dorfes in die Stadt (vgl. Bausinger [1961] 1986: 13-23), der Blickwendung von den Boulevards, Haupt- und Ringstraßen in die Neben- und Seitenstraßen, rückt freilich zunächst eine vormoderne Form der Vergemeinschaftung in den Blick, die allerdings unter den geschichtsphilosophischen Voraussetzungen der Moderne ebenso wie unter den Vorgaben industriegesellschaftlicher Entwicklung und nicht zuletzt unter den mit der Bürgergesellschaft spätestens seit 1789 verbundenen Ansprüchen auf individuelle Selbstbestimmung und Emanzipation auch als veraltet und überkommen, als Hindernis und als zu überwindendes Widerlager angesehen wird und werden kann. Im Sinne Claude Lévi-Strauss’ erscheint das Dorf damit zunächst als ein Organisationsmodell »kalter«, also nur langsam sich entwickelnder, ggf. sogar auf den Erhalt nahezu statischer Verhältnisse (vgl. Erdheim 1986: 187f.) zielender Gesellschaften; die Stadt dagegen kann vor diesem Hintergrund dann als »Dampfmaschine« (ebd.) und Motor, ja Lokomotive »heißer Gesellschaften« gelten, als Kraftquelle die nicht nur eine hohe Veränderungsdynamik erzeugt und erfordert, sondern gerade, um die dazu nötige Energie zu gewinnen bzw. auf Dauer zu stellen, sozialer Differenzierung, schnellen sozialen Wandels und nicht zuletzt auch eines beträchtlichen sozialen Gefälles, individueller und kollektiver »Entbettung«2, Mobilität und damit auch Unsicherheit, ja »Prekarisierung« bedarf.

II. Wer unter diesen Vorgaben »Integration« als zentrales Handlungsmuster und ggf. Ziel gesellschaftlicher Entwicklung vertritt, muss wissen, dass dies soziale und auch andere Formen der Desintegration voraussetzt und erneut auch mit sich bringt, gerade also auch die Auflösung traditionaler Bindungen, und – im Blick auf Dorf und Stadt – auch die Auflösung überkommener, ja auch nur geregelter Siedlungsmuster

2

Vgl. Giddens (1995: 33-43), »Entleerung der Zeit« (ebd.: 30) und »Dislozierung des Raums vom Ort« (ebd.: 31).

D IE S TADT

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befördert. Gerade so wie der Ansatz zur (individuellen und/oder kollektiven) Aktivierung in aktuellen Diskursen zum »unternehmerischen Selbst« – »Jeder«, so Ulrich Bröckling, »soll Unternehmer werden, aber wären es tatsächlich alle, wäre es keiner« (Bröckling 2004a: 275; Bröckling 2002) –, stellen auch die derzeit in der Stadtteilarbeit und zur Fremd- und Selbstmodellierung von Benachteiligten und Ausgegrenzten jedweder Art vertretenen Programme des Empowerments sowohl eine Chance als auch eine Falle dar, die inzwischen auch zum Gegenstand kritischer Reflexion geworden ist: »Der Autonomiegewinn steht unter dem heterogenen Zwang zum ökonomischen Erfolg. Die Freiheit vom Gehorsamszwang wird eingetauscht gegen die Pflicht zur permanenten Optimierung und Selbstoptimierung.« (Bröckling 2004b: 61) Im Anschluss an diese gängigen, ja populären Paradigmata deliberativer Allokation, für die gegenwärtig gerade die Stadt der Moderne Muster und Beispiel sein soll, wäre allerdings auch daran zu erinnern, dass es angesichts der vieltausendjährigen globalen Geschichte der Stadt offensichtlich nur die »neuen« Industriestädte Europas waren, die völlig ungeplant, ja vielfach noch nicht einmal aus Dörfern entstanden: »Planlos«, so der Kulturhistoriker Wolfgang Reinhard, »weil sie zwar aus höchst rationalen Gründen, aber aus denjenigen der inhaltsleeren Rationalität des Marktes entstanden und weil ihre Standorte häufig vorher keine Städte, ja noch nicht einmal Dörfer gewesen sind. […] Vielleicht gehört das gesteigerte Chaos solcher Planlosigkeit zu einer Phase wirtschaftlicher Innovation, vielleicht gibt es insofern sogar Parallelen zwischen den ersten Städten der neolithischen und den ersten Städten der industriellen Revolution.« (Reinhard 2004: 494f., Hervorhebungen W.N.)

Vor diesem die »lange Dauer« (longue durée) geographisch-kulturanthropologischer Faktoren der Kulturgeschichte mit der mittleren Dauer politischer und sozialer Strukturentwicklungen und mit aktuellen Trends und Ereignissen verbindenden komplexen und vielgestaltigen Hintergrund (vgl. Braudel 1990 Bd. I: 20-22) können Stadt und Dorf – und so auch die perspektivischen Verschiebungen auf das Dorf in der Stadt und die Stadt als Dorf – als raum-zeitliche Kontinua bzw. Versatzstücke oder auch als Zeit-Kerne menschlicher Erfahrungen und Handlungsfolgen in räumlicher Anordnung, im Sinne Michail Bachtins als Chronotopoi (= Raum-Zeiten und Zeit-Räume, vgl. Bachtin 1989: 7), angesehen werden. Dorf und Stadt erscheinen damit als Orte und Grenz-Modelle von Handlungs- und Erfahrungsräumen individuellen und gruppengetragenen Handelns und zugleich als Figurationen, in denen sich in unterschiedlicher Weise räumliche und zeitliche Kontinuitäts- und Sinnansprüche mit jeweils aktuellen Disjunktions- und Desintegrationserfahrungen mischen und in ihren entsprechenden Amalgamierungen, Brüchen und immer erneuten Synthese-Ansätzen in Erscheinung treten, ja sich gerade in dieser Form und

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Funktion selbst auf eine unterschiedlich lang ausgerichtete Dauer, also auch auf Formen kurzzeitiger Mobilität und Veränderung, gestellt finden.

III. Raum und Zeit bilden damit nicht nur ein jeweils als Dorf und Stadt in Erscheinung tretendes Koordinatensystem, innerhalb dessen sich in unterschiedlichen sozialen, räumlichen und zeitlichen Lagerungen Individuen und soziale Gruppen in Szene setzen und zugleich im Blick auf vorhandene, imaginierte oder auch tabuisierte soziale Gegebenheiten positionieren. Vielmehr stellen Dorf und Stadt als Grenzmarkierungen eines Feldes, auf dem ältere und jüngere, dynamische und statische, generalisierende und differenzierende Impulse und Bezugsbereiche zu Straßenzügen und Häuserreihen, zu »runden« oder viereckig ausgerichteten »Vierteln« und unterschiedlichen Funktionsgebilden (Markt und Rathaus, Gottes- und Gemeindehaus, Produktionsstätte und Schlafstätte) gerinnen, selbst so etwas wie historisch und sozial codierte Rahmenwerke (»cadres sociaux« nach Halbwachs 1985: 71f.) dar – und dies sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht; wobei für beide Dimensionen gilt, dass sie ihren Charakter als Ansatzpunkte für soziales Handeln erst durch ihre Funktion als Träger bzw. Bezugspunkte sozialen Sinns erhalten. Dem entspricht, dass das »Ganze der Stadt«, Helmuth Berkings »The Whole of the City« (vgl. Berking/Löw 2008; Berking 2006) in der aktuellen Stadtforschung weder ein Panorama, einen Stadtplan, einen Budgetkomplex oder Verkehrsknotenpunkt meint noch, wie es der Kirchenvater Augustinus mit Rückbezug auf Cicero bestimmte, lediglich eine Stelle benennt, an der »eine Menge von Menschen durch gesellschaftliche Bindungen zusammengebracht« (»civitas nihil aliud est quam hominum multitudo societatis vinculo adunata«, zit. nach Klotz 1969: 446) wird – sondern ein Narrativ darstellt: Nicht nur eine Erzählung, sondern vielmehr eine mehr oder weniger geordnete Sammlung von Erzählungen und Vorstellungen, Erfahrungen und Imaginationen individueller und kollektiver Art. Unter den Bedingungen reflexiver Moderne trifft dieser Ansatz allerdings auch auf das Dorf zu. Die Stadt besteht eben nicht nur, wie dies mit Rückbezug auf Richard Sennet gesagt werden kann, aus »Fleisch und Stein«. Dieser Zugang fokussiert vielmehr die Gesamtheit der »körperlichen Erfahrungen« (Sennett 1995: 31-34) in einem lebendigen Zusammenhang, die Menschen innerhalb dieser aus Steinen und Glas, Metallen und vor allem auch wiederum Körpern gebildeten, figurierten, von ihnen selbst und anderen Menschen hervorgebrachten und kulturell – immer wieder aufs Neue – codierten Umwelt machen können: Der Charakter einer Stadt besteht dann, in der Aufnahme eines Zitats von Sennett, darin, »wie Frauen und Männer sich bewegen, was sie sehen und hören, die Gerüche, die in ihre Nase dringen, was sie

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essen, was sie tragen, wann sie baden, wie sie sich lieben« (Sennett 1995: 21).3 De facto handelt es sich natürlich nicht nur um Körper, sondern um lebendige Wesen, so dass über diesen – im weiteren Sinne vielleicht phänomenologisch zu nennenden – Zugang (vgl. Lindner 1990) nicht nur der handelnde und wahrnehmende Leib, sondern die menschliche Existenz selbst – in ihrer retrospektiven und prospektiven Selbst- und Sozialbezüglichkeit – in den Blick kommt: Stadt und Dorf bestehen in diesem Sinne dann eben auch aus kulturell und biographisch-individuell geschichteten Ablagerungen, Materialien und – erneut auch im Sinne von Halbwachs – Traum-, Imaginations- und Erlebnisstoffen. Sie stellen Projektionsmaterial und Projektionsfläche für die Konstitution von Individuen und Gruppen dar, für geselliggesellschaftliche Organisationsstrukturen und Institutionen; sie bilden auch Anstöße und Objekte für Ordnungs-, Planungs- und Gestaltungsvorhaben und -vorgänge und sind in einem wohl verstandenen Sinne natürlich auch beteiligt an der Konstitution der in ihnen handelnden Subjekte, deren Kooperationen ebenso wie deren konflikthaftem Interagieren.

IV. Bereits von hier aus lassen sich – im Sinne einer ersten Zwischenbilanz – einige Ansprüche an einen guten Stadtteil aus einer Dorf und Stadt einander annähernden und auf einander beziehenden »vergleichenden« Perspektive formulieren: Das »Ganze der Stadt«, um noch einmal Helmuth Berking aufzunehmen, besteht nicht darin, in einem einfachen Sinne Dörfer, Straßen, Wohnblöcke zu agglomerieren, das Selbe – so wie dies de facto in vielen Stadtplanungen bereits des 19. Jahrhunderts, in den modernisierungswütigen 1950er und 1960er Jahren und nicht zuletzt im Plattenbau staatssozialistischer Moderne in die Tat umgesetzt wurde – einfach durch Iteration zu vervielfältigen. Vielmehr ist die Stadt der Ort der Verdichtung und der Heterogenisierung in einem Zusammenhang; was angesichts der Menge an Menschen, die in einer Stadt zusammenkommen, und der von ihnen nicht nur getragenen, sondern vor allem auch angestoßenen und entwickelten Heterogenität den Umstand mit sich bringt, dass die Möglichkeit, die Stadt als Ganze zu sehen und zu erfahren, für den einzelnen in der Regel – selbst in Zeiten mit Panoramablick, Filmaufnahmen und Hubschrauberflug – noch unzugänglich bleibt, da sie den eigenen Horizont, zumindest im Vorstellungszusammenhang als Nahbereich, überschreitet.

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Ich habe das Präteritum Sennetts, er erzählt eine Geschichte der Stadt, ins Präsens gesetzt.

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In einem Schlüsseltext der von heute aus gesehen »klassischen Avantgarde« hat der französische, zeitweise dem Surrealismus zugehörige Schriftsteller Louis Aragon (1897-1982) den Einbruch des Frühlings in der Großstadt so beschrieben: »auf einmal badet tatsächlich alles in einem anderen Licht, und das, obgleich es noch ziemlich kalt ist; schwer zu sagen, wie das kam. Aber wie dem auch sei, der Gang der Gedanken konnte nicht der gleiche bleiben; diese, so aus der Bahn geworfen, frönen einer herrischen Zerstreutheit. Soeben hat man den Deckel von der Büchse der Pandora genommen. Ich bin nicht länger Herr meiner selbst, so sehr spüre ich meine Freiheit.« (Aragon 1969: 9)

Erkennbar wird, warum aufmerksame Zerstreutheit, die Neugier und Ziellosigkeit des Flaneurs, ebenso aber auch die blitzschnelle Aufmerksamkeit des Reporters vom 19. Jahrhundert an zu den besonderen Kennzeichen des Großstädters und zu den Merkmalen der Großstadt gehören. Dies zeigt sich in den Texten von LouisSébastien Mercier (1740-1814) bis zu Siegfried Kracauer (1889-1966), Franz Hessel (1880-1941), Egon Erwin Kisch (1885-1948) und nicht zuletzt Walter Benjamin (1892-1940); den Film der »großen« Stadt: CITY LIGHTS (Chaplin 1931) nicht zu vergessen. Wer freilich in den genannten Texten gelesen oder Chaplins Film gesehen hat, wird sich erinnern, welch bedeutende Rolle neben den Straßenzügen und Wohnblocks, selbstverständlich auch den »Lichtern der Großstadt«, Blumen und Blumenmädchen in diesem Film, ähnlich auch in MODERN TIMES (1936), spielen: Massen-Symbole ländlich-dörflichen, auch kleinstädtischen und kleinbürgerlichen Charakters können in individuellen Sinnbezügen bei höchstgradig verdichteten äußeren Rahmungen so als Versatzstücke und Impulsgeber eines individuell und gruppenbezogen lesbaren (und in Handlung umsetzbaren) Skripts, als Teile eines Narrativs bzw. mehrerer Narrative der Stadt gesehen werden, in denen nicht nur je Einzelne, sondern auch diverse soziale Gruppen sich selbst, ihr eigenes Leben oder auch einen Teil ihrer Träume und Wünsche, Legenden und auch ideologische oder sonstige Obsessionen wiederfinden und ggf. (ein Stück weit) ausleben können. Ein guter Stadtteil, um dies bündig zu formulieren, muss/soll unter den Bedingungen räumlicher, sozialer, ökonomischer und stadtökologischer Verdichtungsprozesse Raum und Anstoß, Material und Zeit für individuell aufzubauende, durchaus auch auf Probe hin entwickelte Narrative bieten – also subjektive, auf vorläufige, partielle Verallgemeinerbarkeit hin angelegte Sinn-Setzungen. Dazu bedarf es der Organisation und Bevorratung von Heterogenität und Geschichte, genauer gesagt von Geschichten in unterschiedlicher Temporalität und raum-zeitlicher Lagerung. Schichtungen der Vergangenheit, räumliche Diversifikation von Sinnkreisen, nicht zuletzt Räume der Zukunftsgestaltung, der Verlebendigung von Imaginärem und unterschiedlich materialisierte Zeitebenen und Perspektiven sollen hier ermöglicht bzw. gefördert werden und ggf. auch zur (selbst-)reflexiven Erschließung unter heteroge-

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nen Sichtweisen aufeinander treffen können. Um dies freilich anzusprechen, ins Bild zu setzen oder modellhaft skizzieren zu können, bietet sich in einer durchaus anachronistischen Weise der Rückgriff auf die heterogene, eben auch unterschiedliche Zeitdimensionen und Erfahrungsräume ineinander verschränkende Welt des Dorfes an – zumindest im Blick auf die mit ihr verbundenen imaginären Räume und Lebensentwürfe sowie die künstlerisch-literarischen Entwürfe, die eben jene Vorstellungen tragen und vermitteln.

V. Nicht nur an dieser Stelle war die Stadtentwicklung vor der ökonomistischen Wende der 1980er Jahre freilich schon einmal weiter, zumal eine Linie der auf Selbstbestimmung und städtische Freiräume zielenden Traditionsbezüge hier bis auf die Gemeindefreiheit vormoderner Zeiten zurück zu führen ist (vgl. Blickle 1981). Und dies gilt umso mehr im Hinblick auf die Zielvorstellungen eines lebensweltlich angeeigneten und pluralistisch ausgeformten Stadtteils angesichts immer noch zunehmender privatwirtschaftlicher Vernutzung des jeweils zu Verfügung stehenden Raumes. Alexander Mitscherlich hatte dies bereits in seiner Streitschrift zur UNWIRTLICHKEIT UNSERER STÄDTE von 1965 auf einen, gewiss nostalgisch durchweichten Punkt gebracht: »Alte Städte hatten ein Herz. Die Herzlosigkeit, die Unwirtlichkeit der neuen Bauweise hat jedoch eine ins Gewicht fallende Entschuldigung auf ihrer Seite: das Tabu der Besitzverhältnisse an Grund und Boden in den Städten, welches jede schöpferische, tiefergreifende Neugestaltung unmöglich macht.« (Mitscherlich 1965: 19)

Aber auch wenn die seitdem auf den Weg gebrachten genossenschaftlichen, gewerkschaftlichen oder sonstwie mitunter auch kommunal getragenen Projekte nicht immer den besten Eindruck hinterlassen haben, ist immer auch noch daran zu erinnern, dass es offensichtlich eine nur auf Europa und seine Folgewelten bezogene Eigentümlichkeit darstellt, überhaupt Raumnutzung und Lebensräume als Gegenstände privatwirtschaftlicher Profitmaximierung und Spekulation, individueller Eigentumszuordnungen, zu sehen. »Vor allem ist zu beachten«, so noch einmal der keineswegs für Sponti-Exotismus bekannt gewordene Freiburger Historiker Wolfgang Reinhard, »dass die spezifisch europäische, römisch-rechtlich begründete Vorstellung vom uneingeschränkten Privateigentum an Land eine weltgeschichtliche Besonderheit, ein Fall von besonders exklusivem Territorialismus ist […]. Nordamerikanische Indianer vergaben nur Nut-

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Unter dieser Perspektive wäre also ein guter Stadtteil erst einmal von den Diktaten (oder Imperativen) privatwirtschaftlicher Gewinnoptimierung zumindest insoweit zu entlasten, als dass anderen Ansprüchen – Sinnorientierung der dort lebenden Menschen, Pluralität, ja der Heterogenität von Lebensformen und der Revidierbarkeit von Planungen und Einrichtungen, natürlich auch im »alten Sinn« von Bürgerbeteiligung – mehr (und überhaupt wieder) Raum zu geben wäre. Dass dies finanziell solvente, also gesunde Kommunen voraussetzt bzw. zumindest erfordert, muss hier nicht eigens betont werden, auch wenn die Auspowerung der Städte und Gemeinden sowohl hausgemacht als auch dem Diktat der Shareholder-Value-Ideologie und einem damit verbundenen, auch vor Bundes- und Landesregierungen nicht halt machenden Privatisierungswahn geschuldet ist. Auf einer horizontalen Ebene geht es im Blick auf beide Siedlungsformen, die Stadt und das Dorf, und ihre Gestalt als Gesellschaftsformen zunächst immer noch und immerhin um eine von Menschen ausgehende »sinnhafte« und damit eben auch bereits gesellschaftlich und historisch vermittelte »soziale« Bezugnahme auf den Raum, um einen Ansatzpunkt, der in aktuellen Forschungszusammenhängen unter dem Stichwort der »Spatial Orders« angesprochen wird und dessen soziologischer Bedeutung Georg Simmel bereits in seiner großen Soziologie von 1908 ein eigenes, heute noch immer aktuelles Kapitel unter dem Titel »Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft« gewidmet hat (vgl. Simmel 1968: 460-526). Neben den »Formungen« eines »ruhende[n] Nebeneinander[s] des Raumes«, wozu er »die Begrenzung und die Distanz, die Fixiertheit und die Nachbarschaft« zählt, widmet sich Simmel dabei auch ausführlich den »Folgen« der »Möglichkeit, dass die Menschen sich von Ort zu Ort bewegen« (ebd.: 497). »Die räumlichen Bedingtheiten ihrer Existenz«, so Simmel weiter, »geraten dadurch in Fluss, und wie die Menschheit überhaupt nur durch ihre Beweglichkeit die Existenz, die wir kennen, gewinnt, so ergeben sich aus dem Ortswechsel im engeren Sinne, aus dem Wandern, unzählige […] Wechselwirkungen« (ebd.). Zu den von dieser »natürlichen« Mobilität im Raum sowohl ermöglichten als auch erforderten Gestaltungsaufgaben gehört dann natürlich auch jene in der Figur des Fremden markierte Konstellation einer »Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen enthält« (ebd.: 509). Räumliche Fixiertheit und räumliche Mobilität bilden in diesem Zusammenhang ein Fadenkreuz, in dessen jeweiligem Zentrum dann nicht nur die Figur des Fremden als Markierung einer darin erscheinenden spezifischen Verknüpfung von Nähe und Distanz zu erkennen

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ist: »die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, dass der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, dass der Ferne nah ist. Denn das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform« (ebd.), sondern ebenso die grundlegende Verschränkung des Lokalen mit dem Globalen. Auch unter den auf Generalisierung angelegten, eine große Zahl von Akteuren und unterschiedlichste Erscheinungsformen und Handlungsfelder umfassenden Entwicklungslinien der »großen Stadt« bleiben in dieser Hinsicht die Nahbereiche nicht nur unverzichtbar, sondern auch unhintergehbar. Zumindest als Horizonte des Handelns und der damit verbundenen, ggf. sogar gegen die eigenen Erfahrungen und Wünsche gesetzten Sinnansprüche und Sinnstrukturen bleiben Erinnerungen, Vorstellungen und Erwartungen an gleichsam »dörfliches« Zusammenleben erhalten.

VI. Während nun Marshall McLuhan im Gebrauch seiner Metapher des »global village« im Jahr 1962 v.a. die damals sich erst in ihren Anfängen abzeichnende Vernetzung von Menschen rund um den Globus durch das Aufkommen, die Entwicklung und Verbreitung elektronischer Medien im Blick hatte – mehr noch Radio und Fernsehen als die damals immerhin schon von ihm vorgestellte, aber noch wenig greifbare Entwicklung eines World Wide Web – und deren Funktion vor allem darin sah, die zwischen Menschen und Kontinenten seit Jahrtausenden bestehenden räumlichen und zeitlichen Lücken zu schließen, Entfernungen des Raums in Sekundenschnelle zu überwinden und so aus weit Entfernten, ja einander gänzlich Unbekannten im Sinne Simmels immerhin für einander vorhandene, bekannte »Fremde«4 zu machen, sind es aktuell offensichtlich Lücken im Nahbereich, ja innerhalb der bestehenden sozialen Muster der Vergesellschaftung vorhandene, erkennbar werdende Leerstellen, die sich auch in den Perspektiven und Erfahrungen der Individuen wiederfinden5 und sich zugleich als Herausforderungen, Fragestellungen und Anforderungen an gegenwärtige Gesellschaftstheorie, Stadtentwicklung und Siedlungsplanung bestimmen lassen. McLuhan geht dabei, ähnlich wie Simmel, von einer unilinearen Entwicklungslinie zunehmender Vernetzung bei gleichzeitiger Generalisierung von Verkehrsformen und Informationsbeständen aus, die sich im Sinne von Norbert Elias auch

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So schreibt Simmel »die Bewohner des Sirius sind uns nicht eigentlich fremd […], sondern sie existieren überhaupt nicht für uns, sie stehen jenseits von Fern und Nah. Der Fremde ist ein Element der Gruppe selbst« (Simmel 1968: 509).

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Noch immer lesenswert in diesem Zusammenhang sind die Ausführungen zum »Masseneremiten« in Anders (1980: 90). Siehe ebenso Riesman/Denney/Glazer (1958: 137-157).

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als »Verlängerung der Handlungsketten« (vgl. Elias 1977, Bd. 2: 336-341) bezeichnen ließe. Er zitiert dazu zunächst einen von heute aus durchaus fern und seltsam klingenden Beleg aus Teilhard de Chardins in den fünfziger und frühen sechziger Jahren allerdings vieldiskutiertem Bestseller DER MENSCH IM KOSMOS (1955; dt. 1959): »Die Eisenbahn, die vor kurzem erfunden wurde, das Automobil, das Flugzeug, ermöglichen es heute, den physischen Einfluss jedes Menschen, der einst auf einige Kilometer beschränkt war, auf hunderte von Meilen auszudehnen. Ja, noch mehr: dank dem wunderbaren biologischen Ereignis der Entdeckung der elektromagnetischen Wellen findet sich von nun an jedes Individuum (aktiv und passiv) auf allen Meeren und Kontinenten gleichzeitig gegenwärtig und verfügt über dieselbe Ausdehnung wie die Erde.« (McLuhan 1995a: 39)

Anders aber als Simmel, der mit der zunehmenden Vernetzung auch entferntester Menschen, Gruppen und Erfahrungsräume eine sich verstärkende Intellektualität, damit verbunden eine Abnahme des »gefühlsmäßigen« Engagements und eine Lockerung der unmittelbaren lokalen Bezüge gerade auch in den Lebenszusammenhängen der großen Städte und des in ihnen vorherrschenden, ja von ihnen geförderten intellektuellen Klimas postuliert: »weil sie [die Intellektualität, W.N.] Annäherung und Zusammenstimmen zwischen den Entferntesten ermöglicht, stiftet sie eine kühle und oft entfremdete Sachlichkeit zwischen den Nächsten« (Simmel 1968: 482), bietet die mit den elektronischen Vermittlungen neu eingerichtete Netz-Welt für Marshall McLuhan erneut die Möglichkeit, konkreter, engagierter und damit auch gefühlsgeleiteter, ja von diesen Faktoren ggf. sogar dominierter, Interaktion. Das »globale Dorf« in seinem Sinn stellt damit zugleich auch ein Feld erneuter face-to-face-Kommunikation dar, verbunden mit der Möglichkeit zu eben jenen von Simmel für den nachbarschaftlichen Bereich vorgesehenen »freundlichen oder feindlichen« (ebd.) Beziehungen.

VII. Sterbende Dörfer, entleerte Stadtkerne und die Endlosschleife völlig austauschbarer Stadt-Land-Kontinua (vgl. Beetz/Brauer/Neu 2005), die »Nicht-Orte« (Augé 1994) der Shopping Malls auf der Grünen Wiese, groß angelegte Verkehrsknotenpunkte wie Flughäfen, Rastplätze und zehnbahnige Autostraßen, die berühmt-berüchtigten, seit den 1960er Jahren mit Blumentöpfen aus Waschbeton, mit Sitzbänken, Plastik auf Beton und inzwischen auch schon wieder abgebauten freistehenden Telefontische in modernisierten Einkaufs- und Fußgängerzonen können nun vor diesem Hintergrund auch als Anzeiger, ja Grabsteine untergegangener Traditionsbezüge, er-

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schöpfter Gesellschaftsentwürfe und erst recht in graue Unendlichkeit fortsetzbarer Planungs- und Entwicklungsprojekte (des Immergleichen) aufgefasst werden, denen in der Sicht einer die Geschichte der Moderne seit der Jahrhundertwende 1900 begleitenden Kulturkritik noch einmal auch Werteverlust und Haltlosigkeit, Desillusion und Erschöpfung, nicht zuletzt eben innere »Leere« und der Verlust der Identität der Individuen zur Seite gestellt werden könnte – und in einer Linie von Georg Simmel über David Riesman, Günther Anders und Erich Fromm bis zu Marc Augé auch unterstellt worden ist.6 Während sich allerdings für Simmel die große Stadt als »eine so überwältigende Fülle kristallisierten, unpersönlich gewordenen Geistes« darstellte, »dass die Persönlichkeit sich sozusagen dagegen nicht halten kann« (Simmel 1984: 203), er etwas später von einer »Atrophie der individuellen durch die Hypertrophie der objektiven Kultur« (ebd.) spricht, scheint der objektiv – also zumindest in Zahlen – fassbare Prozess einer zunehmenden Verstädterung der Lebensverhältnisse in westeuropäischen und anderen Gesellschaften allerdings keineswegs auf eine Reformulierung dessen verzichten zu können bzw. auch zu wollen, was zunächst einmal auch in einem guten, gewiss auch nostalgisch getönten Sinne mit der Welt des Dorfes in Verbindung gebracht worden war: Für Simmel ist dies »der sinnlichere Charakter der lokalen Nähe« (Simmel 1968: 482). Wolfgang Reinhard hebt diesen Ansatz dann auf die Ebene eines anthropologischen Befundes: »Menschliche Raumerfahrung bezieht sich zunächst einmal auf den Nahraum, mit dem man sich als Sitz der eigenen überschaubaren Gruppe […] unbesehen identifiziert. […] Insofern ist es sinnvoll, anthropologische Raumerfahrung zunächst einmal als Ortserfahrung im engsten Sinn zu verstehen, Erfahrung von Küche und Hof, von Garten und Acker, von Werkstatt und Marktplatz, von Hafen und Landstraße« (Reinhard 2004: 400f).

Bezeichnend, und nicht stark genug gerade im Blick auf die gegenwärtige »bunte« Stadt hervorzuheben (vgl. Schiffauer 1997; Bukow 2011), ist freilich auch, dass schon in Reinhards Ausführungen gegen jede modernekritische bzw. reaktionäre Idealisierung dörflicher, vormoderner Gemeinsamkeiten und »Gemeinschaftlichkeit« Position bezogen wird. Demgegenüber ist gerade an die Vielgestaltigkeit, ja Heterogenität auch der ländlichen Lebensverhältnisse, also auch der Dörfer im vormodernen Europa zu erinnern (vgl. Langthaler/Sieder 2000). Die Heterogenität der Stadt kann in diesen Zusammenhängen also gerade nicht der Uniformität bzw. Homogenität einer national, ethnisch, rassistisch oder sonst wie »einfältig« imaginierten dörflichen Welt gegenüber gestellt werden.

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Vgl. dazu noch immer instruktiv das Kapitel »Großstadtkritik und Nachbarschaftsideologie« in Hamm (1973: 20-25).

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Dass die Welt der Vormoderne keineswegs – trotz einiger diesbezüglicher Spekulation in den großen soziologischen Theorien schon vor der Jahrhundertwende 1900 (etwa bei George Herbert Spencer, vgl. Klages 1972: 86-90) – von homologer Gleichförmigkeit bestimmt war, sondern Heterogenität, Fremdheit und Vielfalt gerade auch in ihren jeweiligen Binnenverhältnissen kannte, gehört zu jenen Facetten des vormodernen Europa, die offensichtlich im Rückblick aus der Sicht der Formationsgeschichte der Nationalstaaten und der mit ihnen verbundenen Homogenitätsansprüche zunächst einmal verloren gegangen sind. »Im Zuge dieser Entwicklung«, so Joachim Matthes in seiner Rekonstruktion des historischen Vorlaufs zu dem, was aktuell mit »interkultureller Kompetenz« (auch im städtischen Behördenhandeln) angesprochen wird, »hat die neuzeitliche europäische Welt etwas verloren, worüber sie zuvor durchaus verfügte: ein Verständigungs- und Regelwerk für die Koexistenz mit Fremden ›im eigenen Haus‹, in räumlicher Mischung. […] Für eine Untersuchung dessen, was heute unter dem Konzept der interkulturellen Kompetenz thematisiert wird, ist festzuhalten, dass die europäische ›Moderne‹ diesen Verlustposten in sich trägt.« (Matthes 1999: 412)

VIII. Nicht zuletzt wegen dieser offensichtlich doch auch als Leerstelle und Faszinosum nachwirkenden Verlust- und Erinnerungsgeschichte ist wohl auch die Metapher vom »global village« populär geblieben. Dies verdankt sie, wie oben bereits angesprochen, auch einer damit verbundenen Haupt- und einer entsprechend dazu kontrastiv korrelierend angelegten Nebenbedeutung, in der sich Erwartungen räumlicher Überschau- und Gestaltbarkeit mit anachronistisch ausgerichteten, ebenso nostalgisch wie ggf. utopisch und kritisch aufgeladenen gesellschaftlichen Vorstellungen und individuellen Hoffnungen und Erwartungen in Zeitkernen bzw. Knoten verdichten. Offensichtlich geht es dabei inzwischen weniger als in den von teilweise grenzenlosen Hoffnungen auf technische Entwicklungen und Planbarkeit erfüllten 1960er Jahren um die in diesen Netzwerken geknüpften Linien, Leitungen und Straßen selbst als vielmehr um die Besonderheit und Ausgestaltung der jeweiligen Knoten, sprich um die Subjekte und Akteure in ihren Besonderheiten und eigenen Intentionen, aus deren Verwebungen und Handlungen ein solches, letztlich vielfach nur imaginiertes Netz von Beziehungen, Bedürfnissen und Angeboten7 gerade unter

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Dies kann durch die Konjunktur der Dorfgeschichten in der deutschen, aber auch in anderen Literaturen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenso belegt werden wie durch deren daran anschließende Popularisierung und Trivialisierung bis hin zu Formaten

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den Bedingungen eines städtischen Raums (und darüber hinaus) geknüpft ist. Wie auf dem Dorf bilden sich in der Stadt Nachbarschaften, Kommunikations- und Interaktionszusammenhänge um Plätze und Geschäfte, Brunnen, Spielplätze und Cafés, in denen sich Formen dörflicher Vergemeinschaftung unter städtischen Bedingungen materialisieren, fassen und auch gestalterisch induzieren und verändern lassen (können). Mit dieser Sichtweise ist dann allerdings nicht nur an Simmel anzuknüpfen, der – wie viele andere sozialwissenschaftliche Beobachter des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende 1900 – den Weg zur Moderne in einer irreversiblen Ausdifferenzierung und wechselseitig sich verschränkenden paradoxalen Entwicklung unterschiedlicher Kräfte und Akteure sah, was in Simmels Fall noch durch eine gewisse Tragik der kulturellen Entwicklung in ihren Widersprüchen lebensphilosophisch bzw. geschichtsphilosophisch unterfüttert wird. Vielmehr ist mit seinen Ansätzen auch gegen seine Diagnosen anzugehen. Für Simmel stellen die Herausbildung und die Verbreitung der großen Stadt zunächst einen nicht wieder zurückzuführenden Prozess der Versachlichung, Entpersönlichung und Intellektualisierung dar, in dem sich die säkularen Prozesse der Verbreitung der Geldwirtschaft ebenso wiederfinden wie die mit dem Aufkommen der Industriegesellschaft verbundene Arbeitsteilung und eine darauf wiederum beruhende verstärkte soziale Differenzierung. Als deren Folge lassen sich dann allerdings auch ein bislang unbekanntes Maß persönlicher Freiheit mit dem Hang zu einer weitergehenden Besonderung, nicht zuletzt die von Simmel am Großstadtbewohner konstatierten Eigenschaften: der Habitus der Blasiertheit, die Reserviertheit bis hin zu einer leichten Aversion und Aggressivität gegen den »nahen« Anderen, hervorheben. Dies richtet allerdings den Blick auch auf die damit verbunden ambivalenten Erfahrungen und deren Folgen: »Denn die gegenseitige Reserve und Indifferenz, die geistigen Lebensbedingungen großer Kreise, werden in ihrem Erfolg für die Unabhängigkeit des Individuums nie stärker gefühlt als in dem dichtesten Gewühl der Großstadt, weil die körperliche Nähe und Enge die geistige Distanz erst recht anschaulich macht; es ist offenbar nur der Revers dieser Freiheit, wenn man sich unter Umständen nirgends so einsam und verlassen fühlt, als eben in dem großstädtischen Gewühl.« (Simmel 1984: 200)

Auch wenn Simmel hier schon den späteren Analysen David Riesmans und seiner Mitautoren in der oben bereits angeführten Studie zu THE LONELY CROWD (1950) Vorschub leistet und damit eine Diagnose-Basis schafft, die auch noch aktuelle Analysen großstädtischer Desintegration und personaler Dissoziationserfahrungen

und Kulissen, wie sie bei heutigen Volksliedhitparaden und Ähnlichem in Erscheinung treten (vgl. Spies 2009: 137-142).

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trägt, bspw. dann auch Eingang in eine der folgenreichsten Streitschriften zum zeitgenössischen Städtebau, Alexander Mitscherlichs »Anstiftung zum Unfrieden« fand (Mitscherlich 1965: 24f.), die 1965 unter dem nahezu sprichwörtlich gewordenen Titel DIE UNWIRTLICHKEIT UNSERER STÄDTE publiziert wurde, so muss doch der Einlinigkeit und tragischen Grundstimmung, mit der bei Simmel die Einsamkeit als Kehrseite der Individuierung zur Freiheit herausgestellt wird, auch widersprochen werden. Anstatt Kleinstadt und Großstadt bzw. in der Traditionslinie der zeitgenössischen Kulturkritik um 1900 das Dorf und die Stadt einander antithetisch gegenüber zu stellen,8 muss gegenläufig auch auf ein Einander-Durchdringen der Lebensformen von Dorf und Stadt im Zuge neuzeitlicher Mobilität hingewiesen werden (Lucassen/Lucassen 2008: 638-644), ohne dass dies – kulturkritisch oder modernisierungstheoretisch gewendet – auf ein einseitiges Lob oder eine entsprechend einseitige Orientierung an einer der beiden Bezugsgrößen Stadt oder Dorf hinauslaufen müsste. Denn dass ein vergleichbarer sozialer Druck auch in großstädtischen Zusammenhängen erkennbar ist, die Bedingungen »einer entindividualisierten Kleinstadt« (Simmel 1984: 199) sich auch in den auf Iteration angelegten Blocksiedlungen der Großstädte, und zwar eben von ihrer negativen Seite, der Seite der Entindividualisierung und erzwungenen Vergemeinschaftung her, finden lassen, kommt in dieser Diagnose ebenso zu kurz wie die wechselseitigen Verschränkungen von Erwartungen und lebensweltlichen Praxen sowie die ambivalent besetzten realen und imaginativen Sozial- und Raumerfahrungen in städtischen und dörflichen Zusammenhängen seit dem 19. Jahrhundert, zumal im Blick auf gegenwärtige Siedlungsformen, Mobilitäts- und Migrationsbewegungen (vgl. Schiffauer 2006).

IX. Demgegenüber ließe sich noch einmal an die im Bild des »global village« angesprochene Verschlingung von Haupt- und Nebenstraßen, von räumlicher Nachbarschaft und anachronistischer Überlagerung, von lokal und global sowohl gebundenen als auch geöffneten Sinnerwartungen, Lebenserfahrungen und biographischen Linien anknüpfen: Wir wohnen in Städten und in Dörfern in Nahbereichen zusammen, in denen im Bild des Dorfbewohners eine zunächst für die europäischen Verhältnisse zentrale Erfahrung, die der langen Dauer, in Erscheinung tritt, zumindest

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»Das Kleinstadtleben in der Antike wie im Mittelalter legte dem Einzelnen Schranken der Bewegung und Beziehungen nach Außen, der Selbständigkeit und Differenzierung nach innen hin auf, unter denen der moderne Mensch nicht atmen könnte – noch heute empfindet der Großstädter, in die Kleinstadt versetzt, eine wenigstens der Art nach gleiche Beengung.« (Simmel 1984: 199)

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durch sie ihre Repräsentationsform findet. Es handelt sich um in die Moderne ›geworfene‹ Bauerngesellschaften, denen unter den Zumutungen der Moderne, zumal auch eines Marktes der Selbstgestaltung, die Erinnerung an die eigene Unzeitgemäßheit offensichtlich ebenso abhanden gekommen ist wie das Wissen um die eigene fragwürdige, ambivalente, auf Unsicherheit hin angelegte Platzierung. Während der anfangs zitierte Kirchenvater die Stadt noch als eine Menge von Leuten bestimmte, die durch gesellschaftliche Verbindung an einem Platz zusammen geführt sind, lässt sich für unsere Zwecke die Stadt als eine auf Generalisierung hin angelegte Ansammlung und Verknüpfung von Nahbereichen definieren – wobei für die Frage der »guten« Stadt, einer guten Stadt in der Stadt, beiden Teilen gleichermaßen Rechnung zu tragen ist: Dem Aspekt des Nahbereichs, der bspw. in den Worten Mitscherlichs – »[o]hne emotionelle Nachbarschaft kann keine reife Menschlichkeit entstehen« (Mitscherlich 1965: 26) – angesprochen wird, und dem der Generalisierung und Erweiterung unter den Bedingungen einer über dörfliche, städtische, regionale und nationale Grenzen hinausgehenden Ausweitung von Handlungsketten, Familiennetzwerken, individuellen und sozial vermittelten, ja getragenen Planungen und Verbindungslinien (vgl. Niejahr 2012). Für diesen Zusammenhang mag abschließend die Bushaltestelle als Beispiel genannt werden. Denn natürlich ist die Ermöglichung von Mobilitätsteilhabe keineswegs eine nur technische oder auch vor allem nur ökonomische Aufgabe, sondern ebenso – wie die Erinnerung an das u.a. von Pete Seeger gesungene Lied der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung IF YOU MISS ME AT THE BACK OF THE BUS zeigt – auch eine Frage sozialer Inklusion und politischer Anerkennung, eine Aufgabe u.a. also auch der Politik und des gesellschaftlichen Handelns. Sie verweist auch auf die politische Dimension der Stadt, ja jedes Siedlungsgeschehens, ein Ort des Rechts und der Freiheit, der Vermittlung von Chancen und der Emanzipation von Beschränkungen, nicht zuletzt der Abwehr von Leid und Furcht zu sein (vgl. Shklar 2013: 44-46). Simmel weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass »die Städte auch die Sitze des Kosmopolitismus gewesen seien« (Simmel 1984: 200). Dazu gehören offensichtlich, zumindest aus einer subjektorientierten Perspektive gesehen, dann auch dörflich orientierte, an dörflichen Strukturen, Bild- und Erfahrungsbeständen gebildete Nahbereiche, die in diesem Sinne als Handlungsfelder der Selbstbestimmung und Selbstverortung im Hinblick auf generalisierbare Strukturen und Ziele in Erscheinung treten und entsprechende Funktionen9 wahrnehmen können: »Die Stadt«, so noch einmal Mitscherlich, »ist der Geburtsort dessen, was wir bürgerliche Freiheit nennen, dieses Lebensgefühl, das sich dumpfen

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Zu denken ist etwa an den idealtypischen Rekurs auf die Vorstellung der Agora in den antiken griechischen Polis-Gesellschaften im Rahmen moderner und auch noch zeitgenössischer Demokratietheorie; vgl. dazu Sternberger (1985: 47-59).

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Herrschaftsgewalten widersetzte« (Mitscherlich 1965: 26). Die Ausbildung eines solchen Lebensgefühls bedarf allerdings auch der Aufnahme und Erinnerung älterer, gemischter und anachronistisch ausgerichteter Erfahrungen, diesbezüglicher Praktiken und Reflexionen, wie sie im Rückbezug auf die Stadt im Dorf, das Dorf in der Stadt und die Stadt als Dorf in Überlagerungen, Schichtungen und Überblendungsverhältnissen erkennbar werden und in jeder Stadt-, in jeder Dorfgeschichte, ebenso aber in jeder Familiengeschichte und jeder individuellen Biographie vorhanden und in ihren Funktionen als Spiegel und Reflexionsmedien, auch als Irritationen und Anstöße zu erkennen sind. Historiker gelten aus der Sicht der Soziologen in der Regel nicht als Liebhaber des Unbestimmten. »Vitale Urbanität«, so lässt sich aber immerhin bei Wolfgang Reinhard lesen, »das heißt eine attraktive städtische Lebenswelt, lässt sich nicht planen, sondern braucht ein gewisses Maß an kreativem Chaos.« (Reinhard 2004: 498)

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D IE S TADT

ALS

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Dörfliche Lebenswelten II: Perspektiven deutschsprachiger Literatur

Von romantischen Landschaften, sozialistischen Dörfern und neuen Dorfromanen Zur Inszenierung des Dörflichen in der deutschsprachigen Literatur zwischen Vormoderne und Spätmoderne C ARSTEN G ANSEL

E INLEITUNG Um mit zwei Beispielen zu beginnen, die ein Einerseits/Andererseits markieren: Der Moderator Dieter Moor machte das, was auch viele seiner vielen Leser gern täten: Er zog aufs Land und reformierte sein Leben. Die Ankunft auf dem Dorf liest sich in seinem Bestseller WAS WIR NICHT HABEN, BRAUCHEN SIE NICHT folgendermaßen: »Sonja hatte recht: ein gutes Dorf. Viel Atmosphäre. Kleine ehemalige Gehöfte, typische Brandenburger Häuser, Feldstein und Ziegel. Da: die Pfuhle! Das dort hinten, versteckt hinter den alten Kastanien, das muss die ›Graue Gans‹ sein. Die Pfuhle glitzert in der Sonne. Ich mag tanzendes Licht auf Wasser. Jetzt müsste gleich der riesige braune Hengst… da ist er schon. Langsam, langsam jetzt, immerhin ist dies ein historischer Augenblick! Dieser Moment will mit Würde und ganz bewusst erlebt sein.« (Moor 2012: 25)

Was ist es, was Moors Schilderungen für viele so anziehend und sein Buch letztendlich so erfolgreich macht? Es ist gewissermaßen die Vorstellung des Ausstiegs, der Hinwendung zu einem ›einfachen Leben‹. In der letzten Augustwoche, am 28. August 2013, fand sich unter Spiegel-Online ein Bericht mit dem Titel LEBEN AUF SEE. »DAS SEGELSCHIFF WAR MEIN AUSKNOPF«. Es ging dabei um den Journalisten Marc Bielefeld, der sein bisheriges Leben von Grund auf verändert hat: »Vor eineinhalb Jahren, es war Anfang April, fiel die Tür meiner Wohnung hinter mir ins Schloss«, so Bielefeld. »Ich hatte das Apartment in Hamburg vergeben. Hatte mei-

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ne Sachen aussortiert, verstaut, im hohen Bogen in den Müll geschmissen. Seitdem lebe und arbeite ich, mit Ausnahme der kältesten Wintermonate, auf einem alten Segelschiff.« (Bielefeld 2013) Die Begründung für den Ausstieg liefert Bielefeld nach und notiert: »Ich wollte weg vom Irrsinn der Büros, vom Gekreische der Stadt. Weg von den Autos, Ampeln, Schildern und Sphären der lauten und ewigen Botschaften. Ich wollte das Geschwätz der Politiker nicht mehr hören, die Talkshows nicht mehr sehen. Die Nachrichten, die Reklame, die Mails, die Werbung, die rasenden Menschen.« (ebd.)

In soziologischer wie kulturwissenschaftlicher Perspektive verlässt hier jemand den Raum der Großstadt mit den daran gebundenen sozialen Kontakten. Auch wenn er nicht auf ein Dorf, sondern auf ein Schiff zieht, die Motivlage bleibt gleich. Bielefelds Entscheidung bedeutet letztlich die Abkehr von einer postmodernen Welt im Zentrum Europas mit seiner spezifischen ›Raumausstattung‹. Das zweite Beispiel, das über einen Pop-Song vermittelt werden kann, markiert ebenfalls den Prozess einer Abkehr- und Suchbewegung. Nur besteht der Unterschied zu Bielefelds Entschluss darin, dass hier Menschen bevorzugt aus Dörfern südlich der Sahara – von Eritrea bis Ghana – sich in den Norden Afrikas durchschlagen, um von dort aus mit Hilfe von Schleppern über das Meer nach Europa zu gelangen: »Unten im Hafen setzten sie die Segel / Fahren hinaus aufs offene Meer / Zum Abschied winken ihre Familien / Schauen ihnen noch lange hinterher // Und das Wasser liegt wie ein Spiegel / Als sie schweigend durchs Dunkel ziehen / Kaum fünfzig Meilen bis zum Ziel / Das so nah vor ihnen liegt // Sag mir, dass das nur ein Märchen ist / Mit Happy End für alle Leute / Und wenn sie nicht gestorben sind/Leben sie noch heute // Sie kommen zu Tausenden, doch die Allermeisten / Werden das gelobte Land niemals erreichen / Denn die Patrouillen werden sie aufgreifen / Um sie in unserem Auftrag zu deportieren / Und der Rest, der wird ersaufen / Im Massengrab vom Mittelmeer // Weil das hier alles kein Märchen ist / Kein Happy End für all die Leute / Und wenn sie nicht gestorben sind / Sterben sie noch heute.«

Der Song der Toten Hosen trägt nicht zufällig den Titel EUROPA. Wenngleich keineswegs durch einen übersteuerten Sound und verzerrte Powerchords erzeugt, folgt die frühere Punk-Band ihrem Prinzip der ›Aufstörung‹. Mit kritischer Intention wird darauf aufmerksam gemacht, wie Bewegungen im Raum in einer bestimmten Richtung durch Grenzziehung verhindert werden und in Folge zum Tod führen können (vgl. Mommsen 2011). WIR HABEN SIE ERMORDET war ein Beitrag von Franz Alt überschrieben, der am 15.07.2013 im SPIEGEL publiziert wurde und sich darauf bezog, dass in den vergangenen zwanzig Jahren 20.000 Flüchtlinge »im Mittelmeer an den Außengrenzen Europas ertrunken« seien (Alt 2013). Bielefelds Ent-

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scheidung ist eher eine Ausnahme; und er gehört nicht zu jener kleinen Szene, die das neue Lebensprinzip des Minimalismus vertreten (vgl. Boie 2013). Dagegen stehen ca. 18 Millionen Flüchtlinge, die ihre Dörfer verlassen und über den afrikanischen Kontinent irren, um genau jene Güter zu erlangen, die Bielefeld entsorgt hat. Von daher ist die Bewegungsrichtung offensichtlich: Sie verläuft – und dies ist seit dem 19. Jahrhundert nicht neu – vom Dorf, das im Sinne von Levi-Strauss oder später Mario Erdheim als Modell für »kalte Gesellschaften« gilt, in die Städte, die wiederum mit ihrem »gierigen Bedürfnis nach Veränderung« als Symbol für moderne, sogenannte »heiße Gesellschaften« stehen (Erdheim 1982: 289). Und dies meint soziale Differenzierung, »Fortschritt statt Wiederholung« (ebd.: 187), Mobilität, Risiko (Giddens 2001: 35), »Trennung der Zeit vom Raum« oder die Loslösung des Raumes vom Ort (Giddens 1996: 30). Was haben die beiden Beispiele mit unserem Thema zu tun? Zunächst erst einmal geben sie einen Hinweis darauf, warum Raum und Räumlichkeit neue Aufmerksamkeit beanspruchen und es gar zur Ausrufung eines sogenannten Spatial turns gekommen ist. Offenkundig wird nämlich – Modernisierungstheorien von Ulrich Beck, Anthony Giddens oder Gerhard Preyer folgend –, in welcher Weise es zu »neuen Verteilungen von Populationen, Gütern und Dienstleistungen unter Bedingungen der Globalisierung gekommen ist, die ihrerseits neue Formen der Regionalisierung und Lokalisierung hervorbringt« (Böhme 2009: 191f.). Hartmut Böhme verweist darauf, dass die »Entortung ganzer Bevölkerungsteile in den Migrationsund Flüchtlingsströmen« (ebd.) nur ein Phänomen innerhalb von Globalisierungsprozessen darstellt. Wie der sogenannte arabische Frühling gezeigt hat, kommt es zu Verschiebungen, Umschichtungen, ja der Zerstörung »von Zentren wie von Peripherien der Macht« (ebd.: 192). Die neuen »gesichtslose(n) Megacities« (ebd.) sind ebenso ein Effekt von Globalisierung wie die »globale Dimension von Popkultur und Warenästhetik« bei gleichzeitiger Anpassung der lokalen Traditionen (ebd.). Böhme ist nun mit einem durchaus kritischen Blick auf den Spatial turn einen Schritt weiter gegangen und betont, dass Kultur die »je spezifische Weise« darstellt, »in der Menschen sich selbst und Objekte im Raum bewegen«: »Raum wird erst eröffnet und (aus)gerichtet durch Bewegung«, so Böhme (ebd.: 197f.). Diese auf reale Phänomene bezogene Überlegung lässt sich auf die maßgeblichen Kategorien eines Erzähltextes übertragen. Jurij M. Lotman hat diesbezüglich bereits in frühen Arbeiten auf die besondere Bedeutung des Raumes innerhalb literarischer Texte verwiesen und dafür plädiert, von einer »Sprache des künstlerischen Raums« als einem »besonderen modellbildenden System« zu sprechen (Lotman 1974: 205). Der Raum fungiert demnach als eine mit Sprachzeichen erzeugte Konstruktion, die nicht nur das setting eines Textes meint, sondern die Subjekt-Objekt-Beziehungen konstituiert. Inzwischen gilt die literarische Raumdarstellung als ein »Oberbegriff für die Konzeption, Struktur und Präsentation der Gesamtheit von Objekten wie Schauplätzen, Landschaft, Naturerscheinungen und Gegenständen« (Nünning 2008:

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604). Die Bewegung von Figuren durch konkret situierte Räume kann somit als eine Grundvoraussetzung für das Erzählen von Geschichten gelten. Die Art und Weise, wie Figuren Räume erleben und gestalten, sagt viel über sie selbst aus. Figuren betreten Räume, sie orientieren sich im Raum und sie eignen sich diese an. Die soziale Beschaffenheit der Räume beeinflusst wiederum die Handlungen der Figuren, kann in vielfältiger Weise Auslöser von konflikthaften Prozessen sein und ›Störungen‹ in der Textwelt produzieren. Störungen entstehen dabei vor allem dann, wenn es um Auseinandersetzungen oder das Überschreiten der Raumgrenzen geht. Grenzüberschreitungen als »bedeutsame Abweichung von der Norm« (Lotman 1972: 332f.) oder »Denormalisierung« (Link 2006: 23) setzen Reflexions- und Handlungsprozesse überhaupt erst in Gang. Michail M. Bachtin hat auch darum am Beispiel der Texte von Dostojewski den raumsemantischen Eigenwert literarisch inszenierter Schwellenbereiche als »Orte, an denen es zu Krisen […], zum Fiasko und zur Auferstehung, zur Erneuerung« (Bachtin 2008: 186) kommt, herausgestellt.1 Damit bin ich bei meinem Thema, dass ich in fünf Schritten durchmessen will. In einem ersten Teil sei der Versuch gemacht, einige wenige Aspekte von Landschaft und Dörflichem in der deutschen Romantik um 1800 zu skizzieren. Ausgehend davon wird in einem zweiten Teil auf die Verbindung der Darstellung von Dörflichem mit dem Heimataspekt eingegangen. Danach sei drittens ein kurzer Bogen von der Dorfgeschichte Mitte des 19. Jahrhunderts zur Neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre gespannt. In einem vierten Teil soll es um die Rolle des Dorfes in der deutschen Literatur nach 1945 gehen, wobei eine Konzentration auf die DDR erfolgt. In einem abschließenden fünften Abschnitt sei thesenhaft auf aktuelle Entwicklungen verwiesen.

L ANDSCHAFT

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An einem »schönen Sommerabend«, so teilt uns der heterodiegetische Erzähler mit, reitet Florio, ein »junger Edelmann, langsam auf die Tore von Lucca« zu. Ihm gesellt sich, freundlich grüßend, ein anderer Reiter zu und fragt, »welches Geschäft« den jungen Mann nach Lucca führe. Zunächst etwas zurückhaltend, gibt Florio Auskunft: »›Ich habe jetzt«, fährt er nun kühner und vertraulicher fort,

1

Die auslösenden wie markierenden Faktoren von Prozessen der Grenzziehung lassen sich mit der elementaren Kategorie der ›Störung‹ fassen. Störungen sind nach a) ihrer Intensität, b) ihrem Raum (›Ort‹ der Störung) und c) der Zeit ihres Auftretens unterscheid- und wahrnehmbar. Zur Kategorie der Störung siehe Gansel/Ächtler (2013).

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»das Reisen erwählt und befinde mich wie aus einem Gefängnis erlöst, alle alten Wünsche und Freuden sind nun auf einmal in Freiheit gesetzt. Auf dem Lande in der Stille aufgewachsen, wie lange habe ich da die fernen blauen Berge sehnsüchtig betrachtet, wenn der Frühling wie ein zauberischer Spielmann durch unsern Garten ging und von der wunderschönen Ferne verlockend sang und von großer, unermeßlicher Lust.‹« (Eichendorff 1957: 307f.)

Auf diese Weise setzt Joseph von Eichendorffs Novelle DAS MARMORBILD ein, die 1819 erschien. In der Folge erliegt der noch adoleszente Protagonist, Florio, fast den Verführungskünsten der heidnischen Liebesgöttin Venus, die ihm zunächst in Form einer Marmorstatue und später als faszinierende-laszive Adelsdame erscheint. Letztlich geht es in dem Text um die Aufstörung eines adoleszenten Jünglings, der durch Reisen vom Dorf in die Fremde gerät. Dahinter steht ebenso die Frage, welche Werte noch gültig sind und wie sie sich zum Überkommenen verhalten. Eichendorff legt eine Lesart nahe, die auf Landschaft, Natur und Gott setzt, so dass eine mögliche Katastrophe am Ende »im Sinne des Christentums« abgewendet wird (vgl. Kremer 2001: 183). Schon in Ludwig Tiecks DER BLONDE ECKBERT (1797) erzählt die Hauptfigur Bertha, »als das Abendessen abgetragen war und sich die Knechte wieder entfernt hatten« (Tieck 1964: 10), auf Veranlassung ihres Gatten, die »Geschichte ihrer Jugend« (ebd.). Auch hier verlässt die Protagonistin ihr Dorf, gerät in eine wunderbare Landschaft, in der ihre »junge Seele« eine »Ahndung von der Welt und ihren Begebenheiten« bekommt (ebd.: 14). Einmal mehr durchzieht auch Friedrich Hölderlins Texte die zeittypische Sehnsucht nach der Ferne und die Faszination des Fremden (Combe 1992: 26). »Komm! Ins Offene, Freund!« lautet denn auch der programmatische Beginn von Hölderlins Gedicht DER GANG AUFS LAND (1801), das übrigens das Motto des ersten gesamtdeutschen Kongresses des Verbandes deutscher Schriftsteller 1991 in Travemünde war. Bei Hölderlin ist es die Aufforderung, aus einer bedrückenden Enge auszubrechen in die offene Natur, das Land. Gemeinsam ist den Texten, dass es zu einer spezifischen Raumgestaltung kommt, die Protagonisten jeweils ihr Dorf mit den überkommenen Strukturen verlassen und damit bisher gesetzte Grenzen im Sinne von Lotman überschreiten. Es ist keineswegs ein Zufall, dass es ausschließlich Kinder oder Adoleszente sind, die in dieser Weise das Unbekannte, Fremde zu erkunden suchen. Allerdings kehren die Protagonisten nach ihren Erfahrungen in der Stadt auch dieser wieder den Rücken. In Tiecks WILLIAM LOVELL (1795/96) macht der adoleszente Protagonist, der seinen englischen Landsitz verlässt, die Erfahrung von Rom und Paris. Gerade dort aber wird er zu der Erkenntnis geführt, dass Paris unbewohnbarer ist: »Die Stadt ist ein wüster, unregelmäßiger Steinhaufen, in ganz Paris hat man das Gefühl eines Gefängnisses […] alles erinnert an Sklaverei und Unterdrückung« (Tieck 1963: 263), ein Ort, den er verlassen muss, weil hier die Ruhe der Vorzeit verloren gegangen ist.

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Diesbezüglich lässt sich grundsätzlich Folgendes sagen. Erstens: Die romantischen Texte zeigen einen Wandel im Literatursystem an und sind Folge von veränderten Wirklichkeitsverhältnissen und -erfahrungen. Jörg Schönert hat in diesem Sinne herausgestellt, dass Veränderungen im »System der Gattungen und Genres« eine Reaktion »auf die Umwelt, auf die Entwicklungen in den Sozialsystemen, auf Prozesse der gesellschaftlichen Modernisierung« sind (Schönert 1993: 42). Zweitens: Die Texte von Tieck, Eichendorff, Hölderlin reagieren auf die gesellschaftliche Schwellensituation um 1800 (vgl. Gebhard u.a. 2007: 15). Reinhart Koselleck hat die Zeitspanne zwischen 1770 und 1830 bekanntlich als »Sattelzeit« bezeichnet (Koselleck 1972: XV), in der die »grundlegenden Impulse für den Beginn einer modernen bürgerlichen Gesellschaft gegeben wurden« (Kremer 2001: 2). Es kommt zur Veränderung der Ständegesellschaft, die weitgehend undurchlässige Schichtenhierarchie wird aufgebrochen und wandelt sich zu einer »funktional, d.h. nach Leistungskriterien differenzierten, mobilen und durchlässigen modernen Gesellschaft« (ebd.). Drittens: So emphatisch die Romantiker insgesamt auch die offensichtliche Beschleunigung und den Fortschritt begrüßten, produzierte die Erfahrung von Veränderung doch sehr wohl Irritationen und Aufstörungen, weswegen in Folge bewusst auf »Langsamkeit und Wiederholung« gesetzt wurde. Die gesteigerte Komplexität empfanden die Zeitgenossen – darauf hat Detlef Krämer verwiesen – sehr wohl als »Bedrohung oder gar Verlust der Identität« (ebd.: 5). Daher stellte das Bestreben der Romantiker, die »Mechanik naturwissenschaftlicher Weltbilder« mit »ganzheitlichen Vorstellungen zu überwinden«, einen Versuch der Kompensation dar (ebd.: 5). Viertens: Bei den entworfenen Einheitsvisionen handelte es sich freilich um ästhetische Entwürfe. Der Raum der Kunst war jener Ort, an dem die Einheitsvisionen bevorzugt über phantastisch-märchenhafte Konstellationen durchgespielt wurden.2 Fünftens: Wollte man das Phantastische in Verbindung mit dem Raum des Dorfes bringen, dann zeigt sich unter Modernisierungsaspekten eine Art Wandel: Bei Tiecks DER BLONDE ECKBERT, dann in DIE ELFEN oder in E.T.A. Hoffmanns DAS FREMDE KIND werden zwei Räume einander entgegengesetzt, ein real-fiktiver und ein phantastischer, wobei es sich beim real-fiktiven Raum um eine dörfliche Welt handelt. Über Schleusen gelangen die Protagonisten – es sind ausschließlich Kinder – von der sicheren dörflichen Welt in die aufregend phantastische. Allerdings wird dieses Modell sukzessive durch ein zweites, ein moderneres, ersetzt. In der Sammlung des PHANTASUS (1812), die ältere Texte – darunter den

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Das Entstehen der Phantastik ist wiederum im Zusammenhang mit Entwicklungen des Literatursystems im 18. Jahrhundert insgesamt und einem »neuen gebildeten Lesepublikum« (Penning 1980: 43) zu sehen, »das bereits ein Bewußtsein für Fiktionalität hat« (ebd.). Dieter Penning ist zuzustimmen, wenn er die Phantastik auch als ein »Spiel mit dem fiktionalen Bewußtsein des modernen Lesers« sieht.

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BLONDEN ECKBERT – publiziert, verweist Ludwig Tieck darauf, dass nicht »bloß auf ausgestorbenen Höhen des Gotthard [...] sich unser Gemüth zum Grauen [erregt] [...], sondern selbst die schönste Gegend [...] Gespenster [hat], die durch unser Herz schreiten« (Tieck 1985: 112; siehe auch Fischer 1980: 131-149). Tiecks Überlegung markiert Veränderungen in der Figuren- und Raumkonstellation und sie bedeutet einen Schritt hin zu dem, was man moderne Phantastik nennen kann. Es sind nunmehr nicht mehr Dörfer, Wälder, Burgen – mithin bestimmte Schauplätze, an denen sich das Aufstörende offenbart –, sondern zunehmend die verschwiegenen und verborgenen Phantasien des Einzelnen, die die phantastischen Konstellationen bedingen. Auch bei E.T.A. Hoffmann wird das Unheimlich-Phantastische zunehmend mit neuen Gestaltungsmitteln erfasst. Der Bezug auf Modernisierungsphänomene zeigt sich dabei vor allem in der Veränderung der Raummotive. Es erfolgt nunmehr eine Einbettung des Phantastischen in großstädtische Lebensräume. Nicht mehr Berge, das Dorf oder abgelegene Burgen, sondern die Straßen und Städte sind die Aktionsräume für phantastische Ereignisse (Gansel 2012a). Dieser Umstand hat natürlich einen sozialgeschichtlichen Hintergrund, denn die Protagonisten halten sich nicht mehr bevorzugt in Dörfern, idyllischen Landschaften oder in den Gärten von Schlössern auf, sondern agieren in den Städten. Mit dem Einbezug städtischer Räume bekommt der Schauer eine neue Dimension. Das Phantastische durchzieht nunmehr eine alltägliche Welt, in der die Figuren das für sie Unerklärliche aufstörend zur Kenntnis nehmen müssen. Ganz in diesem Sinne macht E.T.A. Hoffmann in einem Brief vom 19. August 1813 seinen Verleger Kunz mit dem Vorhaben bekannt, dass selbst in dem Fall, da Märchenhaftes eine Rolle spiele, dies »aber keck ins gewöhnliche alltägliche Leben tretend und seine Gestalten ergreifend« präsentiert werden solle (Hoffmann 1982: 264). DER GOLDENE TOPF, denn um diesen Text ging es, erhielt denn auch den Zusatz »Ein Märchen aus der neuen Zeit«. Entsprechend dieser »neuen Zeit« führt der Erzähler dann mitten hinein in die Alltagswelt; kein Dorf, kein Schloss und kein Adelssitz sind der Schauplatz, sondern die Stadt Dresden: »Am Himmelfahrtstage, nachmittags um drei Uhr rannte ein junger Mensch in Dresden durchs Schwarze Tor und geradezu in einen Korb mit Äpfeln und Kuchen hinein, die ein altes hässliches Weib feilbot« (ebd. 57). Im Folgenden ist der junge Mensch, es handelt sich um den Studenten Anselmus, hinreichend damit befasst, sein erneutes Unglück zu reflektieren. Letztlich entsteht im Innern der Figur ein psychischer Konflikt darüber, was ›wirklich‹ und was ›unwirklich‹, phantastisch, wunderbar ist. Damit ist die Grundlage – das sei nur angemerkt – für das Entstehen eines »Psychodramas« gegeben und der entscheidende Schritt hin zu einer modernen Phantastik getan, die eben nicht mehr im Raum der dörflichen Welt spielen kann (vgl. Gansel 2012a).

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Betrachtet man die Texte der Romantik unter dem Gattungs- und Genreaspekt, dann wird man schwerlich sagen können, dass das Dorf als Schauplatz systemprägend ist. Mimetische Aspekte und ein direkter Wirklichkeitsbezug werden durch den Einsatz des Phantastischen verfremdet. Die Gattung der Dorfgeschichte setzt daher eine veränderte Poetologie voraus und entsteht denn auch erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Es ist ein Erzähltypus, »in dem das Geschehen durch eine spezifische Wertung des bäuerl.-dörfl. Milieus geprägt ist« (Schweikle/Schweikle 1990: 107). In diesem Rahmen ist die Dorfgeschichte »formal und inhaltlich Teil der Heimatliteratur« (ebd.). Wie dort »suggerieren Landschaftsgebundenheit, Lokalkolorit und Detailrealismus eine genaue Kenntnis der dörfl.-bäuerl. Wirklichkeit, die als ganzes jedoch idealisiert als zeitlose, von Natur und Tradition geprägte, harmon. Daseinsform erscheint« (ebd.). Damit ist ein Bezug hergestellt, der hier nur angedeutet werden kann: die Verbindung der Inszenierung des Dörflichen mit dem Heimataspekt. Wollte man eine historische Näherung versuchen, dann war Heimat zunächst gebunden an den »unmittelbar vorhandenen Besitz von Haus und Hof« (Bausinger 1986: 91). Früh fand dies seinen Niederschlag in literarischen Texten. Zu erinnern ist an Walter von der Vogelweides jubelndes ICH HAN MIN LEHEN (1170). Das setzt sich später fort über Gottfried August Bürgers LIEBE OHNE HEIMAT, Hölderlins HEIMAT, Eduard Mörikes HEIMWEG. Zu denken ist auch an Heinrich Heines IN DER FREMDE und später Richard Dehmels HEIMAT. Natürlich auch an Fritz Reuters KEIN HÜSUNG (1857). Der Knecht Johann kann nicht heiraten, da der Gutsherr ihnen »Hüsung«, also Haus und Niederlassungsrecht verweigert. Und sie können damit keine Heimat finden. Das Recht auf Heimat war bis ins 19. Jahrhundert ein Gnadenakt und bezog sich, so steht es im GESETZ ÜBER DAS GEMEINDE-, BÜRGER- UND BESITZRECHT von 1828 und 1833, auf die »Befugnis in der Gemeinde sich häuslich niederzulassen und unter den gesetzlichen Bestimmungen sein Gewerbe zu treiben, so wie im Falle der Dürftigkeit auf den Anspruch auf Unterstützung aus den örtlichen Kassen« (zit. nach Bausinger 1986: 91). Das Heimatrecht begründete also einen sozialen Versorgungsanspruch, und in dem Falle, da es eben nicht erteilt wurde, bedeutete es den Ausschluss aus der Gemeinschaft. Das Heimatrecht entsprach damit den Prinzipien der weitgehend noch vormodernen, »stationären Gesellschaft« (Bausinger 1986: 93). Und es wurde in dem Maße problematisch, wie in einem Modernisierungsprozess zunehmende Mobilität und Disponibilität sich als Koordinaten gesellschaftlicher Entwicklungen herausstellten (vgl. ebd.; zu neueren Positionen u.a. Giddens 2001). Zunehmend wurde daher im 19. Jahrhundert Heimat als Bereich empfunden, der Zuflucht fernab von der Bewegung bot: Dorf, Natur, unberührte Landschaft, das Röhren der Hirsche (»Im schönsten Wiesengrunde ist meiner Heimat Haus« – Wil-

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helm Ganzhorns bekanntes Lied von 1851). Der so bestimmte Heimatbegriff hatte in seiner unpolitischen Ausrichtung freilich eine politische Dimension und dies dahingehend, als er für die sich ausbildenden Widersprüche einen Ort der Versöhnung zur Verfügung stellte, eben Heimat oder den überschaubaren Raum. Parallel dazu entwickelte sich ein politisch motivierter Heimatbegriff, der seinen Kern in der Gleichsetzung von Heimat und Vaterland fand. Da Haus und Hof für die Masse der Bevölkerung keine Festpunkte mehr bildeten und die Bindung an einen konkreten Ort des Besitzes zunehmend verloren ging, wurde er ersetzt durch etwas, was allen eigen sein konnte: Vaterland als Heimat. Dass die Verbindung von Heimat und Vaterland dann später im Zivilisationsbruch mündete, ist bekannt. Wirft man einen Blick auf weitere Versuche, Heimat zu bestimmen, dann kann man in der Tat sagen, dass es bis in die Gegenwart ›verbale Definitionsschlachten‹ gibt. Das HISTORISCHE WÖRTERBUCH DER PHILOSOPHIE bezeichnet Heimat im engeren Sinne als »eine raumzeitliche Gegebenheit für das Subjekt [...] in die es, als Mensch, hineingeboren oder hineingekommen ist und wohnt« (Hinrichs 1974: 1038). Im weiteren Sinne bezeichnet Heimat »das Ganze der an die engere Umgebung angelagerten weiteren ›Lebenskreise‹ und ihrer ›Horizonte‹ bis zum Land und nationalen Großraum, darüber hinaus de[n] Inbegriff aller Umkreise bis zur Erde und schließlich zur ›Welt‹« (ebd.). Durch die verschiedenen Definitionsversuche zieht sich bis zum neuen Jahrtausend eine Konstante. Heimat ist erstens durch die Raum- und Zeitdimension gekennzeichnet. Und als subjektive Komponente ist zweitens ein Netz von sozialen Beziehungen gemeint. In dieser Hinsicht kann man Heimat durchaus als eine Subjekt-Objekt-Beziehung bezeichnen. In diesem Sinne ist Heimat keine einer Region zukommende Eigenschaft. Im Gegenteil, es handelt sich vielmehr um eine an den Einzelnen gebundene Komponente mit sinnlicher und sozialer Bindung. Heimat ist das »Produkt eines Gefühls der Übereinstimmung mit der kleinen eigenen Welt«, notiert nicht zu Unrecht Hermann Bausinger: »Heimat ist nur dort vorhanden, wo solche Übereinstimmung möglich ist. Wo die Menschen ihrer Umgebung nicht mehr sicher sind, wo sie ständig Irritationen ausgesetzt sind, wird Heimat zerstört« (Bausinger 1986: 109). Bausinger folgt hier kulturkritischen Implikationen, wie sie sich seit 1900 in der Sicht auf den Prozess von Modernisierung bei einer Reihe von Theoretikern wie Georg Simmel, Günther Anders, Erich Fromm oder Mark Augé finden (vgl. Bollenbeck 2007). Im dritten Abschnitt sei nunmehr eine Verbindung zwischen der Dorfgeschichte ab Mitte des 19. Jahrhunderts und der Neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre hergestellt.

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V ON DER D ORFLITERATUR ZUR N EUEN S ACHLICHKEIT Gottfried Willems hat zurecht den Standpunkt vertreten, das »Postulat der Lebensunmittelbarkeit« sei der eigentliche Motor der Moderne, der es darum gegangen sei, die Kluft zwischen Kunst und Leben zu überbrücken, ihren Dualismus zu überwinden und Kunst und Wirklichkeit einander anzunähern (Willems 1989: 431). Es ist nachvollziehbar, wenn unter diesem Vorzeichen an der sogenannten Dorfgeschichte kritisiert wird, dass die »tatsächlichen, im 19. Jh. desolaten sozialen und ökonom. Verhältnisse (wirtschaftl. Rückständigkeit, Verarmung, Bildungsmisere, Landproletariat, Landflucht, Aberglaube usw.)« keine Rolle spielen und stattdessen ein idealisiertes ländliches Dasein der städtischen Existenzform entgegen gestellt wird (Schweikle/Schweikle 1990: 107). Das Dorf erscheint als ein Raum, der durch Wertbeständigkeit und Geborgenheit gekennzeichnet und in der Lage ist, den »andrängenden Verunsicherungen und Veränderungen« zu trotzen (Hinrichs 1974: 1038). Freilich sollte nicht unterschlagen werden, dass pauschale Aussagen wenig hilfreich sind, weil den unterschiedlichen Texten sehr wohl auch zivilisationskritische sowie reform- und sozialpädagogische Intentionen eingeschrieben sind. Das sieht man allein schon daran, dass als »Vorläufer der Dorfgeschichte« immerhin Karl Immermanns Erzählung DER OBERHOF, die sich in seinem satirischen Münchenhausen-Roman (1838/39) findet, und Berthold Auerbachs die Gattung prägende SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN (1843) genannt werden. Von Clemens Heselhaus stammt der zutreffende Hinweis, dass es in der »dichterischen Fiktion des Realismus nicht mehr nur um Wahrscheinlichkeit wie im 18. Jahrhundert geht, sondern um die Dokumentation durch die ›Tatsächlichkeit gelebten Lebens‹« (Heselhaus 1969: 341; siehe auch Gansel 2008a: 129-163). Die realistischen Erzählungen und Romane von Fritz Reuter, Theodor Storm, Gottfried Keller oder Ludwig Anzengruber kommen denn auch in der Tat näher an die ›Tatsächlichkeit gelebten Lebens‹ und lassen sich mit der Gestaltung von dörflichen Räumen schwerlich auf Provinzielles reduzieren. Gottfried Kellers DER GRÜNE HEINRICH (1854/55) und Wilhelm Raabes DER HUNGERPASTOR (1864) sind dann mit einigem Recht als fast schon gegensätzliche Konzeptualisierungen des Verhältnisses von Dorf und Stadt bezeichnet worden (Gebhard/Geisler/Schröter 2007: 22). Auf der einen Seite findet sich mit Kellers Roman ein Text, der gewissermaßen Eigenes und Fremdes aufhebt und vermischt. Heimat ist hier durchaus als ein Raum entworfen, der in der Lage ist, neue Impulse aufzunehmen. Anders dagegen Raabes HUNGERPASTOR, der auf Exklusion und Grenzziehung setzt, das Fremde ausschließt und Heimat damit als einen Raum entwirft, den es zu verteidigen und gegen das Fremde abzuschirmen gilt (ebd.: 22). Dass mit dem Naturalismus – zu denken ist bspw. an Gerhard Hauptmanns DIE WEBER (1892) – die »Umweltreferenz« eine zentrale Rolle spielte und detailliert die katastrophale Situation auch auf dem Dorf erfasst wurde, sei nur

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angemerkt. Damit war das Konzept der Dorfgeschichte eigentlich überholt. Gleichwohl finden sich in der Folge – und das ist nachvollziehbar – immer wieder erfolgreiche Texte, in denen die Großstadt als eine Art Moloch dargestellt wird, in dem es notwendig zur Degeneration kommt. In Ludwig Ganghofers Texten verspricht ein kärglich-bescheidenes Leben auf dem Lande Gesundung: DER JÄGER VON FALL (Hochlandroman, 1883), DIE SÜNDEN DER VÄTER (1886), EDELWEISSKÖNIG (Hochlandroman, 1886), DER UNFRIED (Roman, 1888). Und Johanna Spyris Klassiker der Kinderliteratur HEIDI (1880/81) lebt ebenfalls von der Entgegensetzung des ländlichen und städtischen Raumes. Dass nach dem Ersten Weltkrieg und den folgenden 1920er Jahren die Großstadt einmal mehr mit Attributen wie Anonymität, Gleichgültigkeit oder Kälte belegt wurde, zeigt sich in frühen Bestimmungen der »Neuen Sachlichkeit«, die allerdings inzwischen zu Recht revidiert wurden.3 Zwar findet sich bei Kracauer und Georg Lukács die Moderne als Raum der »transzendentalen Obdachlosigkeit« oder »transzendentalen Heimatlosigkeit«, aber die Texte gehen in dieser kulturkritischen Sicht nicht auf. Diese Überlegungen – wie auch von Georg Simmel – sind vor allem an eine deutsche Metropole gebunden: Berlin. Berlin wird mit ›seinem enormen Entwicklungstempo, seiner sozialen Dichte und den sich daraus ergebenden Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten [...] zum Inbegriff für ein modernes Leben, für höhere Lebensgeschwindigkeit, für Lebensgewinn und kulturelle Veränderung.‹4 Es ist ein Roman für Kinder, der die Faszination des Lebens in der Großstadt thematisiert: Erich Kästners EMIL UND DIE DETEKTIVE. Vom Dorf in die Stadt kommend, nimmt Emil die Geschwindigkeit wahr: »Diese Autos! Sie drängten sich hastig an der Straßenbahn vorbei; hupten, quiekten, streckten rote Zeiger links und rechts heraus, bogen um die Ecke; andere Autos schoben sich nach. So ein Krach! Und die vielen Menschen auf den Fußsteigen! Und von allen Seiten Straßenbahnen, Fuhrwerke, zweistöckige Autobusse! Zeitungsverkäufer an allen Ecken. Wunderbare Schaufenster mit Blumen, Früchten, Büchern, goldenen Uhren, Kleidern und seidener Wäsche. Und hohe, hohe Häuser. Das war also Berlin.« (Kästner 2010: 50)

Doch auch die Gegenseite des Trubels erfasst der kindliche Protagonist: »Die Stadt war so groß. Und Emil war so klein. Und kein Mensch wollte wissen, warum er

3

Die Neue Sachlichkeit kann literaturwissenschaftlich als Epochenbegriff gefasst und mit Stichworten wie Antiexpressionismus, Nüchternheit, Präzision, Beobachtung, Reportage, dokumentarisches Schreiben, Berichtform, Tatsachenpoetik, Entsentimentalisierung gekennzeichnet werden. Siehe dazu Becker (1995: 12).

4

http://www.produktive-medienarbeit.de/projektarbeit/audio/lerneinheiten/emil_zwei.shtml (04.03.2014).

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kein Geld hatte und warum er nicht wußte, wo er aussteigen sollte« (ebd.: 52). Georg Simmel hat aus dem rasanten Wechsel der Reize, die auf den einzelnen einwirken, einen Wahrnehmungsmodus abgeleitet, den er als »Blasiertheit« bezeichnet. Um sich gegen die Reizüberflutung zu schützen, könne sich »der Mensch der Großstadt« nur »oberflächlich« und selektiv auf seine Lebenszusammenhänge einlassen (vgl. Simmel 1984: 193-195). Es sei nur angemerkt, dass eine daraus folgende Entgegensetzung von Großstadt und Dorf unter modernisierungstheoretischem Blickwinkel in dieser Absolutheit problematisch ist, weil natürlich auch die Großstadt Strukturen im Kleinen bietet. Um ein Beispiel zu geben: Ein nicht saniertes Hinterhaus im Prenzlauer Berg hat noch heute vergleichbare Kommunikationsstrukturen, wie dies angeblich für den kleinsten ländlichen Raum kennzeichnend sei. Was Autoren wie Erich Kästner oder Hans Fallada zeigen, ist das Nebeneinander und die Vermischung von Lebensstilen in der Großstadt. Betrachtet man zunächst jene Elemente, die das ›Was‹, die ›story‹ ausmachen, also Handlungen (events), Geschehnisse, Figuren und Räume, so fällt es leicht, Falladas Texte der Neuen Sachlichkeit zuzuordnen. Es geht bei Fallada um die Welt der Angestellten (vgl. Prümm 1995: 258), die Großstadt Berlin (Spielkasino, Hotel, Kaufhäuser), das Kino, kurzum: um Phänomene der modernen Welt. Dabei ist die Raumgestaltung etwa in BAUERN, BONZEN UND BOMBEN (1931), KLEINER MANN – WAS NUN? (1932) oder WOLF UNTER WÖLFEN (1937) weitaus mehr als eine Art ›setting‹. Die von Fallada gestalteten Räume funktionieren ganz im Sinne von Jurij M. Lotman als eine Art »ethisches Modell« (Lotman 1974: 205). Die Räume dienen als »Organisationsprinzip für den Aufbau eins ›Weltbildes‹«, ja eines »ganzheitlichen ideologischen Modells, das dem jeweiligen Kulturtyp eigentümlich ist« (Lotman 1972: 313). In BAUERN, BONZEN UND BOMBEN, im KLEINEN MANN wie in WOLF UNTER WÖLFEN werden ganz verschiedene Schauplätze markiert, die in der Tat jeweils einen entsprechenden »Kulturtyp«, eine Lebenswelt, einen Lebensstil repräsentieren: das Redaktionszimmer, die Setzerei, die Wirtschaft auf dem Lande, das Allerheiligste des Regierungspräsidenten Temborius, die Amtsstube von Bürgermeister Gareis in BAUERN, BONZEN UND BOMBEN, das Rittergut Neulohe, das Zuchthaus Meienburg, die Wohnung der Gräfin Mutzbauer, der Schlesische Bahnhof in Berlin, das Spielcasino, die Friedrichstraße. Fallada zeigt nun, wie seine Figuren auf den jeweiligen Schauplätzen bzw. Räumen durch den Prozess von Modernisierung in tiefste Verunsicherung und Angst versetzt werden. Und dies gilt keineswegs nur für die sogenannten kleinen Leute. Auch ein Mann – um nur ein Beispiel zu geben – wie Rittmeister Joachim von Prackwitz in WOLF UNTER WÖLFEN ist beim Zusammenprall mit der modernen Welt Berlins in hohem Grade verunsichert, ja es kommt zunehmend Hass in ihm auf, als er erkennen muss, wie hilflos er den neuen Entwicklungen ausgeliefert ist. Dazu gehört nicht zuletzt der Umstand, dass er Probleme hat, das Geld für die Pacht an seinen Schwiegervater aufzutreiben. Daher auch das Gespräch mit von Studemann in Berlin.

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Es ist kein Zufall, wenn Rittmeister von Prackwitz von Fallada als ein »ortsgebundener Held« (Lotman)5 modelliert ist. Er beobachtet geradezu mit Ekel, wie die Moderne in Berlin die Verhältnisse durcheinander wirbelt. Was ihn an der Friedrichstraße früher erfreute, das ist verschwunden. Falladas Erzähler beschreibt akribisch den Weg, den von Prackwitz geht: »Der Rittmeister hatte nach seiner Aussprache mit Studmann noch reichlich Zeit, so bummelte er wieder einmal den alten Weg. Aber die Freude wurde ihm diesmal vergällt: Es ging auf der Friedrichstraße zu, wie man sich etwa einen morgenländischen Basar vorstellt.« (Fallada 1951: 83)

Besonders abgestoßen wird von Prackwitz vom emanzipiert-lasziven Verhalten der jungen Frauen. Dem Kulturtyp der modernen Welt von Berlin stellt er sein anderes »ethisches Modell«, nämlich den Raum von Neulohe als dem einer traditionalen Gesellschaft entgegen: »In Neulohe hatten sie [die Frauen; C.G.] einen Garten, sie saßen abends in diesem Garten. Der Diener Hubert brachte Windlichter und eine Flasche Mosel, allenfalls sandte noch das Grammophon mit ›Bananen, ausgerechnet Bananen!‹ eine großstädtische Welle in das Blättergeriesel und Blütengedufte. Aber die Frauen waren bewahrt. Rein, sauber.« (ebd.: 87)

Anthony Giddens hat mit Blick auf vormoderne und moderne Kulturen darauf aufmerksam gemacht, dass diese durch Unterschiede in den Vertrauens- und Risikoumwelten gekennzeichnet sind. »Die ontologische Sicherheit der vormodernen Welt muß in erster Linie im Verhältnis zu Kontexten des Vertrauens und Formen von Risiko oder Gefahr begriffen werden, die in den lokalen Umständen des jeweiligen Ortes verankert sind« (Giddens 1996: 129). Nimmt man nur einmal die beschriebene Episode aus Falladas WOLF UNTER WÖLFEN, dann wird an und mit der Figur des von Prackwitz vorgeführt, wie unter Modernitätsbedingungen jene Bereiche brüchig werden, die für die Ausbildung von Vertrauen und ontologische Sicherheit in vormodernen Verhältnissen maßgeblich waren, nämlich erstens die Familie und das Verwandtschaftssystem, zweitens die lokale Gemeinschaft, drittens die Religion und viertens die Tradition.

5

Lotman unterscheidet »ortsgebundene Helden« und »bewegliche Helden«; siehe Gansel (2009 und 2008b).

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S OZIALISTISCHE D ORFLITERATUR Es nimmt nicht wunder, dass in dem Maße, wie der Verlust der sozialen und sinnlichen Beziehungen als solcher empfunden wird, das Dorf als Heimat zunehmend eine utopische Dimension erhalten hat. Heimat erscheint darum nicht mehr nur als Herkunftsort oder -region, sondern es kommt in gewisser Weise zu einer Renaissance eines arkadisch-romantischen Gehalts, der dem Prozess der Zivilisation entgegenzustehen scheint. In Ernst Blochs berühmter materialistisch-utopischer Definition von Heimat sind diese nostalgischen Elemente aufgehoben. Am Ende des PRINZIPS HOFFNUNG heißt es: »Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« (Bloch 1985: 1628)

Blochs vielzitierte Heimat-Bestimmung zielt auf die feste Verankerung des HeimatBegriffes in funktionierenden sozialen Beziehungen und von daher zu demokratisch-sozialistischen Vorstellungen. Ebenso nimmt Blochs Bestimmung eine ökologische Kultur- und Gesellschaftskritik vorweg, die der unaufhaltsamen Entheimatung durch die Zerstörung von Umwelt entgegentritt. Nicht zuletzt ist Blochs Heimat-Begriff – und dies gilt es nachfolgend zu beachten – an die Aufhebung von gesellschaftlicher Entfremdung im Marxschen Sinne gebunden. Damit sind wir bei der Inszenierung von Dörflichem in der DDR und ihrer Literatur.6 Auf dem II. Schriftstellerkongress 1950 war es Bodo Uhse, der in einem Grundsatzreferat eine Art Bestandsaufnahme der in der SBZ/DDR neu entstandenen Literatur lieferte (Uhse 1950). Während er Entwicklungen in der Lyrik mit Gedichten von Becher, Brecht, Kurt Bartel (Kuba), Fürnberg oder Hermlin positiv einschätzte, sah er die »schwerfälligere Prosa« hinter die gesellschaftlichen Entwicklungen »zurückfallen«. Denn: »Das Leben auf den Feldern der Neubauernhöfe, in den volkseigenen Betrieben, in Planungsämtern und auf Maschinenausleihstationen, also die durch die Bodenreform, Umsiedlung, Enteignung wichtiger Industrieanlagen und ihre Überführungen in Volkseigentum hervorge-

6

Ohne jetzt hier nebenher eine Geschichte der DDR-Literatur liefern zu können, sei auf die frühe DDR verwiesen, in der es – damals durchaus noch im Konsens zwischen Autoren und Partei – zu ›Vereinbarungen‹ über die Rolle der Literatur und einen spezifischen Literaturbegriff kam.

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rufenen Umwälzungen und ihr Echo im Bewusstsein unserer Menschen, haben bisher, mit der Ausnahme einiger Versuche, keinerlei Gestaltung erfahren.« (ebd.: 124)

Uhse forderte, gerade mit Blick auf die Jugend, Bücher, »in denen sie ihr eigenes Leben« wiederfinden könne und dies bedeute von der »Wiederbesinnung nach dem Zusammenbruch« zu erzählen, vom »Überwinden des Hungers« vom »zögernden Neubeginn« (auf den Dörfern) oder vom »zuversichtlicher werdenden Aufbau« (ebd.). Kurzum: Im Mittelpunkt der Literatur müsse der »arbeitende, tätige, produktive, schöpferische Mensch« stehen (ebd.: 126). Zum sogenannten »neuen Gegenstand« gehöre auch das, was »sozialistische Umgestaltung« auf dem Lande genannt wurde (vgl. Radicke 1980). Die Auftragsliteratur favorisierte denn auch eine direkte Thematisierung von Land und Region, was dazu führte, dass das Dorf als Schauplatz mit den daran gebundenen Figuren und Handlungen eine gewichtige Rolle spielte. Nachfolgend seien einige Tendenzen bei der Inszenierung des Dörflichen schlagwortartig angedeutet: Erstens: Das Dorf als positives Zukunftsmodell in den 1950er Jahren. An dieser Stelle kann es lediglich darum gehen, auf ausgewählte Texte zu verweisen, die im Umfeld mit der Orientierung auf den neuen Gegenstand ab Anfang der 1950er Jahre entstanden und in denen das Ländlich-Dörfliche in den Status einer systemprägenden Dominante geriet. Dazu gehören: Otto Gotsches TIEFE FURCHEN (1949), die Romane DER KLEINE KOPF (1952) und VOM WEIZEN FÄLLT DIE SPREU (1952) von Werner Reinowski, Jurij Brenzans 52 WOCHEN SIND EIN TAG (1953), Benno Voelkners DIE BAUERN VON KARVENBRUCH (1959) oder Bernhard Seegers HERBSTRAUCH (1961). Man kann das Modell, das hier entworfen wird, in etwa so zusammenfassen: Es sind zumeist früher unterprivilegierte Arbeiter, junge Männer und Frauen, Kommunisten und ›Heimkehrer‹, die eine Chance erhalten und ihre Fähigkeiten erkennen. Gestaltet wird in der Auseinandersetzung zwischen Alt und Jung die Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der jungen Generation. Wirkungsästhetisch geht es darum, über positive Helden das vermeintlich Typische des sozialistischen Aufbaus darzustellen, eine gesellschaftliche Gesamtschau zu geben und mögliche Konflikte so zu lösen, dass eine sozialistische Perspektive aufscheint. Als repräsentativ für die Raum- und Figurengestaltung Mitte der 1950er Jahre kann Strittmatters TINKO gelten. Alex Wedding hob auf dem IV. Schriftstellerkongress 1954 die Leistung des Romans hervor: »In ›Tinko‹ weht endlich echte, frische Landluft. In ihm finden wir zarte, treffende Beobachtungen [...] in diesem deutschen Gegenwartsroman [finden wir] endlich wirkliche Menschen in ihrer widerspruchsvollen Entwicklung.« (Wedding 1956: 88)7

7

Zu TINKO siehe ausführlich Gansel (2012b).

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Es geht in TINKO um die sich abzeichnenden gesellschaftlichen Konflikte bei der Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR. Tinkos Großvater, der alte Kraske, hat durch die Bodenreform endlich Land erhalten. Er orientiert sich am Großbauern Kimpel und wehrt sich mit aller Macht gegen die Kollektivierung. Sein Sohn Ernst, Tinkos Vater, kehrt geläutert aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück, er wird Parteimitglied und befürwortet den Eintritt in die Genossenschaft. Es kommt zum Bruch zwischen Vater und Sohn, Tinko entscheidet sich zunächst für den Großvater. Doch zunehmend erkennt er, dass der Vater Recht hat. Der Großvater arbeitet allein weiter und stirbt schließlich, uneinsichtig und erschöpft. In einem Gutachten, das dem Erscheinen des Romans vorgelagert war, wurde TINKO zwar einleitend noch als ein »bedeutsamer Beitrag zum Kampf um die Veränderung des Bewußtseins der Landbevölkerung« bewertet und betont, dass diese »Wandlung [...] im Zuge der Veränderung der ökonomischen Basis, der fortschreitenden Anwendung von Maschinen, der Traktorenstation und der Entwicklung der gegenseitigen Hilfe« erfolgt.8 Die positive Einschätzung lieferte dann aber den Ausgangspunkt für eine ausgesprochen kritische Sicht auf den Text. Sie bezog sich darauf, dass die »Partei [...] nicht als alles organisierende Kraft, als überall und ständig wirksames Kollektiv handelnd dargestellt [wird], sondern abstrakt und blutleer.« So richtig Strittmatter auch den Untergang des hinter den Entwicklungen zurückbleibenden Großvaters darstelle, so fehlerhaft sei es, dass er den »eigentlichen Feind des Dorfes, den Kulaken, völlig ungeschoren« lasse. Die Staatsmacht würde »allen feindlichen Handlungen dieses Mannes gegenüber« passiv bleiben. Das aber entspräche »weder unserer politischen Auffassung noch den Tatsachen« (ebd.: 228f.). Die Argumentation zeigt: Was zunächst zählte, waren praktische Nützlichkeit und politischer Gebrauchswert (vgl. Emmerich 1993: 780). Beide Aspekte waren mit der ästhetisch verbrämten Formel der Volkstümlichkeit verbunden, was über einen längeren Zeitraum zu einem (bewussten) Verzicht bzw. einer Abwehr der ästhetischen Moderne führte und sich gerade bei der Gestaltung des Lebens auf dem Lande zeigte. Zweitens: Das Dorf als Raum, in dem ein sozialistischer Spurmacher und Selbsthelfer eigensinnig und gegen die Partei seinen Anspruch auf gesellschaftliche Entwicklung umzusetzen sucht. Wir sind damit in den 1960er Jahren. Als Modellfall kann Erwin Strittmatters OLE BIENKOPP (1964) gelten. In diesem geht es um einen Helden, der vorausdenkt, vorausgeht, voraushandelt und der durch sein Vorbild in der Lage ist, die Gemeinschaft der anderen nachzuziehen. Bienkopp, das sagt schon der Name, drängt auf Bewegung und auf kreative Freiräume. Die ideologi-

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Stellungnahme zum Manuskript TINKO von Erwin Strittmatter. In: BArch, DR 1/5086a, Bl. 228.

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schen Vorgaben durch Funktionäre stoßen auf seinen Widerstand. Wenngleich wiederum in stark schematischer Darstellung findet sich im OLE BIENKOPP ein grundsätzliches Problem der DDR erfasst, die Ideologisierung von Funktionen. Es wird offenbar, wie die Bewegungsfreiheit der Teilsysteme – hier die Entwicklung einer LPG – eingeschränkt ist, weil für alle ein grundlegender Systemsinn gilt, die marxistische Teleologie, verkörpert durch die Parteifunktionärin Frida Simson. Da modernisierungstheoretisch betrachtet aber alle Systeme – einmal in Gang gesetzt – auf Kontinuierung, Steigerung, verbesserte Funktionserfüllung abzielen, besteht die entscheidende Bedingung für die stetige Modernisierung darin, dass keine systemischen Stoppregeln für innersystemisches Handeln gesetzt werden. Nur wo dies garantiert ist, gibt es die Chance, Widersprüche in kreative Potentiale zu transformieren. Eben diese Voraussetzung kommt für den beschriebenen Fall – und er ist repräsentativ für die DDR bis an ihr Ende – nur in mutierter Form zur Geltung. Dieser Umstand steht im Gegensatz zu der von Max Weber für den Modernisierungsprozess angenommenen Aufhebung des politischen Primats. Drittens: Vor dem Hintergrund der skizzierten gebremsten Modernisierung und der Ideologisierung von Funktionen kann auch Helmut Sakowskis erfolgreicher Dorfroman DANIEL DRUSKAT (1976) gesehen werden, der repräsentativ für eine Tendenz der Dorfgestaltung Mitte der 1970er Jahre ist. Im Text wie in seiner Verfilmung finden sich zwar durchaus unterschiedliche Auffassungen von dem, was Sozialismus auf dem Land heißt, aber letztlich erscheint der Fernsehroman fast wie eine Umsetzung der nunmehr unter Honecker forcierten Auffassung vom Sozialismus auf dem Lande. Im sozialistischen WÖRTERBUCH DER ÖKONOMIE heißt es entsprechend: »Jedes D.[orf] gehört zu einem größeren Wirtschaftsgebiet, dessen Struktur und Funktionen ihm zugleich wesentliche gesellschaftliche Aufgaben stellen. Dadurch ist z.B. die ökonomische Struktur eines D. in der Magdeburger Börde anders als die eines D. an der Ostseeküste.« (Ehlert 1973: 213)

Es komme daher darauf an, im »Prozeß der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft, insbesondere in Verbindung mit der Entwicklung von Kooperationsbeziehungen und dem allmählichen Übergang zu industriemäßigen Formen der Produktion« eine Entwicklung hin zum modernen Dorf zu nehmen und die Lebensbedingungen »schrittweise denen der Stadt« anzunähern (ebd.). Die Figurenanlage im DRUSKAT folgt dieser Orientierung insofern, als die Hauptfiguren als Antagonisten angelegt sind. Max Stephan – im Film verkörpert von Manfred Krug – versucht permanent die ideologischen Stoppregeln zu unterlaufen und auf Kontinuierung, Steigerung, verbesserte Funktionserfüllung zu setzen. Er zielt darauf, in der Gegenwart die Lebensverhältnisse in seinem Dorf für alle zu verbessern. Daniel Druskat als Gegenspieler hält sich als Kommunist an die parteilichen Vorgaben und

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begründet dies mit den später von Volker Braun in seinem HINZE-KUNZE-ROMAN (1985) karikierten vermeintlichen ›gesellschaftlichen Interessen‹. Danach könne die Entwicklung des Einzelnen nicht auf Kosten der Gemeinschaft realisiert werden. Der Film bestätigt diese Auffassung. Mit dem DANIEL DRUSKAT ist das, was man Dorfliteratur nennen kann, eigentlich an ihr Ende gekommen. Die Gestaltung von wirklichen Arbeitsprozessen auf dem Land spielt in der Allgemeinliteratur keine maßgebliche Rolle mehr. In Verbindung mit dem, was man »ästhetische Emanzipation« (Werner Mittenzwei) der DDR-Literatur genannt hat, werden allerdings das Dorf und die Provinz in anderer Weise zum Gegenstand der Darstellung. Der Raum des Dorfes und der Provinz wird ausgeleuchtet, um sichtbar zu machen, in welcher Weise der reale Sozialismus sich von seinen proklamierten Idealen entfernt hat. Günter de Bruyns Romane können hier als exemplarisch gelten, und allein die Entwicklungen von seinen MÄRKISCHEN FORSCHUNGEN (1979) bis zur NEUEN HERRLICHKEIT (1984) zeigen, wie eine sozialistisch drapierte Kleinbürgerlichkeit längst die frühen Ideale gefressen hat. Es kommt zur Entgegensetzung von Land und Stadt. Das Besondere dabei ist, dass nun die Provinz zum wirklichen Ort der Moral wird und die existierende Perversion der großen Welt einer real-sozialistischen Hauptstadt entlarvt. Viertens: Spätestens die 1980er Jahre führen im Vergleich zu den 1950er Jahren einen umgekehrten Prozess vor: Sie erfassen die Zerstörung von dörflichen Gemeinwesen und Landschaften. »Kein Hölderlin-Hymnus/auf die Natur,/die Herzwand verkarstet« heißt es in Hans Cibulkas Gedicht LAGEBERICHT III in SWANTOW (1982). Dabei setzt sich die Tendenz einer Entgegensetzung von Großstadt (zumeist Berlin) und Land fort. In Jurij Kochs Novelle KIRSCHBAUM (1984) stehen sich zwei Räume bzw. Welten gegenüber. Auf der einen Seite Mathias, Ena, die Mutter, vor allem der Großvater, die fest mit der Landschaft und ihren traditionellen Lebensformen verbunden sind und die daraus ihre Lebenskraft schöpfen. Auf der anderen Seite Sieghart, der mit der Tradition bricht und in Überkommenes zerstörend eingreift.9 Es sind insbesondere auch Texte, die zur Kinder- und Jugendliteratur gehören, in denen sich diese Entgegensetzung findet. Benno Pludra ist dabei jener Autor, bei dem das Dorf von den 1950er Jahren bis in die 1980er Jahre im Zentrum steht: LÜTTMATTEN UND DIE WEISSE MUSCHEL (1963), TAMBARI (1969), die INSEL DER SCHWÄNE (1980), das HERZ DES PIRATEN (1985). Erstaunlich, aber durchaus symp-

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In der DDR-Literatur zeigt sich dabei ein durchaus vergleichbarer Prozess wie dies in der Sowjetliteratur der 1980er Jahre Fall war. Der wichtigste Vertreter der sogenannten Dorfprosa, Valentin Rasputin, hatte mit ABSCHIED VON MATJORA (1984) den Widerspruch gezeigt, in den eine Dorfgemeinschaft durch eine Ideologie gerät, die einseitig auf den technischen Fortschritt setzt. Es geht in dem Text um das Dorf Matjora, das »freigezogen« werden soll, um Platz für ein neues Wasserkraftwerk zu machen.

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tomatisch für Literatur in der DDR, ist dabei der Umstand, dass seine kindlichen wie jugendlichen Helden sich mit den Großeltern verbünden. Das hing mit sehr realen Erfahrungen zusammen, die Alten waren gerade nicht angepasst und hatten sich ihre Phantasie erhalten, ja sie boten den Kindern Schutz und Heimat, so etwas wie eine INSEL DER SCHWÄNE (1981). Arbeitsprozesse auf dem Land werden allerdings auch bei Pludra – die Großeltern sind in Rente – nur noch ansatzweise erfasst, stattdessen geht es um die Zerstörung von gewachsenen dörflichen Strukturen und den Erhalt der Landschaft. Umweltzerstörung wird zu einem zentralen Thema in der DDR-Lyrik dieser Jahre. Heinz Czechowski, Richard Pietraß, Wulf Kristen oder Volker Braun haben exemplarisch den Weg des Verlustes markiert. Ortsbezeichnungen wie »verkommenes Ufer« (H. Müller) oder MITTELDEUTSCHES LOCH (V. Braun) erscheinen symptomatisch: »Mitteldeutsches Loch Ausgekohlte Metapher/Keiner Mutter boden Loser Satz/Aus dem Zusammen FROHE ZUKUNFT/ Hang gerissen« (Braun 1983: 38).10 Eine Ausnahme stellt einmal mehr Erwin Strittmatters LADEN-Triologie dar, die zwischen 1983 und 1992 erschien und vom Dorfleben in der Lausitz handelt, wobei der Bogen von der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis in die frühe DDR reicht (vgl. Dingeldein/Ensslin 2012). Zusammengefasst lässt sich sagen: Die Endachtziger Jahre haben in der Literatur gerade und vor allem bei Darstellungen von Dorf und Landschaft einen Akzent der Heimat-Definition von Ernst Bloch im eigentlichen Sinne ausgebaut. Der real erlebte Sozialismus in der DDR mit seinem ›gebremsten Leben‹ und seinen ›gestockten Widersprüchen‹ wurde zum Symptom für Entfremdung. Und das im klassischen Marxschen Sinne: erstens als Entfremdung vom Menschen als Gattungswesen, zweitens als Entfremdung von den sozialen Verhältnissen/Machtstrukturen, drittens als Entfremdung von der Arbeit und schließlich viertens als Entfremdung von sich selbst. Christa Wolfs Erzählung SOMMERSTÜCK, das aus der Perspektive einer Gruppe von Intellektuellen, die sich aus der realsozialistischen Gesellschaft zurückgezogen haben und den beobachtenden Blick auf Dörfer und Landschaft im Mecklenburgischen richten, gibt im verhaltenen Ton Auskunft darüber. Vor diesem Hintergrund gerät ein Text in den Blick, der schon frühzeitig ein Grundproblem der DDR auf den Punkt brachte. Uwe Johnsons INGRID BABENDERERDE, der bereits 1956 vorlag, aber weder in der DDR noch in der Bundesrepublik erscheinen konnte. Uwe Johnson erzählt hier von jungen Leuten, die in einer mecklenburgischen Kleinstadt im Mai des Jahres 1953 kurz vor dem Abitur stehen. Ingrid Babendererde, Klaus Niebuhr und Jürgen Petersen sind Schüler der Klasse 12 A der Gustav Adolf-Oberschule und geraten in den staatlicherseits provozierten Kon-

10 Brauns in SINN UND FORM 6/1989 erschienener Text DER BODENLOSE SATZ ist gleichsam Endpunkt der Widersprüche und führt das Versacken früherer ideeller und materieller Werte im Abgrund vor.

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flikt um die christliche Junge Gemeinde. Aus moralischen wie politischen Gründen halten sie das Vorgehen des Staates gegen einzelne Mitschüler schlichtweg für einen Verfassungsbruch. Ingrid und Klaus, die mehr als Freundschaft verbindet, ziehen die Konsequenz und verlassen die DDR. Jürgen wird für seine Ideale eines demokratischen Sozialismus weiter einstehen und in der Jonas-Figur der MUTMASSUNGEN ÜBER JAKOB (1959) eine Fortsetzung finden. So die dürre Wiedergabe der Fabel. Johnsons Roman nimmt Mitte der 1950er Jahre mit seiner literarischen Darstellung vorweg, was sich nach dem Ende der DDR als produktiver Forschungsansatz erwiesen hat und auch das in Rede stehende Thema betrifft: die Unterscheidung zwischen der DDR als ›Staat‹, also seinen Institutionen, Gesetzen, Verfügungen und dem, was man als ›Gesellschaft‹ bezeichnen kann, den Beziehungen zwischen Menschen, dem Leben in der Familie, im Freundeskreis, im Betrieb. Mit ›Gesellschaft‹ ist jener »soziale Nahbereich« gemeint, der »Chancen der Partizipation und Macht für viele Beteiligte bereit [hielt]« (Lindenberger 1999: 31). Zwar stellte dieser gesellschaftliche Nahbereich keinen »›herrschaftsfreien Raum‹« dar, er unterschied sich jedoch von den »unmittelbar angrenzenden Arenen exklusiver SEDHerrschaft« (ebd.; vgl. auch Gansel 2001). Insofern lässt sich sagen, dass auf der ›unteren Ebene‹, im sozialen Nahbereich, im kleinen Raum, dort, wo Überschaubarkeit gegeben war, der Einzelne durchaus Macht- wie Regelungskompetenzen besaß. Das erklärt, warum Volkspolizist Heini Holtz Ingrid gegen ihren StasiVerfolger in Schutz nehmen und ihn als »kleine[n] Spitzel« abkanzeln kann (Johnson 1987: 211). Johnsons poetischer Text entspricht einem Ansatz von Historikern, die die DDR als eine »sozialistische Diktatur« (Klessmann/Jarausch 1999: 12) bezeichnet haben. Ihre Besonderheit bestehe darin, dass die Grenze »tatsächlich strikt auf den lebensweltlichen Bereich bezogen blieb: Arbeitskollektiv, Familie und Verwandtschaft, Dorf und Wohngebiet [...] Die Grenze nach oben, bereits zur Kreisoder Betriebsebene, war weitgehend undurchlässig; von dort kamen aber auch die Gefahren für diesen Raum des bedingt Eigenmächtigen« (Lindenberger 1999: 31f.). Die BABENDERERDE zeigt, wie dieses Mit- und Gegeneinander funktioniert und woher die Gefahren kommen. Der Staat greift durch seine Repräsentanten in die Gesellschaft, den sozialen Nah- wie utopischen Freiraum ein und sucht die gemeinschaftlichen Bindungen zu kappen. Die letzte Segeltour der Gruppe wirkt darum auch nur wie der Nach-Schein einer vergehenden Utopie.

G EGENWART Ein Überblick über aktuelle Dorfromane kann im Rahmen dieses Beitrags nur skizzenhaft gegeben werden. Mit Recht ließe sich wohl behaupten, dass globale Veränderungsprozesse auch vor der Lebenswelt des Dorfes nicht Halt machen. Moderni-

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sierung meint hier zunächst einmal mit Ulrich Beck die »technologischen Rationalisierungsschübe und die Veränderung von Arbeit und Organisation« (Beck 1986: 25, Anm.). Die sozialistischen LPGs gibt es heute nicht mehr und auch in den alten Bundesländern dominiert der Nebenerwerbshof. Dass dies im Sinne von Beck »den Wandel der Sozialcharaktere und Normalbiografien, der Lebensstile und Liebesformen, der Einfluss- und Machtstrukturen, der politischen Unterdrückungs- und Beteiligungsformen, der Wirklichkeitsauffassungen und Erkenntnisnormen« (ebd.: 23) beeinflusst hat, sei lediglich angemerkt. Und eben dies hat Folgen für die Literatur: Da die jeweils erzählten Geschichten und ihre Fabelkonstruktionen im Sinne von Paul Ricœur in einem »Vorverständnis der Welt des Handelns, [...] ihrer Sinnstrukturen, ihrer symbolischen Ressourcen und ihres zeitlichen Charakters« (Ricœur 2007: 90; siehe auch Erll 2005: 150f.) ihre Grundlage haben, mithin in dem, was man Mimesis I, »außerliterarische Wirklichkeit« oder eben Stoff nennt, ist zu fragen, welches heute die kulturellen Felder sein sollten, aus denen ein literarischer Text im Fall der Darstellung des Dorfes seine Elemente in der deutschen Literatur beziehen kann? Dass dies in Polen, Ungarn oder Russland anders ist, sei nur angemerkt.11 Wie die Konfiguration des Textes, mithin Mimesis II, also der Entwurf einer auf das Dorf bezogenen Narration mit einer spezifischen Handlungs-, Figuren- und Raumkonstruktion in der Gegenwart aussehen kann, sei aber an einem exemplarischen Beispiel gezeigt. In ihrem Romandebüt DINGE, DIE WIR HEUTE SAGTEN verbindet Judith Zander, so heißt es in der Begründung der Jury für den UweJohnson-Förderpreis, »auf kunstvolle Weise Vergangenes und Gegenwärtiges. Über das Mit- und Gegeneinander unterschiedlicher Stimmen setzt sich Stück für Stück das Porträt einer vorpommerschen Dorfgemeinschaft in Bresekow zusammen, deren Einzelschicksale über drei Generationen aneinander gebunden sind. Beim Erzählen entsteht ein polyphoner Strom, in dem die unterschiedlichen Figuren jeweils eine aus der subjektiven Erfahrung geronnene unverwechselbare Stimme erhalten.« (Gansel 2011)

Ausgelöst durch den Tod der Großmutter, Anna Hanske, geraten die ansonsten maulfaulen Dorfbewohner Pommerns ins Sprechen: Die adoleszenten Mädchen

11 Wollte man Beispiele für neue Inszenierungen des Dorfes finden, dann steht dafür exemplarisch die polnische Literatur mit Andrzej Stasiuk (geboren 1960), der nach 2000 im sogenannten Westen zu einer Art »osteuropäischer Undergroundstar« geworden ist. Es hängt dies nicht zuletzt damit zusammen, dass seine Romane in verschwunden geglaubte Lebensräume und Zeiten zurückführen, etwa in die WELT HINTER DUKLA (dt. 2000). Vergleichbares gilt für Olga Tokarczuk mit ihrem Roman DER GESANG DER FLEDERMÄUSE

(dt. 2011).

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Romy und Ella, der »rechte Tunichtgut Eddie«,12 von der »Wende« desillusionierte Vertreter der mittleren Generation oder schließlich die pensionierte Köchin Maria. Auf diese Weise entsteht ein geschichtliches Panorama, das bis zurück in den Zweiten Weltkrieg reicht, ganz so wie es die titelgebende Beatles-Übersetzung THINGS WE SAID TODAY verspricht. Wie bei Uwe Johnson zeigt sich, auf welche Weise die Zeitläufte in das Leben des einzelnen eingreifen und was in der Erinnerung von der Geschichte eines Landes bleibt, das es nicht mehr gibt. Thesenhaft lassen sich folgende Tendenzen bei der Inszenierung des Dörflichen benennen, die sich in der jüngeren Autorengeneration finden lassen. Eine erste Tendenz, von der an anderer Stelle bereits die Rede war, steht in Verbindung mit dem Erfolg einer jungen deutschen Popliteratur ab Ende der 1990er Jahre. Das Besondere dabei ist, dass diese jüngeren Autoren – sie waren damals Ende zwanzig – ihren Einstand in der deutschen Literatur mit Texten gaben, in denen sie ihre Protagonisten Kindheit und Jugend – zumeist in der Provinz – der alten Bundesrepublik erinnern ließen. Dabei handelte es sich zumeist um einen auto- bzw. homodiegetischen Erzähler: Kolja Mensings WIE KOMME ICH HIER RAUS? AUFWACHSEN IN DER PROVINZ (2002), Peter Renners GRIFF IN DIE LUFT (2003), Marcus Jensens OBERLAND (2004), Sven Regners NEUE VAHR SÜD (2004) oder Roco Schamonis DORF13 PUNKS (2004). Es geht in den Texten zumeist um eine Kindheit auf dem Dorf oder in einer Kleinstadt, die auf den ersten Blick so idyllisch erscheint, wie jene, die Astrid Lindgren in ihren BULLERBÜ-Büchern entworfen hat. Selbst in der Adoleszenz fehlen Risse und Brüche. Das hat möglicherweise einen Grund: Wo Gegenwart als »Mischung aus Totalversicherung und schlechten Prognosen, aus Overprotection und Verwahrlosung« (Spinnen 2001: 12) erfahren wird, wächst der Wunsch, Kindheit und Jugend in der Provinz der 1980er Jahre zu erinnern. Eine zweite Tendenz betrifft die Entwicklungen der letzten zwei bis drei Jahre: Offensichtlich ist, dass eine junge Autorengeneration, geboren zwischen 1974 (Jan Brandt) und 1985 (Sabrina Janesch), das Dorf in neuer Weise zum Schauplatz macht. Dabei wird die Handlung weniger durch »Arbeit und Organisation« geprägt, als vielmehr durch das Nach-Denken bzw. die Erinnerung an Vergangenes. Dies betrifft das bereits genannte Romandebüt von Judith Zander, das in ein Dorf nach Vorpommern zwischen den 1970er und 1990er Jahren führt oder Jan Brandts GEGEN DIE WELT (2011), dessen Hauptfigur, Daniel Kuper, ebenfalls in die 1970er Jahre hineingeboren wird. Auch bei Sabrina Janesch (KATZENBERGE, 2010), Katerina Poladjan (IN EINER NACHT, WOANDERS, 2011) oder Olga Grjasonowa (DER

12 So heißt es in der unveröffentlichten Laudatio von Katrin Hillgruber auf Judith Zander. 13 Inzwischen liegen weitere Romane von jüngeren Autoren vor: Georg Klein, ROMAN UNSERER KINDHEIT

(2010), Andreas Altmann, DAS SCHEISSLEBEN MEINES VATERS (2011),

Hansjörg Schertenleib, COWBOY SOMMER (2010), Thomas Lang, BODENLOS (2010).

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RUSSE IST EINER, DER BIRKEN LIEBT, 2011) funktioniert die Dorfdarstellung über das Wechselspiel von Basiserzählung (Gegenwart) und Analepsen (Vergangenheit).14 Das Erzählen in diesem Texten wird jeweils motiviert durch die Aufbrüche der jungen Protagonisten, die den Geschichten ihrer Familien nachgehen, vor allem jenen der Großeltern. Durch den Tod der Großeltern motiviert, machen die Protagonisten sich auf die Suche und gelangen in jene Dörfer, die die Eltern verlassen haben. Die junge Journalistin Nele Leibert beginnt im Roman KATZENBERGE sich an ihre Kindheit zu erinnern, während sie in Polen mit dem Rad durch die ehemalige niederschlesische Landschaft zum Grab des Großvaters fährt. Ähnlich ist die Figurenkonstellation in Poladjans Debüt: Mascha, die junge Protagonistin, erhält einen Anruf: Sie soll das Haus ihrer verstorbenen Großmutter in Russland verkaufen. Mascha, die ihre Kindheit in Russland schon fast vergessen hat, bricht auf in eine ihr bereits fremde (dörfliche) Welt und kommt dem Geheimnis ihrer Familie auf die Spur. Grjasnowas Protagonistin heißt ebenfalls Mascha. Mit elf Jahren ist sie aus Aserbaidschan nach Deutschland emigriert; sie spricht fünf Sprachen fließend, ist in der ganzen Welt herumgekommen und dennoch heimatlos. Und sie wird nun – nach dem Tod ihres deutschen Freundes – von der Vergangenheit eingeholt. Abschließend sei noch eine dritte Tendenz markiert, und sie hat erst einmal nichts mit Literatur zu tun. Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland die klassischen durch Arbeit vermittelten Dorfstrukturen nur noch rudimentär oder gar nicht mehr existieren, nimmt es nicht wunder, wenn der Raum des Dorfes, in dem sich zwischen den Traditionen, Ritualen, überkommenen Werten, Familienbeziehungen eben gerade auch aus dem Gedächtnis verdrängte Geheimnisse und Traumata finden, bevorzugt zum Ort des deutschen TV-Krimis wird. Aber das sind andere Geschichten über das Dorf, die hier nicht weiter verfolgt werden können.

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14 Ein Sonderfall im Hinblick auf die Motivation für das Erzählen bzw. das Erinnern findet sich in bei Eleonora Hummels DIE FISCHE VON BERLIN; siehe dazu auch Gansel (2007).

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»Ueberbleibsel der ältern Verfassung« Zur primitivistischen Imagination des Dorfes im 19. Jahrhundert M ARCUS T WELLMANN

I. »Things are no longer what they were when Auerbach wrote his Black Forest Tales for children. But there is still much left to amuse and instruct the students who tramp through the Forest every Whitsuntide vacation (Pfingsten) from Heidelberg, Freiburg and other German univiersities.« (Adams 1882: 13) Henry Baxter Adams schöpfte, als er dies schrieb, aus eigener Reiseerfahrung. Er hatte in Heidelberg u.a. bei Johann Kaspar Bluntschli studiert (s. dazu Cunningham 1981), bevor er 1876 ebendort zum Doktor der Philosophie promoviert worden war. Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten von Amerika hatte er 1876 den Ruf als Professor für Geschichte an der Johns Hopkins University angenommen. Einen Ausflug in die südwestdeutschen Wälder empfiehlt er in seinem 1882 erschienenen Text insbesondere den Studenten des eigenen Fachs. Denn »in such forests liberty was nurtured. Here dwelt the people Rome never could conquer. In these wild retreats the ancient Teutons met in council upon trial matters of war and peace. […] Here were planted the seeds of Parliamentary or Self-Government, of Commons and Congresses.« (Ebd.)

Adams waren nicht nur Berthold Auerbachs – irrtümlich der Kinderliteratur zugeordnete – SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN (1842ff.) bekannt, sondern auch Montesquieus DE L’ESPRIT DES LOIS. An einer viel zitierten Stelle dieser Schrift heißt es mit Verweis auf Tacitus, das politische System Englands sei in den germanischen Wäldern erfunden worden (vgl. Montesquieu 1994 [1748]: 229). Die GERMANIA zitiert Adams auch direkt und ausführlich. Er bedient sich dieser Schrift als einer Anleitung, die er auf einer phantasierten Deutschlandreise mit dem Leser

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gemeinsam studiert: »With the Germania for a guide-book let us follow the student through a Teutonic village« (Adams 1882: 11). So wird das 16. Kapitel über die Siedlungsweise der »Barbaren« als Beschreibung dessen angeführt, was auch der Tourist des ausgehenden 19. Jahrhunderts vor Augen habe: »Tacitus probably saw what every stranger sees to this day on visiting the country villages of South Germany, namely, compact settlements, but with separate buildings and home lots, exactly like those of a New England farming town.« (Ebd.: 12) Der abschließende Vergleich hat eine besondere Pointe. Das Hauptaugenmerk des aus Shutesbury, einer Kleinstadt in Massachusetts, gebürtigen Historikers gilt einer langen Dauer ländlicher Lebensformen bis in die Gegenwart: THE GERMANIC ORIGIN OF NEW ENGLAND TOWNS, lautet der Titel seines Versuchs. Tatsächlich verficht er die These einer ungebrochenen Kontinuität von der germanischen Mark über die südwestdeutsche Dorfgemeinde und die angelsächsische village community zu den von den ersten Siedlern gegründeten townships Neuenglands und bis zu den ländlichen Gemeinden seiner Heimat Massachusetts – diese sind für Adams nichts anderes als »reproductions of the village community system of the ancient Germans« (ebd.: 8). Diese Ausführungen sind, so abwegig sie heute auch anmuten mögen, durchaus beispielhaft für eine primitivistische Imagination des Dorfes, die im 19. Jahrhundert weit verbreitet war. Sie speist sich zum einen aus schriftlichen Quellen, die vor allem zwei Gruppen zugehörig sind: Als »Bauernepik« kann eine erste Gruppe von literarischen Erzählungen bezeichnet werden, die das zeitgenössische Landleben zum Gegenstand haben. Dazu gehören jene »Dorfgeschichten«, die mit dem Namen Berthold Auerbach fest verbunden sind. Zwar wurde zuvor schon vom Dorf erzählt, die Gattung aber hat Auerbach Anfang der 1840er Jahre mit seinen bald weltweit gelesenen SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN erst eigentlich begründet (vgl. Baur 1978: 18f.). Es handelt sich allerdings um ein gesamteuropäisches Phänomen: In England, Frankreich, Spanien, Ungarn, Schweden, Holland, Dänemark, Russland und anderen Ländern erscheinen in diesen Jahren vermehrt literarische Erzählungen vom bäuerlichen und zumeist dörflichen Leben. Damit ist das wichtigste Merkmal einer Gattung genannt, die letztlich nur mit Bezug auf ihren Stoff definiert werden kann: Gegenstand der Erzählung ist eben das Dorf, eine ländliche Siedlungs- und Lebensform, auf die das lesende Publikum zu dieser Zeit aufmerksam wurde. Das Dorf aber war im 19. Jahrhundert auch Gegenstand einer zweiten Gruppe von Texten, die aus der Feder von Verfassungs- und Rechtshistorikern stammen. Justus Möser, Carl Friedrich Eichhorn und Jacob Grimm hatten den Anfang gemacht, Georg Hanssen, Georg Waitz, Erwin Nasse, Georg von Maurer u.a. führten ihre Arbeiten fort. In der zweiten Jahrhunderthälfte griffen zunehmend angelsächsische Rechtshistoriker und Anthropologen die deutschsprachige Forschung auf und integrierten sie einer Universalgeschichte der Menschheitsentwicklung. Mit ANCIENT LAW formulierte der Rechtshistoriker Henry Sumner Maine 1861 die Agenda einer evolutionistischen Anthropologie, die das spekulative Konzept einer »primiti-

»U EBERBLEIBSEL

DER ÄLTERN

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ven Gesellschaft« entwickelte und in folgenden Jahrzehnten vielfältig variierte (vgl. Kuper 1988: 5). Weil deren Studium ursprünglich also ein Zweig der Rechtsgeschichte war (vgl. ebd.: 3), konnte die verfassungsgeschichtliche Forschung der ersten Jahrhunderthälfte in die viktorianische Anthropologie eingehen. Die wissenschaftliche Literatur über das Dorf ist in der Folge geradezu explodiert. Vieles davon synthetisiert und in die sich formierende Soziologie eingebracht hat am Ende des 19. Jahrhunderts dann Ferdinand Tönnies, der das Dorf in seinem einflussreichen Hauptwerk als eine typische Form der »Gemeinschaft« begreift (vgl. Tönnies 1991 [1887]: 216). In der Vorrede zur ersten Auflage wird Maine vor Gierke und Marx als ein Vorläufer genannt, von dem Tönnies’ eigene Betrachtungen über Gemeinschaft und Gesellschaft »die tiefsten Eindrücke« (ebd.: XXIII) empfangen hätten. Die Theorie der primitiven Gesellschaft, das hat Adam Kuper inzwischen klargestellt, »is about something that does not and never has existed« (Kuper 1988: 8). Diese Theorie ist, stärker formuliert, eine »science fiction«, die als eben solche allerdings gesellschaftlich wirksam wurde: »These writers constructed mirror images of their own society – or rather of some particular interpretation of their times – and projected these back into the distant past, creating antiUtopias (or, in the case of some romantics, Utopias) which helped to give substance to their dreams of the future.« (Kuper 1991: 109)

Das gilt nicht allein für die angelsächsischen Autoren. Auch die deutschen Historiker fragten um der Zukunft Willen, wie es bei den Germanen eigentlich gewesen war. Sie betrachteten die Frühgeschichte im Lichte der Probleme ihrer Zeit (vgl. Böckenförde 1961). Die Konstruktion von Geschichtsbildern war eine hoch politische Angelegenheit. »Imaginär« sind diese zunächst insofern, als es sich um Produkte einer synthetisierenden Einbildungskraft handelt, die auf der Grundlage einer fragmentarischen Überlieferung Ganzheiten rekonstruiert. Tatsächlich enthalten die antiken Quellen ja nur sehr spärliche Angaben über das Leben der »Barbaren«. Und das wenige, was bei Tacitus etwa zu lesen steht, erwies sich als sehr ausdeutungsfähig. Das hat die Leser jedoch nicht davon abgehalten, sich auf dieser unsicheren Grundlage insbesondere von der politischen Verfassung der germanischen Völker ein Bild zu machen. Diese Imaginationen waren zum einen für die wissenschaftliche Forschung lange Zeit, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, leitend. Darüber hinaus hatten sie auch im Bereich des Politischen eine orientierende Funktion. Wie die von Cornelius Castoriadis (1984) initiierte Theorie des gesellschaftlich Imaginären deutlich gemacht hat, können Einbildungen, so sie soziale Geltung erlangen, durchaus reale Effekte zeitigen. Das im Rückgriff auf die antike Ethnographie der Germanen gewonnene Bild eines herrschaftsfreien Dorfverbands ist eine solche Vorstellung, die Eingang gefunden hat in die gesellschaftliche Praxis, und zwar

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weltweit. Durch die Wiederbelebung des in Resten noch Gegenwärtigen wollte man die Zukunft gestalten. Herbert Baxter Adams’ Text weist nicht nur auf eine gemeinsame Wirkungsgeschichte unterschiedlicher Texte hin, er zeugt auch von Reisepraktiken, die sich mit ihrer Lektüre verbinden ließen. Das ist die andere Quelle der primitivistischen Imagination. Die Historiographie des Dorfes erzeugte im Verbund mit den Dorfgeschichten eine Vorstellung, die von Studenten und anderen literarisch Gebildeten, die an freien Tagen von den größeren Städten aus das Land erkundeten, auch an die Wirklichkeit herangetragen wurde. Die urbanen Bildungseliten schöpften aus dem Gelesenen ein bestimmtes Wahrnehmungsmuster. Als »primitivistisch« kann es bezeichnet werden, weil es die Aufmerksamkeit auf solche Erscheinungen lenkt, die sich als Relikte einer Urzeit deuten ließen, welche den Betrachtern in die Gegenwart gleichsam hinein zu ragen schien. So empfiehlt Adams, vor allem den Odenwald zu besuchen, wo sich noch »far more primitive villages« (Adams 1882: 13) fänden als im Schwarzwald. »Primitivistisch« soll dieses Muster auch darum heißen, weil es im Folgenden um seine Stellung zwischen der kulturkritischen Aufwertung des »Wilden« im 18. Jahrhundert und der evolutionistischen Anthropologie des späteren 19. Jahrhunderts geht. Erst nach 1870 kam es zu einer terminologischen Konsolidierung des »Primitiven«. Wie Erhard Schüttpelz dargelegt hat, handelt es sich dabei um die eigentliche Signatur jenes Zeitalters, das »Moderne« genannt wird (vgl. Schüttpelz 2005: 393). Der vorliegende Beitrag möchte aus germanistischer Perspektive mit Blick auf das Dorf die Vorgeschichte des modernen Primitivismus erhellen. Zunächst ist die Dorfhistoriographie dieser Zeit in einem gerafften Überblick darzustellen, sodann ist nach ihrem Verhältnis zur literarischen Dorfgeschichte zu fragen. Mit Karl Lebrecht Immermanns Roman MÜNCHHAUSEN. EINE GESCHICHTE IN ARABESKEN wird schließlich ein Text genauer zu untersuchen sein, der in Verbindung mit beiden Textgruppen steht.

II. Unter dem Titel DEUTSCHE RECHTSALTERTÜMER stellt Jacob Grimm 1828 die »markeinrichtung« als »uralt« (Grimm 1828: 504) dar. Prominent hatte zuvor Justus Möser in seiner OSNABRÜCKISCHEN GESCHICHTE von dieser Einrichtung gehandelt: »Unser ganzes Stift ist in Marken, worin Dörfer und einzelne Wohnungen zerstreuet liegen, verteilet« (Möser 1965 [1780]: 70), heißt es da, und »ihre jetzige Verfassung ist noch wie die älteste« (ebd.: 71). Als »Markgenossenschaft« wird hier ein Siedlungsverband bezeichnet, dessen Verfassungsgeschichte Möser in die vorkarolingische Zeit zurückverfolgt. Nach seiner Überzeugung waren die Bauern der altgermanischen, genauer: altsächsischen Zeit freie Landeigentümer, die als

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Hausherren ohne Obrigkeit über ihr Anwesen walteten. Gemeinsame Anliegen wie etwa die rechtliche Konfliktbeilegung verfolgten sie demokratisch im genossenschaftlichen Rahmen, ohne dass es zur Ausbildung von Institutionen mit Herrschaftscharakter kam. Nach der Jahrhundertwende sollte Karl Friedrich Eichhorn, der Begründer der modernen deutschen Rechtsgeschichte, Mösers Entdeckung in seinem viel gelesenen Lehrbuch über DEUTSCHE STAATS- UND RECHTSGESCHICHTE aufgreifen. Auf 20 Seiten beschreibt er die »älteste Verfassung« (s. Eichhorn 1821: 46-65). Diese war seiner Überzeugung nach »streng und wie alle Urverfassung der abendländischen Völker auf die Freiheit einer herrschenden Volksgemeinde gegründet« (ebd.: 47). Möser war zu dieser Vorstellung nicht wie zu seiner Zeit durchaus noch üblich auf dem Wege einer naturrechtliche Deduktion gelangt, sondern durch das Studium historischer Quellen. Neben Cäsars DE BELLO GALLICO zieht er vor allem die taciteische GERMANIA heran, jene ethnographisch-geographische Schilderung, auf die sich auch Montesquieu beruft, wenn er von der germanischen Herkunft bestimmter Einrichtungen handelt. Für die Kulturkritik des 18. Jahrhunderts hatte Tacitus eine Vorlage geliefert, da er die germanische Lebensweise wiederholt mit der eigenen Kultur des kaiserzeitlichen Rom vergleicht und dabei von den »Barbaren« ein zumeist positives Bild zeichnet. Nicht zuletzt hebt er einen Freiheitsdrang hervor, der seine Zeitgenossen wohl an die eigene Vergangenheit der römischen Republik erinnern soll (s. dazu Timpe 1989). So galten die Germanen vielen Lesern Rousseaus als jenes Volk, das einem idealen Naturzustand noch nahe war. Mösers historische Schilderung der sächsischen Urzeit konnte vor diesem Hintergrund eine beachtliche Wirkung entfalten. Zwar war diese primitivistische Imagination für das deutsche Nationalbewusstsein von besonderer Bedeutung (s. dazu Wiwjorra 2006, Beck et al. 2004). Doch wurde sie von einem Germanismus transportiert, der eine der großen, nationenübergreifenden »Pan-Bewegungen« des 19. Jahrhunderts war (s. dazu Gollwitzer 1971). Darum konnten auch Neuengländer wie Herbert Baxter Adams die Ursprünge ihrer townships in den deutschen Wäldern finden. Und darum konnte eine vergleichende Rechtswissenschaft, die sich an der später auch rassenbiologisch ausgedeuteten Vorstellung einer »indogermanischen« oder »arischen« Sprachfamilie orientierte (s. dazu Stocking 1987: 56-62, Wiesehöfer 1990), die von Tacitus beschriebenen Siedlungen mit jenen in Zusammenhang bringen, von denen britische Kolonialbeamte aus Indien berichteten. Dabei bediente man sich einer Methode, die sich in Ansätzen schon bei Möser findet: Immer wieder setzt er die gegenwärtigen Verhältnisse in Beziehung zu jenen der vorkarolingischen Epoche. Tatsächlich waren die beschriebenen Einrichtungen dem heimischen Publikum seiner Zeit wohl vielfach zumindest in Schwundformen aus eigener Anschauung noch bekannt (vgl. Welcker 1999: 329). Das gilt für die germanische Feldgemeinschaft, als deren Reste man die im 19. Jahrhundert dann endgültig aufgelösten Gemeinheiten ansah (s. dazu Brakensiek 2002). Das gilt auch

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für die Freigerichte Westfalens, in denen Möser ein wesentliches Element der ursprünglichen Markgenossenschaft wiedererkennt. Wie Nikolaus Kindlinger in seinen MÜNSTERISCHEN BEYTRÄGEN ZUR GESCHICHTE DEUTSCHLANDS, HAUPTSÄCHLICH WESTFALENS versichert, sind »die Bauerrichter, […] fast in jeder Baurschaft noch jezt vorhanden«. Mösers Schüler identifiziert diese Bauern und Richter mit den von Tacitus beschriebenen principes der Germanen und bezeichnet sie als »Ueberbleibsel der ältern Verfassung« (Kindlinger 1790: 11). »Überbleibsel« gehört zu einer Reihe von Wörtern, mit denen die Autoren des 19. Jahrhunderts ein aus der Vorzeit Überdauerndes bezeichnen. Terminologisch durchschlagend war Edward Burnett Tylors Rede von »survivals«, eine großartige Synthese von Denkfiguren, die sich u.a. in der Archäologie, Geologie und Sprachwissenschaft herausgebildet hatten. In PRIMITIVE CULTURE entwickelte der Inhaber des ersten Lehrstuhls für Anthropologie 1871 mit Blick auf »Ueberlebsel«, wie sie in der deutschen Übersetzung seines Hauptwerks heißen, eine vergleichende Methode. Er konnte sich dabei nicht zuletzt auf die Vorarbeiten Henry Sumner Maines stützen, der mit ANCIENT LAW die vergleichende Rechtswissenschaft begründet hatte. Im Erscheinungsjahr 1861 war Tylor auf einer Forschungsreise in Mexiko und machte eine Beobachtung, die er später auf den genannten Begriff bringen sollte: dass die Gegenwart ein Gewebe aus multiplen Vergangenheiten ist (vgl. Didi-Huberman 2002: 54f.). Die viktorianischen Anthropologen legten ihren Untersuchungen ein Stufenmodell der sozialen Evolution zugrunde, wie es seit Condorcet und Ferguson geläufig war. Alle Völker sollten einen einheitlichen Entwicklungsgang von der Wildheit über die Barbarei zur Zivilisation hin durchlaufen. Allerdings gehe diese Entwicklung mit ungleicher Geschwindigkeit vor sich. Das war eine wesentliche Voraussetzung der vergleichenden Methode, die Maine zunächst für die Rechtsgeschichte explizierte: »As societies do not advance concurrently, but at different rates of progress, there have been epochs at which men trained to habits of methodological observation have really been in a position to watch and describe the infancy of mankind« (Maine 1959 [1861]: 99). Demnach war die »Kindheit der Menschheit« in bestimmten Regionen der Welt noch im 19. Jahrhundert zu studieren. Bevor er 1869 einen Lehrstuhl für Historische und vergleichende Rechtswissenschaft an der Universität Oxford annahm, war auch Maine gereist. Er hatte sich mehrere Jahre in Indien aufgehalten (vgl. Burrow 1970: 137-178) und kannte die Dorfgemeinschaften dieser Region aus eigener, freilich vorinformierter Anschauung, als er seine 1871, zeitgleich mit PRIMITIVE CULTURE, erschienene Studie über VILLAGECOMMUNITIES IN THE EAST AND WEST verfasste. Über eigene Erfahrung verfügte auch John Budd Phear, der in Bengalen das Amt eines Richters versehen hatte, bevor er 1880 eine Studie über THE ARYAN VILLAGE IN INDIA AND CEYLON vorlegte. In ihre Vergleiche konnten »Lehnstuhlanthropologen« auch die russische Landgemeinde einbeziehen, die ebenfalls zu einem Gegenstand der Ethnographie gewor-

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den war. Schon in den 1840er Jahren hatte August von Haxthausen Russland bereist und STUDIEN ÜBER DIE INNERN ZUSTÄNDE, DAS VOLKSLEBEN UND INSBESONDERE DIE LÄNDLICHEN EINRICHTUNGEN publiziert. Damit weckte er nicht nur bei der russischen Intelligenz die Aufmerksamkeit für die Obščina (s. dazu Haxthausen 1852: 115-161). Haxthausens Schilderungen, so erinnert sich Maine, »were at once felt throughout Europe to be the revelation of a new social order, having no counterpart in the West« (Maine 1886: 193). Das evolutionistische Stufenmodell eröffnete neue Möglichkeiten des Kulturvergleichs. Grundsätzlich ging man von einer Vergleichbarkeit und Gemeinsamkeit aller Kulturen aus, einschließlich der asiatischen und afrikanischen, denen eine Entwicklungsdynamik bis dato abgesprochen worden war. Unter Berücksichtigung der aus den unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten resultierenden Ungleichzeitigkeit war die europäische Zivilisation nun auch mit jenen Primitivkulturen vergleichbar, denen man in den Kolonien zu begegnen meinte. An diesen konnte man aufgrund einer »konzeptuellen Zeitkrümmung« (Schüttpelz 2005: 400) die eigene Vorgeschichte studieren: »Savage and barbarous tribes often more or less fairly represent stages of culture through which our own ancestors passed long ago, and their customs and laws often explain to us in ways we should otherwise have hardly guessed, the sense and reason of our own.« (Tylor 1896 [1881]: 401) Solche Vergleiche warfen also nicht nur ein Licht auf die ferne Vergangenheit, sondern auch auf deren noch gegenwärtige, aber unverständlich gewordenen Überreste, für die Tylor eben den Begriff »survivals« einführte (s. Tylor 1958 [1871]: I, 16). Er lenkte damit die Aufmerksamkeit seiner Leser auch auf solche Ungleichzeitigkeiten, die innerhalb der eigenen Kultur zu beobachten waren. Zudem hob er hervor, dass die Überreste eigentlich überwundener Entwicklungsstufen zu neuem Leben erwachen können: »Sometimes old thoughts and practices will burst out afresh, to the amazement of a world that thought them long since dead or dying; here survival passes into revival.« (ebd.: 16f.) Tylor, der wie Maine an den Fortschritt der Menschheit glaubte, betrachtete die Möglichkeit solcher revivals letztlich als eine Gefahr, die es durch die endgültige Destruktion von survivals abzuwenden galt. Andere, die von Kuper so genannten »romantics«, sahen in Überbleibseln die Zukunft. Wie magisch-religiöse Praktiken und Glaubensvorstellungen konnte man auch rechtliche verfasste Einrichtungen als lebensfähige Überreste der Urzeit betrachten. Viel Beachtung wurde etwa Walter Scotts Roman THE PIRATE (1822) geschenkt, der am Rande von den Udal tenures auf den Orkney- und Shetland-Inseln handelt. Scott hatte einen Leuchtturmwärter bei einer Kontrollfahrt an der Küste von Schottland begleitet und zunächst in seinem Reisetagebuch eine »primitive cultivating community« beschrieben, deren Form Maine als »extremely archaic« (Maine 1871: 97, s.a. Laveleye 1874: 89) einstuft. Vor allem aber interessierte man sich für die »surviving features of the ancient village community system as described by Taci-

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tus« (Adams 1882: 11). Dieses Wahrnehmungsmuster trug maßgeblich zur Faszination des Dorfes bei – ob es nun in Neuengland, auf schottischen Inseln, in deutschen Wäldern und Südasien zu finden war oder anderswo: »Direkt in meiner Gegend, auf dem Hunsrücken, hat das altdeutsche System bis in die letzten Jahre fortgedauert. Ich erinnere mich jetzt, dass mein Vater als Advokat mir davon sprach!«, schreibt der studierte Rechtswissenschaftler Karl Marx in einem Brief an Friedrich Engels und nennt in diesem Zusammenhang auch eine der Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, die zur Verfestigung dieses Wahrnehmungsmuster beitrugen: die Paläontologie – auch in der Menschheitsgeschichte zeige die Urzeit überall noch ihre Spuren (vgl. Marx/Engels 1965 [1868]: 52f.). Marx bezeichnet das Überdauernde nicht als »Überrest« oder »Überbleibsel«, sondern mit einem Wort, das ebenfalls zu den Vorläufern von Tylors »survivals« gehört (vgl. Stagl 2002: 319), als »Ruine«. So formuliert er 1859: »Es ist ein lächerliches Vorurteil, in neuester Zeit verbreitet, daß die Form des naturwüchsigen Gemeineigentums spezifisch slawisch oder gar ausschließlich russische Form sei. Sie ist die Urform, die wir bei Römern, Germanen, Kelten nachweisen können, von der aber eine ganze Musterkarte mit mannigfaltigen Proben sich noch immer, wenn auch zum Teil ruinenweise, bei den Indiern vorfindet.« (Marx 1947 [1859]: 28)

Dass er an die Lebensfähigkeit solcher Reste glaubte, bezeugt der Entwurf zu einem Brief an Vera Zasulič, die Marx nach der Zukunft der russischen Dorfgemeinde gefragt hatte. Diese, so lautet die Antwort, finde »den Kapitalismus in einer Krise, die erst mit seiner Abschaffung, mit der Rückkehr der modernen Gesellschaften zum ›archaischen‹ Typus des Gemeineigentums enden wird, oder, wie ein amerikanischer Autor [Lewis Henry Morgan, M.T.] es sagt – das neue System, zu dem die moderne Gesellschaft tendiert, ›wird eine Wiedergeburt (a revival) des archaischen Gesellschaftstypus in einer höheren Form (in a superior form) sein‹.« (Marx/Engels 1969 [1881]: 386)

Marx’ besonderes Interesse gilt der germanischen Eigentumsordnung: Die historische Forschung habe gezeigt, »daß das Privateigentum an Boden erst später entstand« (Marx/Engels 1965 [1868]: 52f.). Ausgehend von den Beschreibungen einer Feldgemeinschaft der Germanen behauptet er einen Urkommunismus, der jeder Form des Sondereigentums vorangegangen sei. Unter dieser Voraussetzung konnte der evolutionäre Rückstand als ein Vorsprung gedeutet werden. Alexander Herzen hob hervor, »welches Glück es für Rußland bedeutet, daß die Dorfgemeinde nicht zugrunde gegangen ist, daß das Privateigentum das Gemeindeeigentum nicht zerstückelt hat; welches Glück es für

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das russische Volk ist, daß es außerhalb der politischen Bewegungen, außerhalb der europäischen Zivilisation geblieben ist, die die Dorfgemeinde zweifellos untergraben hätte und die gegenwärtig im Sozialismus zur Negierung ihrer selbst gekommen ist.« (Herzen 1949 [1851]: 510)

Ähnlich sah das zeitweilig auch Michail Bakunin: »Die Natur der russischen Revolution als einer sozialen ist somit vorgeschrieben und liegt auch im ganzen Charakter des Volkes, in seiner Gemeindeverfassung.« (Bakunin 1996 [1849]: 71) Tylor, der wachsam mit der Möglichkeit von revivals rechnete, beeilte sich in seiner Rezension von Maines VILLAGE COMMUNITES denn auch klarzustellen, dass »the decision of history, after all trial lasting through many ages, is being given for individual as against communistic possession of land« (Tylor 1871: 189). Die Bilder der ursprünglichen Dorfgemeinschaft waren so vielfältig wie die politischen Zukunftsperspektiven, die man mit ihnen verband (vgl. Burrow 1974). Die These von einem zeitlichen und logischen Primat des Kollektivismus wurde im 19. Jahrhundert von Sozialisten und Anarchisten ebenso vertreten wie von Konservativen und Liberalen. Letztere waren vor allem von der den germanischen Markgenossen zugeschriebenen Freiheit, Gleichheit und Herrschaftslosigkeit fasziniert: Tacitus’ Beschreibung war zu entnehmen, dass an den wichtigsten politischen Entscheidungen und am Gericht das gesamte Volk beteiligt war. Im Vormärz ergab sich aus der germanischen Frühgeschichte unmittelbar ein Zukunftsentwurf. Auch die Liberalen wollten ein revival, die Wiederbelebung der »altdeutschen« Urdemokratie: »unmittelbare Bürgerpartizipation in der genossenschaftlichen Institution der Gemeinde« (Nolte 1994: 206). So lud Friedrich Daniel Bassermann 1843 auf einem Verfassungsfest die Anwesenden ein: »Blicken wir in die ferne Vergangenheit, in die älteste Zeit; ja das war eine freie Zeit. Unsere Urältern, die alten Deutschen, sie waren freie Männer. Sie waren nicht bevormundet von Leuten, die sie nicht wollten, nein, unter freiem Himmel, in großen Volksversammlungen wählten sie ihre Anführer, unter freiem Himmel hielt das Volk Gericht und gegen seinen Willen konnte nichts geschehen.« (Bassermann 1843: 55)

Vor allem die südwestdeutschen Liberalen, allen voran Carl von Rotteck in dem gemeinsam mit Carl Welcker herausgegebenen Staats-Lexikon, betonten den vorstaatlichen Charakter der Gemeinde. Freiheit sei nur genossenschaftlich und unabhängig vom Staat im kommunalen Rahmen zu realisieren. Gegenüber den neuartigen Regulierungsansprüchen der staatlichen Bürokratie wollte man einen umfassenden Autonomieanspruch geltend machen, der u.a. eine eigene Gerichtsbarkeit umfasste. Im Lichte eben dieses Konflikts zwischen Gemeinde und Staat betrachtete man die germanische Mark und hob dabei ihre egalitäre Verfassung hervor.

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Aspekte von Herrschaft wurden hingegen vernachlässigt. So konnte man sich auf das »altdeutsche« Vorbild berufen. Der liberale Abgeordnete Georg Beseler, später ein Lehrer Otto von Gierkes, erklärte 1849 vor der Frankfurter Nationalversammlung, es sei im Interesse des Vaterlandes, »die großen Prinzipien zu erkennen und festzuhalten, welche die deutsche Nation begleitet haben, so lange sie noch eine freie, eine gewaltige war. Ich glaube, daß die Principien der germanischen Freiheit von uns zu erforschen sind [...]. Dieser göttliche Funke germanischer Freiheit [...] muß wieder in unserer Nation angefacht werden.« (Wigard 1848/49: 5497)

III. Ob die Germanen tatsächlich in Dörfern gelebt haben, war allerdings umstritten. Im ersten von insgesamt acht Bänden einer DEUTSCHEN VERFASSUNGSGESCHICHTE behandelt 1844 auch Georg Waitz die altgermanische Verfassung. Er findet bei Tacitus »dorfmässige[] Ansiedlungen« beschrieben, verweist unter Berufung auf Möser jedoch auf solche »Gegenden, wo einzelnliegende Höfe […] die Regel sind«, wie es sich in Westfalen »bis auf den heutigen Tag erhalten« (Waitz 1844: 28f.) habe. »Die wahren Landes-Einwohner wohnen noch einzeln«, hatte Möser erklärt. Ausgehend von einer im Osnabrückischen auch zu seiner Zeit noch zu beobachtenden Siedlungsform stellt er sich vor, die Germanen hätten sich im Zuge der Landnahme zunächst in Höfen angesiedelt: »Jeder scheinet sich im Anfange so viel genommen zu haben, als er nötig gehabt und gewinnen können, da wo ihm ein Bach, Gehölz oder Feld gefallen. Und so ist gemeiniglich die erste Anlage der Natur.« (Möser 1965 [1780]: 63f.) Dass man sich am Anfang der Geschichte auch so genannte »Urdörfer« (Hanssen 1880 [1835]: 73) vorstellen kann, macht Georg Hanssen 1835 in seinen ANSICHTEN ÜBER DAS AGRARWESEN DER VORZEIT deutlich: »Die Feldgemeinschaft«, liest man da, »hat gleich ursprünglich die Dörfer geschaffen, die nicht erst im späteren Mittelalter, wie oft irrig behauptet worden, aus zusammengerückten Einzelhöfen entstanden sind.« (Ebd.: 2) Dieser Streit sollte lange dauern. Marx wird Mösers Sichtweise als »blödsinnige westfälische Junkeransicht« (Marx/Engels 1965: 42) abtun und sich dabei vor allem auf Georg Ludwig von Maurer berufen, der nach einer EINLEITUNG ZUR GESCHICHTE DER MARK-, HOF-, DORF- UND STADTVERFASSUNG UND DER ÖFFENTLICHEN GEWALT (1854) auch eine GESCHICHTE DER MARKENVERFASSUNG (1856) hatte erscheinen lassen. In seiner GESCHICHTE DER DORFVERFASSUNG IN DEUTSCHLAND (1866) erklärt er unter Berufung auf Tacitus, am Anfang sei eine »freie Dorfschaft« (Maurer 1866: 6) vorherrschend gewesen, deren Verfassung, jener der Marken entsprechend, eine genossenschaftliche war (vgl. ebd.: 16).

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Dieser Streit war auch für die Literatur von Bedeutung. Er betrifft zunächst die literarische Gegenstandswahl. Neben der Dorfgeschichte sind der Bauernepik auch solche Erzählungen zugehörig, die von Einzelhöfen handeln, Gotthelfs ULI-Romane (1846/49) etwa oder Auerbachs LEHNHOLD (1854). In diese Reihe gehört Immermanns MÜNCHHAUSEN von 1838/391 zur Hälfte. Der Roman ist ein Doppelroman, dessen einer Teil von dem Schloss Schnick-Schnack-Schnurr und seinen Bewohnern handelt. Hier ist der Freiherr von Münchhausen zu Gast, angeblich ein Nachfahre des bekannten Lügenbarons. Der andere Teil handelt von einem westfälischen Bauernhof, dem Oberhof, und von seinem Besitzer, dem Hofschulzen. Er handelt außerdem von einer Genossenschaft der »reichsten Hofbesitzer der Umgegend« (677) und einem Freigericht, das diese unter dem Vorsitz des Oberhofbauern abhalten. Für diesen Teil hat man sich im 19. Jahrhundert vor allem interessiert. Obwohl er von einem einzelnen Hof handelt, konnten sich in den 1840er Jahren auch Verfasser von Dorfgeschichten wie Auerbach emphatisch darauf beziehen (vgl. Auerbach 2014a [1839]). Denn hier wird die bäuerliche Welt einer bestimmten Region zum Gegenstand einer realistischen Darstellungsweise. Darum findet Immermanns Text in jeder Untersuchung der Gattung »Dorfgeschichte« Erwähnung. Schon 1859 hatte Gustav Hauff in einem umfangreichen Aufsatz über Dorfgeschichten vorgeschlagen, die Gattung besser »Bauernnovelle« zu nennen, weil – wie er mit Bezug auf MÜNCHHAUSEN erläutert – ihr zugehörige Texte auch von Streusiedlungen oder vereinzelten Höfen handeln (vgl. Hauff 1859). Besondere Aufmerksamkeit verdient dieser Roman, weil er auf den Diskussionszusammenhang der Rechts- und Verfassungsgeschichte direkt Bezug nimmt. Als studierter Jurist war Immermann in der Lage, die beiden eingangs vorgestellten Textgruppen miteinander zu verbinden. Im Folgenden wird es darum gehen, die Besonderheit der literarischen Bezugnahme auf geschichtskundliche Diskurse und Praktiken genauer zu bestimmen. Auf den ersten Blick scheint der Schriftsteller dem Primitivismus anzuhängen. Auch er schöpft aus beiden Quellen: aus Bücherwissen und Reiseerfahrung. Seine Ausflüge vom Wohnsitz Düsseldorf aus ins Soester Land hat Norbert Göke im Detail rekonstruiert. Im Unterschied zu den bisher erwähnten Touristen hat dieser Stadtbewohner sich weniger für Dörfer interessiert als für Bauernhöfe. Den Ewald-Hof in Meckingsen unweit Soest hat Göke als wahrscheinliches Vorbild des Oberhofs identifiziert (vgl. Göke 1924: 69-186). Auch einige der geschichtskundlichen Vorlagen des Romans hat er eruiert (vgl. ebd.: 5369). Demnach griff Immermann u.a. auf Mösers PATRIOTISCHE PHANTASIEN (17741786) zurück. Tacitus’ GERMANIA findet sich im Roman direkt zitiert und auch ein

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Zitate aus Karl Lebrecht Immermann: Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken, hg. von Hans-Joachim Piechotta, Frankfurt am Main 1984 werden im Haupttext in Klammern nachgewiesen.

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Reisender, der bei den »Primitiven« in Afrika war, François Le Vaillant, wird erwähnt (201). Teils arbeitet Immermann ganze Passagen aus solchen Texten in den eigenen Text ein. So bereitet er die Schilderung des Oberhofs vor mit einem langen, markierten und mit Quellenangabe versehenen Zitat aus Kindlingers MÜNSTERISCHEN BEYTRÄGEN: »›Westfalen bestund aus einzelnen Höfen, deren jeder seinen eigentümlichen und freien Besitzer hatte. Mehrere solcher Höfe machten eine Bauerschaft aus, die gewöhnlich den Namen des ältesten und vornehmsten Hofes führte. […]‹ Diese Stelle aus Kindlingers ›Münsterischen Beiträgen‹ führt uns auf den Schauplatz der Handlung. Sie verdeutlicht uns den Helden der letzteren, den Hofschulzen. Er war der Besitzer eines der größten und reichsten Haupt- oder Oberhöfe, welche in den dortigen Gegenden, freilich jetzt bis zu geringer Anzahl zusammengeschmolzen, liegen. Über diese uralten Wehren freier Männer ist der Atem der Zeiten markenverrückend und rechtetilgend hingefahren. Die anfängliche germanische Genossenschaft, in welche jeder nur eintrat, Leibes und Lebens sicher zu werden, nicht, Leib und Leben zu verlieren, ist längst zerstört. [...] Aber es ist etwas Merkwürdiges um die ersten Stammerinnerungen.« (148f.)

An den »jahrtausendalten Erinnerungen« nämlich könne wieder »eine Gestalt erwachsen, wie unser Hofschulze, eine Gestalt, deren Geltung zwar von den Mächten der Gegenwart nicht anerkannt wird, welche aber für sich selbst und bei ihresgleichen einen längst verschwundenen Zustand auf einige Zeit wiederherstellt.« (150) Das primitivistische Wahrnehmungsmuster tritt deutlich hervor: Der Oberhofbauer selbst wird dem Leser als ein Überrest des Altgermanischen vorgestellt, als ein »Ueberbleibsel der ältern Verfassung«, wie Kindlinger die »Bauerrichter« seiner Zeit genannt hatte – mit Tylor könnte man sagen: als ein »Überlebsel«, denn dieses Relikt ist lebendig. »Er ist ein rechter uralter freier Bauer im ganzen Sinne des Worts«, so wird er durch den Jäger Oswald, eine andere Figur des Romans, charakterisiert. Nachdem er das einschlägige Kapitel der GERMANIA zitiert hat, beschreibt der Jäger den Hofschulzen weiter als einen urzeitlichen Patriarchen: »›Colunt discreti ac diversi, ut fons, ut campus, ut nemus placuit.‹ Darum ist denn auch so ein einzelner Hof ein kleiner Staat für sich, rund abgeschlossen, und der Herr darin so gut König als der König auf dem Throne« (173). Auch den Begriff des Primitiven legt Immermann seiner Figur in den Mund: »Ich glaube, daß man diese Art Menschen nur noch hier finden kann, wo eben das zerstreute Wohnen und die altsassische Hartnäckigkeit, nebst dem Mangel großer Städte den primitiven Charakter Germanias aufrechterhalten hat.« (174) Im Mittelpunkt dieser primitivistischen Imagination steht die bereits erwähnte Form der genossenschaftlichen Konfliktbeilegung, die hier allerdings nicht in die vorkarolingische Zeit zurückverfolgt wird. Mit seiner Abhandlung VOM DEM FAUSTRECHTE (1770) hatte Möser das mittelalterliche Femegericht im 18. Jahrhun-

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dert wieder bekannt gemacht. Immermann hatte dazu die einschlägige Arbeit Paul Wigands DAS FEMGERICHT WESTFALENS studiert. Neueren rechtsgeschichtlichen Arbeiten zufolge ist diese Form der Gerichtsbarkeit im 8. Jahrhundert im Gefolge der Sachsenkriege Karls des Großen entstanden. Seit dem frühen 13. Jahrhundert wurden die westfälischen Freigerichte mit dem Wort »Feme« in Verbindung gebracht. Nachdem es zum Ende des 15. Jahrhundert hin in Verruf geraten war und vielfach geächtet wurde, konnte das Femegericht nur noch im Verborgenen abgehalten werden. Anfang des 19. Jahrhunderts hat seine Kompetenz sich auf Wald-, Feld- und Dorfstreitigkeiten verengt (vgl. Lück 1997: 172-178). Immermann lässt den Hofschulzen erzählen, Karl der Große selbst habe diese besondere Art des Gerichts nach der Eroberung des sächsischen Stammesgebiets eingeführt. Als sichtbares Zeichen seiner Legitimität präsentiert er ein Schwert, das sein Vorfahre vom Kaiser persönlich erhalten habe: »Und ich sage und behaupte, daß es das echte und aufrichtige Schwert Caroli Magni ist, womit er hier auf dem Oberhofe den Freistuhl gesetzet und eingerichtet hat. Und das Schwert wirket und vollbringet noch heutzutage sein Amt, obgleich davon nicht weiter geredet werden darf.« (145) Wie der Hofschulze, so ist also auch das besagte Schwert ein Überrest der fernen Vergangenheit, Immermann gebraucht das Wort »Überbleibsel« (146). Wie sein Besitzer so ist auch dieses Relikt in besonderer Weise gegenwärtig: obgleich »seit tausend und mehreren Jahren beim Oberhofe aufbewahrt« noch immer »in voller Kraft und Gewalt« (175). In einem Rückblick erfährt der Leser, dass einer, der den Sohn des Hofschulzen in Notwehr erschlagen hatte, tatsächlich durch dieses Gericht »verfeimt und geächtet« (651) wurde, ganz so wie es bei Möser beschrieben steht (vgl. Möser 1965 [1780]: 71): »Wir taten keinem was zuleide, sondern gingen nur nicht mit dem Ungerechten und Frevelhaften um, wenn wir ihn in die Feime gesetzt hatten« – eine hoch wirksame Form der Sanktion: Es entstand »weit größere Furcht dieserhalb unter den Leuten als vor Urteil und Gefängnis« (738). Die Zeitfremdheit dieses Vorgangs wird mit Nachdruck hervorgehoben. Dass solches im 19. Jahrhundert noch möglich ist, versetzt die Zeitgenossen des Hofschulzen, die trotz aller »Heimlichkeit« am Ende doch davon erfahren, in Erstaunen: »Man verwunderte sich, daß ein Uraltes, längst Verschollenes sich wie eine unabhängige Macht im Staate hatte hinstellen können.« (734) Dem 19. Jahrhundert ganz und gar fremd ist das Femegericht demnach, weil im Prozess der Etatisierung die Rechtsgewalt zu einem Monopol des Staats geworden war und jede Form der Selbsthilfe darum als rechtswidrig gelten musste. Der Roman berührt damit jenen Konflikt zwischen staatlicher Bürokratie und lokaler Selbstverwaltung, der in vielen Teilen Deutschlands die Auseinandersetzungen des folgenden Jahrzehnts bestimmen und zu einem Thema der Dorfgeschichten werden sollte. Auch deshalb beriefen deren Verfasser sich auf Immermann.

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In besonderem Maße hat sie offenbar die Hauptfigur des Oberhofteils fasziniert. Ihren letzten Auftritt hat sie im fünften Kapitel des achten Buchs »Worin der Hofschulze seine letzte Rede über allerhand wichtige Gegenstände hält«. Er zeichnet des Idealbild einer Gesellschaft genossenschaftlich verbundener Hausväter: »Ein Fürst wäre jeder bei sich zu Hause und mit seinesgleichen« (740). Mit der literarischen Gegenstandswahl war also auch ein politischer Einsatz verbunden und innerhalb der Bauernepik eine politische Differenz: Während die vormärzlichen Erzählungen vom Dorf progressive Perspektiven auf eine egalitäre, demokratisch verfasste Gesellschaft entwerfen, lässt Immermann den Helden seiner Hofgeschichte die konservative Vision eines korporativ gegliederten Ständestaats vertreten. In der Forderung nach freiheitlicher Selbstregierung stimmte man jedoch überein. Noch Eugen Wohlhaupter vertrat die Auffassung, der Schriftsteller habe in dieser Rede »ein geistiges und ethisches Vermächtnis für sein Volk [niedergelegt]«, sie bezeuge den »Wille[n] zu echter germanischer Freiheit« (Wohlhaupter 1955: 433, 437). Diese Lesweise ist im Roman vorgebildet: Wie der Richter so hört auch der häufig als alter ego des Autors gedeutete Diakonus der Rede des Hofschulzen zu, und zwar »tiefbewegt« (741). Mit folgenden Worten wird der Held, über den Niedergang des Freistuhls getröstet, aus der Erzählung entlassen: »Habt Ihr nicht in Euch und mit Euren Freunden das Wort der Selbständigkeit gefunden? Das ist die heimliche Losung, an der Ihr Euch erkennt, und die Euch nicht genommen werden kann. [...] Eure Freiheit, Eure Männlichkeit, eure eisenfeste Natur, Ihr alter, großer, gewaltiger Mensch, das ist das wahre Schwert Karls des Großen, für des Diebes Hand unantastbar!« (741)

Diese Losung blieb auch für jene Schriftsteller gültig, die in den 1840er Jahren mit ihren Dorfgeschichten für das Recht auf gemeindliche Selbstverwaltung eintraten und die Rede des Hofschulzen wohl ebenfalls mit tiefer Bewegung gelesen hatten. Auerbauch, der wie Immermanns Diakonus seine Hoffnungen in »das unsterbliche Volk« (200) und die »Vollkraft der Selbständigkeit« (Auerbach 2014c [1846]: 132) setzte, wollte in seinen Geschichten »starke bewußte Männer« (Auerbach 2014b [1843]: 255) darstellen. In BEFEHLERLES hat er den Hofschulzen in der Figur des Buchmaier nachgebildet, der sich wie jener durch die Bürgertugend der Selbständigkeit hervortut, indem er die Dorfbewohner im Konflikt mit der staatlichen Verwaltung anführt (s. dazu Twellmann 2012). Offenkundig vernachlässigt diese emphatische, zur Identifikation neigende Leseweise einen Aspekt des Romans, den erst die neuere Forschung hervorgehoben hat. Es handelt sich bei diesem Text nicht nur in literarhistorischer Hinsicht um eine Erscheinung des Übergangs. »Gegenwärtig leben wir in einem Übergange von der subjektiven zur objektiven Periode« (Immermann 1973 [1840]: 375), so hat Immermann seine Zeit gedeutet: »Wir müssen durch das Romantische [...] hindurch in

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das realistisch-pragmatische Element.« (ebd.: 498) Dem entspricht die Anlage seines Doppelromans: Der Münchhausenteil bietet eine satirische Kritik des Zeitgeists, die deutlich der romantischen Poetik verpflichtet ist. Der Oberhofteil weist auf den Realismus voraus, insofern er sich im Anschluss an die Tradition der Idylle der zeitgenössischen Wirklichkeit annähert und das Leben der bäuerlichen Landbevölkerung in einer bestimmten Region beschreibt. Das »Luftschloß des Münchhausenschen Nihilismus«, so hat der Verfasser selber formuliert, steht somit in einem Spannungsverhältnis zum »respectabeln Realismus und Positivismus« (Immermann 1979 [1838]: 836) des andern Teils. In dem Maße wie die Distanzierung von der Romantik sich in den 1840er Jahren verstärkte, wurde diese Spannung zugunsten der Oberhoferzählung zunehmend einseitig aufgelöst. Dieser Teil wurde bald auch abgespalten und gesondert publiziert. Vernachlässigt wurde dabei, dass es sich auch bei der vermeintlich realistischen Hälfte um eine »Arabeskengeschichte« (150) handelt, obwohl dies dem Leser gleich im Anschluss an die historiographische, Wahrhaftigkeit signalisierende Eröffnung des Schauplatzes ausdrücklich in Erinnerung gerufen wird. Die Arabeske ist als eine Technik der unmerklichen Verfugung und Überblendung kontrastierender Darstellungsmodi beschrieben worden, die zu einer Relativierung vorgegebener Weltbilder führe. Demnach stehen die Romanteile in einem Verhältnis der wechselseitigen Abhängigkeit, das eine innere Ambivalenz in jeder der Hälften hervortreibt (vgl. Oesterle 1994: 229). Mit einer romantisch geschulten Reflexivität der poetischen Form ist also auch im Oberhofteil zu rechnen. Tatsächlich findet sich hier ein zur Idealisierung des Helden und seiner rechtlichen Selbsthilfe gegenläufiges Element. Der Leser wird Zeuge, wie der Hofschulze einen Notar durch die Überlassung einer Amphore – der Notar ist ebenfalls ein »Sammler« von »Altertümer[n]« (141) – dazu bringt, die Echtheit des Schwerts und damit die Legitimität seiner staatlich nicht anerkannten Rechtsgewalt wider besseres Wissen urkundlich zu bestätigen. Zweifel erregt auch die Vermutung des Jägers, »dass der Flamberg kaum ein paar hundert Jahre alt sein könne« (175). Jene zeremoniellen Handlungen, die von den Bauern am Freistuhl gemäß den »Sitten und Gebräuchen der Väter« (677) vollzogen werden, sind aus seiner Sicht gar nur »Possen« (688) und »Hokuspokus« (677). Ist das vermeintlich »Uralte« damit nicht diskreditiert? Nach Ansicht Günter Oesterles wird im Verlauf der Erzählung »der selbstsichere respektable, realistische Oberhofschulze Zug um Zug ins Wanken gebracht; seine gesamte gesicherte patriarchalische Ordnung erweist sich als schwankend, problematisch, unglaubwürdig, als ein einziges auf einer Lüge basierendes, von Gewalttätigkeit nicht freies Gebäude« (Oesterle 1994: 231) – was der Autor im Erstdruck des MÜNCHHAUSEN angemerkt hat, gilt offenbar noch immer: »Die mir bis jetzt bekannt gewordenen Leser dieses Werkes teilen sich in solche, welche den Münchhausen, und in solche, welche den Hofschulzen mögen.« (Immermann 1977: 852) Nicht anders als die zum Realismus neigende löst auch die der Romantik verbunde-

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ne Lesart die konstitutive Spannung im Inneren des Romans einseitig auf, nun zugunsten des Münchhausenteils: als habe Immermann auch mit der Oberhoferzählung die zeitgenössische Tendenz zum realistischen Positivismus einer satirischen Kritik unterziehen wollen. In diesem Sinne bemerkt auch Markus Fauser, der Hofschulze sei »nicht der bessere Münchhausen, sondern eine weitere (be-)trügerische Gestalt dieser Figur.« (Fauser 1999: 284) Mit Rücksicht auf den historischen Kontext hatte Rudolf Brandmeyer zuvor schon einmal den Ansatz zu einer weniger einseitigen Deutung formuliert: Immermann schreibe »aus einer ästhetischen Nähe zu konservativen Reaktionsbildungen« und bemühe sich dabei um eine »Diagnose der literarisch-intellektuellen Kultur« (Brandmeyer 1982: 86) seiner Zeit. Dieser Deutungsansatz erlaubt es, auch die literarische Bezugnahme auf geschichtskundliche Diskurse und Praktiken genauer zu bestimmen. Teil der literarisch-intellektuellen Kultur jener Zeit war das primitivistische Wahrnehmungsmuster, und auch dazu steht Immermann in einem ästhetischen Nahverhältnis, das ein diagnostisches Interesse nicht ausschließt. Anders als der erste Anschein vermuten lässt, partizipiert er am primitivistisch Imaginären nicht distanzlos. Das lässt sich zunächst am Umgang mit historischen Quellen zeigen. Indem er nicht nur den Narrator aus Kindlingers BEITRÄGEN, sondern auch eine Figur aus Tacitus’ GERMANIA zitieren lässt, macht er die erzählerisch praktizierte Bezugnahme zum Gegenstand des Erzählens. Eine Distanznahme ist zudem hinsichtlich geschichtskundlicher Praktiken festzustellen: Das literarisch vorinformierte Reisen wird ebenfalls thematisch. Mit dem Jäger Oswald wird ein belesener Adeliger vorgeführt, der aus Schwaben kommend als Reisender in Westfalen unterwegs ist, wo er auf den Hofschulzen trifft und diesen, Tacitus im Sinn, als einen »uralten freien Bauern« erkennt. Wie Brandmeyer mit Blick auf das 19. Jahrhundert treffend bemerkt, ist die »Identifizierung westfälischer Bauern als Relikte germanischer Zeiten […] für die Haltung literarisch gebildeter Kreise gegenüber dem ›Volk‹ charakteristisch.« (Brandmeyer 1982: 109) Zu diesen Kreisen gehört der Richter, dem das Geheimnis des Freistuhls offenbart wird. Der Leser wird informiert, dass er »sich viel mit historischen Studien beschäftigte, und die fanden hier reichliche Nahrung« (734). Ähnliches könnte wohl über Karl Immermann gesagt werden; auch er hängt dem Primitivismus seiner Zeit an, bringt ihn zugleich aber auch zur Darstellung. Erzählt wird nicht zuletzt von jenen »antiquarischen« (146) oder, wie der Sprachpurismus des 19. Jahrhundert wollte, »altertumskundlichen« Praktiken des Ausgrabens und Sammelns solcher Dinge wie Schwerter und Amphoren, Mauerreste, Ruinen und Inschriftensteine, die einer Echtheitskritik unterzogen und ggf. als Zeugnisse der Vergangenheit betrachtet wurden. Immermann beschreibt damit eben jene im Zeitalter der Renaissance aufgekommenen Wissenspraktiken, die zur Einbeziehung der Sachüberlieferung in die Geschichtsforschung geführt hatten und mit einer Reflexion über die Bedeutung von materiellen Überresten verbunden waren (s. dazu Momigliano 1955). Hatten die Antiquare der Renaissance sich mit Schrift-

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und Sachzeugnissen vor allem der Römer befasst, um aus der Antike Normen und Werte für die Gegenwart abzuleiten, erlebte im deutschsprachigen Raum nach den antinapoleonischen Kriegen eine patriotische, mit den Zeugnissen der »vaterländischen« oder »nationalen«, nicht-römischen Vergangenheit befasste Altertumskunde einen starken Aufschwung. Den Italienern verdankten die deutschen Forscher also nicht nur die Überlieferung ihres wichtigsten Quellentextes, der taciteischen GERMANIA, sondern auch Techniken der Erschließung vergangener Sachkultur. Zu Immermanns Zeit wurde der Antiquarianismus noch vorwiegend von Laien geübt, wie dem Romanleser in Gestalt des »Sammler[s]« (141) einer begegnet: Von Beruf Notar, betreibt er das Sammeln als »Liebhaberei« (144). Eine professionelle »Germanische« bzw. »Deutsche Altertumskunde« (s. dazu Beck 1998) formierte sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts erst allmählich. Allerdings nahm das dilettierende Sammeln außerhalb der Universitäten in einer rasch wachsenden Zahl von geschichtskundlichen Vereinen bereits eine institutionelle Form an, so im 1824 gegründeten »Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens«. Das verbreitete Interesse an Antiquitäten hatte durchaus eine politische Relevanz (vgl. Kunz 2000: 62). Was es zur Imagination einer deutschen Nation beitrug, verdeutlicht Immermann indem er seine Figuren über den wahren Schauplatz der Hermannschlacht streiten lässt – über die Bedeutung dieser Frage ist man sich einig: »Auf der Hermannschlacht beruht das gesamte deutsche Wesen.« (144) Dass all diese Aspekte der literarisch-intellektuellen Kultur jener Zeit humorvoll geschildert werden, ist nicht zu übersehen: Der Knochenfund des Notars etwa zeugt am Ende nicht von jenem hoch bedeutenden Schlachtfeld, sondern von einem »Schindanger« (144), ist mithin so wenig echt wie das angebliche Schwert Karls des Großen. Darin eine Diskreditierung politisch relevanter Geschichtsbilder zu sehen, liegt nahe. Doch wird der Antiquarianismus nicht verlacht. Vielmehr rückt Immermann ihn als ein Element der zeitgenössischen Kultur in den Blick, dessen Wirkung durchaus eine Würdigung erfährt. Dass vermeintlich Uraltes nicht immer echt ist, auch Unechtes aber durchaus gesellschaftlich wirksam sein kann, war seinen Quellen zu entnehmen. Vieles übernommen hat er von Wigand, der unterstreicht, »dass sich das Besondere der Femgerichte […] nur in Westphalen erhielt« (Wigand 1825: 279), und berichtet, zu Gemen im Münsterland werde noch immer ein jährliches Freigericht abgehalten. Auch das umstrittene Rechtssymbol und die damit verbundene Gründungserzählung stammen aus dieser Quelle: Nach Wigand haben die Gemener Freischöffen »noch die mündliche Tradition, daß Karl der Große der erste Gründer ihres Gerichts sey, und das breite Schwert, worauf sie bei der Ablegung des Eides […] ihre Finger legten, wird von ihnen Kaiser Karls Degen genannt.« (ebd.: 525) Dass dieser Kaiser das Femgericht eingesetzt habe, sei im ganzen Mittelalter bis in die neueste Zeit die vorherrschende Meinung gewesen (vgl. ebd.: 9). Der Historiker stellt jedoch klar, dass es sich dabei um ein von Gelehrten für Zwecke der Legitimationsbeschaffung erfundenes »Mährchen« (ebd.:

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10) handelt, um eine »Sage«, die gleichwohl aber »heilig und ehrwürdig« (ebd.: 13) sei. Er betrachtet diese Erzählung, mit anderen Worten, als einen Gründungsmythos. Als einen solchen bringt Immermann sie in MÜNCHHAUSEN auch zur Darstellung, und nicht nur das. Der Roman beschreibt außerdem die historische Situation, in der eine solche Erzählung aufgeboten wird, um eine nicht anerkannte Praxis zu rechtfertigen. Immermann lässt den Hofschulzen seine historisch interessierten Zuhörer – als Stellvertreter der Leser – am Ende auch darüber in Kenntnis setzen, wie es tatsächlich vor kurzem erst zur Einrichtung des Femgerichts kam: Denn die vermeintlich uralte Praxis der rechtlichen Selbsthilfe ist dieser zweiten Erzählung, dem Geständnis des Hofschulzen, zufolge nicht seit Jahrhunderten kontinuierlich geübt worden. Vielmehr ist »diese alte heimliche Sache« (737) erst wieder belebt worden, als »die Herren kamen, die sich auf die Schreiberei verstehen und auf das Besserwissen als Leute, welche die Sache angeht« (736). Erst dann taten die »Nachbarn« innerhalb der »Gemarkung« (737) sich zusammen, um ihre Streitigkeiten unter Umgehung der staatlichen Justiz – »wenige Prozesse wurden in das Amt getragen« (738) – selbst beizulegen. Sehr bald nämlich war der Hofschulze zu dem Schluss gekommen, »daß die Herren von der Schreiberei da draußen uns Bauern eigentlich wenig hülfen und das auch eigentlich nicht wollten, sondern nur schreiben« (737), um sich zu bereichern. Diese zweite Erzählung handelt von einem revival des »Uralten«, einer Wiederbelebung genossenschaftlicher Konfliktbeilegung, die auf das Vordringen der staatlichen Bürokratie reagiert. Zu ihrer Rechtfertigung berufen der Hofschulze und die Seinigen sich auf eine Tradition, die nicht gerade als eine »erfundene« zu begreifen ist, aber doch wohl als eine »imaginierte« (s. dazu Ranger 1993: 81f.). Im Vorfeld des Realismus, so lässt sich zusammenfassend sagen, entfaltet Immermanns Roman aus dem romantischen Formenrepertoire schöpfend eine poetische Reflexivität, die über das eigene Erzählen hinaus die »Geschichtskultur« seiner Zeit erfasst und den »Sitz« des historischen Denkens, aber auch historischer Praktiken und Einbildungen »im Leben« (Rüsen 1992: 39) aufzeigt. Insbesondere erhellt er die Funktion primitivistischer Imaginationen, denen in den europäischen Gesellschaften, die zum Zeitpunkt seines Erscheinens in eine heiße Phase ihrer politischen Geschichte eintraten, aber auch in Nordamerika schon bald große Bedeutung zukommen sollte.

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Heidegger light: Granit der Heimat, Vorschein der Dinge im Dorf Zu einem Phantasma in der Heimat-Literatur der 1930er und 1940er Jahre (erläutert im Umfeld von Imma von Bodmershofs Roman Die Rosse des Urban Roithner) N ORMAN K ASPER Harmonie ist eine Strategie. TOCOTRONIC/KAPITULATION

I. H EIMAT

UND

N ATURGESCHICHTE : E IN P ROBLEMAUFRISS

Die künstlerische Geste einer Versöhnung von Mensch und Natur hat es in der Moderne schwer. In der Tradition einer an Adorno geschulten Ästhetik, die das Kunstwerk auffordert, die Bruchstückhaftigkeit der Empirie zum Gegenstand der künstlerischen Darstellung zu machen, wirkt jeder Versuch, Kunst als Natur erscheinen zu lassen, im besten Fall antiquiert (›organisches Kunstwerk‹). Im schlechtesten Fall steht ein solcher Versuch hingegen unter Ideologieverdacht. (Vgl. Bürger 1974: 105) Besonders ideologieverdächtig muss in dieser Perspektive eine Literatur erscheinen, die nicht nur ihre Künstlichkeit kaschieren will, sondern zudem auch in inhaltlicher Hinsicht eine Versöhnung von Mensch und Natur behauptet. Der Verdacht der (Spät-)Moderne gegen die versöhnende Harmonie in der Kunst richtet sich demnach nicht nur gegen einen darstellungsästhetischen Harmonismus; auch das Einrücken des Menschen in eine natürliche, kulturindifferente Ordnung wird kritisiert. Zu offensichtlich ist es doch, dass derartige Entkulturalisierungen einem Biologismus das Wort reden, wie er wohl am widerlichsten in der sog. ›Blut-undBoden‹-Literatur der 1920er bis 1940er Jahre gestaltet wurde. (Vgl. Ketelsen 1976)

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»Primitivismus«, »Elementarismus« oder »Terrismus« (Mecklenburg 1986: 6470) zeichnen jedoch nicht nur völkische Heimatdichtungen dieser Zeit aus; »interessant und zu wenig beachtet sind gerade primitivistische Romane außerhalb der konservativen und ›völkischen‹ Literatur.« (Ebd.: 98, Hervorhebungen im Original) Norbert Mecklenburg hat eine ganze Reihe dieser Romane in das literaturgeschichtliche Bewußtsein geholt (vgl. ebd.: 105-110) und – besonders an Hermann Brochs BERGROMAN (vgl. ebd.: 129-179) – gezeigt, wie weitmaschig sich das diskursive Netz eines literarischen Regionalismus abseits (prä-)faschistischer Biologismen spannen lässt. Die dabei von Mecklenburg als Kriterien trivialer Heimatdichtung veranschlagten Indikatoren »Enthistorisierung« und »Natureinbettung« (ebd.: 55) werden in neuester Zeit allerdings nicht mehr literaturkritisch akzentuiert, sondern ideenhistoriographisch ausgewertet. Im Mittelpunkt steht hier die Frage nach den wissensgeschichtlichen Voraussetzungen, Heimat als unhistorischen Naturraum behandeln zu können. In Gregor Streims umfassender Studie zum antianthropozentrischen und antigeschichtlichen Denken in der deutschen Literatur der 1930er bis 1950er Jahre etwa entspricht der Abkehr von der Geschichte eine Hinwendung zu kosmologischen oder planetarischen Ganzheitskonzepten sowie eine Parallelisierung von Mensch und Natur bzw. eine Naturalisierung – nicht jedoch zwangsläufig: Animalisierung – des Menschen. (Vgl. Streim 2008) Eine besonders interessante Spielart dieser Einrückung des Humanen in eine als ›natürliche Ordnung‹ apostrophierte Kosmologie besteht darin, den Menschen als (späten) Teil der Naturgeschichte zu betrachten. Streim macht besonders im Umfeld der KOLONNE-Autoren darauf aufmerksam, in welchem Maße hier der menschliche Aktions- und Betrachtungsradius zugunsten großraumperiodischer erdgeschichtlicher Entwicklungen relativiert werde. Diese Relativierung führt jedoch nicht zu einer völligen Randständigkeit des Menschen, zu seiner »›geologische[n] Kränkung‹« (Schnyder 2013: 76) in dem Sinne, dass er als Gattungswesen unter der vom Standpunkt der Erdgeschichte indizierten ›späten Geburt‹ leiden würde, im Gegenteil: Eingebunden in eine »Seinstotalität«, die »Natur und Bewusstsein nicht gegeneinander ausspielt« (Streim 2008: 111), weiß sich der Mensch, so könnte man sagen, als Glied einer evolutions- und erdgeschichtlich umgedeuteten ›Großen Kette des Seins‹ aufgehoben. Dabei wird der Kontinuitätsgedanke, der die ältere ›scala naturae‹ prägt (vgl. Lovejoy 1936), beibehalten, nur: Während diese im Himmel ihren Anfang nahm, ist es jetzt die Erde, der diese Rolle zukommt. Es ist nicht mehr der Gesang der himmlischen Heerscharen, der erklingt und dem Sterblichen seinen gesicherten Platz in der Seinskette zuweist; das neue Motto lautet – nach Stefan Georges Aufforderung in DAS NEUE REICH (1928) –: »Horch was die dumpfe erde spricht«! (George 2001: 103) Mit der Entstehung der anorganischen Materie, die den Erdboden strukturiert, bleibt der Mensch gleichsam in einen Entwicklungszusammenhang gestellt. Die Metaphysik von oben wird auf diesem Weg durch eine Metaphysik von unten ersetzt.

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Ich möchte diese naturphilosophische Versöhnung von Mensch und Natur an Imma von Bodmershofs (1895-1982) DIE ROSSE DES URBAN ROITHNER (1943/44/50) präzisieren. Dieser Roman ist ein gutes Beispiel für die Imagination eines Versöhnungszusammenhanges, der in der Vermittlung von Individuum, dörflich-heimatlicher Gemeinschaft und Natur zeitgenössische Umwelt- und Existenzkonzepte diskutiert, die den Menschen als Teil einer umfassenderen Ganzheit präsentieren. Die Rede von der Natur meint dabei zweierlei. Zum einen geht es um Natur als Heimat, genauer gesagt: um das niederösterreichische Waldviertel. Dieser Lokalbezug zeigt Natur im Spiegel ihrer sozial und habituell vermittelten Aneignung, wie sie die imaginierte dörfliche Lebensgemeinschaft praktiziert. Der bäuerliche Hof ist jedoch nicht nur eine soziale Lebensform, sondern – und da kommt die zweite Bedeutung der Rede von der Natur ins Spiel – Teil einer erdgeschichtlichen Entwicklung. Heimat wird damit zur angeeigneten historischen Geologie. In dem Maße, in dem der Mensch in der heimatlichen Gemeinschaft seinen festen Platz im Kosmos erhält und als solchen reflektiert, bekommt er auch zu der ihn umgebenden Natur – man kann auch sagen: seiner Umwelt – ein privilegiertes Verhältnis. Ich möchte Umwelt hier im Anschluss an Jakob Johann von Uexküll (1864-1944) als Teil des menschlichen Lebensraumes – nicht als ein Gegenüberstehendes – verstehen: Natur ereignet sich für den Menschen demnach als Teil einer ihn mit einbeziehenden Umwelt. Ein solches Umweltverständnis beeinflusst nicht nur Fragen der Naturerkenntnis, etwa indem es gängige Subjekt-Objekt-Dualismen entkräftet. Es arbeitet auch ganz maßgeblich am Verständnis von ›Existenz‹ und ›Sein‹ mit, am Verständnis von Begriffen also, die ab den 1920er Jahren zweifelsohne eine wichtige Rolle im Rahmen der kulturellen Selbstverständigung angesichts weitverbreiteter Krisendiagnosen spielen.1

II. »[D] IESES F LUTEN WAR DAS L EBEN «. H ARMONISCHER V ITALISMUS IN VON B ODMERSHOFS D IE R OSSE DES U RBAN R OITHNER Die 1943 sowie 1944 zum Druck vorbereiteten, jedoch durch die Kriegsereignisse erst 1950 in Wien veröffentlichten ROSSE DES URBAN ROITHNER sind in allererster Linie ein österreichischer Heimatroman – und kein natur- oder existenzphilosophisches Traktat. Als ein solches soll der Text hier auch gar nicht prätendiert werden.

1

Vgl. zum existentialanthropologischen Denken der 1930er bis 1950er Jahre ausführlich Streim (2008: 11-87). Vgl. zur Rhetorik der Krise in der Weimarer Republik: Graf (2005), Föllmer/Graf/Leo (2005).

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Ein kurzer Blick auf die intellektuelle Biographie der Autorin kann jedoch deutlich machen, dass sich eine Verortung im Deutungshorizont der bisher skizzierten Problemlinie dennoch empfiehlt. Imma von Bodmershof ist die Tochter des Begründers der Gestalttheorie, Christian von Ehrenfels (1859-1932). Sie studierte in Prag und München Philosophie, Kunstgeschichte und Graphologie. Ehe sie ab 1925 mit Wilhelm von Bodmershof das Gut Rastbach im niederösterreichischen Waldviertel bewirtschaftete, war sie bis 1916 mit dem Hölderlinforscher und Mitglied des George-Kreises Norbert von Hellingrath (1888-1916) verlobt. (Vgl. [Art.] von Bodmershof 1968: 655) Von Hellingrath lieferte mit einer Arbeit zu den PINDARÜBERTRAGUNGEN VON HÖLDERLIN (1911), mehr noch mit seiner Edition des dichterischen Spätwerks (1914) die Grundlage für die Hölderlinrenaissance der Folgejahre. Im Briefwechsel mit von Bodmershof reflektiert Martin Heidegger (1889-1976) die enorme Bedeutung, die von Hellingraths Beschäftigung mit Hölderlin nicht zuletzt auch für seinen eigenen Zugang zu dem Dichter hatte. Ab Mitte der 1930er Jahre – zum gleichen Zeitpunkt etwa als von Bodmershofs schriftstellerische Karriere beginnt – setzt sich Heidegger in einer Reihe von Vorlesungen, Reden und Aufsätzen mit Hölderlin auseinander. Ich werde darauf zu sprechen kommen (vgl. Kap. V.). An dieser Stelle ist zunächst folgendes wichtig: Trotz des mitunter doch recht devoten Tons, den von Bodmershof in ihren Briefen an Heidegger in den Jahren von 1959 bis 1976 anschlägt, kann man davon ausgehen, dass sie sowohl mit den Grundlinien seines Werks wie überhaupt mit den Eckpunkten der ideengeschichtlichen Diskussionslage der 1920er und 1930er Jahre, die im Schnittpunkt von philosophischer Anthropologie, geschichtlicher Erkenntniskritik und Seinsdenken die Rolle des Menschen in der Welt neu zu bestimmen sucht, vertraut war. Ein genauerer Blick auf DIE ROSSE DES URBAN ROITHNER soll diese Vermutung bestätigen. Im Mittelpunkt des Buches steht Urban Roithner, der Knecht beim sog. »Hummelbauern« ist. Er verliebt sich in dessen Tochter Barbara und übernimmt mit ihr den »Dürrnhof« abseits des Dorfes. Um den Erwerb dieses Hofes finanzieren zu können, arbeitet er nicht nur hart und nimmt einen Kredit auf, er lässt sich auch auf krumme Pferde-Geschäfte mit »Zigeunern« ein, wird von der Polizei geschnappt, kommt jedoch wieder frei – und arbeitet erneut wie ein Besessener. Das alles letztendlich nur, um seine Frau bei der Geburt des gemeinsamen dritten Kindes zu verlieren. Am Ende stürzt Roithner mit seinen heißgeliebten Rossen einen bergigen Abhang hinunter. – War es ein Unfall? War es Selbstmord? Es ist nicht dieser hier arg verkürzt wiedergegebene Plot, der Interesse verdient. Interessant sind vielmehr jene Schilderungen des Verhältnisses von dörflicher Lebensgemeinschaft und Natur, von Mensch und Tier, die weite Teile des Romans bestimmen. Bereits in von Bodmershofs Erstling DER ZWEITE SOMMER (1937) zeigt sich jene Allianz von Natur und Mensch in Ansätzen, die im Anorganischen den Ursprung und Bezugspunkt des Lebens ausmacht.

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»Sonne griff über die steingrauen Bergwände, hob in mählich sich wandelnder Bewegung immer Neues in ihr Strahlen, senkte Schatten in Schlünde und Klüfte, so daß sie klar gezeichnet zu eigener Gestalt erwachten. Licht drang durch das Geäst der Zirben bis zu Stamm und Wurzelgrund, durchhellte das Wasser des Bergsees, daß es durchsichtig grün und klar wie flüssige Luft über dem kiesigen Grunde schwebte, wellenlos und dennoch von zarten Strömen und Wirbeln wie von Spannungen eines geheimen Lebens bewegt. Karin fühlte sich in dieses Geschehen einbezogen. Druck und Spannung der letzten Tage waren gelöst, doch nicht bloß in Ruhe, sondern in wirkende Sammlung […] Es war ihr, als empfände sie so die Kraft von Erde und Fels. Aufsteigende Erdkraft, wie das Sonnenlicht tief in die Blutbahnen einstrahlend.« (Bodmershof 1937: 17)

Die Parallelisierung menschlicher Befindlichkeiten mit nichtmenschlichen Qualitäten und das Eingebundensein in ›natürliche‹ Abläufe stellt eine weit verbreitete Denkfigur im Heimat-Roman der 1920er bis 1950er Jahre dar. Gegenüber Autoren, die – wie etwa Horst Lange in SCHWARZE WEIDE (1937) – das menschliche Triebleben in symbolisch-schicksalhaft konturierten Naturabläufen spiegeln, geht es bei von Bodmershof von Anfang an um eine Art Gesundungsprozess. Dieser umfasst zwei Dimensionen. Kerstin, die Protagonistin ihres ersten Romans, fühlt sich als Teil der Natur in das geschilderte »Geschehen einbezogen«. Aus dieser Bezüglichkeit ergibt sich auch die allerdings im Konjunktiv vorgetragene Fähigkeit, an der »Kraft von Erde und Fels« teilhaben und damit eine Art anorganisches Reservoir anzapfen zu können. Natur erscheint innerhalb ihres Romandebüts im mythologischen Urzustand – eine Bergkette präsentiert sich als »[b]lauschwarze Herde eines urzeitigen Gottes« (ebd.: 21) – oder wird als erdgeschichtlich vergangene Formation imaginiert (»Alles Kleine ist weggelöscht, Gestalt nur die großen Linien von Berg und Tal, schwarze Schatten, blaue Lichtfelder. Urlandschaft.«; Ebd.: 30). Selbst die »Bienen«, heißt es, »scheinen vielmehr an die Urzeit zu glauben, da sie freie, wilde Schwärme waren.« (Ebd.: 42) Dieser Duktus wird in DIE ROSSE DES URBAN ROITHNER aufgenommen, wobei gegenüber der metaphorischen und faktischen Imagination eines Urzustandes in DER ZWEITE SOMMER die Rolle des Menschen als Teil einer ›natürlichen Ordnung‹ stärker herausgearbeitet wird. Diese Tendenz wird bereits in der 1939 vorgelegten Erzählung DIE STADT IN FLANDERN deutlich. Von Bodmershof beschreibt hier »die Position des Menschen im 20. Jh., dessen Ort jene Stadt ist, die durch Versandung den Anschluß ans Meer und damit an die Natur verloren hat.« (Scholl 1989: 50) DIE ROSSE DES URBAN ROITHNER stellen diesen Anschluss gleichsam wieder her. Erst die Einordnung der eigenen biographischen Situation in den Jahreszeitenzyklus und die Kontinuität der Naturabläufe, so kann man von der Protagonistin Barbara, Roithners Frau, lernen, schützt vor Zukunftsangst. Als die Schwangere

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von der Feldarbeit ausruht, wird ihr jene »wirkende Sammlung« möglich, die der Erzähler im Vorgängerroman bereits Kerstin zuteil werden ließ. »Wenn Barbara so bei der Arbeit die Knie nachgaben oder wenn der Bert zu arg in ihr rumorte, dann mußte sie öfters eine Weile am Feldrain rasten. Salbei stand dort, hohes Zittergras und Pechnelke. Barbara sah nahe vor sich die Farben, das starke Violett der Salbei mit ihren Blüten wie Raubtierköpfe und die leuchtende Farbe des Abendrots an den Nelken über den glänzenden Pechstreifen ihrer Stiele. Sie sah die schwarzen Zicklein gegeneinanderspringen oder schmatzend, mit wollüstig zusammengekniffenen Äuglein, am Euter der Mutter hängen […] Manchmal blieb Barbara etwas länger so sitzen, die Hände im Schoß, als es nötig gewesen wäre. Sie dachte an nichts Bestimmtes, aber sie spürte den Sommer und das Wachsen ringsum wie eine ungeheure steigende Flut. Sie selbst und das Kind waren wie eine Welle in dieser Flut, die kam aus der Unendlichkeit und ging in eine unendlich fraglose Zukunft, und dieses Fluten war das Leben und war gut.« (Bodmershof 1950: 197)

Im Bild von der Flut des Lebens geht es nicht um die Affirmation eines triebhaften Vitalismus, wie sie unterschiedliche Spielarten der Lebensphilosophie im ersten Jahrhundertviertel auch und gerade im literarischen Gewand entwerfen. (Vgl. Martens 1971) ›Leben‹ wird weder anthropozentrisch oder auf den Bereich des Organischen begrenzt verstanden, noch dient die Indifferenz von Anorganischem und Organischem einer Beseelung der Natur (vgl. Fick 1993). Ein so verstandenes Leben kommt aus der Unendlichkeit der Entstehungsgeschichte des Planeten und es schreitet in eine unendliche – sich einer Verzeitigung nach den Maßstäben menschlicher Vorstellungsfähigkeit sperrenden – Zukunft weiter. Indem Barbara sich ihrer Rolle als schwangerer Frau auf diese Weise versichert, meidet sie bewusst soziale oder psychologische Verortungen ihrer Situation. Die Gründe dafür sind nicht schwer auszumachen. Sozial ist sie isoliert. Nach ihrem Umzug auf den Dürrnhof hat ihr Vater den Kontakt abgebrochen, das sichere familiäre Umfeld fehlt; zudem ist Urban Roithner viel unterwegs, um die entstehende Familie ernähren zu können, so dass sich bei Barbara schnell das Gefühl des Verlassenseins einstellt. Die Verortung der eigenen Lebenssituation innerhalb eines a-sozialen Entwicklungsmusters stellt identitätsstiftende Kohärenz her, wo zunächst Unordnung und unsichere Zukunftsaussichten bestanden. Der Rückführung kulturell codierter und das heißt immer auch: den Menschen in der konkreten Situation als Menschen betreffender Praxen auf reine Naturzusammenhänge kommt demnach eine Entlastungsfunktion zu.2

2

Deutlich wird dies auch an der Geburt von Roithners erstem Sohn. Bei der recht unverhofften Niederkunft seiner Frau muss er selbst mit Hand anlegen. Er »versuchte sich […] vorzustellen, wie oft er einer Kuh beim Kalben geholfen hatte und wie das war […] So empfang er sein Kind mit seinen eigenen Händen.« (Bodmershof 1950: 201)

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Diese Entlastung besteht vor allem darin, die von Familie und bäuerlicher Gemeinschaft an die eigene Lebensplanung herangetragenen Vorbehalte zu entkräften. Entlastend soll hier jedoch nicht die argumentative Auseinandersetzung wirken. Barbara entzieht sich dieser vielmehr, indem sie sich in einen a-humanen Zusammenhang imaginiert, der jenseits diskussionsfähiger Soziabilitäts- und Lebensführungsmuster funktioniert. Als Teil – und das heißt eben auch: Objekt – der Natur überantwortet sie sich im Ergebnis einem Prozess, innerhalb dessen ihre Rolle nicht verhandelbar ist. Auf einer Ebene mit der Erd-Natur, in die sie sich einreiht, werden die sie umgebenden ›Dinge‹ in ihrer Eigenständigkeit vernehmbar. Entscheidend ist dieser Vorschein der Dinge insofern, als er deutlich macht, dass Umwelt innerhalb des Romans nicht als Verfügungsmasse eines wahrnehmenden Subjektes erscheint, sondern als das Andere – derselben Natur. Bevor ich einen Blick auf die Auswirkungen werfe, die ein solches Naturverständnis für die Konzeption von Ding-Erkenntnis und ›Sein‹ im Kontext des Romans hat, möchte ich die Kulturalisation der anorganischen Wurzeln des hier präsentierten harmonischen Vitalismus näher untersuchen.

III. K ULTUR

DER

E RDGESCHICHTE – G RANIT

DER

H EIMAT

Die innerhalb des Romans häufig aufgerufenen Glimmer und Quarz sind neben Feldspat Bestandteile einer Gesteinsart, die das niederösterreichische Waldviertel prägt wie keine zweite: Granit. Dieser bildet nicht nur an vielen Stellen das Gesicht der Erdoberfläche; entscheidend ist vielmehr, dass mit seiner Entstehung die Entstehung der Erde als festem Körper verbunden wird. Das grobkristalline Tiefengestein, das, wie man heute weiß, magmatischen Ursprungs ist, lässt sich demnach als Anfangspunkt der Imaginationsgeschichte einer menschliche Teilhabe am erdgeschichtlichen Entwicklungsprozess begreifen. Bereits Goethes Skizzen ÜBER DEN GRANIT (1784/1878), die – darauf hat Gregor Streim hingewiesen – in der KOLONNE 1930 wiederabgedruckt wurden, (vgl. Streim 2008: 112) widmen dieser Gesteinsart einen besonderen Platz in der Erdgeschichte. (Vgl. Engelhardt 2003: 83117) Goethe spricht vom »Urgebürge« (Goethe 1987: 507), von den »ältesten würdigsten Denkmäler[n] der Zeit«. (Ebd.: 505) Imma von Bodmershof knüpft hier inhaltlich – aber auch dem Ton nach – an. Deutlich wird dies, wenn man ihr spätes poetisches Heimatportrait MOHN UND GRANIT. VOM WALDVIERTEL (1976) als poetologische Selbstauskunft und damit auch als Kommentar zu ihren früheren Romanen liest. Granit kommt in dem mit sieben Holzschnitten von Franz Traunfellner (19131986) illustrierten Text die Rolle eines »Urgestein[s]« (Bodmershof 1976: 8) zu. Es geht von Bodmershof – darin Goethe vergleichbar – nicht um eine nüchterne geolo-

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gische Bestandsaufnahme, sondern darum, in der Unverfügbarkeit und Ursprünglichkeit des erdgeschichtlichen Beginns einen besonderen Einfluss auf den Menschen auszumachen. In DER ZWEITE SOMMER lässt von Bodmershof Karin die »[a]ufsteigende Erdkraft« (Bodmershof 1937: 17) empfinden. Dies ist sichtlich an Goethe angelehnt, der – auf dem Granit ruhend – »die innern anziehenden und bewegenden Kräfte der Erde gleichsam unmittelbar« (Goethe 1987: 505) auf sich wirken lässt. In von Bodmershofs Heimatportrait verbindet sich die Wirkung des Steins mit seiner besonderen Mitteilungsfähigkeit. Es ist, schreibt sie, »als spräche das Gestein sich selbst wortlos aus« (Bodmershof 1976: 41): »Das Geheimnis des Anfangs berührt der Fuß hier, denn das Urgestein wurde als erstes auf der Erde, und als späte Gäste nur trägt es Pflanze und Tier.« (Ebd.: 42) Der Mensch – so muss man wohl hinzufügen – ist in erdgeschichtlicher Hinsicht ein noch späterer Gast. Jedenfalls ist das der Grundtenor in den 1930er Jahren. Bei Karl Jaspers (18831969) etwa, der Klarheit über DIE GEISTIGE SITUATION DER ZEIT (1931) schaffen will, heißt es: »Was den Menschen zum Menschen machte, liegt vor der überlieferten Geschichte […] Bereitung und Verwendung des Feuers, Sprache, Überwindung der geschlechtlichen Eifersucht zur Männerkameradschaft in der Begründung beständiger Gesellschaft hoben den Menschen aus der Tierwelt. Gegenüber den Hunderttausenden von Jahren, in denen uns unzugänglich diese entscheidenden Schritte zum Menschsein getan sein mochten, nimmt die uns anschauliche Geschichte von etwa 6000 Jahren einen winzigen Zeitraum ein.« (Jaspers 1947: 15)

Diese »anschauliche Geschichte« ist bei Jaspers gekennzeichnet durch eine »nirgends Halt machende Rationalität«, die »Subjektivität des Selbstseins« – eine Auszeichnung des menschlichen Wesens als »Persönlichkeit« –, sowie die Unhintergehbarkeit der Welt als »faktische[r] Wirklichkeit in der Zeit«. (Ebd.: 15/16) Unüberhörbar ist der kulturpessimistische Grundton Jaspers’. Die Einrückung des Menschen in die ›ungeschichtliche Naturgeschichte‹, wie sie bei von Bodmershof beobachtet werden kann, lässt sich als Antwort auf eine solch großraumperiodisch begründete Zivilisations- und Fortschrittskritik verstehen. Der Relativierung der menschlichen, geschichtlich geprägten Perspektive auf den Kosmos entspricht eine Aufwertung der naturgeschichtlichen Verfasstheit des Menschen. Damit wird nicht mehr die – technische oder hermeneutische – Verfügungsgewalt des Menschen in den Mittelpunkt gerückt, seine Fähigkeit zur Selbst- und Weltauslegung. Er selbst – erst seit 6000 Jahren geschichtliches Wesen – steht vielmehr am Rand kosmologischer Gesamtzusammenhänge. Die durch seine kurze Geschichtlichkeit konstituierten Bewertungs- und Rationalitätsmaßstäbe können aus diesem Grund auch keinesfalls die Richtschnur für die Bestimmung von ›Existenz‹ von dem als übergeordnet und überlegen inszenierten Standpunkt erdgeschichtlicher Abläufe bilden. Dass diese Randständigkeit des Menschen nicht zu einer generellen Abwertung des Huma-

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nen führt, dazu leistet der Heimat-Roman einen wichtigen Beitrag. Sein Holismus, der Erdgeschichte und Anthropologie miteinander verknüpft, wirkt integrativ: Stein, Pflanze, Tier und Mensch bilden eine Totalität des Seins, die die von Jaspers diagnostizierten menschlichen Ursprünge »Selbstsein« und »Rationalität« – »aus denen er [der abendländische Mensch, N.K.] die Wirklichkeit täuschungslos erkennt und zu bemeistern versucht« (ebd.: 16) – entkräftet. Kehren wir zu Goethe zurück. Sein besonderer Naturzugang, wie er ihm durch das Erlebnis des Granits ermöglicht wurde, verbindet sich mit einer fingierten, zeitraffenden Reminiszenz an die Abläufe erdgeschichtlicher Entwicklungsstufen. Einzelne sichtbare Gesteinsformationen werden dabei in frühere Erdzeitalter zurückversetzt.3 Sowohl Goethes narrativem Präsentationsmodus als auch der inhaltlichen Konkretisierung ist von Bodmershof – teilweise bis in den Wortlaut hinein – verpflichtet. Unerheblich erscheint es dabei, dass Goethes Neptunismus stillschweigend ad acta gelegt und durch einen veritablen, jedoch gänzlich unrevolutionären Vulkanismus ersetzt wird. »Erste Geburt aus dem glühenden Fluß des Magma ist all dieses Gestein. Nicht ergab es sich gleich der Erstarrung, lange währte das Drängen und Schieben des urmächtigen Gebärens. Niemand sah es, kein Auge war damals noch auf der Erde geboren […] Erdzeitalter gingen darüber hin […] Die Lüfte der Jahrmillionen aber begannen ihr Werk […] Wir können Jahrmillionen nicht mehr verstehen, unsere Zahlen greifen nicht mehr, wo sie herankommen an Urgezeiten. Unbegreifbar wie die Zeiten, in der abgelebte Schalen der Muscheln am Grund des Meeres sich zu Bergen häuften.« (Bodmershof 1976: 45f.)

Die Rede von den unzählbaren »Jahrmillionen« und das Beschwören der »Urgezeiten« bildet in die DIE ROSSE DES URBAN ROITHNER die Grundlage für eine Verbindung der erdgeschichtlichen Vergangenheit mit der individuellen Lebenssituation Barbaras. Sie und ihr ungeborenes Kind – »wie eine Welle in dieser Flut« des Lebens, »die kam aus der Unendlichkeit und ging in eine unendlich fraglose Zukunft« (Bodmershof 1950: 197) – erscheinen von der Erzählinstanz eingerückt in die Erdgeschichte. »Unendlichkeit« als quantitative Zeitdimension taucht dabei in der Rede

3

»Diese Klippe sage ich zu mir selber stand schroffer zackiger höher in die Wolken da dieser Gipfel, noch als eine meerumfloßne Insel, in den alten Wassern dastand; um sie sauste der Geist, der über den Wogen brütete, und in ihrem weiten Schoße die höheren Berge aus den Trümmern des Urgebürges und aus ihren Trümmern und den Resten der eigenen Bewohner die späteren und ferneren Berge sich bildeten. Schon fängt das Moos zuerst sich zu erzeugen an schon bewegen sich seltner die schaligen Bewohner des Meeres es senkt sich das Wasser die höhern Berge werden grün, es fängt alles an von Leben zu wimmeln – –«. (Goethe 1987: 506, Zeichensetzung im Original)

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von der »unendlich fraglosen Zukunft« als qualitative Eigenschaft eines gesicherten Lebens auf. Dieses Verfahren verdeutlicht, in welchem Maße der Text daran arbeitet, ein gelingendes Leben als Produkt einer besonderen Art der Genealogisierung plausibel zu machen. Es mag auf den ersten Blick überraschen, dass diese erdgeschichtliche Betrachtungsweise an die dörfliche Heimat gebunden ist, ja erst innerhalb einer solchen Bestätigung erfährt. Eine Parallelisierung von Goethe und von Bodmershof hilft beim Verständnis dieses Zusammenhangs, soviel steht fest, nicht weiter, denn Goethes emphatische Erkenntnis der Natur angesichts des Granits kommt – Ilmenauer Bergwerk hin, Harz-Reisen her (vgl. Engelhardt 2003: 17-48) – ganz ohne Heimatgefühle aus. Die Topographien, so möchte man im Rahmen einer grundsätzlichen Betrachtung meinen, sind allzu unterschiedlich codiert, um aufeinander zu verweisen oder gar auseinander entwickelt werden zu können: hier – mit Blick auf die Geschichte der Erde – der Versuch, eine menschlicher Wahrnehmung und Zeitempfindung entzogene Erdoberflächenentwicklung zum Bezugspunkt anthropologischer Bestimmung im Zeichen eines anorganischen Ursprungs zu machen, dort – mit Blick auf die dörfliche Heimat – ein individualisierter, intimer, von der persönlichen Wahrnehmungsgeschichte nicht zu trennender Ort. Wie passt das zusammen? Der Roman misst freilich der bäuerlichen Lebensform einen eigenständigen Erkenntniswert zu: Erst im habitualisierten Umgang mit der Natur, den die dörfliche Lebensgemeinschaft bietet, kann der Mensch sich als Teil jener natürlichnaturgesetzlichen Ordnung imaginieren, die sowohl jedem rein geologisch und das heißt: wissenschaftlich Interessierten als auch an die geschmacksästhetische Taxierung der Natur als Landschaft gewöhnten Städter einigermaßen suspekt erscheinen muss. Heimat ist also in dieser Hinsicht gelebte Erdgeschichte; sozusagen in der Natur als Natur konstituierter Sozialraum, der seine kulturelle Herkunft beharrlich negiert, oder, anders herum formuliert, seine erdgeschichtlichen Entstehungsbedingungen kulturalisiert. Diese chiastische Verknüpfung – Natur als kultureller Faktor, Kultur als Natur – wird deutlicher, wenn man auf das zeitgenössisch einflussreiche Umwelt-Konzept in der Ausarbeitung von Jakob Johann von Uexküll blickt.

IV. D ING -E RKENNTNIS IN DER U MWELT GUTE ATMOSPHÄRE IM D ORF

ODER :

Jedes Tier konstituiert nach Uexküll Umwelt als artspezifische Wahrnehmungsform; es nimmt die Wirkungen der Außenwelt auf und es kann Gegenwirkungen ausüben. Die Dinge dieser Außenwelt haben für jede Tierart einen anderen Erlebniston. Der Mensch verfügt nach Uexküll ebenfalls über eine Umwelt. (Vgl. Uexküll/Kriszat 1970: 6-27) In dem Maße, wie sich der Mensch eingesteht, dass er

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selbst zur Natur gehört, kann er diese nicht mehr als ein von ihm geschiedenes Gegenüber behandeln. Sie ist dann nicht mehr jenes in naturwissenschaftliche Verfügungsgewalt zu bringende Objekt, dem er als forschendes Subjekt fragend gegenübersteht. Uexkülls Umwelt-Konzept wendet sich, wie er schreibt, gegen das »hässliche Phantom der Atomwelt« (Uexküll 1913: 1091), das, um es mit Goethe zu sagen, etwas »hinter den Phänomenen« sucht und damit außer Acht lässt, so Uexküll weiter, in welchem Maße »diese Welt als unsere Umwelt ein lebendiger Teil unserer selbst ist, den wir nicht entwerten können, ohne selbst zu verarmen«. (Ebd.) Die Einsicht in die unteilbare Einheit der Umwelt erscheint in dieser Perspektive als Rettung ihrer erscheinenden Objekthaftigkeit vor dem mikroskopisch-sezierenden Blick. Die gerettete Objekthaftigkeit, die sich der Mensch – ungeschieden von seiner Umwelt – erarbeitet, muss jedoch teuer bezahlt werden. Ihr Preis ist die prinzipielle Welt- sowie Deutungsoffenheit und damit die Befähigung (oder Verdammung) zu Distanz und Reflexion, wie sie die philosophischen Anthropologien nach Max Scheler (1874-1928), Helmuth Plessner (1892-1985) und Arnold Gehlen (1904-1976) dem Menschen im Gegensatz zum umweltgebundenen Tier je unterschiedlich zuschreiben. Natur-Erkenntnis vom Standpunkt der Biologie Uexküllschen Zuschnitts lässt sich weniger als variable und auch kulturell konditionierte Praxis verstehen, sondern vielmehr als faktische Bestätigung phänomenalistischer Qualitäten unserer, wie Uexküll schreibt, »eigene[n] farbige[n], tönende[n], duftende[n] Umwelt«. (Ebd.) Die Wahrnehmungs-Natur des Menschen soll ihm gleichsam zu seiner Wissenschafts-Kultur werden. Um die Erkenntnis des Menschen, die diesen Uexküll – und wie wir sehen werden in vergleichbarem Maße auch von Bodmershof – in einer so verstandenen Umwelt machen lässt, besser beschreiben zu können, empfiehlt es sich, auf das Konzept der ›Atmosphäre‹ im Anschluss an Gernot Böhme zurückzugreifen. Er entwickelt dieses im Rahmen einer breit angelegten Ästhetisierung – genauer gesagt: Aisthetisierung – der Ökologie, (vgl. Böhme 1985, Böhme 1989, Böhme 1995, Böhme 2002) um ein Herausstehen und In-Wahrnehmungsnähe-Gelangen der Dinge der Natur zu beschreiben, das deren Widerfahrnis-Charakter betont. Damit das Verhältnis zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem nicht in die bipolare Spannung einer Subjekt-Objekt-Beziehung gezwängt werden muss, nutzt Böhme den von Hermann Schmitz geprägten Begriff der ›Atmosphäre‹. Solche ›Atmosphären‹ sind, wie Böhme mit Schmitz sagt, »›quasi-objektiv‹« (Böhme 1989: 11). Sie beschreiben also nicht nur eine subjektive Wahrnehmungsqualität, sondern immer auch eine Qualität dessen, was da wahrgenommen wird. »Wenn Wahrnehmung das sinnliche Sichbefinden in Umgebungen ist«, formuliert Böhme, »dann stellt der Wahrnehmende nicht nur quasi aus außerweltlicher Position fest, was in seiner Umgebung passiert, er wird vielmehr durch den Zustand seiner Umgebung affektiv be-

258 | NORMAN K ASPER troffen und wird einer so und so beschaffenen Umgebung in seiner Befindlichkeit bewusst.« (Ebd.: 10)

Böhme nutzt den Ausdruck ›Atmosphäre‹, um einer Deutung seines Wahrnehmungsbegriffes vorzubeugen, die in diesem nichts weiter als eine »erweiterte Rezeptionsästhetik«, mithin die »Verkürzung einer subjektzentrierten Philosophie« (ebd.) ausmacht. Gegenüber einer solchen Lesart argumentiert Böhme, dass »Modi subjektiver Sinnesarbeit […] schon eine affektive Betroffenheit durch die Umgebung« (ebd.) voraussetzen würden. Und an diesem Punkt kommt die Natur ins Spiel. Sie ist diejenige Instanz, die – indem sie der Wahrnehmung vorausgeht – schon immer da ist, jedoch nicht schon immer heraussteht. Diese Ekstasen, das Herausstehen der Dinge der Natur, bedürfen einer affektiven Betroffenheit. Es geht demnach um die »leiblich-sinnliche Erfahrung, die ein Mensch macht, der in einem bestimmten Naturstück sich befindet, wohnt, arbeitet, sich bewegt.« (Ebd.: 12) Das Wohnen und Arbeiten scheint mir dabei wichtiger zu sein als das temporäre SichBefinden, denn erst in der Habitualisierung der Atmosphäre lässt sich die Umwelt als jener Erfahrungsraum konstituieren, der sich vom Erfahrenden nicht trennen lässt. Deutlich wird die Bedeutung einer solchen Habitualisierung des Atmosphärischen für eine Ekstase der Dinge an der Szene des Romans, die Barbaras schrittweises Ankommen auf dem »Dürrnhof« schildert. Die Lösung von ihrem Vater, dem Hummelbauern, fiel ihr zunächst schwer, nicht zuletzt deshalb, da dieser kein Verständnis für Urban Roithners Plan aufbrachte, den »Dürrnhof« zu übernehmen und sich damit von seinem Knechtstatus zu emanzipieren. Doch Barbara erarbeitet sich die neue Umgebung – man kann hier auch von Umwelt im Sinne Uexkülls sprechen – regelrecht. »Es war um diese Zeit [Herbst, N.K.], als für Barbara die Veränderung kam. Die Arbeit ging ihr wieder leicht von der Hand, der Hummelhof rückte wieder fort hinter die Hügel, und sie mußte nicht mehr an ihn denken am Morgen und am Abend. Sie mochte den Dürrnhof und auch die Felder herum jetzt gern, es gingen die verschlossenen Türen auf, und sie fand sich zu Hause. Sie begann und endete die Tage, die Urban fort war, ganz still nach ihrer eigenen Art, und sie schienen ihr nicht mehr verloren. Es war ein neues Alleinsein, und da ihr kein Mensch in Aug und Ohr stand, fand sie näher zu den Dingen, und sie bekamen ein junges und starkes Recht.« (Bodmershof 1950: 145)

Dieses Finden zu den Dingen in ihrer Eigenmächtigkeit und Eigenwertigkeit wird als Prozess verstanden, als Anforderung an eine bäuerlich-asketische Lebensführung mit und in der Natur. Eine so verstandene Natur lässt sich nicht überrumpeln, sie lässt sich von keinem etwas entlocken, der ihr nicht korrespondiert. Der Mensch muss sich demnach erst selbst als Teil von ihr erweisen, »um der Dinge[..] […]

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junges und starkes Recht« erfahren zu können. Will man die Ekstasen der Dinge genauer bestimmen, so kann man sich auch hier an Gernot Böhme halten. Es muss dann darum gehen, wie Böhme sagt, »die bisherigen Kategorien von Dinglichkeit als Ekstasen zu reinterpretieren oder als verdinglichte Ekstasen zu erweisen.« (Böhme 1995: 168, Hervorhebung im Original; vgl. auch Schmitz 1998) Besondere Aufmerksamkeit kommt hier der Lokalität zu, und man kann mit dem Hinweis auf von Bodmershofs Roman hinzufügen: der Beziehung, die die Dinge im Raum zueinander haben. In dem Text geht es ja nicht um die Dinge an sich, um unterschiedliche Gesteinsformationen, Böden, Pflanzen, Tiere oder Bauern, sondern um die Umwelten, in denen sie bedeutsam werden, in denen sie sich erfahren lassen, sich zeigen – und das ist, so will es der Roman von Bodmershofs im Anschluss an die phänomenalistisch-ganzheitliche Naturkonzeption Uexkülls, die Heimat. Das Erleben der Umwelt Uexküllschen Zuschnitts lässt »verdinglichte Ekstasen« (Böhme 1995: 168, Hervorhebung im Original) entstehen. In philosophiegeschichtlicher Hinsicht stecken hinter dieser Denkfigur die für die 1930er und 1940er Jahre durchaus typische Entbindung der Phänomenologie von einem bewusstseinsanalytischen Fokus und eine phänomenologische Öffnung hin zur Ontologie. Damit sind wir bei Heidegger.

V. »D IE N ATUR WEST AN «: V ON B ODMERSHOF H EIDEGGERS H ÖLDERLIN -L EKTÜREN

UND

Imma von Bodmershof und Martin Heidegger lernten sich 1959 im Umfeld der Münchener Tagung der Hölderlin-Gesellschaft kennen. Heidegger sprach dort zu HÖLDERLINS ERDE UND HIMMEL (Heidegger 1981a). Das im Mittelpunkt seiner Deutung stehende Gedicht, die Hymne GRIECHENLAND, gehört zu jenem Spätwerk des Dichters, das von Bodmershofs Verlobter Norbert von Hellingrath, der 1916 im Ersten Weltkrieg fiel, durch die von ihm besorgte Ausgabe ins öffentliche Bewußtsein gebracht hatte. Noch in seinen späten Briefen an von Bodmershof erwähnt Heidegger »Norberts IV. Band«, der – »Sie wissen es« – »stets neben mir« (Heidegger/von Bodmershof 2000: 143) liegt. Heideggers intensive Beschäftigung mit Hölderlin beginnt in den 1930er Jahren. Sie ist ganz der Lesart verpflichtet, die der 1914 als vierter Band der historischkritischen Ausgabe von Hölderlins SÄMTLICHEN WERKEN und ein im Umfeld der BLÄTTER FÜR DIE KUNST erschienener Sonderdruck nahelegen: Hölderlin als geistiger Fixstern in prosaischen – wahlweise als positivistisch oder rationalistisch gescholtenen – Zeiten. Von Hellingrath spricht von »Herz, Kern und Gipfel des Hölderlinschen Werkes«, vom »eigentliche[n] Vermächtnis« (von Hellingrath 1923: XI), das nun zugänglich sei. Der Dichter erscheint im Portrait des geistesgeschicht-

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lich orientierten Philologen – und darin wird ihm eine ganze Generation folgen – als vaterländischer Seher, der sich mustergültig heidnisches und romantischchristliches Erbe anzuverwandeln weiß, ohne in literaturgeschichtlicher Hinsicht einseitig als Klassiker oder Romantiker vereinnahmt werden zu können. Von »Verkündung« und »der Gestalt des Verkünders« ist mit Blick auf den Dichter die Rede. Der Leser habe mit dieser Ausgabe nun endlich die Möglichkeit, »selber jenen ›Gipfel der Zeit‹ zu betreten, den Hölderlin erreicht oder errichtet, von dem aus sich ihm seine Überschau über die Welt eröffnet hat.« (Ebd.: XIV, Hervorhebung im Original). Dass Heideggers Hölderlin-Lektüren – trotz aller innerwerkgeschichtlichen Finessen, die man im Detail geltend machen kann – grundsätzlich in dieser Rezeptionstradition zu verorten sind, steht lange fest (vgl. z.B. Safranski 1993: 328338): Denn wenn jemand berufen scheint, Hölderlin auf die zeitenthobenen Erkenntnis-Gipfel Hellingraths zu folgen, so doch wohl der Meßkircher Philosoph. Es überrascht denn auch nicht, dass von Bodmershof Heidegger – anlässlich der 1959 erfolgten Übersendung des raren Sonderdrucks der Hölderlin-Edition Hellingraths – retrospektiv zu jenen zählt, die ein intellektuelles Anrecht auf die exklusive Erstveröffentlichung als Zeichen geistiger Komplizenschaft mit George, Gundolf, Wolfskehl und Co. geltend machen können. So gesehen hätte der Text eigentlich, schreibt von Bodmershof, »seit 45 Jahren in Ihren Händen sein« (Heidegger/von Bodmershof 2000: 20) müssen. Worin sich von Bodmershof und Heidegger einig sind – dies zeigt der Briefwechsel deutlich –, ist zunächst ein elitärer Kulturpessimismus. Diesen kann man auch als Ausgangspunkt für den Vergleich beider in den 1930er und 1940er Jahren nehmen. Im Kern möchte ich drei Aspekte ansprechen, die es mir sinnvoll erscheinen lassen, von Bodmershof und Heidegger miteinander ins Gespräch zu bringen. Eine besondere Spielart des bereits angesprochenen Kulturpessimismus ist sicherlich die Zivilisations- und Technikkritik. Diese bildet nicht nur die Folie, vor der Heideggers Hölderlin in bisher ungeahnte Seins-Höhen aufsteigen darf, sie ist freilich auch die Grundlage für die Primitivismen und Terrismen der Heimat-Literatur dieses Zeitraums. In einem zweiten Punkt treffen sich die beiden hinsichtlich eines ausgeprägten Heimatbewusstseins. Die enge Bindung, die von Bodmershof an das österreichische Waldviertel hat, dürfte bisher deutlich geworden sein. Heideggers Hölderlin-Bezug steht unter vergleichbarem Stern: Sein Interesse an Hölderlins DER ISTER etwa gilt nicht nur dem dichterischen Raum, sondern – damit verbunden – auch der Heimatregion, die er mit dem großen Dichter teilt. Meßkirch kann man freilich nicht direkt an der Donau finden, jedoch die Herkunftsgegend des Philosophen, die Heimat von Heideggers Großvater, das nordwestlich von Meßkirch gelegene Beuron. Heidegger wird diese Heimat und die Hölderlins – die Gegend entlang der oberen Donau – zu einer mythischen Geographie, die Familien-, Literaturund Ideengeschichtliches zusammenblendet (vgl. Denker 2004, Safranski 1993: 16/17, Pöggeler, 1992: 27, Heidegger/von Bodmershof 2000: 19/23). Drittens tref-

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fen sich beide in dem, was ich bisher als ›Vorschein der Dinge‹ diskutiert habe. Mit Blick auf von Bodmershof ging es darum, zu zeigen, dass der sich in die Erdgeschichte einstellende Mensch »näher zu den Dingen« findet. Diese bekommen dadurch ein »junges und starkes Recht« (von Bodmershof 1950: 145) im Sinne von Uexkülls phänomenalistisch-holistischer Umwelt-Ontologie; sie machen sich gleichsam in ihrer Eigenwertigkeit geltend. Heidegger arbeitet nach SEIN UND ZEIT (1927) an einem Projekt, das vergleichbar die Eigenwertigkeit eines Entgegenkommenden herausarbeiten möchte: an der sog. »Kehre«. (Vgl. Shin 1993) Hierbei geht es um den Wechsel von einem subjektphilosophisch konturierten Seinsdenken zu einem Denken des Seins als Widerfahrendes. Im Gegensatz zu einer Fundierung des Seins im ›Dasein‹, in der ›Sorge‹ und der ›Existenz‹ des Einzelnen, wird hier das Angegangenwerden von etwas, auch und besonders der Natur, in den Mittelpunkt der Überlegungen gerückt. Hannah Arendt (1906-1975) spricht mit Blick auf Heideggers »Erde« von einem »mythologisierenden Unbegriff[..]«, der einen »naturalistischen Aberglauben« (Arendt 1990: 38) bedinge. Deutlich zeigt sich dieser Aberglauben auch in Heideggers Hölderlin-Bild. In HÖLDERLINS ERDE UND HIMMEL, das die Hymne GRIECHENLAND zum Ausgangspunkt eines ›Gesprächs‹4 mit dem Dichter nimmt, ist das »Abendländische«, »Europa« also, zum »technisch-industrielle[n] Herrschaftsbezirk geworden«; die »Erde« ist Teil jenes »interstellaren kosmischen Raum[es]«, »der zum geplanten Aktionsraum des Menschen bestellt wird« (Heidegger 1981a: 176). Der Mensch selbst, so die kulturpessimistische Diagnose Heideggers, werde von Natur und Erde nicht (mehr) angesprochen, lasse sich nicht mehr ansprechen – ihr Sein ist vergessen. Hölderlins Lyrik nun soll bei Heidegger jenen seinsgeschichtlichen Verwerfungen begegnen, die die radikale Polarisierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses – und das heißt eben auch: die Zurichtung der Dinge – im Rahmen einer allumfassenden Technisierung herbeigeführt hat. Der gekehrte Zugang zum Sein denkt dieses von den Dingen (der Natur und der Erde) her. Bereits in seinem gleichnamigen Vortrag über Hölderlins Gedicht WIE WENN AM FEIERTAGE…, den Heidegger 1939 und 1940 mehrfach hielt, bekommt die Natur des Gedichtes – im Sinne Bodmershofs – ihr »junges und starkes Recht« (von Bodmershof 1950: 145); und wie bei von Bodmershof auch, ist es eine bäuerliche Umwelt, die Aufschluss verspricht.5

4

Vgl. zu den methodischen Implikationen der intendierten Gesprächsform in HÖLDERLINS ERDE UND HIMMEL im Spannungsfeld von Vorannahme und Zuhören, von Frage- und Antworthorizont: Trawny (2004: 33-37).

5

Das bäuerliche Leben ist für Heidegger ein besonderer Ort der Entbergung des Seins. Dieser ist allerdings von den Herausforderungen der Technik, Heidegger spricht hier vom »Gestell«, bedroht: »Ein Landstrich wird […] in der Förderung von Kohle und Erzen

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Den Hölderlinschen »›Landmann‹« – wie das Gedicht bald zeigen wird: einen Winzer – begleitet Heidegger zunächst, indem er die erste Strophe paraphrasiert und zu dem Deutungsergebnis kommt: »Die Frucht und der Mensch sind behütet in der Gunst, die Erde und Himmel durchwaltet und ein Bleibendes gewährt.« (Heidegger 1981b: 51) Noch deutlicher als im späteren HÖLDERLINS ERDE UND HIMMEL wird Natur in WIE WENN AM FEIERTAGE… – in all ihren Erscheinungsformen – als ›Geschick‹, als Zukommendes deutlich, das der Mensch, im Gedicht konkret: der Dichter, lediglich empfängt, welches sich jedoch nicht herstellen lässt. In der dem Menschen wesenhaft entgegenkommenden Natur lässt sich unschwer jene Allianz von Organischem und Unorganischem ausmachen, die bei von Bodmershof zu einer Geologisierung der menschlichen Existenzvorstellungen führt: »Was Hölderlin hier noch ›Natur‹ nennt, durchstimmt das ganze Gedicht bis in sein letztes Wort. Die Natur ›erziehet‹ die Dichter. Meisterschaft und Lehre können nur etwas ›beibringen‹. Aus sich allein vermögen sie nichts. Ein Anderes muß anders erziehen als menschlicher Eifer zu menschlichem Machen. Die Natur ›erziehet‹ ›wunderbar allgegenwärtig‹. Sie ist in allem wirklichen anwesend. Die Natur west an in Menschenwerk und Völkergeschick, in den Gestirnen und in den Göttern, aber auch in den Steinen, Gewächsen und Tieren, aber auch in den Strömen und in den Wettern. ›Wunderbar‹ ist die Allgegenwart der Natur.« (Heidegger 1981b.: 52, Hervorhebungen N.K.)

Es mag sein, dass Heidegger Hölderlin für sein Seinsdenken recht unhistorisch behandelt; die Kritik daran ist bekannt (vgl. z.B. Schmidt 1995: 112). In dem hier gesetzten Rahmen befindet sich Heidegger jedoch in guter Gesellschaft: Seine Ungeschichtlichkeit ist sozusagen geschichtlich zeittypisch – dies zeigt ein Blick auf von Bodmershof. Ihr geht es gleichfalls um ein nicht in menschlicher oder geschichtlicher Verfügungsgewalt stehendes, sondern umfassendes Sein der Natur. Die wunderbare Allgegenwart, die sich Heidegger bei Hölderlin borgt, um die Natur – also: Steine (Granit?), Pflanzen, Tiere, Ströme (Donau!) und Wetter – ›wesen‹ zu lassen, ist Teil jenes antianthropozentrischen Denkens, das auch der Heimatliteratur der 1930er und 1940er Jahre nicht fremd ist. Mecklenburg spricht mit Blick auf Wilhelm Lehmanns DER PROVINZLÄRM und Brochs BERGROMAN zu Recht von der

herausgefordert. Das Erdreich entbirgt sich jetzt als Kohlerevier, der Boden als Erzlagerstätte. Anders erscheint das Feld, das der Bauer vormals bestellte, wobei bestellen noch hieß: hegen und pflegen. Das bäuerliche Tun fordert den Ackerboden nicht heraus. Im Säen des Korns gibt es die Saat den Wachstumskräften anheim und hütet ihr Gedeihen. Inzwischen ist auch die Feldbestellung in den Sog eines andersgearteten Bestellens geraten, das die Natur stellt. Es stellt sie im Sinne der Herausforderung.« (Heidegger 1962: 14, Hervorhebung im Original)

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Tendenz zur »›Ontologisierung‹« (Mecklenburg 1986: 44), die er – mit Renate Böschenstein-Schäfer – in der Tradition der Idylle verortet. (Vgl. BöschensteinSchäfer 1977: 13) Idylle und Seinserkenntnis sind dabei nicht nur lose miteinander verbunden. Dem Idyllischen kommt vielmehr ein epistemischer Wert zu. Erst dem sich in der Natur, das heißt – harmonisch – innerhalb einer angenommenen Totalität verortenden Blick zeigt sich der Vorschein der Dinge. Bezüglich eines Vorscheins der Dinge in diesem Sinne dürfte es unerheblich sein, ob das Korrespondenzverhältnis, in das sich der Mensch zur Natur setzen möchte, eher – wie bei von Bodmershof – auf dem Weg einer Regression des Humanen ins Erdgeschichtliche hergestellt wird, oder – wie bei Heidegger – über die Auszeichnung eines dem Menschen zugänglichen, jedoch nicht verfügbaren und deshalb gelassen erwarteten Seins. Wichtig allein ist die verbindende Maxime: Vorscheinen müssen die Dinge schon von selbst!

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Eskapismus ins Außerirdische: Das Dorf als post-utopischer Raum in Arno Schmidts KAFF auch Mare Crisium und Jan Brandts Gegen die Welt Auktoriale Selbstinszenierung im Zeichen des Dörflichen J EANINE T USCHLING

Das Dorf als literarischer Topos wird oftmals mit dem Idyllischen in Verbindung gebracht und fungiert somit als eine Folie für utopische Entwürfe des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Spätestens mit der einsetzenden Industrialisierung erscheint es in volkskundlichen ebenso wie in literarischen Texten (Spies 2002) als ein Teil der Welt, der noch in Ordnung ist, wo Nachbarn einander helfen und die Natur noch intakt ist, zugleich aber auch, wie schon in Gottfried Kellers ROMEO UND JULIA AUF DEM DORFE, als eine gefährdete und von innerer Zerrüttung bedrohte Welt. Auch zwei Autoren der jüngeren Literaturgeschichte, Arno Schmidt und Jan Brandt, widersetzen sich der Tendenz zu einer Verklärung der Gemeinschaft und zeigen das Dorf von einer anderen Seite. Arno Schmidts Romane und Erzählungen sind oft in provinziellen Szenerien angesiedelt, zumeist im ländlichen Norddeutschland. Seine Protagonisten sehnen sich nach dem Ländlichen, wie beispielsweise der Landratsbeamte in AUS DEM LEBEN EINES FAUNS, der sich gerne in der Einsamkeit einer Waldlandschaft verliert, oder der landkartenbegeisterte Erzähler aus DAS STEINERNE HERZ, der von der Vermessung des menschenleeren Landes fasziniert ist. Auch die Titel LÄNDLICHE ERZÄHLUNGEN aus KÜHE IN HALBTRAUER, BRAND’S HAIDE und SEELANDSCHAFT MIT POCAHONTAS verraten einen Hang zum Leben in der Abgeschiedenheit des Peripheren. In TINA ODER ÜBER DIE UNSTERBLICHKEIT liest sich dieser Hang zur Weltflucht so:

268 | J EANINE T USCHLING »Was ist demnach das beste Rezept für ein Erdenleben überhaupt, oben wie unten?: ›Aufs Dorf ziehen. Doof sein. Rammeln. Maul halten. Kirche gehen. Wenn n großer Mann in der Nähe auftaucht, in n Stall verschwinden: dahin kommt er kaum nach! Gegen Schreib= und Leseunterricht stimmen; für die Wiederaufrüstung: Atombomben!‹« (Schmidt 1986: 187)

Der Autor selbst teilte diese Vorliebe und zog 1958 mit Frau und Katze nach Bargfeld, ins ländliche Niedersachsen. In einem Brief an Alfred Andersch hatte er zwei Jahre zuvor die Flucht in die Einsamkeit (damals war noch Irland als Ziel im Gespräch) angekündigt: »Nebel, Moore, Wiesen, Wind, Haide [sic], nischt wie Ossian und Joyce, unser Geld verdoppelt sich sofort: wenn der Briefträger mit Prozeßvorladungen oder Einberufungsbefehlen an die Tür klopfen will, kichern wir nur: The Germany kann me furchtbar leckn !!« (zit. n. Fischer/Fischer 2007: 15)

Auch der Städter in Schmidts KAFF AUCH MARE CRISIUM (erschienen 1960) sucht bei seiner Tour aufs Land nach einem Lebensentwurf für sich und seine Partnerin, mit dem sie der Unbill der industrialisierten Städte im wirtschaftlich erholten Deutschland der späten fünfziger Jahre entkommen können. Die Analyse des Romans soll zeigen, wie Arno Schmidt die Idee des Dörflichen als einer utopischen Gegenwelt jedoch ironisch bricht und den utopischen Rest folgerichtig auf den Mond verlagern muss. Jan Brandts vier Dekaden später erschienener Roman GEGEN DIE WELT (2011) ist ebenfalls in der norddeutschen Provinz angesiedelt und auch er lotet die Möglichkeiten und Grenzen des heilen Lebens auf dem Dorf aus. Er ist aus der Perspektive eines Jugendlichen geschildert, der sich – anders als Schmidts Figuren – nicht nach der Flucht aus der Stadt sehnt, sondern im Gegenteil danach, dass endlich etwas passiert. Brandts Buch wurde zu einem Erfolg bei Publikum und Kritik und brachte seinem Autor den Ruf als ernstzunehmende Größe im deutschen Literaturbetrieb der Gegenwart ein. Beide Romane ironisieren die Konzeption des Dorfes als Vehikel positiver Gesellschaftsentwürfe und als Topos literarischer Idylle. Beiden gilt das Dorf in seiner Funktion als Idealform menschlicher Gemeinschaft als problematisch, daher wird es durch Phantasien außerirdischen Lebens transzendiert. Eine solche eher pessimistische Sicht wird bei beiden Autoren zugleich durch die je eigene schriftstellerische Selbstinszenierung konterkariert, in der das Ländliche eine positive Aufwertung erfährt. Im Folgenden sollen daher die Romane von Schmidt und Brandt im Hinblick auf die Inszenierung des Dörflichen analysiert und der Untersuchung des auktorialen Paratexts gegenübergestellt werden.

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L EBEN IM KAFF Arno Schmidts 1960 erschienener Roman KAFF AUCH MARE CRISIUM trägt die Ablehnung des Dörflichen bereits im Titel. Die fünfziger Jahre, die Schmidt einzufangen versucht, sind die Wirtschaftswunderjahre, die zwar auch eine Industrialisierung der Landwirtschaft mit sich bringen, aber eben auch die Kluft zwischen Stadtleben und Landleben größer werden lassen. Der Protagonist und Buchhalter Karl Richter aus der niedersächsischen Kleinstadt Nordhorn1 ist mit seiner Freundin Hertha Theunert, die in der dortigen Textilindustrie beschäftigt ist und Stoffmuster für die neu entdeckten Kunstfaserstoffe entwirft, zu Besuch bei seiner Tante Heete in einem fiktiven Dorf in der Lüneburger Heide. Karl versucht verzweifelt, Hertha dazu zu bringen, sich mit ihm dauerhaft auf dem Land niederzulassen. Es gelingt ihm nur schwer, sie für die karge Schönheit der Natur zu begeistern, da sie diese allenfalls als Vorlage für ihre Stoffmuster begreift und sich bereits in der ersten Szene über die dörfliche Langeweile beklagt: »Weitausgreifende Leiterwagen, voll Schpelt & Granne; [...] Die nackten schwarzknochigen Bäume; anschtatt des Laubs langes Schtroh in den ausgreifenden Ästeh: sie tastete sich den Skizzenblock aus der Tasche, und notierte das Schtoffmuster. [...] Im Hintergrund bauerte’s [...] Hühner. Schwarzgeregnete Bretterwände vor Scheunen. [...] ›Mänsch, iss das lankweilich!‹« (Schmidt 2011: 8ff.)

Richter erzählt Hertha beim Spazieren durch die Heide eine in der Zukunft angesiedelte Weltuntergangsgeschichte, um sie zu unterhalten und durch sein Erzähltalent für sich zu gewinnen. Die Binnenerzählung schildert das Leben nach der atomaren Zerstörung der Erde in einem eskalierten Dritten Weltkrieg und der Ansiedelung der Menschen auf dem Mond. »Und so hatte dann der letzte Krieg angefangn; allegorisch genuck also: daß wegen 1 die ganze Welt in Flammen aufgehen mußte!« (Schmidt 2011: 109) Schmidts Roman ist dabei der erste, der nach dem Umzug des Autors nach Bargfeld erscheint, und er markiert zugleich das Ende der fünfziger Jahre. Schmidt beansprucht in seinen Erläuterungen zum Roman, dass dieser wiedergebe, was in den Deutschen im Jahre 1959 vorgehe (vgl. Schmidt 1988: 545), also nichts weniger als exemplarisch die Befindlichkeit der Nation reflektiert. Und tatsächlich flicht der Held, der als Erzähler in der Erzählung eine Art künstlerisch verdichteter mise-en-abyme der Autorfigur ist, vielfältige

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Einem gewissenhaften Leser und vortrefflichen Sohn dieser Stadt, Knut Langewand, sei an dieser Stelle für wichtige Anregungen zu diesem Artikel von Herzen gedankt. Mein Dank gilt auch der Arno Schmidt Stiftung Bargfeld für die Genehmigung, ausgewählte Fotografien Arno Schmidts in diesem Beitrag abbilden zu dürfen.

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Bezüge zu den damals gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Ereignissen ein. Im Roman werden auch die Orthographie und die Satzzeichen, wie es für Schmidt typisch ist, eingesetzt, um das mündliche Sprechen zu imitieren. Der Erzählfluss der Haupterzählung, die im Deutschland der 1950er Jahre angesiedelt ist, wird gleichmäßig durchsetzt mit der zweiten Erzählebene, die in der Zukunft spielt. Die Flucht aus der Enge des Dörflichen ist also nicht nur zeitlich, sondern auch im Erzählraum spürbar. Von Theoretikern der digitalen Netzliteratur ist wiederholt angeregt worden, dass Schmidt die Erzähltechniken der Hypertextliteratur in seinen Verfahren vorwegnehme. Vor allem sein Roman ZETTEL’S TRAUM wird dafür als Beispiel herangezogen, denn er entstand aus einem von Schmidt so genannten »Zettelkasten«, also aus einem Kasten, in dem einzelne Karteikärtchen mit Textbausteinen und Fragmenten eingeordnet waren, die nachträglich vom Verlag in Buchform gebracht wurden. Zwischen den Einzelteilen des Romans existieren zahlreiche Querverweise und Anschlussstellen, so dass der Leser auch im gedruckten Roman von einer Stelle zur anderen springen kann und soll, da der Text in drei parallelen Spalten gesetzt ist. Die so erreichte Fragmentierung des linearen Erzählflusses nimmt die Erzählmuster der in den 1990er Jahren entstandenen, auf elektronischen Texten beruhenden Computerliteratur vorweg. In digitalen Texten navigiert der Leser von einem Textbaustein zum nächsten, was in den Augen von Theoretikern der Netzliteratur (vgl. Simanowski 2002, Aarseth 1994, Gendolla 2001) zu einer offeneren Semantik der Texte führe. In Arno Schmidts KAFF wird der lineare Erzählfluss durch eine zweite Erzählebene kontinuierlich unterbrochen, so dass die Immersion des Lesers und vielleicht auch der Figuren in die Idylle des Ländlichen immer wieder gestört wird. Der Heidelandschaft in Grau- und Brauntönen stehen die glänzenden, technikgespickten Oberflächen der Raumstation gegenüber, der Hausmannskost die Astronautennahrung, wenn im Roman die Spalten zwar nicht vollständig nebeneinander, aber immerhin in Teilen nebeneinander oder versetzt zueinander gesetzt sind. Im Folgenden sind die beiden Erzählstränge als Erzählebene 1 (E1) und Erzählebene 2 (E2) gekennzeichnet: »[E1:] Der erste Schpatzenruf. Durch den gußeisernen Himmel. (Und immer noch der Rostfleck des Mondes darauf? Einmal, 10 Sekundn lank, war er schon so blaß & glaasich, glas & blasich, gewesen, als schiene der Himmel hindurch.) ›Woß urbert’nn so?‹ […]: ›Na, was wirz sein, Lieplink?: [E2:] ….. die Rackeete. (Sie ließen das Triebwerk erst warm laufn: es klang lieblich und erinnerungx=schwer, wie früher ein Track=torr in ländlichen Be=Circen ….. [E1:] (1 Aha=Kinn nickte kurz)….. [E2:] ….. Schpatzen & Erdgeruch, jaja. / (Aber jetzt rasch ein paar kurz=schwerwiegende Andeutungen. Um die Bullen=hier zu belehren, daß sie Uns=vom=Kongreß nischt vormachen könnt’n. Nur Anschpielung’n …..« (Schmidt 2011: 191)

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Die Landschaftsbeschreibung auf E1 und die geschilderte Wahrnehmung eines Geräusches durch Hertha werden nahtlos in die Beschreibung der Szene im Weltall eingefügt. Die Erinnerung an das Landleben und seine Geräusche wird durch die Protagonisten der in der Zukunft angesiedelten Erzählung romantisch in einen Sirenengesang überhöht. Die Zuordnung des Ausrufs »Schpatzen & Erdgeruch, jaja« zu Erzählebene 2 wird durch das Druckbild nahegelegt, er könnte aber auch zu E1 und Hertha gehören, die langsam von Karls Lobliedern auf das Landleben genervt ist. Den Einwurf, schnell ein paar bedeutungsschwere Andeutungen zu machen, richtet der Erzähler also sowohl an den erzählenden Karl selbst als auch den in einer Gesprächssituation befindlichen Protagonisten aus der Zukunft. Durch die Anspielung auf die Sirenenepisode aus der homerischen Odyssee werden die bereits verschachtelten Erzählräume außerdem auf der intertextuellen Ebene weiter geöffnet, so dass der Kniff, »kurz=schwerwiegende Andeutungen« zu machen, auf mehreren Erzählebenen wirkt und sowohl Hertha, den außerirdischen Zuhörer als auch den tatsächlichen Leser wieder zum Zuhören bringen soll. Die etwas kitschige Beschreibung der nächtlichen Landschaft wird durch den offensichtlich von Karl recht mühselig erhaltenen Erzählfluss und die Durchsichtigkeit seiner zur Schau gestellten Gelehrsamkeit ironisch gebrochen. Im Roman wird der Dünkel des Kleinstädters wie auch seine fast schon naive Überhöhung von Kunst und Literatur wiederholt deutlich, beispielsweise bei einer Schultheateraufführung im Dorfkrug, bei der er sich zunächst den angeblich rohen Dorfbewohnern sehr überlegen fühlt: »Vorn 1 wollüstich fette Schtirn: an der Seite hingen die Ohr wie Lumpn. […] Der Hinterkopf dafür wie abgesägt; […]/Schtarkbehaarte Sassen, Kerls mit untergeschnobenen Nasn: Flotzmäuler« (Schmidt 2011: 69f.). Während der Vorstellung begeistert er sich allerdings plötzlich für die unverdorbene, natürliche Schönheit eines Bauernmädchens: »1 Fünfzehnjärije mit noch weitgehend unbedecktn Augenschternen; das große Lid lag besäumt« (ebd.: 70). Die eher auf sexueller Anziehung basierende Faszination für das Mädchen wird durch die literarische Überhöhung der »Augensterne« keinesfalls unsichtbar. Die den Dorfbewohnern zugeschriebene Wollust, der er selbst hier frönt, muss als romantische Schwärmerei maskiert werden, da man doch etwas auf sich hält. Doch der vermeintlichen Begeisterung für das künstlerische Spiel auf der Bühne ist eine gewisse Peinlichkeit durchaus anzumerken: »[I]ch gab den erstn, lautn, Applaus: ! ! ! / (Erst sahen sich einije der anwesendn Herren Landwirte schtumm an. Dann nach mir=umm. Und als sie erkanntn, daß es sich um jenen wohlgewaxenen Fremdlink handele, der vorhin so vornehm & unzufriedn dreingeblickt hatte, entschlossen sich doch Einije, im feinen Geschmack nicht dahintn zu bleibm.« (Schmidt 2011: 73)

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Die Szene liest sich wie ein prägnantes Beispiel für die von Pierre Bourdieu (1982) beschriebenen »feinen Unterschiede« zwischen der Schicht der städtischen »kleinen« Angestellten und den vermeintlich der Unterschicht zugehörigen Dorfbewohnern. Der Unterschied zwischen Stadt und Land wird also aus der Perspektive des Städters als einer des kulturellen Fortschritts und letztlich der gesellschaftlichen Schicht gesehen. Abgrenzungsbemühungen beider Seiten sind hier deutlich spürbar, wie auch eine gewisse Aggressivität. Dementsprechend skeptisch wird das Dorf in KAFF geschildert, es herrscht keine friedliche Eintracht, die einen Gegenpol zu den Konflikten der Großstadt bieten könnte. Die Dorfgemeinschaft hat bei Schmidt wenig utopisches Potenzial. Das Dorf ist allenfalls ein Ort ohne Menschen, eine Vision, die in KAFF in der Fantasie der unbewohnbaren Erde und des letzten Menschen ausgemalt wird. Doch der Unterschied ist nur ein scheinbarer, denn an der Verrohung des Umgangs miteinander zeigt sich weniger ein Mangel an Bildung und Feinfühligkeit, der dem Provinziellen geschuldet wäre, sondern vielmehr ein Nachhall des Krieges. Die Menschen und die Landschaft sind versehrt, so sind beispielsweise die beiden Frauen während des Krieges vergewaltigt worden. Ohne ein Opfernarrativ zu entwerfen, bilden diese Erfahrungen, über die nicht gesprochen wird, den Hintergrund für die Sehnsucht nach dem friedlichen Leben in der Einöde. »Die Idylle ist eine Idylle des Danach, eine Utopie, die nur durch Dystopie hindurch entsteht.« (Porombka 2005: 88) Wie sich in der Binnenerzählung des Protagonisten der Mikrokosmos des Dorfes im Makrokosmos des Außerirdischen abbildet, spiegelt sich das Leben der Gegenwart in der Erzählung der Zukunft. Auch wenn Schmidts Experimente mit Typografie, Rechtschreibung und einem an die Alltagssprache (bis hin zur Einstreuung von Dialekt-Elementen) angelehnten Sprachstil einen eher laxen Umgang mit der Sprache suggerieren, erschweren sie die Lektüre bewusst und unterlaufen den Anspruch des Erzählers, Hochliteratur produzieren zu wollen. Doch trotz oder wegen dieses Unvermögens offenbart sich in der Sprache des Romans ein Spiel mit Klängen, Lautmalereien und poetischen Kalauern, das sich in einer Ästhetik des Kleinen beschreiben ließe. »Wenn anderswo das Menschenschicksal sich in der Erhabenheit von Berghängen, Sonnenauf- oder -untergängen verliert, so haben wir in Kaff etwas wie eine kosmo-komische Koexistenz, ein jedes versucht, sich ein bißchen Leben an seinem Ort zu behaupten, so gut es geht [...]. Wenn man möchte, kann man darin sogar eine Verbindung einer Ästhetik individualisierender Genauigkeit und einer Moral des Respekts vor dem Kleinsten in einer Ethik der Behutsamkeit erblicken.« (Reemtsma 2006: 16f.)

Diese Genauigkeit ist bei Schmidt auch im Duktus des Schriftstellers als Gelehrtem zu finden, der akribische Werkkenntnis beweist und den Kanon der Hochliteratur aus dem »Effeff« beherrscht (vgl. Rathjen 2009). Dieser Duktus wirkt manchmal beinahe oberlehrerhaft und besserwisserisch. Sicherlich ist hier von Bescheidenheit

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nichts zu spüren, doch gemahnt die Idee, Abbildung 15 und 16: Landschaft dass der Autor möglichst viel Kenntnis und bei Bargfeld, Fotografien von Arno Wissen haben sollte, wiederum an das Mo- Schmidt dell des »poeta doctus«. Das Groteske macht den Literaten, und damit sowohl den Erzähler Karl als auch den Autor selbst zum Don Quichote, der gegen das Profane kämpft. Darin drückt sich eine vorsichtige Liebenswürdigkeit aus, die Reemtsma auch in der »Ethik der Behutsamkeit« entdeckt. Sie rettet das, was scheinbar nicht zu retten ist: Den utopischen Rest in der Kunst. Schmidt inszeniert sich also, wie auch Brandt, bewusst als »schwieriger« Autor, der sein rigides Arbeitspensum – wiederholt ist die Rede von wenig Schlaf und nächtlichen Schreibexzessen (Fischer/ Fischer 2007: 20f.) – nur in der Abgeschiedenheit auf dem Lande realisieren kann: der »poeta faber« in der Provinz also. Arno Schmidt ist außerdem ein Autor, der nicht nur über die Provinz schreibt, sondern der sich auch vor ihrem Hintergrund selbst inszeniert. Sosehr er das Dörfliche in seiner Spießigkeit in seinen Romanen aufs Korn nimmt, so wenig ist er als Autor ohne es zu denken. Schmidts eigene Fotografien und Arno Schmidt Stiftung auch die Bilder von ihm in der Landschaft sind aus dem Paratext seiner Selbstinszenierung nicht wegzudenken. Dabei nehmen seine Landschaftsfotografien und die Fotografien aus Bargfeld einen zentralen Platz ein, wie der Katalog der großen Arno Schmidt-Ausstellung des Literaturarchivs Marbach 2006 (DLA Marbach 2006), zwei 2009 und 2011 erschienene Bildbände (Frecot 2009 und 2011), sowie eine Ausstellung des Landesmuseums für Kunstund Kulturgeschichte Oldenburg im Jahr 2013 (Landesmuseum 2013) zu Schmidts fotografischem Werk eindrücklich beweisen. »Betrachtet man die Fotografien, dann scheint dieser Arno Schmidt in der Bargfelder Heidelandschaft seine Ruhe gefunden zu haben. Sie holt ihn raus aus den spießigen, miefigen Fünfzigern, aus den konservativen bis reaktionären Gemengelagen und Bedrohungsszenarien. Und Bargfeld wird zu einem Ort des Exils, an dem der Autor die fremden, befremdenden Zeiten überdauern will.« (Porombka 2005: 77)

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Es fällt auf, dass die Fotografien Schmidts nur menschenleere Landschaften zeigen, das Dorf als soziales Gefüge scheint für ihn offensichtlich keine Rolle zu spielen. Dennoch inszeniert sich der Autor Arno Schmidt auch vor der Kulisse des Ländlichen in der Rolle des Einzelgängers und »letzten Menschen« (ebd.: 89). Das Dorf selbst hat bei Arno Schmidt also nur noch in der ironischen Groteske als Sehnsuchtsort utopisches Potenzial, im Verschmelzen mit der menschenleeren Landschaft. Abbildung 17: Selbstbildnis mit Schatten

Abbildung 18: Heidespaziergang

Arno Schmidt Stiftung

Arno Schmidt Stiftung

D AS D ORF IST

ÜBERALL

Jan Brandts Roman GEGEN DIE WELT beschreibt eine Jugend im ländlichen Ostfriesland der 1980er und 90er Jahre. Detailreich illustriert der Roman diesen abgeschiedenen Kosmos und zugleich das Lebensgefühl in der späten Bundesrepublik. Obwohl die Wirtschaft prosperiert, ist der Alltag geprägt vom Katastrophengefühl, der Wald stirbt, die Polkappen schmelzen, und die Havarie des Atomkraftwerks Tschernobyl unterstreicht die Angst vor der totalen Umweltzerstörung. Wie auch bei Schmidt ist hier der Antagonismus von Stadt und Land bereits im Titel sichtbar. Und auch hier ist die Provinz kein utopischer Raum mehr außerhalb der Gesellschaft, sondern Ort ihrer schärfsten Konflikte. Das Dorf trägt nicht zufällig den Namen Jericho, der an den Untergang der gleichnamigen Stadt in der Bibel gemahnt, denn der Roman beschreibt den Niedergang des Dörflichen. Die erstarkende »Dienstleistungsgesellschaft« fordert ihren Tribut, die einstmals industrialisierte, florierende Landwirtschaft und die mittelständischen Betriebe der Gegend darben und werden nach und nach von Großfirmen und Handelsketten verdrängt. Die noch

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verbleibenden Geschäfte im Dorf, wie etwa die Drogerie des Vaters oder der lokale Lebensmittelhändler, verschwinden und der Baugrund wird sukzessive von einem Baumagnaten aufgekauft. Die Industrie- und Landwirtschaftsanlagen stehen nur mehr als verrottende Ruinen der Globalisierung in der Landschaft herum. Im Kosmos des Dorfes Jericho reagiert man darauf mit Gleichgültigkeit, Wut und Verdrängung. Die Elterngeneration versucht, ihr kleines, behütetes Leben beizubehalten, indem allem Fremden und Andersartigen mit heftiger Ablehnung und Aggressivität begegnet wird. Die Hauptfigur Daniel Kuper ist Sohn des Drogeriebesitzers im Dorf. Zunächst erscheint seine Jugend beschaulich, eingelullt vom Fernsehen und von der Konsumbegeisterung der achtziger Jahre verläuft sein Leben zunächst eher ereignislos. Die Eltern halten trotz des kontinuierlichen Fremdgehens des Vaters den Anschein des glücklichen Ehepaars aufrecht. Daniels Unbehagen im Dorf beginnt, als er in der Schule vermehrt zum Opfer von Hänseleien wird, die schließlich in einem gewaltsamen Übergriff auf ihn münden, der sich inmitten eines Kornfeldes abspielt. Daniel verrät nicht, wer ihn misshandelt hat, und behauptet bald, dass er von Aliens entführt worden sei. Die Dorfgemeinschaft nimmt diese Erklärung einerseits zum Anlass, ihn weiter auszugrenzen, zugleich aber auch als bequeme Erklärung, die schließlich als die »offizielle« Version des Ereignisses gilt, und die es ermöglicht, die Suche nach den wahren Gewalttätern einzustellen. Die heftige Aggression in der Mitte der Gemeinschaft wird ins Außerirdische projiziert, um sich nicht weiter damit befassen zu müssen. Das gemeinsame Verschweigen der Wahrheit, das nicht nur an dieser Episode, sondern beispielsweise auch in der Ehe der Eltern zum Tragen kommt, wird zum gemeinschaftsstiftenden Element. Die von den Erwachsenen propagierte »heile« Welt des Dorfes, oft artikuliert in der Ablehnung alles Städtischen, ist also eine Täuschung. Daniel gilt nach dem Ereignis im Dorf als Spinner und Sonderling, der nur dem vollständigen sozialen Ausschluss entgeht, weil er auf eine andere Schule gehen kann. Obwohl er die Täter schützt, wird ihm schleichend die Doppelmoral der Dörfler deutlich. Die Enge des Dorfes und der beschränkte Horizont seiner Bewohner verwandeln sich für ihn von der geographisch-sozialen Entität zur paranoiden Phantasie: »Das Dorf war überall. Das war die Erkenntnis, die sich langsam in ihm ausbreitete. Er müsste schon sehr weit laufen, sehr weit fahren, um zu entkommen. Aber was dann? Was dann? So weit reichte seine Vorstellungskraft nicht aus.« (Brandt 2011: 134) Diese Unentrinnbarkeit liegt nicht nur in der eigenen Beschränkung auf das Leben im Dorf, sondern auch in der Art und Weise, wie sich das Dorf gegen den vermeintlich Andersartigen verbündet, die in Passagen an Max Frischs ANDORRA erinnert. Die Anfeindungen werden mit Daniels Entwicklung vom Jugendlichen zum jungen Erwachsenen nicht weniger, und es bewahrheitet sich zum Schluss, dass er ihnen nicht entgehen kann. Daniel wird vermehrt zur Zielscheibe des Misstrauens und der Verdächtigungen, etwa am Ende eskaliert die Stimmung so sehr, dass er kaum mehr aus dem Haus

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gehen kann. Schließlich muss er auf einem Dorffest vor dem Mob fliehen und kommt zu Tode. Doch das Opfer wird auch selbst zum Täter. In der Mittelstufe findet Daniel Freunde und beginnt, selbst den Außenseiter der Klasse zu misshandeln. Auf dem Heimweg von der Schule eskaliert eine Begegnung zwischen der Gruppe und dem Jungen so sehr, dass dieser anschließend auf die Schienen der nahegelegenen Bahnstrecke flieht und dort vom Zug überrollt wird. Die Gruppe der Freunde scheint oberflächlich nicht unter einem schlechten Gewissen zu leiden und spricht nicht über den Vorfall. Doch nach und nach sterben alle Beteiligten unter merkwürdigen Umständen. Einer von ihnen verfällt dem Verfolgungswahn und tötet sich selbst in einem wahnwitzigen Experiment. Der Roman schildert die Enge des Dörflichen im Westdeutschland der achtziger und neunziger Jahre mit einer beklemmenden Akribie. Minutiös werden Dorfbewohner, Spielzeuge, Hobbys, Fernsehsendungen und Konfirmationsunterricht beschrieben, so dass ein dichtes Panorama entsteht, zu dem Zähigkeit und vielleicht sogar ein gewisser Ennui gehören wie in anderen Dorfschilderungen die Kuhweide oder der Trecker. Das Dorf ist bei Jan Brandt weniger ein literarisches Motiv als vielmehr ein geistiger Seinszustand, der sich in Raum und Zeit manifestiert und in dem die Fragmente des Realen zur Ausbuchstabierung einer ihm eigenen Grammatik dienen. Der Leser empfindet bei der Lektüre den beinahe paranoiden Zustand des Protagonisten und seines Freundes nach, die hoffen, dass jedes Detail vermeintlich etwas bedeutet. So aber verliert sich der Impuls des Aufbegehrens gegen den Stupor in der Menge der Informationen. Diese »bedrohliche Enge« gewinnt bei Brandt durch die Verweise auf die Realität noch einmal besonders an Eindrücklichkeit, wenn das Netz der Bezüge in den verschiedenen Verschwörungstheorien, die der Roman anbietet, in paranoiden Phantasien kulminiert. Doch wenn alles bedeutungsvoll ist, hat nichts mehr wirkliche Bedeutung, und so verlangt GEGEN DIE WELT dem Leser einen langen Atem ab. Erschwert wird die Lektüre durch eine Aufspaltung des Erzählraums und des Druckbilds durch eine doppelte Linie, die an einen Schienenstrang erinnert und die sich über beinahe hundert Seiten in der Mitte des Romans erstreckt. Hier entfaltet sich die Perspektive eines Lokführers, dem wiederholt Selbstmörder vor den Zug springen. Die Teilung funktioniert sowohl räumlich als auch zeitlich, denn der Leser sieht sich gezwungen, die Lektüre der Haupterzählung zu unterbrechen, denn beide Stränge zugleich zu lesen, ist unmöglich, weil keine abgeschlossenen Einheiten das parallele Lesen erlauben. So »pausiert« der Roman für ca. 100 Seiten, und es beginnt ein Roman im Roman, nach dessen Ende man zurückblättern muss, um am Ausgangspunkt neu anzusetzen. Das Element der Störung ist hier bewusst intendiert, denn der mutmaßliche Selbstmord ihres Klassenkameraden, der sich wegen der andauernden Hänseleien vor den Zug geworfen hatte, stellt einen Wendepunkt im Leben der Jungen dar. Auch für den Leser bleibt eine Ver-Störung, denn

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der Roman löst das Rätsel, ob die Freunde den Tod tatsächlich verursacht haben, nicht auf. Wiederholt ist in Rezensionen auf Parallelen zu Uwe Johnsons MUTMASSUNGEN ÜBER JAKOB und auch zu seinem Roman JAHRESTAGE – nicht zuletzt wegen des Gleichklangs des literarischen Ortes Jericho(w) – hingewiesen worden (vgl. Reents 2011). Wie die JAHRESTAGE verschränkt GEGEN DIE WELT die verschiedenen Erzähl- und Zeitebenen miteinander, so dass der Leser sich im monumentalen Bild der geistigen Landschaft einer Epoche wiederzufinden meint. Beide Romane suggerieren implizit den Anspruch, Chronik einer Epoche zu sein, und so gerät die Beschreibung des Dorfes bei Brandt zur Analyse der Befindlichkeit des gesamten Landes. Kaum ein Jahrzehnt zuvor war es der Riege der so genannten »Popliteraten« gelungen, sich als Chronisten eben jener Epoche zu positionieren, die Brandt beschreibt. Der Vergleich zur Popliteratur liegt nahe, denn auch GEGEN DIE WELT setzt auf eine detailreiche Bebilderung der alten BRD. In den späten neunziger Jahren hatten Popliteraten wie Benjamin von Stuckrad-Barre oder Christian Kracht ihren Anspruch auf Dominanz im literarischen Feld nicht zuletzt durch den Habitus der Coolness unterstrichen, der die Trends der Gegenwart souverän zitiert und vielleicht sogar bedient. Daraus resultierte der Vorwurf, dass der Erfolg des Popromans vor allem auf dem Wiedererkennungseffekt beruht, ein Urteil, das auch noch in den Vergleichen zu Jan Brandts Buch nachhallt: »[Es] drängt sich dann der Verdacht auf, dass hier der Reiz für manche enthusiasmierte Rezensenten lag: per Romanfrachter eine Zeitreise in die eigene wilde Jugend zu unternehmen, eine ›Generation Golf‹-Kopie, über die eine Dampfwalze gerollt ist.« (Kämmerlings 2011) Ein wesentlicher Unterschied allerdings besteht darin, dass die Popliteraten der 1990er sich eher als dekadente Großstadtdandys in Städten wie Hamburg oder Berlin darstellten, während Brandt die Provinz vorzieht. Und auch in der Literatur ist der Unterschied spürbar: Wo Illies und Stuckrad-Barre die Achtziger romantisierten und in den Welten von Playmobil und »Wetten, dass …« romantisch schwelgten, dienen die zeitspezifischen Referenzen bei Brandt dazu, den engen Horizont des Dörflichen zu betonen. Gegen das Prinzip der Liste, das Moritz Baßler treffend als ein entscheidendes literarisches Verfahren der Popliteratur beschrieben hat (Baßler 2002), setzt Brandt die detailreiche Akribie, die in sich schon Beklemmungen und durchaus auch phasenweise Ungeduld auslöst. Ein wichtiger Unterschied zu diesen Romanen ist auch, dass es bei Brandt um mehr als um eine wohlige Sehnsucht nach den ruhigen Achtzigern und um eine Beschreibung eines konsumkapitalistischen Kosmos geht. Dazu tritt, dass die Popliteratur selbst bereits eine literaturhistorische Epoche ist, die populäre Kultur sich seit der Jahrtausendwende verändert hat. Moritz Baßler und Heinz Drügh fassen den Unterschied von Brandts Roman zur Popliteratur der Neunziger im Blick auf die Epoche, der im Falle Brandts bereits ein historisierender ist, folgendermaßen:

278 | J EANINE T USCHLING »Wenn die Literatur der Neunziger sich (und uns) eine globale Popenzyklopädie im Modus meta-ironischer Sophistication erschlossen hatte, dann wird Pop jetzt und hier historisch und als ›local knowledge‹ erfasst. Wobei ›historisch‹ vor allem eine (auto-)biografische Prägung bezeichnet, in der die Helden in ihrer ästhetischen Selbstpositionierung längst nicht mehr so frei erscheinen wie ihre Vorgänger der ›Tristesse Royale‹. [...] Und wo es kein Dorf ist, da ist es der Kiez, in dem die Helden [...] die Freuden und Probleme einer in die Länge gezogenen Post-Adoleszenz ausleben.« (Baßler/Drügh 2012: 5)

Nicht zufällig werden hier die Begriffe des »local knowledge« und des Dörflichen evoziert. Tatsächlich ist die »ästhetische Selbstpositionierung« der Romanfiguren weniger ironisch und cool, dafür aber vielleicht etwas stärker an den jeweiligen Erzählkosmos als an die früher mit leichter Hand anzitierte Medien- und Konsumwelt gebunden. Bei Brandt zeichnet sich eine Ernsthaftigkeit ab, die über die Erfassung postadoleszenter Problemlagen hinausweist. Der Roman beschreibt das Scheitern des friedlichen dörflichen Lebens als eine Parabel auf die gesamtgesellschaftliche Situation. Die Krise des sozialen Gefüges im Dorf wird so zur Krise einer Gesellschaft, die diejenigen, die nach einem freieren Leben außerhalb des Bekannten streben, als Spinner brandmarkt. Wie bei Arno Schmidt ist bei Jan Brandt das Utopische ein Idyll im Modus des Danach, das nur in der Dystopie aufscheinen kann: »[…] wir sind nach wie vor überzeugt davon, eine innere Freiheit zu besitzen, vielleicht sogar mehr denn je. […] Aber das trifft auf diejenigen, die verwandelt sind, nicht zu. Für sie ist Freiheit nichts weiter als eine Illusion, ein schöner Traum, der niemals Wirklichkeit wird oder permanent Wirklichkeit ist. [Zwischen den Zeilen in handschriftlicher Manier gesetzt:] Wer von uns würde im Alltag das Paradies erkennen? Merkt man’s nicht erst, wenn man’s verloren hat?« (Brandt 2012: 489)

Das Verlorene ist hier aber mehr als eine melancholische Schwärmerei, sondern eine existenzielle Frage, die für die Akteure im Buch zu einer nach Leben und Tod wird. Jan Brandts Buch ist in Rezensionen vielfach vorgeworfen worden, dass es zu langatmig und einfach zu lang sei. Die Langeweile, die dem Kaff der achtziger und neunziger Jahre anhaftet, droht auf den Leser überzuspringen. Andererseits scheint der Gestus des Langwierig-Umständlichen auch dem Habitus des Autors innezuwohnen. Lang ist das Buch und lange hat Brandt an ihm geschrieben, das Feuilleton spricht von fünf bis neun Jahren. Jedenfalls ist das Bekenntnis zu einem Buch, das sich gegen die Tendenz vieler Jungautoren stellt, im Jahresrhythmus den knackigen, zeitgemäßen Roman herauszubringen, ein durchaus mutiges. Prompt erklärte ihn die Verlagsmeldung nicht nur zum »großen deutschen Roman« (Dumont-Verlag 2011), sondern postwendend zum »Wenderoman«, auf dessen Erscheinen die Literaturkritik ja bereits seit ca. 20 Jahren vergeblich wartet (vgl. Pontzen 2010: 223).

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Die Mühe, einen beinahe tausend Seiten umfassenden Roman zu schreiben, beschwört, ähnlich wie bei Schmidt, das Bild des »poeta faber« herauf, also des Schriftstellers als Handwerker, der einerseits bescheiden auftritt in seinem Anspruch des Künstlertums, andererseits aber auch ein Können suggeriert, das dem schnellen glücklichen Wurf nicht notwendigerweise innewohnt. Kritiker loben das Geschick des Autors, der nicht nur eine eigene Stimme habe, sondern auch das Lebensgefühl einer Epoche einfange, und zwar ohne den Makel des Trendigen: »Und weil Brandt für die zunächst abenteuerliche, dann immer ernstere Dorfgeschichte um den Drogeristensohn Daniel einen überzeugenden eigenen Ton gefunden hat, weitet sich der Roman vom Porträt einer bedrohlich engen Gemeinschaft zur Momentaufnahme des ganzen Landes.« (Lovenberg 2011) Dem Roman war bereits sein Ruf vorausgeeilt. Viele der Rezensionen beschreiben einen Autor, der gewissermaßen schon vor der Publikation seines Erstlings seinen Platz im literarischen Feld erobert hat. So ist die Rede vom Erfolg bei Verlagen, deren Vertrauensvorschuss das Buch gewissermaßen erst möglich machte: »Jan Brandt war in einer Ausnahmeposition als Nachwuchsautor: Von zehn Verlagen hatten fünf ihm ein Angebot gemacht, nachdem er die Hälfte des Manuskripts eingereicht hatte. Nur einige Seiten Exposé und eine Textprobe verhalfen ihm zu Stipendien, mithilfe derer er sich ganz dem Schreiben widmen konnte. Zuletzt zehn bis vierzehn Stunden am Tag, sagt er.« (Dannenberg 2011) Vielfach wurde Brandt mit Wolfgang Koeppen verglichen, der zwischen seinen Büchern durchaus Jahrzehnte verstreichen ließ, ohne etwas zu veröffentlichen, doch mit dem Unterschied, dass sowohl sein Schreiben als auch sein Schweigen bereits das Interesse des Literaturbetriebs erregten, ehe er sich noch mit Recht als Schriftsteller hätte bezeichnen können: »Schon Ende der neunziger Jahre konnte man ihn als Zuschauer bei Literaturwettbewerben treffen, und er erzählte schon damals von einem großen Roman, an dem er arbeite, über den er aber leider nichts Genaueres berichten könne.« (Weidermann 2011) Brandt scheint nicht nur ein regulärer Zuschauer gewesen zu sein, sondern einer, für den sich die Journalisten bereits am Rande interessierten. In Porträts von Jan Brandt wird wiederholt auf Parallelen zwischen dem Buch und dem Leben des Autors hingewiesen, der im gleichen Alter wie sein Held ist und der ebenfalls im ländlichen Ostfriesland aufgewachsen ist. Es liegt also der Schluss nahe, dass Brandt das Land seiner Jugend in der Provinz einzufangen versucht hat. In einer negativen Kritik wird der autobiografische Bezug dazu benutzt, um die literarische Qualität des Buches in Zweifel zu ziehen: »Warum tischt der Autor dem Leser aber den Zettelkasten seiner ostfriesischen Herkunft überhaupt auf? [...] Sein Plan ist die Konfrontation des banalen, spießigen Alltags mit einer existenziellen Dimension, einer Transzendenz, die [...] als Ufo-Glaube oder Weltuntergangsvision [...] daherkommt.« (Kämmerlings 2011)

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Interessanterweise taucht hier mit dem »Zettelkasten« ein Querverweis zur Produktionsästhetik von Arno Schmidt auf, der für seine Romane wiederholt Notizen, Bilder, Werbeanzeigen oder Zitate in Zettelkästen sammelte, um sie dann in seiner Prosa in ein Netz von unterschiedlichen Verweisen einzuweben. Der Kritiker scheint Brandt eben jene Schmidtschen »kurz=schwerwiegenden Andeutungen«, hier im Sinne der »Popenzyklopädie im Modus meta-ironischer Sophistication« (Baßler/Drügh 2012) zu unterstellen, die dann durch den Anspruch, ein ernsthafter Autor sein zu wollen, in Hochliteratur überführt wird. Auf Autorenfotos präsentiert sich Jan Brandt mit fast gelangweilter, jedenfalls sehr aufgeräumter, braver Miene. Kann man ihm die Ablehnung des allzu Gegenwartsbezogenen, Schnellen als eine Gegenposition abnehmen, oder sollte man dahinter eine gezielte Selbstinszenierung in der Figur des »Nerds« vermuten? Schaut man sich die eigens für das Buch kreierte Website an, liegt Letzteres nahe, denn dort finden sich auch Links zu Produkten, wie etwa die dort zu erwerbenden TShirts, auf denen der Kosmos der Drogerie der Achtzigerjahre mitsamt seinem spießigen Muff ironisch gebrochen wird.2 Jan Brandts Selbstinszenierung als Autor verfolgt eine Doppelstrategie: Einerseits ist es ihm gelungen, sich schon mit seinem ersten Roman den Ruf des ernsthaften und literarisch ernstzunehmenden Autors zu erwerben. Zugleich kann er diese Ernsthaftigkeit im Bild des »Nerds«3 überbieten und dabei eine weltgewandte Coolness beweisen, etwa wenn er zum Buch die eigene T-Shirt-Reihe anbietet, die unter anderem der eigentlich peinlichen HeavyMetal-Band des Protagonisten zu lässigem Nachruhm in der wirklichen Welt verhilft. Die Übertragung der erzählten Welt in die Realität zeigt sich auch in seiner Selbstdarstellung im Gespräch mit dem Magazin »Interview«4, wenn sich der Autor – wohl in Anspielung auf den Titel – während des gesamten Gesprächs dem Publikum abgewandt, zugleich aber auf dem Autorenfoto darunter wie ein Hollywoodstar mit cooler Sonnenbrille präsentiert. Diese Verbindung aus Landei und »Hipster-Nerd« (im Gegensatz zu den 90er Jahren) ist sicherlich auch durch eine Wende hin zum Landleben möglich geworden: Provinz ist hip, wie das Feuilleton vor kurzem feststellte (vgl. Berg 2012, Frisse 2012, Welt 2013). Nicht zufällig hatte das Magazin LANDLUST im letzten Jahr höhere Verkaufszahlen als der SPIEGEL. Vielleicht ist trotz der vordergründigen Abgeklärtheit im Roman auch etwas von dieser Sehnsucht nach der heilen Welt des Dorfes zu spüren.

2

http://gegendiewelt.spreadshirt.de (27.10.2013).

3

http://www.buecher-magazin.de/magazin/gesichter-und-geschichten/portrait/gegen-diewelt (27.10.2013).

4

http://vimeo.com/34792016 (27.10.2013).

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F AZIT Beide – wenn auch Jahrzehnte auseinander liegende – Romane zeigen das Dorf in der frühen und in der ausgehenden Bundesrepublik als einen Ort, der keinesfalls der modernen bzw. postmodernen Welt entrückt ist, sondern vielmehr ihre wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen auf besondere Weise sichtbar macht. Bei beiden Autoren unterstützen die typografischen Elemente die topografischen. Der Textraum wird in verschiedene typografische Elemente zerlegt, die dem Leser verschiedene Lektürepfade eröffnen, auf denen er die Topographie des Textes erfahren kann. Der Eindruck des verschobenen, im Raum verlorenen, wird durch die Textgestalt noch unterstrichen. Auch in der physischen Textgestalt des Buches erkunden die Dystopien von Schmidt und Brandt den utopischen Raum von Dorf und Literatur. Die einstige projektive »Gegenwelt« zur Verdorbenheit der Großstadt ist längst von den Gesellschaftskonflikten der Industriegesellschaft in ihrer literarischen Gestalt eingeholt worden. Einzig in der Furcht der Dorfbewohner vor dem Außerirdischen kehrt der utopische Rest, der einstmals dem dörflichen Idyll innewohnte, als unheimlicher Wiedergänger zurück. Der Vergleich zeigt, dass der literarische Topos des Dörflichen in der Literaturgeschichte der jüngeren und jüngsten Gegenwart in Bezug auf die Reflexion des utopischen Raums angesichts der Entwicklungsprozesse von Moderne und Globalisierung eine besondere Wirkung entfaltet. Es ist also nicht der große Stadtroman, der Deutschland im Übergang von Spätmoderne zu Globalisierung porträtiert, sondern vielmehr der Provinzroman. Und so inszenieren sich die beiden Autoren vor der Kulisse des Dorfes als Literaten jenseits des Trends und des utopischen Überschusses.

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»Es war alles anders, als ich dachte, ganz wie zu Hause« Die Versehrtheit der dörflichen Lebenswelt in der Gegenwartsliteratur am Beispiel der Werke Arnold Stadlers A NTON P HILIPP K NITTEL Nichts kann deutlicher sein als ein Dorf, das es nicht mehr gibt MARTIN WALSER/EIN SPRINGENDER BRUNNEN

E INMAL

DAS

D ORF

HINAUF UND HINUNTER LAUFEN

»Unser Leben dauert vielleicht siebzig Jahre, wenn es hochkommt, sind es achtzig. Noch das schönste daran ist nichts als Schmerz. Das Leben ist kurz und schmerzlich. Einmal das Dorf hinauf und hinunter: so sind wir unterwegs« (Stadler 1995: 15), heißt es in der Übertragung von Psalm 90, die der promovierte Literaturwissenschaftler und studierte Theologe Arnold Stadler in seiner Psalmen-Sammlung unter dem Titel WARUM TOBEN DIE HEIDEN (1995) und in erweiterter Fassung unter dem Titel ›DIE MENSCHEN LÜGEN. ALLE‹ (1999) vorgelegt hat.1 Diese Psalmen-Verse

1

Wie wichtig die Psalmen für das Stadlersche Schreiben sind, hat er mehrfach deutlich gemacht. So schreibt er im Vorwort zu: ›DIE MENSCHEN LÜGEN. ALLE‹ UND ANDERE PSALMEN: »Das erste Gedicht, das ich auswendig lernte, war in einer Sprache, die ich nicht verstand, das weithin aus Psalmen bestehende lateinische Stufengebet der römischkatholischen Kirche. Es waren Psalmentexte.« (Stadler 1999a: 10; vgl. hierzu auch Frühwald 2009). Im Nachwort zu Jean Genets TAGEBUCH DES DIEBES verweist Stadler auf eine diesbezügliche Gemeinsamkeit mit Genet: »Eingeweiht [zu] werden, auch in ein Sprachmuster, das der Sprache selbst einen sakramentalen Charakter verleiht« (Genet

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bilden darüber hinaus eine essenzielle Klammer der Stadlerschen autobiographischen Romantrilogie ICH WAR EINMAL (1989), FEUERLAND (1992) und MEIN HUND, MEINE SAU, MEIN LEBEN (1994), ja letztlich seines Schreibens insgesamt. Denn sie lassen sich zugleich als eine implizite Poetologie der Stadlerschen Texte lesen, wie nachfolgend in einem Parforceritt durch sein Werk gezeigt werden soll.2 Den ersten Band seiner Romantrilogie, zugleich sein vielbeachtetes Prosadebüt, legte Stadler, der über die Psalmen-Rezeption bei Brecht und Celan promovierte,3 1989 unter dem Titel ICH WAR EINMAL vor. Darin notiert der namenlose IchErzähler, das »Kind von Überlebenden« (Stadler 1989a: 126), über seine Kindheit und Jugend als »Landtrottel« (ebd.: 27) in einer anscheinend namenlosen Gegend4, im später so genannten »Hinterland des Schmerzes« im südbadischen »Kuhdorf« (ebd.: 28) Rast, das »kein Kuhdorf mehr [ist], leider« (ebd.) den »konsekutive(n) Schmerz« (ebd.: 128) seiner »vielschichtigen Erinnerungen« (ebd.) und bemerkt gegen Ende: »Meine alte Großmutter, fast neunzig Jahre alt geworden, sagt immer, soweit sie zurückdenken könne, es sei fast nichts Schönes dabei gewesen. Andererseits sagt sie auch, es sei alles

2001: 299). In Stadlers Roman KOMM, GEHEN WIR hätte der Protagonist Roland, das Anagramm von Arnold, »an manchem Tag einen Psalm singen wollen auf die Schönheit der Welt.« (Stadler 2007a: 300) 2

So greift Stadler in seinem bislang letzten Erzähltext, dem 2011 erschienenen NEW YORK MACHEN WIR DAS NÄCHSTE

MAL diesen Denk- und Sinnspruch ebenfalls wieder auf:

»Einmal das Dorf hinauf und hinunter, so sind wir unterwegs. Sagte eine Großmutter. Was weiß ich schon von der Welt. Ich habe es doch nur vom Unterdorf ins Oberdorf geschafft. Das war alles. Und doch. Wenn sie über ihr Leben nachdachte, sagte sie, falle ihr ein, dass es vor allem kurz war, so kurz wie einmal das Dorf hinauf und hinunter. Und schmerzlich. So sagte man bei ihnen zu Hause.« (Stadler 2011a: 47) Die Bedeutung des Stufengebets wie auch der Stadlerschen Übertragung von Psalm 90 erhellt sich zudem auch daraus, dass er die Glocken-Inschrift der Tuttlinger Gloriosa mit deren Versen gestaltet (vgl. Koschar 2013: 74ff.). Jüngst zitiert Stadler in einem Aufsatz DAS HEILIGE UND DER VERBRAUCHER

3

(2013) diese Glockeninschrift ebenfalls.

Die bei Volker Neuhaus angefertigte Dissertation ist 1989 als DAS BUCH DER PSALMEN UND DIE DEUTSCHSPRACHIGE

LYRIK DES 20. JAHRHUNDERTS. ZU DEN PSALMEN IM

WERK BERTOLT BRECHTS UND PAUL CELANS erschienen. 4

»In der Schule hieß es früher, links von der Ablach ist der Heuberg. Rechts von der Ablach ist der Linzgau. So hieß es früher. Doch ich hatte keinen Heimatunterricht, weil ich nach dem Krieg geboren wurde. Ich erfuhr in der Schule nie, wo ich zu Hause bin, wo hier ist, weil es nach einem Krieg, der schlecht ausging, keinen Heimatunterricht gab.« (Stadler 1989a: 30)

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sehr kurz gewesen, es komme ihr so vor, wie einmal das Dorf hinauf und hinunter gelaufen.« (ebd.)

Es sind zahlreiche große und kleine Schmerzen, die der Ich-Erzähler – »von außen gesehen, eine nutzlose Existenz« (ebd.: 13) – in seiner »Herbeschwörung von Kindheit, von untergegangener Vergangenheit« (Walser 2009: 297) erneut durchlebt. Die Erzählstruktur von ICH WAR EINMAL folgt nicht der Chronologie der Ereignisse, sondern ruft »Dinge [auf], die im Vorbeigehen zurückkommen«, wie Stadler (1989a: 70) im Roman eine eigene Gedichtzeile zitiert.5 So heißt es etwa unter der Kapitelüberschrift »Mein Blick auf altes Eisen«: »Ich sehe kein Land mehr. Nicht mehr klarzumachen. Im nächsten Dorf ist alles, aber auch alles ganz, aber auch ganz anders. Angefangen mit der Sprache. In den guten Jahren, die auf die Schlechte Zeit folgten, war alles möglich auf dem Land. Was krumm war, sollte gerade werden. Es wurde begradigt. Zuerst war es der Dorfbach, der begradigt wurde. Er kam unter Verschluß. […] Dann die Straße. Sie bekam einen Namen. Seither kann man auf einem Schild lesen, wie die Straße heißt, die bis dahin die Straße hieß. Ernstle bekam Geld vom Straßenbauamt, damit er sein Fachwerkhaus abreißen ließ. Es stand, vom Straßenbauamt aus gesehen, in einer Kurve. […] Das Land sei hier billig, heißt es. Weil das Land hier billig ist, haben sich hier Leute angesiedelt, die Dippel, der Bürgermeister, hierhergelockt hat, […] die nicht einmal wissen, was Garben sind. Es gibt keine Bauern mehr. Der Landmann ist auf dem Feld geblieben und ein Fremdwort geworden.« (Stadler 1989a: 122f.)

»Schmerz und Erinnerung« sind in der Tat, wie Walser (2009: 299) bemerkt, die »Dirigenten« der Stadlerschen Prosa. Dem korrespondiert die formale Einteilung des Textes in zahlreiche kleine und kleinste, sorgfältig aufgebaute Kapitel, deren Überschriften wie »Die Erinnerung fällt vom Fahrrad und bleibt liegen« (Stadler 1989a: 9), »Lisl zeigt sich am Fenster« (ebd.: 38) oder »Elvira mit der neuen Hose« (ebd.: 95) an die »Überschriften pikaresker Romane« (Bender 1989) oder »an die Zwischentitel von Stummfilmen« (Grieser 1989) denken lassen. Der weitgehende Verzicht auf die Entfaltung von Geschichten, das Vermeiden von Plots6, unterstützt den Stenogrammcharakter dieser »Präsens-Prosa« (Walser 2009: 298). Mittels dieser Verknappung unterstreicht Stadler zugleich die poetische Verdichtung der Erin-

5

»Dinge /die im Vorbeigehen /zurückkommen« (Stadler 1986: 48) lautet eine Strophe im Gedichtband KEIN HERZ UND KEINE SEELE. Und auch die Romanzeile »Ich bin das Kind von Überlebenden« (Stadler 1989a: 126) findet sich in den Gedichten auf Seite 19.

6

In verschiedenen Werken zitiert Stadler das Mark Twainsche Motto zu HUCKLEBERRY FINN »persons attempting to find a plot in will be shot« – so unter anderem in SEHNSUCHT. VERSUCH ÜBER DAS ERSTE MAL auf

Seite 15.

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nerungsbilder.7 Sprachlich-stilistisch macht Stadler konsequenterweise fast jede Sache, so Martin Walser (ebd.: 300), zur »Hauptsache«, zur »Hauptsatzsache«, die eine »Existenzdimension« verhandelt. Sprachlich und vor allem syntaktisch gemahnt die Stadlersche Diktion an die Sequenzierung der Erinnerung in topographisch definierte Erinnerungsorte. Diese aktualisieren, wenn sie in bewusster Retrospektion abgeschritten werden oder auch in einer plötzlichen Erinnerung die Protagonisten – und den Autor – überfallen, immer aufs Neue die Struktur und den Wandel der dörflichen Lebenswelt und zugleich den Kindheitsschmerz, der an diesen Erinnerungsorten abgelegt und doch nicht abgegeben worden ist. Ganz deutlich etwa in der Vergegenwärtigung der sommerlichen Flurprozessionen: »Ihre Fahnen und Gegrüßet seist du Maria unter freiem Himmel. Der Löwenzahn blühte dazwischen. Löwenzahnwiesen bis auf die Höhe von Du bist gebenedeit unter den Weibern. Dann die Stille bis zu Heilige Maria. Die erste Station war erreicht. Es gab vier Stationen, die weit auseinanderlagen. Die Prozession konnte sich entfalten. […] Das Beschreiten des Kreises, identisch mit meiner Erinnerung. Die Rückkehr zur kleinen Kirche mitten im Dorf, das Ende der Prozession.« (Stadler 1989a: 63)

Gerade das Umschreiten, das Abschreiten des Dorfes, der bedeutsamen loci der Kindheit, eingebunden in religiöse Sprache, die zugleich an die Sprachinitiation etwa in den Psalmen erinnert, macht die Veränderungen der dörflichen Lebenswelt augenfällig: »Der ortsansässige Architekt, der auch noch Vogelhäuschen konstruierte und nebenher, das heißt jeden Abend zwischen fünf und sieben, auch noch in den Stall ging, um die Kühe seiner Frau zu melken, und anschließend noch mit dem Traktor zur Molkerei fuhr, als Rast noch eine Molkerei hatte, ist später von anderen Architekten verdrängt worden. Aber angefangen hat

7

Der Text ORTSBEGEHUNG. FOTONOTIZEN von Stadlers Landsmann Walle Sayer (Jahrgang 1960) erinnern in Vielem an die poetischen Verdichtungen in ICH WAR EINMAL: »Im alten Dorf klingen die Straßennamen / noch ein wenig nach Kapitelüberschriften / zu alten Geschichten. // Im Neubaugebiet / sind die Straßen nach Blumen benannt. / Den Häusern dort sieht man an, daß sie noch lange nicht abbezahlt sind. / Das zu groß dimensionierte wirkt / wie auf einer Absturzstelle erbaut. […] // Wenn sich Flächen auflösen im Nutzungsplan / genügt schon ein kleiner Vermessungspflock, / um die Wiese am Ortsrand einzuschüchtern. // Wenn tagsüber die Rolläden heruntergelassen sind, / heißt das daß die Schichtarbeitenden schlafen. // Vielleicht muß man / weggegangen sein, / um bleiben zu können. // Vielleicht braucht es / zum Abspringen einen Anlauf / bis zu den Ahnen zurück. […] // Sag zum Boden Erdreich, / schon stehst du woanders.« (Sayer 2012: 100f.).

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er. Er machte, so scheint es, alles nebenher. Dieses Ortsende gibt es nicht mehr. Auch die Flurprozession zu Christi Himmelfahrt wurde aufgegeben. Die Jahre, in denen man noch einen Kreis im Neubaugebiet drehte, bin ich nicht mehr mitgegangen. […] Die Kirche, die mitten im Dorf geblieben war, lag jetzt am Ortsende vom Neubaugebiet aus gesehen.« (ebd.: 68)8

Mit überraschenden Pointen und verblüffendem Sprachwitz, Kalauern und Wortspielen, um nicht »in die ›Sprache von Meßkirch‹, wie Robert Minder sie verspottet hat« (Bender 1989)9, zu verfallen, hält Stadler die einzelnen Charakterskizzen seiner skurrilen und schrulligen Landsleute zusammen. Deshalb kann das Ausgeliefertsein an »die Alleserinnerung« (Stadler 1989a: 10) seine Erzählung nicht unterlaufen, wie der Autobiograph befürchtet: »Wenn die Erzählung stockt, ist es die Erinnerung.« (Ebd.: 121) Und diese »setzt eines Schmerzensfreitags ein« (ebd.: 11): »Schmerzensfreitag, weil ich an einem Schmerzensfreitag, wie hier im Hochland der Freitag vor Karfreitag heißt, ohne daß ich wüßte warum, geboren wurde, an der Straße von Wien nach Paris, wie Heidegger, den jeder verehrt und keiner liest, Gröber, der braune Konrad, ein Erzbischof des Dritten Reiches, der hier am meisten gilt [...]. Das alles konnte die Meßkircher

8

Und weiter schreitet der Ich-Erzähler in seiner imaginären Flurprozession die dörfliche Umgebung ab: »Das Verlegen der Feldkreuze kam überhaupt nicht in Frage. Zwei dieser Kreuze standen jetzt schon in Vorgärten des Neubaugebiets, zu deren Zier, wie ich annehmen muß. Denn es gab in Rast auf einmal auch Vorgärten, Rasen und Forsythien. Im Jahr, als Rast dann zum ersten Mal am Wettbewerb Unser Dorf soll schöner werden teilnahm, regte Dippel, der Bürgermeister, in der Verwaltungspraxis großgeworden (Landratsamt: Hunde- und Katzensteuer, BAfÖG), Verbesserungen an. Die Besitzer der Feldkreuze sollten dies einheitlich hellblau streichen. [...] Der Denkmalpfleger, aus Tübingen angereist, verlangte, die Verbesserung rückgängig zu machen. Er kam nur, um zu sehen, was noch zu retten war an Rast (in den meisten Dörfern Oberschwabens, die er zu visitieren hatte, war gar nichts zu retten übriggeblieben).« (Stadler 1989a: 68f.) Auch in MEIN HUND, MEINE SAU, MEIN LEBEN kritisiert der Erzähler mehrfach die Zerstörung des Dorfes, etwa durch den »dumpfen Verschönerungsdrang«, der »im Laufe meiner Jahre alles zerstörte, was mir schön schien an diesem Dorf, in dem ich stehen und gehen lernte« (Stadler 1994: 14).

9

Im Roman erwähnt der Erzähler anlässlich des Besuchs des Philosophen Martin Heidegger zur Feier seines 80. Geburtstags in der Meßkircher Stadthalle, »wo sonst die Kürungen des berühmten Meßkircher Höhenfleckviehs stattfanden« (Stadler 1989a: 60) diese Schrift ebenfalls: »Die Meßkircher hörten den Namen Meßkirch jedesmal wieder neu. Stolz vernahmen sie, daß Meßkirch schon im Titel eines ganzen Buches erschienen war, ›Die Sprache von Meßkirch‹ oder so. Daß der Redner über dieses Buch beinahe schimpfte, zählte nicht weiter.« (Ebd.)

290 | ANTON PHILIPP KNITTEL Schule von sich aus bestreiten, die zweitausend Seelen zählende Meßkircher Schule von sich aus, bis in der Schlechten Zeit, wie die Nachkriegsjahre hier unten heißen, auch einige der dreizehn Millionen Flüchtlinge angesiedelt werden mußten. Sobald es diesen Armen möglich war, setzten sie sich in freundlichere Gegenden ab.« (ebd.: 7f.)

Bis sich diese Aussicht dem Erzähler am Ende des Romans selbst eröffnet, erinnert er sich, gleichermaßen heiter distanziert wie wehmütig involviert, zahlreicher großer und kleiner Schmerzen seiner Kindheit und Jugend, indem er deren Orte erinnernd wieder aufleben lässt.10 Von Mitschülern und vom Musiklehrer immer wieder als »Trottel vom Land« (ebd.: 16) verspottet, hält sich der Fahrschüler »lieber bei [s]einen Schweinen als bei seinen Mitschülern« (ebd.: 27) auf. Zumal der »Geist von gestern« (ebd.: 31) die Schulzeit insgesamt prägt. Im Übrigen fahren Mengele-Landmaschinen (vgl. ebd.: 114) durch die Felder seiner Erinnerung (vgl. Stadler: 2011a: 13) – auch dies ein Indiz, dass nichts heil geblieben ist, dass sich die »Schatten der Versehrtheit« (Renz 2012: 77) ausbreiten, ebenso wie in den Dorf-Fotografien seines schwäbischen Landsmanns Claudio Hils (siehe Abb. 19 und 20), die, so der Schriftsteller Peter Renz (2012) ironisch-sarkastisch, »[v]om Verschwinden der Rückständigkeit« berichten. Abbildung 19: Abseits 9

Abbildung 20: Abseits 14

Claudio Hils; Original in Farbe

Claudio Hils; Original in Farbe

Dabei weisen Hils’ Bilder noch eine weitere Parallele zu den Texten Stadlers auf. Peter Renz formuliert es in seinem Essay zu dem Bildband ABSEITS – ASIDE – Á L’ÉCART folgendermaßen: »Der ursprüngliche Zusammenhang von Arbeit und Leben, der die dörfliche Welt über Jahrhunderte auszeichnete, scheint unrevidierbar zerschlagen. Was bleibt, ist das pure Wohnen in

10 Vgl. insgesamt auch Knittel (1995ff., 2009 und 2013)

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einer Umgebung, die an jeder Ecke nur noch erinnert ans Tätigsein. In ihrer Beschränkung auf Übernachtung und Freizeit verwandeln sich die Häuser entlang der Dorfstraßen in abweisende Zwingburgen, die das Landleben nicht kannte. Neben aller Mühsal war bäuerliche Arbeit vor allem ein öffentliches Geschehen. Jeder Handgriff im Hof und auf dem Feld vollzog sich nicht nur vor aller Augen, sondern stiftete dadurch gerade einen Lebenszusammenhang, der dieses mühevolle Dasein erst lebbar machte« (Renz 2012: 80).

Stadler bietet jedoch nicht nur ein Panorama eigener früher Verletzungen, sondern entwirft – die »Spannung zwischen dem erlebenden Kind der fünfziger Jahre und dem erzählenden Erwachsenen der Gegenwart« (Gauß 1989) aushaltend – bewusst fragmentarische Lebensgeschichten seiner Mitmenschen aus dem »badischschwäbischen Sibirien« (Stadler 1989a: 62), dem Fleckviehgau, dem Hinterland des Schmerzes oder in späteren Texten auch »Schwäbisch Mesopotamien« genannt. Stadlers Erzählung »vom Dünkel und von der Zerstörung der Provinz«, wie Karl-Markus Gauß (1989) in einer Besprechung von ICH WAR EINMAL pointiert formuliert, wurde tatsächlich, wie sein früherer Mentor Hans Bender prognostizierte, in Meßkirch, dem Schauplatz der Handlung, für nicht preiswürdig befunden. Die autobiographische Grundierung des Romans verstellte manchem Leser aus »Heideggers enger Welt« (Braun 1989) den Blick für den fiktionalen Gehalt dieses Textes, so dass auch außerliterarische – in erster Linie moralisch argumentierende – Gesichtspunkte seine Lektüre leiten konnten. Dabei wurde Stadlers Roman, dieses »kritische Gegenstück zu Heideggers Apologie der Provinz« (ebd.), dieses »Soziogramm eines real existierenden Mikrokosmos« (Grieser 1989), nurmehr als bloße »Abrechnung« missverstanden, obwohl doch bereits der Titel an die »Unverbindlichkeit und Gültigkeit eines Märchens« (Jetschgo 1989) gemahnt. Doch »eher als eine späte Abrechnung aus früher Verletztheit ist Arnold Stadlers Erstling ICH WAR EINMAL ein Fall von nachgetragener Liebe«, wie Karl-Markus Gauß (1989) zuzustimmen ist. Hinter aller Ironie und Satire, hinter aller Lakonie, allem Sarkasmus und schwarzem Humor verbirgt sich in diesem »Leporelloalbum voll von sich selbst dementierenden Idyllen« (Kaltenbrunner 1990) zugleich »eine tiefsitzende Liebe zu dieser Heimat« (Bender 1989). Denn neben den ›vielschichtigen Erinnerungen, dem konsekutiven Schmerz‹ (vgl. Stadler 1989a: 128) der Kindheit steht die gegenwärtige Wehmut über das Verschwinden der dörflichen Welt, über den Verlust der Heimat im ursprünglichen Sinne als Haus und Hof: »Der Hof wurde, als die Knechte weg waren, bald zu groß, und er wurde geteilt. Der Hof wurde bald zu klein und warf nicht mehr genug ab. Dann ging der Bauer in die Fabrik, die spätestens seit dem letzten Krieg an jedem Dorfende stand, und so haben sich die Dinge halt geändert. Dort verdient er das Geld für seine Landmaschinen, mit denen er in der Freizeit auf seinen Äckern herumfährt.« (ebd.: 46)

292 | ANTON PHILIPP KNITTEL

Und mit den Veränderungen im Dorf, mit den Veränderungen in Haus und Hof,11 ändert sich auch die Sprache, wie der Ich-Erzähler mehrfach wehmütig beklagt: »Es gab kein Meßkircherisch mehr, das sich vom Sigmaringerischen irgendwie unterschieden hätte im Bösen oder im Guten. Es gab nur noch das Kleinstädtische, das ein Halbdeutsch und ein Halbschwäbisch war. Vielleicht war es auch einmal anders, doch ich glaube es nicht. Die Alten taten so, als ob es einmal anders gewesen wäre.« (ebd.: 62)

Während etwa Heidegger bei der Feier zu seinem 80. Geburtstag »selbst von der Heimat auf Hochdeutsch zu den anwesenden Landsleuten« (ebd.)12 spricht, greift Stadler immer wieder zur badisch-schwäbischen Mundart. Nicht zuletzt dadurch verhindert er »die Reduktion der komplexen ländlichen Wirklichkeit auf die gängigen Klischees« (Breitenstein 1989). Am Ende seiner »kleinen und kleiner werdenden Erinnerungen« (Stadler 1989a: 128) konstatiert der Erzähler: »Fertig kommt von Fahren. Fertig heißt fährtig, heißt zur Abfahrt bereit« (ebd.), um mit dem pro-

11 Ähnliche Veränderungen thematisiert Stadlers um eine Generation ältere Landsmännin Maria Beig, deren Texte für Stadler »ein Anstoß, ein Schmerz und eine Freude« bieten (Stadler 1997: 114). In der Erzählung DAS DORF konstatiert Beig lakonisch – und die Parallelen zu Stadler sind nicht zu übersehen: »Kunstdünger war leicht zu streuen und konnte massenhaft gekauft werden. Im Herbst gab es einen dritten Schnitt, der in riesigen Silos, die das Dorf verschandelten, gärte. An das stinkende Futter gewöhnten sich die Tiere. […] Wer sich also auf Viehwirtschaft konzentrierte, brauchte einen neuen Stall, im Aussehen einer Turnhalle ähnlich. Er entschloß sich auch für eine andere Rasse. Die schwarzweiß gefleckten Kühe paßten zwar nicht in die Landschaft, doch waren sie ertragreicher. Eine Kuh glich der anderen. Sie hatten keine Namen, sondern Nummern. […] Das Dorf ist im Laufe etlicher Jahrzehnte ein anderes geworden. Niemand soll meinen, daß es kein schönes mehr wäre! Die Familien hatten zum Teil neue Wohnhäuser. Die alten Bauernhäuser waren sauber verputzt. An den Fenstern und den Haustreppen prangte Blumenschmuck. […] Überm Bach, wo es der Anhöhe zu ging, standen nette Häuschen. Die Arbeiter, die in die Stadt gingen und früher armselig gehaust hatten, konnten sie jetzt erbauen. Des günstigen Baupreises wegen, den ein Bauer, der aufgab, verlangte, zogen auch andere hierher. Die Stadt war mit dem Auto leicht zu erreichen. […] Söhne und Töchter der Bauern fuhren in die umliegenden Städte, um Geld zu verdienen. Ab und zu, wenn Not am Mann war, halfen sie daheim, doch wie den Verdienst, fanden sie auch das Vergnügen in der Stadt. […] Die Jungen brachten aus den Großkaufhäusern der Stadt Fleisch wie alle Lebensmittel heim.« (Beig 2010: 216ff.) 12 Dabei sammelt der Philosoph über seinen viehhandelnden Vetter, der dem Ich-Erzähler eines Tages eine Autogrammkarte des Philosophen aus seinem Saumantel überreicht, doch gerade alte, kaum noch gesprochene Wörter.

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grammatischen Satz »Ich bin fertig« (ebd.: 150) diese »Passionsgeschichte« vorläufig zu verlassen.

ALLES

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Im mittleren Teil des Stadlerschen Sehnsuchts- und Hoffnungsschmerztriptychons13, seiner »kleine[n] Schwackenreuter Passion« (Stadler 1994: 118), im 1992 erschienenen Roman FEUERLAND, macht der namenlose Ich-Erzähler beim Besuch der patagonischen Verwandten immer wieder die schmerzliche, weil die Sehnsucht nicht stillende Erfahrung: »Es war alles wie zu Hause und alles ganz weit entfernt davon.« (Stadler 1992: 16) Kein Wunder, bringt der Erzähler doch »[s]einen Schatten mit« (ebd.: 17), so dass er beim Versuch, seinen 1938 ausgewanderten Onkel zu besuchen, – dessen Abreise anhand eines Fotos mittels »fremde[r] Erinnerungen« (Stadler 1989a: 104) auch im ersten Roman gedacht wird – immer wieder resignierend konstatieren muss, dass »alles fast ganz wie zu Hause« (Stadler 1992: 59) ist. Bei seiner Reise zu den Verwandten ins patagonische Pico Grande folgt der IchErzähler seinen kindlichen Spuren – im doppelten Sinne. Denn schon dem Kind, dessen Fernweh durch die Briefe des Onkels geweckt wird, impfen die Erwachsenen buchstäblich ein: »Kam ein blauer Brief aus Amerika, blieb ich an seinen Wörtern hängen, Wörter waren es, die mich verzauberten. Man las mir vor und sagte mir, daß im Grunde alles ganz wie zu Hause sei, die Anden als die Alpen meines Onkels, die Schafe als seine Kühe« (ebd.: 11). Neben der Wiederholung jener früheren Sichtweise, die die Erwachsenen dem Kind vorgegeben hatten, stößt der erwachsene Erzähler in Patagonien darüber hinaus auch auf seine frühen schriftlichen Spuren: »Sobald ich schreiben konnte, schrieb ich von meinem Hunger und Durst und schickte ihn nach Amerika. Diese Briefe waren die ersten Ausrufezeichen aus einem Leben, das mir geschenkt wurde, wie man sagte, erste Spuren, die ich Jahrzehnte später am Fuß der Anden wiederfand. Mein Onkel hat alles aufgehoben für mich. Er hat alles für mich hingelegt und

13 In Stadlers Roman SEHNSUCHT notiert – etwa in der Romanmitte – der Ich-Erzähler: »Die Zukunft war damals meine Sehnsucht, so wie heute die Vergangenheit mein Heimweh ist« (Stadler 2002: 160), um am Ende zu konstatieren: »Dann kam das Leben. Sehnsucht ist Hoffnung minus Erfahrung, dachte ich fünfundzwanzig Jahre später« (ebd.: 322). Im Übrigen sinniert der Erzähler in der Vorrede zu MEIN HUND, MEINE SAU, MEIN LEBEN über mögliche Titel des Bandes. Unter anderem sei eine »Kleine Schwackenreuter Passion« verworfen worden, weil der Titel »an ein unvollendetes Triptychon« (Stadler 1994: 5) erinnere.

294 | ANTON PHILIPP KNITTEL mich wissen lassen, daß ich alles zurückhaben könne, daß er mir meine Erinnerungen schenken wolle zur Erinnerung an ihn. Er wußte alles.« (ebd.: 11f.)

Die Hoffnung, »es würde doch noch alles ganz anders werden« (ebd.: 13), zerbirst bereits bevor der Erzähler in Pico Grande bei den Verwandten ankommt. Denn er erfährt noch auf der Anreise, dass sein Onkel, der Fellhändler Don Antonio, bereits vier Wochen zuvor gestorben ist. Obwohl sein »Fernweh« (ebd.: 9) schon vor der Ankunft von »Erinnerungen, Geschichten vom Ende der Welt« (ebd.) eingeholt wird und die einstmalige »Ungeduld bis zum Tag der Abreise« (ebd.: 11), jene kindliche »Wut auf die Zeit« (ebd.), allmählich dem »Schmerz, der Schwester [s]einer Erinnerung« (ebd.: 76) gewichen ist, entschließt er sich, bei den Abkömmlingen jenes Uronkels zu bleiben, der 1898 die Kolonie Nueva Alemania gegründet hatte. Erfuhr das Kind beim Vorlesen der Briefe seines Onkels von den Erwachsenen immer wieder, »daß im Grunde alles ganz wie zu Hause sei« (ebd.: 11), stellt auch der Erzähler bei seiner Ankunft in Patagonien lakonisch und enttäuscht zugleich fest: »Und doch war es wie zu Hause.« (Ebd.: 84) Eine Erkenntnis, die der Ich-Erzähler dann noch wiederholt im Text formuliert. Von seinen patagonischen Verwandten wird er sofort auf den Friedhof14 geschleppt: »Mein Aufenthalt begann mit dem Besuch der Gräber, ganz so, wie zu Hause die Feste begannen.« (Ebd.: 17f.) Die Erinnerung an »den Heimatfriedhof, die Mutter aller Friedhöfe« (ebd.: 24), wird unterstützt durch die Tatsache, dass die »ferneren Verwandten« (ebd.: 17) »nur noch gebrochen Deutsch« (ebd.: 25) sprechen. Einzig die Worte »Friedhof, Grab, Grabstein, Grüß Gott! und Auf Wiedersehen« (ebd.) sind ihnen noch geläufig, so dass für sie »Tod, Heimat und meine Sprache fast dasselbe« (ebd.) bedeuten. So wird das fehlerfreie Deutsch auf den Grabsteinen zum »letzte[n] Lebenszeichen« (ebd.). Als »Gegen-Buch zu Chatwins In Patagonien« (Falcke 1992), als AntiErziehungsroman und »Fortsetzung, Erweiterung, Kontrapunkt« (Pulver 1993) von ICH WAR EINMAL ist Stadlers FEUERLAND ein modernes ›Stationendrama‹, das »den alten Topos vom Weggehen und Ankommen, vom Fremd- und Daheimsein neu auflegt und ihn gleichzeitig subversiv unterläuft« (Schaber 1992). Am Ende ist der

14 Mit Thomas Bernhardschem Furor beklagt Stadler 1999 in seinem Essay MEIN HEIMATFRIEDHOF.

EINE NIEDERWALZUNG u.a. vehement die Räumung von Gräbern in seinem

Dorf: »Namen in Verbindung mit Herz, Anker und Kreuz, beschützt von Engeln und Guten Hirten, waren es, die nun der Namenlosigkeit anheimgefallen sind und die nun in unserer kleinen Dorfgeschichte fehlen. Auf diese Weise hat man das letzte Lebenszeichen von den Menschen, die vor uns das Dorf auf und ab gegangen sind, beseitigt. Heute wird auch nicht mehr auf und ab gegangen. Man sitzt im Geländewagen […].« (Stadler 1999c: 116)

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Erzähler als »scheiternde Verbindung aus Ehrgeiz, Fernweh und Welterlösungswillen« (Stadler 1992: 30) nämlich genau da angekommen, wo der Roman mit seinem den Goetheschen MAXIMEN UND REFLEXIONEN entnommenen Motto einsetzt: »Man geht nie weiter, als wenn man nicht mehr weiß, wohin man geht.« Dabei verschränkt der Erzähler in der Erfahrung »Es war alles anders, als ich dachte, ganz wie zu Hause« (ebd.: 21 u.ö.) immer wieder Schmerz und Herkunft, Tod und Sehnsucht, Sprache, Schreiben und Erinnerung untrennbar.

D ER S CHMERZ

ALS

G RUNDRISS

DES

D ORFES

Verstärkt wird diese Verbindung von Schmerz und dörflicher Herkunft in MEIN HUND, MEINE SAU, MEIN LEBEN, dem 1994 erschienenen dritten Teil der autobiographisch grundierten Romantrilogie. Denn dort wiederholt der Ich-Erzähler variierend jenes Apophtegma (vgl. Gunia 2008) aus dem märchenhaften autobiographischen Erstling ICH WAR EINMAL, nämlich jene Verse aus Psalm 90, die die Dorfund Lebensstrecke in eins setzen. Das dritte Kapitel – mit »Auf dem Weg nach Schwackenreute« überschrieben – beginnt mit dem Satz: »In einer Geschichte, die keine Notiz von uns nahm, wohnten wir in unserem Haus unter dem Strohdach mit dem Schmerz als Grundriß und mit dem Satz, der von Bett zu Bett weitergegeben wurde bei uns: daß das Leben kurz sein, so kurz, wie einmal das Dorf hinauf- und hinuntergelaufen.« (Stadler 1994: 13)

Somit wird das Apophtegma der von Stadler mit »Das Leben ist kurz und schmerzlich. Einmal das Dorf hinauf und hinunter: so sind wir unterwegs« übertragenen Verse aus Psalm 90 mit einem weiteren Stadlerschen Apophtegma, nämlich jenem vom »Schmerz als Grundriss« des Lebens verknüpft. Diese Klammer zwischen Schmerz und Dorf, die für Stadler typische apophtegmatische Verbindung von Schreiben, Schmerz, Sehnsucht und Erinnerung mit dörflicher Herkunft akzentuiert er in seiner erweiterten und gründlich überarbeiteten Neuausgabe der autobiografischen Roman-Trilogie unter dem ebenso apophtegmatischen15 Titel EINMAL AUF DER WELT. UND DANN SO (2009). Denn er stellt zum einen jene Verse des Psalm 90 als drittes Motto dem Roman leicht abgewandelt voran: »Unsere Zeit hauchen wir

15 Gunia verweist zu Recht darauf, dass diese Formulierung, die ebenso in DER TOD UND ICH, WIR ZWEI

(1996) als auch in EINES TAGES, VIELLEICHT AUCH NACHTS (2003) auf-

taucht, »geradezu als Motto für das Œuvre Stadlers gelten darf« (Gunia 2008: 300). Darüber hinaus liest Gunia dieses Apophtegma als »Verwandlung des Heidegger’schen ›In-der-Welt-Seins‹ in eine elliptische Miniaturelegie« (ebd.).

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aus wie ein Aufstöhnen. Das ist alles. Einmal das Dorf hinauf und hinunter: So sind wir unterwegs.« Zum anderen aber heißt es am Ende in seinem »Widmungsgedicht, barock« erneut variierend: »Und der anderen Großmutter, Olivia Widmann, von der ich weiß, dass das Leben kurz ist. Wie einmal das Dorf hinauf und hinunter.« Die Bedeutung der ursprünglich in MEIN HUND, MEINE SAU, MEIN LEBEN verbundenen Sinn- und Denksprüche vom Leben, das so kurz wie einmal das Dorf hinauf und hinunter ist und vom »Schmerz als Grundriss« wird in EINMAL AUF DER WELT. UND DANN SO zusätzlich dadurch unterstrichen, dass Stadler sie unter der neuen Kapitelüberschrift »Schmerzensfreitag«, der Überschrift des ersten Kapitels von ICH WAR EINMAL, nun an den Beginn der erweiterten Trilogie stellt. Die Verschränkung der beiden Apophtegmata ist kennzeichnend für die Schreibtechnik des allzu oft als »Dorfdichter« verunglimpften Heimatvirtuosen, die als elaborierte »Ästhetik des Selbstzitats« (Taberner 2012: 277) und der Wiederholung bezeichnet werden kann. Indem immer neu der »Schmerz als Grundriss« des Lebens gestaltet wird, indem wieder und wieder imaginierte und imaginäre dörfliche Strukturen als Grundgerüst dieser schmerzhaften Erinnerungsorte abgeschritten werden, können die vielfältigen und topographisch vom oberen Donautal bis Patagonien, vom Hotzenwald bis Afrika, von Wien bis Kuba, von »Schwäbisch Mesopotamien« bis ins amerikanische Scranton am Fuß der Appalachen oder von der Basilikata bis in die Lüneburger Heide ausgreifenden Werke als die UmSchreibungen und Fortschreibungen eines einzigen Buches gelesen werden, wie Stadler selbst einmal bemerkt: »Ich dachte, ich wäre fertig. War es aber nicht. Und so folgten weitere Bücher, die aber alle mit dem einen ersten zusammenhängen, so daß es mir vorkommt, als schriebe ich an einem einzigen Buch.« (Stadler 2007b: 259) Das Dorf also als Metapher für das Leben im Allgemeinen und für das Leben der Stadlerschen Protagonisten – im Übrigen allesamt ›Minusmänner‹ – im Besonderen. Dieses imaginäre Dorf – auch wenn es in den Romanen tatsächlich existierende Namen trägt wie Rast, Schwackenreute, Kreenheinstetten oder Himmelreich, Mindersdorf, Irndorrf, Sauldorf oder jüngst auch Winterreute – wird bei Stadler nicht einem katalogisierenden Blick, wird nicht einer Bestandsaufnahme unterzogen, wie etwa das Dorf Bollschweil im Hexental bei Freiburg in Marie Luise Kaschnitzs 1966 erschienenen BESCHREIBUNG EINES DORFES16, in der es zu Beginn heißt: »Eines Tages, vielleicht sehr bald schon, werde ich den Versuch machen, das Dorf zu beschreiben. Ich werde überlegen, womit anfangen, mit dem Oberdorf, mit dem Unterdorf, mit

16 Nach Stadler »ein Programmgedicht, das schönste lange Gedicht, das ich aus diesem Jahrhundert aus dieser Sprache kenne« (Stadler 1998: 30).

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dem Friedhof, mit dem Wald. Oder mit den Höhlen, die hoch oben am Ölberg liegen, […] schließlich werde ich mit der Vogelschau beginnen, mit dem, was ein Vogel sieht, oder ein Fluggast aus seinem Kabinenfenster, […] ich werde das alles beschreiben und besonders ausführlich über die Rebhänge sprechen, die viele Jahrzehnte vernachlässigt waren, Brachland und Kartoffeläckerchen hier und dort« (Kaschnitz 1980: 9f.).

Stadlers Texte lassen sich in der Tat auch als Dorfbücher lesen, wie der Autor in einem poetologischen Fingerzeig zu verstehen gibt. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Kaschnitz-Preises bemerkt Stadler, er selbst habe »eine Art Dorfbuch« (Stadler 1998: 30f.) geschrieben: »Das Dorf, das Marie Luise Kaschnitz beschrieben hat, ist untergegangen, und zwar auf dieselbe Weise wie meines auch.« (Ebd.: 32) Aber anders als Kaschnitz 1966, die über ihren ausführlichen Arbeitsplan hinaus keine Beschreibung des Dorfes vornimmt, weil eben dieser Arbeitsplan realiter schon die Bestandsaufnahme des Dorfes enthält, kategorisiert Stadler ›sein‹ Dorf nicht topographisch. Er lässt es dabei weniger aus seiner räumlich-örtlichen Erinnerung und vielmehr durch die Herbeschwörung seiner schrulligen Landsleute, über ihre Aufrufung als Minusmänner und »Schießbudenfiguren« (Stadler 1989a: 108), erstehen. In den Stadlerschen Texten entsteht die dörfliche Welt als Lebensgefühl, als gleichgroßer Sehnsuchts- und Hoffnungsschmerz.17 In seiner Büchner-PreisRede formuliert dies Stadler so: »Aber ›Heimat‹ hat keinen Sinn mehr, höchstens noch in der Zusammensetzung ›Heimatfriedhof‹, dem letzten Wort, wo Heimat vorkommt, außer ›Heimathafen‹ vielleicht. ›Ende der Welt‹ ist geradezu unsinnig geworden auf einer Kugel, wo der Mensch, also auch ich, allem gleich, nahe und fern ist. Nähe und Distanz bezeichnen eigentlich nichts anderes mehr als die Entfernung vom Zuschauer zum quadratischen Bildschirm. Das will noch nicht in unseren Kopf, der etwa so rund ist wie die Erde. Auch in Schwackenreute bin ich auf der Welt. Und ebenso die Menschen, die alle gut verkabelt sind, angeschlossen an das Netz, das aus der Welt eine einzige Provinz macht. Diese Menschen aus Schwackenreute, Kreenheinstetten und aus dem Hotzenwald lasse ich ›ich‹ sagen. Das ist mein Erbarmen mit ihnen.« (Stadler 2000: 21f.)

Dieses ERBARMEN MIT DEM SEZIERMESSER lässt sich auch auf stilistischer Ebene festmachen, denn in der besonderen Stadlerschen Diktion wird eine gütige Anteilnahme am schmerzhaften Sezieren der erinnerten Menschen und Orte deutlich. Aber nicht nur die Topographien des Erinnerns, die Vergegenwärtigung des

17 Mit den Dörfern verschwindet neben der sozialen Kontrolle im Dorf auch der soziale Zusammenhalt, die »Sorge ums Einzelne«, wie Peter Renz (2012: 79) zu Recht feststellt, jene Dimension, der das Stadlersche Erbarmen gilt.

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Schmerzes in und an der vergehenden dörflichen Heimat versehrt, sondern auch das Instrument des Schmerzes, die sezierende Sprache in der ästhetischen Struktur der Erinnerung, wird zum Thema. Ob im Roman EIN HINREISSENDER SCHROTTHÄND18 LER der Erzähler an seine Hauptwörter, seine »Ja-Worte«, erinnert , oder ob er in MEIN HUND, MEIN SAU, MEIN LEBEN den Verlust der Muttersprache19 beklagt: Immer ist mit dem Thema Schmerz, Sehnsucht und Herkunft eine essentielle Sprachreflexion20 verbunden. In Stadlers drittem Roman MEIN HUND, MEINE SAU, MEIN LEBEN ruft der IchErzähler, selbst eine »Verbindung aus heiler Welt und Schwackenreute« (Stadler 1994: 17), noch einmal »den Schmerz als Grundriß« seines Lebens zurück. Kurz nacheinander werden Hund und Katze von einem Auto überfahren. Das nichts ahnende Kind bekommt eines Tages gar den letzten Spielkameraden, das geliebte Ferkel Frederic, vom »Mostonkel« der Schwackenreuter Seite »als Wurstsuppe« vorgesetzt: »Damals muß ich den Verstand verloren haben, denn unmittelbar darauf begann ich zu dichten«. (Stadler 1994: 35) Und so beginnt auch eine lange Reihe der Vermissten und Verlorenen. »Auf Schwackenreute folgte Meßkirch« (ebd.: 70) mit seinem Agnes-Miegel- und späteren »Feldweggymnasium«, den »alten Lehrerinnen, die sich schon im NS-

18 »Es waren meine Hauptwörter: Stalltürchen, Viehmantel, Stallfenster, Viehwagen, Misthaufen, Onkel Karl, Speckbrettchen, handbemalte Gebetsnuß, Tischgebet, Rosenkranz, Mistgabel, Heuschwanz, Heugabel, Herrgott, Engel des Herrn, Opel Kadett, Rauchkammer, Krautzuber, Notschlachtung, Viehprämie, Schlachthof, Deckbullen, Besamungsstation, Kirchenchor, Wurstsalat, halbes Hähnchen.« (Stadler 1999b: 51) 19 »Unsere Schmerzen verschlugen uns die Sprache. Unsere Sprache bestand nur aus Pausen und Unaussprechlichem, aus Schmerzlauten – oder gleich aus Schreien. […] Es hieß Wort und Sprache, was wir nachplapperten, von wem-weiß-ich-nicht erfunden, denn meine Mutter hat die Wörter, die sie mir in den Mund legte, auch nur in den Mund gelegt bekommen. Von wegen Muttersprache. Meine erste Sprache, die Sprache der Mutter, war ja meine erste Fremdsprache. Muttersprache und Fremdsprache fielen zusammen in meinem Mund.« (Stadler 1994: 30) 20 »Eines Tages kam einer von der Stadt zurück und sagte Ich war. Und damit war auch noch eine falsche, oberflächliche Vergangenheit eingeführt bei uns.« (Stadler 1994: 28) In UM DEN HEUBERG IST FRUCHTBARER BODEN schreibt Stadler: »Und das Leben war ein Verlitt. Denn eine Sprache haben wir auch, oder hatten wir. Und die dazugehörenden Menschen gab es auch, die diese Sprache, ich nenne sie hier der Einfachheit halber Muttersprache, noch fehlerfrei sprechen konnten, unkontaminiert vom hochdeutschen Gepränge und den Versuchen der Verwaltung, von der Kindergärtnerin an, das schöne, von Ort zu Ort wie eine Tonart variierende Schwäbisch den Kindern wie eine schlechte Gewohnheit auszutreiben.« (Stadler 2011c: 106).

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Lehrerinnenbund gestritten hatten« (ebd.: 61), den Sonnwendfeiern und der reduzierten Kommandosprache des Interimsdirektors, »der schon der erste Lateinlehrer von Ernst Jünger gewesen war« (ebd.). Wie die Meßkircher Station mit dem Verlust des Schulfreundes A. aus Kreenheinstetten endet, schließt auch der Aufenthalt in der sogenannten Ewigen Stadt Rom mit einer langen Liste von Verlorenen. Vor allem der Titularbischof Franz Sales Obernosterer – Konvertit und »einer der Mesner des Heiligen Vaters, mit dem Recht, den Papst zu wecken, mit freiem Zugang zu den päpstlichen Kleiderkammern« (ebd.: 74), – dieser Franz Sales Obernosterer nimmt sich des jungen Priester-Seminaristen an. Will der Jugendliche, wie in FEUERLAND erzählt, Mao Tse-tung bekehren, so träumen der String-TangaUnterwäsche (ebd.: 102) tragende Monsignore Obernosterer und sein LieblingsSchüler im Feinschmeckerlokal L’eau vive von der Entführung der englischen Königin, um sie zur Aufgabe des päpstlichen Titels »Defensor fidei« (ebd.: 101) zu zwingen. Noch vor seiner Ausführung misslingt das Bekehrungsunternehmen genauso wie das römische Intermezzo des Erzählers insgesamt, denn eine frühere Ohnmacht als Messdiener, aus Sauerstoffmangel in der kleinen Dorfkirche, legt der Arzt bei der Abschlussuntersuchung als Epilepsie aus. »Man wollte mich einfach nicht haben, warum weiß ich nicht, immer wieder machte ich einen schlechten Eindruck auf die Welt, Epilepsie war noch zu meiner Schonung gesagt; alles, was man zu mir sagte, war ja im Grunde ein Euphemismus.« (Ebd.: 112) Das UngenügendSein und die eigene Mangelhaftigkeit werden damit zur Grunderfahrung des Protagonisten. Nach Deutschland zurückgekehrt, fristet der gescheiterte Theologe als Grabredner in Freiburg sein Dasein und muss an seinem 40. Geburtstag vom Dachboden aus gar noch die Versteigerung des Hofes, den Verlust der Heimat – eben im alten Sinne als Haus und Hof21 – mit ansehen: »Fünf nach zwölf, als alle beim Essen waren, verließ ich mein Versteck. Aber ich faßte keinerlei Vorsätze mehr, außer keine Vorsätze mehr zu fassen. Und dabei blieb es.« (Ebd.: 150)

21 Von diesem Heimatverlust erzählt vor allem auch Maria Beig (geb. 1920) etwa in RABENKRÄCHZEN, HOCHZEITSLOSE, HERMINE. EIN TIERLEBEN oder auch in ihrem Essay AUS OBERSCHWABEN. PARADIES VOR DEM AUSVERKAUF. In letzterem heißt es am Ende: »Asphalt und Beton! Nicht nur die Straßen sind es. Fabriken haben die Dörfer entstellt. Dazu kamen die städtischen Häuser und Wohnsiedlungen. Die Landschaft verliert ihr Gesicht. Der Stadt stehen Fabriken und Hochhäuser zwar besser an – schöner wären auch die Städte ohne sie. Es soll hier nicht angeklagt werden, weil sich vieles so rasch und so tiefgreifend verändert hat in dieser Gegend. Schuld war die Zeit. Neben der Freude über die Schönheit dieses Fleckchens Erde soll aber Trauer erlaubt sein. Trauer darüber, daß Heimat auch weh tun kann.« (Beig 2010: 229)

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Mit Stifter, einem »Selbstmörder als Lebenshilfe« (ebd.: 151) und »seiner Nachsommerwelt als Trost« (ebd.) findet seine Erinnerung, diese »zweite Gegenwart« (Stadler 1994: 5), ihr vorläufiges Ende. »Viel härter«, resümiert Walser, »kann ein Leben nicht verlaufen als das so erzählte. Aber nirgends empfinde ich das hier erzählte Leben als Misere. Der Ausdruck läßt nichts Stoffliches als solches übrig. Auch im elendesten Augenblick erlebt man zuerst und vor allem die Ausdruckskraft […] des Autors. Das heißt, es ist immer alles trotzdem schön. Das Trotzdemschöne zeigt, woraus es ist, was es gekostet hat.« (Walser 2009: 304f.)

Stadlers imaginierte Dörfer sind also immer schon defizitär. Die erinnerten und in Erinnerung wieder hergestellten imaginierten Dörfer seiner Texte entstammen, wie sein Schreiben insgesamt, immer auch dem »Junktim von Todeshorizont und Lebensgegenwart« (Stadler 2009b: 281). Sie sind – analog zu ihren Protagonisten – immer auch an jene Blochsche Definition von Heimat angelehnt, an jenes »etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war« (Bloch 1985: 1628).

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SCHREIBEN

Ob mit EIN HINREISSENDER SCHROTTHÄNDLER – der in Kreenheinstetten, dem Geburtsdorf des barocken Wiener Hofpredigers Abraham a Santa Clara, unweit des Heideggerschen Meßkirch spielt – oder dem AUSFLUG NACH AFRIKA, oder anderen Texten wie KOMM, GEHEN WIR oder SEHNSUCHT. VERSUCH ÜBER DAS ERSTE MAL: Bei Stadler ist letztlich, wie bei Marie Luise Kaschnitz, »im Grunde alles nach Hause geschrieben« (Stadler 1998: 28): »Wie oft«, so Stadler in der Dankesrede zur Verleihung des Kaschnitz-Preises, »habe ich in meiner ländlichen Umgebung auf den Höhen über dem westlichen Bodensee, im Hinterland, auch Hinterland des Schmerzes, die Drohung: Ich schreibe noch einmal ein Buch! gehört. Was nie geschehen ist. Oder auch den Satz, vielleicht noch öfter als Klage gehört: Über dies alles müßte ich ein Buch schreiben! Was nie geschehen ist. Also habe ich, vielleicht auch stellvertretend, Stellvertretersätze geschrieben? Für diese Welt, die ihren Schmerz doch nicht formuliert hat?« (Ebd.: 34)

Insofern ist es konsequent, wenn Stadler festhält: »Ein glückliches Leben muß keine Sprache finden.« (ebd.) Und auch Stadlers Aussagen über Büchner lassen sich auf ihn selbst übertragen. Auch seine »Sprache ist sein Seziermesser« (Stadler 2000: 16). Aber, und das ist das Entscheidende: Bei beiden ist die Sprache »Se-

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ziermesser und ein Schmerzmittel« (ebd.: 17) in einem. Hinter allem steht bei Stadler die Erfahrung vom Verschwinden der Heimat. In einem Essay beklagt Stadler: »Das ganze Leben ist verbraucherfreundlich geworden, oder die Welt tut wenigstens so, als wäre sie es. Auch der Linzgau wird sich bald in ein Outdoorzentrum verwandelt haben, und die verbliebenen Dörfer sind keine mehr, sondern Dorfattrappen, […] und unter dem Solardach wohnen keine Bäuerinnen mehr, sondern Verbraucherinnen, die mit ihrem Auto zum nächsten Factory Outlet fahren, und die H-Milch im Container holen. Die Linzgauwelt ist wie überall. Einst hatte sie das gewisse Etwas, und bald wird sie das gewisse Nichts haben, in der Globalisierungskelter verschwunden sein, eine unheile Welt, die Menschen, die nun Verbraucher heißen, merken es nicht einmal und glauben, daß immer alles besser geworden ist. […] All die Obstsorten, Apfelnamen, die Oberteuringer, der Frühapfel, der Geflammte Kardinal, gibt es nicht mehr, kommt nicht vor, in der Globalisierungskelter verschwunden, verdrängt von Handelsware, die an der Terminbörse verhandelt wird.« (Stadler 2011b: 175)22

Sowohl die Romane als auch die Essays Stadlers zeugen von seiner unablässigen Vermessung der Heimatlosigkeit: »Ich bin nur einer, der die Heimatlosigkeit beschreibt, ein Phänomenologe, der das, was vorschnell mit ›Heimat‹ bezeichnet wird, näher anschaut, vielleicht auch aus Anhänglichkeit. Doch ich bin alles, nur kein Nostalgiker. Ich sehe nur, was da ist. Ich sehe nur, daß etwas nicht mehr da ist.« (Stadler 2000: 113)

Der verdichteten autobiografischen Trilogie EINMAL AUF DER WELT. UND DANN SO (2009) folgten mit NEW YORK MACHEN WIR DAS NÄCHSTE MAL (2011) GESCHICHTEN AUS DEM ZWEISTROMLAND, so der Untertitel, mit vielen Anknüpfungspunkten zu KOMM, GEHEN WIR. Es sind kleine Notate, Reflexionen und nicht zuletzt auch die Geschichten der Hauptfigur Roland, die Stadler hier verdichtet. »Wenn Roland sein uraltes, handgeschriebenes Buch mit den Telefonnummern und den Adressen durchging, stieß er auf eine Welt von Enttäuschten« (Stadler 2011: 9), heißt es zu Beginn. »Und sein eigener Name, den er schon auf der ersten Seit lesen konnte, war der allererste in der Liste derer, die enttäuscht waren. Er, das war jener, der von allen der Enttäuschteste war.« (Ebd.: 9) Enttäuschend verläuft für Roland, den Sohn eines verspäteten Russland-Heimkehrers, schon die frühe Initiation in Sachen Liebe durch die kindliche Freundin Marieluischen, die später die »jüngste Großmutter von Mesopotamien, zwischen Donau und Rhein« (ebd.: 24), sein sollte. Denn das Dok-

22 Und weiter heißt es dort: »Heute lebt der Mensch, ob nun in Pfullendorf oder in Oberboshasel oder Hinterstenweiler, wie überall. Zum nächsten Shopping Center ist es von überall gleichweit, das heißt gleich nah.« (Ebd.: 177)

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torspiel, jene »Sehnsucht des Etwas zum Nichts« (ebd.: 29) gerät zum Fiasko, zur »Vertreibung aus dem Paradies« (ebd.). So gilt für Roland »Zu Hause, im Himmelreich« (ebd.: 31) wie für den namenlosen Ich-Erzähler der autobiographischen Trilogie: »Es tat weh. Das war bei jedem so, der es wirklich versuchte, sich an seine Vergangenheit genau zu erinnern, an seine Herkunft, aber auch an seine Gegenwart, sich sein Leben ganz vorzustellen, zu vergegenwärtigen, auch noch die Zukunft, anders als die Sonnenuhr, die es auch noch gab zwischen zwei Hirschgeweihen über dem Scheunentor, die nur die schönen Stunden zählte. Ach, wie sie, paarweise oder nicht, durchs Leben schlitterten, übers Meer, und wie ihr Leben mit ihrem Sterben zusammenfiel. Manchmal blieb eine Geschichte übrig«. (Ebd.)

Während Roland, das »Christkind, gemacht im Karneval, im ersten Jahr der Fresswelle« (ebd.), beim Familienausflug auf den Flughafen Zürich-Kloten den Satz »New York machen wir das nächste Mal« (ebd.: 52) als ironischen Kommentar zur unmöglichen Reise verstehen muss, ist er für Jim und Joey Marinelli, die Söhne von Claire und Joe Marinelli, im amerikanischen Scranton am Fuß der Appalachen, Vertröstung, ja bewusste Täuschung. Denn Vater Joe, auf dem Weg zum Flughafen, um seinen italienischen Vetter Pino aus Pescapogano, einem Bergnest der Basilikata, abzuholen, will seine Söhne mit diesem Versprechen zur Verschwiegenheit verpflichten. Schließlich war er auf dem Weg zum Flughafen für einige Minuten in einem Motel mit »Herzchen« verschwunden. Doch kaum ist der italienische Vetter angekommen, verfallen er und Claire sich ähnlich rasch wie es den Protagonisten im gleichnamigen Roman mit dem ›hinreißenden Schrotthändler‹ erging. Stadler liefert in Rück- und Vorblenden weitere Versatzstücke der Geschichte von Roland und Jim. Er liefert weitere »Nachrichten aus der Gegend gleich hinter dem Schwackenreuter Wäldchen«, so der Untertitel des dritten Kapitels, ohne allerdings einem durchgehenden Plot zu folgen. So vollzieht NEW YORK MACHEN WIR DAS NÄCHSTE MAL weitgehend das von Stadler wiederholt zitierte Diktum Mark Twains, wonach »persons attempting to find a plot in will be shot«. Die GESCHICHTEN AUS DEM ZWEISTROMLAND bieten gleichwohl eine Fülle poetischer Verdichtungen seiner Sehnsuchtsmenschen, die das Glück suchen. Und neben der variierenden Wiederholung der Stadlerschen Verse aus Psalm 90 (ebd.: 47) findet sich in ihnen auch die Verbindung von Dorf- und Lebensstrecke in dem Satz »Und nachts kreuzten sich Milchstraße und Dorfstraße auf dem Nachhauseweg.« (Ebd.: 13; vgl. dazu auch Knott 2009 und Rottschäfer 2012, 2013) Einfaches, jedoch nicht Banales, und Schönes, wenn nicht selten zudem Sakrales, ist zentral auch in Stadlers Hommage an den oberschwäbischen Maler Jakob Bräckle (1897-1987): »Die Ausrichtung auf das Schöne vom Ewigen [...] ist der Grund und die Voraussetzung seiner Malerei, die Seele des Ganzen, die unsichtbar

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und doch da ist« (Stadler 2012: 156), heißt es an zentraler Stelle in AUF DEM WEG NACH WINTERREUTE. Der Großessay begleitete eine von Stadler kuratierte Ausstellung mit gut 100 Ölbildern aus dem über 4000 Arbeiten umfassenden Werk dieses »Julius Bissier am Bodensee« (ebd.: 9). Stadlers Text über den »Weltmaler« aus dem 115-Seelen-Dorf Winterreute bei Biberach ist wie seine Essays über Johann Peter Hebel und Adalbert Stifter angelegt als große Vergegenwärtigung. »Er malte, was ich schreiben wollte. Er sah, was ich nicht mehr schreiben kann. Da ist es nun aufgehoben«, rühmt Stadler Bräckles »Seelenlandschaften im Postkartenformat« (ebd.: 108): »Bräckles Unvergesslichkeit eröffnete mir zugleich ein anderes Feld, auf dem ich nun ein wenig unterwegs sein werde: jenes der Erinnerung an eine Welt, die ich kannte, die mir Bräckle mit seinen Bildern zu einer zweiten Gegenwart macht. Und so, als hätte er festgehalten, wie es war […]. Und so sind seine Bilder. Ganz da. Und einfach und still, und tief und einsam.« (ebd.: 10)

Bräckle, für Stadler »in fast allem ein Gegenstück zu Jünger« (ebd.: 31), ist »noch viel mehr und anderes als ein Chronist und Bewahrer einer Welt, die sonst verloren wäre: Er ist der Vergegenwärtiger und Retter der Welt überhaupt, denn diese Welt, die er gemalt hat, ist mehr als Oberschwaben, es ist das Ganze im Fragment. Es ist mitten in den Feldern meiner Erinnerung.« (Ebd.: 66) Daher verwundert es kaum, wenn Stadler auch an seine Großmutter und deren Satz von der Analogie von Lebens- und Dorfstrecke erinnert.23 So wird AUF DEM WEG NACH WINTERREUTE zu einer Selbstverständigung, die sich in Stadlers Werk organisch einreiht. Es ist ein Versuch, sich gegen die »Globalisierungskelter« (ebd.: 18 u.ö.) zu behaupten: »Bräckle ist auch kein Heimatmaler, wenn er im Laufe seiner Schaffenszeit vor Ort eine Welt vergegenwärtigte, die immer weniger wurde, und ich bin auch nur ein Schriftsteller von heute, für den die Heimat nur in der Beschreibung der Heimatlosigkeit enthalten sein kann.« (Ebd.: 8)

23 »Um 1900. Das war die Zeit meiner Großeltern. Bräckle war geboren zwischen meinen Großvätern und Großmüttern und wuchs in vergleichbarer Welt auf. Meine Großmutter hätte sich auch sagen: Ich habe es doch nur vom Unterdorf ins Oberdorf geschafft! Einmal das Dorf hinauf und hinunter: So sind wir unterwegs.« (Ebd.: 60)

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Zugleich lässt sich der Essay auch als unausgesprochener Dialog mit den späten Werken Martin Walsers24 – etwa MUTTERSOHN und ÜBER RECHTFERTIGUNG. EINE VERSUCHUNG – lesen, wenn es bei Stadler heißt: »Malen, wie es Bräckle verstand, ist auch Beten« (ebd.: 48) oder: »In Bräckles Bildern wird das Einfache als das Schöne gezeigt. Er sieht das Einfache in Verbindung mit dem Schönen, und dieses mit dem Göttlichen.« (Ebd.: 156) So begreift Stadler Bräckles Werk als eine »lebenslängliche Danksagung« (ebd.: 172). Mit jedem neuen Stadler-Text hat man in der Tat das »Ganze im Fragment« (ebd.: 66). Alle Fragmente verweisen auf jene utopischen Orte, »die allen in die Kindheit schein[en] und worin noch niemand war.« Die imaginierte Heimat, die imaginierte Sehnsucht gilt Menschen und Orten, die gleichwohl – weil sie zugleich eben auf Transzendentes verweisen – entterritorialisiert sind, denn auch in der fernsten Ferne »war alles anders als ich dachte, ganz wie zu Hause.« Insofern trifft auf Stadlers Erinnerungs-, Sehnsuchts-, Schmerz- und Hoffnungs-Texte Walsers (1998: 121) Feststellung zu: »Nichts kann deutlicher sein als ein Dorf, das es nicht mehr gibt.«

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24 Umgekehrt lässt sich Walsers autobiographischer Roman EIN SPRINGENDER BRUNNEN (1998) meines Erachtens auch als Auseinandersetzung mit den Texten Arnold Stadlers lesen – nicht zuletzt und vor allem der autobiographisch grundierten ICH WAR EINMAL, FEUERLAND und MEIN HUND, MEINE SAU, MEIN LEBEN. Und auch in MUTTERSOHN lässt sich eine Stadler-Anspielung erkennen, wenn ein Zwiefaltener Abt den Namen Stadler trägt.

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»Immer schneller die Zeit« Der Verlust dörflicher Strukturen und die veränderte Zeitwahrnehmung in Peter Kurzecks Vorabend∗ C HRISTOPH S EIFENER

Z EIT

UND

E RINNERUNG IN K URZECKS R OMAN

Gleich in zwei autobiographischen Großprojekten der deutschen Gegenwartsliteratur kommt der Wetterau, der ländlich geprägten Gegend um Friedberg und Butzbach, zwischen Gießen und Frankfurt gelegen, eine konstitutive Bedeutung zu. Sowohl in Andreas Maiers auf elf Bände angelegter Familiensaga ORTSUMGEHUNG, von der bisher drei Romane (DAS ZIMMER, DAS HAUS, DIE STRASSE) vorliegen, als auch in Peter Kurzecks womöglich noch ambitionierteren Erinnerungschronik DAS ALTE JAHRHUNDERT, von der bis zu Kurzecks Tod im November 2013 fünf Bände erscheinen konnten (ÜBERS EIS, ALS GAST, OKTOBER UND WER WIR SELBST SIND, EIN KIRSCHKERN IM MÄRZ, VORABEND), spielen die in der Wetterau angesiedelten Herkunftsorte der Autoren und die Veränderungen, die diese Orte im Laufe der Zeit erfahren haben, eine entscheidende Rolle. Insbesondere im fünften und umfangreichsten Band von Kurzecks Chronik, dem über tausend Seiten starken Roman VORABEND, um den es im Folgenden vor allem gehen soll, markiert der »Ort der Kindheit«, das Dorf Staufenberg, das eigentliche Zentrum des Textes. Der Schriftsteller Peter Kurzeck galt lange Zeit als »einer der großen Unbekannten der deutschen Gegenwartsliteratur« (Magenau 1997: 236, vgl. auch Vogel 1993). Gemeint ist damit, dass Kurzecks Romane, die seit 1979 erscheinen, zwar



Bei diesem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Version eines Aufsatzes, der 2013 unter dem Titel »Zeit und Erinnerung in Peter Kurzecks Roman Vorabend« in der Zeitschrift der Koreanischen Gesellschaft für Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaften, DOKILOMUNHAK, erschienen ist.

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von der Kritik hochgelobt und mit vielen renommierten Preisen ausgezeichnet wurden, ein breiteres Publikum bisher aber nicht erreicht haben. Auch die Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten zum Autor und seinem Werk ist bis heute überschaubar. Allerdings ist die öffentliche Wahrnehmung Kurzecks seit Erscheinen der ersten Bände seiner Erinnerungschronik, die im Feuilleton große Aufmerksamkeit erfahren hat, im Wandel begriffen. Die Tatsache, dass sich Andreas Maier hinsichtlich seiner Familiensaga ausdrücklich auf DAS ALTE JAHRHUNDERT als Anregung beruft, spricht darüber hinaus für die Anfänge einer literarischen Wirkungsgeschichte Kurzecks. Das große Thema aller Bücher Kurzecks ist das (natürlich vergebliche) Bemühen, dem Vergehen der Zeit durch den Versuch, die Vergangenheit durch Erinnern und Erzählen vor dem Verschwinden zu bewahren, etwas entgegenzusetzen. Da sich dieses Bemühen als Ausdruck einer zutiefst empfundenen inneren Notwendigkeit äußert und sich Kurzeck fast ausschließlich auf seine eigene Lebensgeschichte und autobiographische Erinnerungen stützt, kann man durchaus, wie Werner Jung das tut, davon sprechen, dass hier ein »geradezu Zeitversessener [schreibt]; er schreibt um sein Leben, weil er sein Leben verschriftlichen möchte – erzählen muss.« (Jung 2009: 269) Angesichts der Obsession, mit der sich Kurzeck seiner Thematik nähert, drängen sich Vergleiche mit Marcel Proust förmlich auf und werden von den Rezensenten auch gerne gezogen (siehe z.B. Magenau 2011). In VORABEND schildert der Ich-Erzähler – der, soweit das in einem autobiographischen Roman eben möglich ist, mit Peter Kurzeck identifiziert werden kann (vgl. Tröger 2008: 262f.) – zunächst in allen Einzelheiten Impressionen aus seinem Tagesablauf an einem Herbsttag 1983, bevor er durch den Anruf eines Freundes an ein Wochenende ein Jahr zuvor erinnert wird. Mit seiner Lebensgefährtin Sybille und der gemeinsamen vierjährigen Tochter Carina hatte er diesen Freund, Jürgen, und dessen Partnerin in deren Wohnung in Frankfurt-Eschersheim besucht. Der Besuch ist von Abschiedsstimmung geprägt, denn das befreundete Paar will in Kürze nach Südfrankreich ziehen und sich dort eine neue Existenz aufbauen. Und diese Stimmung des Abschieds, des Vergehens, ist prägend für den Roman. Denn dort, bei seinen Freunden, beginnt sich der Erzähler an Staufenberg zu erinnern, den Ort seiner Kindheit und Jugend und daran, wie der Fortschritt in den 1950er, 60er und 70er Jahren langsam in das Dorf gekommen ist, und das Gesicht des Ortes und vor allem das Leben seiner Bewohner verändert hat. Diese Thematik nimmt den größten Raum innerhalb des Romans ein. Der Leser hat es also in Kurzecks Werk mit vier ineinander verschachtelten Zeit- und Erinnerungsebenen zu tun. Der Ich-Erzähler erinnert sich an einen Oktobertag 1983, an dem er sich ein Wochenende 1982 erinnert, an dem er sich an das Leben in Staufenberg in der Nachkriegszeit erinnert. Kurzeck präsentiert seinen Lesern allerdings kein nostalgisches Schwelgen in Erinnerungen, es ist vielmehr ein wahrer Erinnerungsrausch, in den der Erzähler sich während des Wochenendes in

»I MMER SCHNELLER DIE Z EIT « | 311

Eschersheim steigert, der bis zu seiner völligen körperlichen Erschöpfung führt. Die Erinnerung entfaltet sich dabei als ein unablässiger Gedankenstrom. Dabei scheint das Erinnerte zunächst ganz unmittelbar aus freien Assoziationsketten hervorzugehen oder spontanen Eingebungen geschuldet zu sein. Tatsächlich aber ist Kurzecks Text äußerst durchkonstruiert, es finden sich immer wieder Leitmotive, die den Roman durchziehen und ihm ein Gerüst geben. Kurzeck verwendet dabei in VORABEND, wie in allen seinen Werken, eine eigenwillige, Mündlichkeit simulierende elliptische Syntax. Jörg Döring hat im Rückgriff auf Walter Ong für diese Vorgehensweise den Begriff der »sekundären Oralität« vorgeschlagen. (Döring 1996: 226, vgl. Ong 1987) Entscheidend für Kurzecks Konzeption des Erinnerns ist, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit für den Erzähler keine Möglichkeit darstellt, sondern eine Notwendigkeit. »Wenn, sagte ich, wenn etwas war und dann nicht mehr ist, muß man sich erinnern!« (Kurzeck 2011: 771) Diese Aussage ist nicht als Plattitüde zu verstehen. Vielmehr liegt die Betonung auf dem »muß«, auf der Verpflichtung, die der Erzähler verspürt, sich zu erinnern, gerade auch, weil alle anderen Menschen genau dies nicht tun. »Daß sie auch immerfort alles vergessen müssen, sobald etwas nicht mehr da ist, sagte ich zu Sibylle. Und dann bin ich der einzige, der es sich merken muß. […] Und weil sie immer alles vergessen, sagte ich, und ich weiß, ich bin der einzige, der es noch weiß, deshalb, sagte ich, muß ich dauernd dran denken, damit ich auch jederzeit weiß, daß ich es noch weiß. Müßte ja sonst verrückt werden, sagte ich.« (Ebd.: 859)

Sich zu Erinnern bedeutet für den Erzähler also nicht nur, dass die Vergangenheit zu besonderen Anlässen vergegenwärtigt werden muss. Sie ist für ihn ohnehin dauernd präsent. Darüber hinaus bestimmt das Bewusstsein, dass jeder Moment der Gegenwart selbst einmal Vergangenheit und damit potentielle Erinnerung sein wird, das Leben des Erzählers. Seine Wahrnehmung ist darauf ausgerichtet, sich alle Eindrücke schon im Voraus »zu merken«, um sich später wieder an sie erinnern zu können. Schließlich werden Handlungen überhaupt nur in der Intention vollzogen, damit eine Erinnerung zu konstruieren. Etwa, wenn der Erzähler davon berichtet, vor einer Reise ein bestimmtes Café besucht zu haben, eben um sich später daran zu erinnern.1

1

»Denn wichtiger noch als der Zug ist mir, daß ich vor der Abreise noch Zeit habe für einen Kaffee und einen Cognac im Café Schwarz. Damit man, sagte ich […], sich den Tag und den Augenblick merkt. Den Augenblick vor der Abreise. Und kann sich später erinnern.« (Kurzeck 2011: 534)

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Das Erzählen des Erinnerten stellt, wie das Schreiben, für den Ich-Erzähler vor allem eine Möglichkeit dar, alles Erlebte noch einmal nachzuvollziehen. Denn im Prozess des Erzählens, im »[H]erbeireden« dessen, »was nicht mehr ist« (ebd.: 792), entsteht das Erinnerte im wahrsten Sinne neu. Die ungewöhnlichen grammatischen Konstruktionen in den Aufforderungen der Tochter, »Erzähl weiter das Dorf! […] Erzähl alle Tiere im Dorf!« (ebd.: 9), und Ankündigungen des Erzählers wie »Die Leihbücherei mit Beratung muß ich euch ein andermal erzählen« (ebd.: 389), deuten darauf hin. Nicht »von der« oder »über die« Leihbücherei soll also erzählt werden, sondern die Leihbücherei selbst soll erzählt und das heißt, im Erzählen selbst geschaffen werden. Vor diesem Hintergrund haben auch imaginäre Erinnerungen, die erzählen, wie etwas gewesen sein könnte, die gleiche Bedeutung wie tatsächlich Erlebtes. Im permanenten Nachvollzug der Vergangenheit besteht gleichzeitig auch der Versuch einer Antwort auf die zentrale Frage des Romans: »Wie soll man die Zeit verstehen und daß sie vergeht?« (Ebd.: 365)2 Zum Verstehen der Zeit gehört nämlich der Versuch, die Vergangenheit durch das Erzählen gewissermaßen in den Griff zu bekommen, die fließende Zeit dingfest zu machen und gleichzeitig das Vergehen der Zeit zu reflektieren.

D IE B ESCHLEUNIGUNG

DER

Z EIT

Eine zentrale Erfahrung des Ich-Erzählers besteht in VORABEND in der Wahrnehmung der immer schneller vergehenden, der knappen Zeit. Dieses Phänomen begegnet dem Leser auf zwei Ebenen. Zum einen bestimmt es die Rahmenhandlung des Romans, die Darstellung des Wochenendes, das der Protagonist, unaufhörlich seine Erinnerungen berichtend, bei seinen Freunden verbringt. Hier resultiert das Gefühl der knappen Zeit aus der Tatsache, dass ein erzählender Nachvollzug alles Erlebten, den der Ich-Erzähler eigentlich anstrebt, nicht möglich ist, weil die Zeit selbst auch während des Erzählens vergeht, also schlicht uneinholbar ist. »Du kannst gleich ins Bett, sagt mein Freund Jürgen schon an der Tür zu mir, aber dann muß ich erst noch zwei Stunden lang den gestrigen Tag erzählen und (weil das dazu gehört, jede

2

Die Kernproblematik des Vergehens der Zeit kommt programmatisch bereits im Titel des Romans zum Ausdruck. »Vorabend« markiert einen Zeitpunkt, an dem der heutige Tag bereits im vergehen begriffen ist. Indem aber bereits der nächste Tag antizipiert wird, wird deutlich, dass dieser Moment, der Abend selbst, vor allem in Bezug darauf wahrgenommen wird, dass er selbst vergeht.

»I MMER SCHNELLER DIE Z EIT « | 313

Einzelheit!) einen Herbstnachmittag aus dem Oktober 1960 und dazu unseren heutigen Weg hierher. Kurzfassung. Aber eigentlich müssen Wege in Echtzeit erzählt werden.« (Kurzeck 2011: 66)

Natürlich ist es aber unmöglich, Wege in Echtzeit zu erzählen, weswegen der Erzähler gegenüber der Zeit immer wieder ins Hintertreffen gerät. Und daraus resultiert ein ungeheurer Druck schneller zu erzählen, zumal der Umfang dessen, was erinnert und erzählt werden muss, für ihn während des Aufenthalts bei seinen Freunden plötzlich immer größer wird. Als Lösung bleibt da nur, »[a]m liebsten alles gleichzeitig [zu erzählen] [...]. So erzählen, daß die Zeit stehenbleibt«. (Ebd.: 924) Damit formuliert Kurzeck den theoretischen Ausweg aus seinem Dilemma. Wenn es ihm gelingt, alles gleichzeitig zu erzählen, wenn es also im Erzählen kein Nacheinander mehr gibt, dann bleibt die Zeit stehen und nichts vergeht. Tatsächlich kommt es hier ganz plastisch zu dem »Wunsche einer ›Stillstehung‹ des Weltverhältnisses«, der, nach Hartmut Rosa, »Ausdruck der durch Beschleunigung erzeugten Entfremdungsangst« ist. (Rosa 2012b: 157) Vor allem aber ist die Wahrnehmung der immer schneller vergehenden Zeit für den Ich-Erzähler eines der deutlichsten Anzeichen für die grundlegenden Veränderungen, die sein Heimatdorf Staufenberg im Laufe der Jahrzehnte erfahren hat.3 In diesem Zusammenhang ist das Gefühl der knappen Zeit und der Beschleunigung des individuellen Lebenstempos Ausdruck einer Beschleunigung der Zeit selbst, die nach Rosa neben der technischen Beschleunigung und der Beschleunigung des sozialen Wandels den dritten wichtigen Aspekt der Dynamisierung von Gesellschaft, Kultur und Leben im Zuge des Modernisierungsprozesses darstellt. (Rosa 2012a: 187ff.) Kurzeck markiert unter dieser Perspektive eine Zäsur, wenn er die »sechziger Jahre, eine Zeit des Fortschritts und der wundersamen Verwirrung« (Kurzeck 2011: 181) immer wieder von den fünfziger Jahren, »als die Zeit noch langsamer ging« (ebd.: 122), explizit abgrenzt. »Wie die Zeit vergeht! Schon immer schneller die Zeit. Wann fing das denn an? Muß Anfang der Sechziger Jahre. Erst hat man es nicht gleich gemerkt. Und wenn man es dann merkt, dann dauert es noch eine Weile, bis man merkt, das bleibt auch so. Immer schneller die Zeit und nichts bleibt.« (Ebd.: 128)

Die Beschleunigung der Zeit ist für Kurzeck unmittelbar mit der wachsenden Mobilität und Motorisierung verbunden, denn sie setzt spürbar ein als:

3

Auch unter dieser Perspektive ist das Motto zu verstehen, das dem Roman vorangestellt ist: »Die ganze Gegend erzählen, die Zeit« betont die Verbindung, die für Kurzeck zwischen der Wahrnehmung des Ortes und derjenigen der Zeit besteht.

314 | C HRISTOPH S EIFENER »alle in Autos einstiegen und zu fahren anfingen. Das ganze Land. Die Straßen fingen zu fahren an. Die Zeit auch. Die Zeit selbst fing zu fahren an. Immer schneller die Zeit. Und seither fahren wir und können nicht aufhören zu fahren.« (Ebd.: 515)

Dabei erscheint das Autofahren von Anfang an als ausgesprochener Selbstzweck, als »Zeitvertreib« (ebd.: 129) und Tätigkeit »[o]hne Ziel« (ebd.: 172). Vor allem der Bau der Ortsumgehungsstraßen und Autobahnzubringer in der Wetterau, wie etwa des Gießener Rings, stellen in diesem Zusammenhang für Kurzeck folgenreiche Entwicklungen dar.4 »Zur Entlastung also der Gießener Ring, aber schafft in Wahrheit noch mehr Verkehr. Zusätzlich produziert er ihn. Weil er so praktisch ist. Jetzt fahren die Leute nicht mehr vom Schiffenberger Weg in die Grünberger Straße oder von der Bismarckstraße zum Oswaldsgarten, wo man sowieso besser zu Fuß geht. Sondern immer erst auf den Gießener Ring und dann auf dem Gießener Ring am Ostrand der Stadt von einer Abfahrt zur anderen. Zurück dann im Westen. Die andere Seite. Abwechslung. Immer um die Stadt herum. Und weil es so praktisch ist, gleich auch öfter. Und weil es so schnell geht, schnell noch ein Stück weiter.« (Ebd.: 171)

Der Zweck der Schnellstraßen, die gebaut wurden, um Zeit zu sparen, verkehrt sich so in sein Gegenteil, da die Menschen ohne zwingenden Grund auf eben diesen Straßen immer mehr Zeit verbringen. »Manche die ganze Mittagspause auf dem Ring. Zwei-drei Runden, oder so viel sie eben schaffen.« (Ebd.: 171) Das führt zu dem von Hartmut Rosa konstatierten Paradox der modernen Gesellschaft, dass es trotz der »technischen Beschleunigung, die das Einsparen von Zeitressourcen bewirkt und daher das Lebenstempo entschleunigen müsste« zur einer »Verknappung von Zeitressourcen kommt.« (Rosa 2012a: 194) Dieser faktische Zeitverlust ist aber nicht allein dem Bau der Straßen und der Motorisierung geschuldet. Kurzeck führt ein ganzes Ensemble von Errungenschaften ins Feld, die den Menschen im Zuge der Modernisierung der Alltagswelt eigentlich das Leben erleichtern sollen, im Zusammenspiel aber den Effekt haben, ihnen einen neuen, fremdbestimmten Lebensrhythmus aufzuzwingen. Dazu gehören die Eröffnung von Bau- und Supermärkten, die Verbreitung von Fernsehern und Tief-

4

Ein Verweis auf Andreas Maiers Romanprojekt drängt sich an dieser Stelle förmlich auf. Denn in Maiers Werken sind es exakt dieselben Umgehungsstraßen, etwa der Gießener Ring, die titelgebend für den Romanzyklus sind und denen im Werk eine hohe symbolische Bedeutung zukommt. Während die Umgehungsstraßen bei Kurzeck aber in Zusammenhang mit einer sich verändernden Zeitwahrnehmung stehen, sind sie für Maier vor dem Hintergrund einer sich verändernden Wahrnehmung des Raumes wichtig.

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kühltruhen und auch der Bau von Umgehungsstraßen. In einer teilweise satirisch überspitzten Episode, auf die an dieser Stelle näher eingegangen werden soll, führt Kurzeck die eben genannten Fortschrittssymbole zusammen. Die im Umland der Dörfer neu gebauten Supermärkte verschicken an alle Haushalte Prospekte mit Sonderangeboten. Diese nun werden von den Empfängern lange und ausführlich verglichen, richtiggehend durchgearbeitet, um so die günstigsten Preise zu ermitteln. Dann werden die Supermärkte, die teils weit auseinander liegen, mehrmals pro Woche nach einem genauen Plan nacheinander angefahren, was dank der Schnell- und Ortsumgehungsstraßen auch problemlos möglich ist. »Und Fahnen vor allen Supermärkten. Ganze Reihen von Fahnenmasten mit idiotischen Fahnen vor allen Eingängen. Und auch noch auf jedem Dach, sage ich. Wollte alles gleichzeitig sagen. An den Kassen soll es schnell gehen, schnell-schnell! Aber vorher zwingen sie einem stundenlange Umwege auf. Durch den ganzen Laden. […] Wie ferngelenkt. Dreimal ganz durch.« (Kurzeck 2011: 587)

In dieser kurzen Passage werden die Parallelen deutlich, die zwischen der besonderen Situation des Erzählers und der der von ihm beobachteten Menschen besteht. Sowohl der Erzähler, der »alles gleichzeitig« erzählen will, als auch die Menschen, die schnell-schnell an der Kasse abgefertigt werden, sind Gehetzte, Getriebene. Die dem zugrunde liegende Erfahrung von »Zeitdruck, Zeitnot und stressförmigen Beschleunigungszwang« und die daraus resultierende »Beschleunigung des Lebenstempos durch eine unmittelbare Erhöhung der Handlungsgeschwindigkeit« (Rosa 2012a: 194f.), (also schneller erzählen, schneller einkaufen), sind für Hartmut Rosa konstitutiv für aktuelle hochindustrialisierte Gesellschaften. Während es aber für den Erzähler in VORABEND ein innerer Druck ist, der zu dieser Entwicklung führt, lassen sich die Menschen, die sich »wie ferngelenkt bewegen« diesen Druck, ihre ganze moderne Lebensweise und vor allem ihren Umgang mit der Zeit von außen »aufzwingen«. »Erst den Großeinkauf also und dann in den Baumarkt. Zwei Baumärkte. […] Fahren, immer nur fahren! Fahren, aber nix sehen! Fahren wie ferngelenkt! […] An den Einkaufstagen die regelmäßigen Extramahlzeiten außer der Reihe und müssen die übrige Zeit immer ein bisschen zu viel essen. Täglich. In chronologischer Reihenfolge. Nach Haltbarkeitsdatum. Damit sich das Einkaufen lohnt, damit man alles wieder rechtzeitig nachkaufen kann! Vor allem die Sonderangebote! Nachkaufen, einsortieren, Haltbarkeitsdaten im Auge behalten. Noch eine Kühltruhe. […] Also immer mehr immer schneller immer ein bisschen zu viel essen, damit man die festen Einkaufstage einhalten kann und in Übung und auf dem Laufenden bleibt.« (Kurzeck 2011: 588)

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Rosa spricht in seiner Diagnose der Beschleunigung von der »Angst«, die der Einzelne subjektiv empfindet, »nicht mehr mitzukommen« (Rosa 2012a: 195) mit Entwicklungen der Gesellschaft, was dann als Reaktion eine Erhöhung des individuellen Handlungstempos zur Folge hat. Der Zwang, »auf dem Laufenden zu bleiben«, unter dem die Konsumenten in Kurzecks Darstellung stehen, zieht entsprechend ähnliche Konsequenzen nach sich. Erneut rekurriert Kurzeck im gerade angeführten Zitat auf die Metapher des Ferngelenkt-Seins. Die Fremdbestimmtheit im Umgang mit der eigenen Lebenszeit, die darin zum Ausdruck kommt, und die allein bedingt ist durch äußere, der modernen Entwicklung geschuldeten Umstände, ist ein geradezu klassisches Phänomen der Moderne, auf das bereits Georg Simmel in seinem Aufsatz über DIE GROSSSTÄDTE UND DAS GEISTESLEBEN aufmerksam gemacht hat. »Die Pünktlichkeit, Berechenbarkeit, Exaktheit, die die Komplikationen und Ausgedehntheiten des großstädtischen Lebens ihm [dem Großstadtbewohner, C.S.] aufzwingen […] muß auch auf die Inhalte des Lebens färben und den Ausschluß jener […] Wesenszüge und Impulse begünstigen, die von sich aus die Lebensform bestimmen wollen, statt sie als eine allgemeine, schematisch präzisierte von außen zu empfangen.« (Simmel 1995: 120)

Simmel hebt in diesem Abschnitt auf den Zwangscharakter der Zeit ab, ein Aspekt, dem insbesondere Norbert Elias weiter nachgegangen ist. Elias betont in seinem Werk ÜBER DIE ZEIT vor allem die soziale Determiniertheit dieses Zwangscharakters, der von den Individuen in modernen Gesellschaften als Selbstzwang internalisiert wird. In dieser Entwicklung sieht Elias ein wesentliches Kennzeichen des Zivilisationsprozesses. »Im Zusammenhang mit einem Schub zunehmender Differenzierung und Integrierung hat sich in vielen neuzeitlichen Gesellschaften dann eine besonders differenzierte Selbstregulierung des einzelnen Menschen im Sinne der Zeit entwickelt […]. Der soziale Fremdzwang der Zeit […] hat in diesen Gesellschaften in hohem Maße diejenigen Eigentümlichkeiten, die die Ausbildung individueller Selbstzwänge fördern. […] Diese Individualisierung der gesellschaftlichen Zeitregulierung trägt also in beinahe paradigmatischer Form die Züge eines Zivilisationsprozesses an sich.« (Elias 1988: XXXIf.)

Kurzecks Erzähler konstatiert bei seinen Mitmenschen genau diesen Fremdzwang, der unreflektiert zu einem Selbstzwang geworden ist, wenn sie sich, wie in der obigen Episode beschrieben, von den Verfallsdaten der ›modernen‹, tiefgekühlten Lebensmittel nicht nur die Einkaufsplanung, und damit die Zeitplanung der kommenden Woche, vorschreiben lassen, sondern auch die Menge und den Rhythmus der Nahrungsaufnahme.

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D ER V ERLUST

DER

V ERGANGENHEIT

Mit dem Verlust der Kontrolle über die eigene Zeit in der Gegenwart geht aber in Kurzecks Darstellung auch der Verlust der Vergangenheit einher. Die Menschen, die auf den Ortsumgehungs- und Schnellstraßen unterwegs sind, nehmen ihre Umwelt nicht mehr wahr, sie »sehen nix« während ihrer Autofahrten. Das richtige Sehen aber ist, wie Kurzeck in seinem Werk immer wieder deutlich macht, die Voraussetzung für die Erinnerung.5 »Jede Ortsdurchfahrt« ist dagegen so konstruiert, »daß man jederzeit im vierten Gang durchfahren kann. Und auch der Blick nirgends hängenbleibt. Nicht Blick noch Gedanken. Damit man nicht erst zurückschalten muß und auch nicht sich erinnern.« (Kurzeck 2011: 507) Vor diesem Hintergrund inszeniert sich der Ich-Erzähler in einem Gegenentwurf ganz dezidiert als Fußgänger. »Man muß gehen, lang zu Fuß gehen, wenn man richtig zurückdenken will, sagte ich, immer weiter zurück. Das kann doch nicht sein, sagte ich, dass ich der einzige bin, der das weiß.« (Ebd.: 654)6 Die Schilderung der Einkaufsfahrten der Staufenberger steht in einem deutlichen Kontrast zu der Darstellung des Einkaufverhaltens vor dem Bau der Supermärkte, als »noch Bäcker und Metzger und mindestens ein guter Kaufladen in jedem Dorf« (ebd.: 381) existierten. Diese Läden, »Familienbetriebe« (ebd.: 405), der »Metzger, der Dorfbäcker, zu dem man am Samstagmorgen auch seine eigenen Sonntagskuchen hinbringen kann, jeder der einen hat, und dann werden sie mitgebacken« (ebd.: 381), sind in der Erinnerung Kurzecks Orte, in denen der Besitzer jeden Kunden und seine Wünsche kennt und die Kunden selbst immer miteinander ins Gespräch kommen. Diese Orte sind eingebettet in eine andere Zeitwahrnehmung. Sie gehören einer »überkommenen Zeitrechnung« (ebd.: 391) an, die sich durch Dauer und ein Denken in langen Zeiträumen, Kurzeck spricht in diesem Zusammenhang von »großen Vorräten an Zeit« (ebd.: 405), auszeichnet. »Damals, sagte ich. Seinerzeit. Noch überall auf dem Land die angestammten alten Kaufläden. […] Mit ihrer überkommenen Zeitrechnung, einem wohlbedachten, über Jahrzehnte hin von mehreren Generationen […] hingebungsvoll ausgeklügelten Warenlager für gute und schlechte Zeiten und mit ihren dauerhaften Regalen, Wandschränken und Schubladen. Vor

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»Schon damals [in der Kindheit, C.S.] konnte man merken, daß alles nicht bleibt. Deshalb ja, sagte ich, geht man herum und muß alles ansehen.« (Ebd.: 491) »Alles was du weißt, weißt du allein nur vom Zusehen. Vom richtigen Zusehen.« (Ebd.: 638)

6

Kurzeck ist allerdings, wie Beate Tröger nachgewiesen hat, kein moderner Flaneur. Denn genauso, wie Schreiben für Kurzeck ein Schreiben-Müssen ist, ist Gehen für ihn ein Gehen-Müssen, »diesem Gehen wohnt Gehetztheit und Getriebenheit inne, es wird nicht als Selbstzweck, sondern als innere Notwendigkeit beschrieben.« (Tröger 2008: 267)

318 | C HRISTOPH S EIFENER gut fünfzig oder achtzig oder hundert Jahren vom seinerzeitigen Dorfschreiner […] ausgegrübelt und ausgemessen und angefertigt.« (Ebd.: 391)

An solchen offensichtlich von dörflichen Strukturen geprägten Orten mit ihrem speziellen Verhältnis zur Zeit scheint es sogar möglich, der Zeit selbst habhaft zu werden. »Die Zeit selbst, sagte ich, hätte man aufheben müssen. In Kartons und Regalen, in Vitrinen und Eichenschränken. Wie Kassenbücher, Stoffballen und alte Kalender. […] Aufheben und bewahren die Zeit, sagte ich. […] Daß auch keiner daran gedacht hat beizeiten.« (Ebd.: 678)

Während sich die Kaufläden durch eine gewisse Individualität auszeichnen, »man muß sie alle aufzählen und dabei unterscheiden nach Lage und Bedeutung und den Namen ihrer Besitzer« (ebd.: 382), sind die Supermärkte durch eine Anonymität gekennzeichnet, die die Verhaltensweisen der Kunden beeinflusst, ja sogar den Charakter der Menschen zu verändern scheint. Trauten sich die »Leute vom Land«, »scheu«, »eingeschüchtert und sprachlos« (ebd.: 174), im Kaufladen von Staufenberg kaum, nach einem Karton für den Transport der Einkäufe zu fragen, so haben sie »in Lollar beim Massa, obwohl man denkt, schon die Größe müsste sie einschüchtern […] keinerlei Hemmungen. Fassen alles an, bringen das Zeug durcheinander, reißen die Packungen auf.« (Ebd.: 175) Besonders aussagekräftig gestaltet sich die Darstellung des Verhaltens der Kunden an den Zeitschriftenregalen der Supermärkte. »So stehen sie, blättern und lesen hastig, blättern weiter und müssen wieder zurückblättern, weil sie merken, daß sie sich nicht alles gemerkt haben, daß sie sich das alles gar nicht merken können. Kann keiner! Können es erst recht nicht, wenn sie hier zwischen den Regalen stehen und schnell-schnell, als ob sie dabei nicht erwischt werden dürften.« (Ebd.: 597)

In dieser Passage bringt Kurzeck noch einmal die Erfahrung des Zeitdrucks mit dem Verlust der Merk- und Erinnerungsfähigkeit zusammen. Daneben zeigt er in der Erwähnung der Angst, bei der gerade »schnell-schnell« vollzogenen Tätigkeit »erwischt« zu werden, dass das Gefühl des Gehetzt-Seins sich tatsächlich in der Wahrnehmung einer Bedrohung durch einen konkreten Verfolger manifestiert. Damit ist aber gleichzeitig auf ein Gefühl der Isolation des Gehetzten verwiesen, ein Aspekt, auf den noch zurückzukommen sein wird. Kurzecks eigener Lebenswurf, der sich durch den permanenten erinnernden Nachvollzug alles Erlebten auszeichnet, findet eine gewisse Entsprechung in dem Verhalten der Staufenberger Dorfbewohner in den fünfziger Jahren, in denen die seltenen Einkaufsfahrten in die Großstadt Gießen ein besonderes Erlebnis waren.

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Kurzeck macht deutlich, dass zu diesen Erlebnissen gehört, das in Gießen Erfahrene noch wochenlang erzählend zu verarbeiten.7 »Oft Tage und Wochen im Voraus die Fahrt in die Stadt geplant und haben jedesmal einen ganzen Tag dafür gebraucht. Morgens hin und abends müd heim. Mit der Eisenbahn, mit einem Bus. […] Und mußten dann noch zwei Wochen lang immer neu davon erzählen, was sie gesehen haben, was sie sich dabei dachten und wieviel es gekostet hat, sagte ich.« (Ebd.: 122)

Nicht nur der Nachvollzug an sich, auch dass er »immer neu« erfolgt, steht in auffälliger Parallele zu Kurzecks eigener Schreib- und Erinnerungskonzeption. Diese kann im Wesentlichen als Dauerschleife gekennzeichnet werden. Ein Roman etwa entsteht, wie der Ich-Erzähler berichtet, indem das bisher Geschriebene immer wieder abgeschrieben wird. »Viele Jahre lang immer mein erstes Buch geschrieben und dann noch ein letztes Mal. […] Manchmal einen Absatz geschrieben. Dann den Absatz zwei Jahre lang abgeschrieben. So wird aus dem Absatz ein halbes Buch.« (Ebd.: 289) Und auch der Erinnerungsrausch des Ich-Erzählers in Eschersheim hat seinen Ausgangspunkt darin, dass er einen bestimmten »Sonntag erzählen und immer noch einmal damit anfangen [muss]. Immer noch ein paar Einzelheiten übrig.« (Ebd.: 67) Diesem Muster folgen in der Erinnerung Kurzecks auch die Verarbeitungsstrategien der Dorfbewohner in den 1950er und 60er Jahren. Der Umgang mit dem eigenen Erleben ändert sich aber für die Staufenberger merklich, sobald Autos und Umgehungsstraßen ihre Lebensgewohnheiten verändern und »schon in den sechziger Jahren aus den Dörfern immer mehr Leute immer öfter nach Gießen« fahren. (Ebd.: 129) Bemerkenswerterweise bleibt das Bedürfnis, Erlebtes immer neu noch einmal durchspielen zu müssen, bestehen. Während es aber für den Erzähler und die Staufenberger in den 50er Jahren die eigenen primären Erfahrungen sind, die erinnernd wiederholt werden, vollzieht ab den sechziger Jahren die Mehrzahl der Menschen nur noch Erlebnisse nach, die durch das Fernsehen vermittelt wurden. Auch dies macht Kurzeck im Rahmen der Darstellung der Einkaufsfahrten deutlich. »Den Ring [gemeint ist der Gießener-Ring, C.S.] gebaut Anfang der Siebziger Jahre. Weil sie vorher, weil sie die ganzen Sechziger Jahre hindurch, weil sie seit den späten Fünfziger Jahren schon im Fernsehen in den amerikanischen Vorabendserien genau solche Stadtautobahnen zu sehen bekamen. Und damit sie ab jetzt und in Zukunft auf dem Ring noch zeitiger

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Freilich muss in solchen Passagen in Rechnung gestellt werden, dass Kurzecks satirisch überspitzte Darstellung der Einkaufsfahrten der Staufenberger zu den Bau- und Supermärkten ihre Entsprechung in einer Zuspitzung der Schilderung des Verhaltens der Dorfbewohner in den 50er Jahren findet.

320 | C HRISTOPH S EIFENER heimkommen zu diesen Vorabendkrimiserien. Spannend und ohne Ende. Und müssen seither, sooft sie auf dem Ring, müssen sooft sie ins Auto steigen, müssen jedesmal diese Vorabendkrimiserien nachspielen. Insgeheim. Jeder für sich. Immer weiter. Und außer ihm weiß das keiner. Braucht keiner wissen. Behält man für sich.« (Ebd.: 539)

Es fällt zum einen auf, dass selbst der Nachvollzug des Erlebten, sogar in seiner spielerischen Form, ganz unter dem Vorzeichen von Zeitdruck und Gehetztheit steht. Denn die Autofahrer auf dem Gießener Ring befinden sich »[i]mmer abwechselnd auf der Flucht und dann wieder als Verfolger in einer jahrelangen atemberaubenden Verfolgungsjagd.« (Ebd.: 523) Zum anderen wird deutlich, dass die Verarbeitung des Erlebten eben nicht mehr in Gemeinschaft erfolgt, wie es in Kurzecks Schilderung des gegenseitigen Erzählens der beim Einkauf in Gießen gemachten Erfahrungen der Fall ist, sondern dezidiert, in Parallele zum schnellen Durchblättern der Magazine im Supermarkt, in aller Heimlichkeit, dass heißt in Isolation, stattfindet. In Kurzecks Darstellung schafft der technische Fortschritt in erster Linie Abhängigkeiten – die Staufenberger würden etwa »ohne ihr Auto ihr Leben nicht aushalten« (ebd.: 550), vermutet der Ich-Erzähler – und bestimmt so entscheidend den Lebensrhythmus der Menschen. Die Auswirkungen der Modernisierungsprozesse äußern sich im alltäglichen Leben und Erleben in der Erfahrung der Beschleunigung der Zeit selbst, dem damit verbundenen Zeitdruck, dem Verlust der Erinnerungsfähigkeit und der zunehmenden Isolation des Einzelnen. In dem Maße, in dem durch den Bau der Schnell- und Umgehungsstraßen die Dörfer zusammenwachsen,8 und damit die Identität des einzelnen Dorfes verloren geht, in dem Maße auch, in dem die standardisierten Supermärkte die individuell gewachsenen Dorfläden verdrängen, geht den Menschen, die sich ihrer Vergangenheit nicht mehr bewusst sind, die sich nicht mehr mit ihrem eigenen, sondern nur noch mit medial vermittelten Leben auseinandersetzen, ein Teil der eigenen Identität verloren. Dem steht Kurzecks literarischer Lebensentwurf einer Einheit aus Gehen, Sehen, Merken, Erinnern und Erzählen entgegen, der für den Autor gleichzeitig ein Instrument darstellt, den Zwang zur Erinnerung, aus dem er resultiert, produktiv zu verarbeiten. Es ist ein Lebensentwurf, der seinerseits wiederum einer speziellen Zeitwahrnehmung geschuldet ist, die Kurzeck den dörflichen geprägten, noch nicht von der Modernisierung erfassten Sozialstrukturen seiner Kindheit zuordnet.

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»Immer mehr Dörfer. Ganze Landstriche schon, sagte ich, in denen man ohne Auto nicht mehr leben kann. Die Dörfer zusammengewachsen. Sind keine Dörfer mehr, aber auch nicht Städte geworden.« (Ebd.: 581)

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Das Jahrhundertdorf Moritz Rinkes Roman Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel als raumzeitliche Verdichtung deutscher Geschichte im Dorf Worpswede J OHANNA C ANARIS

In Moritz Rinkes 2010 erschienenem Roman DER MANN, DER DURCH DAS JAHRHUNDERT FIEL werden Raum und Zeit chronotopisch verdichtet, diese Verdichtung führt hier zu einer Neubegegnung mit Geschichte und Heimat. Konkret erfahren wird die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts im Dorf Worpswede.1 Bevor Chronotopoi auf verschiedenen Ebenen des Romans in ihrer unterschiedlichen Relevanz dargestellt werden und so deutlich werden wird, warum das Dorf Worpswede eine zentrale Rolle spielt, gehen einige allgemeine Bemerkungen zu Michail Bachtins Begriff des Chronotopos als theoretischer Grundlage der Überlegungen voraus. »Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.« (Bachtin 2008: 7)

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Dem Dorf Worpswede kommt nicht nur als Künstlerkolonie (vgl. u.a. Hetmann 1991) eine Bedeutung in der deutschen Kulturgeschichte zu, sondern es ist auch in der Literatur z.B. bereits durch Rainer Maria Rilke präsent (vgl. u.a. Pettit 1983).

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Im Laufe seiner Untersuchung definiert Bachtin unterschiedliche Chronotopoi, »seine Studie läuft letztlich auf ein Archiv topographischer Bedeutungsfiguren hinaus« (Weigel 2002: 157). Es handelt sich also primär um narratologische Figuren, die es nachzuvollziehen gilt. Der Chronotopos wird bei Bachtin gar zum bestimmenden Faktor für das Sujet des Romans: »Im Chronotopos werden die Knoten des Sujets geschürzt und gelöst.« (Bachtin 2008: 187) In diesem begrifflichen Zusammenhang ist auch noch folgende Feststellung von Todorov beachtenswert: »Die russischen Formalisten haben zuerst die beiden Begriffe getrennt und haben sie ›Fabel‹ (das, was sich tatsächlich abgespielt hat) und ›Sujet‹ (die Weise, in der der Leser davon Kenntnis genommen hat) genannt.« (Todorov 1972: 265) In dieser Kurzdefinition kommt somit auch der Rezipient des Romans in den Blick sowie die künstlerische Beschaffenheit der Erzählung; diese beiden Elemente werden am Ende der Überlegungen noch einmal relevant. Den unterschiedlichen Chronotopoi bei Bachtin ist gemeinsam, dass sie im Prinzip alle Momente der Begegnung und des Dialogs darstellen, wobei die konkreten Chronotopoi durchaus von der sozial-historischen Zeit abhängig sind (vgl. Bachtin 2008: 184). Zudem »[kann] [j]eder von ihnen [...] eine unbegrenzte Zahl von kleinen Chronotopoi in sich einschließen: Kann doch jedes Motiv […] seinen eigenen besonderen Chronotopos haben.« (Ebd.: 189-190) Diese Merkmale des Chronotopos lassen sich an Moritz Rinkes Roman weitgehend wiederfinden, dabei wird deutlich werden, dass das Dorf Worpswede in seiner Beschaffenheit der entscheidende und prägende Chronotopos dieses Romans ist, hinzu kommen das Haus und die Geschichte der Familie Kück, die sowohl repräsentativ für die jeweils größeren Zusammenhänge stehen als auch erst von diesen ermöglicht werden. Dass es sich bei Worpswede um ein Dorf handelt, das, wie die meisten Dörfer, aus einer kleinen, stabilen und in diesem Fall besonders skurrilen Gemeinschaft besteht, spielt dabei eine wesentliche Rolle. Raum und Zeit werden in diesem Roman oftmals mit Mitteln der Kunst, nicht nur auf der Metaebene, sondern auch konkret in der Narration des Romans, verknüpft. Der Roman reflektiert also auch die Rolle und die Möglichkeit der Kunst im Prozess der (Wieder-)Begegnung mit der Zeit. »Das Problem der Darstellung der Zeit in einer Erzählung stellt sich aufgrund der Ungleichheit der Zeitlichkeit der Geschichte und der des Diskurses. Die Zeit des Diskurses ist in einem bestimmten Sinn eine lineare Zeit, während die Zeit der Geschichte mehrdimensional ist. In der Geschichte können sich mehrere Ereignisse zur selben Zeit abspielen; aber im Diskurs müssen sie gezwungenermaßen in eine Folge nacheinander eingesetzt werden; eine komplexe Figur wird auf eine gerade Linie projiziert. Daher die Notwendigkeit die ›natürliche‹ Abfolge der Geschehnisse zu zerbrechen, selbst wenn der Autor ihr so nahe wie möglich bleiben will. Aber meistenteils versucht der Autor nicht, diese ›natürliche‹ Abfolge zu finden, da er die zeitliche Deformation zu bestimmten ästhetischen Zwecken gebraucht.« (Todorov 1972: 279)

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D AS D ORF W ORPSWEDE ALS O RT DER B EGEGNUNG MIT DER DEUTSCHEN G ESCHICHTE DES 20. J AHRHUNDERTS Worpswede, das Dorf im niedersächsischen Moor, das ungefähr seit der Jahrhundertwende 1900 eine Künstlerkolonie beherbergt, wird im Roman sowohl durch seine Eigenschaften als auch im Kontrast zu anderen Orten als Ort der Begegnung mit der Geschichte des 20. Jahrhundert etabliert. Der Protagonist des Romans, Paul Wendland, ist im Prinzip auf der Suche nach einem ›Grund‹, jedoch ist nicht deutlich, wofür er konkret einen Grund sucht, möglicherweise ist er auf der Suche nach dem Grund seines Lebens. So lautet z.B. bereits die Überschrift des zweiten Kapitels »Paul lebt in der Stadt und sucht einen Grund« (Rinke 2010: 15). Als Grundbruch, also in seiner Negation, ist der Grund eines der zentralen Bilder des Romans. Zu Beginn des Romans lebt Paul in Berlin, wo er eine Galerie betreibt. Diese Galerie befindet sich auf der Brunnenstraße, leider auf der falschen, der Westseite: »Die Brunnenstraße war wirklich eine gute Straße, nur wurde sie durch die Bernauer Straße in zwei verschiedene Welten geteilt, in den besseren Osten und den schlechteren Westen. Im Prinzip vertauschte hier die Welt, wie sie einmal war, komplett ihre Rollen.« (Ebd.: 18) Hier deutet sich bereits eine Verbindung zwischen Ort (Brunnenstraße) und Geschichte an, die auch hier in einer topographischen Metapher dargestellt wird (Ost-West). Später wird Paul zu seiner Mutter, die auf Lanzarote lebt und ihren Einfluss auf den Sohn nur telefonisch geltend machen kann – dies jedoch umso vehementer –, in diesem Zusammenhang sagen: »In Berlin gibt es einen Blumenhändler, mit dem arbeite ich jeden Morgen die DDR auf. Ich bin schon ein paar Diktaturen weiter.« (Ebd.: 233) Somit steht Paul seiner Mutter, Johanna Kück (sie trägt ihren Mädchennamen), entgegen. Da sie seit einiger Zeit auf Lanzarote lebt, ist sie räumlich von ihrer Heimat getrennt und hat auf festem Vulkangestein einen neuen, festen Grund gefunden – wohingegen Worpswede im Moor, einem durchlässigen Untergrund, liegt. Durch diesen Kontrast des Grundes wird die Wichtigkeit des Dorfes Worpswede für die Begegnung mit der Vergangenheit unterstützt, denn Pauls Mutter bleibt bis zum Schluss des Romans unfähig, die Geschehnisse in Worpswede einzuordnen, sich der Vergangenheit, vor allem der NS-Vergangenheit ihrer Familie, zu stellen. Sie bietet gar Seminare an, bei denen es um »Neuprägung und History Change« (ebd.: 330) geht – Geschichte soll so nach den eigenen Vorstellungen verändert werden, was das Gegenteil dessen ist, was in Worpswede passiert, wo die Geschichte unintendiert und offensichtlich unkontrollierbar wieder an die Oberfläche kommt. Am Ende des ersten Teils, der den Zwischentitel »Berlin-Worpswede« trägt, macht Paul sich auf den Weg in die »Heimat« (ebd.: 51). Äußerlicher Anlass hierfür ist der bevorstehende Grundbruch des Hauses seiner Familie. Der Weg als solcher ist hier jedoch nicht der wesentliche Chronotopos – so wie Bachtin ihn defi-

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niert. Vielmehr geht es um die Heimkehr in das Dorf Worpswede, die für Paul notwendig ist, damit er seiner eigenen Familiengeschichte begegnen kann und damit der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dass man in der eigenen Aufarbeitung der Geschichte »schon ein paar Diktaturen weiter« sei, wird dabei allerdings als ein Trugschluss entlarvt. Das Dorf als Heimat wird oftmals als aus der Zeit gefallen, jedoch meist in einem idyllischen Sinn verstanden: »Heimat wurde im 19. und 20. Jahrhundert vorwiegend mit Räumen assoziert, deren affektive Bedeutung und erotische Besetzung eine Spannung zur industriellen Modernisierung und kulturellen Modernisierung herstellte. Dies nahe und doch verlorene Arkadien wurde in Land und Landschaft, Dorf und Kleinstadt vermutet.« (Hüppauf 2007: 117)

Pauls Wiederbegegnung mit der Geschichte in der dörflichen Heimat wird sich dagegen auch als ein ›Aus-der-Zeit-Fallen‹ erweisen, jedoch als ein wenig idyllisches. Die Beschaffenheit dieser Heimat ist zentral dafür, dass gerade an diesem Ort die deutsche Geschichte wieder zum Vorschein kommen kann. Wie es bei Bachtin heißt, werden »im Chronotopos […] die Knoten des Sujet geschürzt und gelöst« (Bachtin 2008: 187). Der Grund, den Paul hier aufsucht, ist kein fester Grund – Worpswede liegt im Moor. Das Moor ist dabei auf unterschiedlichen Ebenen für den Roman und das Dorf von Bedeutung. Zum einen ist ein Moor kein fester Baugrund, weshalb es auch zum Grundbruch des Hauses der Familie Kück kommt (vgl. Rinke 2010: 462). Zum anderen verschluckt das Moor alles, sowohl zufällig, natürlich, eher willkürlich, als auch absichtlich, indem die Menschen versuchen, Unangenehmes in ihm zu versenken. Jedoch kann das Moor diese Versuche der Vergangenheitsbeseitigung auch jederzeit wieder freigeben, mehr noch: das Moor konserviert, was es verschluckt, denn es tötet alle Organismen. Deshalb wird es »Teufelsmoor« genannt. So wird es »zu einem sauerstofflosen, keimfreien Grab, das deshalb noch heute Auskunft über die Vergangenheit g[ibt].« (Ebd.: 157) Das Moor erscheint so als ein Ort, an dem Vergangenheit bewahrt wird, die Zeit stillsteht, der zugleich jedoch dynamisch dauernd in Bewegung und so präsent bleibt. Doch hat Paul, obwohl in Worpswede geboren, eine Moorallergie, die allerdings von seiner Mutter und dem Dorfarzt bestritten wird (vgl. ebd.: 156). Diese Moorallergie äußert sich in der Tatsache, dass Paul keine Luft bekommt. Wie er selbst als Kind formuliert: »›Vielleicht kann ich nicht atmen, weil das Moor keine Luft hat?‹« (Ebd.: 157) Das Moor, die Konservierung und gleichzeitige Unterdrückung der Vergangenheit, nimmt also bereits dem Kind die ›Luft zum Atmen‹. Dies wird dann auch noch an das große Familiengeheimnis der Familie Kück, das Verschwinden der Tante Marie, geknüpft. »›Vielleicht kann ich nicht atmen, weil Marie auch noch im Moor ist?‹, fragte Paul, weil er wirklich nicht atmen konnte.« Die Antwort seiner Mutter lautet: »Was erzählst du da für Märchen? Marie ist

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abgeholt worden!« (Ebd.: 157-158) Hier wird die deutsche Geschichte für die Vertuschung der innerfamiliären Verbrechen instrumentalisiert. Paul verknüpft diesen Vorgang bereits als Kind instinktiv mit dem Moor. Das Moor ist zudem das beliebteste Objekt der Maler, sowohl der Profis als auch der Amateure. »Kein Moor auf der Welt wurde mehr gemalt und beschrieben als diese sumpfigen Moorwiesen von Worpswede. Generationen von Malern waren nach Worpswede gekommen« (ebd.: 41). Somit ist das Moor auch Anlass und Grund für die Zusammensetzung der Bevölkerung in Worpswede, die aus den beiden Gruppen, der Künstlerkolonie einerseits und der alteingessenen bäuerlichen Bevölkerung andererseits, besteht (vgl. ebd.: 73). Gerade für die Künstler sind der Ort ihrer Künstlerkolonie und dessen Name wesentliche Merkmale zur Identifikation, wie im Folgenden deutlich wird: »Wenn Paul als Kind gefragt wurde, woher er denn komme, sagte er klar und deutlich ›Aus Worpswede!‹ und sah die Menschen prüfend an. Er unterschied wie sein Großvater Dummköpfe und Nichtdummköpfe nur dadurch, ob sie Worpswede kannten. ›WORPSWAS?‹ erkundigten sich die Dummköpfe. ›WORPSWEDE!‹ sagte dann Paul, ›das ist das berühmteste Dorf, das es auf der Welt gibt.‹ ›Ah, aus Worpswede‹ riefen die Nichtdummköpfe, ›aus der KÜNSTLERKOLONIE! Da willst du doch bestimmt auch Künstler werden, hast du denn schon das Moor gemalt, ist doch Moor, Teufelsmoor, oder?‹« (Ebd.: 40-41)

Identitätsstiftung findet generell oftmals über Ortsnamen statt (vgl. z.B. Rose 2012: 48), aber der Ort »Worpswede« stiftet die Identität – hier verdeutlicht durch die Schwierigkeiten beim Verständnis des Ortsnamens – eben auch durch die Exklusivität, wie es im Text heißt: die Unterscheidung zwischen »Dummköpfen« und »Nichtdummköpfen«. Für die Identitätsstiftung bedarf es zumeist ebenso einer gemeinsamen Geschichte, und auch die Kunst, hier repräsentiert durch die Künstlerkolonie, kann ein identitätsstiftender Faktor sein. Mit der Kunst kommt selbstverständlich auch die selbstreflexive Ebene der Literatur ins Spiel. Die Künstlerkolonie pflegt dabei ein ganz eigenes Selbstbewusstsein, das sich zwar in diesem abgeschiedenen Mikrokosmos im Moor entwickelt hat, aber zugleich an ein globaleres, nicht mehr dörfliches, Selbstverständnis von Kunst und Künstlern anschließt. Neben dem Ort und seinen Eigenheiten ist auch die Spezifik der Zeit an diesem Ort wesentlich. Die Zeit scheint in doppelter Art und Weise eigentümlich. Zum einen vergeht in Worpswede die Zeit langsamer. Rinke sagt in einem Gespräch mit Lars Fischer im »Weserkurier« über die Zeitebenen, die im Roman behandelt werden: »Das ist die andere Dekade, die erzählt wird, die der 68er. Diese kleine oder große Revolution kam natürlich wie alles verspätet in Norddeutschland an.« (Fischer 2010: 20) So repräsentieren im Roman die Geschehnisse der 1970er Jahre um die Eltern Paul Wendland und Johanna Kück diese Epoche der deutschen Geschichte. Beide Figuren sind deutlich als »68er« gestaltet und karikiert: »Seine

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Eltern waren Künstler in der Künstlerkolonie. Der Vater hatte große Ziele, er wollte mit seinem Bleistift und seinen Zeichnungen den Kapitalismus stoppen; Pauls Mutter hielt sich noch offen, mit welcher Kunstform sie ihre fernöstlichen Ideale aus Indien zum Ausdruck bringen würde.« (Rinke 2010: 34-35) Zum anderen ist auch die Zeit als solche in der Künstlerkolonie in Worpswede eine eigentümliche. Sie steht zugleich still und jeder Moment wird in der Selbstwahrnehmung der Künstler zu einer Verdichtung der (Kunst-)Geschichte. So wird in Worpswede ein »Künstler des Jahrhunderts« ernannt – und zwar jedes Jahr. Diese Auszeichnung wird posthum an Pauls verstorbenen Großvater verliehen, der Brief, in dem seine Tochter darüber informiert wird, lautet: »›Sehr geehrte Frau Johanna Kück, für den kommenden Kunst-Sommer hat die Gemeinde Worpswede zum siebten Mal den KÜNSTLER DES JAHRHUNDERTS (KDJ) ermittelt. Nach nur kurzen Beratungen unseres sachkundigen Gremiums steht es nun fest – und so Ehre, wem Ehre gebührt, heißt es bei Goethe, liebe, verehrte Frau Kück – … Etwas geschwollen‹, kommentierte sie, ›aber jetzt kommt’s: Wir teilen Ihnen mit, dass Ihr Vater zum diesjährigen KDJ ernannt worden ist. Er steht nun in einer Reihe mit Mackensen – Modersohn-Becker – Otto Modersohn – Vogeler – Hans am Ende – Rilke.‹« (Ebd.: 89)

Hier wird deutlich, wie sehr in der Künstlerkolonie Worpswede die eigene Bedeutung auch in zeitlichen Dimensionen gedacht wird, die Auszeichnung für die lokalen Künstler heißt »Künstler des Jahrhunderts« (die Ähnlichkeit des vielfach verwendeten Akronyms KDJ mit dem nationalsozialistischen KDF wird geflissentlich übersehen) – doch gilt sie nur an diesem einen Ort. Zudem wird die Auszeichnung jährlich verliehen, was sie natürlich ironisch entwertet, zum anderen wird so der Platz in der deutschen Geschichte, den die dörfliche Künstlerkolonie für sich beansprucht, präsent gehalten, die Jahrhundertbedeutung des Dorfs jährlich bekräftigt. Die Künstlerkolonie existiert zudem erst seit der Jahrhundertwende um 1900 – so dass der »Künstler des Jahrhunderts« immer ein Künstler des 20. Jahrhunderts ist. Damit wird auch im 21. Jahrhundert dieses vergangene Jahrhundert und seine Geschichte, hier repräsentiert durch die Kunstgeschichte, in Worpswede präsent gehalten. Die posthume Verleihung des Titels an Pauls Großvater ist neben dem drohenden Grundbruch des Hauses das nächste Moment, das Pauls Auseinandersetzung mit der Vergangenheit im großväterlichen Haus und Garten motiviert. So sind die

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Kategorien Zeit und Raum, wie sie sich hier begegnen, wesentliche Elemente auch für den Fortgang der Handlung im Roman.

D AS H AUS ,

DIE

F AMILIENGESCHICHTE

UND

N ULLKÜCK

Im größeren Chronotopos des Dorfes stellt das Haus der Familie Kück am Teufelsmoordamm 5 einen weiteren Chronotopos dar. Dieser ist primär an die Familiengeschichte der Kücks gebunden, die sich als eigentümliche, an das Dorf Worpswede gebundene Repräsentation der deutschen Geschichte entpuppen wird. Jedoch wird das Haus auch als Repräsentation Deutschlands bzw. in seinem Auseinanderbrechen als »Ende der Republik« (Henrici/Rinke 2010: 110) gelesen, da es in einen Ost- und einen Westteil geteilt ist (vgl. Rinke 2010: 59). Hinzu kommt die Figur Nullkück, ein seltsamer Verwandter von Paul, der beide Elemente, Haus (Ort) und Familiengeschichte (Zeit) auf eigentümliche Art und Weise zusammenhält und zugleich an sie gebunden ist. Doch auch dieses Haus als Chronotopos ist nur möglich im übergeordneten Chronotopos des Dorfes Worpswede: Die Verdichtung der Problematiken der Geschichte in einer Familie wird durch den Mikrokosmos Künstlerkolonie im Dorf hervorgerufen. Bei den Kunstwerken von Pauls Großvater, für die er zum Künstler des Jahrhunderts ernannt wird, handelt es sich um Bronzefiguren. Diese Plastiken stellen primär Persönlichkeiten und Künstler aus der europäischen Geschichte, aber auch die eigene Familie dar: So stehen im Garten unter anderem Luther, Rembrandt, Napoleon, Max Schmeling, Otto von Bismarck, Rodin, Heinrich Schliemann, Willy Brandt, Rilke, Heinz Rühmann, Pauls Großmutter, Albert Einstein, der wahnsinnige Nietzsche und die rote Moorleiche (vgl. ebd.: 61-64 oder 46-47). Einen besonderen Platz hat Marie, die Frau von Pauls Onkel Johan. Ihre Skulptur wird als »das eindeutig Schönste im ganzen Garten« beschrieben (ebd.: 64). Die Figuren sind innen hohl, »›[d]amit die Seele und die Geheimnisse und die Stärken und Fehler der Menschen in ihnen Platz haben‹« (ebd.: 65), wie es der Großvater schon seinem Enkel von klein auf beibringt. In Bronze gegossen sollen die Figuren und damit ihre Bedeutung vor der Zeit bewahrt werden: So entsteht in diesem Garten eine Repräsentation der (Geistes-)Geschichte – ein eigener Chronotopos, wobei die zeitliche Dimension durch die Historizität der Figuren markiert wird. Natürlich ist die Auswahl der Porträtierten eine persönliche, sie zeigt, was Pauls Großvater aus der Geschichte bewahren wollte und wie er sich selbst in der Geschichte verortet hat. Das große Idol des Großvaters war Willy Brandt. So will es die Familienlegende, dass Willy Brandt tatsächlich den Bildhauer besucht und vom Butterkuchen der Großmutter probiert habe – das angebissene Stück Butterkuchen wird deshalb auch im Tiefkühler verwahrt (vgl. ebd.: 118-119). Durch die Vermischung der historischen

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Figuren mit den Mitgliedern der eigenen Familie wird deutlich, dass die Familie und ihre Geheimnisse den Umgang der Deutschen mit der Geschichte repräsentieren – dies jedoch nur an diesem Ort, im Moor von Worpswede. Ebenso wie das Haus sind allerdings auch die Figuren im Garten vom Moor bedroht. Sie drohen unterzugehen (vgl. ebd.: 67). Das Moor konserviert im »Verschlucken« auf natürliche und damit in gewissem Sinne blinde Art Gegenstände, wohingegen der künstlerische Akt des Schaffens von Bronzeskulpturen zur Bewahrung des Abbildes (und im Selbstverständnis von Paul Kück auch ihrer Seelen) von Personen einen selektiven Vorgang darstellt. Beide Arten des Konservierens kommen also hier zusammen. Die Bedrohung der Kunst durch das Moor zeigt, dass die Verdrängung der und die selektive Erinnerung an die Vergangenheit nun in Frage stehen und umgekehrt werden. Diese Vergangenheit kommt ganz plastisch wieder zum Vorschein. Im Verlauf der Arbeiten am Haus, beim Versuch dem Haus ein neues Fundament zu geben, kommt eine weitere Bronzeplastik an die Oberfläche (vgl. ebd.: 177-178). Zunächst bleibt der Leser im Unklaren darüber, wen diese Figur darstellt. Doch heißt es dazu: »Es war, als würde man durch das Moor fallen in eine andere Zeit.« (Ebd.: 178) Hier öffnet sich die Zeit, das Wiederauftauchen der Figur, die stellvertretend für ihre Zeit willentlich versenkt worden ist, gibt den Blick auf die Vergangenheit frei und ermöglicht es, eine neue Erfahrung mit dieser Zeit, die eigentlich längst vergangen ist, zu machen. »Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.« (Bachtin 2008: 7) Die Plastik ist, wie sich herausstellt, die des ersten Reichsbauernführers Richard Darré, dessen Figur zudem größer ist als die anderen im Garten (vgl. Rinke 2010: 211-212). Damit kommt die weitgehend verdrängte NS-Vergangenheit an die Oberfläche und zwingt Paul zudem auf der familiären Ebene zum Handeln, da durch die Entdeckung dieser Statue die behauptete sozialdemokratische Grundhaltung des Großvaters in Frage gestellt wird und somit auch die Ernennung zum »Künstler des Jahrhunderts« in Gefahr gerät. Paul und sein Verwandter Nullkück versuchen daraufhin die Statue im Moor zu versenken, doch erweist sie sich als schwer und unförmig, vor allem der zum sogenannten »Führergruß« ausgestreckte Arm macht Schwierigkeiten. Sie beabsichtigen also die schon einmal vorgenommene Versenkung der Figur zu wiederholen. Doch fällt bereits hier die Bemerkung »Vielleicht war das auch nicht der richtige Umgang mit Geschichte, dachte Paul.« (Ebd.: 213). So formuliert sich angesichts dieser Plastik eine charakteristische Haltung zur Vergangenheit, die Paul – hier sicher als Stellvertreter seiner Generation – bereits kultiviert hat: »Welche Fragen dieser Mann aufwarf. Sich in Ironie retten? Alles nicht so ernst nehmen? Weglaufen? Zurück nach Berlin? Warum sollte er sich überhaupt mit so was herumschlagen?

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Für diese uralten Feinde bin ich nicht zuständig, das hätten doch andere machen müssen – antwortete er sich. War er jetzt der Geschichtsmüllmann, der alles wegräumen musste, was die vorherige Generation stehen ließ? Danke, ich habe eigene Feinde – erklärte er sich. Warum sollte er hier einen Reichsbauernführer verarbeiten? Die Unmoralischen, die Mörder, die lauern doch heute überall viel getarnter, kaschiert hinter globalen Indexen, bunten Krawatten und schöner Werbung, sagte er sich. Ja, um die bunten und schönen Feinde hatte sich seine Zeit zu kümmern, nicht um Nazis, außerdem wurde auch der Kunstmarkt und das Klima immer perverser!« (Ebd.: 223)

Erst in Worpswede bricht also die Geschichte wieder auf – und eben nicht in Berlin. Vordergründig wegen der besonderen Beschaffenheit des Moors kann hier diese Figur wieder auftauchen. Abstrakter gesprochen: Das Dorf Worpswede, das Moor, der Garten sind Orte verdichteter Zeit, die sich hier ihren Weg aus dem Untergrund bahnt und damit ihren Platz in der Gegenwart wieder verlangt, da sie zunächst nur verdrängt und nicht verarbeitet worden ist. Der Ort hilft hier bei der Verdrängung der Zeit, die gerade in der Verdrängung in ihm präsent ist. Gerade im Bruch des Grundes und damit verbunden der Wiederbegegnung mit der Zeit, also im Moment der Aufhebung dieser engen Verklammerung, wird diese besonders deutlich. »Der geographische Ort stellt offenbar eine für den literarischen Text inkommensurable Größe dar. Mit seiner statischen und essentiell außersprachlichen Verfasstheit scheint er nur mittelbar in ihn integriert werden zu können. Von den meisten anderen Gegenständen, für die eine solche Aussage gleichfalls zutreffen würde, unterscheidet ihn, dass es sich bei Orten um hochgradig anthropologische und kulturell determinierte Gegenstände handelt, die immer schon mit bestimmten Vorstellungen, Werturteilen oder Kulturmustern verbunden sind. Es ist dieses paradoxe Verhältnis von außersprachlicher Verfasstheit sowie anthropologischer – und das heißt: sprachlicher – Determiniertheit geographischer Ort, woraus eine Reihe literarischer Texte ihre narrative und ästhetische Energie beziehen.« (Rose 2012: 45-46)

So auch in diesem Text, in dem die Inkommensurabilität im Auseinanderbrechen des Ortes im Roman immer wieder thematisiert wird. Doch dauert es einige Zeit, bis dieser Bruch zum Ort einer neuen Begegnung mit der Geschichte wird. Zunächst versucht Paul durchaus noch, den Reichsbauernführer und damit die Geschichte wieder im Moor zu versenken. Nach einer Art Zwischenlagerung in der Scheune gelingt dies sogar. Doch kommt direkt danach eine zweite, ebenso große Figur zum Vorschein (vgl. Rinke 2010: 363-365). Hierbei handelt es sich um den zweiten Reichsbauernführer Backe. Diese Figur kann Paul nun nicht mehr vor Ort verschwinden lassen, sie wird von eifrigen HobbyHistorikern abgeholt. Hilfe bekommen sie dabei von dem ortsansässigen Maler Ohlrogge, der seinerseits private Probleme mit der Familie Kück hat (er wurde von Johanna Kück verlassen und gibt Paul Kück die Schuld an seinem künstlerischen

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Scheitern) und die Geschichte so für seine persönlichen Zwecke instrumentalisieren will. Darin ist er ironischerweise der Familie Kück nicht unähnlich, wie sich am Kückschen Familiengeheimnis zeigen wird. Denn durch das Auftauchen der einen verdrängten Geschichte, der NSVergangenheit, wird die andere, persönliche, familiäre Geschichte ebenso ans Tageslicht gebracht. Schon recht früh im Roman wird Pauls Mutter als alleinige Erbin der Kücks etabliert. »Die fünf Brüder von Pauls Mutter konnten oder mochten keine Erbansprüche geltend machen. Sie waren entweder tot oder verrückt geworden oder wollten nie wieder etwas mit dem Haus zu tun haben.« (Ebd.: 59) Hier scheint also bereits ein zerstörerisches Familiengeheimnis auf. Die Scheune, die im Zusammenhang mit dem Versuch, die Statue verschwinden zu lassen, wieder in den Blick gekommen ist, war seit jeher ein tabuisierter Platz auf dem Grundstück: »›Die Scheune‹, sagte er [der Großvater, J.C.], ›hat die richtige Temperatur für meine noch unfertigen Menschen.‹ Johanna war voller Ehrfurcht für diesen Ort der unfertigen Menschen ihres Vaters. Sie und ihre Brüder durften nie dort hinein. Es gab auch keine Fenster, kein Licht, es war stockdunkel. ›In der Scheune‹, raunte ihr Vater, ›verwandeln sich meine Formen in Menschen, dort werden sie in der Dunkelheit lebendig, stört sie nicht. Stört sie nicht, bis sie sich vollendet haben! Eine Form, die in der Verwandlung ist, kann oft zu Dingen führen, vor denen wir uns in Acht nehmen müssen!‹ Das sagte Paul Kück seit 1944, als der Herbst begann, und in Acht nahmen sich alle.« (Ebd.: 76)

Diese Scheune ist der Ort des Kückschen Familiengeheimnisses, das sich um die Tante Marie rankt. Marie ist dabei zugleich die Verbindung der Künstlerfamilie Kück zum restlichen Worpswede, denn – wie der Leser über die verworrene Familiengeschichte erfährt – »nur die schöne Marie war Worpswederin.« (Ebd.: 60) Marie, deren Statue die schönste im Garten ist, war gegen Ende des Kriegs verschwunden. Die Legende der Familie war, dass Marie als Kommunistin von der Gestapo abgeholt worden sei (vgl. ebd.: 64). Doch hat vor allem Paul als Kind bereits immer wieder die Vermutung geäußert, dass Marie im Moor sei – was er mit seiner Moorallergie in Verbindung gebracht hat (vgl. ebd.: 157). Die unaufgearbeitete Geschichte führt hier also buchstäblich zu einer allergischen Reaktion auf den Ort. Durch den Brief eines Onkels, der sich in der Psychiatrie befand und kurz nach dem Verfassen des Briefes im Jahr 1989 Selbstmord beging, wird nun enthüllt, dass der Großvater Marie in dieser Scheune gefangen gehalten hat, nachdem seine Brüder in den Krieg gezogen waren. Dort hat er sich immer wieder an ihr vergangen. Bei der Geburt des gemeinsamen Kindes am 26.4.1945, dem Tag, an dem Worpswede von den Alliierten eingenommen wurde (vgl. ebd.: 465-466), ist sie dann gestorben. Durch diesen Geburts- und Todestag, der mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und damit der NS-Zeit in Worpswede zusammenfällt, wird diese gesamte historische Epoche in die Familie eingeschrieben und so die Rolle der Familie Kück

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als Repräsentation der Geschichte an diesem Ort Worpswede verdeutlicht. Auch Pauls Geburtsjahr 1968, das sich aus dem Text erschließen lässt, verdeutlicht dies als ein zweites wesentlich markiertes Jahr der deutschen Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ebenfalls auf diese Verklammerung verweist das Datum des Briefes, in dem das Geheimnis gelüftet wird: 1989, das Jahr des Mauerfalls. Dass der Brief noch weitere 14 Jahre unentdeckt bleibt, bleibt etwas undurchsichtig. Paul und Nullkück finden in der Scheune – beim Versuch den ersten Reichsbauernführer verschwinden zu lassen – eher zufällig eine »kleine, durchsichtige Tüte« (ebd.: 322), in der sich wohl der Brief befindet. Später liegt er dann gemeinsam mit dem silbernen Armreifen, den Marie im Moor verloren hat, auf dem Küchentisch, woraufhin Paul den Brief endlich liest (vgl. ebd.: 336). Bei diesem Kind von Marie und dem Großvater Kück, das der kinderlosen Tante Hilde übergeben wurde, handelt es sich um Nullkück, den letzten Bewohner des Hauses. Nullkück ist somit in gewisser Weise die Essenz der Kücks und zugleich ihre Aufhebung, wie sein Name suggeriert. »Paul hatte nie begriffen, in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis er zu Nullkück stand. Früher sagte er meist Onkel, weil Nullkück ihm so vertraut erschien, auch waren die Bezeichnungen, wie man den Sohn vom Bruder seines Großvaters nannte, viel zu kompliziert. Außerdem gab es noch Gerüchte: Nullkück sei ein Adoptivkind, ein unehelicher Sohn von Mackensen, dem Koloniegründer. Und Hilde, die Mutter, in Wirklichkeit gar nicht die Mutter, da sie angeblich unfruchtbar sei. Auf jeden Fall war Nullkück geistig ein bisschen debil, ein ›Torfkopp‹ oder ›Tüffel‹, wie Pauls Großvater das bezeichnete. Aus so einem Menschen werde nun mal nichts im Leben, und er bräuchte eigentlich auch überhaupt nicht da zu sein, sagte der Großvater und nannte ihn ›Nullkück‹, was so viel hieß wie ›kein Kück.‹« (Ebd.: 55-56)

Maries Leiche – und damit das Familiengeheimnis – hat Paul Kück in die Bronzeplastik, die Marie darstellt, eingegossen. Sonst sind die Figuren alle hohl, »damit die Seele und die Geheimnisse und die Stärke und Fehler der Menschen in ihnen Platz haben« (ebd.: 65). Zum Ende des Romans platzt jedoch Maries Statue auf, so dass hier das Innere – das, was der Bildhauer Paul Kück verbergen wollte – wieder ans Tageslicht kommt (vgl. ebd.: 467 sowie 482). Also nicht nur das Moor, sondern auch die Kunst, die andere das Dorf Worpswede definierende Größe, ist zum Mittel der Verdrängung der Geschichte geworden. Diese enge Verschränkung von Natur und Kunst ist eines der zentralen Merkmale für das Dorf Worpswede. Paul zerstört die Scheune in einem letzten Versuch, Nullkück zu retten (vgl. ebd.: 459-460) – doch Nullkücks Schicksal ist aufs engste mit dem Haus verbunden (vgl. ebd.: 58). Er lebt als Verkörperung des Familiengeheimnisses als einziger noch im Haus der Familie. Bei Bachtin heißt es: »Schelm, Narr und Tölpel schaffen um sich herum besondere Mikrowelten, besondere Chronotopoi.« (Bachtin 2008:

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87) Auch Nullkück schafft seine eigenen Welten im Haus der Familie, sein Zimmer ist ein weiterer kleiner Chronotopos. »Das Zimmer sah aus, als würde hier die alte mit der neuen Zeit zusammenstoßen und sich daraus eine andere Welt anordnen.« (Rinke 2010: 262) Auch Nullkück selber scheint aus der Zeit gefallen zu sein, z.B. trägt er immer noch dieselben Hosenträger, »die ihm Hilde 1955 zu seinem zehnten Geburtstag geschenkt hatte« (ebd.: 263), und jeder seiner Tage scheint nach demselben Muster abzulaufen. Doch ist gerade er der Bewahrer des Hauses und seiner Geschichte, weil er selbst keine Geschichte zu haben scheint. Auch Nullkücks Beziehungen zu Frauen, seine Kontakte zur Außenwelt, sind eigentümlicher Art – sie finden ausschließlich im raum-zeitlichen Nicht-Gelingen statt, gleichzeitig sind diese Beziehungen ein In-Besitz-Nehmen des Ortes Worpswede, seiner Landwirtschaft und seiner Bewohner. »Nullkück war in der Lage, mit dem Hanomag R16 vom benachbarten Bauern Gerken Heu zu wenden, zu düngen, Steckrüben einzufahren und dabei die jungen Bäuerinnen auf den Feldern verrückt zu machen, indem er über die Wiesen hinweg auf sie zuraste, um aus voller Fahrt Liebesbriefe abzuwerfen. Liebe Berta. Ich beobachte Dich schon lange aus der Ferne auf dem Kartoffelacker. Dein Haar flattert im Wind wie ein gold’ner Seidenmantel. Leider habe ich keine Zeit anzuhalten, denn der Winter naht und ich muss über die Felder jagen. Nullkück 1968 Nullkück stellte solche Briefe bis weit in die siebziger Jahre mit dem Trecker zu – viele Briefe, auf verschiedenen Feldern, für fast alle Bäuerinnen und immer gezeichnet mit ›Nullkück‹.« (Ebd.: 56-57)

Nullkücks Chronotopos ist so, neben seinem Zimmer, das ganze Dorf Worpswede in seinen Eigenheiten, sowie die ganze Geschichte der Familie Kück. Neben vielem anderen findet sich in Nullkücks Zimmer noch eine Flasche des Selbstgebrannten der Brüder Kück aus dem Jahr 1943. Dieser Schnaps wurde illegal in derselben Scheune gebrannt, in der Marie (Nullkücks Mutter) gefangen gehalten wurde (vgl. ebd.: 75). »Paul probierte. Und nach dem ersten Schluck des Kornbrandes von 1943 glaubte er, er fiele wieder durch die Zeit.« (Ebd.: 267) Zwar ist es hier vordergründig der Alkohol, der das Fallen durch die Zeit auslöst, jedoch ist gerade Nullkücks Zimmer der Ort, an dem sich die Zeit so verdichtet hat, dass eine gleichzeitige Begegnung mit den unterschiedlichen Zeitebenen hier möglich wird. Der Schnaps ist dabei nur als narratives Element zu lesen, das diesen Vorgang katalysiert. Wesentlich ist das Zimmer als Chronotopos, in dem Zeit und Raum zusammenfallen und sich die Zeit in ihrer Ungleichzeitigkeit öffnen kann. Die neue Zeit in diesem Zimmer wird vor allem von technischen Geräten repräsentiert. Mit ihrer Hilfe hat Nullkück eine Möglichkeit gefunden, sich mit der Welt

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zu vernetzen: das Internet. Nullkück hält über das Netz Kontakt mit unterschiedlichen Frauen, denen er ebensolche Liebesbriefe wie vorher den heimischen Bäuerinnen schreibt. Er nimmt so einen anderen, weiteren Ort in Besitz, an dem er sich losgelöst von der Zeit, jederzeit und überall verorten kann. Das Internet ist zudem der Ort, an dem die Geschichte, die am realen Ort vergraben und verdrängt worden ist, jederzeit recherchiert werden kann (vgl. u.a. ebd.: 264; 295-297). Auch Paul informiert sich im Internet über die beiden Reichsbauernführer und die NSGeschichte. So wird das reale Graben am realen Ort flankiert vom modernen ortund zeitlosen Internet. Doch ist das Internet mit seiner Fiktion, immer und überall zu sein, kein realer Ort, wie eben das Haus, das Dorf und das Moor. Die Begegnungen bleiben abstrakt und bieten deshalb keine echte Alternative zur Realität, zum Dorf und der in ihm verdichteten Zeit. Zum Ende versucht Nullkück ganz real die Leiche seiner Mutter im Moor zu finden, und wird sich dabei zu Tode verausgaben. Das Haus im Moor ist der einzige Ort, an dem er, als Verkörperung der Kückschen Familiengeschichte, leben kann. Bachtin schreibt in Bezug auf »Schelm, Narr und Tölpel«: »[S]chließlich […] ist ihr Sein die Widerspiegelung eines anderen Seins, wobei es sich hier um keine direkte Widerspiegelung handelt. Sie sind Schauspieler des Lebens, ihr Sein fällt mit ihrer Rolle zusammen, und außerhalb dieser Rolle existieren sie überhaupt nicht.« (Bachtin 2008: 88). Nullkücks Leben und Sein ist nicht nur eine Rolle, sondern die Verkörperung von Familiengeschichte und Haus im Dorf, er repräsentiert anachronistisch ebenso ein bereits untergegangenes Jahrhundert, wird nur noch vom Haus am Leben gehalten und muss so in dem Moment sterben, in dem eine Wiederbegegnung mit der Geschichte stattfindet. Auch Paul erkennt dies: »Er konnte ihn nicht einfach wegschicken, dachte Paul. Nullkück würde nur hier leben können.« (Rinke 2010: 425) Am Ende ist Nullkück gar nicht mehr in der Lage das Haus zu verlassen: »Nullkück hatten die Männer mitsamt seinem Bett in den Garten getragen und neben Marie abgestellt. Es begann zu regnen, und ein Wind wehte durch den Garten und das Bett. Paul konnte es nicht mehr mit ansehen. Er holte den Schirm. Es war der hellblaue Schirm, den Nullkück bei Pauls Ankunft über ihn gehalten hatte. Vor wie vielen Tagen oder gar Wochen war das gewesen? Wann war er denn hier angekommen?, fragte er sich.« (Ebd.: 424)

Nun ist Nullkück mit seiner Mutter wiedervereinigt, auch wenn er es nicht weiß, denn er hat die Leiche im Moor gesucht und weiß bis zum Schluss nicht, dass sie in der Statue verborgen ist. In dieser Äußerung wird zudem deutlich, wie sehr sich die Zeit an diesem Ort ihrer Verdichtung auflöst. Das »Durch-das-Jahrhundert-Fallen‹ ist zugleich ein ›Aus-der-Zeit-Fallen‹ – beides bedingt sich und beides wird durch den Ort möglich.

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D ER G RUNDBRUCH – DAS »D URCH - DAS -J AHRHUNDERT F ALLEN «: D ER ÄSTHETISCHE C HRONOTOPOS R OMAN Auf diesem Sumpf, den verdrängten politischen sowie privaten Verbrechen, die im Moor vertuscht werden sollten, kann das Haus nicht mehr stehen. Auch das Fundament der eigenen Herkunft hat sich für Paul aufgelöst, denn sein Vater ist nicht Ulrich Wendland, wie er sein Leben lang angenommen hat, obwohl ihn immer wieder ein ungutes Gefühl dabei beschlich, sondern der ehemalige Freund seiner Mutter, Peter Ohlrogge. Daraufhin streicht er seinen Nachnamen. »Wie noch leugnen, dass der Mann in den Wiesen und im Nachtclub mein Vater war? (Nun kann ich Wendland auch streichen. Jetzt heiße ich nur noch Paul.)« (Ebd.: 482) Für die Familie Kück endet damit (und auch mit Nullkücks Tod) die Familiengeschichte, gleichzeitig geht das Haus, der Wohnort der Familie, unter. Doch sind dies Auflösungen auf der verkleinerten Ebene – auf der größeren Ebene, der des Dorfes und der deutschen Geschichte, kann es zu einer neuen Begegnung kommen; dies lässt der Roman zumindest soweit offen. Denn der Chronotopos, der hier präsentiert wird, ist auch ein Ort der Begegnung. Dieser Ort der Begegnung mit der Geschichte, der mit dem Bild »Durch-das-Jahrhundert-Fallen« beschrieben wird, entsteht erst durch einen Bruch – dieser Bruch ist sowohl ein räumlicher, der Grundbruch des Hauses, als auch ein zeitlicher, das Aufbrechen der Geschichte. Möglich ist dieser Bruch nur in diesem Künstlerdorf, in diesem Haus, da hier Ort und Zeit in dieser Dichte aufeinandertreffen. Alles dies wird auch in der Anlage des Romans deutlich, vor allem an zwei wesentlichen Punkten. Zum einen sind, sobald Paul in Worpswede angekommen ist, die Kapitel auf unterschiedlichen Zeitebenen angesiedelt. Im ersten Teil (in Berlin) werden alle Rückblenden noch klar als Pauls Erinnerung markiert. In Worpswede sind es dann auch andere Erinnerungen, vor allem an die Zeit vor Pauls Geburt, die die Geschichte im Roman präsent halten und die Narration des Hauptplots auch formal durchbrechen. Der Rezipient ist es, der hier immer wieder »durch das Jahrhundert fällt«. Waldenfels formuliert das Paradox unterschiedlicher Zeitebenen aus der Perspektive des Rezipienten: »Wir sind es gewohnt, von Zeitverschiebungen zu reden, wenn wir bei der Ortsbewegung den Nullpunkt der Zeitorientierung wechseln, also von einem Zeitfeld in ein anderes geraten. Daraus resultiert eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, da die Zeitordnung, die wir verlassen haben, ebensowenig verschwindet wie die eigene Vergangenheit.« (Waldenfels 1997: 196)

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Zum anderen beginnt der Roman mit einem »Prolog vom Ende«, der sich am Ende, im 50. und letzten Kapitel »Vom Ende«, wiederholt. So werden der gesamte Roman und seine Handlung in eine Nicht-Zeit, die gleichzeitig alle Zeit mit einschließt, im Garten des Hauses, das den Grundbruch erlitten hat, verdichtet. Somit ist das Ende keine Lösung, sondern eine unvermeidliche (Wieder-)Begegnung – die Begegnung, eine der Grundfiguren des Bachtinschen Chronotopos, wird hier in einem Moment der zeitlichen Verdichtung zur Begegnung mit der eigenen Geschichte und der deutschen Geschichte – und zum wesentlichen Moment der ästhetischen Beschaffenheit dieses Romans.

L ITERATUR Bachtin, Michail (2008): Chronotopos [1975], Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fischer, Lars (2010): »Durch das Jahrhundert gefallen. Im Februar erscheint der erste Roman Moritz Rinkes, in dem er von seinem Heimatdorf Worpswede erzählt«, in: Weserkurier vom 6.1.2010, S. 20. Henrici, Sandra/Rinke, Moritz (2010): »›Ich suche schon die ganze Zeit nach diesem Doppelton.‹ Ein Werkstattgespräch zwischen Moritz Rinke und der Lektorin Sandra Henrici über Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel«, in: Kai Bremer (Hg.), Ich gründe eine Akademie für Selbstachtung. Arbeitsbuch Moritz Rinke, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, S. 102-115. Hetmann, Frederick (1991): Worpswede: Die Geschichte einer deutschen Künstlerkolonie, München: Bertelsmann. Hüppauf, Bernd (2007): »Heimat – Die Wiederkehr eines verpönten Wortes. Ein Populärmythos im Zeitalter der Globalisierung«, in: Gunter Gebhard/Oliver Geisler/Steffen Schröter (Hg.), Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld: transcript, S. 109-140. Pettit, Richard (1983): Rainer Maria Rilke in und nach Worpswede, Lilienthal: Worpsweder Verlag. Rinke, Moritz (2010): Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel, Köln: Kiepenheuer und Witsch. Rose, Dirk (2012): »Die Verortung der Literatur. Präliminarien zu einer Poetologie der Lokalisation«, in: Martin Huber et. al. (Hg.), Literarische Räume. Architekturen – Ordnungen – Medien, Berlin: Akademie Verlag, S. 39-57. Todorov, Tzvetan (1972): »Die Kategorien der literarischen Erzählung«, in: Heinz Blumensath (Hg.), Strukturalimus in der Literaturwissenschaft, Köln: Kiepenheuer und Witsch, S. 263-294. Waldenfels, Bernhard (1997): Topographie des Fremden. (Studien zur Phänomenologie des Fremden 1), Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Weigel, Sigrid (2002): »Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«, in: KulturPoetik 2/2, S. 151-165.

Die zerstörte Dorfidylle an der österreichischslowenischen Grenze: Maja Haderlaps Engel des Vergessens J OŽICA Č EH S TEGER

E INFÜHRUNG Dieser Beitrag widmet sich Maja Haderlaps Romandebüt ENGEL DES VERGESSENS (2011),1 und zwar unter besonderer Berücksichtigung der noch immer traumatisierenden Erlebnisse der Kärntner Slowenen während der Partisanenzeit und in den Konzentrationslagern, die in den Alpentälern nahe der österreichisch-slowenischen Staatsgrenze auch heute keine Idylle zulassen. Der Roman ENGEL DES VERGESSENS ist aus der Perspektive der Ich-Erzählerin geschrieben und stark autobiographisch geprägt. Die Hauptfigur wächst im Verlauf der Handlung von einem sechsjährigen Mädchen zu einer in Wien humanistisch gebildeten Frau heran. Nach Aussage der Schriftstellerin wurde der Roman als SelbstTherapie geschrieben, der Text lässt sich aber auch als Landschafts- und Bildungsroman, Dorfgeschichte, Familienchronik oder Geschichtserzählung lesen. Haderlaps Roman wurde von den Rezensenten überaus positiv aufgenommen und von

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Die Schriftstellerin bekam für diesen in deutscher Sprache geschriebenen Roman mehrere Auszeichnungen, u.a. den Ingeborg-Bachmann-Preis 2011 für einen Ausschnitt (Seite 7591), den Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch des Jahres 2011 und den Rauriser Literaturpreis 2012. Der Roman ist in Kärnten sowie in Slowenien ein Bestseller geworden. Bis heuer wurden vom Wallstein Verlag in Göttingen zehn Auflagen herausgegeben, bis zum Jahr 2011 75.000 Exemplare gedruckt (vgl. http://www.slovenija-danes.slovenci. si/z-angelom-spomina-nad-pozabo vom 15.10.2013).

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vielen, zum Beispiel auch von Peter Handke, als ein großartiges Werk bezeichnet.2 Der Widerstand der Kärntner Slowenen, die während des Zweiten Weltkriegs als Partisanen gegen die Nazi-Diktatur kämpften, erhält in Haderlaps ENGEL DES VERGESSENS – ebenso wie in Handkes Werk IMMER NOCH STURM (2010) – zum ersten Mal eine höchst poetische Darstellung. In beiden Werken sind Geschehnisse aus dem Zweiten Weltkrieg stark auto- bzw. familienbiographisch geprägt, in den kärntnerslowenischen Dörfern verortet und aus der Erinnerungsperspektive erzählt. Die individuelle Dorfgeschichte bzw. die Familiengeschichte geht in beiden Fällen in eine Geschichtserzählung über. Allerdings kommt bei Haderlap durch das in den 1960er Jahren heranwachsende Mädchen bzw. die akademisch gebildete Frau als Romanerzählerin, die sich gleichzeitig als traumatisiertes Nachkriegsopfer zu erkennen gibt, auch die weibliche Perspektive stark zum Ausdruck. Für viele Kärntner Slowenen bildet der Roman ein Identifikationsangebot, da er für sie ein Erzählmuster für eigene, bisher verschwiegene und unterdrückte, KZ- und Partisanengeschichten bietet (vgl. Mayer 2012). Die Handlung des Romans ist im zweisprachigen alpinisch-karawankischen Raum verortet. Durch die Erhebungen der Julischen Alpen und der Karawanken zieht sich die heutige slowenisch-österreichische Staatsgrenze. Sie ist weitgehend identisch mit der Grenze, die nach dem Zusammenbruch der österreichischungarischen Monarchie mit dem Staatsvertrag am 10. September 1919 in St. Germain festgelegt wurde.3 Durch diese politisch gezogene Staatsgrenze entstand in Kärnten die slowenische Minderheit. Die Slowenen in Österreich waren durch die Minderheitenschutzbestimmungen des Staatsvertrags von St. Germain zwar geschützt, in der Praxis wurde dieser Schutz von Österreich jedoch nur teilweise gewährleistet (Nećak/Repe 2006: 99). Die Beziehungen zwischen den deutsch- und slowenischsprachigen Kärntnern waren oft sehr gespannt, besonders schwierig aber waren sie in der Zeit des Naziregimes. Auch der langjährige Nachkriegsstreit über

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So findet sich u.a. auch eine begeisterte Aussage Peter Handkes auf dem Buchumschlag: »Maja Haderlap hat eine gewaltige Geschichte geschrieben … Die Großmutter wie noch keine, der arme bittere Vater wie noch keiner, die Toten wie noch nie, ein Kind wie noch keines.« (Haderlap 2012)

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Wegen Grenzspannungen im September 1918 wurde auf Empfehlung der USA in St. Germain beschlossen, dass für das slowenisch-deutschsprachige Gebiet in Kärnten ein Plebiszit über die Grenzziehung entscheiden sollte. Für die Volksabstimmung wurden zwei Zonen gebildet, der Zone A gehörte der südliche Landesstreifen mit vorwiegend slowenischer Bevölkerung und der Zone B das Klagenfurter Becken an (Ackerl/Kleindel 1994: 483). Da sich der größte Teil der Kärntner Slowenen beim Plebiszit am 10. Oktober 1920 schon in der südlichen Zone A für den Verbleib bei Österreich entschieden hatte, unterblieb die Abstimmung in der Zone B.

D IE ZERSTÖRTE DORFIDYLLE | 341

die slowenischen Ortstafeln fand erst vor kurzem einen für beide Seiten vertretbaren Abschluss. Heute sind die Kärntner Slowenen im südlichen Teil des österreichischen Bundeslandes Kärnten angesiedelt, im Jauntal (Podjuna), Rosental (Rož), Lavanttal (Labotska dolina), in der Sattnitz (Gure) zwischen der Drau und Klagenfurt und im unteren Teil des Gaitals (Ziljska dolina). Nach der Volkszählung des Jahres 2001 gehören folgende Gemeinden zu den zweisprachigen Gemeinden mit einer zum größten Teil slowenischsprachigen Bevölkerung: Sele/Zell (89 Prozent), Globasnica/Globasnitz (42 Prozent) und Železna Kapla/Eisenkappel (38 Prozent).

M AJA H ADERLAP –

EINE MEHRSPRACHIGE

AUTORIN

Maja Haderlap wurde 1961 in Eisenkappel/Železna Kapla geboren und wuchs auf einem einfachen Bauernhof4 in dem abgelegenen Kärntner Lepenagraben bei Eisenkappel auf.5 Sie stammt aus einer slowenischsprachigen Kärntner Familie; viele Familien waren bei den Partisanen, die gegen die Deutschen kämpften. Ihre Verwandten, unter anderen der Onkel Anton, die Großtante Helena Kuhar, auch deren Sohn Peter, und ihr Vater Zdravko haben selbst Erinnerungstexte veröffentlicht (Kuhar 1984, Z. Haderlap 1990, A. Haderlap 2008), in welchen sie sich mit ihrer persönlichen Unterdrückung durch das Naziregime und mit dem Widerstand der Kärntner Partisanen beschäftigen. Diese Erfahrungen und Bezüge stellen auch im Roman ENGEL DES VERGESSENS ein bedeutendes Thema dar. Maja Haderlap begann ihre literarische Tätigkeit als Lyrikerin.6 In den stark autobiografisch geprägten Gedichten schreibt sie zum Beispiel über den Vater auf dem Bauernhof, über die entfremdete Beziehung zur Mutter, über das Brotbacken, aber auch über das eigene Volk und dessen leidvolle Vergangenheit. Sie themati-

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Der Bauernhof liegt in einem Winkel und wird »Vinklhof« genannt. Aus diesem Tal stammen auch einige andere bekannte kärntnerslowenische Schriftsteller wie Florjan und Cvetka Lipuš.

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Neben Essays veröffentlichte sie auf Slowenisch zwei Gedichtbände, und zwar ŽALIK PESMI

(1983) (dt. Salige Gedichte, im Sinne von Trauerliedern) und BAJALICE (1987) (dt.

Wünschelruten, von »bajati«, Geschichten erzählen). Ihr Drittes Buch GEDICHTE, PESMI, POEMS (1998) umfasst Haderlaps Gedichtsammlungen ŽALIK PESMI und BAJALICE sowie ihre schon auf Deutsch verfassten Gedichte aus der Zeit zwischen 1990 und 1995. Die Gedichte in diesem dreisprachigen Werk, das auch als Beitrag zur Interkulturalität bzw. Transkulturalität der slowenischen Volksgruppe in Österreich verstanden werden kann, wurden von Klaus D. Olof ins Deutsche, von Marija Smolić ins Slowenische und von Tom Priestly und John L. Plews ins Englische übersetzt.

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siert zudem den Abschied von der Familie und der dörflichen Heimat sowie das Leben in der Stadt und die immer wieder erfolgende Rückkehr auf den Elternhof.7 In ihren Gedichten lässt sich auch ein Übergang von konkreten Themen und Problemen des dörflichen Lebens zu abstrakten Reflexionen über kulturelle Identität und Sprachverlust erkennen. Einige Figuren des in den Gedichten dargestellten Dorf- und Familienlebens – zum Beispiel Vater, Mutter und Großmutter – treten dann auch im Roman ENGEL DES VERGESSENS auf. Zunächst einmal ist das Leben der kleinen Protagonistin auf einem Bauernhof im Lepenagraben zwischen den Bergen, Wäldern, Bächen und Teichen stark von Volkstraditionen geprägt und könnte nahezu idyllisch verlaufen – wenn das Mädchen nicht in einer durch den Zweiten Weltkrieg völlig traumatisierten Familie aufgewachsen wäre.8 Denn das scheinbar idyllische Landleben der kleinen Protagonistin aus den 1960er Jahren des vorigen Jahrhunderts wird durch die düsteren Schatten der Vergangenheit nicht nur gestört, sondern nahezu völlig zerstört.

D IE L ANDSCHAFT

BLEIBT GLEICH

In den Gräben und Anhöhen rund um Eisenkappel/Železna Kapla in der Grenzregion Slowenien-Österreich ist die Landschaft rau, verwachsen, von Holzwirtschaft und Tourismus geprägt. Der im Abseits gelegene Lepenagraben, wo drei Bäche aufeinander treffen und sich der Graben teilt, erscheint, so die Schriftstellerin in einem Interview, als das Gegenteil einer lieblichen Landschaft.9 Die alpine Landschaft – der Lepenagraben mit den entlegenen Bauernhöfen, Bächen, Hainen, Wäldern, Teichen und Tieren sowie die weitere Umgebung südlich der Staatsgrenze − ist im Roman ENGEL DES VERGESSENS mit größter Sensibilität beschrieben. Das zerklüftete Gebiet der Karawanken könnte schon hier auf die seelische Zerrissenheit der Protagonisten, die im Verlauf des Romans ein zentrales Thema sein wird, hinweisen. Wenn die kleine Protagonistin mit ihrem Vater im Wald zum ersten Mal die

7

Vgl. z.B. folgendes Gedicht (Haderlap 1998: 145): »es könnte eine frau sein, / die mir den weg zeigt zum dorf, / das ich suche, es könnte ein dorf sein, / mit herbergen für fremde / und augenpaaren zum zählen. / es könnte ein dorf sein / mit hacken und spaten, mir wohlbekannt. / aber des nachts kommt meine mutter. / sie weist ins tal. das alles / gehört uns nicht, sagt sie. / meine koffer stehen gepackt / vor ihrer tür. ich sage verse auf / übers ankommen. / es sind keine lieder, keine klagen, / nur loser klang.«

8

Ihre Großmutter überlebte das KZ Ravensbrück, der Vater der Autorin ist mit bereits 12 Jahren der jüngste Kärntner Partisan gewesen.

9

Vgl. das Interview mit Maja Haderlap auf http://knjiga.dnevnik.si (16.10.2013).

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österreichisch-jugoslawische Grenze übertritt, kann sie nicht begreifen, warum dort eine Grenze ist, da sie keine landschaftlichen Unterschiede wahrnehmen kann: »Zu meiner Verwunderung verläuft die Staatsgrenze nahe am Holzschlag. Vom Waldkamm aus kann ich die jugoslawische Seite des Waldhangs überblicken, die zu meinem Erstaunen der österreichischen gleicht und sich als eine Fortführung der vertrauten Landschaft offenbart.« (Haderlap 2012: 80)

Schon beim nächsten Grenzübergang lernt die Protagonistin allerdings einige kulturelle Unterschiede zwischen beiden Staaten kennen und erlebt Angstgefühle wegen des in damaliger Zeit bekannten Zigarettenschmuggels mit Jugoslawien. Mit ihrer Großmutter und einigen Dorfbewohnern macht sie eine Fahrt in den slowenischen Wallfahrtsort Brezje. Bei dieser Gelegenheit besuchen sie auch den touristisch bekanntesten Ort Bled mit seinem malerischen See und einer Kirche mitten auf einer Insel sowie das Museum in Begunje, wo während des Kriegs allerdings auch ein Gefängnis der Nazis gewesen war. Einige Jahre später will die Protagonistin dann genau wissen, wo die Staatsgrenze zu Jugoslawien verläuft. Diese Grenze erscheint ihr nun als »ein geschriebenes, ein in die Landschaft graviertes Gesetz« (Haderlap 2012: 219). Das Gebiet der Kärntner Slowenen nördlich der slowenischösterreichischen Staatsgrenze nimmt sie dagegen zunehmend als ein Niemandsland wahr. In Verbindung mit den zentralen Begriffen ›Identität‹, ›Sprache‹, ›Politik‹, ›Schreiben‹ wird die kritische Reflexion über die Staatsgrenze hier zu einem bedeutenden Gegenstand ihres Schreibens. Als erwachsene, akademisch gebildete Frau und Dichterin stellt sich die Ich-Erzählerin – die damit auch Züge der Autorin trägt – darüber hinaus viele Fragen. Lebt sie selbst in einem Niemandsland? Was bestimmt ihre Identität? Welche Rolle spielen dabei Muttersprache, Orte, Landschaft, Nationalität und Geschichte? Soll sie auf Deutsch oder Slowenisch schreiben? Einerseits macht sie sich Gedanken über den Verlust ihrer slowenischen Sprache, anderseits fußen ihre Sprachreflexionen gerade auf ihrer Mehrsprachigkeit sowie auf ihrem global ausgerichteten, grenz- und nationenüberschreitenden Denken. Damit verbunden ist ihre Kritik an den immer noch vorhandenen nationalen und sprachlichen Grenzen in Kärnten, die wiederum auf einer – der wahrgenommenen Realität nicht entsprechenden – Entweder-Oder-Schematisierung basieren. Ihre Kritik richtet sie dabei besonders auf die politisch ausgerichteten und national polarisierten Vereine und die von ihnen vertretenen Grenz-Setzungen: »Der Grenze wegen, die in den Augen der Mehrheit in unserem Lande nur eine nationale und sprachliche Grenze sein kann, muss ich mich erklären und ausweisen. Wer ich bin, zu wem ich gehöre, warum ich Slowenisch schreibe oder Deutsch spreche? Solche Bekenntnisse haben einen Schattenhof, in dem Gespenster herumstehen mit den Namen Treue und Verrat,

344 | J OŽICA ČEH STEGER Besitztum und Territorium, Mein und Dein. Das Überschreiten der Grenze ist hier kein natürlicher Vorgang, es ist ein politischer Akt.« (Haderlap 2012: 220)

D IE I DYLLE

UND DER LIEBLICHE

O RT

Der Begriff der Idylle (gr. eidýllion) wird in literaturwissenschaftlicher Perspektive in zweifacher Bedeutung verwendet. Im engeren Sinn wird die Idylle als eine Gattung zwischen Lyrik und Epik bzw. als eine epische Kleinform in Versen oder rhythmischer Prosa bezeichnet. Im weiteren Sinn wird damit jede Dichtung angesprochen, die in der räumlich-statischen Schilderung die unschuldige, selbstgenügsame und beschauliche Geborgenheit des Menschen in der Natur vermittelt (Kühnel/Holmes 2007: 340). Als räumlich bestimmtes Artefakt kann sie auch in den Kontext der Geopoetik eingebettet werden; beschäftigt sich diese doch u.a. mit der literarischen Konstruktion und Ausgestaltung von Räumen. Dieses »poetische« Herstellen von Räumen umfasst dabei einen weiten Bereich »vom Fingieren von Geographien hin zu referentiellen Bezügen auf die empirische Geographie« (Marszałek/Sasse 2010: 12). Obwohl das Konzept der Idylle seine Wurzeln in einer noch älteren bukolischen10 Tradition hat, stehen Theokrits und Vergils Gedichte am Anfang einer in Europa rezipierten idyllischen Tradition und dienen dann auch noch den Dichtern der späteren Jahrhunderte als Muster und Quelle.11 Seit der Renaissance wird der Begriff der Idylle synonym mit Ekloge, Pastorale, Schäfer- oder Hirtendichtung gebraucht. Auch innerhalb der Bukolik werden dabei immer wieder idyllische Landschaften dargestellt, was eine feste Abgrenzung der Idylle von den erwähnten Gattungen kaum möglich macht (Delbrück 1990: 217). Durch die Jahrhunderte wurde freilich das Idyllische nicht nur auf Bukolisches beschränkt. Im 18. Jahrhundert kam es zur Übertragung des idyllischen HarmonieKonzeptes auf eine bürgerlich-familiäre Welt, ebenso dann auch auf die Lebenswirklichkeit der Dorf- und Kleinstadtexistenz. Als räumlich-statisches Konstrukt fand die Idylle dann allerdings auch größere Beachtung in realitätsbezogenen Texten, insbesondere auch im Kontext des poetischen Realismus des 19. Jahrhunderts, wo sie als Medium der Sozialkritik verwendet wurde. Zugleich hatte sie jedoch seit dem 18. Jahrhundert an Popularität verloren; als eigenständige Gattung tritt sie nach

10 Vgl. dazu auch Diekkämper (1990), die auf Hesiods Phantasiegebilde aus seinem Werk WERKE UND TAGE verweist (ebd.: 1). 11 Neben Theokrit und Vergil sind auch andere Quellen der Idyllendichtung zu nennen, Spuren idyllischer Motive sind im Paradies der biblischen Genesis, in Homers ODYSSEE, bei Ovid, Horaz u.a. zu finden. Für die geschichtliche Darstellung der Idylle vgl. Schneider (1988).

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1800 kaum noch in Erscheinung, immerhin aber lassen sich idyllische Motive und Anspielungen in der Literatur auch noch bis heute finden (ebd.: 218). Demgegenüber zielt die realistische Literatur des 19. Jahrhunderts zunächst darauf, die reale Welt im Detail zu schildern und Verweise auf die Idylle nur noch durch einzelne Elemente vorzunehmen.12 Da sich Detailschilderungen ggf. auf schöne oder unschöne Momente in der Welt und im Leben beziehen lassen, bieten idyllische Bezüge zumindest die Möglichkeit, einen Gegenpol zur Realität zu schaffen und diesen über weitere Gegensätze wie z.B. Einfachheit vs. Komplexität, Natur vs. Kultur, idyllischer vs. nicht-idyllischer Raum, Stadt vs. Land zu plausibilisieren oder auch nur zu veranschaulichen. Die Funktion dieser Gegensätze besteht dabei in der Entwertung des einen und der Idealisierung des anderen. Solche Kontraste kommen auch in Haderlaps ENGEL DES VERGESSENS vor und bieten dadurch auch Ansätze zu einer idyllischen Sicht auf das Dorf. Doch ist diese durch die traumatisierten Kriegserinnerungen zugleich von Anfang an auch einem Zerstörungsprozess unterworfen. Gerade weil die idyllische Lebensform von größter Geborgenheit geprägt ist und dabei auch an die Unschuld von Kindern erinnert, werden idyllische Momente des Alltags in Haderlaps Roman häufig aus einer naiven Kinderperspektive heraus erzählt und damit zugleich relativiert. Konzepte der Idylle, deren artifizielle Strukturierung durch die Techniken der Vereinfachung, der Imitation, der Isolierung und der Verstärkung von Motiven ermöglicht wird, sind aber auch noch an einige andere Voraussetzungen oder Bezugsmöglichkeiten gebunden. Als Wunschbild eines in sich ruhenden, harmonischen Daseins hält sich die Idylle in ihrer Selbstbeschränkung zunächst von allen sozialen und politischen Veränderungen fern und sucht den Mythos von herrschaftsfreien Zuständen – vor aller gesellschaftlich gefassten Zeit – zu wahren (Tismar 1973: 7). Da sich der Mensch glückliche Verhältnisse meistens so erträumt, dass er sich aus seinen anstehenden Verhältnissen zurückzieht, auf vergangene Zustände blickt und diese in seiner Vorstellung idealisiert, ist die Idylle meistens auf die Vergangenheit gerichtet (ebd.: 8). Das idyllische Leben steht in einem harmonischen Verhältnis mit dem Naturablauf; menschliche und soziale Zeit kann durch den Verweis auf die zyklische Wiederkehr der Jahreszeiten depotenziert oder gar aufgehoben werden (vgl. Kühnel/Holmes 2007: 340). Dadurch verkörpert die Idylle die Idee von einer prästabilisierten Harmonie bzw. harmonischen Naturordnung. Insofern die Darstellung von idyllischen Zuständen feste Absicherungen benötigt, werden

12 In zahlreichen Novellen und Romanen des poetischen Realismus in der deutschen und slowenischen Literatur (z.B. Adalbert Stifter, Theodor Fontane, Josip Stritar, Ivan Tavčar u.a.) dient die Idylle der Offenlegung einer Zerbrechlichkeit von Momenten der Geborgenheit in der realen Welt.

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um solche kleinen Traum- und Wunschlandschaften häufig imaginäre Rahmungen gebaut. Beliebt sind natürliche Begrenzungen wie zum Beispiel Waldenklaven oder Grotten. Eine in einem »bürgerlichen« Sinn dann zu verstehende allgemeine Ordnung findet der Idylliker aber auch im Wechsel zu kleineren Ereignissen, zum Beispiel in der Schilderung häuslicher oder familiärer Feiern (Geburtstag, Taufe, Hochzeit) und Feste (Tismar 1973: 8). In einer Liste der Themen- und Figurenkomplexe in einer bukolischen bzw. idyllischen Tradition – also neben z.B. Künstlertum, Mythos und Tod, einem poetischen Hirten mit Leid- und Liebesklage – kann besonders dem Topos des ›lieblichen Ortes‹ eine wichtige Rolle zugesprochen werden. Im Begriff des ›locus amoenus‹ wird zunächst einmal eine fiktive Ideallandschaft mit stereotypen Elementen (Blumen, Wasserquelle, schattige Bäume, Vogelgesang, Frühling) gefasst.13 Eine solche idealisierte Naturbeschreibung dient dann nicht zuletzt der Erzeugung und Vermittlung von Ruhe, Harmonie und der Evokation einer friedlichen Atmosphäre, die sich an solch typisierten Orten wie Ruheplatz, Baum oder Teich einstellt – und die auch im Betrachter eine bestimmte ästhetische Wahrnehmung bzw. auch Empfindung dieser Szenerie hervorruft und bewusst werden lässt (vgl. Diekkämper 1990: 2). Frei von negativen Natureigenschaften wie Hitze, Hagel oder Überflutungen steht die liebliche Naturlandschaft so in einem direkten Verhältnis zu den Seeleneigenschaften der jeweiligen Figuren, die sich in ihrem Rahmen bewegen.

H ADERLAPS D ORFIDYLLE

IST DAGEGEN ZERSTÖRT

Im Folgenden schauen wir uns an, wie einige Elemente der Idylle in Haderlaps ENGEL DES VERGESSENS vorkommen und sowohl durch die alltägliche und geschichtliche Lebensrealität als auch durch eine intervenierende Erinnerung gebrochen werden. Der Kontrast zwischen einem alltäglichen und einem traumatisierten Dorfleben lässt sich mit Hinweisen auf die Elemente der Idylle stärker hervorheben. Fast bis zur Mitte des Romans begleiten wir zunächst die Ich-Erzählerin durch ihre Kindheit im Lepenagraben. Gerade die liebevolle und innige Beziehung zwischen dem Mädchen, als das sie sich erinnert, und ihrer Großmutter auf einem einfachen Bauernhof vermittelt den Eindruck einer idyllischen Kindheit. Doch die zu Beginn noch kaum erkennbaren Brüche dieses idyllisch erscheinenden Daseins treten mit der Zeit immer deutlicher hervor. Am Anfang wird die Kindheit der kleinen Protagonistin im häuslichen Umfeld und in ihrer Beziehung zur Großmutter noch

13 In der antiken Literatur bezeichnet der ›locus amoenus‹ eine »ausgestaltete Kulisse belebter Darstellungen einer utopischen Glückslandschaft, in der Frieden und Harmonie herrschen« (Fuchs-Jolie 2007: 459).

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mit den Verweisen auf einen Bienenstaat – in der idyllischen Tradition häufig Beispiel harmonischer Naturordnung (Tismar 1973: 8) und damit Vorbild für das menschliche soziale Leben – als Leben in durchaus harmonischen Zusammenhängen geschildert: »Sie ist meine Bienenkönigin und ich bin ihre Drohne. Ich habe den Duft ihrer Kleidung in der Nase, den Geruch nach Milch und Rauch, einen Hauch von bitteren Kräutern, der an ihrer Schürze haftet. Sie gibt mir den Rundtanz vor und ich tänzle ihr nach. Ich passe meine kleinen Schritte ihren schleppenden an, ich summe eine zarte Melodie aus Fragen und sie spielt den Bass.« (Haderlap 2012: 7)

Zu den Idylle-bildenden Elementen könnte man auch die konstruierten Bilder glücklicher Räume, die mit den Behausungen und Verstecken der Kindheit verbunden sind, zählen. Die Sehnsucht nach Ruhe und Geborgenheit manifestiert konstruierte Zufluchtsorte wie zum Beispiel das Haus, das Nest, die Muschel und den Winkel (Tismar 1973: 9), die auch als Heterotopien14 zu verstehen sind. Als idyllische Orte des Romans lassen sich hier unter anderen das alte Haus bzw. das Schlafzimmer der Großmutter, wo das Mädchen öfters übernachtet, der Teich am Schloss und der heimische Wald anführen. Aber alle diese Orte sind zugleich mit Erlebnissen aus dem Zweiten Weltkrieg belastet, mit denen das Mädchen durch die Erzählungen der Großmutter, vom Vater und auch von anderen Verwandten und Dorfbewohnern immer wieder konfrontiert wird. Das Elternhaus Einer dieser Schutzorte eines glücklichen und geborgenen Lebens sollte bzw. könnte sicherlich das Elternhaus sein, doch gerade dies kann es im Rahmen der im Roman geschilderten historischen Umstände und deren realer Auswirkungen im Alltag des Dorfes nicht sein. Das »Vinklhaus«, in dem die Protagonistin aufwuchs, hat, auf der Stirnseite steht das Jahr 1743, schon selbst eine lange Geschichte. Gleich am Anfang des Romans werden die einzelnen Räume des Hauses sowie der alltägliche bzw. jahreszeitliche Ablauf der Arbeiten der Großmutter beschrieben, in denen sich zunächst die räumliche Abgrenzung und der zyklische Zeitverlauf ländlicher Lebensverhältnisse, ja auch eine Art der Dorfidylle wiederfinden lässt. Aber gerade aus einem der scheinbar idyllischen Orte, der Rauchküche, in der es gewöhnlich

14 Die Heterotopien stellen alle anderen Räume in Frage, »indem sie eine Illusion schaffen, welche die gesamte übrige Realität als Illusion entlarvt, oder indem sie ganz real einen anderen realen Raum schaffen, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist« (Foucault 2013: 19f.).

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nach frischgebackenem Brot riecht, verbreitet sich gleichzeitig ein schlechter, saurer Geruch, der alle Kleidungsstücke und Lebensmittel befällt. Solch ein schlechter Geruch als Störung des idyllischen Daseins kommt im Roman öfters vor und kann gegenläufig zur Idylle auf die »Erdung« der Verhältnisse in realer Not und auch in historischen Gewalterfahrungen hinweisen: »Die Speisen, die sie zubereitet, schmecken nach schwarzer Küche, nach der dunklen, schlecht beleuchteten Grotte, die wir täglich ein paar Mal durchqueren. Alles Essbare, scheint mir, nimmt den Geruch und die Farbe der Rauchküche an. Der Speck und das Heidenmehl, das Schmalz und die Marmelade, sogar die Eier riechen nach Erde, Rauch und gesäuerter Luft.« (Haderlap 2012: 5)

In diesem Fall wird der Topos der Grotte als ein behütender Liebesort zu einer »schwarzen« bzw. negativen Grotte umgedreht. Das traditionelle Leben auf dem Bauernhof ist mit Selbstversorgung, Aberglauben, Katholizismus, Naturheilung und Geschichte verbunden. Die Küche und die Erziehung der Enkelin, die vom Großvater Eiermädchen und von der Mutter auch Hühnchen genannt wird, übernimmt die Großmutter. Durch sie wird die Erzählerin zunächst mit der ländlichen Tradition und mit den Arbeiten des Alltags – Brot backen, Sahne machen, Obst und Heilpflanzen dörren – vertraut gemacht.15 Jeden Tag spaziert sie mit dem Mädchen ein paar Mal durch die Speisekammer und die schwarze Küche. In der Stube drehen sie die Milchzentrifuge, um den Rahm von der Milch zu trennen, in der Kammer werden die Betten gelüftet, auf den Fensterbrettern Kräuter gewendet, die Hühner mit Maiskörnern und Weizen gefüttert. Zweimal in der Woche überprüfen sie die Legeplätze der Hennen im Geräteschuppen und auf der Tenne. Die Großmutter ist auch religiös, ihr Glaube besteht allerdings in einer Mischung aus abergläubischen Naturpraktiken mit Bezügen auf Gott und die Natur. Vertrauen in das Wissen der Schulbücher oder in die offizielle katholische Erziehung hat sie nicht. Ihrer Meinung nach sollte das Mädchen anstelle von Gedichten und Gebeten lieber drei wichtigere Dinge lernen: Polka und Walzer tanzen, Karten spielen sowie eine gute Gastgeberin zu sein. Am Anfang nur flüchtig, mit der Zeit aber immer ausführlicher erzählt sie dann der kleinen Enkelin von ihren Erlebnissen im KZ Ravensbrück sowie von der Verfolgung der Dorfbewohner durch NS-Einheiten. Dabei zeigt sie ihr auch Bilddokumente, ihr Lagerbuch und auch sonstige Literatur über das KZ Ravensbrück, das sie nach dem Krieg noch einmal besuchte.

15 Für die kulturelle Identität der Kärntner Slowenen sind ländlicher Raum, slowenische Sprache, gemeinsames Musizieren, Tanzen und Singen von großer Bedeutung. Im weiteren Sinne auch Jagd, Holzarbeit und Imkerei.

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Im alten »Vinklhaus« wurde vor dem Krieg viel gesungen und getanzt, sogar Theater gespielt. In der Nachkriegszeit hingegen erscheinen viele Bewohner dieser Gegend, und so auch des Hauses, durch ihre Erinnerungen an den Krieg und die Zeit der Verfolgung traumatisiert, so dass sie als Überlebende mit den Erinnerungen auch ihre traumatische Bannung an die jüngere Generation weitergeben. Einzelne idyllisch anmutende Orte wurden ganz zerstört. Im Zweiten Weltkrieg − nach der Zwangsrekrutierung des Großvaters Miha Haderlap zu den Partisanen − wurde auch das »Vinklhaus« durchsucht.16 Die Polizei verhaftete den damals 12-jährigen Sohn (den Vater der Protagonistin), während er Kühe hütete. Er wurde bezüglich seines Vaters verhört. Weil er nichts verriet, wurde er von der Polizei geschlagen, für eine Nacht nach Eisenkappel ins Gefängnis gebracht, dann aber wieder freigelassen. Die Großmutter sowie ihre Ziehtochter Mici Pečnik wurden am 12. Oktober 1943 verhaftet und ins KZ Ravensbrück deportiert. In das ganz verwüstete »Vinklhaus« zog die Großtante Helena Kuhar mit ihrem Sohn ein, und sorgte für die kleinen Neffen Zdravko und Anton Haderlap. Im Oktober 1944 mussten aber alle das Haus wieder verlassen und in den Wald fliehen. Maja Haderlaps Vater Zdravko und Onkel Anton als jüngste Partisanen hielten sich im Wald bei der Kuriereinheit K-9 ihres Vaters auf. Die Burschen wurden Zeugen großer Grausamkeiten, Anton auch des Massakers auf dem Peršmanhof, wo am 25. April 1945 elf Zivilisten − davon sieben Kinder − von NS-Einheiten des 13. Polizeiregiments ermordet wurden (Hofer 2012: 69). Die Großmutter will v.a. die Familientradition bewahren, da sie ihr Schutz und Geborgenheit verspricht. Daher erscheint ihr der vom Vater der Protagonistin beschlossene Bau eines neuen Hauses als große Gefahr und Belastung, gegen die sie sich mit allen Kräften wehrt. Wahrscheinlich ihr zuliebe findet sich dann eine Zwischenlösung. Das neue Haus wird auf dem alten Keller gebaut, aus dem sich allerdings beständig die bereits oben angesprochenen alten, sauren Gerüche verbreiteten. Metaphorisch tauchen so nicht nur die verdeckt gärenden und in die Gegenwart hineinreichenden Kriegserinnerungen immer wieder auf. Es zeigt sich hier auch das Weiterwirken der Vergangenheit in der Nachkriegsgegenwart sowie die (Un-)Möglichkeit einer »Stunde Null« in der österreichisch-slowenischen Geschichte, auch in ihrer literarischen Reflexion. Die Gegenwart, doch auch das Erzählen der Geschichte in ihr, baut auf stinkendem Boden.

16 Miha Haderlap bekam den Befehl zur Wehrmacht einzurücken, aber er entschied sich für die Partisanen. Seine Zwangsrekrutierung zu den Partisanen wurde nach Aussage von seiner Schwester Helena Kuhar nur vorgespielt, und zwar in der Hoffnung, dass man seine Familie in Ruhe lässt. Vgl. www.haderlap.at/index.php?DOC_INST=33 (16.10.2013).

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Der Teich Einen weiteren Ort mit Bezügen zum ›locus amoenus‹ stellen der Garten mit Blumen und der Teich am Schloss in Gradisch dar. Der Onkel der Protagonistin arbeitet dort als Förster und lebt mit seiner Familie in der Dienstwohnung. Bei ihnen verbringt die Protagonistin manchmal ihre Sommerferien. Eines sonnigen Tages geht sie mit ihrer Cousine unter Aufsicht der Küchengehilfin im Teich baden. Teich und Garten sind auch hier zunächst als liebliche und sinnliche Orte beschrieben, die Schatten, Lebensenergie, Erfrischung, angenehme Düfte und Harmonie bieten und damit direkt auf die Gemütslage der Protagonistin übergehen können: »Die Sommertage haben einen goldenen, glitzernden Rand bekommen. Der mit jedem Tag stärker auf meine Haut abfärbt. Sie sind übermalt mit den Blumenfarben aus dem Garten der Tante und vermischt mit dem Wasser des gräflichen Teiches, in dem wir baden.« (Haderlap 2012: 67)

Allerdings wird diese Idylle bereits in den frühen Jahren vom Tod überschattet. Da die Protagonistin noch nicht gut schwimmen kann, wird sie von der Küchengehilfin schwimmend auf den Rücken genommen. Dabei bekommt die Gehilfin jedoch einen epileptischen Anfall und ertrinkt. Auch die Protagonistin wird von ihr mit in die Tiefe gezogen, kann sich aber gerade noch retten. Dieses schreckliche Erlebnis hinterlässt bei ihr Alpträume und starke Schuldgefühle, ist doch sie diejenige, die am Leben geblieben ist und doch nicht helfen konnte, zumal sie als Kind über die Ursache nichts weiß. Erst nach zwanzig Jahren erfährt sie zufällig von ihrer Tante, dass das Mädchen aufgrund eines epileptischen Anfalls ertrank. Sie erzählt, dass sie nach dem Badeunfall immer wieder davon träumt, sich nicht aus dem dunklen Wasser retten zu können. Oft fühlt sie sich wie gestorben. Auch viele Jahre später »taucht« aus ihrem Unterbewusstsein immer wieder das Bild des toten Mädchens auf, besonders bei Angstzuständen, z.B. in der Situation, als sich ihr durch die Kriegsereignisse ebenfalls traumatisierter Vater wieder einmal erschießen will. So zieht sich auch die Wassermetaphorik durch das gesamte Werk.17 Gerade die mit dem Wasser und den Kriegsgeschichten verbundene psychische Belastung des Mädchens drückt sich auch in ihren Traumbildern aus. So träumt die Protagonistin nach dem Begräbnis ihres Vaters, dass der ganze Talgraben, dem sie in späteren Jahren entfliehen wollte, eingefroren sei. Dann wieder, dass das ganze Tal überflutet wird, das Wasser aber wieder abfließt, so dass das »Vinklhaus« unbeschädigt bleibt. Einer traumatischen Vergangenheit kann man nicht entfliehen, so

17 Vgl. »Ein Partisan muss sich wie ein Fisch im Wasser bewegen« (Haderlap 2012: 228); der Krieg ist »ein hinterhältiger Menschenfischer« (Haderlap 2012: 92).

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wird erzählt, auch wenn der Wunsch gleichzeitig unverzichtbar scheint, doch noch unbeschädigt davon kommen zu können. Der Wald Zu den zerstörten idyllisch-verborgenen Orten können wir schließlich auch den Wald zählen. Als junges Mädchen wächst die Protagonistin am Wald auf und ist mit der Natur eng verbunden. Der sich hinter dem Haus ausbreitende Wald ist ihr eine selbstverständliche, vertraute und auch sinnlich erschließbare Umwelt: »Früher glaubte ich, jeden Wegabschnitt, jede kleine Lichtung, den stellenweise niedrigen oder hohen Wuchs der Bäume riechen zu können, die Reihenfolge der Haselgewächse, der Himbeersträucher, der Weidenbüsche mit geschlossenen Augen ertasten zu können, spüren zu können, wann sich das Fichtendach über mir öffnete und schloss.« (Haderlap 2012: 75)

Durch die Auseinandersetzung mit den immer wieder erzählten Ereignissen des Krieges auf den umliegenden Bauernhöfen und in den nahen Wäldern wird ihr der heimische Wald jedoch immer fremder. In ihrer Phantasie entstehen traumatische Bilder, der Wald verwandelt sich in ein gewaltiges grünes Meer und droht, die ganze Gegend zu vernichten: »Kaum schaue ich aus dem Schlafzimmerfenster, drängt sich der Wald in mein Auge oder lauert mit seiner geriffelten und gezackten Oberfläche hinter der Wiese. Eines Tages wird er über seine Ufer treten, fürchte ich, und die Waldraine verlassen, er wird unsere Gedanken überfluten.« (Haderlap 2012: 75)

Im Kärnten Haderlaps in den Wald zu gehen, heißt also nicht einfach in den Wald zu gehen, zum Beispiel auf die Jagd, zur Holzarbeit oder zur Pilz- und Beerensuche. Die Art, wie die Menschen vor, während und nach dem Krieg in den Wald gegangen oder aus ihm herausgekommen sind, verrät etwas über sie und die geschichtlichen, kulturellen und sozialen Umstände, in denen sie sich befinden. Ob ein Mensch ein Gewehr und einen roten Stern auf der Mütze trägt oder ein offenes Hemd und zwei verschmierte, zerrissene Hosen, ob er nach Pech, nach Rinde oder nach Angstschweiß, Schmutz, Blut und Erde riecht, ob er nun Speck für die ›Grünen Kader‹ (eine Partisaneneinheit), einen Korb mit Pilzen oder Beeren oder gar Kurierpost in den Taschen trägt (vgl. Haderlap 2012: 85), wird nicht nur durch die Situationen bestimmt, sondern entscheidet auch, ob und wie, ja ob überhaupt der Mensch, der in den Wald geht oder aus ihm kommt, noch in der Lage ist, als Mensch und wie ein Mensch unter anderen Menschen als seinesgleichen zu leben. In den Wald gehen bedeutet in Kärnten aber auch zu flüchten oder auch aus dem

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Hinterhalt anzugreifen. Die großen Wälder der Karawanken werden zu heimlichen, doppeldeutigen und zwiespältigen Orten der Erinnerung; zu Orten der (verlorenen) idyllischen Kindheit und zu Orten der vertriebenen, toten, ermordeten, verletzten, geschlagenen und verbluteten Menschen: »In ihm [dem Wald, J.Č.S.] verborgen die Jagdplätze, die Futterplätze, die Beerenplätze, die Pilzplätze, die man nicht preisgibt. Noch heimlicher sind die heimlichsten Orte, zu denen kein Weg und kein Steg führen, die über Jagdpfade und Bachbette aufgespürt werden müssen, die Versteck- und Überlebensplätze, die Bunker, in denen sich unsere Leute, wie man sagt, versteckt hielten.« (Haderlap 2012: 76)

Partisanen und vertriebene Zivilisten suchen so im Wald Zuflucht, aber eben auch einen Ausgangspunkt für ihre eigenen Aktionen und passen sich ihm entsprechend an. Indem sie die Farben und Formen des Landstrichs übernehmen, werden sie selbst in ihm unsichtbar sein; und zugleich verliert der Wald damit seine Natürlichkeit. Gerade die innige Verbindung der Kärntner Partisanen mit dem Wald führt im Roman dazu, dass dieser seine natürliche Geborgenheit verliert und in den Augen der Protagonistin nicht nur zu einem traumatisierenden, sondern selbst auch traumatisierten Erinnerungsort wird – und zwar damit auch in Umkehr seiner eigenen, ursprünglichen, natürlichen Bestimmung: »Der Krieg hat sich in unseren Gräben in den Wald zurückgezogen, er hat die Wiesen und Äcker, Hügel und Hänge, die Berglehnen und Bachbette zu seinem Kampfplatz gemacht, er hat die Häuser, die Ställe, die Küchen, die Keller ihrer Bestimmung entrissen und sie in Bastionen verwandelt. Er hat die Landschaft umklammert, sich in ihr festgebissen, er hat die geologische Karte als Kriegskarte gelesen.« (Haderlap 2012: 238)

Z UM S CHLUSS Im letzten Teil des Romans beschäftigt sich die Protagonistin intensiv mit der kärntnerslowenischen Geschichte. Sie kann das Verdrängte und das Belastende nicht von sich wegschieben und lernt gerade im selbstvergessenen Kärnten nicht vergessen zu können. Sie liest das Lagerbuch ihrer Großmutter und die Erinnerungstexte anderer Kriegsbetroffener. Schließlich besucht sie das KZ Ravensbrück und sucht im Archiv nach Daten ihrer Großmutter und anderer Häftlinge. Sie nimmt sogar verschiedene dokumentarische Daten in den Roman auf, so z.B. die Einlieferungsliste der Großmutter und anderer Frauen in das KZ. Diese dokumentarischen Elemente verursachen einen auffallenden Stilbruch im Roman. Gerade in ihrer Widerständigkeit stehen sie aber paradigmatisch für die Kriegsereignisse und Kriegs-

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erlebnisse selbst, die sich ebenso wenig in die kulturelle und individuelle kognitive Ordnung bzw. die sinnhafte Orientierung an einer eigenen Biographie einpassen lassen. Gerade dadurch aber leistet Maja Haderlap mit ihrem Roman ENGEL DES VERGESSENS einen wichtigen Beitrag zum kollektiven Gedächtnis und zur Aufarbeitung der Kärntner Geschichte. Sie zeigt, dass die Kriegserlebnisse in Kärnten viele Jahre nach dem Krieg noch immer sehr schmerzhaft, alles andere als verarbeitet oder »bewältigt« sind. Von den Betroffenen werden sie weitererzählt, in einzelnen Erinnerungstexten auch niedergeschrieben und an die Nachkriegsgenerationen weitergegeben. Eng verbunden mit diesen Texten sind geografische Gebiete, insbesondere die Wälder und der abseits gelegene ländliche Raum. Einer rein ästhetischen Betrachtung bzw. Literarisierung dieser Gebiete arbeitet der Roman entgegen. Vielmehr zeigt er, dass die unterdrückte, lang verschwiegene Vergangenheit der Kärntner Slowenen auch bei der Nachkriegsgeneration (zu deren Vertretern die Protagonistin bzw. Autorin ja zählt), noch immer präsent ist und noch immer auch bearbeitet werden muss. Der »Engel des Vergessens«, ähnlich wie Walter Benjamins »Engel der Geschichte« kann den Blick zurück nicht abwenden, sondern schaut – eben gebannt – zurück auf den sich vor ihm auftürmenden Trümmerhaufen der Geschichte; die schrecklichen Kriegsgeschehnisse lassen sich ebenso wenig tilgen wie der von der staatlichen Politik lange verschwiegene Widerstand der Kärntner Partisanen. Im Kontext der kärntnerslowenischen Literatur, die sich besonders mit der geschichtlich-kulturellen Lage der slowenischen Volksgruppe in Österreich beschäftigt, ist Haderlaps Roman ENGEL DES VERGESSENS als ein Beispiel der Vergangenheitsbewältigung zu verstehen, gleichzeitig bietet er auch eine realistische Perspektive des zukünftigen Lebens der Kärntner Slowenen in Europa an. Noch immer erscheinen viele Dorfbewohner in den Kärntner Talgräben traumatisiert und dadurch stark gefährdet. Für die Betroffenen und ihre Nachfolger sind die dortigen Höfe, Hänge, Wege, Wälder, Teiche oder Bachbette noch immer Erinnerungsorte an die Geschehnisse und die Gewalt des Zweiten Weltkrieges und damit keineswegs die anziehenden, idyllischen Erholungsplätze, wie sie von den Augen der zufälligen und unbelasteten Besucher zunächst gesehen werden. In Zukunft werden vermutlich viele Kärntner Slowenen von dort aufgrund mangelnder Zukunftsaussichten abwandern. Dabei ist auch mit einem stärkeren Verschwinden der slowenischen Sprache zu rechnen. Anderseits ist aber zu beobachten, dass sich diese Dörfer auch dem Tourismus geöffnet haben und so auch die kriegsbelasteten Orte vermarktet werden können. Besonders ist das an Haderlaps Geburtshaus zu beobachten.18 Der »Vinklhof« hielt sich durch viele Generationen im Familienbesitz. Heute lebt und arbeitet dort Zdravko Haderlap, der Bruder der Schriftstellerin. Als Land- und Forstwirt etablierte er sich in den vergangenen Jahren auch als Kultur-

18 Siehe den diesbezüglichen Internetauftritt: www.haderlap.at./vinklhof.php (16.10.2013).

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vermittler. Im Sommer finden auf dem »Vinklhof« verschiedene Workshops statt, z.B. Schreibwerkstätten für Kinder und Jugendliche. Der Besitzer bietet auch Literaturwanderungen nach Haderlaps ENGEL DES VERGESSENS an. Aber auch seinen Aussagen nach gibt es im Lepenagraben keinen einzigen Hof, der nicht zumindest ein Opfer der Vertreibung oder Ermordung durch die Nationalsozialisten zu beklagen gehabt hätte (vgl. Guttner 2012).19 Haderlaps Roman, in dem eines der dunkelsten Kapitel der Kärntner Geschichte dargestellt wird, lässt sich als ein bedeutender Teil des umfassenden Aufarbeitungsprojekts der Geschichte der slowenischen Volksgruppe in Österreich verstehen. Negativ gewendet, könnte man sagen, dass der Bruder der Autorin für eine touristische Vermarktung des Leidens an der Vergangenheit sorgt. Positiv gewendet ließe sich aber auch sagen, dass seine Literaturwanderungen zu den beschriebenen Schauplätzen des Romans ENGEL DES VERGESSENS im Rahmen umfangreicher Theater- und anderer künstlerischer Projekte in Kärnten einen wichtigen Beitrag zum touristisch-kulturellen Angebot dieser Region leistet und die Landschaft vor dem Vergessen bewahrt; sie eben auch zu einem Erinnerungsort macht. Dabei stellte sein Projekt »Engel der Erinnerung – Angel spomina«, in dem einzelne Bruchstücke der Welt aus dem Roman ENGEL DES VERGESSENS an konkreten Orten von verschiedenen Tänzern, Sängern, Musikern und Schauspielern inszeniert werden, einen wichtigen Teil des Kulturprogramms »Transformale 2013 – Kunst Kultur Küche Kärnten« dar.

L ITERATUR Ackerl, Isabella/Kleindel, Walter (1994): Die Chronik Österreichs, Wien: Chronik Verlag im Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH. Delbrück, Hansgerd (1990): »Idylle«, in: Günter Schweikle/Irmgard Schweikle (Hg), Metzler-Literatur-Lexikon. Begriffe und Definitionen, Stuttgart: Metzler, S. 217-218. Diekkämper, Birgit (1990): Formtraditionen und Motive der Idylle in der deutschen Literatur des neuzehnten Jahrhunderts. Bemerkungen zu Erzähltexten von Joseph Freiherr von Eichendorff, Heinrich Heine, Friedrich de la Motte Fouqué, Ludwig Tieck und Adalbert Stifter, Frankfurt a.M.: Peter Lang. Foucault, Michel (2013): Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

19 Ganz in der Nähe, am Peršmanhof, wurde z.B. am 25. April 1945 von NS-Einheiten ein Massaker an Zivilisten verübt. Man findet dort auch die Gedenkstätte Peršmanhof und eine Dauerausstellung (vgl. Weyrer 2013).

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Fuchs-Jolie, Stephan (2007): »Locus amoenus«, in: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff (Hg.), Metzler Lexikon Literatur, Stuttgart/ Weimar: Metzler, S. 459. Guttner, David: »Bad Eisenkappel ist nicht lieblich«, in: www.derstandard.at/ 1343744777772/Bad-Eisenkappel-ist-nicht-lieblich (16.10.2013). Haderlap, Anton (2008): Graparji. So haben wir gelebt. Erinnerungen eines Kärntner Slowenen an Frieden und Krieg, Klagenfurt: Drava. Haderlap Valentin-Zdravko (1990): »Die Buben werden nicht durchkommen«, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Spurensuche. Erzählte Geschichte der Kärntner Slowenen, Wien: Bundesverlag, S. 291-295. Haderlap, Maja (1983): Bajalice, Celovec/Klagenfurt: Drava. Dies. (1987): Žalik pesmi, Celovec/Klagenfurt: Drava. Dies. (1998): Gedichte, Pesmi, Poems, Celovec/Klagenfurt: Drava. Dies. (2012): Engel des Vergessens, Göttingen: Wallstein. Handke, Peter (2010): Immer noch Sturm, Berlin: Suhrkamp. Hesiod (2004): Werke und Tage, Stuttgart: Reclam. Hofer, Clemens (2012): Konstruktion und Darstellung der Erinnerung in Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens. Magisterarbeit, Graz. Kuhar, Helena (1984): Jelka. Aus dem Leben einer Kärntner Partisanin, Basel: A.P.I. Kühnel, Jürgen/Holmes, Susanne (2007): »Idylle«, in: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur, Stuttgart/ Weimar: Metzler, S. 340-341. Marszałek, Magdalena/Sasse, Sylvia (2010): »Geopoetiken«, in: Dies. (Hg), Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen, Berlin: Kadmos, S. 7-18. Mayer, Norbert (2012): »Haderlap: ›Deutsch hält mich auf Distanz zum Schmerz‹«, in: www.diepresse.com/home/kultur/literatur/743059/Haderlap_Deutsch-haeltmich-auf-Distanz-zum-Schmerz (27.01.2014). Nećak, Dušan/Repe, Božo (2006): Slowenien, Klagenfurt: Wieser. Schneider, Helmut J. (1988): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert, Tübingen: Gunter Narr. Tismar, Jeans (1973): Gestörte Idyllen. Eine Studie zur Problematik der idyllischen Wunschvorstellungen am Beispiel von Jean Paul, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard, München: Carl Hanser. Weyrer, Sabine (2013): »Wanderung auf den Spuren von Maja Haderlap«, in: http://www.kleinezeitung.at/kaernten/voelkermarkt/3345331/den-spuren-majahaderlap.story (16.10.2013).

Dörfliche Lebenswelten III: Perspektiven internationaler Literaturen und Filme

»Im Hinterland« Das Dorf im Roman des neuen amerikanischen Realismus S ASCHA S EILER Wo jeder Tag aus Warten besteht Und die Zeit scheinbar nie vergeht Willkommen im Hinterland Verdammtes Hinterland CASPER/HINTERLAND

E INFÜHRUNG Zu behaupten, das Ländliche habe nicht schon immer eine große Rolle für amerikanische Schriftsteller gespielt, wäre eine äußerst gewagte These, die wenig mit der literarischen Realität zu tun hätte. Die Beschreibungen des Lebens der Siedler in den Erzählungen Washington Irvings wie RIP VAN WINKLE oder YOUNG GOODMAN BROWN oder Nathaniel Hawthornes in seinem Roman THE SCARLETT LETTER, die Beschwörung der Einsamkeit in dem wohl größten Klassiker des ›Nature Writings‹, Henry David Thoreaus WALDEN, die Südstaatenwelt in Mark Twains HUCKLEBERRY FINN, und natürlich vor allem die Dörfer des Yoknapatawpha County, in dem viele Romane des wohl größten Südstaatenschriftstellers, William Faulkner, spielen, gehören zu den wichtigsten Werken der amerikanischen Literaturgeschichte. So gesehen scheint also eher das Gegenteil der Fall zu sein: Da die amerikanische Literatur vor allem im 19. Jahrhundert eine Literatur der Frontier war, in der räumlich wie allegorisch das Überschreiten der Grenze hin zum Unbekannten, der Wildnis, im Mittelpunkt stand (vgl. Fiedler 1968: 471-472), erscheint die Konzentration auf das Dorf und das Ländliche sogar zwangsläufig gewesen zu sein. Dass mit dem Beginn der Moderne der Großstadtroman naturgemäß auch in der amerikanischen Literatur seinen Siegeszug begann, wie die Beispiele von John Dos Passos’ MANHATTAN TRANSFER, Nathaniel Wests DAY OF THE LOCUST oder auch

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das Werk F. Scott Fitzgeralds zeigen, kann indes nicht verschleiern, dass der aus heutiger Sicht bedeutendste Schriftsteller der amerikanischen Moderne ebenjener William Faulkner war, dessen literarische Heimat aus einem fiktiven, ländlichen Südstaatengebiet bestand, das er nicht nur als konkreten Ort des Geschehens sondern gar als symbolischen Mittelpunkt Amerikas angelegt hat (vgl. Kerr 1985; Aiken 2009). Und doch kann beobachtet werden, dass das Dorf, bis auf wenige Ausnahmen, seit den 50er Jahren zunehmend aus dem Fokus zumindest der international breit rezipierten amerikanischen Schriftsteller verschwindet – was nicht zuletzt an der starken thematischen Fokussierung jener Autoren auf die Ostküste und hier vor allem auf New York liegt, die meist biographisch bedingt ist. Wenn man sich die Werke der als international bedeutend geltenden, zeitgenössischen amerikanischen Autoren einmal vor Augen führt, so lässt sich leicht feststellen, dass die Literatur der USA in großen Teilen zu einer Literatur der Großstadt geworden ist. Zu einer Literatur also, die nicht nur in Ostküstenmetropolen wie vor allem New York oder Boston spielt, sondern diese Städte gleichsam auch oft implizit oder explizit zum zentralen, meist stillen Akteur macht. Man muss sich nur das Ouevre von Don DeLillo, Paul Auster, John Updike, Philip Roth bis hin zu jüngeren Autoren wie Jonathan Franzen, Jonathan Safran Foer oder Jonathan Lethem anschauen: Ihre Bücher spielen allesamt in jenen Metropolen, wahlweise auch gerne in einem heimeligen Ostküstencampusstädtchen, in dem jedoch stets die Verbindung zu diesen beiden Metropolen hervorgehoben wird. Selbst das New Hampshire John Irvings hat weniger mit dem Ländlichen zu tun als die Romane vorgeben; die liberal geprägte Ideologie der Großstadt ist immer präsent und so scheint es fast, berücksichtigt man zudem noch die nicht ganz so breit rezipierte Westküstenliteratur – Bret Easton Ellis wäre hier als populärerster Chronist Los Angeles’ zu nennen –, als ob der politische und soziale Graben, der die USA seit Jahren zunehmend spaltet, sich auch in den Darstellungsformen ihrer Literatur beobachten lässt. Unter den erfolgreichen, auch in der Literaturwissenschaft breit rezipierten Autoren gibt es selbstredend auch Ausnahmen, die prominenteste unter ihnen sicherlich der Texaner Cormac McCarthy, der als Verkörperung des modernen Südstaatenromanciers und somit als legitimer Nachfolger Faulkners gilt, dessen Romane jedoch in großen Teilen historisch (oder im Falle seines Romans THE ROAD dystopisch) angelegt sind und nur selten, eine Ausnahme bildet NO COUNTRY FOR OLD MAN, in der Gegenwart spielen. (Vgl. Domsch 2012) Allerdings ist es keineswegs der Fall, dass gerade das zeitgenössische ländliche Amerika keinerlei Repräsentation erfährt; vielmehr ist in den letzten Jahren eine neue Erzählästhetik zu beobachten, die auf den ersten Blick nur schwer als Strömung zu fassen sein mag, während die in diesem Sinne schreibenden Autoren allerdings durchaus beachtliche Gemeinsamkeiten aufweisen, auch wenn sie geographisch unterschiedlichen Regionen zuzuordnen sind.

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Welches Amerika ist es aber nun, das in den Texten einer Literatur beschrieben wird, die man unter dem etwas allgemeinen Titel ›Neuer amerikanischer Realismus‹ subsumieren könnte – teils spricht man politisch inkorrekt vom »White-TrashNoir« (Verna 2013) – und zu der Autoren wie Willy Vlautin, Donald Ray Pollock, Daniel Woodrell oder Pete Dexter gezählt werden können? Sasha Verna greift in einer Rezension von Pete Dexters THE PAPERBOY dieses neue Genre auf und wagt den Versuch einer Beschreibung: »Man kann bei den Figuren beginnen. Bei ihnen handelt es sich um Weiße der amerikanischen Unterschicht. Ihre Geschichten sind nicht in den großen Städten, sondern im Hinterland angesiedelt, in gottverlassenen Gegenden mit Namen wie Pitkin County oder Crook. Das moralische Terrain, auf dem sie sich bewegen, weist sämtliche Schattierungen von grau bis grauenhaft auf. Und die Atmosphäre, die sie umgibt, ist schwarz. Rabenschwarz. […] ›White Trash Noir‹ wäre deshalb eine passende Bezeichnung für diese Gattung. ›Noir‹, weil Romane dieser Art zwar keine Krimis oder Thriller im klassischen Sinn darstellen, aber Verbrechen und Spannung so natürlich dazugehören wie Punkte und Kommas.« (Ebd.)

Anhand einer 2013 publizierten Fotoserie des amerikanischen Fotojournalisten Anthony Karen über die Aktualität des Ku Klux Klan kann man eine ersten, optischen Eindruck gewinnen, welche Gesellschaftsgruppen in den Romanen der oben genannten Autoren abgebildet werden sollen.1 Auf einer der Fotografien wird eine Szene abgebildet, die recht treffend und ohne Worte jene Vorstellung eines ländlichen Amerikas visualisiert, das in den Texten Vlautins, Pollocks, Woodrells und Dexters detailliert beschrieben wird: Eine Szene aus einem ruralen Amerika samt Pick-Up Truck, einem ungesund aussehenden jungen Mann in Holzfällerhemd und blaugeschlagenem Auge, der eine Bierdose in der Hand hält; dazu seine bereits stark zum Übergewicht tendierende, traurig dreinschauende junge Freundin, gekleidet in Military-Kleidung. In den USA bezeichnet man diese arme Landbevölkerung, die oft in Trailerparks lebt und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, politisch unkorrekt gerne als ›White Trash‹. Der Thematisierung ihrer Lebensumstände kommt offensichtlich in dem gleichen Maße ein immer größeres Gewicht in der amerikanischen Literatur zu, indem auch die Anzahl weißer Amerikaner, die weit unterhalb der Armutsgrenze leben, stetig steigt. So schreibt Verna weiter: »Die Menschen, mit denen die Vertreter dieses spezifisch amerikanischen Genres ihre Werke bevölkern, werden im wirklichen Leben ›Hillbilies‹ oder ›Rednecks‹ genannt. Oder ›white trash‹, weißes Pack.« (Ebd.)

1

Zu finden ist diese Fotoserie unter www.anthonykaren.com (14.03.2014).

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Das Besondere daran ist allerdings auch, dass die Autoren, welche diese Lebensumstände, von denen immer mehr Menschen betroffen sind, beschreiben, nicht an Elite-Universitäten der Ostküste studiert, daraufhin ihr soziales Bewusstsein entdeckt haben und sich nun der ihr zuvor unbekannten, dunklen Seite des amerikanischen Traums widmen wollen. Vielmehr stammen fast alle der erwähnten Schriftsteller selbst aus den Verhältnissen, die sie in ihren Werken beschreiben. Donald Ray Pollock etwa hat das Schreiben erst jüngst, im Alter von über fünfzig Jahren begonnen, nachdem er zuvor dreißig Jahre lang in einer Papierfabrik gearbeitet hatte. Pollock stammt ebenso aus dem von ihm als Ort der Handlung seiner beiden Romane auserkorenen, in der Realität mittlerweile zur Geisterstadt gewordenen Dorf Knockemstiff in Ohio wie Daniel Woodrell aus einer der ärmsten Regionen Amerikas, dem Ozark-Gebirge in Missouri, kommt, wo er auch heute noch lebt und wo auch alle seine Geschichten angesiedelt sind. Pete Dexter wiederum arbeitete jahrelang als Journalist und kennt daher die Sumpfansiedlungen Nordfloridas, die er in THE PAPERBOY so trefflich beschreibt, aus eigenen Recherchen. Und wenn Willy Vlautin im mit »P.S.« bezeichneten Appendix zu seinem Roman NORTHLINE so detailgenau von den heruntergekommenen Motels und Pferderennbahnen in den Dörfern und Kleinstädten Oregons und Washington States schreibt, so vor allem deswegen, weil er diese selbst aus jahrelanger Anschauung kennt: »I really do like horse tracks and spend a lot of my spare time going to them. I also like driving around in the desert. I could do that forever and hopefully some day I will. Horse tracks, bars, the desert, reading, watching movies, seeing bands. That’s about enough for me.« (Vlautin 2008: 12 (P.S.))

Der enge biographische Bezug ist es letztlich, der diese Art des realistischen, schonungslosen Erzählens erst so interessant macht, denn der Eintritt in die Welt der weißen amerikanischen Unterschicht ist für den Leser, ähnlich wie für den Fotografen Karen, gleichsam auch der Eintritt in eine Parallelgesellschaft, die nach ihren eigenen Regeln und Gesetzen jenseits dessen lebt, was man gemeinhin als Zivilisation bezeichnet. Eine Welt, die, so die Texte der genannten Autoren, durch jahrelangen Inzest, Gewalt und Drogen fast den Status eines zeitgenössischen Babylons erhält, mit dessen Bewohnern jene Autoren jedoch unterschiedlich umgehen. Sucht Willy Vlautin, dessen Stil vor allem an den Erzählungen Raymond Carvers geschult ist, bei seinen Figuren stets nach Mitgefühl und einem Rest von Emotion, vegetieren Pollocks Protagonisten in einem für den Leser äußerst schockierenden Zustand jenseits jeglicher Moral vor sich hin. Dem gegenüber stellt Daniel Woodrell in WINTER’S BONE eine empathische Heldin in den Mittelpunkt einer heruntergekommenen Welt, welcher diese mit einer unerschütterlichen Würde begegnet, während er im Nachfolgeroman THE DEATH OF SWEET MISTER genau

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diese Hoffnung auf ein würdevolles Dasein in einem schockierende Finale im Keim erstickt.

W ILLY V LAUTIN Vlautin ist eigentlich Sänger und Songwriter der amerikanischen Alternative Country-Band Richmond Fontaine, die bereits sieben Alben veröffentlicht hat, aber bislang nur wenigen Eingeweihten ein Begriff ist. Einem größeren Publikum bekannt wurde Vlautin erst, als er anfing, seine Gedichte über Hinterwäldler, Wanderarbeiter oder Trailer-Park-Bewohner, zunächst nebenbei, in Romanform niederzuschreiben. Seine bisher erschienenen Romane THE MOTEL LIFE, NORTHLINE und LEAN ON PETE – die allesamt Motive seiner mit Richmond Fontaine aufgenommenen Songs weiterverarbeiten – waren in den USA recht erfolgreich und wurden auch allesamt ins Deutsche übersetzt. Die Plots indes ähneln sich, da Vlautin stets mit den gleichen Motiven spielt. In THE MOTEL LIFE flüchten zwei Brüder nach einem unfreiwilligen Verbrechen aus ihrem Heimatsort und ziehen im amerikanischen Nordosten von Motel zu Motel. In NORTHLINE flüchtet eine Frau vor ihrer Vergangenheit und beginnt eine Odyssee durch das amerikanische Hinterland. Und der kindliche Protagonist von LEAN ON PETE begibt sich, nur eben aus den Augen eines Kinds geschildert, auf eine ähnliche Reise. All diese Figuren lernen auf ihrem unfreiwilligen Trip durch das amerikanische Hinterland allerlei skurrile, gefährliche Charaktere kennen. Vlautin gelingt es stets, Orte und deren Bewohner verschmelzen zu lassen und die Sesshaftigkeit der Bewohner des Hinterlandes in Kontrast zu den sich stets – unfreiwillig – in Bewegung befindlichen, rastlosen Protagonisten zu setzen. Wie ein Episodenroman ist auch das 2007 erschienene Richmond-FontaineAlbum THIRTEEN CITIES angelegt, in dem Vlautin dreizehn Geschichten von ebenso vielen Orten erzählt. Die Coverabbildung zeigt die verlassene, nur von einem Hund bevölkerte Straße einer Geisterstadt und deutet somit bereits an, dass man es in den Songs nicht mit amerikanischen Großstadtmotiven zu tun bekommt. Eine dem Album beigelegte Landkarte illustriert zudem, in welchen Orten die Geschichten spielen. Im Song $87 AND A GUILTY CONSCIENCE THAT GETS WORSE THE LONGER I GO heißt es: »We were in Albuquerque at the fights. The referee wouldn’t stop the bout. The kid’s blood hit the fifth row. How he didn’t die that night, well I don’t know. That was the night I gave up the fight. Driving down 25 towards Las Cruces, we saw a flipped-over semi. We pushed in the windshield and pulled the guy out. Left him on the side of the road, when my friend said we had to leave before the cops showed. What he’d done I didn’t know. Just hoped the guy

364 | S ASCHA S EILER was still breathing as we disappeared down the road. I felt so bad. Twenty miles out of Yuma, we picked up a girl. Saddest eyes and rotten teeth, said she was only sixteen. He got a room, with one bed he got a room. ›What the fuck do you think you’re doing?‹ ›What’s it matter to you?‹ he said. Then he let the girl in. I started walking down the road, called the police from a payphone. $87 and bad nerves, $87 dollars and a bag of bones. $87 and a guilty conscience that gets worse the longer I go.« (Richmond Fontaine 2007)

Der Text steht in der Tradition klassischer amerikanischer short stories, in denen mehr angedeutet als erzählt wird. (Vgl. Seiler 2009: 455) Wie die meisten Charaktere Vlautins ist das lyrische Ich ein wohl nur leidlich gebildeter, unter der Armutsgrenze lebender Tagedieb, der sich mit allen möglichen Geschäften über Wasser hält, der aber vor allem nicht in der Lage ist, das Geschehen, das sich um ihn herum entwickelt, tiefergehend zu reflektieren. Offensichtlich fährt er mit einem anderen Protagonisten über die Dörfer und hält sich mit nicht näher erörterten Geschäften über Wasser. Am Anfang sehen wir ihn in Albuquerque, wahrscheinlich bei illegalen Boxkämpfen, wobei Vlautin den Leser im Zweifel darüber lässt, ob der Protagonist nur auf die Kämpfe wettet oder sie selbst bestreitet. Doch scheint er den Gedanken nicht zu ertragen, dass ein Kämpfer an seinen Verletzungen fast gestorben wäre, was sein Gewissen bereits belastet. Als nächstes werden die beiden Zeuge eines Unfalls: Zwar befreien sie das Opfer aus dem Autowrack, doch der Begleiter des Erzählers besteht darauf, nicht die Polizei zu rufen, weil diese wohl aus ebenso unbekannt bleibenden Gründen nach ihm sucht. Dann lesen die beiden ein minderjähriges, verlottertes Mädchen auf und der Kompagnon schleppt dieses in ein Hotel. Der Protagonist geht und ruft die Polizei. Sein schlechtes Gewissen begleitet ihn daraufhin, aber wir werden nie erfahren, ob es wegen seines Lebensstils oder wegen des Verrats an dem Kompagnon ist. Wahrscheinlich weiß er es selbst nicht. Interessant ist dieser Text, weil er auf wenig Raum schon zahlreiche Motive entwickelt, die auch im Werk der anderen genannten Autoren immer wieder auftauchen: Das ziellose Herumfahren, die kleinen illegalen Geschäfte, der sexuelle Missbrauch, und – dieses Motiv taucht vor allem bei Pollock immer wieder auf – die herumstreunenden Mädchen, die immer wieder vergewaltigt werden, da sie sich, wie auch ihre Vergewaltiger, in einem Dauerrausch auf billigsten Drogen befinden. Vor allem aber haben wir es mit einem Ich-Erzähler zu tun, der nüchtern und unreflektiert darüber berichtet, was er gesehen und erlebt hat, der sich darüber bewusst ist, dass etwas vielleicht nicht richtig ist, der aber nicht in der Lage ist, darüber zu reflektieren. Selbst wenn Figuren moralisch handeln, wie Vlautins Held, wissen sie oft gar nicht warum.

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D ONALD R AY P OLLOCK Donald Ray Pollocks Prosa wiederum verzichtet auf die moralischen Implikationen, die sich bei Vlautin immer wieder finden lassen. Der Autor beschreibt seine Figuren als gefangen in einer geschlossenen Welt voller Armut, Verbrechen, Alkohol, Drogen, Sex, Gewalt und inzestuösen Beziehungen. In seinen beiden Werken, dem short story-Roman KNOCKEMSTIFF und dem Roman THE DEVIL ALL THE TIME beschreibt er das kleine Kaff Knockemstiff in Ohio, das sich fernab der urbanen Zivilisation befindet. Es ist ein Dorf voller moralisch degenerierter Gestalten, eine geschlossene Gesellschaft voller Gewalt, die in einem permanenten Rauschzustand vor sich hinlebt. Auffällig an der Storysammlung KNOCKEMSTIFF ist vor allem, dass Pollock auf jegliche Zeitangaben verzichtet. Die Geschichten spielen irgendwann zwischen den 50er Jahren und heute, sie sind durch ihre wieder auftauchenden Charaktere alle miteinander verwoben, doch wird niemals spezifiziert, ob wir uns nun im Jahr 1955 oder 2005 befinden. Die Tatsache, dass es dem Leser bis auf wenige Ausnahmen auch unmöglich ist, dies herauszufinden, unterstreicht die Zeitlosigkeit, die am Ort der Handlung herrscht. Gewalt, Armut, sexuelle Ausbeutung und Sucht werden vererbt und bleiben somit als Konstanten der hier beschriebenen sinnentleerten Lebensentwürfe bestehen. Der Protagonist der Erzählung I START OVER stellt etwa sich selbst wie folgt vor: »I’m fifty-six years old and sloppy fat and stuck in southern Ohio like the smile on a dead clown’s ass. My wife shudders every time I mention the sex act. My grown son eats the dead stuff that collects on windowsills.« (Pollock 2009: 161)

Um dies zu unterstreichen verwebt Pollock kunstvoll die erste mit der letzten Geschichte: In REAL LIFE muss ein kleiner Junge beobachten, wie sein stets gewalttätiger, betrunkener Vater bei einem Autokinobesuch einen anderen Gast wegen einer Nichtigkeit fast totschlägt und selbst stolz auf seinen bislang eher schüchternen Sohn ist, der dem Sohn des Opfers wiederum auch einen Hieb versetzt: »›Agnes, you should have seen him‹, my old man said, pounding the steering wheel with his bloody hand. ›He busted that goddam brat a good one.‹ He grabbed his bottle from under the seat, uncapped it, and took a long slug. ›This is the best night of my fucking life!‹ he yelled out the window.« (Ebd.: 10)

In der letzten Geschichte begegnen wir eben diesem Jungen wieder, mittlerweile über dreißig, abstinenter Alkoholiker und Gelegenheitsarbeiter, der, selten bei Pollock, tatsächlich versucht sein Leben einigermaßen in den Griff zu bekommen,

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wie er seinen todkranken Vater besucht, der immer noch besessen von Gewalt ist, die er aber körperlich nicht mehr ausüben kann, und daher den ganzen Tag mit seinem anderen, ebenfalls alkoholkranken, rassistischen und arbeitslosen Sohn aufgezeichnete Boxkämpfe im Fernsehen anschaut: »My younger brother’s rusty pickup was sitting in the driveway, the back glass covered with NASCAR stickers and a Confederate flag. A weathered squirrel’s tail hung from the radio antenna. As I walked up to the front porch, I could see my old man through the big picture window in the living room. The twin stems of an oxygen tube were stuck up his nose […] He’d had at least three heart attacks since then, each worse than the one before. He was watching the fights with my brother […] After he got sick, the only thing my old man enjoyed in life was watching men beat the shit out of each other. The worse somebody got hurt, the better he liked it.« (Ebd.: 196)

Diese kurze Episode greift auf eindringliche Weise mehrere Leitmotive des neuen amerikanischen Realismus auf, namentlich den rostigen Pickup-Truck (mitsamt vergammeltem Eichhörnchen-Schwanz an der Antenne) und die Südstaaten-Flagge (obwohl man sich im nördlichen Ohio befindet) als schon fast zum Klischee gereifte Symbole des rassistischen Redneck. Der alte kranke Mann, der an der Sauerstoffflasche hängt, das alltägliche Eindringen von Gewalt, die, wenn sie schon nicht mehr ausgeübt werden kann wie noch im Real Life, so wenigstens konsumiert wird. In anderen Geschichten beschreibt Pollock, wie Menschen für einen Krümel billige Drogen ihre gesamte Würde verlieren, wie der nichtigste Grund zu extremen Gewaltausbrüchen führt und wie dies als Selbstverständlichkeit angesehen wird. So wundert sich ein bei einem Einbruch verletzter Dieb sehr darüber, dass sein Kompagnon ihn nicht an Ort und Stelle erschlagen, und ihn tatsächlich vor einem Krankenhaus aus dem Auto geworfen hat. Eine gänzlich unansehnliche, verwahrloste, extrem übergewichtige Frau wiederum geht nachts auf Beutezug, indem sie mit Hilfe ihrer etwas attraktiveren Tochter zur Sperrstunde heruntergekommene Männer in Bars aufsammelt, diese, während sie an der Tochter herumfummeln, betäubt, und die Männer dann im betäubten Zustand, so wird angedeutet, sexuell missbraucht. Pollock selbst ist in Knockemstiff aufgewachsen, schreibt jedoch im Nachwort zu KNOCKEMSTIFF, dass alle Charaktere frei erfunden seien, und er in der mittlerweile zur Geisterstadt gewordenen Ortschaft nur anständige und hilfsbereite Menschen kennengelernt habe, was angesichts seiner Erzählungen allerdings nur als blanke Ironie aufgefasst werden kann: »First, I’d like to say that, though the stories in this book were inspired by a real place, Knockemstiff, Ohio, all of the characters are fictional. I grew up in the holler, and my family and our neighbors were good people who never hesitated to help someone in a time of need.« (Ebd.: 205)

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Schaut man sich Bilder des Ortes einmal an,2 so ist es jedoch naheliegend, dass das Dorf mit dem martialischen Namen als Archetyp der abgelegenen, verarmten amerikanischen Ansiedlungen angesehen werden kann, als Metapher für ein dunkles, unsichtbares Amerika, in dem die Zeit still zu stehen scheint, wo noch martialische Gesetze herrschen und die komplexen Familienbande über Recht und Unrecht entscheiden. Dieses immer gleiche Bild taucht in den Texten des neuen amerikanischen Realismus auch immer wieder auf, so auch in Daniel Woodrells WINTER’S BONE, in dem wie ein Leitmotiv der von der Protagonistin Ree immer wieder ausgesprochene Satz »Don’t kin ought to [help]?« (Woodrell 2006: 8) durch die Ozarks hallt.

P ETE D EXTER In Pete Dexters 1995 erschienenem Roman THE PAPERBOY geht es um eine von verurteilten Mördern besessene Frau, die an zwei investigative Journalisten mit der Neuigkeit herantritt, sie habe Informationen zur Unschuld ihres derzeit favorisierten Serienmörder-Brieffreundes, mit dem sie sich, ebenfalls postalisch, bereits verlobt habe. Dieser, eine durchweg finstere, angsteinflößende Gestalt, habe angeblich einen Polizisten brutal ermordet, ist aber, wie die Besuche der Journalisten zeigen, wenig am Beweis seiner Unschuld interessiert, sondern sieht es in seinem Selbstverständnis über Recht und Ordnung eher als Gefallen an, dass die Journalisten sich überhaupt mit ihm befassen dürfen. Die zwar ebenfalls aus den Sümpfen Nordfloridas, aber aus besserem Hause stammenden Journalisten, die nun nach einem Beweis für die Unschuld des Mörders fahnden, arbeiten sich an der weit durch die Sümpfe Nordfloridas spannenden, hochkomplexen Familienbande des Täters regelrecht ab. So fragen sie sich bei einem Treffen mit dem Onkel des Täters zurecht, ob die Frau seines Sohnes nun beiden, Vater und Sohn, »gehöre«, und müssen vermuten, dass wohl auch keiner wisse, von wem denn nun das ebenfalls in dem Haus mitten im Sumpf lebende Baby stammt. Gerade diese erste Begegnung mit jener Sumpfansiedlung, in der weit verstreut die Mitglieder der Großfamilie wohnen, ist äußerst eindringlich beschrieben: »Half an hour had passed when the door opened and the old man came out carrying a half gallon carton of Winn Dixie ice cream. The one named Eugene stepped out a moment later, carrying a spoon in his shirt pocket, and, after they had each settled in a spot on the ground with their backs resting against the blocks supporting the house, the old man slowly opened the top of the ice cream, looking up at Eugene after he had pulled back all four covers to re-

2

Siehe www.forgottenoh.com/GhostTowns/knockemstiff.html (14.03.2014).

368 | S ASCHA S EILER veal what was underneath. It was a kind of ceremony. […] Eugene had been watching the old man eat […]. ›Don’t mind Eugene‹, he said. ›He gets irritable waiting his turn.‹ […] We sat outside the house for twenty minutes while the old man ate vanilla ice cream. Swamp etiquette. […] He seemed to be waiting for a pain to pass, and when it was gone, he had a last, long look into the carton – it was still half full – and passed it along to Eugene. […] He smiled at the woman, who had forgotten the baby in her arms and was watching the ice cream.« (Dexter 2013: 140-142)

Dies in Ausschnitten wiedergegebene Szene um das streng hierarchisch organisierte Ritual des Eiskrem-Konsums zeigt anschaulich, wie es den Außenstehenden unmöglich ist, die Hermetik des Dorfes und der damit verbundenen Familienbande zu durchbrechen. Der Erzähler versteht das Ritual nicht, das sich vor ihm abspielt, es ist ihm unmöglich, die Bedeutung der Hierarchien zu durchschauen, die sich vor ihm darbieten. In dieser vom alten Mann bewusst inszenierten Szene kündigt sich bereits an, dass die Journalisten aufgrund ihrer Unkenntnis bezüglich der Rituale und Hierarchien der Dorfgemeinschaft einer List zum Opfer fallen, die von der Großfamilie von vornherein ausgeheckt worden war, um den inhaftierten Mörder frei zu bekommen. Der Leser wird Zeuge eines Konflikts zwischen den Journalisten und den Dorfbewohnern, die nach ihrem eigenen, ungeschriebenen Gesetz leben und handeln, das die Außenstehenden nicht zu durchschauen in der Lage sind, und daher letztlich an ihrer Aufgabe scheitern. Interessant hierbei ist zudem die hierarchische Anordnungen der Verständnisebenen: Während der immer in der ruralen Region gebliebenen Ich-Erzähler das Ritual zumindest als solches erkennt, obwohl er es nicht deuten kann, gelingt dies seinem schon lange in Miami lebenden Bruder bei aller Bereitschaft schon nicht mehr. Der dritte im Bunde, ein richtiger Großstädter, nimmt erst gar nicht den Weg in die Sümpfe in Kauf und wird sich aufgrund seines Unwillens, sein Scheitern angesichts der hermetischen Dorfgemeinschaft einzugestehen, sogar seine Karriere ruinieren.

D ANIEL W OODRELL Besonders anschaulich wird diese nach eigenen Gesetzen lebende Parallelgesellschaft des amerikanischen Hinterlandes in Daniel Woodrells erfolgreich verfilmten Roman WINTER’S BONE dargestellt. Hier lebt die 17-jährige Ree mit ihrer dementen Mutter und ihren beiden kleinen Geschwistern in ärmsten Verhältnissen in einer heruntergekommenen Hütte. Auch diese steht weniger in einem ›Dorf‹ im strengen Sinne, sondern bildet, wie schon die Sumpfansiedlung in THE PAPERBOY, vielmehr einen Teil einer großflächigen Ansiedlung mehrerer Hütten und Höfe im weitläufigen Ozark-Gebirge, deren Bewohner allesamt irgendwie miteinander verwandt

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sind, ihr Geld meist mit kleinen Gaunereien verdienen, zu großen Teilen Selbstversorger sind und fernab der so genannten Zivilisation ihr Dasein fristen. Rees Vater ist verschwunden, und da er mal wieder nur auf Kaution frei war und sein Haus als Pfand hinterlegt hatte, gibt der Gerichtsvollzieher Ree zwei Wochen Zeit, um diesen zu finden, tot oder lebendig, sonst wird das Haus dem Staat überschrieben und die Familie wäre obdachlos. Ree ist überzeugt, dass ihr Vater tot ist. Tatsächlich scheint er Opfer einer Familienstreitigkeit geworden zu sein, doch Rees Gang durch die einzelnen Behausungen der weitläufigen Ansiedlung, um ihre immer entferntere Familienmitglieder nach dem Verbleib des Vaters zu fragen, gleicht einem Gang in eine immer dunkler erscheinende Hölle. Erst nachdem Ree, im Auftrag des selbsternannten Familienoberhaupts halb totgeschlagen, immer noch nicht aufgibt, wird sie zur Leiche ihres Vaters geführt und muss dieser zum Beweis für das Gericht beide Hände absägen. Als Ree fragt, warum beide Hände, bekommt sie zur Antwort, dass das Gericht sonst davon ausgehe, dass der Gesuchte sich die eine Hand selbst abgesägt hat, um der Strafe zu entkommen. Ree stellt sich jedoch als für den neuen amerikanischen Realismus äußerst untypische Heldin heraus, da sie durchweg versucht, moralisch zu handeln, um ihre Familie zu schützen und dafür die Konfrontation mit dem ungeschriebenen Gesetz des Hinterlandes sucht. Obwohl Roman und Film vom Handlungsablauf fast identisch sind, so liegt der entscheidende Unterschied, und das ist für diese kurze Vorstellung des neuen Genres besonders wichtig, in der abweichenden Darstellung von Armut und Gewalt: Die Figuren im Film sind arm, aber keineswegs so heruntergekommen wie im Roman geschildert. Das Wetter im Film ist milde, während Ree im Roman in spärliche Fetzen gekleidet oft stundenlang durch tiefen Schnee wandert, um von einer Farm zur nächsten zu kommen. Die Häuser der Ansiedlung sind zwar alles andere als komfortabel, sind aber durchaus noch als solche zu erkennen, während die Figuren im Roman teils in baufälligen Trailern wohnen. Und auch die Hauptrolle mit der viel zu attraktiven Jennifer Lawrence zu besetzen und dieser dann etwas Schmutz ins Gesicht zu schmieren, erweist sich bei allen Verdiensten des Films angesichts des Zieles Woodrells, einen ungeschönten Blick auf das rurale Amerika zu werfen, eher als kontraproduktiv. In Woodrells am gleichen Ort spielenden Nachfolgeroman THE DEATH OF SWEET MISTER ist jedoch von dieser Moralität nichts mehr zu spüren. Die Protagonistin wohnt mit ihrem pubertierenden Sohn in einer Trailer Park-Siedlung in den Ozarks und ist gezeichnet von ständig wechselnden, meist in Gewalt endenden Beziehungen zu Männern. Nur die Liebe zu ihrem Sohn gibt ihr Trost, doch wird dieser dennoch zugunsten jener wechselnden Männerbekanntschaften, die auch dem Jungen mit unbändiger körperlicher Gewalt begegnen, immer wieder vernachlässigt. Das schockierende Ende des Romans zeigt den Jungen dabei, wie er seine um Verzeihung für die neueste Vernachlässigung und Demütigung flehende Mutter mit ebenjenen Methoden begegnet, die er sich jahrelang von den Männern abgeschaut

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hat: er zwingt sie zum Sex. Auch in diesem Roman zeigt Woodrell, wie Orte die dort lebenden Menschen nicht nur prägen, sondern zeichnen: Die TrailerparkSiedlung im Nirgendwo ist ein Ort sexueller Gewalt und Unterdrückung. Indem Woodrell einen dort situierten Entwicklungsroman präsentiert, unterstreicht er nochmals auf welche Weise die Gewalt sich über Generationen hinweg ›natürlich‹ fortpflanzt – und wie es vor ihr kein Entrinnen gibt.

F AZIT Konzentriert man nun die Analyse der vorgestellten Texte auf die ländlichen Orte, an denen ihre Handlung angesiedelt ist, taucht zwangsläufig die Frage auf, ob es sich bei der Inszenierung dieser Dörfer oder Ansiedlungen um eine zeitgenössische Darstellung des sozialen Realismus handelt oder vielleicht doch um eine Allegorie, die auf die soziale Situation der USA, die Spaltung der Gesellschaft in die, verschärft ausgedrückt, progressiven Küstenregionen und das zurückgebliebene, erzkonservative Hinterland, zielt. Werden in den abgelegenen Dörfern einfach andere Probleme abgehandelt als in ähnlich armen Gegenden der Metropolen – man denke an den großen Erfolg von Ghetto-Fiktionen wie den Romanen von Richard Price oder der Fernsehserie THE WIRE –, so dass man die Thematisierung der weißen Unterschicht Amerikas tatsächlich als realistisches Schreiben in der Tradition John Steinbecks interpretieren könnte? Oder geht es Pollock, Woodrell oder Vlautin eher darum, die Spaltung Amerikas anhand besonders drastischer Geschichten darzustellen; also der Welt zu zeigen, dass die immer konservativer werdende Politik zahlreicher republikanischer Subgruppierungen sich genau jenen Typ von Bürger zum Unterstützer macht, dessen Hass auf Andersdenkende wiederum genau das politische Programm dieser Gruppierungen speist, die für deren Marginalisierung verantwortlich sind, statt in besagten Regionen in Bildung, arbeitsschaffende Maßnahmen, Krankenversicherung oder Infrastruktur zu investieren? Da die Autoren allesamt selbst aus den von ihnen beschriebenen Regionen und Dörfern stammen und zum Teil auch unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen sind, wie sie ihre Protagonisten durchleben, ist es schwer, eine Grenze zwischen Ästhetik und politischem Appell zu ziehen. Trotzdem ist es vor allem, bei aller berechtigter Kritik, die am Voyeurismus dieser Art von Literatur gerne mal geübt wird, auch die Darstellung eines oft verschwiegenen, ländlichen Amerikas jenseits von Ostküstencollege-Städtchen, das den Leser gleichsam fasziniert und erschauern lässt.

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L ITERATUR Aiken, Charles S. (2009): William Faulkner and the Southern Landscape, Athens: University of Georgia Press. Anonymous (2006): »A conversation with Willy Vlautin«, in: ders., The Motel Life, London: Harper Perennial 2006, S. 2-13 (P.S.). Dexter, Pete (2013): The Paperboy, London: Atlantic. Domsch, Sebastian (2012): Cormac McCarthy, München: Edition Text + Kritik. Fiedler, Leslie (1971): »Cross the Border – Close the Gap«, in: ders.: The Collected Essays of Leslie Fiedler, Vol. II, New York: Stein and Day, S. 461-485. Kerr, Elizabeth M. (1985): William Faulkner’s Yoknapatawpha: A Kind of Keystone in the Universe, New York: Fordham. Pollock, Donald Ray (2009): Knockemstiff, London: Vintage. Pollock, Donald Ray (2012): The Devil All The Time, London: Vintage. Seiler, Sascha (2009): »Kurzgeschichte«, in: Lamping, Dieter et al (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen, Stuttgart: Kröner, S. 452-460. Verna, Sasha (2013): Die Hoffnung trägt ein Narrenkostüm, auf: http://www. deutschlandfunk.de/die-hoffnung-traegt-einnarrenkostuem.700.de.html?dram: article_id=257254 (19.02.2014). Vlautin, Willy (2007): The Motel Life. London: Faber & Faber. Vlautin, Willy (2008): Northline. London: Faber & Faber. Vlautin, Willy (2011): Lean On Pete. London: Faber & Faber. Woodrell, Daniel (2005): Winter’s Bone, London: Hodder and Stoughton. Woodrell, Daniel (2012): The Death of Sweet Mister, London: Bach Bay Books.

F ILM Winter’s Bone (2010) (USA, R: Debra Granik)

T ONTRÄGER Richmond Fontaine (2007): »$87 and a guilty conscience that gets worse the longer I go«, auf: Richmond Fontaine: Thirteen Cities, Décor 2007.

Marketingidylle Michel Houellebecqs Roman La carte et le territoire, oder: Liegt die Zukunft auf dem Lande? S IMONE S AUER - KRETSCHMER

Die deutsche Zeitschrift LANDLUST zeigt ihrer Leserschaft seit 2005 »die schönen Seiten des Landlebens«. Dass dies ein überaus erfolgreiches Konzept ist, belegen nicht nur die Verkaufszahlen – schon mehrfach konnte mehr als eine Million Hefte pro Ausgabe verkauft werden –, sondern auch die zahlreichen Nachahmer auf dem Printmedienmarkt, die ganz ähnliche Titel tragen wie MEIN SCHÖNES LAND, LIEBES LAND oder auch LANDKIND. Konzeptionell unterscheiden sich die einzelnen Zeitschriften kaum voneinander, setzen sie doch in der Hauptsache auf Rubriken wie Im Garten, In der Küche, Natur erleben sowie Ländlich wohnen. Dabei geht es keineswegs um eine möglichst differenzierte Darstellung dörflichen Lebens und Arbeitens, sondern viel eher um die Erzeugung einer konstruierten Idylle, die in etwa so zutreffend ist wie die Beschreibung von Urlaubsorten in Reisekatalogen. Die Erklärung für diese Ausprägung des Landbooms scheint keine allzu komplexen Züge zu tragen, liegt doch die Vermutung des Eskapismus seitens der Leser nahe. Steffen Kröhnert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung bestätigt diesen Eindruck im Interview mit der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, als er auf die Frage zu antworten sucht, ob sich am Erfolg von LANDLUST nicht eine Sehnsucht der Menschen nach dem dauerhaften Leben auf dem Land ablesen ließe: »Ich halte das für ein reines Medienphänomen. Landlust ist erfolgreich, weil es die Sehnsüchte der städtischen Mittelschicht danach aufgreift, was diese mit Landleben assoziiert: Bodenständigkeit, selbst angebautes Gemüse, dörfliche Gemeinschaft, spielende Kinder im Garten. Aber diese Menschen werden nicht tatsächlich in abgelegene Dörfer ziehen und dort ihren Lebensunterhalt verdienen. Zumal das reale Landleben mit dem, was in solchen Zeitschriften dargestellt wird, wenig zu tun hat.« (Dorfer 2012, Hervorhebung im Original)

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Was LANDLUST und andere Zeitschriften verkaufen, sind schlicht Fiktionen. Dabei stellt der Begriff der Sehnsucht wohl eines der wichtigsten Schlagwörter in diesem Kontext dar und richtet sich womöglich auch auf etwas unscharf Ursprüngliches, ein Kindheitsideal vielleicht, so wie der Gedanke an den Sommer, der im Rückblick ebenso regen- wie endlos erscheint. Doch hat diese Sehnsucht nach dem Dorfe auch noch eine andere, politische Komponente? An dieser Stelle soll die provokative Frage der Tageszeitung DIE WELT aufgegriffen werden, die im Dezember 2010 darüber spekulierte, was LANDLUST-Leser womöglich mit Neo-Revoluzzern gemein haben könnten (Praschl 2010). Als NeoRevoluzzer bezeichnet Peter Praschl die unbekannten französischen Verfasser, genannt ›comité invisible‹, die im Jahre 2007 eine politische Streitschrift mit dem Titel L’INSURRECTION QUI VIENT verfasst haben. Diese fand zwei Jahre später eine rasante Verbreitung über das Internet und wurde auch im deutschen Feuilleton ausgiebig rezipiert, insbesondere in Bezug auf die Frage, ob die radikale Darstellungsweise der anonymen Verfasser politisch linke oder rechte Tendenzen verbreite und inwieweit der dort formulierte Aufruf zum Widerstand eine Berechtigung habe oder nicht. Die darin vorgebrachte Art der Zivilisationskritik erscheint dem HouellebecqLeser vertraut:1 »Voix numérisée des annonces vocales, tramway au sifflement si XXIe siècle, lumière bleutée de réverbère en forme d’allumette géante, piétons grimés en mannequins ratés, rotation silencieuse d’une caméra de vidéo-surveillance, tintement lucide des bornes du métro, des caisses du supermarché, des badgeuses du bureau, ambiance électronique de cybercafé, débauche d’écrans plasma, de voies rapides et de latex. Jamais décor ne se passa si bien des âmes qui le traversent. Jamais milieu ne fut plus automatique.«2 (Comité invisible 2007: 60, Hervorhebung im Original)

1

Diese Form der Gesellschaftskritik kann geradezu als Basis des literarischen wie essayistischen Schreibens von Michel Houellebecq gelten. Besonders explizit verfolgt der Autor diese Strategie auch in seinem Roman PLATEFORME (2001, dt. 2002), in welchem der Held Michel der westlichen Welt vollkommen den Rücken kehrt, da er weder mit der vorherrschenden städtischen Lebensweise noch bestimmten Werten und Praktiken des Sozialen im Paris um die Jahrtausendwende einverstanden ist.

2

»Die digitalisierte Stimme des Ansagers, das Kreischen der Straßenbahn des 21. Jahrhunderts, das bläuliche Licht der Straßenlaternen in der Form riesiger Streichhölzer, Fußgänger in Verkleidung gescheiterter Models, stiller Schwenk einer Videoüberwachungskamera, klares Klappern der Schranken in der Metro-Station, Supermarktkassen, Stechuhren, elektronische Internetcafé-Stimmung, der Überfluss an Plasmabildschirmen, Schnellstraßen und Latex. Niemals war ein Bühnenbild ohne die es durchquerenden See-

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Bestimmt wird L’INSURRECTION QUI VIENT von einem Gefühl des Überdrusses, bezogen auf die gegenwärtigen Verhältnisse in Frankreich und Europa. Hinzu kommen eine grundlegende Anti-Konsumstimmung und der Wunsch, aus der übermodernen Großstadt zu fliehen, die nun tatsächlich so automatisch funktioniere, wie es frühe literarische Metropolentexte zu Beginn des 20. Jahrhunderts antizipiert haben. Darüber hinaus gemahnt das ›comité invisible‹ auch an die Sehnsüchte und Konsequenzen einer Entfremdung des Menschen von sich selbst, für den Natur und Handwerk als ursprüngliche Formen von Arbeit zu erstrebenswerten Zielen werden.3 Das Leben in provinziellen Gemeinschaften erscheint folglich auch hier als erstrebenswerte Alternative zum Leben in der übernervösen Metropole. Nach Erscheinen des Manifests äußerten tatsächlich gleich mehrere Journalisten, dass die Streitschrift (inhaltlich und stilistisch) den Romanen Michel Houellebecqs ähnele, z.B. in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG: »Nun gibt es in Houellebecqs Romanen ja immer eine Welt der Großeltern, ländlich, freundlich, human, und in Gegensatz dazu die von Liberalismus und egoistischer Selbstverwirklichung verwüstete Kampfzone unserer Tage. Einen ähnlichen Antagonismus baut das Unsichtbare Komitee auf: Gegen den kalten Markt und die übermächtigen Strukturen des Staates stellen sie im zweiten Teil den Traum von der Kommune, autarke Netzwerke, die sich entziehen, deren Mitglieder in die Anonymität abtauchen.« (Rühle 2010)

len ausgekommen. Kein Milieu war je automatischer.« (Unsichtbares Komitee 2010: 48, Hervorhebung im Original.) 3

In seiner soziologischen Auseinandersetzung mit dem Handwerk als Bestandteil materieller Kultur geht Richard Sennett davon aus, dass der Mensch seine Arbeit um ihrer selbst willen gut machen wolle, und dass die Frage an Bedeutung gewinnen muss, auf welche Weise Dinge hergestellt werden, weil die Antwort auf diese Frage Auskunft über den jeweiligen Zustand einer Kultur geben kann (vgl. Sennett 2008: 17ff.). Denn: »Handwerkliches Können hält zwei emotionale Belohnungen für den Erwerb von Fähigkeiten bereit: eine Verankerung in der greifbaren Realität und Stolz auf die eigene Arbeit.« (Ebd.: 33) Das Handwerk erscheint als Ideal der materiellen Produktion, welches der Entfremdung des Menschen entgegenwirkt. In diesem Kontext erscheinen insbesondere die theoretischen Texte von William Morris (1883-1896) relevant, mit denen der präraffaelitische Künstler die Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben fordert. In LA CARTE ET LE TERRITOIRE

diskutieren Jed Martin und Michel Houellebecq – bezeichnenderweise wäh-

rend ihres letzten Treffens – über Morris und seine utopischen Ideale, kommen dabei jedoch zu keinem abschließenden Urteil über die Anschlussfähigkeit seiner Ideen (vgl. Houellebecq 2010: 262-268).

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Weitestgehend anonym möchten auch die Protagonisten in Michel Houellebecqs, mit dem ›Prix Goncourt‹ ausgezeichneten, Roman LA CARTE ET LE TERRITOIRE (2010) leben, wenn sie sich von der kulturellen Metropole Paris abwenden und für ein Leben in der Provinz entscheiden. Dabei geht der letzte Teil des Romans über die zeitgenössische Gegenwart hinaus und kann als Zukunftsvision verstanden werden. Die folgende Diskussion des Textes wird herausarbeiten, welche Entwicklungen LA CARTE ET LE TERRITOIRE für das gesellschaftliche und individuelle Leben nach dem Ende des Industriezeitalters sowohl diagnostiziert als auch prognostiziert, besonders in Bezug auf die mögliche Wiedererschaffung einer dörflichen Idylle. 4 Dass eine topographische Lesart in Bezug auf den Roman ergiebige Ergebnisse verspricht, kündigt schon der Titel des Textes an, der auf Aspekte des Kartierens vorausweist, das, wie Robert Stockhammer und andere festgestellt haben, nach wie vor in Literatur und Wissenschaft, verbunden mit dem spatial und topographical turn, Hochkonjunktur hat, und worauf noch zurückzukommen sein wird (vgl. Stockhammer 2007: 7ff.). LA CARTE ET LE TERRITOIRE ist u.a., aber nicht nur, ein Künstlerroman (Viard 2011) mit zwei Protagonisten: der eine, Jed Martin, lebt zu Beginn der Erzählung in Paris und arbeitet als bildender Künstler, der im Laufe seiner Karriere verschiedene Entwicklungsstufen durchläuft und sich jeweils anderer Medien und Produktionsmethoden bedient, wenn eine seiner mehrjährigen Schaffensperioden abgeschlossen ist. (Er wechselt zwischen Malerei und Fotografie, um schließlich bei der Videokunst anzulangen.) Der zweite Protagonist und Künstler ist das fiktive Alter Ego des Autors, Michel Houellebecq, der dann auf Jed Martin trifft, als dieser den Schriftsteller darum bittet, ein Vorwort zu seinem Ausstellungskatalog zu verfassen. Beginnend mit ihrem ersten persönlichen Treffen in Irland, wohin die Romanfigur Houellebecq sich zu diesem Zeitpunkt seines Lebens zurückgezogen hat, entsteht eine lebenslange Verbindung zwischen den beiden, die sich dennoch nur als Möglichkeit einer Freundschaft beschreiben lässt, da die Kunstschaffenden sich weitestgehend von der Welt wie den Menschen entfernen. Dem künstlerischen Durchbruch Jed Martins geht eine Art auratisches Erlebnis voraus, als er gemeinsam mit seinem Vater Paris verlässt, um mit dem Auto ins ländliche Departement Creuse zur Beerdigung seiner Großmutter zu reisen. Bezeichnenderweise findet dieses Ereignis weder in der Natur noch im Angesicht eines als Kunstwerk ausgewiesenen Objektes statt, sondern an einer Autobahnraststätte, als Jed Martin auf den dort obligatorischen Verkaufsständer mit Michelin-Karten aufmerksam wird (was

4

Christian Luckscheiter ist der Meinung, dass der Inhalt des Romans wenig mit seinem Titel zu tun habe, den er vielmehr als Marketing-Strategie angesichts der aktuell hohen Konjunktur der Topographie verstanden wissen will (vgl. Luckscheiter 2013: 81). Dass das Gegenteil der Fall ist, zeigen die folgenden Ausführungen in diesem Aufsatz.

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als deutlicher Seitenhieb auf den globalen Kunstmarkt, dessen Käufer und die Verklärung des Künstlers als schaffendes Genie verstanden werden kann): »Cette carte était sublime; bouleversé, il se mit à trembler devant le présentoir. Jamais il n’avait contemplé d’objet aussi magnifique, aussi riche d’émotion et de sens que cette carte Michelin au 1/150 000 de la Creuse, Haute-Vienne. L’essence de la mordernité, de l’appréhension scientifique et technique du monde, s’y trouvait mêlée avec l’essence de la vie animale. Le dessin était complexe et beau, d’une clarté absolue, n’utilisant qu’un code restraint de couleurs. Mais dans chacun des hameaux, des villages, représentés suivant leur importance, on sentait la palpitation, l’appel, de dizaines de vies humaines, de dizaines ou de centaines d’âmes – les unes promises à la damnation, les autres à la vie éternelle.«5 (Houellebecq 2010: 54)

Dass mit einem massenhaften Industrieprodukt wie der Michelin-Karte nicht nur ein Moment des Erhabenen, sondern darüber hinaus auch ein auratisches Erlebnis verbunden wird, lässt sich als begriffliche Provokation verstehen. Michel Houellebecqs Figuren sind reflektierte, aber deshalb nicht weniger begeisterte Konsumenten, deren nihilistische Misanthropie kaum mehr steigerungsfähig erscheint: Nicht nur die Natur wird letztlich dem Menschen überlegen sein, sondern auch die – dem Menschen im Prozess ihrer Produktion zumeist entfremdeten – industriellen Massenprodukte, deren (im Grunde vollkommen paradoxe) Erhabenheit gerade aus der Negation jeder Einzigartigkeit resultiert. Nach seiner Rückkehr nach Paris jedenfalls beginnt Martin unverzüglich mehr als einhundertfünfzig Michelin-Karten aufzukaufen, wobei die Regional- und die französischen Departementalkarten für ihn von größtem Interesse bleiben. Sechs Monate lang beschäftigt er sich damit, diese Karten zu fotografieren. Anschließend nimmt er an einer Ausstellung teil, die das Foto der ersten Karte des Departements Creuse präsentiert. Jed Martin wird im Verlauf des Abends von einer jungen Frau

5

»Diese Karte war geradezu erhaben; bis ins Innerste aufgewühlt begann er vor dem Verkaufsständer zu zittern. Noch nie hatte er etwas so Herrliches gesehen, das so reich an Emotionen und Sinn war wie diese Michelin-Karte der Departements Creuse und HauteVienne im Maßstab 1:150 000. Die Quintessenz der Moderne, der wissenschaftlichen und technischen Erfassung der Welt, war hier mit der Quintessenz animalischen Lebens verschmolzen. Die grafische Darstellung war komplex und schön, von absoluter Klarheit, und verwendete nur eine begrenzte Palette von Farben. Aber in jedem Örtchen, in jedem Dorf, das seiner Größe entsprechend dargestellt war, spürte man das Herzklopfen, den Ruf Dutzender Menschenleben, Dutzender, Hunderter Seelen – von denen die einen zur Verdammnis und die anderen zum ewigen Leben berufen waren.« (Houellebecq 2012: 50)

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namens Olga auf seine Arbeit angesprochen, die sich als Vertreterin von MichelinFrance vorstellt, großes Interesse an einer Zusammenarbeit und an der privaten Person des Künstlers, der bis zu diesem Zeitpunkt achthundert solcher Fotos angefertigt hat, signalisiert. Es kommt zu einer fruchtbaren wirtschaftlichen Zusammenarbeit des Künstlers mit dem Konzern Michelin, der Jed Martin nicht nur bei der Organisation einer weiteren Einzelausstellung unterstützt, sondern auch den anschließenden Vertrieb der Fotos organisiert. Die Ausstellung selbst kontrastiert das Verfahren des Satellitenfotos, auf dem nur verschwommene bläuliche Flecken und relativ ununterscheidbare Grüntöne zu erkennen sind, mit dem Foto der Karte, das ein faszinierendes Netz aus Straßen, Landschaften und Gewässern zeigt (vgl. ebd.: 82). Über diesen beiden gegensätzlichen Darstellungen ist der den Romantitel aufgreifende Titel der Ausstellung angebracht: »LA CARTE EST PLUS INTÉRESSANTE QUE LE TERRITOIRE.« (Ebd.) Während also das Satellitenfoto für sich beansprucht, Wirklichkeit abzubilden, erscheint die Karte, erst recht die auf bestimmte Art und Weise fotografierte Karte, als ein Kunstprodukt, das aufgrund seiner eigenen Abbildungssprache sowie der spezifischen Bildkonstruktion, Farbgebung und des Maßstabes einen neuen Raum erschafft, der zwar durch die Wirklichkeit des Satellitenbildes führen kann, gleichzeitig jedoch den Gesetzmäßigkeiten einer eigenen Ästhetik folgt, die Jed Martins Ablichtungstechnik noch hervorhebt. Für das jeweils dargestellte Gebiet bedeutet dies Folgendes: Karte und Gebiet werden durch die Darstellung des Gebietes in Form des Kartenmediums nicht einander angenähert, sondern es erfolgt ein Prozess der Transformation, der das Gebiet in der veränderten Darstellung von sich selbst entfernt und eine äußere Harmonie des Dargestellten erzeugt, die die Karte über das Gebiet erhebt. Damit wird ein Aspekt der ›Verzerrung‹ betont, der als zwangsläufige Folge selbst eines vermeintlich objektiven Darstellungs- und Ordnungsmodus wie dem des Kartierens erscheint: »Die Karte ist daher nicht eine Verzerrung der Wirklichkeit im pejorativen Sinne, wohl aber eine Verzerrung im eigentlichen Sinne – und das gar in doppeltem Maße: Einmal eine Verzerrung im Rahmen der ersten Geometrie, ein anderes Mal durch die Modifikation des vorausliegenden Projektionsergebnisses zu Zwecken des Kartengebrauchs. Karten sind weniger ein Abbild räumlicher Kontingenz, als vielmehr Ausdruck dessen, was der Mensch in ihnen feststellt. Diese spezifische menschliche Raumaneignung ist topologischer Art.« (Günzel 2008: 233, Hervorhebungen im Original)

Die Aneignung des Raumes ist ein zentrales und gemeinsames Thema der Arbeiten von Jed Martin und Michel Houellebecq, wobei auch die Räumlichkeit des literarischen Textes eine Rolle spielt. Martin bittet Houellebecq darum, ihm eines seiner Manuskripte mitsamt aller Anmerkungen zu zeigen, wobei es Martin keinesfalls um

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den literarischen Inhalt des fragmentarischen Textes geht, sondern allein um »la géométrie de l’ensemble« (Houellebecq 2010: 167): »Avec réticence, Houellebecq sortit quelques feuilles. Il y avait très peu de ratures, mais de nombreux astérisques au milieu du texte, accompagnés de flèches qui conduisaient à d’autres blocs de texte, les uns dans la marge, d’autres sur des feuilles séparées. À l’intérieur de ces blocs, de forme grossièrement rectangulaire, de nouveaux astérisques renvoyaient à des nouveaux blocs, cela formait comme une arborescence. L’écriture était penchée, presque illisible.«6 (Ebd.)

Houellebecqs Manuskript ist ein – insbesondere auch formales – Rhizom im Sinne von Deleuze und Guattari (Deleuze/Guattari 1977), das weit über die Ränder der Textblöcke hinaus wuchert. Obwohl es sich dabei um eine künstlerische Arbeit handelt, stellen sich die von Jed Martin vorgefundenen Auswüchse der Arbeit so dar, als würde eine urwüchsige natürliche Kraft und Eigendynamik des Wachsens die Schrift des Autors vorantreiben – unabhängig davon, ob ihm dies recht ist oder nicht. Beide Künstler arbeiten also an einer Art der Vermessung ihres Territoriums, die der vorliegende Roman im Falle des Schriftstellers Houellebecq dazu noch performativ veranschaulicht. Jed Martins Kunst löst in der Folgezeit sogar die entscheidende Trendwende aus, die eine veränderte Zukunft des französischen Dorfes im Roman, aber auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, einleitet, da plötzlich alles Regionale wieder im Trend liegt und beinahe magisch erscheint (vgl. Houellebecq 2010: 89). Auch Martin und Olga, die mittlerweile seine Geliebte ist, teilen dieses Interesse am Regionalen und unternehmen Reisen durch die französische Provinz, wobei es auch dieses Mal weniger auf das jeweilige Gebiet, sondern auf die Kartierung bzw. Klassifizierung der Gegenden ankommt. Ausgelöst wird die Aufbruchstimmung des Paares nämlich durch den neu erschienenen Hotelführer FRENCH TOUCH, in dem Frankreich als ein wunderschönes Land erscheint (vgl. ebd.: 94). Bezeichnenderweise war Olga federführend an der Redaktion und Produktion des Reiseführers beteiligt, so dass ihre gemeinsamen Reisen zu Besichtigungen ausgerechnet der inszenierten Hotelschauplätze geraten, die Olga überhaupt erst mit entworfen hat. Die Touristin Olga ist auf der Suche nach etwas typisch Französischem, ein Wunsch, der sie mit einer Vielzahl von Reisenden verbindet.

6

»Widerwillig holte Houellebecq ein paar Seiten hervor. Es gab nur sehr wenige durchgestrichene Stellen, aber zahlreiche Sternchen mitten im Text, die mit Pfeilen auf andere Textblöcke, teilweise am Rand, teilweise auf getrennten Seiten, verwiesen. Im Inneren dieser mehr oder weniger rechteckigen Blöcke verwiesen weitere mit Pfeilen versehene Sternchen auf neue Blöcke, sodass das Ganze fast wie ein Rankengeflecht wirkte.« (Houellebecq 2012: 161)

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Ablesen lässt sich das u.a. am hohen Umsatz der Restaurants, die auf eine traditionell französische Küche setzen und damit auf ›exotische‹ Fusionen im Bereich der Gastronomie verzichten, woran nicht zuletzt die im Roman offenkundige Verbindung von Tradition und Konservatismus ersichtlich wird (vgl. ebd.: 96f.). Die angedeutete Suche nach etwas ›Echtem‹ und ›Unverfälschtem‹ manifestiert sich folglich zunächst in den kurzen Alltagsfluchten touristischer Unternehmungen, wobei der gastronomische Sektor eine besondere Rolle spielt, auch weil er dabei hilft, die häufig konstruierten Grenzen einzelner Regionen abzustecken, wie es die Ausführungen von Busso Grabow, Mitarbeiter am Deutschen Institut für Urbanistik, zum Thema Regionalmarketing belegen: »Regionalmarketing erfordert oft erst eine gemeinsame ›Raumbildung‹. Während Städte und Gemeinden ›natürliche‹, durch die Bewohner und von außen wahrgenommene Grenzen besitzen, sind Regionen häufig künstliche Konstrukte, die in ihrem Stellenwert nur schwer von innen nach außen vermittelt werden können.« (Grabow 2006: 32f.)

Analog zu Martins und Houellebecqs Kunst, Raum hervorzubringen, verändert zu arrangieren und demselben eine Geschichte zuzuschreiben, funktioniert auch die Erschaffung ehemals für den Tourismus unattraktiver Orte in der Provinz, deren erst durch Marketingkampagnen erschaffene Anreize Besucher anziehen. LA CARTE ET LE TERRITOIRE zeigt, wo die Wiederentdeckung der Provinz ihr zu Hause hat. Jed Martin besucht Jahre später die Silvesterparty des Fernsehsenders Michelin-TV, die unter dem Motto les provinces de France stattfindet. Gemeinsam feiern dort die Macher der ländlichen Kultur – Vertreter aus Medien, Kunst, Marketing und Wirtschaft – ihre Erfolge der letzten Jahre: Nicht nur boomt der regionale Tourismussektor im Allgemeinen, auch allerhand mediale Erzeugnisse zu traditionellen Volksfesten, Handwerkskünsten und ländlichen Kochrezepten im Besonderen haben Hochkonjunktur. Vor dem herrschaftlichen Haus des Gastgebers werden zu diesem Anlass mit Heugabeln bewaffnete Bauern aus der Vendée positioniert, im Empfangsraum ertönen zehn bretonische Dudelsackpfeifen und das Buffet bietet die zu erwartenden regionalen Erzeugnisse an (vgl. Houellebecq 2010: 238-248).7

7

Mit den Bauern der Vendée werden die historischen Aufstände (und Kriege) der französischen Bauern gegen Paris und die Ideale der Französischen Revolution zitiert, wobei in diesem Fall eine deutlich sarkastische Verschiebung stattgefunden hat: die einstmals konterrevolutionären Vertreter der Provinz sind zu Werbeträgern eines Großkonzerns geworden. Die Möglichkeit des Widerstandes gegen die hegemoniale Vormachtstellung wirtschaftlicher Global Player verleiben sich diese somit präventiv ein. (Mein Dank gilt Werner Nell und Marc Weiland für ihre überaus konstruktive Kritik und ihre Anregungen zu diesem Aufsatz.)

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Auf den Verlauf der Party hat all die Folklore, die doch nur ein ironischüberhebliches Schauspiel aus großstädtischer Abstandsperspektive gegenüber der Provinz zu sein scheint, freilich keinen Einfluss: am Ende sind alle betrunken, nur die Vorstandsmitglieder von Michelin, die als die wahren Profiteure des Spektakels gelten dürfen, verlassen das Fest ungerührt und geschlossen. Michelin erscheint an dieser Stelle als übergroße Konzernmacht, die nicht nur die erwähnten Karten vertreibt, sondern im Bereich der Tourismuswirtschaft auch die Gebiete umgestaltet. Mit diesen Entwicklungen verwandt erscheinen die Beobachtungen, die Jed Martin anstellt, als er mit einem Billigflieger der Firma Ryanair nach Shannon in Irland zu Houellebecq fliegt: »Ainsi, le libéralisme redessinait la géographie du monde en fonction des attentes de la clientèle, que celle-ci se déplace pour se livrer au tourisme ou pour gagner sa vie. À la surface plane, isométrique de la carte du monde se substituait une topographie anormale où Shannon était plus proche de Katowice que de Bruxelles, de Fuerteventura que de Madrid. Pour la France, les deux aéroports retenus par Ryanair étaient Beauvais et Carcassonne. S’agissait-il de deux destinations particulièrement touristiques? Ou devenaient-elles touristiques du simple fait que Ryanair les avait choisies?«8 (Ebd.: 152)

Der Roman veranschaulicht zwei scheinbar gegensätzliche Tendenzen des Tourismus: zum einen den Drang nach einem Rückzugsort in traditionellen Landschaften, zum anderen die preisgünstige Erreichbarkeit und Umstrukturierung der Reisewelt durch neue Ankunftsziele, die ebenfalls – nicht zuletzt aus Kostengründen – die Provinz nutzen. Neue Flughäfen werden errichtet, oder Militärbasen umgenutzt, die den umliegenden Dörfern und Kleinstädten einen Zulauf an Touristen versprechen. Gemeinsam ist beiden Strategien, alte Räume neu zu erschließen – selbstverständlich primär in Hinblick auf ihre Wirtschaftlichkeit. Darüber hinaus entwirft der Text die Zukunftsprognose, dass solche gegenwärtigen Veränderungen bloß einen ersten Schritt darstellen, der eine gravierendere Umstrukturierung der Provinz nach sich ziehen wird. Verbunden ist diese mit dem Rückzug junger erfolgreicher Mittel-

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»Der Liberalismus schuf also eine neue Geographie der Welt aufgrund der Erwartungen der Kundschaft, egal ob diese reiste, um ihre touristische Neugier zu befriedigen oder um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die ebene, isometrische Oberfläche der Weltkarte wurde durch eine anomale Topographie ersetzt, bei der Shannon in größere Nähe zu Kattowitz oder Fuerteventura rückte als zu Brüssel oder Madrid. Die beiden Flughäfen, die Ryanair in Frankreich anflog, waren Beauvais und Carcassonne. Handelte es sich dabei um Bestimmungsorte von besonderem touristischen Interesse? Oder wurden sie nur aus dem Grund touristisch interessant, weil Ryanair die beiden Städte als Zielflughafen gewählt hatte?« (Houellebecq 2012: 146)

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ständler auf die Dörfer. Die Romanfiguren Michel Houellebecq und Jed Martin vollbringen in dieser Hinsicht Pionierarbeit, entscheidet sich doch erst der Schriftsteller, und Jahre später auch der bildende Künstler, für ein Leben in der Provinz. Houellebecq lebt zwar schon zuvor in der irischen Abgeschiedenheit, kehrt jedoch später in das Dorf seiner Kindheit an der Loire zurück. Bezeichnenderweise wird er dort auch sterben: Michel und sein Hund werden von einem Kunsträuber ermordet, der das Portrait Houellebecqs stehlen will, das Jed Martin von ihm angefertigt hat und das mittlerweile einen Marktwert von mehreren Millionen Euro besitzt. Um an das Bild des Künstlers zu gelangen wird der Künstler also umgebracht. Doch damit noch nicht genug: Nach Eintreten des Todes wird der Schriftsteller von seinem Mörder während eines circa sieben Stunden andauernden Prozesses in so viele Einzelstücke zerlegt, dass die später angefertigten Tatort-Fotos, die Jed Martin von der Polizei gezeigt werden, diesen beim Betrachten an ein Gemälde von Jackson Pollock denken lassen (vgl. ebd.: 350). Die Künstlichkeit und das perfide Arrangement des Verbrechens spiegeln sich in dem Eindruck wider, den das Dorf an der Loire bei Jasselin, einem der im Fall Houellebecq ermittelnden Kommissare aus Paris, hinterlässt: »Le village en lui-même lui avait fait très mauvaise impression: les maisons blanches aux bardeaux noirs, d’une propreté impeccable, l’église impitoyablement restaurée, les panneaux d’information prétendument ludiques, tout donnait l’impression d’un décor, d’un village faux, reconstitué pour les besoins d’une série télévisée. Il n’avait, du reste, croisé aucun habitant.«9 (Ebd.: 280)

Jed Martin hingegen zeigt sich von diesem Eindruck nicht maßgeblich irritiert und folgt dem Beispiel des Toten, wenn er einige Zeit später Paris den Rücken kehrt, um sich in einer anderen ländlichen Region Frankreichs, dem für seinen Werdegang bedeutenden Departement Creuse, niederzulassen. Über die ausbleibende Empfangsbereitschaft der einheimischen Dorfbevölkerung gegenüber ›dem Fremden‹ muss sich Jed Martin dabei kaum Gedanken machen, da er nach dem Verkauf seiner Gemälde zu großem Reichtum gekommen ist. Von dem verdienten Geld – das ihm die vollkommen wahnwitzigen Preisentwicklungen des Kunstmarktes ermöglicht haben – kauft Martin gleich mehrere Grundstücke auf, zwischen denen er ei-

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»Das Dorf selbst hatte einen sehr schlechten Eindruck auf ihn gemacht: Die ungemein sauberen weißen Häuser mit den schwarzen Dachschindeln, die mit unerbittlicher Strenge restaurierte Kirche, die betont spielerischen Hinweistafeln – all das erweckte den Eindruck eines Filmdekors, eines unechten Dorfes, das für die Bedürfnisse einer Fernsehserie originalgetreu wieder aufgebaut worden war. Er war im Übrigen keinem einzigen Bewohner begegnet.« (Houellebecq 2012: 270)

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gens eine Straße bauen lässt und sich damit sein eigenes Dorf im Dorf erschafft und zugleich die Distanz zwischen sich und der Welt regional größtmöglich potenziert. In seiner hermetischen Abgeschlossenheit erinnert dieses Unternehmen an die dekadente Isolierung des Dandys Floressas des Esseintes aus Joris-Karl Huysmans’ À 10 REBOURS (1884), wofür Jed Martin jedoch die notwendigen Allüren fehlen, will er sich doch bloß still von den Menschen zurückziehen und weiterhin arbeiten. Zehn Jahre lang, mittlerweile hat sich die Handlung des Romans in die Zukunft verlagert, verlässt Jed Martin sein Anwesen nicht und ist dann umso erstaunter, wie sich das äußere Dorf in der Zwischenzeit verändert hat: »Il ne se remémorait que vaguement Châtelus-le-Marcheix, c’était dans son souvenir un petit village décrépit, ordinaire de la France rurale, et rien de plus. Mais, dès ses premiers pas dans les rues de la bourgade, il fut envahi par la stupéfaction. D’abord le village avait beaucoup grandi, il y avait au moins deux fois, peut-être trois fois plus de maisons. Et ces maisons étaient pimpantes, fleuries, bâties dans un respect maniaque de l’habitat traditionnel limousin. Partout dans la rue principale s’ouvraient les devantures de magasins de produits régionaux, d’artisanat d’art, en cent mètres il compta trois cafés proposant des connexions Internet à bas prix. On se serait cru à Koh Phi Phi, ou à Saint-Paul-de-Vance, bien plus que dans un village rural de la Creuse.«11 (Ebd.: 412)

Um sich ein differenzierteres Bild von jenem neuen Leben (und dem regionalen Tourismus) in Frankreich zu machen, reist Jed bald darauf durch mehrere Gebiete des Landes, wobei sein erster Eindruck der grundlegenden Umstrukturierung und Gentrifizierung des Dorfes bestätigt wird: »[…] oui, le pays avait changé, changé en profondeur. Les habitants traditionnels des zones rurales avaient presque entièrement disparu. De nouveaux arrivants, venus des zones urbaines, les avaient remplacés, animés d’un vif appétit d’entreprise et parfois de convictions

10 Auf die Parallelen zwischen der dekadenten Poetik von Huysmans und Houellebecq wurde schon mehrfach hingewiesen (vgl. Thoma 2007). 11 »Er hatte nur noch eine vage Vorstellung von Châtelus-le-Marcheix, in seiner Erinnerung war es nichts anderes als ein kleines, etwas ungepflegtes Dorf wie viele andere in Frankreichs ländlichen Regionen. Doch kaum hatte er die Dorfstraße betreten, war er äußerst verblüfft. Zunächst einmal hatte sich das Dorf erheblich vergrößert, es gab mindestens zwei- oder dreimal so viele Häuser wie früher. Und nur hübsche, blumengeschmückte Häuser, die unter geradezu manischer Wahrung des traditionellen Baustils des Limousin errichtet waren. Überall auf der Hauptstraße wurden in den Auslagen der Geschäfte regionale Erzeugnisse und kunsthandwerkliche Gegenstände angeboten, auf hundert Metern zählte er drei Cafés mit preiswerten Internetverbindungen.« (Houellebecq 2012: 400)

384 | SIMONE S AUER-KRETSCHMER écologiques modérées, commercialisables. Ils avaient entrepris de repeupler l’hinterland – et cette tentative, après bien d’autres essais infructueux, basée cette fois sur une connaissance précise des lois du marché, et sur leur acceptation lucide, avait pleinement réussi.«12 (Ebd.: 414, Hervorhebung im Original)

Die Jahre zuvor, also für den Leser um das Jahr 2010, angekündigte ›Landlust‹ hat die Kurzlebigkeit eines Trends überdauert und markiert stattdessen inzwischen einen richtungsweisenden Wendepunkt, der das Dorf im Roman Houellebecqs nicht sterben lässt, sondern es neu erfindet. Romantische Idealvorstellungen mögen mit dieser Umstrukturierung auch verbunden sein, allerdings nur insoweit sie sich in das übergeordnete Ziel der wirtschaftlich profitablen Umsetzbarkeit einpassen lassen. Ausschließlich dann, wenn ein komfortables Leben auf dem Land möglich erscheint, die Fassaden der Häuser sich pittoresk ausnehmen und selbst der freiwillige Verzicht auf bestimmte Annehmlichkeiten der Großstadt ein Luxus wird, kurz: wenn sich der Umzug rentiert und sich, so Houellebecq, als ›gut vorbereitetes Unternehmensprojekt‹ realisieren lässt, findet die Wiedererweckung des Dorfes im Roman statt. Damit veranschaulicht LA CARTE ET LE TERRITOIRE, so meine These, dass Houellebecq mit diesem Roman einmal mehr zum Dichter der Non-Lieux im Sinne Marc Augés geworden ist, wie es bereits mehrfach von der literaturwissenschaftlichen Forschung festgehalten wurde (vgl. bspw. O’Beirne 2006): Denn während Houellebecq und Jed Martin zu Beginn ihrer Bekanntschaft noch gemeinsam die Utopie eines totalen Hypermarchés, eines echten Verbrauchermarktes, entwerfen, entlarvt der Text am Ende die Zukunftsvision des neuen Dorfes ebenfalls als eine Spielform der Non-Lieux im post-industriellen Zeitalter der nahen Zukunft. Denn durch die penetrante Überhöhung des Regionalen, des vermeintlich ›Ursprünglichen‹ und ›Wahren‹, des ›Schönen‹ und ›Natürlichen‹, das nur erhalten wird, weil es sich den Gesetzen von Angebot und Nachfrage unterwirft, entsteht erneut ein Effekt der räumlichen Gleichschaltung, der mit Überfluss zu tun hat: auch wenn es diesmal nicht die Tankstellen oder Fast-Food-Zentralen sind, die sich als Non-Lieux des Transits darstellen und ununterscheidbar ähneln, wird die Umgestaltung des Dorfes als Ort überall vorhandener Regionalschönheit problematisch und die Suche nach Authentizität das Dorf ebenso gentrifizieren wie zuvor die Viertel

12 »Ja, das Land hatte sich verändert, von Grund auf verändert. Die einheimischen Bewohner der ländlichen Gebiete waren fast alle verschwunden. Neuankömmlinge aus der Stadt mit ausgeprägtem Unternehmungsgeist und bisweilen auch gemäßigten ökologischen Überzeugungen, die sich mitunter vermarkten ließen, hatten sie abgelöst. Sie hatten es unternommen, das Hinterland zu bevölkern – und nach diversen unfruchtbaren Versuchen in früherer Zeit war dieses Unternehmen, das nun auf einer soliden Kenntnis der Marktgesetze und deren einsichtiger Hinnahme gründete, ein voller Erfolg.« (Ebd. 402)

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zahlreicher Großstädte. Denn der anthropologische Ort kann vieles sein, u.a. auch häßlich, verödet oder im Aussterben begriffen, und das Dorf läuft Gefahr zum Spielraum für eine neue Form der Dekadenz zu werden, der Dekadenz der, um zwei Modewörter mit Hochkonjunktur zu bemühen, ›nachhaltigen Entschleunigung‹. Die Suche nach Authentizität, so zeigt es LA CARTE ET LE TERRITOIRE, ist damit wieder einmal gescheitert, ob im Leben oder in der Kunst, in der Stadt oder auf dem Dorf.

L ITERATUR Augé, Marc (1992): Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la supermodernité, Paris: Seuil. O’Beirne, Emer (2006): »Navigating Non-Lieux in Contemporary Fiction: Houellebecq, Darieussecq, Echenoz, and Augé«, in: Modern Language Review 101, Issue 2, S. 388-401. Comité invisible (2007): L’insurrection qui vient, Paris: La Fabrique éditions. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1977): Rhizom, Berlin: Merve. Dorfer, Tobias (2012): »›Dörfer werden verschwinden‹«, in: http://sz.de/1.1555594 (02.02.2014). Grabow, Busso (2006): »Stadtmarketing und Regionalisierung – Herausforderungen der Zukunft«, in: Harald Pechlaner/Elisabeth Fischer/Eva-Maria Hammann (Hg.), Standortwettbewerb und Tourismus. Regionale Erfolgsstrategien, Berlin: Erich Schmidt, S. 27-38. Günzel, Stephan (2008): »Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen«, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript, S. 219-237. Houellebecq, Michel (2001): Plateforme, Paris: Flammarion. Houellebecq, Michel (2010): La carte et le territoire, Paris: Flammarion. Houellebecq, Michel (2012): Karte und Gebiet. Köln: DuMont. Huysmans, Joris-Karl (1884): À rebours. Paris: Charpentier. Luckscheiter, Christian (2013): »Wenn der SS-Mann Lindenblütentee trinkt. Oder: Über die Anstrengungen topographischen Arbeitens«, in: Marion Picker/ Véronique Maleval/Florent Gabaude (Hg.), Die Zukunft der Kartographie. Neue und nicht so neue epistemologische Krisen, Bielefeld: transcript, S. 81-92. Praschl, Peter (2010): »Hass auf Metropolen. Was ›Landlust‹-Leser mit NeoRevoluzzern verbindet«, in: http://www.welt.de/kultur/article11622356/WasLandlust-Leser-mit-Neo-Revoluzzern-verbindet.html (09.10.2013). Rühle, Alex (2010): »Das kommunale Manifest«, in: http://sz.de/1.1022188 (02.02.2014). Sennett, Richard (2008): Handwerk, Berlin: Berlin Verlag.

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Parodie und Dekonstruktion des Bergdörflichen Vea Kaisers Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam und Ursula Meiers L’enfant d’en haut M ARTINA K OPF

Eine der vielleicht wirkungsmächtigsten Beschreibungen über alpine Dorfbewohner, die Älpler, findet sich bei einem der ersten literarischen Alpinisten, Albrecht von Haller. Bei seinem Lehr- und Landschaftsgedicht DIE ALPEN (1729) handelt es sich um die »erste ernsthafte Auseinandersetzung mit der alpinen Welt« und um den »Ursprung des modernen Alpenmythos« (Charbon 2007: 56). Zu der Haller’schen Alpenlandschaft, die als Rückzugsgebiet ein friedliches und einfaches Leben in alpiner Abgeschiedenheit suggeriert, gehören auch Formen der alpinen Vergemeinschaftung. Das Bergdorf setzt sich aus ehrlichen und einfachen, aber glücklichen Bewohnern zusammen: »Wohl dir vergnügtes Volk! o danke dem Geschicke Das dir der Laster Quell den Ueberfluß versagt; Dem, den sein Stand vergnügt, dient Armuth selbst zum Glücke, […] Zwar die Natur bedeckt dein hartes Land mit Steinen, Allein dein Pflug geht durch, und deine Saat errinnt; Sie warf die Alpen auf, dich von der Welt zu zäunen, Weil sich die Menschen selbst die größten Plagen sind; Dein Trank ist reine Flut, und Milch die reichsten Speisen, Doch Lust und Hunger legt auch Eicheln Würze zu; Der Berge tiefer Schacht gibt dir nur schwirrend Eisen, Wie sehr wünscht Peru nicht, so arm zu seyn als du! Dann, wo die Freyheit herrscht, wird alle Mühe minder, Die Felsen selbst beblühmt und Boreas gelinder.« (von Haller 1959: 8f.)

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Von Haller entwirft in einem nicht zu übersehenden moralisierenden Tonfall eine literarische Ideallandschaft, in der die Älpler eine prominente Stellung einnehmen. Die einfältigen und friedlichen Alpenbewohner, »Schüler der Natur« (ebd.: 8) und ein »vergnügtes Volk« (ebd.: 28), sind zwar arm und ihre Felder karg, leben aber in Freiheit. Der Mangel an »schadenvollen Gütern« ist ein »glückseliger Verlust« (ebd.: 9), erlaubt er doch Gleichheit, »hier herrscht kein Unterschied« (ebd.: 10), und Eintracht, »[w]eil kein beglänzter Wahn euch Zweytrachtsäpfel reicht« (ebd.: 9), und letztendlich vergnügte Zufriedenheit: »Man ißt, man schläft, man liebt, und danket dem Geschicke.« (Ebd.: 10) In den Alpen lässt man sich von den Gesetzen und Zyklen der Natur leiten, die – als Gegenbegriff zur Kultur wie es später Rousseau in seinem DISKURS ÜBER DIE UNGLEICHHEIT formulierte – unter anderem für natürliche Vernunft sorgen, freie Liebe ermöglichen, »[m]an liebet für sich selbst, und nicht für seine Väter« (ebd.: 12), und vor Alkoholkonsum bewahren: »[k]ein nöthiges Getränk, ein Gift verlieret ihr« (ebd.: 16). Die Alpenbewohner als »edle Wilde« stehen im Gegensatz zu den Bewohnern einer geschäftigen, verdorbenen Welt und repräsentieren geradezu die alpine Landschaft, denn ihre moralische Reinheit steht in Wechselwirkung zur alpinen Ästhetik. Die Alpen können somit für den von Modernisierungs-, Industrialisierungs- und Urbanisierungstendenzen gebeutelten Menschen des 18. Jahrhunderts als Gegenentwurf zu einer Welt der Geschäfte und Betriebsamkeit interpretiert werden. Auf die Alpen werden aber auch gesellschaftspolitische Utopien projiziert, die sich an etwas vermeintlich Vergangenem, der Idylle, orientieren. Die Berge erscheinen als Schutzwall unberührt von geschichtlicher Entwicklung und stellen zugleich in der Tradition eines für das 18. Jahrhundert durchaus kennzeichnenden Republikanismus (Naumann 1976: 227ff.; 267f.) einen Sitz der Freiheit dar: »Wie Tell mit kühnem Muth das harte Joch zertretten / Das Joch, das heute noch Europens Hälfte trägt« (von Haller 1959: 19). Natürlich handelt es sich um den Blick eines Nicht-Älplers: Die Alpen inklusive ihrer Bewohner erweisen sich als eine fremdgenerierte Landschaft.1 Erst für den Nicht-Älpler wird der Alpenraum zu einem Ort der Kompensation, einem verlorenen Paradies, einer Idylle, einem Ort der Ruhe, Freiheit und Einheit – inklusive einer gelungenen, überschaubaren Gemeinschaft bestehend aus moralisch vortrefflichen Individuen. Bedeutend ist von Hallers topographischer Entwurf, die Dichotomie eines »Oben« und »Unten«. Erst von unten entsteht ein »Oben«, das als Gegenort hilft, das »Unten« zu verorten und zu bestimmen. Der Soziologe Roland Robertson hat versucht mit dem Begriff Glokalisierung auf den Umstand hinzuweisen, dass Globalisierung und lokale Orientierungen in ihren konkreten Erscheinungsformen jeweils in spezifischen Verschränkungen vorkommen. Der weltweit anwachsende Diskurs über »das Lokale«, »die Gemeinschaft« und »die Heimat« lässt

1

Zur Entstehung fremdgenerierter Alpenbilder vgl. zum Beispiel Stremlow (1998).

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sich demnach auch darauf zurückführen, dass der Sinn für »Heimat« und »Lokalität« offensichtlich mit einer globalen Erfahrung korreliert, das weltweit anzutreffende Gefühl oder die Selbstwahrnehmung von »Entfremdung«2 eine Vorstellung von »Heimat« und »Lokalität« (vgl. Robertson 1998: 215) transportiert, wenn nicht gar verstärkt, von deren Überwindung bzw. Verlust sie zugleich ihren Ausgang nimmt. Das traditionelle Alpenbild von Haller zeigt also, dass das neue Interesse am alpinen Dörflichen ein altes Interesse ist, das, fest im kulturellen Gedächtnis verankert, in verschiedenen Konfigurationen auftritt, Konjunkturen erlebt und – wie die zwei folgenden Beispiele zeigen – auch in aktuellen literarischen Texten und Filmen durchaus noch lebendig ist.

R E - UND D EKONSTRUKTION DES B ERGDÖRFLICHEN Die Beschreibung eines gemeinsamen Lebens im Gebirge stellt vor diesem Hintergrund einen besonderen Fall der Wiederkehr des Dörflichen in Literatur und Film im 21. Jahrhundert dar, wobei die für das Dorf charakteristische Isolation durch die topographische Lage – die Alpen als Schutzwall und Grenze – verstärkt wird. 2012 erschien zum einen der Debütroman der Österreicherin Vea Kaiser BLASMUSIKPOP (2012) und zum anderen der mit einem Silbernen Bären ausgezeichnete Film der Schweizer Autorenfilmerin Ursula Meier L’ENFANT D’EN HAUT (2012, dt. WINTERDIEB). Während es sich bei BLASMUSIKPOP um einen neuen Heimatroman in den Bergen mit starkem Lokalkolorit und der Beschreibung einer alpinen Dorfgemeinde und ihrer Geschichte handelt, ist L’ENFANT D’EN HAUT ein Anti-Dorffilm, ein AntiHeimatfilm und ein Anti-Bergfilm. Damit schließt sich der Film einem Trend innerhalb des zeitgenössischen Filmschaffens an, die Alpen als anti-idyllischen Ort zu inszenieren.3 Bereits die erste Szene des Films zeigt kein Alpenpanorama, sondern spielt provokanterweise auf der Toilette eines Bergrestaurants. »Die Berge«, erklärt die Regisseurin Ursula Meier, »sind immer auch eine Sackgasse.« (Keller 2012). Als »Retro-Trend« (Löffler 2012) hat die Literaturkritik die Wiederkehr des Dorfes, der Provinz und der Heimat in der Literatur beschrieben. Interessant ist dabei, dass es häufig junge Autoren und Autorinnen sind, die das Dörfliche literarisch verarbeiten. So auch die 1988 in einem niederösterreichischen Dorf in den Alpen geborene Vea Kaiser. Ihre Herkunft und ihre Erfahrungen mit dem Dörflichen be-

2 3

Zur Aktualität des Entfremdungsbegriffs vgl. Jaeggi (2005). Vgl. zum Beispiel den Schweizer Erfolgsfilm DER VERDINGBUB (2011) von Markus Imboden oder das Drama BERGMANNSKIND/MATEI COPIL MINER (2011) der rumänischen Regisseurin Alexandra Gulea.

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tont sie gerne mit Nachdruck,4 zugleich distanziert sie sich aber auch von ihrem Dorf. Deutlich wird das Anliegen der Autorin, sowohl über einen Blick »von innen« als auch dank der Abkehr von ihrer Heimat und dem Studium in der Stadt über eine externe Perspektive zu verfügen. Einerseits Dörflerin, hat sie dem Dorf andererseits den Rücken gekehrt. Ursprünglich wollte Vea Kaiser einen Poproman schreiben, also »einen Roman, der sich intensiv mit der Gegenwart bzw. mit der Welt beschäftigt« und der für die Protagonisten zentrale Themen wie Blasmusik, Feuerwehr, Fußball und Dorffeste aufgreifen sollte.5 Das Dörflich-Populäre reiht sich hier also in den »Retro-Trend« gegenwärtiger Unterhaltungskulturen ein. Im Mittelpunkt von BLASMUSIKPOP steht das fiktive österreichische Alpendorf St. Peter am Anger. Der Roman weist eine Zeitspanne von den späten 50er Jahren bis ca. 2010 auf. Er beginnt mit einem bandwurmgeplagten Dörfler, Johannes Gerlitzen, der – als erster Dorfbewohner überhaupt – in den 1960er Jahren beschließt, das Dorf der wissenschaftlichen Erforschung parasitärer Würmer wegen zu verlassen, eine ärztliche Ausbildung in der Hauptstadt erwirbt und schließlich als Bergdoktor ins Dorf zurückzukehrt. Sein ebenso bildungswütiger Enkel, Johannes A. Irrwein, setzt in späteren Jahren dagegen die Tradition des häufig für die Dorfgemeinschaft nicht wegzudenkenden Außenseiters oder Sonderlings fort.6 Er hebt sich von der Zivilisations- und Bildungsfeindlichkeit der Dörfler ab, weigert sich in den Fußballverein einzutreten, »hasste nichts so sehr, wie die Meinung der Dorfbewohner zu teilen« (Kaiser 2012: 322) und findet nur im Dorfpfarrer, »einem lesenden Menschen« (ebd.: 186), einen Gleichgesinnten. Johannes verlässt das Dorf ebenfalls zu Gunsten des Wissenserwerbs, um das Gymnasium zu besuchen, kehrt aber letztendlich ins Dorf zurück, um als Historiograph die Geschichte der »Bergbarbaren« von den Ursprüngen bis zur Gegenwart festzuhalten. Auf die historische bzw. narrative »Konstruiertheit« des Dörflichen wird also im Roman verwiesen, aber auch bereits vorab und zwar in Form eines vorangestellten Zitats aus Herman Melvilles MOBY DICK, das den Wahrheitsgehalt von Konstruiertheit betont: »It is not down in any map; / true places never are.« Der Roman reiht sich damit zugleich in die Tradition der Dorfgeschichte ein, bricht jedoch mit der österreichischen Tradition, das

4

Vea Kaiser im Interview mit Denis Scheck: www.daserste.de/information/wissen-kultur/ druckfrisch/sendung/2012/vea-kaiser-blasmusikpop-100.html (26.08.2013).

5

Siehe dazu das Porträt von Vea Kaiser des Verlags Kiepenheuer & Witsch: www.youtube.com/watch?v=3JPdbOm-uPs (14.08.2013).

6

Ohne eine Außenseiterfigur scheint das literarische Bergdorf nur selten auszukommen. Beispiele hierfür sind die Romane des österreichischen Autors Norbert Gstrein wie EINE AHNUNG VOM ANFANG (2013). Bereits in seinem Debüt EINER (1988) geht es um die Außenseiter-Frage.

P ARODIE UND D EKONSTRUKTION

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Dorf als Hassobjekt im Bernhard’schen Sinne darzustellen.7 In BLASMUSIKPOP lassen sich dazu die grundlegenden Charakteristika der Dorfgeschichte (vgl. dazu Spies 2009, Seidenspinner 1997, von Wilpert 1989, Baur 1978) wiederfinden: Bodenständigkeit, ländliche Behaglichkeit, Langsamkeit des Denkens und Fühlens, starkes Lokalkolorit, Verwendung der Mundart bis hin zu einer oralisierten Schriftlichkeit, Zivilisationskritik an der Stadtbevölkerung und der implizite Vergleich bzw. Gegensatz von Stadt und Land. Allerdings mit einem gravierenden Unterschied: Der ernsthafte Realismus der traditionellen Dorfgeschichte weicht einer ironischen Behandlung des Dörflichen. Zugleich Familien-, Heimat- sowie Dorfgeschichte und Bildungsroman verfügt der Text über zwei Erzählstränge: Zum einen die Aufzeichnungen und Reflexionen des schreibenden Dörflers Johannes über das Dorf, die Dorfgemeinschaft und ihre Tradition, in und mit denen er eine betont externe – wissenschaftliche – Perspektive einzunehmen strebt und sich somit (wie auch die Autorin Vea Kaiser) vom Dörflichen zu distanzieren sucht. Zum anderen die Reprise einer herkömmlichen Dorfgeschichte aus einer auktorialen, ironischdistanzierten und stellenweise von Hyperbeln strotzenden Erzählhaltung. BLASMUSIKPOP liest sich dabei in dieser doppelten Sichtweise vor allem als Parodie auf das Bergdörfliche und seine Bewohner. In Ursula Meiers Film L’ENFANT D’EN HAUT isolieren die Berge zwar auch in einem herkömmlichen Sinne, doch die Struktur des Dörflichen ist nur noch rudimentär vorhanden oder befindet sich in einem Auflösungsprozess. Das Bergdorf wird auf einen Hochhausturm in einem namenlosen Tal in den Schweizer Alpen reduziert, in dem der zwölfjährige Simon mit seiner Schwester Louise lebt. Da Louise nur sporadisch arbeitet, verdient Simon ihren gemeinsamen Lebensunterhalt, indem er täglich mit der Seilbahn auf den Berg fährt, die Skiausrüstung von Touristen klaut und sie anschließend verkauft. Der Film thematisiert nicht nur das durch einen Mangel an Liebe geprägte problematische Verhältnis zwischen Simon und Louise, sondern darüber hinaus finanzielle Probleme und die Kluft zwischen Arm und Reich. Zu einer Re-Konstruktion des Dörflichen wie in BLASMUSIKPOP kommt es nicht, vielmehr arbeitet der Film kontrastierend an einer Dekonstruktion des Dörflichen. Trotzdem kann die Schablone »Dorf« gemeinsam mit der Methode des intermedialen Vergleichs produktiv als Instrument für die Bestimmung dieses Dorfes als eines »Nicht-Ortes« herangezogen werden.

7

Man denke zum Beispiel an Thomas Bernhards FROST (1963), an Robert Schneiders SCHLAFES BRUDER (1992) oder an Elfriede Jelineks DIE KINDER DER TOTEN (1995).

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T OPOGRAPHIE

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B ERGDORFS : O BEN VERSUS U NTEN

Die topographische Dimension des Dorfes in ihren sozialen Auslegungen hat bereits René König betont, indem er die »lokale Bindung sozialen Lebens« (König 1958: 14) im Hinblick auf die Gemeinde bestimmt hat. Die Struktur des Dorfs ist »stark von geschichtl[ich] gewachsenen traditionalen Lebensformen bestimmt«, die häufig eine »Statik der sozialen Struktur« (Hillmann 2007: 159) aufweisen. Das Dorf ist also weniger von sozialen Veränderungsprozessen betroffen als die Stadt, in welcher zum Beispiel Migration oder Gentrifizierung für soziale Dynamik sorgen. Häufig mit dem Land und einer ländlich-agrarischen Bevölkerung (ebd.) gleichgesetzt, wird das Dorf in einen Gegensatz zur Stadt gestellt. Beim Bergdorf wird diese Dichotomie dank seiner topographischen Sonderstellung – auf dem Berg, am Berg, in den Bergen oder im Bergtal – noch einmal verstärkt. Der klassische Stadt-Land-Gegensatz wird – dies zeigt das Beispiel von Haller deutlich – durch die Lagerung des Dorfes in den Bergen um eine vertikale Ebene, eine Dichotomie von oben und unten, erweitert. Unstimmigkeiten zwischen dem Dörflichen und allem, was davon abweicht, sind freilich unvermeidbar, da sich die Dorfgemeinschaft allzu häufig gegenüber Veränderungen und Andersartigkeit resistent zeigt, an Traditionen festhält und sich hermetisch abriegelt. Schon aufgrund dieser hermetischen Abgeschlossenheit ist das Dorf kein Ort des Fortschritts oder der Wissenschaft, hier setzt sich alles verzögert durch. Die Dörfler werden vor diesem Hintergrund oft als obligate Stumpfsinnige oder Hinterwäldlerische inszeniert. Wie bedeutsam die topographische Lage und Struktur für Kaisers Dorfroman ist, wird bereits vor dem Beginn der Erzählung des Romans klar: Am Anfang des Buches findet sich ein skizzenartiger Dorfplan. Die Autorin hat dazu erklärt, dass es ihr darum ging, ein eigenes Dorf – einem »Legodorf« gleich – aus Bausteinen zusammenzusetzen.8 Der Dorfplan weist in seiner naiven Überschaubarkeit eine dorftypische Anordnung auf: Um den zentralen Dorfplatz positionieren sich Kirche, Wirtshaus, Café, Fußballplatz, ein Bürgerzentrum mit Mehrzweckhalle, eine Volksschule und ein Feuerwehr-Gebäude als die markanten Orte des dörflichen Alltagsgeschehens. Mit diesem Unternehmen widerspricht die Autorin also dem eingangs erwähnten Zitat aus MOBY DICK: Das Dorf lässt sich zwar in einem Plan verorten, doch zu einem »wahren Ort« wird es deswegen noch lange nicht.

8

Vgl. Vea Kaiser im Interview mit Denis Scheck: www.daserste.de/information/wissenkultur/druckfrisch/sendung/2012/vea-kaiser-blasmusikpop-100.html (26.08.2013).

P ARODIE UND D EKONSTRUKTION

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B ERGDÖRFLICHEN | 393

Abbildung 21: Der Dorfplan

Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln.

Hinzu kommt die Einbettung des Dorfs in eine Alpenlandschaft: Bereits der Name des Bergdorfs verweist auf seine topographische Lage: St. Peter am Anger demonstriert die Zugehörigkeit des Dorfs zu einem Berg, dem Anger, der grundlegend für dessen Existenz ist, wie es bereits der Dorf-Historiograph Johannes A. Irrwein in seinen Aufzeichnungen festhält: »Am Anfang war ein Berg, und viele stritten darüber, ob diese 1221 Meter überhaupt ein Berg seien oder nur ein Ausläufer des Großen Sporzer Gletschers. […] Zwar steigt der Angerberg vom Lenker Tal aus steil an, doch ab dem tausendsten Meter flacht er ab, ehe er auf 1221 m in ein waagerechtes Plateau mündet, so, als wäre der letzte Schliff des Schöpfers am Angerberg ein Hieb mit einer dorfplatzgroßen Bratpfanne gewesen. […] Auf diesem Plateau nun befindet sich ein Dorf mit dem Namen St. Peter am Anger, bewohnt von einer eigentümlichen Menschenspezies« (Kaiser 2012: 9).

Die Berge dienen hier nicht nur als Kulisse, sondern greifen ins Geschehen ein. Die Naturgewalt der Berge versiegt auch im Bergdorf des 21. Jahrhunderts nicht:

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Johannes’ Großvater, der Dorfarzt Johannes Gerlitzen, kommt bei seinem Einsatz bei einem Bergrutsch durch eine Schlammlawine ums Leben. Stellenweise werden die Berge darüber hinaus nicht nur mythisiert, sondern erhalten sogar organische Qualitäten wie sie Johannes anhand der überhängenden Felsmauern beobachtet: »Wie Adern durchzogen feine Quarzstreifen den dunklen Stein, auf dem an einzelnen Stellen Moose und Farne wuchsen. Johannes konnte verstehen, warum behauptet wurde, die Berge lebten. Die Straße war dem Anger regelrecht abgekämpft worden« (ebd.: 265).

Auch die Beschreibung von Flora und Fauna der Alpen ist geprägt durch das Lokalkolorit des Alpendorfs. Die Adlitzbeere, eine Frucht aus der Gattung der Mehlbeeren, ist eine regionale Spezialität. Aus ihr werden Schnaps und Marmelade gewonnen und sie gilt als »eine der begehrtesten und seltensten Heilpflanzen gegen unzählige Krankheiten« (ebd.: 312). Nicht nur diese Beere macht St. Peter am Anger zu einem positiv besetzten Ort mit gesundheitsfördernden Pflanzen und Kureffekt, auch der Verkauf von Fledermauskot als »Wunderdünger an eine Gärtnerei im Tal« (ebd.: 294) demonstriert die Sehnsucht der Menschen im Tal nach einem heilenden Ort, dessen Produkte auch im Tal ihre Wirkung entfalten können. Umgekehrt scheinen sich die Älpler dieser Erwartungen und des Bedarfs bewusst, so dass sie auf die Bedürfnisse im Tal mit einer Marketingstrategie reagieren. Besonders das Wechselspiel zwischen Alpenlandschaft und Kultur lässt sich, wie die Dörfler wissen, gut vermarkten. Bei einem Fußballspiel gegen den FC St. Pauli werden regionale Mehlspeisen angeboten, von »dem schmackhaft-alpinen Originalklang« erhofft man sich »einen verkaufsfördernden Effekt«. (Ebd.: 451) Hinzu kommt ein seit Rousseau »von unten« bzw. außerhalb generierter traditioneller literarischer und kultureller Topos, die Bergluft, die Johannes erst durch seinen Kontakt mit dem Nicht-Dörflichen und nach seiner Rückkehr nach St. Peter am Anger als »frisch, klar und rein« (ebd.: 262) wahrnehmen kann. Das für das Bergdorf St. Peter am Anger charakteristische Lokale, also die Alpenlandschaft inklusive ihrer kulinarischen Produkte, wird erst durch die Gegenüberstellung mit dem Nicht-Lokalen und in den Erwartungen von Außen beschreibbar. So schlussfolgert Johannes in seiner Geschichtsschreibung: »Aber die Bergbarbaren waren nun mal in ihren Wesen dem Fremden abgeneigt, sie blieben gerne unter sich und schätzten ihre Stille. Zumindest so lange, bis sich ihnen offenbarte, daß das Fremde auch seine Vorzüge haben kann – denn meist ist es so, wie ich schlußfolgern möchte, daß gerade die Begegnung mit dem Fremden viel über das Eigene klarwerden läßt.« (Ebd.: 462)

L’ENFANT D’EN HAUT fokussiert ebenso diese Dichotomie von oben und unten, bricht aber mit der klassischen im Haller’schen Sinne: Simon und Louise leben in

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einem namenlosen Tal in den Alpen, in einer Art Industriezone, deren Darstellung sich auf einen Hochhausturm an einer Schnellstraße beschränkt. Der Ort grenzt sich von einem »Oben« ab, einem Skigebiet der Alpen, das für Touristen reserviert ist. Fraglich ist, ob die Schnellstraße weiter hinabführt, so dass es sich zunächst um einen Ort zwischen Berg und Tal handelt, also einen Durchgangsort, der weder oben noch unten liegt und schwerlich zu verorten ist. Letztendlich handelt es sich um einen Nicht-Ort im Augé’schen Sinne, ein »Unten«, das nicht mehr benannt werden kann und vielmehr eine Mitte, eine Art Transitraum, darstellt, dem möglicherweise ein weiteres »Unten« noch folgt. Dieser so konstituierte Nicht-Ort ist strukturlos, da er sämtlicher dorfstrukturierender, traditioneller Instanzen wie Marktplatz, Wirtshaus, Feuerwehr und Kirche beraubt ist. Der Hochhausturm als grotesker »Hort der Heimat«, an den Simon regelmäßig nach seinen Ausflügen auf den Berg zurückkehrt, ist damit ins Zentrum gerückt und wirkt in der Alpenkulisse dank eines traditionell geprägten Alpenbildes, das die Alpen als ungetrübten Naturraum in Kontrast zu Formen der Zivilisation setzt, fehl am Platz. Die Kamera, die diesen monströsen Turm immer wieder umkreist und so in der Alpenlandschaft verortet, zeigt ihn auf gleicher Höhe mit den Bergen (Meier 2012: 24:30). Ein Zeichen also für den Triumph der Zivilisation über die Natur. Obwohl sich die Bewohner des Hochhausturms ein gemeinsames Dach teilen, finden Formen der Vergemeinschaftung nicht statt. Die Protagonisten leben isoliert und haben kaum Kontakt zu den Nachbarn. Es kommt zu einem Bruch mit dem kulturell geteilten und von unten generierten herkömmlichen Alpenbild: Die Alpen als Ort sozialer Isolation und finanzieller Not, als Nicht-Heimat und trostlose Industrielandschaft frappieren den Zuschauer immer noch, auch wenn sie bereits vor Jahrzehnten von Bernhard, Jelinek und Co. ihrer Idylle beraubt wurden. Sowohl in BLASMUSIKPOP als auch in L’ENFANT D’EN HAUT gestaltet sich die Dichotomie von oben und unten vor allem dank der Bewohner und der ihnen zugeschriebenen ortsspezifischen Eigenschaften: Als »zivilisierte Freunde« schreibt Johannes seine Briefpartner in der Stadt an und bezeichnet seine Dorfgenossen im Gegenzug und in ähnlich ironischem Unterton als »Bergbarbaren« (Kaiser 2012: 354). Damit knüpft er an sein Vorbild Herodot9 an. Das Wort »Barbare« stamme aus dem Altgriechischen und sei nicht abwertend gemeint, stellt Johannes in seinen Aufzeichnungen fest, »sondern bloß eine Sammelbezeichnung für jene Völker […], die fremd, eigentümlich und des Griechischen (sowie der aus Hellas übernomme-

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Im Interview erklärt Vea Kaiser, dass Herodot Johannes das »Werkzeug« gegeben habe, um die Bergbarbaren und ihre bzw. auch seine Kultur beschreiben zu können. Siehe Vea Kaiser im Interview mit Denis Scheck: www.daserste.de/information/wissen-kultur/ druckfrisch/sendung/2012/vea-kaiser-blasmusikpop-100.html (26.08.2013).

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nen Zivilisation) unkundig sind.« (Ebd.: 9) Weniger die Abwertung als vielmehr die fremd und selbst inszenierte Einzigartigkeit und Andersartigkeit der Bergdörfler soll dieser Begriff also gezielt zum Ausdruck bringen. Das Bergdorf funktioniert in BLASMUSIKPOP dabei noch immer auch als Gegenentwurf zu einem »Unten«. Die Alpen scheinen die Dörfler regelrecht physiognomisch zu formen: »Bedingt durch die abgeschottene Berglage war der Wuchs der Frauen relativ gleich; breite Hüften, großer Busen, Tendenz zum Molligen – solcher Statur war die Trachtenmode nicht feindlich.« (Ebd.: 294) Die »Bergbarbaren« scheuen den Kontakt zu den »Fremden« von unten seit jeher. Das Misstrauen und die Angst vor den Fremden spiegeln sich zum Beispiel in der Verweigerung von Hilfe bei Bergbesteigungen. Johannes notiert: »Die Dorfbewohner mochten es gar nicht, wenn Fremde aus dem Flachland in ihrer Nähe waren, und so fühlte sich niemand bemüßigt, ihnen Ratschläge oder gar Hilfe für die Besteigung anzubieten. Wenn einer den Weg nicht kannte, hatte er dort, wo er hinwollte, nichts verloren.« (Ebd.: 20)

Stereotype Fremdbilder kommen dabei zum Einsatz. Nicht-Dörfler sind für die Bergbarbaren »faul, lustlos und unnötig arrogant« (ebd.: 217). Diese Vorurteile findet Johannes’ Mutter nach der Begegnung mit einer »Talfrau« (ebd.: 217) bestätigt. In der Sprache der Bergbarbaren sind Besucher aus der Hauptstadt »Hochg’schissene« (ebd.: 327). Bildung und Wissenschaft finden im Dorf keinen Platz und sind für den Städter reserviert, der somit auch Modernisierung und Fortschritt verkörpert. Skeptisch zeigt sich der »Bergbarbar« den Städtern gegenüber, da das »Unten« als Inbegriff von Zivilisation und Modernisierung die Gefahr eines Bruchs mit Traditionen birgt. Wissenschaft im Dorf wird erst durch den Abstieg ins Tal von Johannes Gerlitzen und seinen Aufenthalt und sein Studium in der Stadt möglich. Als ausgebildeter Arzt kehrt er nach St. Peter am Anger zurück, wird zum Bergdoktor und bringt die Wissenschaft, wie es bereits im Untertitel von BLASMUSIKPOP heißt, in die Berge: »Er wollte nicht länger in St. Peter bleiben, Bäume fällen, Statuen schnitzen, im Wirtshaus sitzen oder Schneehühner braten, er wollte erforschen, ob Schneehühner Würmer hatten.« (Ebd.: 26) Johannes entgeht so auch einem rigoros vorgezeichneten Lebensweg. Auch der junge Johannes muss sich den Wissenserwerb, den Besuch des in einem anderen Ort gelegenen Gymnasiums regelrecht erkämpfen, denn in St. Peter scheinen nicht nur Bildungsfeindlichkeit und -unwille zu herrschen, vielmehr sogar Einigkeit über die eigene Bestimmung zum nicht-denkenden Menschen. Dem entsprechend wählt der St. Petrianer Opa Rossbrand bewusst die erste Person Plural, wenn er Johannes in der St. Petrianer Mundart erklärt: »[W]ir Menschen aus St. Peter ham andre Stärkn, wir sand olle kane Kopfmenschn« (ebd.: 278).

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Einerseits erweisen sich Dorfkultur und Dörfler bewusst resistent gegen den das Eigene bedrohenden Einfluss des Fremden, andererseits ermöglicht erst dieser Kontakt mit der Andersartigkeit der »Anderen«, den einzigartigen Charakter des Dorfs zum Vorschein zu bringen. Anlässlich des Fußballspiels gegen den FC St. Pauli – vielleicht eine ironische Anspielung auf die Apostellfürsten St. Peter und St. Paul – werden Fremd- und Selbstbilder gezielt eingesetzt, bestätigt, aber auch negiert. So fragen sich die St. Paulianer, »wo die Kühe mit läutenden Glocken, gutmütigen Alm-Öhis mit weißem Bart und blonden Sennerinnen mit langen Zöpfen geblieben waren.« (Ebd.: 456) Stellenweise kommt es durch diesen Kontakt zwischen oben und unten zu einer produktiven Symbiose, wie eine anlässlich des Fußballspiels entwickelte kulinarische Spezialität demonstriert: Der »McPeter«, »ein Fleischlaberl (Verschiertes, Zwiebel, Ei, Petersilie), das mit der bei Tupperwarepartys beliebten Cocktailsauce und einem Salatblatt garniert zwischen Boden und Deckel einer Semmel serviert wurde« (ebd.: 424), vereint dörfliche Eigenart mit globalisiertem Fast-Food. Erst der Kontakt zur Welt außerhalb des Dorfs erlaubt ein Reflektieren über die Eigenarten des Dorfes wie der schreibende Dörfler Johannes, der neben einer internen Perspektive zugleich eine distanzierte Position als NichtDörfler, als klassischer Außenseiter und als ethnographischer Beobachter in der Nachfolge Herodots einnimmt10, zeigt. In L’ENFANT D’EN HAUT verwandelt sich Simon von einem »l’enfant d’en bas«, einem »Kind von unten«, zu einem »l’enfant d’en haut«, einem »Kind von oben«. Simon erhebt sich bei seiner Fahrt mit der Seilbahn ins Skigebiet nicht nur physisch, sondern auch sozial. Er dringt in das Skiparadies »oben« ein, das im Unterschied zur trostlosen Industriezone und der finanziell prekären Situation Simons und Louises »unten« in luxuriösem Glanz erstrahlt. Simon passt sich der Welt oben optisch durch seine Skiausrüstung an und wird somit Teil einer durchlässigen Gemeinschaft, zu der allerdings nur Eingeweihte mit einem teuren Skipass Zugang finden. In diesen Szenen übernimmt Simon den Habitus dieser »globalen BergCommunity«. Er sucht den Kontakt zu Touristen, erklärt sich als Sohn von geschäftstüchtigen Hotelbesitzern und begründet mit deren Geschäftigkeit auch seinen

10 Die Rolle des Außenseiters im Dorf ist häufig gekoppelt an die Eigenschaft des Bildungshungrigen wie zum Beispiel im neuen Dorffilm von Edgar Reitz DIE ANDERE HEIMAT (2013) oder an die Figur des verkannten Genies wie in Robert Schneiders SCHLAFES BRUDER (1992). Auch in Michael Hanekes Film DAS WEISSE BAND – EINE DEUTSCHE

KINDERGESCHICHTE (2009) ist der erzählende Lehrer ein doppelt Wissender:

Erstens in seiner Funktion als Lehrer und zweitens als wissender Erzähler. Er scheint nicht nur die Ursache der mysteriösen Vorfälle im Dorf zu kennen, sondern durch seine Funktion als Erzähler auch nach außen zu tragen. Durch den erzählenden Wissenden kommt es also zu einer Öffnung der hermetisch abgeriegelten Dorfgemeinschaft.

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Alleingang ins Skigebiet (Meier 2012: 39:00). Mit einem Touristen spricht er über das Wetter, den Schnee, »did you enjoy the snow today? « (ebd.: 43:36), und die Magie der Schneewelt, »can you feel the magic of powder?« (Ebd.: 43:48) Er räkelt sich auf einem mit Fell ausgeschlagenem Stuhl in der Sonne bei klassischer Musik aus dem Lautsprecher und bestellt sich ein Menü, das gerade nicht aus regionalen Spezialitäten besteht, sondern aus globalem Fastfood, ein weiteres Indiz für den Nicht-Ort »Oben«. Damit bricht er zugleich mit einer sozialen Barriere. Als Dieb ist Simon letztendlich nur deshalb erfolgreich, weil das »Oben« einen der letzten »Orte des Vertrauens« darstellt.11 Der Skipass setzt schließlich eine gewisse finanzielle Sicherheit voraus. In einer symbolischen Landschaft, die sich mit der simplen Formel oben = reich und unten = arm, beschreiben lässt, symbolisiert der Skilift eine mögliche Verbindung und den hoffnungsvollen Aufstieg, bietet auch dem Eindringling einen Zugang. Dieser Aufstieg glückt allerdings nur für Momente und ist nicht von Dauer. Spätestens wenn die Skisaison vorbei ist, löst sich die Welt der Reichen mit der Abreise der Touristen auf. Das »Oben« ist hier also auch ein temporär exklusiver Ort. Zum Ende der Skisaison, mit dem Tauen des Schnees, verwandelt dieser sich in eine trostlose Einöde. Wie schwer es Simon fällt, den Verlust dieses Paradieses zu akzeptieren, zeigt sein verzweifelter »Rettungsversuch« auf den Berg: Einsam verbringt er dort die Nacht und begibt sich erst bei Sonnenaufgang ins Tal. Interessanterweise wird das »Oben« an dieser Stelle zu einem Paradies, das sich von dem Haller’schen Ideal unterscheidet: Paradiesisch ist für Simon nicht das »Oben« als zivilisationsfreier Ort, sondern als Welt der Reichen samt Luxusgüter und Habitus. Die Einsamkeit Simons am Ende der Skisaison auf dem Berg läutet dann auch seinen Abstieg ins Tal ein. Aber der Blick Simons bleibt, wie der Blick Albrecht von Hallers, ein externer aus der Perspektive eines Fremden. Trotz der Bereicherung durch die gestohlenen materiellen Güter (Skiausrüstungen und Rücksäcke) kann es gerade nicht zu einer Integration in die »globale BergCommunity« des »Oben« kommen, diese bleibt für ihn dauerhaft hermetisch verschlossen. Lediglich phasenweise kann sich Simon als ein »Kind von oben« (»l’enfant d’en haut«) inszenieren, letztlich ist er aber zum »Kind von unten« (»l’enfant d’en bas«) verdammt. Doch auch das »Unten« ist kein gemeinschaftsfördernder Ort. Simon wird auch hier nicht Teil einer Gemeinschaft. Die von Simon hinausgezögerte Fahrt am Ende der Skisaison ist ebenso wenig eine Heimkehr, da das Heim, der Hochhausturm, örtlich zwar noch vorhanden ist, sich in sozialer Hinsicht aber aufgelöst hat.

11 Vgl. das Interview mit Ursula Meier auf www.art-tv.ch/9134-0-Interview-Ursula-Meier (24.02.2014).

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ALPINE G EMEINSCHAFTEN : F AMILIENGESCHICHTEN Traditionell stellt das Bergdorf eine soziale Einheit dar, die sich meistens in Familien und verschiedene Generationen unterteilen lässt. Auch die Erzählungen über das Dorf erscheinen häufig im Gewand von Familien- oder Generationengeschichten. Die Dörfler stellen dabei die »inneren Kräfte« eines Dorfes dar (Henkel 2005: 41) und verfügen als soziale Einheit über ein verbindliches Normensystem, das einerseits für Zusammengehörigkeit, Verhaltenssicherheit und Identität sorgt, andererseits die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten aber auch begrenzt (Hillmann 2007: 160). Sowohl BLASMUSIKPOP als auch L’ENFANT D’EN HAUT sind Familiengeschichten, die von problematischen familiären Verhältnissen oder zerstörten Familien handeln. So muss Johannes Gerlitzen, Johannes A. Irrweins Großvater, feststellen, dass seine Tochter die Tochter eines Anderen ist. Daraufhin verlässt er St. Peter um »hinaus in die Welt« (Kaiser 2012: 27) zu gehen und Medizin zu studieren: »Noch nie war jemand aus St. Peter am Anger weggegangen, schon gar nicht in die Hauptstadt, schon gar nicht, um Doktor zu werden.« (Ebd.: 27) Nach seiner Rückkehr lebt Johannes Gerlitzen mit seinem Schwiegersohn Alois in ewiger Feindschaft, und auch das Verhältnis des jungen Johannes zu seinen Eltern, die seinen Bildungshunger nicht nachvollziehen können, ist schwierig. Trotzdem stellt St. Peter für ihn eine Heimat dar. Eine Heimkehr ist im Unterschied zu L’ENFANT D’EN HAUT noch möglich: »Johannes Gerlitzen beschloss, nach Hause zu kommen. Er war ein Bürger des Dorfes, er war Arzt, er war Ehemann, er war Vater. S’is halt so.« (Ebd.: 55, Hervorhebung im Original) Die Zugehörigkeit zum Dorf lässt sich also nicht abschütteln, sondern erweist sich als beständiges Merkmal des Dörflers. Prinzipiell lässt das Dorf dank der ausgeprägten gemeinschaftsfördernden Struktur kaum Platz für individuelle Entfaltungen. Häufig zeigt es sich »als ein das Individuum fast restlos einbindendes System von Arbeiten und Pflichten« (Spies 2009: 140). Die Figur des Außenseiters verweigert sich allerdings diesem System in ihrem Non-Konformismus. Durch die beiden Außenseiter, Johannes Gerlitzen und Johannes A. Irrwein, werden allerdings temporäre Brüche mit den Konventionen auf familiärer Ebene und mit der Ordnung des Dorfes erkennbar. Während aber die Protagonisten in BLASMUSIKPOP an ein vorhandenes Dorf gebunden sind, das Dorf außerdem eine eigene Chronik hat und eine Generationengeschichte – von der Jugend des Großvaters Johannes bis zur Adoleszenz seines Neffen Johannes – erzählt wird, gibt es diese Zugehörigkeit in L’ENFANT D’EN HAUT nicht. Über Simons und Louises Vergangenheit, ihre Herkunft und ihre Familie erfährt der Zuschauer nichts. Ebenso bleibt unklar, warum der Hochhausturm ihr zu Hause wurde. Eine lebens- bzw. familiengeschichtliche Verbindung mit einem Ort wie in BLASMUSIKPOP besteht also nicht. Ein dorftypischer sozialer Zusammenhalt, aber auch eine damit einhergehende soziale Kontrolle, bleibt ebenso aus. Die Ge-

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meinschaft zu zweit wird darüber hinaus phasenweise zerstört, da Louise regelmäßig und oft tagelang aus dem Hochhausturm flüchtet, zu einem Liebhaber ins Auto steigt und mit einem blauen Auge zurückkehrt. Letztendlich stellt sich heraus, dass Louise Simons Mutter ist und ihn als ihren Bruder ausgibt. Diese Tatsache dramatisiert das bereits problematische Verhältnis der Protagonisten, indem die klassischen Rollen vertauscht werden. Louise versagt in ihrer Funktion als Mutter, denn schließlich ist es Simon, der für den gemeinsamen Lebensunterhalt sorgt, »gut organisiert ist« (vgl. Meier 2012: 32:11) und sogar versucht Louise zu kontrollieren. In einer Schlüsselszene erklärt Louise ihrem Sohn, dass er seit zwölf Jahren eine Belastung und ein »Klotz am Bein« für sie sei (ebd.: 58:52). Simon ist sich dieser problematischen familiären Verhältnisse durchaus bewusst, wenn er feststellt: »Unsere Familie ist ein Haufen Scheiße.« (Ebd.: 53:03) Die Kälte der Beziehung zwischen Mutter und Sohn kulminiert in dem Moment, als Simon Louise für etwas körperliche Nähe Geld anbietet und sich schließlich eine groteske Verhandlung um den Preis entspinnt. Zuneigung ist in L’ENFANT D’EN HAUT zu einem sporadischen und allenfalls materiell aufzuwiegenden Gut geworden. Dagegen erweist sich das »Oben« für Simon dank eines weiteren Aspekts als ein temporäres Paradies: Im Skigebiet beobachtet er eine Touristin, die ebenso lange blonde Haare wie Louise trägt. Von ihrer fürsorglichen, mütterlichen Art bewegt, nimmt Simon zu ihr Kontakt auf und erklärt, dass er den gleichen Namen trage wie ihr Sohn: »Mein Name ist Julien, genau wie Ihr Sohn.« (Ebd.: 26:43) Bietet das »Unten« für Simon also weder mütterliche noch familiäre Nähe und Geborgenheit, so findet er dies oben, verkörpert durch die Beziehung der Touristin zu ihren Kindern, zumindest projektiv und zeitweise. Das »Oben« wird also erneut zu einem Ort der Kompensation und zu einem Ort der Nachahmung für das Kind von unten: Oben scheint nicht nur die Sonne (während der Himmel unten meistens signifikanterweise bedeckt ist), die Gemeinschaft im Skiparadies weist darüber hinaus zumindest temporär – und vor allem in der Projektion Simons – alle Komponenten auf, an denen es unten mangelt: Geld, Wärme, intakte Familien, Liebe und Geborgenheit, wobei diese sich natürlich als konsum- und werbebedingte Scheinbilder entlarven lassen.

B ERGDORFTRADITIONEN : S PRACHE

UND

F EST

Wie der Historiograph Johannes in BLASMUSIKPOP beobachtet, fußt die Dorfgemeinschaft auf Tradition und zeigt sich gegenüber Formen der Modernisierung resistent:

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»In St. Peter am Anger jedoch hat alles seine Kontinuität, und alles bleibt, wie es ist. […] Dieses Gesetz ist in St. Peter am Anger stärker als jeder Versuch, etwas dagegen zu unternehmen. Und manchmal muß sich der einzelne einfach fügen.« (Kaiser 2012: 89)

In ihrem Bestreben, alles Individuelle, Anti-Kollektive, Andersartige auszumerzen, erinnert die Dorfgemeinschaft in BLASMUSIKPOP an eine archaische Gesellschaft. Johannes hält in seinen Aufzeichnungen dazu Folgendes fest: »Die Bergbarbaren sind Herdentiere. Das Konzept des selbstbestimmten Individuums ist ihnen fremd, das Kollektiv bestimmt das Leben des einzelnen.« (Ebd.: 303) Um die soziale Einheit des Bergdorfs zu erhalten, ist die organisierte Weitergabe von spezifischen Handlungsmustern, Glaubensvorstellungen und Überzeugungen, also das, was als Tradition bezeichnet wird, grundlegend. Als das Beharrende steht die Tradition im Gegensatz zu allem Neuen, Fremden, Abweichenden. Unerbittlichkeit gegenüber Innovationen und dem Modernen ist somit eine dorftypische Strategie zum Erhalt des Dörflichen als etwas Einzigartigem. Zu Innovationen kommt es also höchstens zeitversetzt, denn St. Peter ist ein Ort, »wo alles dreißig Jahre später als im Rest der Welt geschah.« (Ebd.: 92) So ist ein sogenannter »Ältestenrat«, der sich aus vier Großvätern zusammensetzt, damit beauftragt, »die überkommenen Wertvorstellungen durchzusetzen« (ebd.: 378). Zur Tradition im Alpendorf St. Peter am Anger gehören gemeinschaftsstiftende und -erhaltende Feste wie das Maibaumaufstellen, der Maistrich und eine Prozession an Fronleichnam: »Das St.-Petri-Jahr gliedert sich nicht nach dem gregorianischen Kalender, sondern nach den Festen, auf die das Dorf im Kollektiv hinharrt.« (Ebd.: 324) Das Dorf verfügt somit über eine eigene Zeitrechnung. Bei der Organisation der Festvorbereitungen erweist sich das Organisationsmodell »Dorf« effizient: Der Einzelne trägt in Form kollektiver Tätigkeiten zum Gelingen bei. Johannes glaubt im Dorffest weitere Wahrheiten über die »Bergbarbaren« zu entdecken, die, »sobald der Sonnengott seine Rösser heimwärts steuert«, in »ekstatische Feierlaune« verfallen (ebd.: 324). Offensichtlich ist, dass Johannes den Bergbarbaren einen primitiven Charakter zuschreibt. Charakteristisch dafür sei ihr phasenweise auftretender Aberglaube, den er aus der Sicht eines wissenschaftlich orientierten Beobachters schildert: »In St. Peter pflegten die Frauen den Ehering an einer Schnur über den Bauch zu halten: Wenn er sich bewegte, bedeutete dies, das Kind war gesund. Pendelte er dazu noch von einer Seite auf die andere, glaubte man, es würde ein Mädl werden, drehte er sich wie bei Annemarie Rossbrand im Kreis, stickte man blaue Buchstaben in das Geburtspolster.« (Ebd.: 66)

Zur Tradition der »Bergbarbaren« zählt auch der einheitsstiftende St. Petrianer Dialekt, der ein weiteres Charakteristikum für das »Oben« und die Älpler darstellt. Sobald es zu einem Kontakt mit dem »Unten« kommt, legen sowohl Johannes Gerlitzen als auch später sein Enkel Johannes A. Irrwein, den Dialekt demonstrativ

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ab. Als Johannes Gerlitzen zurück nach St. Peter am Anger kehrt und die »St.-PetriFärbung seiner Sprache ausradiert« ist (ebd.: 48), versucht er auch seiner Stieftochter Ilse den Dialekt abzugewöhnen. Dialektsprechend könne er sie nicht ernst nehmen. Für den Dörfler, der ein dialektfreies »Unten« kennengelernt hat, erscheint das Praktizieren der alpinen Mundart im Vergleich zur Hochsprache lächerlich. Im Vergleich zu dem Nicht-Dörfler erscheint der Dörfler töricht, albern und wird auf einen unterentwickelten Zustand degradiert. Um zur Hochsprache zu finden, muss sich der »präzivilisierte« Dörfler – in den Augen Johannes’ – entwickeln. Das Dialektsprechen wird dabei als eine notwendige Konsequenz des Dörflertums betrachtet und weniger als bewusste und freiwillige Entscheidung zum Dialekt. Jedoch kann das bewusste Bewahren der Mundart – in den Augen der Dorfbewohner – auch als Strategie interpretiert werden, um sich von einem »Unten« abzusetzen und damit auf der dörflichen Eigenart zu insistieren. Der Dialekt der Bergbarbaren funktioniert nicht zuletzt auch als Code: Nur Eingeweihten ist er zugänglich, so dass das Praktizieren desselben auch ein Privileg bedeutet und eine Differenz markiert. Der Dialekt in BLASMUSIKPOP, von der Autorin vermutlich gezielt eingesetzt, um dörfliche Authentizität und Alterität oder auch Befremdung zu vermitteln, hat aufgrund seines Konstruktcharakters einige Kritik hervorgerufen, so z.B. von Sigrid Löffler: »Der Hochsprache der Zivilisierten stellt sie [Vea Kaiser] das Idiom der Dörfler entgegen, einen Kunst-Dialekt, der für Kenner des Österreichischen aber eher nach Wiener UnterschichtJargon als nach alpenländischer Mundart klingt. Dass der Kölner Verlag überdies seinen eigenen Patzer beisteuert und etwa aus ›Faschiertem‹ (Hackfleisch) ›Verschiertes‹ macht, steigert noch die unfreiwillige Komik des Misch-Idioms dieser wörtlichen Reden.« (Löffler 2012)

Ob die Komik des »Misch-Idioms« allerdings tatsächlich unfreiwillig ist, ist zu bezweifeln. Die Fehlerhaftigkeit oder Willkür des St. Petrianer Dialekts zeigt sich vielmehr als bewusst inszeniert, um auf die Konstruktion des Dörflichen inklusive Bewohner und ihrer Eigenschaften als Dörfler aufmerksam zu machen. Wie bei von Haller erweisen sich auch hier die Bilder über die Dorfbewohner als von unten generierte, also als fremdgenerierte Bilder. Dies wird vor allem vor dem Hintergrund der Reflexionen über das Dörfliche im Roman, die Johannes als Historiograph anstellt, plausibel. Die Komik in BLASMUSIKPOP ist also weniger unfreiwillig als freiwillig, denn eine Rekonstruktion des Dörflichen kommt in BLASMUSIKPOP nicht ohne den augenzwinkernden Verweis auf die fremdgenerierten Bilder und Klischees vom Dörflichen aus. Eine dörfliche Ordnung inklusive Normen, Moral, Werten und Tabus gibt es in L’ENFANT D’EN HAUT nicht. Der dörfliche Dialekt aus BLASMUSIKPOP ist der »Weltsprache« Englisch gewichen. Als temporärer Ort und als Durchgangsort beherbergt

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das Skiparadies Figuren aus unterschiedlichen, jedoch nicht weiter zu identifizierenden Nationen. Sobald Simon das Skiparadies erreicht, wechselt er vom Französischen ins Englische. Die Weltsprache stiftet oben nicht nur eine Einheit, sondern löst das Regionale zu Gunsten des Globalen ab. Die einheitsstiftende Funktion der Tradition wird also durch eine synthetische Einheitssprache und ihre symbolischen Setzungen abgelöst. Hermetisch geschlossen ist diese Gemeinschaft oben nicht: Dank der Sprache Englisch zeigt sie sich betont offen und dynamisch – zumindest auf ihrer Oberfläche. Tradition schimmert in L’ENFANT D’EN HAUT ausschließlich rudimentär durch. Weihnachten, natürlich handelt es sich hier um ein globales und weniger um ein regionales Fest, wird nicht namentlich erwähnt. Doch zeigt das Gespräch zwischen Simon und Louise über einen Weihnachtsbaum und spätestens Louises Erklärung, dass sie Weihnachten noch nie gemocht habe, dass der Film an Weihnachten spielt. Als Louise schließlich mit einem Verehrer in einem gelben VW flüchtet und Simon Weihnachten einsam verbringt, zeigt sich: Wo sich Gemeinschaft auflöst, sind auch Feste nicht mehr möglich. Vom Fest bleibt nur ein Rudiment und gleichzeitig ein Symbol ex negativo, der Weihnachtsbaum, den Simon jedoch nicht aufstellt, sondern auf dem Balkon entsorgt.

F AZIT Während BLASMUSIKPOP das Dörfliche direkt thematisiert, rekonstruiert, reflektiert und parodiert, wird das Dörfliche in L’ENFANT D’EN HAUT dekonstruiert. Als Parodie auf das Bergdorf verweist BLASMUSIKPOP dabei sowohl auf die Konstruiertheit des Dörflichen als auch auf die fremd- und teils auch eigengenerierten Bilder vom Dorf und von den Dörflern in den Perspektiven der Akteure. In L’ENFANT D’EN HAUT geht es mit dem Verlust einer topographischen Ordnung auch um den Verlust von Gemeinschaft, Familie, Tradition, Heimat, Lokalität, Identität und Geborgenheit. Elemente also, die der kulturell geteilte Idealfall Bergdorf, als positiv geladenes Bild im von Haller’schen Sinne, repräsentierte und teilweise auch noch repräsentiert. Es sind hier nur noch Rudimente von Gemeinschaftlichkeit, die phasenweise aufflackern, im nächsten Moment jedoch erlöschen wie der Weihnachtsbaum, der Tradition und Brauchtum verkörpert, dessen Symbolgehalt sich aber auch dadurch auflöst, dass er nicht mehr zum Einsatz kommt. Um diese kurz vor einer Auflösung sich befindenden Elemente fassen zu können, dienen die Rückverweise auf das Dörfliche – einer Folie gleich – dazu, das sich Abhebende, fiktiv nicht mehr Vorhandene sichtbar zu machen und einen Mangel aufzudecken. Auch das Scheitern der Protagonisten lässt sich mit mangelhaften dörflichen Strukturen begründen. Ein traditionell positiv geladenes Bild vom Bergdorf, die Dorfidylle, schwingt hier

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unterschwellig als Maßstab mit; auch wenn es eben nur noch in seinem Auflösungsprozess darstellbar ist. Sowohl in BLASMUSIKPOP als auch in L’ENFANT D’EN HAUT spricht die Geschichte in den Alpen zugleich eine Familiengeschichte an, die in beiden Fällen problematisch ist. Sowohl Roman als auch Film greifen die Bildungsgeschichte eines Jungen in der Bergwelt auf. Während sich Johannes der Dorfgemeinschaft zum Trotz entwickelt, erfährt Simon keinerlei Entwicklung. Simon und Louise sind dazu verdammt, im Hochhausturm zu bleiben. Die Berge erweisen sich hier nach der Skisaison als undurchlässiger Wall. Louises Fluchtversuche scheitern, sie kehrt immer wieder in den Hochhausturm zurück, um erneut aufzubrechen. Mit dem Ende der Skisaison endet auch Simons Traum von einem besseren Leben oben. Das »Oben« als temporärer Ort bietet keinen sozialen Aufstieg und wohl auch keine Rettung mehr. Naturgewalt und alpine Kultur scheinen als Faktoren ebenso keine Rolle mehr zu spielen. Die von unten generierte Alpenidylle von Hallers wird damit als restlos zerstört gezeigt. Ein »Oben« als Ort der Kompensation gibt es nicht mehr. Immerhin erweist sich das Konzept des Bergdorfs auch noch im 21. Jahrhundert als produktiv, sei es um das Dörfliche zu rekonstruieren oder um es zu dekonstruieren. Deutlich wurde an beiden Beispielen: Die Setzung eines »Oben« gibt es nur dank der Setzung eines »Unten«. Während die Blasmusik in BLASMUSIKPOP also weiterhin scheppert, natürlich auch als Parodie auf ewige Sehnsüchte und Fremdbilder, erinnert die Gitarre von John Parish in L’ENFANT D’EN HAUT nur noch mit viel Imaginationskraft an eine Zither, immerhin »dem« Volksmusikinstrument der Alpen.

L ITERATUR Baur, Uwe (1978): Dorfgeschichte, München: Wilhelm Fink. Bernhard, Thomas (1963): Frost, Frankfurt: Insel. Charbon, Rémy (2007): »Das achtzehnte Jahrhundert (1700-1830)«, in: Peter Rusterholz/Andreas Solbach (Hg.), Schweizer Literaturgeschichte, Stuttgart/ Weimar: Metzler, S. 49-103. Gstrein, Norbert (1988): Einer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gstrein, Norbert (2013): Eine Ahnung vom Anfang, München: Carl Hanser. Haller, Albrecht von (1959): Die Alpen. Bearbeitet von Harold T. Betteridge, Berlin: Akademie. Henkel, Gerhard (2005): »Dorf und Gemeinde«, in: Stephan Beetz/Kai Brauer/ Claudia Neu (Hg.), Handwörterbuch zur ländlichen Gesellschaft in Deutschland, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 41-54.

P ARODIE UND D EKONSTRUKTION

DES

B ERGDÖRFLICHEN | 405

Hillmann, Karl-Heinz (2007): »Dorf«, in: Karl-Heinz Hillmann (Hg.), Wörterbuch der Soziologie, 5., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart: Kröner, S. 159-160. Jaeggi, Rahel (2005): Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt/New York: Campus. Jelinek, Elfriede (1995): Die Kinder der Toten, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Kaiser, Vea (2012): Blasmusikpop, Köln: Kiepenheuer und Witsch. Keller, Florian (2012): »Die Berge sind immer auch eine Sackgasse«, in: TagesAnzeiger vom 22.04.2012, www.tagesanzeiger.ch/kultur/kino/Die-Berge-sindimmer-auch-eine-Sackgasse/story/27025750 (13.01.2014). König, René (1958): Grundformen der Gesellschaft: Die Gemeinde, Hamburg: Rowohlt. Löffler, Sigrid (2012): »Vea Kaiser: ›Blasmusikpop‹. In ihrem Debütroman feiert die Autorin das Hinterwäldlerische in treuherzigem Erzählton«, in: www.kulturradio.de/rezensionen/buch/2012/vea_kaiser_blasmusikpop.html (13.01.2014). Naumann, Dietrich (1976): »Zwischen Reform und Bewahrung. Zum historischen Stand der Staatsromane Albrecht von Hallers«, in: Hans Joachim Piechotta (Hg.): Reise und Utopie. Zur Literatur der Spätaufklärung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 222-282. Robertson, Roland (1998): »Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit«, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 192-220. Schneider, Robert (1992): Schlafes Bruder, Stuttgart: Reclam. Seidenspinner, Wolfgang (1997): »Oralisierte Schriftlichkeit als Stil: das literarische Genre Dorfgeschichte und die Kategorie Mündlichkeit«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 22/2, S. 36-51. Spies, Bernhard (2009): »Dorfgeschichte«, in: Dieter Lamping (Hg.), Handbuch der literarischen Gattungen, Stuttgart: Kröner, S. 137-142. Stremlow, Matthias (1998): Die Alpen aus der Untersicht. Von der Verheissung der nahen Fremde zur Sportarena. Kontinuität und Wandel von Alpenbildern seit 1700, Bern/Stuttgart/Wien: Haupt. Wilpert, Gero von (1989): »Dorfgeschichte«, in: Ders. (Hg.), Sachwörterbuch der Literatur, 7., verb. u. erw. Auflage, Stuttgart: Kröner, S. 205-206.

F ILME Bergmannskind (2011) (D/F/RO, R: Alexandra Gulea) Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte (2009) (D/A/F/I, R: Michael Haneke) Die andere Heimat (2013) (D, R: Edgar Reitz)

406 | M ARTINA K OPF

Der Verdingbub (2011) (CH, R: Markus Imboden) Winterdieb/L’enfant d’en haut (2012) (CH, R: Ursula Meier)

Fernsehserien, Ethnoromane, Ethnodörfer Suche nach neuen Sinnhorizonten oder konservative Emanzipation? Das Beispiel Serbien A NGELA R ICHTER

V ORBEMERKUNG Serbien, das Land, von dem in den letzten beiden Jahrzehnten vor allem im Zusammenhang mit den jugoslawischen Zerfallskriegen die Rede war, befindet sich weiterhin in einem schwierigen Prozess politischer Neuorientierung, der im Innern des Landes von kontroversen Debatten begleitet ist. Zum Alltag der Gesellschaft gehören Forderungen nach nationaler Rückbesinnung; sichtbar sind vielfältige Bestrebungen und Kampagnen zur Reklamierung und Popularisierung des Eigenen und zur Schaffung neuer Markenzeichen. In der politischen Rhetorik Serbiens ist dabei massiv auch von der »Wiederbelebung« des Dorfes die Rede. Nur kurz sei angemerkt, dass Serbien und auch das Erste Jugoslawien nach 1918 bis zum Zweiten Weltkrieg eine agrarische Gesellschaft waren, die ländliche Bevölkerung bildete die absolute Mehrheit. Nach 1945 ging ein widersprüchlicher Modernisierungsprozess vor sich (missglückte Kollektivierung der Landwirtschaft und verstärkte Industrialisierung, mit einsetzender Abwanderung vom Land in die Stadt im Zweiten Jugoslawien, welche auch heute kaum eingedämmt ist). In diesem Rahmen änderte sich die Bevölkerungsstruktur zugunsten der städtischen Anteile (bis Anfang der 1980er Jahre wanderten in der SFRJ 6 Mio. Angehörige der ländlichen Bevölkerung in die Städte ab). Das hat sich allerdings nicht zwangsläufig auf Werthaltungen und Denkstrukturen ausgewirkt.1

1

Übergreifend zum südosteuropäischen Dorf aus der Perspektive Mitte der 1990er Jahre vgl. die Beiträge in Grimm/Roth (1997).

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In Serbien ist die rurale Ideologie präsent, sie stützt sich vor allem auf die Symbolfigur des Sprachreformers und Volksliedsammlers Vuk Stefanović Karadžić (1787-1864) und die von ihm begründete Tradition. Sein häufig zitierter Satz: »Das Volk hat keine anderen Leute außer den Bauern« (Karadžić 1969: 167f.), der wesentlich das Selbstverständnis der Serben bestimmt hat, hallt bis ins 21. Jahrhundert nach und drückt sich im jetzigen serbischen Staat u.a. in einer entsprechenden Instrumentalisierung der Bauernschaft in der politischen Kommunikation aus (vgl. bes. Naumović 1995, 1999, 2004), ungenügend allerdings m.E. in strategischen Überlegungen zur weiteren Entwicklung des Dorfes und zur Gestaltung ländlicher Lebensräume. Für diesen Beitrag versuche ich – ausgehend von Beobachtungen während meiner letzten Aufenthalte in Serbien – einige wenige Facetten und mediale Erscheinungsformen des Dörflichen zu hinterfragen, vor allem aus der Perspektive aktueller Ethno-Phänomene. Ethno ist an sich nichts Spektakuläres; es liegt international im Trend. Der Belgrader Ethnologe Ivan Čolović spricht gar von Ethnomanie und schlussfolgert: »Diese Expansion der Narration über Ethno, welche Ausmaße einer echten Ethnomanie erreicht, kann man als Wiederaufnahme, und das in breitem Rahmen, dessen beschreiben, was Adorno ›Jargon der Eigentlichkeit‹ genannt hat« (Čolović 2006: 273).

In Serbien herrscht ein ethno-kulturelles Nationsverständnis, d.h. Ethnos wird stark im Sinne von Nation verstanden. Rückbesinnung auf die Ursprünge, auf die Herkunft meint in Serbien dabei besonders das Rurale, den Bezug auf die bäuerliche Tradition. Dabei handelt es sich um etwas, das nicht aktuell konstruiert werden muss, denn es ist in der Tradition als kulturelle Selbstverständlichkeit vorhanden. Insofern vereinfacht es die Möglichkeit, an bestimmte kulturelle Muster anzuknüpfen, was unter Umständen eben auch eine Bedingung für Versuche der Wiederbelebung ethnischer Ideen und Ideologien sein kann (vgl. auch Esser 1996: 73).

1. D AS F ERNSEHEREIGNIS S ELO

GORI , A BABA SE ČEŠLJA

2

Serien als Eigenproduktionen sind in Serbien wie anderswo ein einflussreiches Format der aktuellen Populärkultur. Sie sind – nach einer Flaute in den 1990er Jahren – im Aufwind, sie sind zudem kein postjugoslawisches Phänomen, sondern bil-

2

»Das Dorf pfeift aus dem letzten Loch, aber niemanden juckt es.« Die wörtliche Übersetzung lautet: »Das Dorf brennt, doch Großmutter kämmt sich.«

F ERNSEHSERIEN , E THNOROMANE, E THNODÖRFER

| 409

den als Teil der gemeinsamen jugoslawischen Populärkultur eine nicht zu unterschätzende Komponente der komplexen jugoslawischen Fernsehgeschichte. Als Forschungsgegenstand sind sie allerdings noch immer wenig populär. In einer Kurzstudie von 2005, die sich auf den Zeitraum nach dem Abdanken des damaligen Präsidenten Slobodan Milošević im Oktober 2000 bezieht, bemängelt deren Autor die übertriebene Konzentration vorhandener Serien auf Belgrad (er nennt das Beogradizacija bzw. Belgradisierung) und die »Ideologie der Urbanität« und damit das Fehlen solcher Serien, die auf dem Dorf und vom Dorf handeln, als einem »relevanten Schauplatz gesellschaftlichen Lebens« (Ćurković 2005: hier 371). 3 Die Serie SELO GORI, A BABA SE ČEŠLJA, eine »Saga über das aktuelle serbische Dorf«, deren Ausstrahlung im März 2007 begann und nach insgesamt 89 Episoden am 2. April 2011 endete, ist die Serie mit den dauerhaft höchsten Einschaltquoten in Serbien nach 1991, ausgestrahlt immer samstags, zur besten Sendezeit. Sie vermittelt zunächst den Eindruck einer zumindest mittelbaren Reaktion auf diese Kritik. Die Serie handelt – ganz banal formuliert – vom alltäglichen Leben zweier verwandtschaftlich verbundener Familien und weiterer Einwohner im fiktiven serbischen Dorf Petlovac, »im Herzen der Šumadija« (= Zentralserbien)4, und zwar in der unmittelbaren Gegenwart. Was ist fällt hier besonders auf?5

3

Das hat sich inzwischen geändert. Einzug gehalten haben solche sehr unterschiedlich ausgerichteten Formate wie FARMA (entspricht in etwa dem deutschen Format BAUER SUCHT FRAU),

Serien wie SELJACI (Bauern; Pink-Televizija), MOJ ROĐAK SA SELA (Mein

Verwandter vom Dorf), LED (Eis, eine Serie über das Dorf der 1970er Jahre) sowie der gleichnamige Film (Autorin ist die Tochter von Radoš Bajić). Ein alternatives Projekt stellt die Serie VRATIĆE SE RODE (Die Störche werden zurückkehren) dar, welches einer künftigen näheren Betrachtung harrt. 4

Kritiker sprechen bisweilen von einer Šumadizacija (Šumadisierung) Serbiens, was mit der massiven symbolischen Aufladung der südlich von Belgrad befindlichen Region zusammenhängt, wodurch zuweilen der Anschein erweckt wird, dass allein sie der Maßstab für Serbien ist. Dabei findet man z.B. in der Vojvodina eine deutlich andere Situation vor.

5

Da es sich um eine aus mehreren Staffeln bestehende Serienproduktion handelt und der Umfang der Beiträge des hier vorliegenden Bandes Beschränkungen unterliegt, kann diese erste Sichtung freilich zunächst nur vorläufige Erkenntnisse bereitstellen. Ich danke Tijana Matijević dafür, dass sie mir bei der Sichtung des Materials zur Seite gestanden hat.

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a)

Zentraler Held ist die Gemeinschaft

In der Serie wird insgesamt im Kontext des Alltäglichen ein Zugehörigkeitsgefühl prononciert, das die lokalspezifische Gemeinschaft propagiert, womit zunächst zum Ausdruck gebracht wird, dass das Dorf auf einer anderen Grundlage integriert als die Stadt. Mehr noch: In der Verflechtung von Familienleben und familiären Werten, inklusive der darin streng festgelegten Geschlechterrollen und nachbarschaftlichen sowie freundschaftlichen Beziehungen zu einer größeren Gemeinschaft rangiert das kollektive Moment deutlich vor dem Willen, der Wahl des Einzelnen und dessen Weltauffassung. Maßstab ist die Anerkennung traditioneller Werte der dörflichen Gemeinschaft, des Willens ihrer (männlichen) ehrwürdigen Alten. Abweichungen davon werden als fremd interpretiert, zur urbanen Kultur gehörig, welche den serbischen Bauern übergestülpt ist. Für alle positiven Figuren der Serie scheint eher der Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung (als patriarchalische, rural geprägte, mit der Bauerntumsideologie von Eigentum, Autarkie, Familie und Religiosität) erstrebenswert zu sein. Aus einem solchen Blinkwinkel heraus wird die Konstellation Macht und Volk bzw. Macht und Individuum zugunsten des kleinen Mannes aus dem Volk entschieden. Macht ist unmoralisch, man überlässt sie denen, die ›schlimmer‹ sind als das ›Volk‹, man fürchtet sie und versucht, sie mit buchstäblicher Bauernschläue zu überlisten. Damit werden dem Mann aus dem Volk (Bauernvolk) bzw. dem Volk selbst durchgängig positive Eigenschaften zugeschrieben. b)

Die Omnipotenz von Radoš Bajić, Autor und Regisseur resp. Radašin, Narrator und Hauptprotagonist

In Momenten, an denen das ideologische Konstrukt auf der Ebene der Erzählung, der Konfliktentwicklung und der Charaktere eventuell unterlaufen zu werden droht, springt der Autor/Regisseur/Narrator/Protagonist ein, der die ganze Mikrowelt von Petlovac präsentiert, vermittelt, kommentiert, sanktioniert, imaginiert – und zwar im Interesse eines trotz mancherlei Abweichungen auf der Ebene der Erzählung deutlich idealisierten, traditionalistischen Bildes. Zu dem unter dem Patronat der serbischen orthodoxen Kirche und mit finanzieller Unterstützung der Wirtschaftskammer Serbiens inzwischen herausgebrachten, vom Erzbischof von Šabac gesegneten Buch mit Gedanken eben dieses Hauptprotagonisten und Erzählers Radašin zu allen wichtigen Protagonisten der Serie hat der serbische Patriarch Irinej ein Vorwort verfasst. Darin würdigt er die Serie in besonderem Maße, weil sie »den Glauben an die Existenz des serbischen Menschen auf dem Dorf vermittelt. Um unser Dorf hat man sich über Jahre ungenügend gesorgt, dabei war und ist es, sowohl in unserer

F ERNSEHSERIEN , E THNOROMANE, E THNODÖRFER

| 411

ruhmreichen und schweren Vergangenheit, als auch unmittelbar heute, das Fundament unseres Staates. Ohne Fundament ist jedes Haus baufällig […]« (Irinej 2011: 5).

Im Weiteren bedankt er sich ausdrücklich dafür, dass die an der Serienproduktion Beteiligten Tugenden ausgegraben haben, »die uns zu den Wurzeln zurückbringen«, sodass die Produktion das Etikett national verdiene (vgl. ebd.). Die Tatsache, dass der Schauspieler, der die Hauptrolle innehat, zugleich Autor des Drehbuchs ist und zudem Regie führt, verschafft ihm eine absolut privilegierte Position, welche die strenge Festlegung und Führung aller weiteren Instanzen des seriellen Erzählens ermöglicht. Somit stellt er die allmächtige Figur dar, aus deren Blickwinkel die Erzählung kontextualisiert und ideologisiert wird. c)

Das Dorf als Personifikation des idealen, authentischen Volkswesens

»Wenn du den Bauern vernichten willst, vergreif dich an seinem männlichen Kind und an seinem Vieh; das Vieh ernährt ihn, das männliche Kind erfreut ihn, denn so ist jemand da, der ihn beerben wird« (Episode Potraga = Fahndung, 19'.20''). Diese Worte des Narrators stehen exemplarisch für das wichtige Thema der Natalität, welches mehrfach aufgegriffen und stets mit dem Patriarchat und der Geburt eines männlichen Nachfolgers verbunden wird.6 Stereotype Metaphern, u.a. die vom rauchenden Schornstein, das Argument von Reichtum durch Fortpflanzung und Familienerweiterung usw. ist nicht nur im Sinne privaten Glücks gemeint, sondern hat durchaus eine zusätzliche Konnotation, die das Projekt Nation betrifft. Aus solchen Konstellationen heraus lässt sich auch das in der Serie im Rahmen der familiären Geschichte unterschwellig berührte Verhältnis zum ethnisch »Anderen« deuten. So kehrt Radašins Sohn nach der gescheiterten Ehe mit der Schwedin Ingrid mit dem gemeinsamen Sohn, den er ohne das Wissen der Mutter und ohne Unrechtsbewusstsein nach Serbien entführt hat, zurück in sein heimatliches Dorf (und in den Schoß der serbischen Familie). Der mit der Klärung des Falls beauftragte Inspektor äußert gegenüber der Familie des Bauern Radašin: »Ich bin auf eurer Seite, sowohl als Mann als auch als Serbe. Meint ihr etwa, dass mir irgendein Schweden mehr am Herzen liegt als Serbien? Der Mann hat einfach das Kind genommen und ab die Post. Ich würde das genauso machen« (Episode Slava = Hauspatronsfest, 18'.18''). Die schwedische Kindsmutter ist stereotyp als eigenwillige,

6

In diesem Sinne wird in der Episode Svadba (= Die Hochzeit, 14'.53'') erklärt: »Töchter sind ein Schatz, aber wenn ein männliches Kind im Hof herumrennt, heißt das, dass die Sippe sich fortsetzen wird [...].«

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kühle Fremde dargestellt. Auf jeden Fall ist die in der Episode nicht hinterfragte Tatsache, dass die Mutter ihr Kind beim Vater lässt, durchaus als Lösung der dramatischen Situation im Sinne der Formel zu verstehen, dass serbische Kinder, noch dazu männliche Nachfolger, zwangsläufig ins Land der (Vor)väter gehören, was über den Serientext hinausweist.7 d)

Alltagskultur – ein wissender Diskurs von Insidern

Die Besonderheiten (Momente und Artefakte) der serbischen Alltagskultur im Sinne der vom US-amerikanischen Anthropologen Michael Herzfeld so benannten cultural intimacy (1997) können ein wichtiges Reservoir für die Identifikation des Zuschauers mit dem sein, was Volks- bzw. bäuerliche Kultur ausmacht und das Gefühl der Zugehörigkeit eventuell verstärken. Ein besonders populäres Beispiel in der Serie kommt mit rakija bzw. šljivovica als einem bevorzugten Motiv aus der materiellen Kultur daher. Schnaps zu trinken, extensiv und ›männlich‹, gehört aus der Sicht der Verantwortlichen der Serie zu den spezifischen Kennzeichen des serbischen (ruralen) Ethos. Vor einer neuen Herausforderung, in Freude und Trauer bekreuzigt man sich, trinkt den Schnaps auf ex, ein tief verwurzeltes Ritual des serbischen Bauern, wie dem Zuschauer vermittelt wird. »Lasst uns trinken und uns bekreuzigen, dann wird alles in Ordnung gehen«, kommentiert der Narrator (Episode Paterice = Zweiter Tag des Hauspatronsfestes, 27'.42''). e)

Zwischenfazit:

Eine soziologische Pilotstudie von 2010 zu serbischen Fernsehserien ergab, dass Serien dieser Art große Popularität auch unter jungen Leuten genießen. Die Studie stützt sich auf Aussagen von Befragten im Alter von 15 bis 22 Jahren (Gymnasiasten und Studenten); hier wird den Serien ein erheblicher Einfluss auf die »Weckung des Gefühls der Zugehörigkeit zu Serbien und zum Serbentum« (Babić/Kordić 2010: 448) bescheinigt, d.h. der Faktor »nationaler Wert« rangiert weit vorn. In der Umfrage wird auch festgestellt, dass die jungen Leute Phrasen aus der hier ausge-

7

In der 50. Episode (Lazarica) wird vom erneuten Zueinanderfinden der beiden erzählt, was mit der Trauung nach dem orthodoxen Ritus besiegelt wird. Später erfährt der Zuschauer, dass es sich nur um ein vorübergehendes Happy End handelt; Radoslav bekommt mit einer serbischen Frau eine Tochter, der Schwedin platzt der Kragen und sie verlässt das Dorf. Erstaunlicherweise lässt sie den Sohn Tomislav in der serbischen Familie zurück (!). Damit wird die Zugehörigkeitsthese einmal mehr verstärkt, die auch in Zuschauerkommentaren eine Rolle spielt.

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wählten Serie in ihren Alltagsjargon aufgenommen haben; deren Wiedererkennung wird mit über 90 Prozent angegeben. Ob man daraus schließen kann, dass sich Zuschauer unterschiedlicher Bildungsprofile und Altersgruppen grundsätzlich mit allem identifizieren, was in den Episoden verhandelt wird, ist wenig wahrscheinlich. Ihre große Popularität verdankt die Serie auch den eindrucksvollen Charakteren, dargestellt durch hervorragende nationale Schauspieler, den Effekten der Situationskomödie und nicht zuletzt auch den mit sprachlichem Humor erzielten Effekten. Die vielen komischen Stilisierungen in den Episoden knüpfen zudem deutlich an die bekannte serbische satirische literarische Tradition an, die u.a. mit Radoje Domanović (1873-1908) an der Schwelle zum 20. Jahrhundert einen glänzenden, sich in den politischen Alltag einmischenden Verfechter fand und mit Branislav Nušić (1864-1938) ihren besten und bis heute meistgespielten Komödienschreiber hatte.8 Nostalgisch-romantische Stilisierungen des Diskurses durch sentimentalpoetische Kommentare des Narrators wie »Was ist schon der Mensch, nicht Luft, nicht Feuer, nicht Wasser [...] Warum bin ich kein Vogel« (Episode Paterice, 18'.40'') schaffen eine zusätzliche Textebene, in der durch Erklärungen oder für sich stehende Abschweifungen die Vergänglichkeit des Lebens, dessen Schwere, die Notwendigkeit, sich an kleinen Dingen zu freuen, und auch das Wesen des Lebens selbst angesprochen werden. Es handelt sich um ein breites Spektrum an allgemeinmenschlichen, nationalen und auch politischen Themen, deren Quelle und Ausgangspunkt der serbische Bauer, das serbische Dorf und die Traditionen sind. Und hier drängt sich dann auch eine grundsätzliche Frage auf: Ist die Situierung einer Erzählung über verwandtschaftlich verbundene Familien in ihren aktuellen Lebenssituationen, mit all den im Prozess der Transformation verbundenen Problemen in einer serbischen Stadt nicht möglich? Ist das serbische Dorf in der Interpretation des Autors/Narrators/Protagonisten und mit der Segnung der serbisch-orthodoxen Kirche im 21. Jahrhundert tatsächlich der einzige authentische Ort für eine aktuelle serbische Erzählung? Zumindest aus der Sicht des Autors scheint die Stadt kein kul-

8

Im literarhistorischen Kontext der zum Ausgang des 19. Jahrhunderts radikalen Desintegrationsprozesse des serbischen Realismus und unter dem Eindruck der letzten Herrschaftsphase des autoritären Obrenović-Regimes entwickelte Radoje Domanović einen neuen Typ der literarischen Satire. Konzipiert als scharfe Attacken gegen das politische Regime, gerieten die Erzählungen zu Werken von universellem Wert, mit denen Domanović – angelehnt an zeitgenössische europäische Traditionen – eine äußerst wichtige serbische Traditionslinie begründete, die bis heute rezipiert und fortgeführt wird. Die Satire richtete sich u.a. gegen falschen Patriotismus, verlogene Rhetorik, Führerkult und die Begrenztheit kleinbürgerlicher serbischer Mentalität (vgl. Richter 2009).

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turelles Leitbild zu sein.9 Das stilisierte Profil des filmischen Erzählers lässt die Gedanken einmal mehr in diese Richtung gehen: Der Erzähler rekurriert auf den vertrauten und auch heute noch sehr populären Diskurs der oralen Tradition mit regionaler Anbindung, als solch ein Erzähler nimmt er Legitimität und Zuverlässigkeit für sich in Anspruch – und so mag man ihm scheinbar einfach glauben können, stellt er doch die ›Stimme des Volkes‹ dar.

2.

» V OM G RÜN SERBISCHER W ÄLDER UMGEBEN , SCHREIBE ICH JETZT DAS , WAS MIR DAS L EBEN DIKTIERT«

So formuliert der Autor Milenko Pajić den Ausgangspunkt seiner Arbeit an dem 2012 publizierten Buch RADIVOJE GOVORI (Radivoje spricht). Was verbirgt sich hinter diesem sogenannten ersten ›Ethnoroman‹? Es handelt sich um Geschichten aus dem Leben des 85-jährigen Bauern Radoje (übrigens der Onkel des Autors) aus dem realen Dorf Dub, die nach Tonbandaufzeichnungen verschriftlicht wurden. Ich bin geneigt, die kulturelle Selbstprofilierung dieses Erzählers mit Doris Bachmann-Medick (1998: 11) als Autoethnografie zu bezeichnen. Zudem gehe ich mit Harald Welzer davon aus, dass es »ziemlich wahrscheinlich ist, dass wir alle unseren eigenen Lebensgeschichten Elemente und Episoden beigefügt haben, die andere – fiktive oder reale – Personen erlebt haben und nicht wir selbst« (Welzer 2002: 169). Radoje macht als homodiegetischer Erzähler10 sein alltagsweltliches soziales Wissen und seine Lebenserfahrung als narratives Wissen für andere zugänglich, wobei er den Bogen vom Ersten Weltkrieg (der nicht zu seiner persönlichen Erfahrung gehört) bis in die unmittelbare Gegenwart spannt. Zuhörer ist der empirische Autor Pajić, der – abgesehen von einzelnen erkennbaren Interventionen im Text als Fragesteller sowie als Autor der Einführung und Autor der Anhänge11 – nicht in Erscheinung tritt. Allerdings gibt er in der Einführung durchaus Manipulationen zu (Pajić 2012: 11-12), was nahelegt, dass er den Text »über einen der letzten Zeugen unserer patriarchalen gesellschaftlichen Ordnung« (Otašević 2012) sehr wohl in seinem Interesse bearbeitet und – dies ist das eigentlich Entscheidende –

9

Es drängt sich die Erinnerung an negative Stereotype über die Stadt aus den 1990er Jahren auf; die Städtehasser beriefen sich auf Traditionalismus, die patriarchalische Konzeption der Welt, auf Nationalromantik (vgl. z. B. Vujović 1998).

10 Nur einmal übernimmt seine Frau Milesa die Erzählerfunktion, damit Radoje das Vieh füttern kann. 11 Dazu gehören die Autornotizen 1 bis 3, verschiedene Wortlisten, ein kleines regionales Wörterbuch, Fotos aus dem Familienalbum.

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die Fragen an sein Gegenüber entsprechend gestellt hat.12 Anlass für das Schreibprojekt – so Pajić in einem Interview – seien für ihn die NATO-Bombardements 1999 wie auch die politische Situation in Serbien nach 2000 gewesen, bei denen sich gezeigt habe, wie machtlos und schwach der Städter ist. Daher habe er sich auf die Suche nach seinen Wurzeln gemacht (vgl. ebd.). Radoje vereint auf sich wesentliche Charakteristika, die das Wert- und Symbolsystem des serbischen Bauern als kulturelles Muster bedienen: er ist ein echter domačin (Hausherr, Gastgeber, Herr des Hauses), ein Kenner der Sprache der Tiere, ein Furchtloser, ein allen Unwegsamkeiten Trotzender, großzügig, mit allen Wassern gewaschen, einer, dem die Schnapsbrennerei und der Anbau von Tabak alle Türen öffnet (auch in städtischen Gefilden und gar im Bereich der Macht, nämlich im Belgrader Generalstab). Mit diesem Muster kokettieren bis heute nicht zuletzt zahlreiche Politiker, besonders auch, was die Affinitäten gegenüber dem bereits erwähnten rakija oder šljivovica und den Verweis auf die ruralen Wurzeln betrifft.13 Radivoje schwört auf die alten Traditionen und Bräuche, verweist aber auch auf sein Engagement für Tito, für den sozialistischen Staat, für die Elektrifizierung der Dörfer, für die Unterstützung des Wiederaufbaus von Skopje nach dem Erdbeben usw. Und er ist sich rückblickend dessen bewusst, dass der Status des Dorfes auch in der neuen, d.h. postjugoslawischen Zeit, kein privilegierter ist. Seine Kinder sind längst in die Stadt fortgezogen, für sie – das ist ihm klar – stellt das Dorf keineswegs einen Sehnsuchtsort dar.14 Daher mutet das, was der alte Mann erzählt, eher wie ein melancholischer Abgesang an vergangene Zeiten an.

12 Laut Text gibt ihm der alte Mann freie Hand: »Mića, sieh du zu, was du machst und wie du vorgehst, damit das, was wir beide hier im Zimmer schwatzen, so wird, wie es sein soll und wie es in anderen, ähnlichen Büchern steht« (Pajić 2012: 58), d.h. der alte Mann verschafft dem Autor hier ein Alibi. 13 So schleppte der jetztige serbische Präsident Tomislav Nikolić zur Eröffnung des ŠkodaAutozentrums 2011 einen Ballon von fünf Litern selbstgebranntem Quittenschnaps an (vgl. Tomina voda od 20 gradi). 14 Radivoje tröstet sich damit, dass sie sich aber sehr wohl noch auf die alltäglich nötigen Verrichtungen auf dem Dorf verstehen und er glaubt daran, dass sie, sollte Not am Mann sein, zwecks Hilfe dorthin zurückkehren würden.

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3. E THNODÖRFER ALS NATIONALE AUTOIDENTIFIKATION ?

KULTURELLE

Ethnodörfer und -parks sind kein serbisches Phänomen, und auch kein neues. Wir finden sie von Amerika bis Schweden; bereits 1873 war ein solches »ethnografisches Dorf« eine der Attraktionen auf der Weltausstellung in Wien. Ihm wurden durchaus politisch-patriotische Motive der Habsburger und die Suche nach Rückhalt in der bäuerlichen Bevölkerung attestiert (vgl. Johler 2002: 64). Was lässt sich für Serbien feststellen? Zunächst ist zu sagen, dass die unter demselben Etikett figurierenden Dörfer – egal, wie sie ausgerichtet sind – ein touristisches Angebot darstellen. Sie sind Bestandteil des touristischen Marketings und gehören gleichwohl zur Strategie der »Wiederbelebung« des Dorfes. Das einzige vollständig realisierte Projekt eines echten Ethnodorfes ist übrigens Sirogojno auf Zlatibor, ein Freiluftmuseum mit historischer Bausubstanz und bekannter handwerklicher Tradition. Mode aus Sirogojno – um nur ein Beispiel zu nennen – war schon zu sozialistischen Zeiten ein Hit. Die bekannte Produktion kunstvoll handgefertigter Pullover, Westen und Accessoires wird heute mit dem Markenzeichen »Sirogojno style« fortgeführt.15 Die Malerin Miroslava Stopić misst diesem Komplex in ihrer kultursoziologischen Qualifikationsschrift eine enorme Bedeutung hinsichtlich der Stärkung nationaler Identität zu. Generell formuliert sie u.a., dass ein Ethnodorf »als Form der Konservierung und Präsentation bestimmter traditioneller Werte eine Gebrauchsversion des historischen Gedächtnisses über bestimmte Eigenarten und Leistungen der Nation als kulturelles Substrat darstellt« und »solche Dörfer gerade innerhalb der Kulturpolitik gleichberechtigt auch als Mittel, aber auch als Ziel jeder strategisch konzipierten Kulturpolitik zu betrachten sind« (Stopić 2001: 33).16

Kontinentaltourismus in Serbien wird heutzutage im Sinne nationaler Kulturpolitik wie eben auch im Sinne der Reklamierung nationaler, d. h. als typisch serbisch zu

15 Auf die Fahnen geschrieben haben sich die Kuratoren jedoch mehr: Neben dem Erhalt und der Pflege der Zeugnisse aus der materiellen Kultur geht es um die Bewahrung des geistigen und immateriellen Erbes auf dem Wege der Rekonstruktion einzelner Volksbräuche und durch die Belebung alter Gewerke. 16 In Punkt 6 der zusammenfassenden Bemerkungen findet sich auch ein Hinweis auf die Relevanz des Baus von serbischen Ethnodörfern in der Diaspora, sowohl für die Menschen, die überall verstreut sind, als auch für die globale Anpreisung Serbiens in der Welt (vgl. ebd.).

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| 417

vermarktender »brendovi« immer häufiger mit dem Besuch eines sog. Ethnodorfes verbunden. Bei den Besuchern spielen hier allerdings aus meiner Sicht sehr heterogene Aspekte eine Rolle: einfache Landlust zur Beruhigung der gestressten Seele, das exotische Dorferlebnis, das Erleben von Reiterhofatmosphäre, Erlebnisgastronomie, neuestens auch Ökotourismus. Auf der Internationalen Tourismusmesse in Novi Sad 2012 erhielt z.B. das Ethnodorf Babina reka die Goldene Plakette als qualitativ bestes Ethnodorf in Serbien. Es ist ein in Privatbesitz befindliches Gut im Komplex des Dorfes Trbušnica, das 2010 eröffnet wurde und u.a. mit der Isolation von allem Urbanen und qualititativ hochwertiger typischer Gastronomie beworben wird. Anders verhält es sich mit dem Ethnodorf von Emir Kusturica. Hier lässt sich veranschaulichen, wie sich vordergründig spleenige Projekte mit bestimmten Vorstellungen des Staates berühren können. Das Ethnodorf Drvengrad (Holzstadt) bzw. Küstendorf oder Kustendorf wurde von dem international bekannten Regisseur Emir (2005 orthodox umgetauft in Nemanja) Kusturica mit Billigung und Unterstützung der serbischen Behörden am Drehort des Films ŽIVOT JE ČUDO (dt. DAS LEBEN IST EIN WUNDER) als quasi privates Ethnodorf aufgebaut. Als Begründung führte Kusturica seinerzeit an, er habe es als Ersatz für seine verlorene Stadt (gemeint ist seine Geburtsstadt Sarajevo) 17 aufgebaut. Das ist in doppelter Hinsicht ein Widerspruch in sich, denn erstens stellt ein Dorf einen fragwürdigen Ersatz für eine Stadt dar, und zweitens schlägt sich die mehrkulturelle Prägung dieser Stadt Sarajevo, die »geradezu ein Paradigma urbaner Multiethnizität« (Höpken 2010: 73) war, in diesem Dorf keineswegs nieder. Es ist mit seiner orthodoxen Kirche des hl. Sava, mit serbischen Holzhäuschen, mit den nach Figuren aus Romanen des bisher einzigen südosteuropäischen Nobelpreisträgers Ivo Andrić benannten Restaurants, mit Gästehäusern, Geschäften, einem Kino und zahlreichen Ethnoutensilien deutlich serbisch konnotiert.18 Inzwischen ist das Dorf zu einem Anziehungspunkt für Schülergruppen und Touristen nicht nur aus dem Inland geworden.19 Kusturica betreibt dort auch eine einer Filmschule, alljährlich findet – unter Schirmherrschaft des serbischen Kulturministeriums – das International Kustendorf Film Festival statt. Bei dem Dorf sei es 17 Nachzulesen ist dazu unter anderem unter http://tv.orf.at/groups/film/pool/bluegipsy; http://www.novosti.rs/vesti/naslovna/aktuelno.69.html:161787-Izgubio-jesam-svoj-gradali-i-napravio-sam-svoj (26.02.2014). 18 Daran ändert z.B. auch die ebenso dort zu besichtigende Trabant-Stretchlimousine nichts, die den Umbruchszeitraum nach 1989 symbolisieren soll. 19 Der einstige serbische Präsident Boris Tadić machte mit dem österreichischen Bundespräsidenten Heinz Fischer bei dessen ersten offiziellen Besuch in Serbien (Juli 2005) einen Abstecher nach Drvengrad.

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um den Nachbau eines Lebensraums aus dem Mittelalter gegangen, äußerte Kusturica in einem Interview, was den Widerspruch zwar nicht entschärft ihm aber immerhin eine weitere zumindest merkwürdige Dimension gibt. »Das Dorf oder vielmehr die Zitadelle ist für mich ein Versuch, das System, in dem wir leben, zu überwinden, diesen Kapitalismus, in dem die großen Multis die Macht haben, uns mit Waren zu überschwemmen, und uns zu ordinären Materialisten machen. Es ist ein System, in dem Individualismus und Egoismus regieren, in dem es kein Modell für Gemeinsamkeit mehr gibt. Auf diesem Hügel, der für mich wie eine Insel ist, bekenne ich mich zu meiner Utopie. Das ist keine Flucht. Ich will ein Rezept anbieten, das meines Erachtens verwirklicht werden kann« (Vasak/Ilić/Stojkić 2005).

Nach Ansicht von Miranda Jakiša inszeniert sich Kusturica – dessen, wie ich meine, in vielem kontroverse Haltung Verwirrung stiftet und auch auf Protest stößt – im Schnittpunkt von Ethno-Begeisterung, Egomanie und Provokationszwang in einem Serbo-Universum, dessen Elemente um seine Person und zugleich um ein bestimmtes Serbien-Bild arrangiert werden (vgl. Jakiša 2008: bes. 50). Ob es sich wirklich um die deutlichste Inszenierung des serbischen Nationalismus handelt, sei dahingestellt. Erstaunen ruft auf jeden Fall folgende aus der Außenperspektive erfolgte Wertung hervor: In der Begründung zu dem 2005 verliehenen Phillipe Rotthier European Prize for Architecture for town and city reconstruction heißt es, dass die Jury Kusturica für den Bau eines Dorfes, bei dem er die originale Architektur seines Landes [!] verwendet habe, seinen Einsatz für Frieden und Versöhnung sowie seinen Beitrag zur Stärkung und Beförderung des Tourismus würdigt.20 Was aber ist ›sein Land‹, wenn es um Versöhnung geht? Und wenn Kusturica doch vorgeblich einen Ersatz für seine verlorene Stadt Sarajevo schaffen wollte, deren Mischarchitektur seit ewigen Zeiten Bewunderung und Begeisterung hervorruft, dann sieht sein Dorf doch recht anders aus. In die Vermarktung von Ethnodörfern werden auch Geburtsorte von Politikern eingebunden, wie etwa das Dorf Koštunići, aus dem die Vorfahren des einstigen Premiers Vojislav Koštunica21 stammen. Die mediale Promotion dieses bis dahin kaum bekannten Dorfes sollte laut Čolović den Eindruck erwecken, dass der Politiker mit den urbanen Manieren gute Beziehungen zu seinen dörflichen Wurzeln un-

20 Nachzulesen ist dazu genauer unter http://www.civa.be/doc/01/pdf/presse_rotthier_en.pdf (26.02.2014). 21 Vojislav Koštunica, serbischer Rechtsanwalt und Politiker, Vorsitzender der Demokratischen Partei Serbiens, von 2004-2008 Regierungschef, scheiterte an der Frage der Zusammenarbeit mit der Europäischen Union und an der Kosovo-Frage.

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terhält (vgl. Čolović 2006: 272). Auch Koštunica ist – wie zahlreiche Politiker das nachzuweisen trachten22 – ein echter serbischer domaćin.23 Heute wird das Dorf als Ort der Erholung beworben, mit einem nur vorsichtigen Verweis auf den ›familiären Faktor‹, sowie mit dem (ebenso vorsichtigen) Hinweis auf die Geschichtsträchtigkeit der Region, befindet sich doch oberhalb des Dorfes das Plateau Ravna gora, »ein Ort bekannter historischer Ereignisse, der in seiner ursprünglichen Schönheit bewahrt ist.«24 Was Politikern recht ist, ist Regisseuren bzw. Schauspielern billig. Angekündigt ist, dass Radoš Bajić alias Radašin aus der eingangs betrachteten Serie SELO GORI, A BABA SE ČEŠLJA das bisher nur in der virtuellen Welt vorhandene Dorf Petlovac in ein reales zu überführen gedenkt, mit Wachsfiguren, Souvenirs und Öko-Produkten.

4. R ESÜMEE Aus dem hier Dargelegten ergibt sich vorläufig folgendes Resümee: Eine Revitalisierung des Dorfes in der serbischen Medienlandschaft, wobei der imaginativen Vergegenwärtigung des Dorfes eine wichtige Position zukommt, lässt sich unschwer erkennen. Revitalisierung bedeutet in vielerlei Hinsicht Populismus, der die Rückbesinnung auf das ›einfache Volksleben‹, die (ruralen) Wurzeln, die bäuerliche serbische Tradition, Familismus, patriarchales Ethos usw. einfordert bzw. zumindest in die Waagschale wirft. Insofern sind vor allem Serie und Roman trotz aller mögli22 Vgl. das Beispiel zu Nikolić. 23 Laut Čolović ist der Autor des Projekts »Ethnodorf Koštunići« ein pensionierter General namens Čeković, seines Zeichens Begründer der Društo srpskih domaćina (Gesellschaft serbischer Hausherren). 2006 wurde er wegen Amtsmissbrauchs als Generaldirektor von Jugoimport SDRP, des Staatsbetriebs für den Handel mit Waffen und militärischer Ausrüstung, zu zwei Jahren Haft verurteilt und in der Folge verlor das Dorf seine Anziehungskraft als Ort der rituellen Bestätigung der Verwurzelung von Koštunica im ›Volk‹ (vgl. Čolović 2006: 272f.). 24 Auf dem Plateau Ravna gora (im Westen Serbiens) sammelten sich nach der Zerschlagung Jugoslawiens im April 1941 Četnik-Verbände unter Führung des 1946 zum Tode verurteilten Draža Mihajlović. Es handelte sich um royalistische und antikommunistisch ausgerichtete Freischärlerverbände, die im II. Weltkrieg kein einheitliches politisches Konzept verfolgten und keinesfalls homogen waren. Mihajlović sah sich als Repräsentant der Exilregierung und propagierte ein Großserbien. Heute ist Ravna gora mit seinem Denkmal für Mihajlović eine Wallfahrtsstätte für explizit national orientierte Serben geworden.

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chen Differenzierungen von einer wertkonservativen Haltung bestimmt, die unter Umständen auch der politischen Rechten entgegenkommt.25 Es zeigt sich einmal mehr die Zwiespältigkeit zwischen Urbanisierung/Modernisierung und dem Festhalten an konservativen Werten bzw. deren erneuter Popularisierung. Denkanstöße für mögliche Wege aus der realiter über Jahrzehnte stattgefundenen Vernachlässigung des Dorfes können so kaum gegeben werden. Bei Serie und Roman zeigt sich ganz besonders, dass die deklarierten Absichten der Autoren keineswegs unterschätzt werden dürfen. Autor bzw. Erzähler behalten das letzte Wort. Der persönliche, sentimentale Ton des filmischen Narrators bzw. der bekennende Ton des alten Radoje und der hier denkbar einfach strukturierte Skaz, die Veranschaulichung von Lebenswirklichkeit ermöglichen die unkomplizierte Kommunikation von Zuschauern resp. Lesern mit den Produktionen. Die Frage nach authentischen Zeichen schöpferischer Imagination ist besonders für den Roman schwer zu beantworten. Explizite literarische Verfremdungsstrategien sind nicht evident. Wenn der Autor Pajić darauf beharrt, in eine Traditionslinie etwa mit Dragoslav Mihajlovićs Roman PETRIJIN VENAC (1975; Kranz der Petrija) und Danko Popovićs KNJIGA O MILUTINU (1985; Buch über Milutin) zu gehören, dann muss ich dies hier zunächst mit der Bemerkung zurückweisen, dass an der Literarizität und am ethischen Anliegen der zentralen Heldin des zuerst genannten Romans nicht zu zweifeln ist (vgl. Richter 1991), während der Held des zweiten Romans für die schicksalhafte Erfahrung der serbischen Nation und für ein im Endeffekt nationalistisches Programm steht. Was der individuelle Erinnerungsgestus jeweils im Detail signalisiert, bedarf erst noch einer genaueren vergleichenden Untersuchung.26

25 Holm Sundhaussen hat die Wertedebatten serbischer Eliten im 19. und 20. Jahrhundert eingehender untersucht und für die heutige Zeit u.a. auf eine Strömung »organischer Denker« (»organischer Philosophie«) verwiesen, deren kleinster gemeinsamer Nenner das Verständnis der Gesellschaft/Nation als biologischer, hierarchisch strukturierter, männerrechtlicher Organismus ist, dem der Einzelne als bloße »Zelle« untergeordnet bleibe (vgl. Sundhaussen 2007: 149). 26 Das Buch ist Bestandteil einer »populistischen Welle« (vgl. Đordević 1998). Seine schrittweise Kanonisierung geht auf etwas zurück, das Danilo Kiš im Angesicht der großen Kontroverse um sein Buch GROBNICA ZA BORISA DAVIDOVIČA (1976; dt. EIN GRABMAL FÜR B. D, 1983) als kollektivistischen Status eines Buches in einem bestimmten gesellschaftlich-politischen Klima bezeichnet hat (vgl. Kiš 1998: 61-62). Popovićs Buch stellt den Lebensbericht eines domaćin und einstigen Soldaten aus der Šumadija (!) dar, der einem schweigenden Gegenüber im Gefängnis, nach dem II. Weltkrieg, seine tragischen Erfahrungen hinsichtlich Geschichte, Familie und des serbischen Staates erzählt. Ein Vergleich dieses Romans mit dem ›Ethnoroman‹ RADIVOJE GOVORI steht noch

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Ethnodörfer sind ein potentiell eindringliches Instrument nationaler Kulturpolitik; der Wunsch nach positiver Wirkung auf die Belebung des nationalen wie internationalen Tourismus ist da verständlicherweise eingeschlossen. Die Palette der Ansätze reicht von Privatinitiativen, die mitunter dem Kitsch nahe sind und eher in die Rubrik der Pseudodörflichkeit gehören, über die Schaffung von Oasen der Erholung, bis hin zu institutionell geförderten Initiativen, bei denen »nationale Authentizität« und die Glorifizierung der Volkskultur wichtig sind.27 Die Aktion der »Wiederbelebung des Dorfes« dürfe kein Projekt »der Rückkehr zum Alten« sein, nicht der Versuch, frühere gesellschaftliche Beziehungen und traditionelle Kulturmuster wiederherzustellen, auch nicht die alte bäuerliche Lebensweise, die beschwerlich in allen ihren Elementen war und vor der die, die konnten, flüchteten wie »der Teufel vor dem Weihwasser«, mahnt der serbische Soziologe Milovan M. Mitrović (1999: 185). Das, was die hier thematisierten künstlerischen Produktionen an Vorstellungsbildern von Dörfern, aber eben auch von Verhaltensweisen und idealisierten Charakteristika ihrer Bewohner, an kulturellen Erfahrensweisen zutage fördern, lässt nur sehr eingeschränkt die Entdeckung solcher Sinnhorizonte zu, die den Wunschtraum des Soziologen nach einem zivilisierten Dorf als einem, das komplementär zur Stadt funktioniert und existiert, mit in den Blick nehmen.

L ITERATUR Babić, Lepa/Kordić, Boris (2010): »Domaće TV-serije i nacionalna osećanja omladine Beograda« [Einheimische TV-Serien und die nationalen Gefühle der Belgrader Jugend], in: Sociološki pregled XLIV, 3, S. 439-451. Bajić, Radoš (2011): I tako... Selo gori a baba se češlja, Beograd: Glas crkve, Contrast studios. Čolović, Ivan (2006): Etno, Beograd: Biblioteka xx vek; Knjižara Krug. Ćurković, Miloš (2005): »Prva petoletka: domaće televizijske serije i transformacija sistema vrednosti u tranziciji« [Der erste Fünfjahreszeitraum: einheimische Fernsehserien und die Transformation des Wertesystems in der Transition], in: Sociološki pregled XXXIX, 4, S. 357-381. Đorđević, Mirko (1998): »Die Literatur der populistischen Welle«, in: Thomas Bremer/Nebojša Popov (Hg.), Serbiens Weg in den Krieg. Kollektive Erneue-

aus. Popovićs Roman genießt relativ ungebrochen große Popularität und erlebte bisher mehr als 40 Auflagen. 27 Detailliert ist zu dieser Problematik nachzulesen in Svašek (2007).

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Das Dorf als Anti-Idylle Polnische literarische und filmische Narrative des Verdrängten M AGDALENA M ARSZAŁEK

F ERNER SCHÖNER S CHEIN (I) Im Jahre 2012 kam in die polnischen Programmkinos der Film Z DALEKA WIDOK JEST PIĘKNY (dt. FERNER SCHÖNER SCHEIN, engl. IT LOOKS PRETTY FROM A DISTANCE) von Anka und Wilhelm Sasnal. Wilhelm Sasnal ist ein erfolgreicher bildender Künstler, der – gemeinsam mit seiner Frau – seit einigen Jahren mit dem Film experimentiert, inzwischen auch mit dem Spielfilm. FERNER SCHÖNER SCHEIN spielt auf dem Lande, in einem südpolnischen Dorf. Was erzählt wird, wirkt verstörend: Der Hauptprotagonist, ein junger Man namens Paweł, lebt mit seiner dementen alten Mutter in einem devastierten Haus am Rande des Dorfes und verdient sein Geld mit der Verschrottung alter Autos auf dem Hof. Als er eines Tages plötzlich verschwindet, beginnen die Dorfbewohner – zunächst zurückhaltend, dann ungehemmt in einer Rauborgie – sein armseliges Gut auseinanderzunehmen; die Reste des Hauses und des Hofes werden zum Schluss in Brand gesetzt. Als Paweł – genauso plötzlich wie er verschwunden ist – wieder im Dort auftaucht, wird er von seiner Freundin umgebracht, die – enttäuscht über sein Verschwinden – sich auch an der Raub- und Zerstörungsaktion der gesamten Dorfgemeinschaft beteiligt hatte. Der Plot ist drastisch und rätselhaft. Es wird schnell klar, dass es sich dabei nicht um eine realistische Filmpoetik handelt – trotz authentischer Orte, ethnographischer Details und einer quasi-dokumentarischen Kamera. Sasnals Film verzichtet weitgehend auf Dialoge, Musik und andere filmische Dramatisierungsmittel, stellt die Figuren ohne jegliche psychologische Tiefe dar und erzählt technisch minimalistisch, mit einer statischen Kamera, in ästhetisch anspruchsvollen Bildern über Gewaltakte, deren Motivation im Dunkeln liegt. Die Gewalt erscheint nicht nur unmotiviert, sondern auch, nicht zuletzt angesichts des ärmlichen Guts, fast absurd. Die Dorfgemeinschaft wirkt sozial und moralisch vollkommen erodiert, ihre Behausungen

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sind kaputt und hässlich, ihre Sprache karg und vulgär, und ihr Gewaltverhalten gegenüber den Tieren (Hunden) und Menschen ähnelt einer rohen Naturgewalt. Nicht einmal die Landschaft – ferner schöner Schein – ist wirklich schön: Der trübe Fluss und der dunkle Wald wirken in den prächtigen Sommeraufnahmen bedrohlich. Die filmischen Bilder kommen einem dabei nicht unbekannt vor: Der polnische Film hat in den letzten Jahrzehnten etliche Bilder dörflicher Gewalt und Misere hervorgebracht, exemplarisch seien hier nur – für den Spielfilm – Grzegorz Królikiewiczs TAŃCZĄCY JASTRZĄB (DER TANZENDE HABICHT, 1977) und Wojtek Smarzowskis WESELE (DIE HOCHZEIT, 2004) sowie DOM ZŁY (DAS BÖSE HAUS, 2009) genannt. Trotzdem wäre es verfehlt, in Sasnals filmischer Fiktion, die mit einer quasidokumentarischen Ästhetik auf eine Allegorie hinzielt, lediglich eine weitere zugespitzte filmische Dorf-Darstellung als Metapher der gesellschaftlichen Verrohung zu sehen. Vielmehr erscheint das Dorf in Sasnals Film als ein besonderer ›Bildspeicher‹, der Bilder von Gewalt, sozialer Kälte und von verwilderten dörflichen Topographien parat hält, die nicht nur historische Assoziationen hervorrufen, sondern auch an andere mediale Darstellungen erinnern, darunter an ländliche polnische Landschaften in Claude Lanzmanns Film SHOAH. Sasnals Film entwickelt in diesem assoziativen Kontext, auf den noch genauer einzugehen ist, eine Motivation und Kohärenz, die einer realistischen oder auch metaphorischen sozialkritischen Lesart weitgehend fehlt. Die filmische Dorf-Fiktion Sasnals fügt sich vielmehr in Bildern, die auch an andere Bilder erinnern, zu einer allegorischen Erzählung zusammen, die Historisches nur indirekt adressiert, sich aber als Imagination des Dorfes und der ländlichen Landschaft darbietet, die vom Wissen über die Geschichte tangiert ist. In diesem interpretatorischen Zusammenhang bekommt der Film Sasnals – gerade vor dem Hintergrund der zahlreichen polnischen literarischen und filmischen Darstellungen des Dorfes als Anti-Idylle, sei es in der sogenannten Bauernliteratur im 20. Jahrhundert, sei es in den Filmen von Jan Jakub Kolski oder Wojtek Smarzowski – eine besondere Bedeutung. Um dies zu explizieren, bedarf es aber noch einer weiteren Kontextualisierung: So gilt mein Interesse zunächst der historischen Spezifik der polnischen Dorf-Imaginationen sowie den prägnanten gegenwärtigen Darstellungsweisen des Dorfes in der polnischen Literatur und im Film.

D AS D ORF UND DIE B AUERN : D ISKURSE DER S UBALTERNITÄT Das Dorf und die ländliche Provinz führen in der polnischen Gegenwartsliteratur, und mehr noch im polnischen Gegenwartsfilm, eine prekäre Existenz: Einerseits stellt das Dörfliche ein vertrautes bis konventionalisiertes Setting literarischer und

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filmischer Sujets dar, andererseits werden immer wieder kritische Stimmen laut, die den Mangel an wirklichkeitsnahen, realistischen Darstellungen des Dorfes in der heutigen Prosa und im Film beklagen. Was genau ist mit dieser Kritik gemeint? Andrzej Barański, Filmregisseur und Drehbuchautor, der seit den 1970er Jahren Dokumentar- und Spielfilme dreht, die gerne die polnische Provinz thematisieren, stellt fest: »Wenn die Handlung in der Stadt spielt, dann ist es so, als würde es überall gelten, wenn die Handlung aber auf dem Lande spielt, dann nur auf dem Lande. […] Dazu kommt, dass es immer noch wenig Literatur gibt, die das Dorf beschreibt. Über die Stadt kann man schreiben, auch wenn man auf dem Lande oder im Wald lebt, über das Dorf zu schreiben kann man dagegen nur dann, wenn man auf dem Lande lebt.« (Barański 2009, zit. n. Masternak 2010: 69)1

Interessant ist Barańskis Beobachtung insofern, als hier eine Opposition des Universalen und des Partikularen zum Ausdruck kommt, die wir aus der postkolonialen Kritik kennen. Mit einer universalen Stimme zu sprechen kann man nur vom Zentrum aus, aus der Position kultureller Dominanz: Was im Zentrum spielt, gilt überall. Was aber die Peripherie, die Provinz betrifft, kann ›nur‹ partikular bleiben, es ist als das Andere markiert, das eines ›Expertentums‹ bedarf. Der versperrte Zugang zum Universalen ist ein Hinweis auf Subalternität. In der polnischen Kultur verhält sich also das Dorf zur Stadt – wenn man Barański weiter denkt – wie das Untergeordnete zum Übergeordneten. Es ist eine hierarchische kulturelle Differenz, die weitere Oppositionen konnotiert wie primitiv-zivilisiert, rückschrittlichfortschrittlich, irrational-rational. Bekanntlich ist das Subalterne – als das Andere des Universalen – eine geeignete Fläche für phantasmatische Projektionen, Zuschreibungen und Mythisierungen. Die in der polnischen Kultur besonders stark ausgeprägte hierarchische Stadt-Land-Opposition mag also einiges erklären an der prekären Existenz des Dorfes in vielen, nicht nur gegenwärtigen, literarischen und filmischen Narrativen, die auf das Dorf als Schauplatz und Handlungsort zurückgreifen, dabei aber nicht unbedingt vom (wirklichen, realen) Dorf handeln. Zbigniew Masternak, ein junger Autor autobiographischer Prosa, in der er auf seine Kindheit und Jugend auf dem Lande zurückblickt,2 entwirft in einem Essay über das Dorf im polnischen Kino eine Kritik der zeitgenössischen Filmproduktion, die dieses Verhältnis noch anders beleuchtet:

1

»Jeśli coś się dzieje w mieście, to jakby wszędzie, ale jeśli na wsi, to tylko na wsi. […] Inna rzecz, że ciągle mało jest literatury opisującej wieś. O ile o mieście pisać można, mieszkając na wsi albo w lesie, o tyle o wsi można pisać, wyłącznie mieszkając na wsi.«

2

Masternaks Prosa wurde 2011 von Andrzej Barański verfilmt (KSIĘSTWO).

428 | M AGDALENA M ARSZAŁEK »Woher kommt die Angst der Filmemacher, die Wahrheit über das polnische Dorf zu erzählen? Auf dem Lande lebt doch immer noch fast die Hälfte der polnischen Gesellschaft. Warum müssen die meisten Filme in Warschau und in der Gegend von Warschau spielen? […] Im polnischen Kino wurden das Dorf und seine wirklichen Probleme bisher gar nicht gezeigt. Das polnische Dorf hat im Transformationsprozess nach 1989 verloren. […] Die Dorfbewohner sind ohne Zweifel Verlierer der polnischen Transformation und stehen als Gruppe ganz unten in der sozialen Hierarchie.« (Masternak 2010: 68f.)3

Lassen sich in der polnischen Gegenwartsliteratur vereinzelt Autoren finden, wie Masternak, Daniel Odija oder auch – bis zu einem gewissen Grade – Andrzej Stasiuk, die das Leben im Dorf in Zeiten der politisch-ökonomischen Transformation gesellschaftskritisch und realistisch porträtieren, so findet man kaum derartige Darstellungen im polnischen Gegenwartsfilm. Wie Masternak in seinem Essay feststellt, erzählen die Filmemacher über das polnische Dorf heute entweder im Genre einer klischeehaften rustikalen Komödie bzw. einer grotesken Satire oder in der Poetik eines magischen Realismus, der das Dorf als einen verwünschten oder verfluchten, jedenfalls märchenhaften Ort darstellt, fern jeglicher Bezüge zur Gegenwartsproblematik und fern topographischer und sozialer Konkretion (ebd.). Insbesondere die Poetik des magischen Realismus erscheint im polnischen Kino seit den 1980er Jahren stark ausgeprägt – seit der erfolgreichen Verfilmung von Edward Redlińskis Roman KONOPIELKA (1972) im Jahre 1981. Diese Poetik wird dominant im filmischen Werk von Jan Jakub Kolski und Andrzej Kondratiuk. Beide Filmemacher transformieren die ländliche Topographie ins Magische, Mythische oder Wunderbare, um in diesem Setting existentielle bzw. metaphysische Fragen zu behandeln. Das mythogene Potential des Dörflichen in der polnischen Literatur – und noch deutlicher im polnischen Film – bei einem gleichzeitigen Defizit an Auseinandersetzungen mit der gelebten Wirklichkeit des Dorfes wirft einige Fragen auf. Nicht das Mythogene des Dörflichen selbst (was keineswegs nur eine polnische Besonderheit darstellt) verwundert; vielmehr ist die Frage interessant, welche Narrative in den mythisierenden Poetiken verdrängt, ersetzt oder erst gar nicht zugelassen werden. Gewiss liegt es nicht nur an der Unattraktivität des Dorfes als Transformati-

3

»Skąd bierze się strach filmowców przed ukazaniem prawdy o polskiej wsi? Przecież na wsi żyje nadal prawie połowa polskiego społeczeństwa. Dlaczego większość filmów musi rozgrywać się w Warszawie i okolicy. […] W polskim kinie wieś i jej rzeczywiste problemy w ogóle nie zostały ukazane. Po przemianach 1989 roku polska wieś przegrała. […] Mieszkańcy wsi to bez wątpienia przegrani polskiej transformacji, grupa stojąca najniżej w społecznej hierarchii.«

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onsverlierer (sollte diese These überhaupt pauschal zutreffen), dass das Dorf in Literatur und Film heute vernachlässigt bzw. ins Komische und Groteske oder Mythische und Märchenhafte verschoben wird. Die Schwierigkeit, über das Dorf wirklichkeitsnah zu erzählen, hat vielmehr v.a. mit der tief verwurzelten kulturellen Subalternität des Dörflichen – und vor allem des Bäuerlichen – in der polnischen Kultur zu tun. Die polnische Literatur entwickelte im Laufe der Jahrhunderte eine starke Tradition idyllischer Topoi des Ländlichen (darunter auch des Dorfes), nicht zuletzt aufgrund der prägenden kulturellen Rolle des Landadels in der polnischen Geschichte der frühen Neuzeit. Größtenteils aus dieser Schicht ist im 19. Jahrhundert das polnische Bildungsbürgertum (inteligencja) hervorgegangen. Die ländliche Idylle aus adliger Perspektive, wie sie z.B. in der Nationalromantik des Epos PAN TADEUSZ von Adam Mickiewicz (1832) kanonisch wird, hat aber ihre Kehrseite – das Elend der versklavten Bauern, die auf den polnischen Gebieten unter preußischer, österreichischer und russischer Herrschaft erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich von der Leibeigenschaft befreit wurden. Die sozialkritischen Darstellungen des Dorfes im polnischen Realismus des 19. Jahrhunderts, die das Schicksal der Bauern thematisieren, und in der Literatur des 20. Jahrhunderts – erst dann werden nämlich Autoren bäuerlicher Herkunft im Literaturbetrieb sichtbar – greifen gerne auf Ästhetiken zurück, die die Idylle in ihr Gegenteil verkehren. Die ästhetischen Gegenpositionen, die im Dörflichen die Anti-Idylle – das Grausame, das Horrende, das Unheimliche – lokalisieren, entwickeln gerade vor dem Hintergrund und auf dem Nährboden des Idyllischen (als kultureller Folie) ihre Wirkung und Intensität. Daraus resultiert die ebenfalls starke polnische Tradition der Darstellung des Dorfes in grotesken, deformierenden bzw. schockierenden Ästhetiken, die bis zur Allegorisierung des Bösen im Dörflichen reichen. Auf groteske Ästhetiken sowie mythogene Traum-Poetiken greifen auch gerne die Vertreter der sogenannten Bauernliteratur4 in der Nachkriegszeit zurück. Diese in der Volksrepublik Polen starke literarische Strömung setzte – trotz aller sozialistischen Ideologisierung und Folklorisierung des Dorfes – den Prozess der Gewinnung und Artikulation bäuerlicher Perspektive in der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts fort. Die Prosa jener Autoren befasst sich vor allem mit den radikalen Veränderungen in der sozialen Struktur des Dorfes, die mit Agrarreform, Nachkriegsmigrationen, Urbanisierung und sozialem Aufstieg der bisher Unterprivilegierten verbunden waren. Als Schattenseite jener Prozesse wurden nicht nur der Zerfall traditioneller Strukturen und Werte, das Schwinden der bäuerlichen Kultur und die damit einhergehenden Identitätsprobleme behandelt (u.a. in Kawalec 4

Zu dieser Strömung gehören u.a. Edward Redliński, Julian Kawalec, Wiesław Myśliwski, Marian Pilot, Tadeusz Nowak.

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19645), sondern auch die moralische Fragwürdigkeit systemkonformer Karrieren im Realsozialismus und – gelegentlich thematisiert (u.a. in Myśliwski 1978) – die Erinnerung an Gewaltakte, die die Nachkriegs-Agrarreform und die Enteignung der Gutsherren nicht selten begleitet hatten. Sucht man nach einem gemeinsamen Nenner der polnischen Bauernliteratur im 20. Jahrhundert, so lässt sich resümieren, dass diese in erster Linie ein Klassen-Trauma verhandelt: eine nicht schuldfreie Emanzipation, die keineswegs die soziale Brandmarkung des Bäuerlichen als Subalternes zu nivellieren vermochte. Auch nach 1989 verliert diese Topik in der polnischen Literatur keineswegs an Bedeutung. Ein prägnantes Bild jenes bäuerlichen Klassen-Traumas oder -Komplexes entwirft Joanna Bator in ihrem 2009 erschienenen Roman PIASKOWA GÓRA (dt. SANDBERG, 2011), einer Familiensaga, die drei Generationen im sozialistischen Nachkriegspolen porträtiert. Die bäuerlichen Ankömmlinge in Niederschlesien – den neuen Westgebieten Polens nach dem Zweiten Weltkrieg –, die aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten stammen, kommen auf ihrem Weg nach Westen zufällig in den Besitz eines Familienalbums einer ebenfalls aus dem Osten ausgesiedelten polnischen adligen Familie. Das Album verbleibt im Besitz der ehemaligen Bauern und wird im Laufe der Zeit mit den eigenen Familienfotos gefüllt. So verschaffen sich die Menschen ›von nirgendwo‹, die auch in ihrer neuen Heimat – im ›Polen der Arbeiter und Bauern‹ – nicht richtig ankommen, eine imaginäre Zugehörigkeit, eine Wunsch-Genealogie. »Post-adlig« nennt die Autorin und Publizistin Bożena Keff (2010: 249f.) die polnische Nachkriegsgesellschaft, die bis heute an ihrem Komplex der bäuerlichen Herkunft ›von nirgendwo‹ leidet und das Adlige zum imaginären Fetisch erhebt. Die Subalternität des Ländlichen (als Bäuerlichen) in der polnischen Kultur weist eine aus der Geschichte resultierende Spezifik auf, die auch auf die prekäre Existenz des Dorfes in Literatur und Film nach 1989 Licht wirft. Die von Masternak (2010) beklagte Abwesenheit des wirklichen Dorfes im heutigen Film sowie die klischeehafte rustikale Komik als Darstellungsmodus einerseits und das der Wirklichkeit enthobene Magische andererseits erschöpfen dabei nicht das Problem. Einiges deutet darauf hin, dass das Dorf, insbesondere das ganz unten in der sozialen Hierarchie stehende, im Sozialismus kollektivierte Dorf (in den Gebieten, in denen ein großer Bevölkerungsaustausch nach dem Zweiten Weltkrieg stattfand), dass jenes Dorf also, von dem man auch ohne Einschränkung heute behaupten darf, es stelle den absoluten Verlierer der wirtschaftlichen Transformation dar, zum Inbegriff der Zerstörung aller sozialen und kulturellen Werte, ja zum Inbegriff des histo-

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Julian Kawalec’ Roman TAŃCZĄCY JASTRZĄB (dt. DER TANZENDE HABICHT) wurde 1977 von Grzegorz Królikiewicz verfilmt.

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rischen Bösen selbst geworden ist. Eine solche Kodierung des Dorfes deutet sich bereits in der Prosa Andrzej Stasiuks an, des literarischen Kartographen ostmitteleuropäischer Provinz, der die verschlafenen, stagnierenden, zerstörten ländlichen Landschaften bereist und beschreibt (vgl. u.a. Stasiuk 2004). Solche Dörfer gibt es u.a. in seinem Erzählband OPOWIEŚCI GALICYJSKIE6 (1995, dt. GALIZISCHE GESCHICHTEN, 2002), die in der südostpolnischen Post-LPG-Gegend spielen, in der sich die Spuren der gewaltsamen Geschichte des 20. Jahrhunderts, der ruinösen sozialistischen Wirtschaft sowie der frühkapitalistische Müll zu einer hybriden Landschaft zusammensetzen, deren Bewohnern nicht mehr viel übrig bleibt als vor sich hin zu dämmern bzw. im Delirium zu halluzinieren. Das postkommunistische Dorf in der Prosa Stasiuks birgt in sich allerdings noch ein poetisches, Imagination anregendes Potenzial – schließlich gilt Stasiuks melancholische Geographie der ostmitteleuropäischen Provinz als ein geopoetischer Entwurf eines anderen, dem westlichen Zentrum in seiner kulturellen Renitenz entgegengesetzten Europa (vgl. Marszałek 2010). In den Filmen von Wojtek Smarzowski aber, die ebenfalls in solchen Topographien spielen – wie WESELE (DIE HOCHZEIT) von 2004 und DOM ZŁY (DAS BÖSE HAUS) von 2009 – fehlt diesen Gegenden schon jegliche Spur von Poetizität. Das sozialistische LPG-Dorf in DAS BÖSE HAUS wie auch das frühkapitalistische Dorf in DIE HOCHZEIT sind Orte einer vollkommenen sozialen und moralischen Zersetzung, Depravierung und Verrohung. In beiden Filmen finden in grotesk hyperbolisierten alkoholischen Orgien Betrug, Raub, Gewalt und – in DAS BÖSE HAUS – auch Mord statt. Die negative Besetzung des Dorfes als Anti-Idylle erreicht in den Filmen Smarzowskis einen (zumindest vorläufigen) Höhepunkt. Das Signum der anti-bukolischen Verkehrung des Dorfes stellt dabei der permanente, sich zur grotesken Metapher des Verfalls steigernde Alkoholexzess dar. Symptomatisch in den Filmen Smarzowskis ist nicht nur das Dorf als Ort der satirischen gesellschaftskritischen Gegenwartsdiagnose. Vielmehr wird im Dorf auch eine der historischen Quellen des gesellschaftlichen Übels lokalisiert, nämlich die als allumfassend imaginierte soziale Demoralisierung im Realsozialismus (vor allem im Film DAS BÖSE HAUS, der Ende 1970er und Anfang 1980er Jahre spielt). So werden das kollektivierte wie auch das postkommunistische Dorf zum (in der Hyperbolisierung durchaus klischeehaften) Brennpunkt – und Inbild – der gesellschaftlichen Notlage.

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Die Erzählungen wurden 2007 unter dem Titel WINO TRUSKAWKOWE (ERDBEERWEIN) von Dariusz Jabłoński verfilmt.

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D IE W IEDERKEHR

DES

V ERDRÄNGTEN

In jüngster Zeit hat der polnische Film das Dorf aber auch noch anders für sich entdeckt, nämlich im Kontext der gegenwärtigen Revisionen des historischen Gedächtnisses, die nach 2000 in Polen begonnen haben und die sich auf die Frage des polnisch-jüdischen Verhältnisses während der deutschen Okkupation und der polnischen Mittäterschaft am Holocaust konzentrieren. Der Spielfilm reagierte bisher etwas zögernd (im Vergleich zur Literatur, Kunst und zum Theater) auf die große gesellschaftliche Debatte, die seit mehr als einer Dekade in Polen geführt wird (vgl. u.a. Henning 2001). Es ist wichtig zu betonen, dass diese Beobachtung ausschließlich für den Spielfilm gilt – und nicht für den Dokumentarfilm. Seit den frühen 1990er Jahre wurden in Polen immer wieder Dokumentarfilme gedreht, die jene Geschichtsdebatte vorbereitet bzw. einen wichtigen Beitrag dazu geleistet haben, so z.B. Paweł Łozińskis Film MIEJSCE URODZENIA (GEBURTSORT) von 1992. Łoziński führt in seinem Film den in den 1960er Jahren emigrierten polnisch-jüdischen Schriftsteller Henryk Grynberg zu seinem Heimatdorf zurück, um den Mord an seinem Vater während der deutschen Okkupation aufzudecken. Von großer Bedeutung für die polnische Geschichtsdebatte sind ferner die Filme von Agnieszka Arnold, die Ende der 1990er Jahre zum Massaker in Jedwabne recherchierte. Das Buch SĄSIEDZI (2000, dt. NACHBARN, 2001) von Jan T. Gross, das Polen erschütterte (Gross behandelt darin den von den polnischen Bewohner des Städtchens Jedwabne verübten Mord an ihren jüdischen Nachbarn im Juli 1941), verdankt seinen Titel dem gleichnamigen Film über Jedwabne von Agnieszka Arnold (2001).7 Gross’ Buch brachte nicht nur die große Debatte ins Rollen, sondern initiierte auch intensive wissenschaftliche Nachforschungen sowie künstlerische Auseinandersetzungen mit der verschwiegenen Vergangenheit. Im Jahre 2012 antwortete zugleich das Off- wie auch das populäre Kino mit zwei Filmproduktionen auf diese polnische Debatte. Im Low-Budget-Film SEKRET (2012, dt. DAS GEHEIMNIS) von Przemysław Wojcieszek artikuliert sich die hilflose Wut der Enkel-Generation über die verschwiegene und verlogene Geschichte: Zwei junge Protagonisten versuchen vergeblich den durchaus sympathischen Großvater, der in einem ehemaligen jüdischen Haus auf dem Lande wohnt, zu einer Bekenntnis zu zwingen. Sie verdächtigen ihn, die nach dem Ende des Kriegs heimkehrenden Juden umgebracht bzw. dem Tod ausgeliefert zu haben. Zwar wird das Geheimnis

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Gross erwähnt die Bedeutung der Filme Arnolds für seine Forschung im einleitenden Kapitel von SĄSIEDZI und bedankt sich bei der Filmemacherin für die Erlaubnis, den Titel ihres noch nicht fertig gestellten zweiten Dokumentarfilms über Jedwabne für sein Buch zu übernehmen (Gross 2000: 13).

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des Großvaters nicht gelöst, was aber im Film gerade mit der Ambivalenz der Figur des Großvaters verhandelt wird (er könnte auch unschuldig sein), ist vor allem die fehlende Sensibilität jener Generation gegenüber solchen Fragen, auf die die Enkel wiederum mit Aggression und Verzweiflung antworten. Władysław Pasikowskis Film POKŁOSIE (2012, dt. NACHLESE) erzählt wiederum im Genre eines ActionFilms, der in jüngster Vergangenheit spielt, von investigativen Recherchen eines jungen Bauern, der die grausame Wahrheit über die Ermordung der ehemaligen jüdischen Dorfbewohner durch ihre polnischen Nachbarn in den Kriegsjahren ans Tageslicht bringt. Es gehört zur Genre-Konvention, dass der Protagonist für seine Enthüllungen, die die Dorfgemeinschaft gegen ihn aufbringen, mit seinem Leben bezahlen muss. Angelehnt an die Ereignisse in Jedwabne, erzählt der Film Pasikowskis – wohlgemerkt genrespezifisch zugespitzt – nicht nur über die Geschichte, sondern auch über ihre Nachwirkungen für die Dorfgemeinschaft bis heute. Mit Pasikowskis Film und seinem Kinoerfolg hat die polnische Geschichtsdebatte die Sphäre populärer Kultur erreicht. Die seit mehr als zehn Jahren geführten Diskussionen über das polnischjüdische Verhältnis während der deutschen Okkupation in Polen haben zunehmend die Aufmerksamkeit auf die Provinz gelenkt. So wurden in den letzten Jahren in Polen einige wichtige historische und ethnologische Forschungsarbeiten vorgelegt, die sich dem bisher wenig untersuchten Kapitel in der Geschichte des Genozids an den europäischen Juden widmen: den Verhaltensweisen und Handlungsspielräumen der polnischen Bevölkerung während des Holocaust, und zwar insbesondere auf dem Lande in der letzten Phase der Vernichtung nach 1942. Eine dieser Publikationen8 ist die Studie JEST TAKI PIĘKNY SŁONECZNY DZIEŃ… (ES IST EIN SCHÖNER SONNIGER TAG…) von Barbara Engelking (2011), die das Schicksal der Juden, die sich in jener Zeit auf dem Lande zu retten versuchten, anhand von bisher wenig beachteten Zeugnissen beleuchtet. Engelkings Erkenntnisse sind nicht weniger erschütternd als die Gross'sche Abhandlung über Jedwabne. Die Autorin stellt zum Schluss ihres Buchs fest: »Verantwortlich für die Vernichtung der Juden in Europa ist das nationalsozialistische Deutschland. […] An der Peripherie der Vernichtung jedoch gab es Platz für die mehr oder weniger freiwilligen Kollaborateure des deutschen Unterfangens. Die polnischen Bauern waren Freiwillige im Werk der Judenermordung. « (Engelking 2011: 257)9

8 9

Vgl. auch Grabowski (2011), Engelking/Grabowski (2011), Markiel/Skibińska (2011). »Odpowiedzialność za eksterminację Żydów w Europie ponoszą hitlerowskie Niemcy. […] Niemniej na peryferiach Zagłady znalazło się miejsce dla mniej lub bardziej

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Im Hinblick auf die existenzielle jüdische Erfahrung in der polnischen Provinz der letzten Kriegsjahre spricht Engelking von einer »menschlichen Wüste« (ebd.: 259), um diese Erfahrung aus der Opfer-Perspektive zu beschreiben. Engelkings Erkundungen werfen auch weitere Fragen auf, die die Autorin als Forschungsdesiderat anzeigt, nämlich die nach den gesellschaftlichen und anthropologischen Konsequenzen jener in vielen Dörfern und Gemeinden über Jahrzehnte hinweg verschwiegenen und tabuisierten Verrate und Morde für die Dorfgemeinschaften in der Nachkriegszeit und bis heute. Schaut man rückblickend auf die polnische Nachkriegsliteratur, die sich mit dem Dorf beschäftigt, so sucht man vergeblich nach solchen Themen. Sie sind auch in der bereits erwähnten Bauernliteratur der Nachkriegszeit, die die historischen und sozialen Traumata des polnischen Dorfes – nicht selten in epischer Breite – behandelt, nicht zu finden. Sie finden sich dagegen in vielen jüdischen Zeugnissen und Erinnerungen, die seit 1989 in Polen zahlreich publiziert werden: sowohl in den Überlebensberichten (u.a. von Samuel Willenberg, Thomas Blatt, Baruch Milch) als auch in der literarischen autobiographischen und testimonialen Prosa, u.a. von Ida Fink, Henryk Grynberg oder Hanna Krall. Nur fügen sich die jüdischen und die polnischen Narrative über die Okkupationszeit bis heute kaum zu einer Erzählung zusammen. Es bleibt die Frage offen, inwieweit sich die verdrängte Geschichte in den ja nicht selten dämonisierten literarischen und filmischen Bildern des Dorfes doch heimlich (und unheimlich) artikuliert.10 Im gewissen Sinne lässt sich Jerzy Kosińskis Roman THE PAINTED BIRD (1965, dt. DER BEMALTE VOGEL, 1965), der in der polnischen Übersetzung (MALOWANY PTAK) erst im Jahre 1989 erschienen ist, als ein ergänzendes Gegenstück zu polnischen ›magischen‹ Darstellungen des Dorfes betrachten, zumal der USamerikanische Autor polnisch-jüdischer Herkunft, der Ende der 1950er Jahre aus Polen emigrierte, sich in seinem Buch als ausgezeichneter Ethnograph und Kenner der polnischen folkloristischen Dämonologie zeigt (vgl. dazu Janion 1992/1998). THE PAINTED BIRD ist eine ins Phantastische abgleitende Fiktion über die Odyssee eines kleinen Jungen durch die osteuropäischen ländlichen Provinzen während des Zweiten Weltkriegs. Autobiographisch motiviert stellt das Buch eine symbolischmythische Transposition der traumatischen Kindheitserfahrung dar. Kosiński ver-

dobrowolnych współpracowników niemieckiego przedsięwzięcia. Polscy chłopi byli wolontariuszami w dziele wymordowania Żydów.« 10 Interessant in diesem Kontext ist u.a. der Film POGRZEB KARTOFLA (1990, DAS BEGRÄBNIS EINER KARTOFFEL) von Jan Jakub Kolski: In der typisch ›magischen‹ Filmpoetik Kolskis wird von der Rückkehr eines (nicht-jüdischen) KZ-Häftlings in sein Dorf erzählt, der von der Dorfgemeinschaft verstoßen wird.

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zichtet auf faktographische Details (darunter auch auf eine jüdische Markierung der Identität des Jungen – er ist ein Anderer) im Dienste einer künstlerischen Vision, die in drastischen und beinahe archetypischen Bildern von Gewalt, Wahnsinn, Sexualität und Grausamkeit Traumatisches verarbeitet. Die polnische Literaturwissenschaftlerin Maria Janion spricht in ihrer Studie über Kosińskis Buch von einem »phantastischen Initiationsroman« (ebd.: 214) und von einem »Anti-Märchen« (ebd.: 225), in dem die kindliche Imagination und die bäuerliche dämonologische Vorstellungswelt miteinander verschmelzen. »[Kosińskis] Ästhetik bedient sich einer grellen Phrenesie nicht um ihrer selbst willen, sondern um ein kindlichbäuerliches Weltbild zu schaffen, in dem die Symbole des Bösen vorherrschen.«11 (Ebd.: 218f.) Janion argumentierte mit ihrer Studie Anfang der 1990er Jahre gegen die damalige negative Rezeption des Romans in Polen, die auf einer strikt autobiographischen Lesart beruhte: »Kosiński schuf eine geniale Stilisierung der osteuropäischen, […] polnisch-weißrussischen Volkstümlichkeit. Die zu künstlerischen Zwecken verwendete Ethnographie wurde zur Maske der vom Bösen beherrschten Welt. […] Das drastische Beispiel der Rezeption von Der bemalte Vogel in Polen, wo das Buch mit den schlimmsten Verleumdungen und Unterstellungen empfangen wurde, zeigt, dass die Grenze der Kunst missachtet wurde, auf die Kosiński doch so deutlich verwiesen hat.« (Ebd.: 221) 12

Zwei Jahrzehnte später ist es allerdings ersichtlich, dass Kosińskis grausames AntiMärchen in traumpoetisch verschlüsselten Visionen Erfahrungen verhandelt, die an die Grenze des Erzählbaren in der polnischen Kultur stoßen. Mit der Missachtung der künstlerischen Vision in der biographisch-faktographisch ›entlarvenden‹ Rezeption, was Janion als Verletzung der Kunstgrenze diagnostiziert, hat die polnische Kritik Anfang der 1990er Jahre auf jene diskursive Grenze unwillentlich verwiesen.

11 »[Kosińskiego] estetyka posługuje się jaskrawą frenezją nie dla celów epatowania, lecz dla stworzenia chłopsko-dziecięcego świata, w którym górują symbole zła.« 12 »Kosiński stworzył genialną stylizację ludowości wschodnioeuropejskiej […], polskobiałoruskiej. Odpowiednio artystycznie użyta etnografia stała się maską świata, którym włada zło. […] Drastyczny przykład recepcji Malowanego ptaka w Polsce, gdzie obrzucono go najgorszymi obelgami i pomówieniami, dowodzi, że została naruszona granica sztuki, którą przecież Kosiński obrysował tak mocno i tak wyraźnie.«

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F ERNER SCHÖNER S CHEIN (II) Zurück zum Film von Anka und Wilhelm Sasnal: FERNER SCHÖNER SCHEIN greift einerseits die im polnischen Film durchaus vertrauten Bilder des Dorfes als Ort der rohen Gewalt, des verdrängten Unrechts und seiner zersetzenden Nachwirkung auf. Trotzdem ist – andererseits – die filmische Erzählung Sasnals weit entfernt sowohl von den tradierten Ästhetiken eines »magischen Realismus«, der in dörflichen Topographien Existenzielles und Metaphysisches verhandelt, als auch vom Dorf als ›privilegierte‹ Topographie einer sozialkritischen Groteske. Sasnals Bilder sind weder grotesk noch ›magisch‹, auch wenn sie sich in der Hyperbolisierung der Atrophie des Sozialen zu einer Parabel zusammenfügen. Zu einer Parabel über die »menschliche Wüste«, die einiges in Erinnerung ruft, was die jüngsten Nachforschungen zum polnischen Dorf im Krieg – von Arnold und Gross bis zu Engelking – ans Tageslicht gebracht haben. Es gibt nur wenige Signale im Film, die darauf unmittelbar hinweisen: Im Grunde ist es nur ein einziger flüchtiger Dialog, in dem erwähnt wird, dass während des Kriegs Frauen und Kinder im Fluss ertrunken sind (ertränkt worden sind?) – es waren aber, wie es heißt, »keine Polen«. Aber auch der in der Gegenwart spielende – und dadurch verwirrende – Plot vom Verschwinden und vom Raub, vom Wiederkommen und von Mord ruft historische Assoziationen hervor. Sasnals Film ist aber weder eine Erzählung über den Holocaust noch eine über die Nachforschungen der Nachgeborenen zur Geschichte der polnischen Provinz in der Zeit der Okkupation. Vielmehr handelt es sich bei diesem Film um eine künstlerische Transposition des schockierenden, erst in den letzten Jahren so evident gewordenen Wissens über die verschwiegene gewaltbelastete Vergangenheit vieler polnischer Dörfer, oder genauer gesagt: um eine künstlerische Transposition dieser Erschütterung selbst.13 Diese Interpretation lässt sich im Kontext von anderen Arbeiten Sasnals bekräftigen, u.a. seiner Beschäftigung mit Claude Lanzmanns Film SHOAH.14 Der Maler griff in seiner Bildserie SHOAH (2002-2003) auf einzelne Szenen aus diesem Film, die in Polen gedreht wurden, zurück. Seine ›historische Malerei‹, der Filmstills aus Lanzmanns SHOAH zugrunde liegen, potenziert in der Transformation von filmischen Aufnahmen in gemalte Bilder die Spannung, die im Film aus der Kluft zwischen dem Gesagten und dem Gezeigten – zwischen den Aussagen der (Augen-) Zeugen und der Landschaft – resultiert. Mit dieser Spannung arbeitet er erneut in

13 Vgl. auch filmkritische Beiträge von Jakub Majmurek (2011), Karol Sienkiewicz (2012), Iwona Kurz (2012). 14 Vgl. auch die Kommentare Sasnals zum Film in einem Interview in Gazeta Wyborcza (Sasnal 2012).

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FERNER SCHÖNER SCHEIN. Auch da – it looks pretty from a distance – verbirgt die Landschaft (für die Wissenden, versteht sich) eine unheimliche Botschaft. Sasnals Film löst die Opposition des Sichtbaren und des Verborgenen nicht auf, sondern figuriert allegorisch in einem imaginären Reenactment, das auf mediale Bilder zurückgreift, das Dorf als Ort eines verdrängten polnischen Narrativs über die Besatzungszeit.

L ITERATUR Barański, Andrzej (2009): Barański. Przewodnik Krytyki Politycznej, Warszawa: Wydawnictwo Krytyki Politycznej. Bator, Joanna (2009): Piaskowa Góra, Warszawa: W.A.B. (dt. Sandberg, Berlin: Suhrkamp 2011). Engelking, Barbara (2011): Jest taki piękny słoneczny dzień… Losy Żydów szukających ratunku na wsi polskiej 1942-1945, Warszawa: Stowarzyszenie Badań nad Zagładą Żydów. Engelking, Barbara/Jan Grabowski (Hg.) (2011): Zarys krajobrazu. Wieś polska wobec Zagłady Żydów, Warszawa: Stowarzyszenie Badań nad Zagładą Żydów. Grabowski, Jan (2011): Judenjagd: Polowanie na Żydów 1942-1945. Studium pewnego powiatu, Warszawa: Stowarzyszenie Badań nad Zagładą Żydów. Gross, Jan Tomasz (2000): Sąsiedzi. Historia zagłady żydowskiego miasteczka, 3. verbesserte Auflage, Sejny: Pogranicze 2008 (dt. Nachbarn, München: Beck 2001). Henning, Ruth (2001): Die ›Jedwabne-Debatte‹ in Polen – Dokumentation (= Transodra 23), Potsdam: Deutsch-Polnische Gesellschaft Brandenbrug. Janion, Maria (1992/1998): »Sam w ciemni«, in: dies.: Płacz generała. Eseje o wojnie, Warszawa: Sic! 2007, S. 210-227. Kawalec, Julian (1964): Tańczący jastrząb, Warszawa: Państwowy Instytut Wydawniczy. Keff, Bożena (2010): »Rewers Borysa Lankosza czyli chłop, diabeł, wice-Żyd«, in: Agnieszka Wiśniewska/Piort Marecki (Hg.): Kino polskie 1989-2009. Historia krytyczna, Warszawa: Wydawnictwo Krytyki politycznej, S. 243-255. Kurz, Iwona (2012): »Ani z bliska, ani z daleka. Klisze i powidoki«, in: Dwutygodnik.com 76, http://www.dwutygodnik.com/artykul/3205-ani-z-bliska-ani-zdaleka-klisze-i-powidoki.html (25.10.2013). Majmurek, Jakub (2011): »Cywilizacja szabru«, in: Krytyka Polityczna. Dziennik Opinii vom 28.7.2011, http://www.krytykapolityczna.pl/Wpierwszymrzedzie/ MajmurekCywilizacjaszabru/menuid-236.html (25.10.2013). Markiel, Tadeusz/Skibińska, Alina (2011): Zagłada domu Trynczerów, Warszawa: Stowarzyszenie Badań nad Zagładą Żydów.

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Marszałek, Magdalena (2010): »Anderes Europa: Zur (ost)mitteleuropäischen Geopoetik«, in: Magdalena Marszałek/Sylvia Sasse (Hg.): Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen, Berlin: Kadmos, S. 43-67. Masternak, Zbigniew (2010): »Jańcio Wodnik Jana Jankuba Kolskiego czyli u Pana Boga za piecem«, in: Agnieszka Wiśniewska/Piort Marecki (Hg.): Kino polskie 1989-2009. Historia krytyczna, Warszawa: Wydawnictwo Krytyki Politycznej, S. 59-70. Mickiewicz, Adam (1832): Pan Tadeusz, Warszawa: Czytelnik 1998. Myśliwski, Wiesław (1978): »Klucznik«, in: Dialog 6, S. 32-60. Sasnal, Wilhelm (2012): »Wilhelm Sasnal. Dzisiaj omijam zawiść«, in: Gazeta Wyborcza. Duży Format vom 12.02.2012, www.wyborcza.pl/duzyformat/1,127 291,11111313,Wilhelm_Sasnal__Dzisiaj_omijam_zawisc.html (25.10.2013). Sienkiewicz, Karol (2012): »Sasnal wchodzi do kina«, in: www.dwutygodnik.com/ artykul/3185-sasnal-wchodzi-do-kina.html (25.10.2013). Stasiuk, Andrzej (1995): Opowieści galicyjskie, Kraków: Znak (dt. Galizische Geschichten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002). Stasiuk, Andrzej (2004): Jadąc do Babadag, Wołowiec: Czarne (dt. Unterwegs nach Babadag, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005).

F ILME Dom zły (2009) (PL, R: Wojtek Smarzowski) …Gdzie mój starszy syn Kain (1999) (PL, R: Agnieszka Arnold) Jańcio Wodnik (1993) (PL, R: Jan Jakub Kolski) Konopielka (1981) (PL, R: Witold Leszczyński) Księstwo (2011) (PL, R: Andrzej Barański) Miejsce urodzenia (1992) (PL, R: Paweł Łoziński) Pogrzeb kartofla (1990) (PL, R: Jan Jakub Kolski) Pokłosie (2012) (PL, R: Władysław Pasikowski) Sąsiedzi (2001) (PL, R: Agnieszka Arnold) Sekret (2012) (PL, R: Przemysław Wojcieszek) Tańczący jastrząb (1977) (PL, R: Grzegorz Królikiewicz) Wesele (2004) (PL, R: Wojtek Smarzowski) Wino truskawkowe (PL, R: Dariusz Jabłoński) Z daleka widok jest piękny (2011) (PL, R: Anka und Wilhelm Sasnal)

Dorf – dörflicher – Heimat? Zum Politischen in der ungarischen Gegenwartsliteratur und -kultur S TEPHAN K RAUSE Amott a távol kék ködében Emelkedik egy falu tornya sötéten; PETŐFI SÁNDOR 18461

D AS

UNGARISCHE

D ORF IM Q UER D URCHSCHNITT

Das Künstlertrio Attila Bujdosó, Zoltán Csík-Kovács und Gábor Papp erstellte für den 2011 erschienenen Band MAGYARORSZÁG SZUBJEKTÍV ATLASZA [SUBJEKTIVER ATLAS VON UNGARN] den Ortsplan zum ungarischen »átlagtelepülés« [Durchschnittsdorf] (Bujdosó/de Vet 2011: 167).2 Der Plan zeigt die schematisierte Anlage eines Dorfes mit Bahnanschluss an einem kleinen Fluss. Hauptsächlich aber wird das Straßennetz dargestellt. Wie auf einem praktisch und in der Wirklichkeit benutzbaren Dorfplan ist jede Straße des Ortes mit Namen verzeichnet. Allerdings

1

Petőfi 2004: 477. [Dort in einem fernen blauen Nebel / Erhebt eines Dorfes Turm sich dunkel;] Soweit nicht anders angegeben, stammen im Folgenden alle Übersetzungen vom Verfasser.

2

Ungarisch ›település‹ bedeutet streng genommen ›Siedlung, Ansiedlung‹ und nicht allein ›Dorf‹. Das MAGYAR ÉRTELMEZŐ KÉZISZÓTÁR fasst die Bedeutung des Begriffes noch weiter und spricht von »[o]lyan hely, ahol emberek laknak és dolgoznak« [Ort, an dem Menschen wohnen und arbeiten] (Juhász et al. 1992: 1353). Die hier betrachtete Darstellung allerdings zeigt die Karte eines Dorfes, sodass die deutsche Übersetzung auch an die im ATLASZ gegebene englische Übersetzung »average village« angelehnt wurde.

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verweist die Darstellung der Straßen sowie letztlich des gesamten Ortes auf kein reales Dorf, das sich in Ungarn finden ließe. Abbildung 22: Átlagtelepülés [Durchschnittsdorf]

Bujdosó/Csík-Kovács/Papp in: Bujdosó/de Vet (2011: 167) (Ausschnitt)

Der Plan setzt vielmehr die Ergebnisse einer unter dem Bild aufgeführten Statistik als karto-graphische Darstellung um und verbildlicht so das Ergebnis der Erhebung der 39 in ungarischen Ortschaften am meisten verbreiteten Straßennamen. Mit einem von der höchsten bis zur geringsten Verbreitung der jeweiligen Benennung gestaffelten Balkendiagramm werden die absoluten Anzahlen des ungarnweiten Vorkommens dieser Straßennamen aufgeführt. Darunter wird kurz erläutert, auf welcher Grundlage die statistische Erhebung zustande kam: »Magyarországon 3154 településen 124539 közterület van, tehát egy településre 39 jut átlagosan. Elképzeltük az átlag magyar települést a legyakoribb utcanevekkel.« [In Ungarn befinden sich in 3154 Ortschaften 124539 öffentliche Straßen, sodass auf jede Ortschaft durchschnittlich 39 Straßen kommen. Wir haben uns das ungarische Durchschnittsdorf mit den häufigsten Straßennamen vorgestellt.] (Ebd.) Auf diese Weise wird nicht nur die Zahl 39 erklärt, sondern es wird vor allem deutlich, auf welche rechnerischkonzeptuelle Weise sich die vorliegende Darstellung des Ortsplans ergibt. Zu erkennen ist die Umsetzung der statistischen Ergebnisse im Plan anhand der Verteilung der Straßen in dem Durchschnittsdorf. So trägt die den gesamten Ort (vermut-

D ORF –

DÖRFLICHER

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lich west-östlich3) durchziehende und farblich hervorgehobene Straße die Namen Petőfi Sándor utca und Kossuth Lajos utca, die beiden Namen, die mit ihrer Häufigkeit die Statistik anführen. Alle anderen Namen sind an die übrigen Straßen des Ortes vergeben. Die Entfernung der jeweiligen Straßen vom (imaginären) Ortskern ist dabei wiederum abhängig von der Häufigkeit ihres Vorkommens in Ungarn, die sich auch an der konzentrischen Verteilung der Straßen ablesen lässt. Gerade die statistisch-mathematische Rückbindung dieses Plans an nachzählbare und nachprüfbare Fakten steht in produktivem Widerspruch zum Fiktiven des als kartographische Zeichnung Dargestellten. Denn so sehr die Faktizität des so- oder sovielfachen Vorkommens der einzelnen Straßenbenennungen reale Gegebenheiten als darstellbare Menge meint, so sehr muss die Quasi-Rückübersetzung dieser Zahlen in den durchschnittlichen Dorfplan sich als kartographische Fiktion erweisen. Der Plan aber zeigt an – nach dem Willen der Künstler zumal –, dass dieses ungarische Durchschnittsdorf vor- und zugleich darstellbar ist. Die Vorstellbarkeit des Durchschnittsdorfes als Quintessenz der statistischen Erhebung der ungarnweiten Verbreitung von Straßennamen imaginiert damit zweierlei, nämlich das ab- und vorbildhafte Modell eines nie zu bauenden und als reale Anlage nicht auffindbaren Durchschnittsdorfes sowie zugleich die Totalität aller ungarischen Dörfer in der als Plan vorliegenden Darstellung des einen. Als Konzept und als Definition bemisst letztere die Imagination des (ungarischen) Dorfes durch eine Beschreibung, die als – eigentlich fiktive – Kartographierung erscheint. Doch die Rückbindung an die real vergebenen Straßenbenennungen und deren erinnerungskulturelle wie -politische Funktion indiziert noch weiter reichende Bedeutungen. Die Darstellung erschafft das Durchschnittsdorf gleichsam als poetischpolitische Topographie, in der und an der sich Gedächtnisinhalte fiktiv verdichten. Denn die Präsenz eines Namens als Straßenbenennung im Ortsplan des ungarischen Durchschnittsdorfes zeigt zugleich das Vielfache ihrer Präsenz unter den Benennungen in realen ungarischen Dörfern an, die durch die Statistik beglaubigt wird. Das durchschnittliche Dorf in der Darstellung von Bujdosó, Csík-Kovács und Papp ist damit ein ortloser Gedächtnisort, der zugleich aber eine Beschreibung Ungarns ›vom Dorf her‹ liefert, die als solche Reliabilität imitiert, da sie diese imaginiert. Formulieren ließe sich, dieser Plan sei eine Skizze zum ›Dorf Magyarország‹ und gebe zudem eine (freilich auf statistischer Basis konstruierte) Grammatik des Dorfes an, ermögliche also die differenzierte Bezeichnung lokaler Verhältnisse und erlaube potentiell grundsätzliche Aussagen über das Dorf in Ungarn oder schlechthin Ungarn ›als‹ Dorf. Indes würde mit der etwas saloppen Fügung ›Dorf Magyarország‹ ein zumindest semantisches Paradoxon behauptet. Denn einem ganzen

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Der Plan weist keine Angabe darüber auf, ob dieser genordet ist.

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Land nachzusagen, es sei ein Dorf, gar ein Kaff oder Mucsa4, geht wohl – so lässt sich schon ohne tiefer gehende formalsemantische Analyse sagen – zunächst über das vermeintliche Ziel hinaus, ja bedeutet in der metaphorischen Anwendung des Dorfbegriffes auf das Land, den Staat oder die Gesellschaft vielmehr eine präsupponierte Bestimmung des Dörflichen, dessen leicht pejorative Konnotationen sich mit dieser paradoxen Fügung ergeben. Dem Dorf haften dabei – ob vorurteilshaft intendiert oder nicht sei dahingestellt – Bedeutungsanteile wie etwa klein, gar kleingeistig, in seiner Weltsicht selbstbezogen, gesellschaftlich geschlossen, beschaulich und langsam, vielleicht auch vormodern an, die mit jener Zusammensetzung auf Ungarn appliziert würden. Die Frage nach dem Dörflichen wird hier hingegen eher im Hinblick auf motivische Bedeutungen aufgeworfen, die dem Dorf in ungarischen Diskursen und auch Diskursen über Ungarn im Wesentlichen im literarischen und filmischen Medium zukommen. Ausgemacht ist damit gleichwohl nicht, dass in derartigen diskursiven Zusammenhängen notwendig das Dorf als Gegenstand herausgearbeitet ist. Vielmehr gilt es in den zu betrachtenden Beispielen sowohl als motivisches Versatzstück, durch das ein Kolorit geschaffen oder ein Schauplatz skizziert bzw. benannt wird, als auch als (symbolisch eingesetzte wie einsetzbare) Verfügungsmasse von Konnotationen, politischen, literarischen oder regional-kulturellen, die mit dem Dorf aufgerufen werden (können). Diese Disposition des Dorfes bzw. des Dörflichen als Motivkomplex erlaubt gleichzeitig die Frage nach politischen Bedeutungskonstellationen, in denen es um das Dorf als Motiv oder als synekdochisches Versatzstück geht.5 Dies führt zur Betrachtung von – z.T. nur in Ansätzen – beobachtbaren Inszenierungs- und Darstellungsmodi Ungarns als ›haza‹ [Heimat], zu denen ein Moment des Dörflichen möglicherweise motivisch und politisch beiträgt. In der ungarischen Gegenwartslyrik etwa zeigt sich anhand des Begriffes und des Konzeptes ›haza‹ deren nachhaltige politische Aufladung, durch die eine andersartige Bedeutsamkeit generiert wird. Denn dem Heimatbegriff wird gerade unter Ausnutzung bekannter Konzepte ein politisierender Ton eingeschrieben, der eine patriotisch-kritische Distanznahme ausführt, mit der einerseits das historisch, gesellschaftlich und politisch höchst Diffizile dieses Begriffes und dieses Konzeptes

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Ungarisch ›mucsa‹ entspricht dem deutschen ›Kuhkaff‹ oder ›Kleinkleckersdorf‹. Definitorisch bzw. je anhand eines konkret vorliegenden Phänomens bleibt zu entscheiden, ob ein dörflich gestaltetes Setting als Zusammensetzung mehrerer, mit einer dörflich-ruralen Topographie in Einklang stehender Motive zu verstehen ist oder ob das Dorf in seiner Gesamterscheinung als Motiv auftaucht, von dem aus – möglicherweise – auf Anderes, Drittes verwiesen wird, sodass sich das Dorf in diesem Fall auch gleichgeordnet neben anderen Motiven befinden kann.

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aufgedeckt und mit der andererseits nationalistischer und revanchistischer Verbrämung und Ausschlachtung des Konzeptes literarisch begegnet wird. Dies ist gerade auch eine Auseinandersetzung mit dem ›heutigen Ungarn‹, der überhaupt eine Problematisierung des begrifflichen (?) und poetischen (?) Konzeptes ›haza‹ zugrunde liegt, das sich auch mit dörflichen und generell ruralen Topoi verbindet. Ort der Distanzierung und zugleich ruraler Traditionalisierung, manifestiert sich in den hier vorgestellten Beispielen poetischer und kinematographischer Repräsentation des Dorfes auch (bzw. immer auch) die Abgrenzung zum Städtischen. Hinzu kommt jedoch das dystopische Moment eines gemeinschaftlich ›Ungarischen‹, das vor allem in die Texte und die Filme drängt und dessen Traditionalität die Texte wie die Filme kritisch bearbeiten. Um diese thesenhaft vorgebrachten Ausführungen wenigstens exemplarisch zu belegen, stellt die vorliegende Untersuchung neben der karto-graphisch-statistischen Annäherung an das ungarische Dorf vier Filme und einige zeitgenössische Gedichte aus Ungarn vor. Die Auswahl bietet dabei lediglich einen Einblick, der freilich nur als Vorschlag gelten kann, die untersuchte Motivik systematisch(er) zu analysieren. Die Untersuchung weist damit auf einen Ansatzpunkt hin, dessen Gültigkeit sie weniger behauptet, als durch Hinterfragen der betrachteten Phänomene umreißt und beschreibt.

P IROSCHKA? Für einen deutschen Kontext lässt sich zunächst eine bis ins Klischee arrivierte und darin zugleich auf sich selbst verweisende Perspektive auf Ungarn nennen, in der vor allem das Setting inmitten einer dörflich-entrückten Idylle prominent ist. 1955 kam der Spielfilm ICH DENKE OFT AN PIROSCHKA von Kurt Hoffmann heraus, die filmische Umsetzung des gleichnamigen Romans von Hugo Hartung von 1954.6 Dieser in den Kinos und später auch im Fernsehen sehr erfolgreiche7 Film arbeitet mit der Bildersprache des westdeutschen Heimatfilms und kreiert ein Ungarnbild, das nahezu durchgehend8 von dörflich-ruralen Schauplätzen und Zusammenhängen geprägt ist. Dargestellt wird der Ungarnaufenthalt der männlichen Hauptfigur Andreas, im Laufe dessen er zunächst der deutschen Greta und an seinem fiktiven Ferienort Hódmezővásárhelykutasipuszta Piroschka begegnet. Andreas steht zwi-

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Der Film ist im Internetportal ›youtube‹ in voller Länge verfügbar (08.11.2013). Kristin Kopp spricht in ihrer Untersuchung von einem »große[n] Publikumserfolg« (Kopp 2006: 138).

8 Nur die ersten Sequenzen spielen in Budapest.

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schen den beiden Frauen. Der Schauplatz dieser eher banalen Dreiecksgeschichte ist ein ungarisches Dorf in der Tiefebene, dessen Bewohner nahezu unausgesetzt Heiterkeit und Freude ausstrahlen und wo bereits die Ankunft des deutschen Gaststudenten ein Grund zum Feiern ist. Da die Erzählung hier nicht perspektiviert, stellt sich auch an keiner Stelle die Frage bzw. das Problem, in welchem Maße das Dargestellte letztlich nur Andreas’ rundweg positive und euphemisierende Erinnerungen wiedergibt. Dies trifft jedoch in doppelter Hinsicht zu, und zwar intradiegetisch in der Fokalisierung des immer wieder aus dem Off sich meldenden IchProtagonisten und extradiegetisch als Erzählung eines ländlich-dörflich überformten Ungarnbildes, das aus der Mitte der 1920er Jahre stammt. Eine große Zahl – mit diesem Film in der BRD zum stereotypen Klischee gewordener – Attribute des ungarischen Dorfes werden nacheinander vorgeführt, sodass der Streifen stellenweise wie eine große Folklorerevue erscheint, die der Zuschauer gemeinsam mit dem Protagonisten besucht. Letzterer trägt zudem oft einen Fotoapparat bei sich, mit der er das Ländliche zu dokumentieren versucht, allerdings erfolglos, da kein Foto zustande kommt. Der Film stellt so eine Reihe von Gedächtnisbildern aus, die aber eigentlich nur dem Protagonisten als seine Erinnerungen zugänglich sind, der sie hier darbietet. Das Medium Fotografie bleibt unzuverlässig und unbrauchbar. Die Filmbilder des ungarischen Dorfes und seiner Menschen inszenieren das ländliche Ungarn als Topographie voller natürlich-kunstsinniger, gastfreundlich-mulatierender9 und am eigenen bäuerlichen Dasein sich regelrecht ergötzender Menschen, die zudem fast alle Deutsch können (so auch Andreas’ Wirtsleute) oder auf höchstem Niveau Deutsch lernen (Piroschka10). Dem kolonialen Blick ist die eigentliche Kolonialisierung somit bereits vorangegangen und das ländliche Ungarn in ICH DENKE OFT AN PIROSCHKA gerät zu einer Art Sehnsuchtsheimat, die aus der lebensfrohen und zugleich skurrilen Natürlichkeit einer als prototypisch dörflich erscheinenden Umgebung und ihrer Menschen erwächst. Wird zu diesem nach Ungarn projizierten Heimatfilm aber der gesellschaftliche Kontext im Ungarn der 1950er Jahre aufgerufen, so zeigen sich massive Widersprüche. Denn die frühen 1950er Jahre sind nicht nur durch den stalinistischen Terror gekennzeichnet, sondern auch durch den groß angelegten Versuch, Ungarn zu einem Industriestaat umzubauen. Gerade die Landwirtschaft und die Dorfbevölkerungen litten darunter hauptsächlich:

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Dieser Austriazismus wird auch im Film verwandt und bedeutet ›ausgelassen feiern‹. Das latinisierende Verb ist abgeleitet vom ebenso österreichischen Substantiv ›Mulatschak‹, einer Entlehnung des ungarischen ›mulatság‹.

10 Piroschka wird von Liselotte Pulver dargestellt, die sich eigens für diesen Film ein wenig Ungarisch sowie vor allem einen markanten ungarischen Akzent aneignete.

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»[D]ie geringen Investitionen in die Landwirtschaft im Verbund mit der zwangsweisen Kollektivierung und der starken finanziellen Benachteiligung führten zu einem Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion, so daß die Versorgung der Bevölkerung mehrfach nicht gesichert war und das einstige Agrarexportland Ungarn Lebensmittel importieren mußte.« (Fischer 1999: 209)11

Selbst DIE GESCHICHTE UNGARNS von 1988 beschreibt die fatalen Entscheidungen des Rákosi-Regimes folgendermaßen: »Von einer Wirtschaftsstrategie ausgehend, die die Agrar-Industrie-Struktur des Landes innerhalb von fünf Jahren zu einer Industrie-Struktur umgestalten wollte, entfielen 48 Prozent der Investitionen auf die Industrie, während die Landwirtschaft lediglich 13 Prozent erhielt. Die Produktionsbereitschaft und die Produktionsergebnisse sanken und lagen weit hinter den Planvorgaben, so daß in der Versorgung ernste Schwierigkeiten auftraten.« (Hanák 1988: 259)

Werden diese im Jahr 1955 unvermindert aktuellen Zusammenhänge mit der im Film vorgeführten ländlichen Welt kontextualisiert, so erscheint diese geradezu als zynische ›Dorfseligkeit‹. Diese Problematisierungen lassen sich fortführen, indem der im Film aufgerufene historische Kontext berücksichtigt wird. 1925 habe die Reise nach Ungarn stattgefunden, heißt es zu Beginn des Films. Damit wird die Geschichte in den Anfangsjahren des Horthy-Regimes situiert, einer Zeit des auch in Ungarn nachweislich sich weiter ausbreitenden Antisemitismus,12 den Horthy, wie György Dalos unmissverständlich zeigt, auch in einem konstruierten Kontrast zwischen »Budapest als […] sündige[r] Stadt gegenüber dem ›sauberen‹ Dorf« verankert, was »der Gegenrevolution angesichts des hohen jüdischen Bevölkerungsanteils der Metropole (24%) eine offen antisemitische Ausrichtung verlieh.« (Dalos 2005: 128-129)13 Dieser Zusammenhang taucht im Film an keiner Stelle auf.14 11 Auch andere neuere Publikationen machen im Hinblick auf die ungarische Wirtschaftsund Agrarpolitik der 1950er Jahre deutlich: »Der Grund [für die Massenflucht der dörflichen Bevölkerung in die Städte] bestand in dem Ablieferungssystem, das jedem Feudalherrn des Mittelalters zur Ehre gereicht hätte.« (Dalos 2005: 152) Siehe zudem die Grafiken im Kapitel ›Magyarország a II. világháborútól napjainkig (1944/45-2000)‹ [Ungarn vom Zweiten Weltkrieg bis zu unseren Tagen (1944/45-2000)] in Tóth (2001: 583). 12 Vgl. hierzu insbesondere Ungváry (2012). 13 Dalos bezieht sich auf Horthys pathetische und von nationalem Schwulst angefüllte Antwort an den Budapester Bürgermeister Tivadar Bódy vom 16. November 1919, dem Tag, als Horthy in Budapest einrückte und die Macht an sich riss: »Tetemre hívom itt a Duna partján a magyar fővárost: ez a város megtagadta ezeréves múltját, ez a város sárba tipor-

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Angesichts dieser gesellschaftlichen und historischen Kontexte soll ICH DENKE OFT AN PIROSCHKA wohl explizit ohne Hinweise darauf auskommen, ja diese durch Heimatseligkeit und (eher überhebliche) Verniedlichungen verdecken. Dem ähnelt noch eine (heute vermeintlich) unverdächtig klingende enzyklopädische Deskription zu dem Lemma ›falu‹ [Dorf]: »[…] beim Hören dieses Wortes erscheinen Bilder wie das Gebell der Hunde in der Ferne, heranreifende Früchte, Großmütter, eine träge Ruhe, Bienengesumm, deftige Mittagessen, klingendes Glockengeläut, Schweineschlachten und volle Speisekammern, hausgebrannter Pálinka, kühler, saurer Wein, verschneite Landschaften, schwüle Sommerhitze, saftige Birnen, der Geruch von Heu, das Krähen des Hahnes und das dumpfe Läuten der Kuhglocken. Selbstverständlich existieren verschiedene Dorftypen, doch der charakteristischste ist jener, bei dem sich die Ortschaft lang neben der Landstraße erstreckt und aus zwei bis drei […] Straßen besteht. In der Dorfmitte liegt der einstige Marktplatz, um ihn herum ein oder zwei öffentliche Gebäude wie etwa das Gemeindehaus und die Schule, ja und auch die Post sowie etwas weiter zurück die Kornkammer und die ursprünglich gotisch, doch zumeist im barocken Stil umgebaute, gelbe, katholische Dorfkirche […]. An einer […] etwas abgelegeneren Stelle kann auch die reformierte Kirche stehen. […] Die Struktur des Dorfes spiegelt das Leben der […] Menschen […] getreu wider.« (Bart 1999: 58)

ta koronáját, nemzeti színeit, és vörös rongyokba öltözött. […] De […] készek vagyunk megbocsátani. Megbocsátunk akkor, hogy ha ez a megtévelyedett város visszatér megint hazájához, szívéből, lelkéből szeretni fogja a rögöt, amelyben őseink csontjai porladoznak, szeretni azt a rögöt, amelyet verítékes homlokkal munkálnak falusi testvéreink, szeretni a koronát és a dupla keresztet.« (Szekeres 1972: 21) [Zu Gericht rufe ich hier am Donauufer die ungarische Hauptstadt: diese Stadt verleugnete ihre tausendjährige Vergangenheit, diese Stadt zog die Heilige Krone und die Nationalfarben in den Schmutz und kleidete sich in rote Lumpen. […] Doch wir sind bereit zu verzeihen. Wir verzeihen, wenn diese sündige Stadt wieder zu ihrer Heimat zurückkehrt, aus Herz und Seele die Scholle liebt, in der die Knochen unserer Vorfahren verwesen, wenn es die Scholle liebt, die unsere dörflichen Brüder und Schwestern mit schweißbedeckter Stirn bearbeiten, wenn es die Krone und das Doppelkreuz liebt.] Dalos zitiert einen Teil dieser Passage auf Deutsch (2005: 128). 14 Im den Zuschauer leitenden Blick des Protagonisten wird die wiederkehrende Figur des ›lästigen Zigeuners‹ eindeutig negativ besetzt. Die naive Umdeutung dieser kolonialen und latent rassistischen Haltung in einen Hinweis auf eine historische Leerstelle, wie Kopp (2006) sie vornimmt, geht dabei aber an der Aussage der Szenen und des Films vorbei.

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Diese Beschreibung wirkt unbeholfen-trivial und bleibt seltsam menschenleer, sie speist sich aus einer idyllischen Erinnerungsseligkeit, die auf eine vermeintlich soziologisch-sozialpsychologische Beschreibung reduziert wurde. Dennoch enthält sie eine ähnliche Ikonographie, wie sie auch ICH DENKE OFT AN PIROSCHKA transportiert. Barts Artikel schließt zudem in latent rassistischem Ton: Das Dorf werde heute »statt von wirtschaftenden Bauern zunehmend von dahinvegetierenden Zigeunern bewohnt«. Hinter der idyllisch idealisierten Bildlichkeit zeigen sich damit erneut Spuren eines Denkens, das in jüngster Vergangenheit in Ungarn bis zu den rassistischen Mordattentaten auf ungarische Roma reicht, die mit Dorfnamen wie Tarnabod, Tatárszentgyörgy oder Tiszalök verbunden sind.15 Die Verbindung des Politischen mit den Begriffen Dorf und Heimat erzeugt demnach nicht nur schlichte (gar emotional grundierte) Assoziationen, sondern ist von einer deutlichen Spannung gekennzeichnet, die die idiosynkratische Beschaulichkeit und Idealtypik der Dorfimagination jedoch eigentlich verbirgt. Dies gilt für ICH DENKE OFT AN PIROSCHKA und z.T. auch für den im Jahr 1956 herausgekommenen ungarischen Film KÖRHINTA [KETTENKARUSSELL] von Zoltán Fábri.16 Der Film enthält eine Dreiecksgeschichte, in der Máté Bíró um Mari Pataki wirbt, die von ihrem Vater bereits Sándor Farkas fest versprochen wurde. Erzählt wird dies als konfliktreiches Geschehen, an dessen Ende Maris Vater István sogar mit einem Beil nach der eigenen Tochter wirft, da sie sich nicht von Máté hatte lossagen wollen, um Sándor, wie vom Vater gewünscht, zu heiraten. Mari flüchtet von zu Hause, doch am Ende können sich Mari und Máté doch erfolgreich über die veralteten Konventionen in Maris Familie hinwegsetzen und ein Paar werden. Zeigt diese Handlung zunächst den Konflikt zweier unvereinbarer Haltungen, so erhält sie eine gewisse zusätzliche Spannung durch die Tatsache, dass Máté Brigadier in der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (ungarisch: TSZ = [mezőgazdasági] termelőszövetkezet) ist, während Maris Vater und auch Sándor nicht in die Genossenschaft eingetreten sind. Die dörflichen Schauplätze des Films, insbesondere der Rummel, zu dem das titelgebende Kettenkarussell gehört, das Gasthaus, in dem eine Hochzeitsfeier stattfindet, der Pataki’sche Hof sowie Büro und Ländereien der Genossenschaft sind somit nicht allein Kulissen für eine Liebesgeschichte mit gutem Ende, sondern ländliche Orte mit politischer Bedeutung. 15 Die rassistischen Mörder wurden vor wenigen Wochen erstinstanzlich zu hohen Haftstrafen verurteilt, darunter dreimal lebenslänglich (Lencsés 2013). 16 Fábri erhielt für KÖRHINTA 1956 in Cannes die Goldene Palme. Vgl. die prominente Darstellung des Films in der Sekundärliteratur bei: Gyürey/Lencsó/Veress (2007: 177), Balogh/Gyürey/Honffy (2004: 80-82), Veress (1985: 101-108). Zum Stellenwert des Films in der ungarischen Filmgeschichte siehe auch Szilágyi (1994: 159-167, 216-233) sowie die euphorische (und politisch eindeutige) Kritik von Hubay (1956).

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So fragt Máté Mari in einer Szene: »Ebben a sárban akarsz élni?« [In diesem Schlamm/Dreck willst du leben?] Die Frage bezieht sich nur vordergründig auf den morastigen Weg, den die beiden in der Szene gehen, sondern meint vielmehr die Verhältnisse. Mari scheint zunächst nicht die Kraft zu finden, sich daraus zu befreien und auf ihre Gefühle zu hören, sodass Mátés Worte auch auf die durch ihren Vater eingefädelte Verbindung mit Sándor gemünzt sind. Denn letztere soll gerade auch die Vereinigung der Ländereien beider erbringen, um das Überleben der Höfe unabhängig von der Genossenschaft zu sichern. Der Film erzählt somit die Auseinandersetzung um Mari auch als Entscheidung für bzw. gegen die als ›richtig‹ sanktionierte Zugehörigkeit zur Genossenschaft. Diese politische Botschaft wird auch durch die Zeichnung der Figuren befördert, die alle eher ›flat characters‹ bleiben, sodass sich ihre moralische Zuordenbarkeit deutlich erkennen lässt. Dennoch ist der Film kein plattes Propaganda-Epos der Stalinzeit, vor allem, da Máté seine Mari in der Handlung nicht aufgrund seiner politischen Haltung gewinnt. Er muss dazu allerdings auf einem Hochzeitsfest im Dorf einen öffentlichen Eklat17 provozieren, dessen Ausgang für ihn zunächst ungewiss ist. Mátés Vorteil ist seine Entschlossenheit, die ihn auch – jedoch nicht nur – zur politischen Identifikationsfigur macht. In Fábris KÖRHINTA ist das Dorf somit kein niedlicher Hintergrund, der als Illustration fungiert, sondern der Film imaginiert die rurale Gegend und die dörfliche Gemeinschaft als Ort, an dem sich Tradition und Neues konfligierend überschneiden. Dass dies 1956 auch als Erfolgsgeschichte der Kollektivierung und ihrer Protagonisten erzählt wird, steht jedoch letztlich nicht im Widerspruch zu dem sichtbar durch Traditionen und Brauchtum gekennzeichneten Schauplatz und zu dessen konstitutiver Funktion für die Filmhandlung. Bemerkenswert ist noch die große Diskrepanz zwischen den Dorfdarstellungen in ICH DENKE OFT AN PIROSCHKA und KÖRHINTA, die nicht allein auf die Gestaltung des ersten als Erinnerungsreise zurückzuführen sind. Dies liegt vielmehr an der jeweils eingenommenen Perspektive auf das Ländlich-Dörfliche. In ICH DENKE OFT AN PIROSCHKA erscheint es nahezu ausnahmslos in der (leicht herablassenden) Besichtigung von Kuriositäten, die durch die Kameraschwenks oft wie ausgestellt wirken. Fábris Film hingegen bringt

17 Dies ist eine zentrale Szene des Films, in der Máté mit der Braut Mari einen fast endlosen Csárdás tanzt, in dem sich die Kreisbewegung der gemeinsamen Karussellfahrt wiederholt. Die Kreisbewegung und die dabei entstehende Zentrifugalkraft ist hier das entscheidende Motiv. Dies wird von Fabri zweifach und gerade filmisch (die Kamera macht die Bewegung der Tanzenden mit) umgesetzt, am Kettenkarussell auf dem Rummel und beim Tanz auf der Hochzeit. Bei dieser Inszenierung der Fliehkräfte geht es zwar um ein zentrifugales Frei-Werden o.Ä., aber vor allem mit Blick auf die verknöcherten (hier = kryptofeudalen) Verhältnisse bei Mari Zuhause.

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die zu erzählende Geschichte zur Darstellung, indem er gerade auch die Ländlichkeit filmisch ästhetisiert, und zwar nicht nur durch die Illustration des Settings. Im ungarischen Gegenwartsfilm ist das Dorf nicht minder präsent. Es enthält einzelne Elemente von Beschaulichkeit, gerät jedoch nicht zur idyllenhaften Verklärung oder gar zum Kitsch. Ein Film wie HUKKLE (2002) von György Pálfi etwa inszeniert die Dörflichkeit seines heutigen Schauplatzes und die dörfliche Gemeinschaft sehr wohl mit typischen Details wie Landmaschinen, Schlachtung, Dorfpolizist oder Paprikahuhn-Essen. Allerdings wird ein ironisch-distanzierter Blick darauf vorgeführt, der die Dorfbewohner und ihre Besucher sowie noch den klassisch gewordenen Status des Dorfes selbst in der Aufdeckung einer verdeckten Verschwörung und in der durchaus prominenten Thematisierung der Geschlechterrollen aufbricht. Dies gelingt Pálfis Film gerade auch durch den vollständigen Verzicht auf Text. Denn die gesamte Geschichte wird allein mit Bildern und vor allem mit Geräuschen erzählt. So weist schon der Titel auf den unaufhörlichen und quasi als Leitmotiv fungierenden Schluckauf eines alten Mannes hin. HUKKLE erreicht mit dieser unkonventionellen Inszenierung der Geräusch- und Bilderkulisse des Dorfes dessen eigentliche Darstellung. An den als alltäglich erscheinenden Vorgängen ist zunächst nichts Außergewöhnliches abzulesen und doch entsteht gerade daraus die subversive Infragestellung der traditionellen dörflichen Ordnung, die zu allererst eine mindestens ebenso arrivierte Ordnung der Geschlechterrollen ist. Hauptsächlich die Frauen des Dorfes sind bei der Arbeit zu sehen, entweder im Haushalt, auf dem Hof oder in der örtlichen Näherei. In der detaillierten und z.T. mikroskopisch genauen Darstellung durch die Kamera scheint das Idyllische und zuweilen Komische der dörflichen Umgebung und der alltäglichen Vorkommnisse zugleich in den Vordergrund zu drängen und zu verschwinden. Die Nähe schafft eine Fraglichkeit, die im Makro erzeugt wird und die auf die Zusammenhänge in der dörflichen Gemeinschaft zu übertragen ist. Die narrative Struktur des dargestellten Geschehens entsteht in einer Bildsprache, die die vorgebliche Unschuld des dörflich-ländlichen Settings nutzt, in das eben mit dem Erzählten die novellistische Unerhörtheit eines Begebnisses eindringt. Die vermeintliche Collage dörflicher Kuriositäten wird so zur Kriminalgeschichte, in der die Frauen des Dorfes ihre Männer gemeinschaftlich mit dem Gift des Maiglöckchens töten. Die Kamera verfolgt und zeigt im Zeitraffer nicht nur das Gedeihen der Blume, sondern genauso das Abfüllen des milchig weißen Gifts in unscheinbare, rot markierte Glasfläschchen, die von den Frauen untereinander konspirativ weitergegeben werden. Das Gift, ins Essen oder ein Getränk gemischt, verfehlt seine Wirkung nicht. Erst spät scheint der einzige Polizist des Dorfes die Zusammenhänge zu durchschauen. Zu Festnahmen aber kommt es nicht. Hinter den harmlos erscheinenden Bildern und Tönen des alltäglichen dörflichen Lebens, in dem die Begattung einer Sau oder die Fahrt eines Mähdreschers gewissermaßen schon Ereignisse sind, verbirgt sich in dem dialoglosen HUKKLE ein eben

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in der Deckung dieser Alltagsroutine ausgeführtes Verbrechen. Aufgeklärt werden kann es – der auf Bildersprache bauenden Logik des Films folgend – nur durch genaues Hinsehen und den Vergleich zweier Tatortfotografien durch den Polizisten. Das Dorf in Pálfis HUKKLE wird mithin als Gemeinschaft des Alltags imaginiert, in der die Bilder den Alltag der Gemeinheit in den Geschlechterverhältnissen enthüllen, die das Dorf an sich verdeckt. Das von Béla Tarr initiierte Filmprojekt MAGYARORSZÁG 2011 [UNGARN 2011]18 entstand unter Beteiligung von elf der bekanntesten zeitgenössischen ungarischen Filmemacherinnen und Filmemacher und wendet sich auch als künstlerischer Protest gegen die Einstellung der staatlichen Filmförderung.19 Dieses Kurzfilmprojekt liefert einzeln für sich stehende und zugleich untereinander verbindbare Blicke auf Ungarn, an denen jeweils die Handschrift der einzelnen Regisseure wiedererkennbar ist und mit denen immer auch eine Vorstellung und ein eher prekärer Begriff von Ungarn als Heimat transportiert wird. Dies hängt eng mit der Geste des Protests zusammen, die MAGYARORSZÁG 2011 darstellt, doch auch mit der Themenwahl der einzelnen Kurzfilme. Bereits die Bezeichnung des Projektes meint eine filmische Zustandsbeschreibung zu Ungarn aus unterschiedlichen Perspektiven, die jeweils erzählen, wie die einzelnen Regisseure ihr Land sehen. In diesem Rahmen bezieht sich László Sirokis Beitrag auf das Dorf und die Stadt, die, wie der Regisseur sagt, »ärmsten und reichsten Orte meines Landes« (Siroki 2012). Der Film zeigt jeweils im Wechsel Szenen aus einem entlegenen Dorf und aus dem Stadtzentrum von Budapest. Die dystopische Kombination von Bild- und Tonspur bei Siroki erscheint als beider Vertauschung jeweils gegeneinander. So werden die Bilder des armen Dorfes und der dort spielenden Kinder mit den urbanen Verkehrsgeräuschen unterlegt, die eher zu den Bildern des Budapester Stadtverkehrs gehören dürften. Der reziproke Austausch führt nicht nur zu einer direkten Konfrontierung von Stadt und Dorf. Er macht dem Zuschauer und -hörer eine Differenzierung ästhetisch erfahrbar, deren verbreitete allgemeingültige Konsequenz der Kurzfilm eigentlich in Frage stellt, zumal an der unbedingten sozialräumlichen Unterscheidung die krasse materielle Ungleichheit offenbar wird, die noch die abgeschiedene dörfliche Idylle problematisiert. Der Kurzfilm suggeriert nur scheinbar den filmisch-fiktionalen Ausgleich der beiden Lebenswelten, zwischen denen die Trennung jedoch bestehen bleibt, die auch die Schnitte zwischen den einzelnen Sequen-

18 Zum Vergleich wäre DEUTSCHLAND 09. 13 KURZE FILME ZUR LAGE DER NATION (2009), u.a. initiiert von Tom Tykwer, zu nennen, bei dem dreizehn Regisseurinnen und Regisseure »aus ihren individuellen Blickwinkeln ein Panoramabild der gesellschaftlichen und politischen Situation der heutigen Bundesrepublik zusammensetzen«. (Das Projekt 2009) 19 Tarr erwähnt dies in einem Gespräch auf der Berlinale 2012 (vgl. Tarr 2012).

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zen und die Zuordnung des jeweils ›anderen‹ Tons als akustische Verfremdung der Bilder anzeigen. Es ist gerade die symmetrische Vertauschung von Bild und Ton, durch die in Sirokis Kurzfilm das filmische ›Magyarország 2011‹ entsteht.

» ELVISZEM

GOND NÉLKÜL A HÁTAMON A HAZÁM «

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Neben diese Auswahl filmischer Imaginationen des Dörflichen tritt dessen literarische Repräsentation und Konstruktion in der ungarischen Literatur und in der Literaturgeschichte. Ohne damit den Ursprung von Darstellungen des Ruralen und des Dorfes festzusetzen, gilt ein erster Einblick der Lyrik von Sándor Petőfi (18231849). Die nicht nur motivische Bedeutung der ländlichen Sphäre, ihrer Menschen und der Landschaft der Puszta selbst ist in seinen Gedichten nicht zu übersehen und verbindet sich sehr eng mit dem Begriff der ›népiesség‹, was sich wörtlich mit ›Volkstümlichkeit‹ übersetzen lässt. Darin ist allerdings keine klischeehafte Volkstümelei zu vermuten, die an einer allein ethnisch grundierten Stilisierung von Nation oder gar Nationalismus arbeitet. Petőfis Lyrik ist vielmehr durch ein Sprechen gekennzeichnet, das sich in der Bindung an Themen, Bildlichkeit und Rhythmik auszeichnet, die gerade von der Landbevölkerung und aus der sogenannten Volksdichtung herrühren. Petőfis Texte bieten kein (kitschiges) Nachäffen eines solchen Tones, sondern sind hier vielmehr selbst als stilprägend anzusehen. So resümiert (schon) Antal Szerb in seiner populären Literaturgeschichte: »Az igazi ›népies‹ költészet megalapítójának Petőfit kell tekinteni.« (Szerb 1934: 342) [Als Begründer der echten ›volkstümlichen‹ Dichtung ist Petőfi anzusehen.]21 Petőfis Gedichte bilden in der ungarischen Literaturgeschichte mächtige Referenztexte für die »[Schönheiten] dieser typisch ungarischen Landschaft« (Pándi

20 [ich nehme problemlos meine Heimat auf meinem Rücken mit] Erdős (2013: 61). 21 Grundsätzlich einig sind sich bei diesem Befund auch weitere Literaturgeschichten unterschiedlicher Couleur: »Petőfi schreibt […] keine künstlichen Volkslieder; das romantische Individuum gestaltet, von der Volkslied-Poetik ausgehend, seine eigene Sprechweise.« (Varga 2013: 184) oder: »Petőfi nemcsak a dalszerkezetet, vagy a hasonlatokat ›vette át‹ a népdalkincsből, de a dalok szellemét is magáévá tette, a népdalokban megnyilatkozó népi szemlélettel együtt.« (Pándi 1957: 428; Hervorhebung im Original) [Petőfi ›übernahm‹ aus dem Volksliedschatz nicht nur die Liedstruktur oder Vergleiche, sondern eignete sich auch den Geist der Lieder an, zusammen mit der Sichtweise des Volkes in den Volksliedern.] und »Minden friss, minden eredeti ebben a költeményben.« (Pándi 1957: 429) [Alles ist frisch, alles ursprünglich in dieser Dichtung.]

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1957: 429)22, deren hauptsächliche Merkmale die ausgedehnte Puszta und ihre Kargheit sind. Bei Petőfi sind diese Eigenschaften nicht nur Bezugsgrößen poetisierter und zuweilen romantischer oder romantisierender Darstellungen, sondern die grenzenlos erscheinende Fläche des Alföld [Tiefebene] wird zum sprachlichen (volkssprachlich grundierten) und metaphorischen Gegenentwurf und zur ländlichen Heimat im Kontrast etwa zum Bergland und auch zur Stadt aufgebaut. Dies zeigt sich beispielsweise in so kanonischen Texten wie AZ ALFÖLD (1844, DIE TIEFEBENE), A PUSZTA, TÉLEN (1848, DIE PUSZTA, IM WINTER), A TISZA (1848, DIE THEISS)23 oder SZÜLŐFÖLDEMEN (1848, IN MEINEM GEBURTSLAND). Kennzeichen dieser Landschaft sind neben den Viehhirten mit ihren Herden, den wenigen Bäumen, die lange Schatten in der Ebene werfen, immer wieder auch die Dörfer mit ihren Kirchtürmen. Petőfis Gedicht FALUN (1845, AUF DEM DORF) etwa führt einen weit über diese Landschaft schweifenden Blick vor, der vom Standort des sprechenden Subjektes ausgeht. Zentrum dieser Aussicht, die zugleich eine Weltsicht in sich zu tragen scheint, ist das Alföld-Dorf, von dem her sie sich weitet und wo sie sich für das Ich mit als traumhaft apostrophierten Assoziationen verbindet: Gyönyörrel járom estenként a tájt,

Mit Wonne tret’ ich abends in die Landschaft,

Kilépvén a kis házfödél alól;

Unters kleine Vordach hinaus;

Porfellegekben a nagy ég alatt

Im Staub unterm weiten Himmel

A hazatérő nyáj kolompja szól.

Klingen die Glocken der heimkehrenden Herden.

Elandalodva hallom e zenét,

Traumverloren hör’ ich diese Musik

Elandalodva szemlélek körűl;

Traumverloren blick’ ich umher

És messze látok, mert mindenfelé

Und mein Blick schweift weit

Megmérhetetlen rónaság terűl.

Über eine unermessliche Ebene hin.

A rónaságnak messze tengerén

Auf dem weiten Meer der Ebene

Imitt-amott áll egy fa, mint sziget,

Steht hier und dort ein Baum, wie eine Insel,

S hová imát küld a mohamedán:

Und wohin sich der Moslem betend wendet:

Kelet felé ez hosszu árnyat vet.

Nach Osten wirft der langen Schatten.

(Petőfi 2004: 410 [Auszug])

22 »ennek a jellegzetesen magyar tájnak a szépségei« (Pándi 1957: 429). Zur Bedeutung des Alföld bei Petőfi siehe auch Szerb (1934: 337ff.). 23 Die große Dichterin Ágnes Nemes Nagy (1922-1991) etwa schreibt in ihrem Essay zu A TISZA: »Csodálatosnak tartom a költő tájleírásait […].« (Nemes Nagy 1988: 294) [Ich halte die Landschaftsbeschreibungen des Dichters für wunderbar.]

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Rurale Motivik bindet sich bei Petőfi an diese Landschaft, deren eingehende Beschreibung und Darstellung eine wesentliche Prägung seiner Lyrik ist. Wie der Baum in FALUN wird beispielsweise in A TISZA ein Kirchturm erwähnt, der aus der Ebene heraufragt und der das Dorf als Ort menschlichen Lebens weithin in der Tiefebene markiert. Dass die Kirchtürme die Lage einzelner Dörfer anzeigen, ist ein wiederkehrendes Motiv, das vielleicht nicht so sehr sakral aufgeladen ist, sondern vielmehr den sichtbaren Gegensatz der Horizontale der Ebene und des senkrecht daraus aufragenden Turmes betont. Die Bedeutsamkeit dieses Motivs lässt sich noch rund achtzig Jahre später finden. Attila Józsefs (1905-1937) Gedicht MAGYAR ALFÖLD (1925, UNGARISCHES TIEFLAND) bezieht sich auf diesen Petőfi-Topos: Magyar alföld – gond a dombja;

Ungarisches Tiefland: Gram sein Hügel,

temploma cövek;

seine Kirch ein Pfahl.

talaja mély aludttej, de benne

Sauermilch sein Boden, darin zucken

hánykolódnak szögletes kövek.

spitze Steine ohne Zahl.

(József 2005: 62 [Auszug])

(József 1978: 53 [Auszug])

Der Text verfasst (auch) die von Petőfi distanzierte Darbietung der Kärglichkeit des Alföld und suspendiert dessen Bildlichkeit. Der Text reagiert damit etwa auch auf Petőfis »Szép vagy, alföld, legalább nekem szép!« (Petőfi 2004: 164) [Schön bist du, Tiefebene, schön für mich wenigstens!] am Schluss von AZ ALFÖLD, das bei József schon der Paratext aufruft. Der Bogen von Petőfi zu József zeigt exemplarisch, wie das Ländliche in seiner Bildlichkeit literarisch verhandelt und imaginiert wird.24 Die Motivik des József-Textes nutzt diese auf durchaus ähnliche Weise und tritt damit gleichsam umso deutlicher in Kontrast zu jener Begeisterung, die noch Petőfis Lyrik ausdrückt. Weiterhin lässt sich anhand von Texten Endre Adys (1877-1919)25 beispielhaft auf die Entgegensetzung von Stadt und Dorf hinweisen, wobei die Stadt freilich ohnehin ein zentrales Thema in der Lyrik der Moderne darstellt.26 In Adys berühmtem Gedicht A MAGYAR UGARON (1905, AUF UNGARNS BRACHE) erscheint das von

24 Józsefs Gedicht FALU (1934, DORF) (József 2005: 229-232) wäre auch in diesem Zusammenhang zu untersuchen, scheint dieser Text doch die (subjektgebundene) Darstellung des Dorfes als Problem der Sprachlichkeit zu thematisieren. Deutsch: József (1978: 120-122). 25 Zur Position Adys in der ungarischen Literaturgeschichte siehe etwa Lőrincz (2013: 310318). 26 Siehe hierzu weiterführend u.a. Bradbury (1991) oder Scherpe (1988a: 7-13 und 1988b: 129-152) sowie Fisher (1988: 106-128).

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Petőfi in ihrer Schönheit gelobte Ländliche als kahle, unwirtliche Gegend, deren Seele Adys dunkel klingender Text nachspürt: Vad indák gyűrűznek körül,

Das Schlinggewächs umwuchert mich,

Míg a föld alvó lelkét lesem,

als ich der Erde Schlaf belausch.

Régmult virágok illata

Ich atme längst entschwundnen Duft,

Bódít szerelmesen.

betäubt in Liebesrausch.

(Ady 2004: 35 [Auszug])

(Ady 1977: 22 [Auszug])

Doch drückt A MAGYAR UGARON keine Abscheu aus, sondern arbeitet im Aufrufen der Kontexte aus der ungarischen Literaturgeschichte das Gegenbild einer Landschaft heraus, in dem sich ihr dürrer Reiz und ihr fast kümmerliches Daliegen zeigen. Dazu steht die sprachliche und metaphorische Kraft des Textes durchaus in einem eindrucksvollen Spannungsverhältnis, das seine faszinativen Momente nicht verleugnen kann. Ein Ady-Text wie EL A FALUBÓL (1905, DAS DORF VERLASSEN) hingegen enthält den weitaus schroffer dargestellten Gegensatz zwischen dem Dorf als zu verleugnender Herkunft und der strahlenden Stadt als Ziel: Belehalok, ha mondják,

Ich sterbe, wenn ich höre,

Hogy én itt szálltam útra,

Dass hier mein Leben anfing,

Megtagadom a csókot,

Den Kuss will ich verleugnen,

Amely útra indított.

Der mich dereinst entsandte.

Én a bolondos zajnak,

Ich bin die Streunerseele,

Én a cifra városnak

Ich liebe Lärm und Rauschen

Vagyok a kóbor lelke,

Der strahlend hellen Stadt.

Ne gyalázz meg hát, falu.

Das Dorf darf mich nicht schänden.

(Ady 2004: 26 [Auszug])

(Ady 2011: 17 [Auszug])

Die zeitgenössische ungarische Lyrik weist verschiedene Texte auf, die den bis hierher skizzierten Komplex wiederum in chromatischer Variation behandeln. Diese auch politisch aktuellen Gedichte greifen insbesondere in einen vorhandenen Diskurs zu ›haza‹ ein, dessen Motive sie variieren, indem sie sich auch auf Bilder des Ländlichen berufen. Die Texte formulieren distanzierten Abschied und Enttäuschung sowie Desillusionierung.

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Die Publikation von István Keménys Gedicht BUCSÚLEVÉL (2011, ABSCHIEDS27 und János Téreys MAGYAR KÖZÖNY (2011, UNGARISCHE GLEICHGÜLTIG28 KEIT), das sich direkt paratextuell auf Kemény bezieht, löste eine Debatte über die Gegenwart, Existenz und Gestalt politischer Lyrik in Ungarn aus. Sie hielt fast ein Jahr an. Neben Keménys und Téreys Gedichten, die beide Autoren auch in ihre jüngsten Gedichtbände aufgenommen haben, stehen weitere lyrische Texte, die in nicht weniger expressiver Weise ihrer Bezüge zu ›haza‹ und dem heutigen Ungarn herstellen. Hierzu gehören Gábor Scheins KARÁCSONY MÁSNAPJÁN, 2011 (2012, AM TAG NACH WEIHNACHTEN, 2011), Virág Erdős’ ›EZT IS ELVISZEM MAGAMMAL‹29 (2011, ›AUCH DAS NEHME ICH NOCH MIT‹) sowie Ádám Nádasdys A HAZAFIÚI HŰSÉGRŐL (2011, ÜBER DIE HEIMATLICHE TREUE) und Balázs Szálingers Gedicht DESCRIPTIO HUNGARIAE (2011)30. Darüber hinaus versammelt die Anthologie ÉDES HAZÁM (2012, MEINE SÜSSE HEIMAT) neben vielen zeitgenössischen, auch weitere gesellschaftspolitische ungarische Gedichte des gesamten 20. Jahrhunderts. Neben Keménys und Téreys Gedichten wird Balázs Szálingers Gedicht DESCRIPTIO HUNGARIAE betrachtet. BRIEF)

Descriptio Hungariae

Descriptio Hungariae

Szeretnék egyszer egy népet megmutatni,

Ich möchte einmal ein Volk vorstellen,

S megszeretni, hogy jót hazudjak róla.

Lieben lernen, damit ich drüber so recht lügen kann.

Mert ez kevés ám – ehhez tartozni annyi,

Denn das ist zu wenig – zu ihm zu gehören heißt,

Hogy azt hazudjam: van még esély a jóra.

Ich solle lügen: es hat noch eine Chance auf das Gute.

Ha egy biciklin hazámat összeírnám,

Wenn ich meine Heimat mit dem Rad umschriebe,

Féknyomaimmal elmocskolnám a tájat:

Würde ich mit Bremsspuren die Landschaft beschmutzen:

Húzdmeg-ereszdmeg – folyton ez menne nyilván,

Zieh-lasslos – das liefe in einer Tour,

Tolvaj követne s jól fűtött közutálat.

Mich verfolgte ein Dieb und angeheizte Unbeliebtheit.

27 Der Text erschien zuerst in der Zeitschrift Holmi 23 (2011) 2, S. 143, zitiert wird er hier nach Kemény (2012). Deutsch: Kemény (2013: 393f.). 28 Der Text erschien zuerst in der Wochenzeitung Élet és Irodalom vom 03.06.2011, zitiert wird er hier nach Térey (2013). 29 Der Text wurde von der Band Kistehén vertont und bei der großen Demonstration der ungarischen Opposition am 23.10.2012 erstmals öffentlich aufgeführt. Ein Video des Liedes findet sich auf youtube. 30 Der Text erschien zuerst in der Zeitschrift Holmi 23 (2011) 10, S. 1250, zitiert wird er hier nach Szálinger (2012).

456 | STEPHAN K RAUSE Egy falu balra, aztán két falu jobbra,

Ein Dorf links, dann zwei Dörfer rechts,

Itt szőlő terem, ott nád vagy kertigomba –

Hier gedeiht Wein, dort Schilf oder Zuchtpilze –

Szeretnék ennyit írni, ha összeírnám.

Soviel möchte ich schreiben, wenn ich sie beschriebe.

De lenne falu, hol leszállítanának,

Aber da wär’n Dörfer, wo man mich vom Rad zöge,

Kikérdeznének, mégis fognák a számat;

Wo man mich ausfragte, mir doch den Mund zuhielte;

Ott nehéz volna szépet hazudni, nyilván.

Dort wäre es schwer, etwas Schönes zu lügen, offenkundig.

(Szálinger 2012: 26)

Der Sprechgestus aller drei Texte verweist auf Desillusionierung und melancholische Enttäuschung, die bis hin zu vorwurfsvoller Bedrückung und Anflügen von Verbitterung reichen.31 Szálingers Sonett variiert zunächst als Gedankenspiel, was der Titel als Beschreibung verspricht, der im gesamten Text die einzige Stelle bleibt, aus der ableitbar ist, worauf ›nép‹ [Volk] und ›hazám‹ [meine Heimat] jeweils bezogen werden könnten. Eine ›descriptio‹ im strengen Sinne bietet wohl nur Strophe drei. Zentrales Merkmal sind dort gerade Dörfer, die für eine gewisse, wenn auch trügerische, ländliche Ruhe stehen und zudem zum Ort eines tätlichen Angriffs werden. Gewalt wohnt in der idyllenhaften Ruhe. Die vermeintliche Sachlichkeit, die der Titel noch in Anspielung auf die Überschriften alter Karten des 17. oder 18. Jahrhunderts suggerieren mag, gerät mithin spätestens in diesem Gedichtschluss unter herben Verdacht. Prekär aber scheint der gesamte Gestus der Beschreibung bereits im Ansatz zu sein. Lügenhaft ist der Anspruch, den der Text enthält. Der alte platonische Verdacht gegen die Dichter scheint auf und wird als Gestus im Text nicht kaschiert, sondern umso mehr deklarativ ausgestellt. Dieses Grundproblem des Fiktionalen, so gibt wohl der Schlussvers zu bedenken, scheint vor der – hier zudem dörflich-ländlich geprägten – Realität der vermeintlich beschriebenen Heimat aber nur unter Schwierigkeiten lösbar. Ist das Verdikt eigentlich ein Generalverdacht, so zeigt sich dies hier als Anspruch, dem das platonische Moralproblem fehlt. In die allgemeine Erwartung verkehrt, ›schön zu lügen‹ bzw. ›etwas schön zu lügen‹, wird das dichterische Wort, die Schrift selbst, zum Schmutz. Dieses Bild verweist so auch auf den nationalistisch grundierten Argwohn, der das Dichterwort, das kritisch unterlegte zumal, als ›hazaárulás‹ [Heimatverrat] diffamiert. Dem nimmt Szálingers Text jedoch die Schlagkraft, indem dieser

31 Vgl. etwa Kemény (2012: 36): »cinikus ember se lett belőlem, / csak depressziós, nehéz és elárult« [aus mir wurde kein zynischer Mensch, / aber ein depressiver, schwieriger und verratener] und Térey (2013: 39): »Legyintve szerteszét és számolatlan; / Él a kedély. Lakájkultúra tombol, Kilincselők a nábob ajtaján…« [Missachtet, verstreut und ungezählt / leben die Gemüter. Lakaienkultur lärmt, Bittsteller an des Nabobs Tür…]

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sich kühn selbst als Lüge darstellt. Mancherorts führt dies zur (gewaltsam durchgesetzten) Zensur. Keménys und Téreys Gedichte unterscheiden sich von Szálinger vor allem durch die Apostrophe, die beide Texte vom ersten Vers an bestimmt. BUCSÚLEVÉL wendet sich an »édes hazám« [meine süße Heimat], an die der Ausdruck der Enttäuschung gerichtet ist. Téreys MAGYAR KÖZÖNY reagiert – paratextuell ausgewiesen – auf Keménys Text, das sprechende Ich apostrophiert allerdings »népem« [mein Volk]. Diese Differenz ist grundlegend, meint doch Heimat weit eher einen räumlich bestimmbaren und zudem meist emotional oder zumindest symbolisch aufgeladenen Bereich, während die Hinwendung zum Volk (politisch) handelnde Menschen meint. Wendet sich das Subjekt in Keménys Text ostentativ von einem wohl einst geliebten Heimatbild ab, in dem Leitbildfunktion und emotionale Zugehörigkeit zusammenfallen, erscheint Téreys Gedicht eher wie die Darstellung eines (gegenwärtigen) Zustands. Gerade das Spiel mit der Farbe Rot erzeugt dabei (jeweils politisch ausdeutbare) Ambivalenz: Erhält das apostrophierte Volk am Anfang das Attribut »fölpaprikázva« (Térey 2013: 38) [paprikaisiert], das das Klischee dialektisch nutzt, so steckt am Schluss alles im »Rotschlamm« fest.32 Téreys Text ruft damit auch die Kategorie ›népiesség‹ auf, deren andere, schwierige Seite sein Text etwa als Apathie und soziale Unterwürfigkeitshaltung benennt. Es bleibt ein Bild der (auch selbstverschuldeten) Paralyse, während Keménys Text patriotische Ernüchterung ausdrückt, quasi gerahmt in die gleichen Beginn- und Schlussverse: »Édes hazám, szerettelek.« (Kemény 2012: 36) [Meine süße Heimat, ich habe dich geliebt.] In allen drei angesprochenen Gedichten finden sich deutliche Bezüge zu einem patriotisch-volkstümlichen Diskurs, dessen Wurzeln u.a. in der Lyrik Petőfis zu finden sind. Bei Szálinger, Kemény und Térey aber werden dieser Ton und diese Thematik nicht einfach zurückgewiesen oder gar negiert. Vielmehr zeigt sich an allen drei Texten (wie auch bei weiteren Zeitgenossen) die Auseinandersetzung mit dem ›haza‹, die auch und gerade im Kontext der politischen Zustände in Ungarn zu sehen ist. Zwar steht das Dorf dabei als Schauplatz oder als Versatzstück nicht immer im fokussierten Vordergrund dieser Texte, doch ist die Bedeutung dörflicher Strukturen und ländlicher Bildlichkeit darin fraglos weiterhin bedeutsam.

32 Die Formulierung »vörösiszapban« (Térey 2013: 39) [im Rotschlamm], mit der das Gedicht schließt, spielt auch auf den Chemieunfall im Komitat Veszprém an, bei dem im Oktober 2010 u.a. das Dorf Kolontár durch mehr als 1 Million Kubikmeter auslaufenden Rotschlamm überflutet wurde.

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»FALU VÉGÉN KURTA KOCSMA...«33 Der Überblick, den dieser Beitrag liefert, zeigt nur Ausschnitte, nicht so sehr im Hinblick auf Ungarn und das Dorf als Gegenstände, als vielmehr auf einen literarischen und literarhistorischen wie politischen Diskurs. Nur insofern konnte vielleicht eingelöst werden, was die Komparation verspricht, die der Titel vorschlägt. Angesprochen wird damit auch die Darstellungsweise, für die das Dörfliche im Verbund mit der politisierten (aber vielleicht nicht immer politischen) Perspektive auf Ungarn bedeutsam ist. Die vorgestellte Auswahl liefert dazu exemplarisch mögliche Charakteristika der – auch inszenierten – Darstellung des Ländlich-Heimatlichen, ohne freilich abschließend belegbare Entwicklungen zu behaupten. In dieser Weise ist die Studie durchaus tendenziös, sie ist unbedingt kritisch im Hinblick auf eine (aktual)politische Indienstnahme des ›haza‹, auch als nationalistisch bzw. ideologisch eingefärbtes Konzept. Die Untersuchung zeigt, dass sich das Dorf mithin als semantische und symbolische Kulisse erweist, die aber erst als ›haza‹ aufgeladen werden muss. Ein im Ansetzen patriotischer Ton und in der Distanznahme politisierend-kritischer Gestus aber schreibt sich ihm ein und begehrt als ein Sprechen auf, das – in diesem Sinne auch von Petőfi herrührend – nicht in der nationalistischen Eloge sein Ziel hat, sondern in der – aus Dorfperspektive gesehen wohl undenkbaren – Erkenntnis, dass eine Beschreibung des ›haza‹ letztlich unmöglich bleibt.

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33 [Am End’ des Dorfs die kleine Kneipe] Petőfi (2004: 705).

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F ILME

UND

V IDEOS

Deutschland 09. 13 kurze Filme zur Lage der Nation (2009) (Deutschland, R: Fatih Akin, Wolfgang Becker, Sylke Enders, Dominik Graf/Martin Gressmann, Christoph Hochhäusler, Romuald Karmakar, Nicolette Krebitz, Dany Levy, Angela Schanelec, Hans Steinbichler, Isabelle Stever, Tom Tykwer, Hans Weingartner) Hukkle (2002) (Ungarn, R: György Pálfi) Ich denke oft an Piroschka (1955) (BRD, R: Kurt Hoffmann) Körhinta (1956) (VR Ungarn, R: Zoltán Fábri) Magyarország 2011 (2012) (Ungarn, R: Béla Tarr, Benedek Fliegauf, Péter Forgács, Miklós Jancsó, András Jeles, Ágnes Kocsis, Márta Mészáros, György Pálfi, László Siroki, Simon Szabó, Ferenc Török) Video des Gesprächs mit Béla Tarr u.a. zur Berlinale 2012 unter: www.berlinale.de/ de/archiv/jahresarchive/2012/02_programm_2012/02_Filmdatenblatt_2012_201 27375.php (10.11.2013).

Ontologie des Nicht-Mehr Rurale Räume bei Béla Tarr und László Krasznahorkai, oder: Der Mensch in der Landschaft danach?∗ M ARC W EILAND

D ER B LICK AUS DEM F ENSTER UND DER L ANDSCHAFT

DIE

L ESBARKEIT

Eine typische Figur und eine sich immer wiederholende Einstellung in den Filmen Béla Tarrs ist der aus dem Fenster blickende Mensch. Sei es nun die Beobachtung eines nächtlichen Verbrechens (wie in THE MAN FROM LONDON, 2007), der Dorfbevölkerung (SATANSTANGO, 1994) oder der immergleichen Landschaft (DAS TURINER PFERD, 2011; VERDAMMNIS, 1988): Immer wieder ist es die Perspektive eines stummen und reglosen Beobachters, die die Kamera einnimmt – und die sie meist auch erst nach einiger Zeit der vermeintlich unmittelbaren und direkten Beobachtung durch eine langsame Rückwärtsbewegung zu erkennen gibt. Plötzlich nimmt der Zuschauer wahr, dass er das Geschehen durch eine Scheibe beobachtet hat, und schon haftet sich sein Blick auf den dunklen Rücken einer Person in einem dunklen Zimmer, die – wie gerade er noch – durch das Fenster starrt. Der Mensch kann als das Wesen verstanden werden, das fähig ist, Grenzen zu setzen und zu überschreiten (Bollnow 1997: 130). Am sichtbarsten werden diese Grenzsetzungen in Form von Mauern. Die Mauern des eigenen Hauses vollziehen dabei die von Tarr immer wieder fokussierte Trennung zwischen Innenraum und Außenraum, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Schutz und Verletzbarkeit. Die



Herzlich danken möchte ich Corina Szarka nicht nur für die Einführung in Tarrs Filme und die vielen Anregungen zu diesem Text, sondern auch für die von ihr besorgten ungarischen Zitate.

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einfachste Funktion des Fensters ist (neben der Beleuchtung) die Beobachtung des Außenraums aus der Position des Innenraums (ebd.: 159); und zwar in einseitiger Durchlässigkeit: der Beobachtende sieht ohne gesehen zu werden: »Er sieht aus dem Fenster in die Welt, die in ihrer Helligkeit vor ihm ausgebreitet daliegt, aber die Welt sieht ihn nicht, der in der Dunkelheit des Zimmers verborgen ist«, schreibt Bollnow (ebd.: 160) in seinem Klassiker MENSCH UND RAUM. Abbildung 23: Blicke aus dem Fenster und Beobachtung der Beobachter

Satanstango, Von Vietinghoff Filmproduktion

In Béla Tarrs mehr als siebenstündigem Film SATANSTANGO (SÁTÁNTANGÓ, 1994) ist dies, ebenso wie in László Krasznahorkais gleichnamiger Romanvorlage,1 nicht der Fall. Jeder sieht jeden zu jeder Zeit (siehe auch Krasznahorkai 1990: 19, 29). Doch ist die Beobachtung immer eingeschränkt und verwischt: In Krasznahorkais Roman sind nicht nur die Küchenfenster so groß wie Mauselöcher, sondern auch die Scheiben beständig beschlagen (ebd.: 9, 154). Selbst dann, wenn die Figuren nicht hindurchschauen können, wenden sie sich nicht ab (z.B. ebd.: 20). Dabei beobachten die Beobachter sich nicht nur gegenseitig, sondern auch die vor ihrem Fenster ausgebreitete Landschaft. Landschaften haben, so der Philosoph Martin Seel, »weder Rand noch Grenze« (Seel 1996a: 62). Sie sind »geschehende Räume«, die »weder überschaut noch durchmessen werden« können (ebd.). Was auch immer

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Der Blick auf den 1985 veröffentlichten Roman Krasznahorkais bietet sich auch deshalb an, weil Béla Tarr sich an einer möglichst detailgetreuen Adaption versuchte und dementsprechend der Film nicht nur 450 Minuten lang geworden ist (was, wie Tarr wiederholt erklärte, sich daraus ergebe, dass man ungefähr so lange benötige, um das Buch zu lesen), sondern sich in ihm viele originalgetreue Passagen aus der Vorlage finden. SATANSTANGO

ist zugleich Teil einer kontinuierlich sich fortsetzenden Zusammenarbeit von Tarr und

Krasznahorkai. Dabei gehen die Drehbücher Krasznahorkais auch auf einige seiner literarischen Texte zurück; so z.B. die WERCKMEISTERSCHEN HARMONIEN (WERCKMEISTER HARMÓNIÁK,

2000) auf die MELANCHOLIE DES WIDERSTANDS (1989, dt. 1992) und das

TURINER PFERD (A TORINÓI LÓ, 2011) auf den kurzen Prosaentwurf SPÄTESTENS IN TURIN (dt. 2012).

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die Figuren hinter dem Fenster sehen – sei es der Nachbar, sei es die Landschaft oder sei es das eigene Spiegelbild –, sie vollziehen im Blick nach draußen immer auch, meist unbewusst, eine Wendung nach Innen, die sie mit dem eigenen Selbst konfrontiert, das als ein fremdes und unzugängliches Selbst erscheint. Die kargen Landschaften in Tarrs Filmen als Spiegel- und Projektionsfläche des Inneren: das lässt sich anhand der verschiedenen Formen ästhetischer Naturanschauung, die Seel in seiner ÄSTHETIK DER NATUR herausarbeitet (vgl. Seel 1991: 18-184), nachvollziehen. Drei Erscheinungsweisen sind es, die das menschliche Gefallen – oder aber: das Nicht-Gefallen – an der Landschaft hervorrufen, das Verhältnis des Betrachters zu seiner Umwelt bestimmen und sich zugleich aus drei verschiedenen, bewusst oder unbewusst vollzogenen Wahrnehmungs- und Interpretationsakten eben jenes Betrachters ergeben. Dabei kann die natürliche Landschaft zum Ersten »als Ort der beglückenden Distanz zum tätigen Handeln« erscheinen – und zwar im »Akt der kontemplativen Abwendung von den Geschäften des Lebens« (ebd.: 18, alle folgenden Hervorhebungen im Original). Zum Zweiten kann sie »als Ort des anschaulichen Gelingens menschlicher Praxis« erscheinen – und zwar im »Akt der korresponsiven Vergegenwärtigung der eigenen Lebenssituation« (ebd.). Zum Dritten schließlich kann sie »als bilderreicher Spiegel der menschlichen Welt« erscheinen – und zwar im »Akt der imaginativen Deutung des Seins in der Welt« (ebd.). Dabei scheinen vor allem die beiden letzten Varianten Modelle zu bieten, die für die Filme Béla Tarrs von Relevanz sein können. Denn während die kontemplative Naturanschauung von aller sinnhaften Ordnung des Lebens absieht,2 nimmt die existenzielle Naturerfahrung, die sich aus der korresponsiven Vergegenwärtigung und der imaginativen Deutung ergibt, ihre Umgebung als lebensweltlichen Ereignisraum wahr (ebd.: 98): Gerade die Natur als korresponsiver Ort erscheint als »Landschaft der Anschauung des eigenen Daseins« (ebd.: 97)3 – wobei sich bei Tarr zeigen wird, dass eben jenes Dasein, analog zur Landschaft, als nicht sinnvoll geordnet erscheint.4 Dabei setzt sich diese Anschauungsweise aus vier Komponen-

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Seel definiert diese Form der Kontemplation dann auch in Auseinandersetzung mit Kant als »interesselose sinnliche Wahrnehmung« (Seel 1991: 51).

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Als ›schön‹ wird eine Landschaft dann erachtet, wenn »sie Widerschein eines guten Lebens ist« (Seel 1991: 90) und »mit meinen Lebensinteressen zuvorkommend korrespondiert.« (Ebd.)

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Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive verweist Norbert Mecklenburg auf eine immer wiederkehrende Struktur und Funktion des hier aufgesuchten imaginären Ortes: »Die vermeintliche Naturnähe der Provinz bietet die Möglichkeit, das menschlich Elementare und seine Konflikte im Drama der Naturelemente zu spiegeln […] oder überhaupt Naturereignisse, meist als Katastrophen, die aufgrund ihrer ›schicksalhaften‹ Unausweichlich-

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ten zusammen, die »an der existenziellen Naturerfahrung stets beteiligt sind: die physiognomische, die klimatische, die historische und die stimmungshafte Korrespondenz« (ebd.: 92). Wobei gerade letztere von besonderem Status ist, da sie sich nicht allein auf die Formen der Umgebung (wie die ersten beiden), auch nicht auf die Spur der eigenen Geschichte in ihr (wie die dritte), sondern auf das emotionale Bewusstsein bezieht – und zwar hinsichtlich der wechselseitigen Abhängigkeit der Wirkung des Raumes und der Empfänglichkeit des Subjekts für diese Wirkung (vgl. ebd.). Denn als Handlungsraum nimmt der Naturraum nicht nur Einfluss auf »das Gestimmtsein der Handelnden« (Seel 1996b: 77), er ergibt sich zu einem bestimmten Maße sowohl aus eben jenem Gestimmtsein wie auch aus den getätigten oder aber unterlassenen Handlungen. Gerade dieses wechselseitige Sich-Bestimmen zeichnet die korresponsive Naturwahrnehmung aus (Seel 1991: 92). Wie nun aber lässt sie sich in den Filmen Béla Tarrs charakterisieren? Physiognomisch: karge und unfruchtbare Landschaften, flach, schlammig, sumpfig, nichts beherbergend. Klimatisch: unbändiger Wind und Regen, weshalb überhaupt unklar bleibt, in welcher Jahreszeit sich die Figuren befinden. Historisch: angeblich gab es – so die Erinnerung der Figuren im Roman – einstmals eine »Blütezeit« (Krasznahorkai 1990: 14) des Ortes; diese ist aber längst vergangen, schon vor einiger Zeit wurde die Auflösung der Siedlung verkündet – und zwar mittels einer Passivkonstruktion: als unbestimmtes Ereignis ohne Subjekt, das einfach so, quasi als Naturereignis, hereinbricht (vgl. ebd.: 68 und 1993: 67). Stimmungshaft: die Umgebung drückt auf die Individuen, die Landschaft ist feindlich gestimmt. Angesichts des zerstörerischen Wetters sind die Figuren beständig auf der Suche nach Schutz. Dementsprechend fokussiert Tarr in seinen Filmen immer wieder die alltäglichen Dinge und Verrichtungen mit langen Plansequenzen, insbesondere Szenen des Anund Auskleidens. Auch die Trennung zwischen Innen- und Außenraum wird immer wieder in den Blick genommen – eine Trennung allerdings, die sich in SATANSTANGO bei genauem Hinsehen nicht mehr aufrechterhalten lässt. Ebenso wenig wie die Kleidung den Menschen Schutz bietet, erweisen sich Mauern, Dächer und Fenster als umgrenzend – sie sind allesamt brüchig und durchlässig. Der Außenraum dringt in den Innenraum ein. Unkraut wächst im Haus, der Fußboden vermodert mehr und mehr (ebd.: 67). Das möglicherweise einstmals schützende Haus – »Kernpunkt und Keimzelle individueller Existenz« (Corbineau-Hoffmann 2006: 35) sowie »Lebensmittelpunkt eines Menschen oder einer Familie« (ebd.) – ist auch in seinem Inneren bereits zu einem Teil der Landschaft geworden. Aber mehr noch: Der Außenraum lastet nicht nur auf dem Individuum, sondern modelliert es:

keit als narrative Elemente bevorzugt werden, zu Mitspielern oder sogar Haupthelden einer dramatisch kulminierenden Erzählhandlung zu machen.« (Mecklenburg 1982: 55)

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»Regen und Wind hatten sie beide nicht verschont, ihn hatten sie verunstaltet und durchweicht, um ihn letztlich seiner Konturen zu berauben«, heißt es im Roman Krasznahorkais (1990: 95).5 Die menschlichen Grenzsetzungen werden damit aufgehoben.6 Ja, der Mensch verschwindet nicht nur hinter den Gegebenheiten des Außenraums, eben jener dringt in das Individuum ein – die von einer der Figuren geäußerte Metapher des »innerlichen Regen[s]« (ebd.) ist nicht nur Beleg für diesen Vorgang, sondern auch für das Wissen um ihn.7 Landschaft geht durch den Menschen hindurch. Nun kann die naturgegebene Situation im wahrnehmenden Subjekt ein »affektives Angezogensein oder Abgestoßensein, Einbezogensein oder Ausgeschlossensein« (Seel 1991: 98) hervorrufen. Im Falle positiver Korrespondenz erscheint Natur als einschließende und erzeugt dadurch ein Identifikationsverhältnis, im Falle negativer Korrespondenz erscheint Natur als ausschließende und erzeugt dadurch ein Fremdheits- bzw. Abwehrverhältnis. (Ebd.: 95) Doch ist die Figur hinter dem 5

»... az eső meg a szél nem kímélte egyikőjüket sem, őt megcsúfította és ellágyította, hogy megszüntesse végre körvonalait ...« (Krasznahorkai 1993: 93)

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Dagmar Burkhart spricht in ihrer Monografie HAUTGEDÄCHTNIS von vier verschiedenen, symbolisch schützenden Hautschichten des Menschen. Da ist zum Ersten die Haut als Organ, welches die inneren Organe einhüllt; zum Zweiten ist es das Textile, das ein Anund Verkleiden ermöglicht; zum Dritten und Vierten sind es Architekturen und metaphysisch-kosmologische Entwürfe, die den Menschen vor einer vermeintlich feindlich gesinnten Außenwelt abschirmen (vgl. Burkhart 2011: 31). Dabei sind insbesondere die Funktionen der dritten Haut denen der ersten nicht unähnlich: Die Hülle kann das »Interieur spiegeln beziehungsweise Charakteristika des Inneren kommunizieren oder offen legen.« (Ebd.) Ebenso führt Bernhard Waldenfels aus phänomenologischer Perspektive aus: »Das leibliche Selbst fungiert als Grundmuster für Gebäude, die sich nach innen hin aushöhlen und nach außen hin durch Wände, Böden und Dächer abschirmen […]. Raumgrenzen gleichen der leiblichen Haut, die zugleich trennt und verbindet.« (Waldenfels 2009: 78) Bröckelnder Putz, einreißende Mauern und einbrechende Dächer (Krasznahorkai 1990: 160) ebenso wie der ausgezehrte Mantel, den die Figur Halics in einem langen Monolog beklagt, verweisen dabei allesamt auf die auf allen Ebenen durchlässig werdenden Hautgrenzen der Dorfbewohner. Und so führt auch Hetzenauer aus, dass die Außenwelt bei Tarr immer nur teilweise eine äußere ist: »In ihr materialisieren sich auch die innerpsychischen Mechanismen der Menschen.« (Hetzenauer 2013: 21)

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So ist dieser auch etwas, vor dem die Figuren beständig Schutz suchen: »a könnyen végzetessé való belső esőktől ...« (Krasznahorkai 1993: 93). Und auch der Doktor ist davon überzeugt, dass die hintere Hälfte seines Zimmers bereits zur feindlichen Außenwelt gehöre und er daher »doch nur von einer Seite her durch eine Wand geschützt und von der anderen her frei angreifbar« wäre (Krasznahorkai 1990: 67).

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Fenster keine Figur, die etwas dagegen tut, passiv lässt sie die Dinge auf sich zukommen und beobachtet (Rancière 2013: 42).8 Melancholie und Müdigkeit sind die der Landschaft korrespondierenden Seelenzustände der Figuren. Wobei sich gerade hier, hinter dem Fenster, der Versuch zeigt, die Umgebung zu lesen und »der Sache auf den Grund [zu] gehen« (Krasznahorkai 1990: 9).9 »Was ist?«, »Was passiert hier überhaupt?«, »Was hat das alles zu bedeuten?« sind die zentralen Fragen der Figuren in SATANSTANGO und im TURINER PFERD (A TORINÓI LÓ, 2011).10 Der hermeneutische Umgang mit der Welt im Akt des versuchten Lesens entspringt dabei dem Wunsch – und ist auch getragen von dieser Unterstellung –, dass die Welt anders sei und auf anderes verweisen kann. Er zielt damit auf einen »tiefere[n] Einblick in das, was dem bloßen Hinsehen immer entzogen gewesen sein sollte« (Blumenberg 1981: 11) – eine kosmische Ordnung, in der von jedem Einzelphänomen aus der Übergang zum Ganzen möglich sein soll (ebd.: 20).11 Nur: Die Menschen starren nach draußen und die Welt spricht nicht zu ihnen, ist nicht lesbar; selbst dann, wenn sie sich, wie der alles beobachtende und notierende Doktor in SATANSTANGO, als ›Detektive‹ versuchen. Kausale Wirkungen und absichtsvolles Handeln sind in ihr nicht erkennbar. Das hängt im Wesentlichen auch mit der sich ausdehnenden und auf die menschliche Sozialordnung übergreifenden Landschaftsformation zusammen. Lässt sich der Begriff der Landschaft weiterhin als »ein unabsehbares Geschehen, das alles Was und Warum dieses Geschehens übersteigt« (Seel 1996a: 64) bestimmen, so schlägt die damit verbundene Erfahrung von Kontingenz und Unergründlichkeit bei Tarr ins negative um: Zwar gehört ein betrachtendes und empfindendes Subjekt, das in einem besonderen Akt des Sehens (die naturwissenschaftliche) Natur zur (ästhetisch erfahrbaren) Landschaft macht, korrelativ zur Landschaft (Piepmeier 1980: 17), doch ist dieses Subjekt hier nicht mehr ›Produzent‹, sondern vielmehr ›Produkt‹ der Landschaft. Sinnbildhaft stehen dafür diejenigen Szenen, in denen die Figuren in die Landschaft ›geworfen‹ und ihr hilflos ausgesetzt sind. Häufig trommelt die Umgebung so sehr auf den individuellen Leib

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Tarr, so Jacques Rancière, filme dabei »die Art und Weise, wie die Dinge sich an den Menschen hängen.« (Rancière 2013: 38)

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Im ungarischen Originaltext wird dabei jedoch weniger nach dem Ursprung, sondern vielmehr nach dem Begriff der Wahrheit gefragt: »mert tudni akarta, hogy mi az igazság.« (Krasznahorkai 1993: 9) [Weil er wissen wollte, was die Wahrheit ist.]

10 »Mi van?« »Mi történik itt?« »Mi ez az egész?« 11 Blumenberg spricht auch von dem »Wunsch, die Welt möge sich in anderer Weise als der der bloßen Wahrnehmung und sogar der exakten Vorhersagbarkeit ihrer Erscheinungen zugänglich erweisen: im Aggregatzustand der ›Lesbarkeit‹ als ein Ganzes von Natur, Leben und Geschichte sinnspendend sich erschließen […].« (Blumenberg 1981: 10)

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ein, dass ein Verstehen unmöglich wird: »er stand nur dumpf und benommen inmitten des erbarmungslosen Tosens, er sah diese unstete Welt vor sich, begriff sie aber nicht« (Krasznahorkai 1990: 171).12 Es ist hier nicht mehr der Mensch, der die sich ihm eröffnende Landschaft verstehend und gestaltend formt – die Landschaft formt ihn. Tarrs Welt fußt auf einem »radikalen Materialismus« (Rancière 2013: 33). Hier ist das Materielle entweder der Akteur13 oder es ist dem beständigen Verfall ausgesetzt. Dementsprechend unhandhabbar und unzugänglich – also funktionslos – sind die Dinge für die Menschen. Die Umgebung ist weder kognitiv noch instrumentell zu bewältigen. Und Umgebung umfasst hier zumindest viererlei: erstens den Ort, zweitens die Dinge, drittens die Mitmenschen, viertens das eigene Selbst. Dem Beobachten kommt zuvörderst eine Schutzfunktion zu; wobei es insbesondere auch vor dem Vergessen(-werden) bewahren soll. Daher folgt auf die Frage nach der Lesbarkeit zugleich die Frage nach der Erzählbarkeit der Welt – und zwar hinsichtlich ihrer Funktion und Realisierbarkeit. Beispielhaft dafür ist die Figur des Doktors, der sich selbst die Rolle des Dorf-Chronisten gegeben hat: »Er beschloß, alles sorgfältig zu dokumentieren, darauf achtend, daß ihm nicht die geringste Kleinigkeit entging, denn er hatte erkannt, daß die Nichtbeachtung scheinbar bedeutungsloser Dinge einem Eingeständnis gleichkommt: schutzlos stehen wir, verloren, im wogenden Bast der schwankenden Brücke zwischen Zerfall und begreiflicher Ordnung; jede Kleinigkeit, sei es die Anordnung von Tabakkrümeln auf dem Tisch, die Flugrichtung von Wildgänsen oder die Abfolge nichtssagend scheinender menschlicher Bewegungen, muß in beständiger Beobachtung verfolgt und erfaßt werden, nur so können wir hoffen, eines Tages nicht auch selbst zu spurlos verschwundenen und verstummten Gefangenen dieser zerfallenden und unablässig wiedererstehenden Ordnung zu werden.« (Krasznahorkai 1990: 69f.)14

12 »[…] s csak állt bambán és üresen ebben a könyörtelen erőben, látta, de nem értette ezt a tántorgó világot maga körül […]« (Krasznahorkai 1993: 169). 13 Egal, ob es der nahezu ewig währende, stete Regen, das Ticken der Uhren oder das Klacken der Schreibmaschinen ist: Die Geräusche der Dinge drängen in SATANSTANGO immer wieder in den Vordergrund; ja, im Roman führen die Dinge nicht nur ein Eigenleben, sondern beobachten die Menschen (vgl. Krasznahorkai 1990: 11f.). Filmstilistisch zeigt sich dies auch in den Drehbewegungen der Kamera, die »den Eindruck vermitteln, die Räume seien es, die sich bewegen, die die Figuren in Empfang nehmen« (Rancière 2013: 38f.). Daher sieht der Zuschauer, noch bevor die Figuren auftreten, zumeist auch erst die Szenerie (ebd.: 39). 14 »Eldöntötte, hogy mindent alaposan megfigyel s folyamatosan ›dokumentál‹, arra törekedve, hogy egyetlen apróságot se mulasszon el, mert rádöbbent, hogy látszólag jelenték-

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Angesichts der raum- und menschenergreifenden Unordnung der wahrgenommenen Umgebung – der natürlichen und kultürlichen Landschaft – soll hier eine narrative Ordnung entstehen, die sich dem Verfall der realen Ordnung entgegenstellt.15 Das Erzählen ist der quasi kompensatorische Versuch, dem Verschwindenden und Ungeformten eine Form und einen Inhalt zu geben; das Unbegrenzte zu begrenzen.16 Und so zeigt sich auch im Film häufig ein Widerspruch zwischen Erzählen und Sein. Dort, wo der Erzähler aus dem Off von Morgenrot und aufklarendem Himmel berichtet, ist der Zuschauer konfrontiert mit Regen und Dunkelheit.17 Die Bucherfahrung (oder besser hier: Erzählerfahrung) tritt, wie Hans Blumenberg formuliert, »in Rivalität zur Welterfahrung.« (Blumenberg 1989: 11) Doch soll diese narrative Gegenordnung nicht nur dem Verschwinden des Orts, sondern auch dem Verschwinden des eigenen Selbst entgegenwirken, ja mitunter auch »sein so leicht verfliegendes Dasein zum Sein […] erheben« (Krasznahorkai 1990: 105).18 Denn ein verschwindender Ort – und an einem solchen spielen beide Filme gleichermaßen – korrespondiert mit verschwindenden Menschen. »Wer auf das Erzählen verzichtet, verzichtet auf seine Geschichten; wer auf seine Geschichten verzichtet, verzichtet auf sich selber«, heißt es bei Odo Marquard (2000: 60). Alles, »was der Mensch für erinnernswert hält«, müsse auch »eine unabhängige und unauflösbare Ordnung«

telen dolgokat figyelmen kívül hagyni egyenlő a beismeréssel: védtelenül állunk a szétesettség és a felfogható rend közti híd ›hullámzó háncsaiba‹ veszve; bármely apróságot, amely megtörtént, legyen az akár dohánymorzsák átlal ›az asztalból kihasított terület‹, vadlibák érkezési iránya, vagy akár semmitmondónak tűnő emberi mozdulatok egymásutánja, állandó figyelemmel kell követni és megragadni, így reménykedhetünk csupán abban, hogy egy nap mi magunk is nem válunk e bomló és örökesen épülő sátáni rend nyomtalan és elnémült foglyaivá.« (Krasznahorkai 1993: 68) 15 Doch erscheint die dörfliche Lebenswelt in SATANSTANGO schon jeher als eine unstrukturierte: »we have a cross between a village and a totally unstructured habitat. There are no roads, only paths, within the settlement, the buildings do not suggest from the outside that people are living there, and there are no community spaces – no church, no shops, no official buildings – in the settlement except for the pub, which in turn has no connection to other buildings; rather it stands alone at some unspecified location.« (Kovács 2011: 76) 16 Die Aufzeichnungen des Doktors sind mit Blumenberg auch als Versuch des Bewusstseins zu verstehen, »Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrungen lesen zu können.« (Blumenberg 1981: 19, Hervorhebungen im Original) 17 Eben solcher Widerspruch gilt auch für die Figuren des Films: »most of the characters talk as if they do not belong to their environments.« (Kovács 2011: 49) 18 »[…] létre emelje oly könnyen elröppenő most-ját […]«. (Krasznahorkai 1993: 103, Hervorhebung im Original)

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haben (Krasznahorkai 1990: 105), denkt eine der Romanfiguren19 – und vollzieht dadurch gerade jenen Akt der imaginativen Deutung, von dem Martin Seel spricht: »Den naturhaften Erscheinungen muß eine zeichenhafte Einheitsstruktur zugewiesen werden, die sie an sich nicht haben; Selektionen müßen vorgenommen werden, Ordnungen gebildet, Grenzen gezogen werden, die von der Natur nicht vorgezeichnet sind.« (Seel 1991: 139)

Damit wird die wahrgenommene Landschaft bereits im Akt der Wahrnehmung kulturellen Vorbildern nachgebildet (vgl. ebd.: 145); die prototypische narrative Ordnung des Textes, die der Doktor verfolgt, stellt dafür ein ganzes, in sich geschlossenes und zusammenhängendes Muster angesichts der fehlenden natürlichen und sozialen Ordnung bereit.20 Sie bietet nicht nur eine Befriedigung des eigenen kognitiven Ordnungsbedürfnisses, sondern auch einen Schutz vor der um sich greifenden Unordnung – selbst dann, wenn sie nicht mit den Gegebenheiten korrespondiert. Sie erweist sich kognitiv mitunter als so mächtig, »dass man lieber Teile der Wirklichkeit leugnet, als die Bindung an das Narrativ aufzugeben.« (Koschorke 2013: 44)21 Daher soll die imaginative Deutung formal auch so verfasst sein, dass sie über ihren eigenen imaginativen Inhalt hinwegtäuscht. Zur Realisierung dessen ersinnt der Doktor eine Methodik der ›optimalen‹ Beobachtung, die v.a. auf einer festen und unverrückbaren Positionierung der Gegenstände im Raum und seiner selbst am Fenster fußt. Doch nützt dies alles nichts: Der Doktor ist in der Tat weniger Chronist, vielmehr Interpret und schließlich auch Erfinder des Geschehens. Er kann es gar nicht anders sein. Weder verfügt er über ein Zeitmaß, das irgendwie verlässlich wäre, noch wäre – nicht nur angesichts seines übermäßigen Schnaps19 »[A]mit megőrizni fontosnak tart az ember, lenne egy független és feloldhatatlan rendje …« (Krasznahorkai 1993: 103). Und eine andere Figur: »wie alles hier ein vorbestimmtes Ende hat.« (Krasznahorkai 1990: 171; »amiként itt ›mindennek elrendelt vége van‹«, Krasznahorkai 1993: 170). Der Doktor schließlich spricht während seiner Aufzeichnungen im Film von »eine[r] kosmische[n] Wirtschaft« (»kozmikus wirtschaft«). 20 Dabei ist es nur folgerichtig, dass auch der Roman Krasznahorkais nicht als in sich geschlossene Ganzheit erscheint, sondern selbst wiederum fragmentarisch strukturiert ist. 21 Ja, mehr noch: Mitunter erscheint die Erzählerfahrung im Duell mit der Welterfahrung als vermeintlicher Sieger, erzeugt sie doch im Doktor den Glauben (und auch das damit verbundene Gefühl der Selbstermächtigung), dass sich die Wirklichkeit nach den Worten richten würde: »Wahrhaftig, mit einem bestimmten Maß an Konzentration kann ich bestimmen, was in der Siedlung geschehen soll. Denn es geschieht nur, was ausgedrückt wird.« (Krasznahorkai 1990: 311; »[…] nincs mese, a figyelem összpontosításának egy bizonyos fokán megszabhatom, mi történjen a telepen. Mert csak az történik meg, ami megfogalmazódik.«, Krasznahorkai 1993: 321f.)

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konsums – auf seine Wahrnehmung Verlass. »Sehe nicht gut«, muss er sich denn auch eingestehen (Krasznahorkai 1990: 81).22 Aber mehr noch: Zwar wird sowohl der Roman als auch der Film zunächst scheinbar von einem allwissenden Erzähler erzählt, doch zeigt sich am Ende – wenn beide eine Kreisbewegung vollziehen und der Anfang des Textes bzw. Films als Bericht des Doktors erneut wiedergegeben wird –, dass das Erzählte auf der Einbildungskraft basiert; schließlich hat der Doktor nicht nur längst sein Fenster verbarrikadiert, sondern war bei den entscheidenden Ereignissen gar nicht anwesend. Film und Roman jedenfalls enden mit ihrem Anfang – und befinden sich dadurch in einer Struktur der Wiederholung des Immergleichen.

D IE

EWIGE

W IEDERHOLUNG DES G LEICHEN

Diese Struktur der Wiederholung findet sich sowohl inhaltlich als auch formal auf verschiedenen Ebenen wieder. Es wird zwar eine fortlaufende Handlung erzählt, doch werden einzelne Episoden wiederholt aus unterschiedlichen Perspektiven abgefilmt; der Zuschauer kommt immer wieder an den gleichen Gelenkstellen der Handlung an.23 Ebenso zeigt Tarr immer wieder filmische Standbilder bzw. Stillleben. Auch der »Tango«, den die Dorfbewohner in der Kneipe tanzen, besteht aus einer ewigen Wiederholung der gleichen Töne und Melodien – und daher auch der immerwährend gleichen menschlichen (vielleicht auch absurden) Bewegungen; dargestellt in einer über 13-minütigen schnittlosen Sequenz. Dieser Tango symbolisiert das stilistische Prinzip der Filme Tarrs, dessen Figuren immer wieder neue Anläufe nehmen und sich doch immer wieder im Kreis drehen.24 Die gelebte Zeit der

22 »Nem látok jól.« (Krasznahorkai 1993: 79) 23 Solch eine Wirkung ergibt sich auch filmübergreifend. Denn dadurch, dass Tarr seine Rollen immer wieder mit den gleichen Schauspielern besetzt, finden sich diese auch wiederholt in den gleichen Strukturen wieder. So verkörpert z.B. Erika Bók die junge Estike in SATANSTANGO, Maloins Tochter in THE MAN FROM LONDON und schließlich auch die Tochter des alten Kutschers im TURINER PFERD. 24 Kovács unterscheidet in seiner Monografie vier grundlegende strukturelle Aspekte der Filme Tarrs: die Banalität der dargestellten Ereignisse, das langsame Fortschreiten und In-der-Schwebe-Bleiben der Ereignisse, die Statik der Situationen und schließlich die zirkuläre narrative Form (Kovács 2011: 100). Letztere definiert er folgendermaßen: »Circularity of dramatic form characterises stories in which characters go through a series of events but these events do not get them closer to the solution to their initial problem. Not only does this remain unresolved, but at the end they lose the perspective to resolve it that

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Individuen nähert sich der reinen Wiederholung an (Rancière 2013: 16). Damit ist auch Zeitbewusstsein kaum mehr möglich. Der Tanz in der Kneipe, eines der Leitmotive in den Filmen Béla Tarrs, wird zur Metapher des Lebens der Dorfbewohner, ja des menschlichen Daseins schlechthin. Seit Jahren erzählen sie das Immergleiche, seit Jahren tun sie das Immergleiche. Alle wollen den Ort schnellstmöglich verlassen; und zwar ebenfalls bereits seit Jahren (Krasznahorkai 1990: 196). Stattdessen befinden sie sich in einem Zustand des Wartens (ebd.: 174) und der allgegenwärtigen Müdigkeit (z.B. ebd.: 34, 88, 107, 257). Auch das Dorf in SATANSTANGO bildet damit eine Koordinate in einer mitteleuropäischen »Topographie der Trägheit, Unbeweglichkeit, Ereignislosigkeit« (Marszałek 2010: 60).25 Auch hier ließe sich wohl besser eine Geschichte der nicht-realisierten als der realisierten Handlungen erzählen. Dementsprechend sind die Filme Tarrs auch geprägt von einer »radikale[n] Ästhetik der Entschleunigung« (Hetzenauer 2013: 11). Je stärker jedoch die Figuren der Wiederholung ausgesetzt sind, desto stärker wird auch ihr Wunsch nach einem radikalen Umbruch genährt – der jedoch nicht einfach nur darin bestünde, ein glückliches Leben zu führen, sondern zu gewinnen (Rancière 2013: 42). Nicht etwa eine sozial orientierte und schrittweise vollzogene Reform, sondern vielmehr die plötzliche Revolution des eigenen Lebens ist es, die ihrer Erwartungshaltung entspricht. Das zentrale Muster der meisten Filme Béla Tarrs ist daher ein ganz einfaches: Es ist eine außergewöhnliche und unerwartete Erscheinung, die das Ende des drückenden immerwährenden Alltags verheißt. In SATANSTANGO bricht das Außergewöhnliche gleich dreifach über die Dorfbewohner herein: erstens in einem unerklärlichen »himmlischen« Glockengeläut (von dem sich herausstellen wird, dass es von einem Irren in einer abgelegenen Kirche verursacht ist), zweitens vermittels eines außerordentlichen Geldsegens (der zu gegenseitigen Intrigen führen wird) und drittens in der Wiederkehr der todgeglaubten Erlöserfigur Irimiás. Auf der einen Seite die Masse der bewegungslosen und den Gegebenheiten ausgelieferten Figuren (z.B. Krasznahorkai 1990: 28, 87), deren apathischer Zustand sie nur noch auf ein Wunder hoffen lässt (ebd.: 180),26 auf der andethey may have had at the beginning. At the end of the film they find themselves in a situation that is the same as or worse than before.« (Ebd.: 118) 25 Beispielhaft verweist Marszałek dabei auf die geopoetische Prosa Stasiuks: »Mitteleuropa wird von ihm zu einer posthistorischen Landschaft des Durativen entworfen.« (Marszałek 2010: 60) Dabei könnte das folgende Zitat Stasiuks ebenso gut auf die filmischen Räume Tarrs gemünzt sein: »Das Unterlassen ist das Wesen dieser Gegend. Geschichte, Geschehen, Konsequenz, Denken und Plan lösen sich immer wieder in dieser Landschaft auf […].« (Stasiuk 2005: 56, zitiert nach Marszałek 2010: 64) 26 Fasst man den Begriff der Freiheit als »Möglichkeit, Situationen zu generieren« (Waldenfels 2000: 195) bzw. umzustrukturieren (ebd.: 197), so verweist bereits die grundlegende

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ren Seite die umherirrenden Individuen als »Verkörperung einer reinen Möglichkeit der Veränderung« (Rancière 2013: 33). Dabei befinden sich erstere im Spannungsverhältnis zweier gegensätzlicher Erwartungen: Der Erwartung des Selben (der Bestätigung des bisherigen Lebens, das sich in ständiger Wiederholung befand) und der Erwartung des Unbekannten (der Hoffnung auf ein anderes Leben) (ebd.: 80). Getragen werden sie von der beständigen Imagination eines besseren zukünftigen Lebens, der »Hoffnung, einmal noch nach Hause zu finden.« (Krasznahorkai 1990: 10)27 Sowohl die Zuschauer als auch die Charaktere werden dabei derselben Illusion ausgesetzt: »that the story is going somewhere, even if slowly, while in fact it is only making a circle, and arrives at a situation as hopeless as the one it started out from.« (Kovács 2011: 100) Nach dem französischen Philosophen Jacques Rancière befinden sie sich dadurch in ›der Zeit danach‹: »Die Zeit danach ist nicht die gleichförmige und zermürbende Zeit derer, die an nichts mehr glauben. Es ist die Zeit der reinen materiellen Ereignisse, an denen sich der Glaube misst, so lange das Leben ihn noch in sich trägt.« (Rancière 2013: 16) Warum aber kommen die Dorfbewohner nicht von selbst aus der Wiederholung des Immergleichen heraus? Dies führt zur Frage nach ihrer grundlegenden anthropologischen und sozialen Verfassung, die dem Menschenbild Thomas Hobbes’ – homo homini lupus (vgl. Hobbes 1977: 69f.) – mitsamt seinen Konsequenzen – bellum omnium contra omnes (vgl. ebd.: 83ff., Hobbes 2003: 115f.) – nicht unähnlich ist. Der Mensch ist in den Filmen von Béla Tarr hauptsächlich Bestandteil der physikalischen Natur; die ihn umgebende Landschaft wirkt nicht nur direkt auf ihn ein, sondern geht geradezu durch ihn hindurch: »Nicht mehr Beziehungen […] bestimmen die Situation, sondern die äußere Wirklichkeit ist es, die in die Individuen eindringt, ihren Blick, ja ihr Sein überwältigt.« (Rancière 2013: 39) Dadurch wird er zu einem kausalgesetzlich bewegten Ding unter Dingen: auf bestimmte Reize reagiert er quasi mechanistisch auf eine ebenso bestimmte Weise. Dabei kann der Mensch zwei verschiedene Arten des Verhältnisses zu den Reizen haben: entweder er strebt zu ihnen hin oder er strebt von ihnen weg. Im ersten Fall nennt er

Bewegungslosigkeit der Figuren auf deren Unfreiheit bzw. Unfähigkeit, den Ort ihres Unglücks selbstständig zu verlassen. 27 Der Verweis auf die berühmten letzten Zeilen von Ernst Blochs DAS PRINZIP HOFFNUNG liegt hier sehr nahe: »Hat er [der Mensch] sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« (Bloch 1973: 1628) Dabei sind die Filme Tarrs von einer eschatologischen Metaphorik durchzogen und die Figuren durchaus von heilsgeschichtlichen Erwartungen, die sich irgendwann diesseits einstellen werden, geprägt.

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das Objekt seiner Neigung ›gut‹ oder ›schön‹. Im zweiten Fall nennt er das Objekt seiner Abneigung ›schlecht‹, ›böse‹ oder ›hässlich‹. Was natürlich heißt, dass er nicht etwa etwas erstrebt, weil es gut ist, sondern weil er es erstrebt ist es ›gut‹. Beziehungsweise, genauer gesagt: Weil die Dorfbewohner von etwas wegstreben (dem eigenen Standpunkt), nennen sie das, was nicht da ist, ›gut‹. Und da grundsätzlich alle vom Hier-und-Jetzt wegstreben, so verfolgen auch alle gewissermaßen das gleiche (negativ erzeugte) Gut – auf das jeder den gleichen Anspruch erhebt. Daher ist es für sie nur rational, dem anderen möglichst zuvorzukommen; und sei es durch Betrug oder Hinterlist. Und da jeder dem gleichen Gut (das ist in allererster Linie: das liebe Geld und die noch viel liebere Frau Schmidt) nachjagt und zugleich mit der Hinterlist des anderen rechnen muss, so befinden sich die Dorfbewohner in einer Situation des gegenseitigen Belauerns und Misstrauens, die kooperatives Handeln unmöglich macht. »Unter den Dorfbewohnern findet Kommunikation nur statt, insofern einer sich für den anderen zu dessen Vorteil instrumentalisieren lässt.« (Hetzenauer 2013: 68) SATANSTANGO wird dadurch zu einer »Geschichte vom Ende der Gemeinschaft« (Rancière 2013: 51). Der allgegenwärtige Ressourcenmangel basiert auf den herrschenden »Prinzipien gegenseitiger Ausbeutung« (Hetzenauer 2013: 68), die wahrlich zu einem kleinen Krieg aller gegen alle führen. Quasi außerhalb gesellschaftlicher Ordnung im Gefangenendilemma sitzend, befinden sich die Dorfbewohner in einer Situation, aus der von allein kein Ausweg möglich ist. Dies erklärt auch ihre Bereitschaft zur Unterwerfung unter eine (selbst wiederum unterworfene) von außen kommende prophetische Macht, die nichts anderes als die Wiederherstellung der – einstmals existierenden – sozialen Ordnung im Kleinen durch Gründung einer »Musterwirtschaft« (Krasznahorkai 1990: 207; »mintagazdaság[]«, Krasznahorkai 1992: 210f.), einer modellhaften ›wahren‹ Gemeinschaft, verspricht.28 Diese Unterwerfung ist nicht nur aus Gründen der eigenen Sicherheit nötig; »echte Gemeinschaft«, so heißt es bei Helmuth Plessner, »braucht den Herrn und Meister, ohne den sie zerfallen müßte.« (Plessner 2003: 43) Einzig in zwei Momenten – dem alkoholgeschwängerten exzessiven Tanz in der Kneipe sowie der Unterwerfung unter ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Macht – kann eben jene »vollkommene[] Einheit menschlicher Willen«, von der Tönnies (1991: 7) in 28 »Ich schaffe eine kleine Insel mit einigen Männern und Frauen, die nichts zu verlieren haben, eine Insel, wo niemand preisgegeben ist, wo wir füreinander und nicht gegeneinander leben, wo ein jeder sein Haupt am Abend in Wohlstand und Ruhe, in Sicherheit und menschenwürdig zur Ruhe betten kann.« (Krasznahorkai 1990: 207f.; »… létrehozok egy kis szigetet néhány emberrel, akiknek nincs semmi veszítenivalójuk, egy szigetet, ahol megszűnik a kiszolgáltatottság, ahol egymásért és nem egymás ellen élünk, ahol mindenki bőségben és nyugalomban, biztonságban és emberhez méltóan tudja majd álomra hajtani esténként a fejét …«, Krasznahorkai 1993: 211).

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seiner Theorie der Gemeinschaft ausgeht, entstehen; und sie kann eben nur solange aufrecht erhalten werden, bis Ernüchterung einsetzt – auch angesichts des selbst wiederum betrügerischen Irimiás, der (ebenso ausgeliefert, wie die Dorfbewohner) sie um ihr Geld bringen und schließlich zu unwissentlichen Spionen der Staatsmacht machen wird.

K OSMISCHER V ERFALL

AUF DEM

L AND

Etwas anders sieht die Lage im TURINER PFERD aus. Hier stellt sich die Frage nach dem sozialen Wesen des Menschen nicht, da die beiden Hauptfiguren ihr Leben in einer kleinen Einsiedelei fernab größerer Gemeinschafts- und Gesellschaftsformen führen. Hier geht es auch nicht um die Frage nach der Schaffung von Ordnung – denn diese ist zunächst einmal vorhanden: die Mauern des Hauses sind fest und das Interieur ist wohlgeordnet –, sondern darum, bis zu welchem Punkt diese gegenüber der Außenwelt aufrechterhalten werden kann und ab wann der Mensch der Natur und den Dingen rest- und hoffnungslos ausgeliefert ist. Auch hier leben die beiden Protagonisten in ständigen Wiederholungen, in einem Zustand, in dem nichts passiert – außer den Automatismen des Alltags, die quasi einem naturgesetzlich geregelten Ablauf folgen und ausschließlich der Selbsterhaltung dienen: »The characters have no intentions, goals, plans or desires that could become the motivational basis of the narration.« (Kovács 2011: 147) So fallen auch die ersten Worte im Film nach über 20 Minuten; bezeichnenderweise beziehen sie sich auf das Essen. Und so gibt es auch eigentlich nichts zu erzählen; das Leben der Protagonisten ist zunächst einmal ein Nicht-Geschehen, und damit auch eine Nicht-Erzählung: es gibt keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende. Es ist die gleichförmige Zeit und der gleichförmige Raum, an die und an den die Menschen als feste Bestandteile gebunden sind. Damit einher geht auch eine Entpersonalisierung des Raumes, der nun nicht mehr in irgendeine Tätigkeit gezwungen wird (Seel 1996b: 78). Der ländliche Raum ist bei Tarr weder Handlungsraum noch Erinnerungsort der Figuren: »everything that happens is a process of nature rather than the result of human action.« (Kovács 2011: 148) So leben die Protagonisten im TURINER PFERD lediglich im Präsens des Films (Kövári 2012: 18), nichts wissen und erfahren wir über sie. »Was war es, was wir erhoffen durften?« – selbst die von Blumenberg (1981: 9) angesichts enttäuschter Sinnerwartungen in die Vergangenheit verlagerte Kantsche Frage dürfte angesichts der Gleichförmigkeit der Figuren in Raum und Zeit keinen Sinn mehr ergeben. Dabei wird im TURINER PFERD die Grundkonstellation der Filme Tarrs noch einmal gesteigert.

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»The basic theme of all of Tarr’s films is entrapment. Each film shows a situation which the characters are incapable of getting out of, however hard they try. They remain hopeless captives in their miserable situation, whether or not they are responsible for their own suffering.« (Kovács 2011: 99, Hervorhebung im Original)

Denn nun vollzieht sich diese Grundkonstellation, stärker noch als in den vorherigen Filmen Tarrs, im »Übergang vom Sozialen ins Kosmische« (Rancière 2013: 11). Das TURINER PFERD ist die Geschichte eines »Alltags, der von keinerlei Versprechen unterbrochen wird, sondern mit einer einzigen Möglichkeit konfrontiert ist: die Gefahr, sich nicht einmal mehr wiederholen zu können.« (Ebd.: 96) Erst dann, »wenn einem naturgesetzlich geregelten Ablauf oder einer geplanten Handlung ein unvorhergesehenes Widerfahrnis widerfährt« (Marquard 2000: 61), muss und kann erzählt werden. Dies geschieht in mehreren Schritten, die allerdings nicht nur eine lebensweltliche, sondern eine kosmologische Verfallsgeschichte erzeugen und in sechs Kapiteln, die sechs Tagen entsprechen, die Schöpfungsgeschichte rückwärts erzählen. Fred Kelemen, Kameramann des Films, spricht hier auch von der »Chronologie einer Genesis der Dunkelheit« (Kelemen 2011). Schritt für Schritt werden den Figuren darin die grundlegenden Elemente ihrer lebensweltlichen Ordnungsstruktur entzogen. Erst verstummt das seit 58 Jahren zu hörende Geräusch der Holzwürmer, dann verweigert das Pferd sowohl Gehorsam (und kündigt damit auch die grundlegende und das Selbstbild des Kutschers begründende Herr-KnechtStruktur auf) als auch Fressen, schließlich versiegt das Wasser im Brunnen. Der Versuch, den Ort zu verlassen, scheitert; ohne Angabe von Gründen. Interessant ist dabei die Bewegung der Kamera, die die Figuren auf ihrer Flucht nur wenige Meter begleitet, um schließlich das Geschehen von einer fensternahen Perspektive aus zu beobachten und den Zuschauer in die Rolle der bewegungslosen Charaktere schlüpfen (und, ebenso wie die Figuren am Fenster, das Geschehen in der Landschaft nicht verstehen) zu lassen. Die Kamera ist nicht dafür da, die Menschen zu filmen, sondern den Ort. Der Ort wird zur Hauptfigur des Films (Rancière 2013: 87); die Figuren, normalerweise Auslöser und Träger des Handlungsverlaufs, sind nebensächlich. Was sich jenseits des Ortes befindet – und ob sich jenseits überhaupt noch etwas befindet – bleibt unklar. Auch versuchen die Figuren nicht, der sich auflösenden Ordnung einen Sinn abzuringen oder eine Gegenordnung herzustellen. Dort, wo sich die Dorfbewohner in SATANSTANGO noch mit ihrem persönlichen Symbolvorrat und Hoffnungsobjekt – für den Wirt sind es die Zahlen, für Frau Halics die Bibel, für Futaki Maschinen und für Frau Schmidt die Stadt – der Sinnlosigkeit der Welt stellen (bzw. ihr einen Sinn abzuringen versuchen), führen die Figuren im TURINER PFERD weiterhin ihre alltäglichen Automatismen aus – die nun jedoch zwecklos geworden ins Leere gehen. Dies ist umso erstaunlicher, als es gerade die sich letztendlich vollziehende

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Auflösung naturgesetzlicher Kausal-Beziehungen – Brennbares brennt nicht mehr, alle Lichtquellen verlöschen – ist, die nach einer Erklärung bzw. Reaktion verlangen würde; was allerdings angesichts der zerfallenden kosmischen Ordnung auch nichts nützen dürfte: »Living beings«, so fasst Kovács die Situationen, in denen sich die Figuren Tarrs befinden, zusammen, »are only helpless observers and victims of what is happening.« (Kovács 2011: 150) Die schon in SATANSTANGO zentralen Phänomene des Eigenlebens, des Zerfalls und der Funktionslosigkeit der Dinge werden hier noch weiter verstärkt – und zwar im Sinne einer ontologischen Reduktion. Man könnte sagen: Es sind nicht mehr nur die Menschen, die von einer allumfassenden Müdigkeit gezeichnet sind, sondern auch die Dinge, ja das Sein schlechthin. Findet sich an zentraler Stelle der Philosophie Ernst Blochs eine »Ontologie des Noch-Nicht-Seins« (Bloch 1985: 217; vgl. dazu auch Ueding 1985: 296), der zufolge das Seiende als »real-mögliches Utopikum« (Bloch 1985: 217) die Bedingung der Möglichkeit menschlicher Grenzüberschreitungen – und damit auch: der tätigen Veränderung des status quo – bildet, so lässt sich im Blick auf das hier dargstellte Sein wohl eher in paradoxer Weise von einer Ontologie des Nicht-Mehr-Seins sprechen. Das Geschehen ist nicht mehr veränderbar, und zwar aufgrund fehlender ontologischer Potenzialität. Es gehört zum klassischen Topos imaginärer Ländlichkeit, dass sich in ihr ein Residualraum des Metaphysischen (wieder)finden lässt und sie bisweilen gar zum »Offenbarungsort des Seins stilisiert wird« (Mecklenburg 1982: 44).29 Die damit verbundene »Überhöhung des Regionalen« (ebd.) als eines Raumes der gelingenden Sinnsuche und Erleuchtung lässt sich jedoch weniger an den hier dargestellten Orten finden. Eher im Gegenteil: Die erzeugten (oder besser: geschehenden) Leerstellen bleiben leer bzw. dunkel. »Iss! Man muss essen«,30 lauten die letzten der ohnehin sehr wenigen geäußerten Worte im TURINER PFERD. Mit ihnen verbindet sich der endgültige Ausstieg aus der beständigen Wiederholung; denn essen werden die beiden Hauptfigu-

29 Nach Mecklenburg erscheint sie tendenziell »als Beglaubigungsraum für phantastische oder metaphysische Motive […], die im Rahmen der Großstadt unglaubwürdig erscheinen müssten« (Mecklenburg 1982: 35). Dadurch kann der Film auch, wie es bspw. bei Kovács geschieht, als metaphorische Erzählung interpretiert werden: »By ›metaphorical narration‹ I mean a kind of narrative where metaphorical interpretation is not only an option but the only possible way to get the narrative to make sense. In this case, the metaphorical level of the narrative is not a ›surplus‹ or an extra level, but the only meaningful level. Metaphorical narration is based on impossible or highly unusual connections between events that are not motivated by genre conventions such as those of science fiction or comedy.« (Kovács 2011: 135) 30 »Egyél! Enni kell.«

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ren eben nicht mehr. Ihnen bleibt nur noch eines übrig: zu warten. Nur ist dieses Warten nun ein Warten auf die letztmögliche Veränderung: das eigene Verschwinden.

L ITERATUR Bloch, Ernst (1973): Das Prinzip Hoffnung, Bd. I-III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ders. (1985): Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Blumenberg, Hans (1981): Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bollnow, Otto Friedrich (1997): Mensch und Raum [1963], Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer. Burkhart, Dagmar (2011): Hautgedächtnis, Hildesheim/Zürich/New York: Olms. Corbineau-Hoffmann, Angelika (2006): »Architekturen der Vorstellung. Ansätze zu einer Geschichte architektonischer Motive in der Literatur«, in: Winfried Nerdinger (Hg.), Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur, Salzburg: Anton Pustet, S. 27-39. Hetzenauer, Bernhard (2013): Das Innen im Außen. Béla Tarr, Jacques Lacan und der Blick, Berlin: Alexander Verlag. Hobbes, Thomas (1977): Vom Menschen. Vom Bürger (Elemente der Philosophie II/III). Hamburg: Meiner. Ders. (2003): Leviathan. Erster und zweiter Teil, Stuttgart: Reclam. Kelemen, Fred (2011): »Die 29 Einstellungen des Films. Chronologie einer Genesis der Dunkelheit«, in: www.basisfilm.de/basis_neu/pdf/PM-Turin.pdf (12.02.2014) Koschorke, Albrecht (2013): Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M.: Fischer. Kovács, Anrás Bálint (2013): The Cinema of Béla Tarr. The Circle Closes, London/ New York: Wallflower. Kövári, Orsolya (2012). Árnyékvilág. Tarr Béla-retrospektív. A torinói lótól a Család tűzfészekig, Budapest: Sprint kiadó. Krasznahorkai, László (1990): Satanstango, Reinbek: Rowohlt. Ders. (1992): Melancholie des Widerstands, Zürich: Ammann. Ders. (1993): Sátántangó [1985], Budapest: Széphalom Könyvműhely. Ders. (2012), »Spätestens in Turin«, in: Neue Rundschau 1/2012, S. 184-186. Marquard, Odo (2000): »Narrare necesse est«, in: Ders., Philosophie des Stattdessen. Studien, Stuttgart: Reclam, S. 60-65. Marszałek, Magdalena (2010): »Anderes Europa: Zur (Ost)mitteleuropäischen Geopoetik«, in: Magdalena Marszałek/Sylvia Sasse (Hg.), Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen, Berlin: Kadmos, S. 43-67.

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F ILME Kárhozat [Verdammnis] (1988) (H, R: Béla Tarr) Sátántangó [Satanstango] (1994) (H/D/CH, R: Béla Tarr) Werckmeister harmóniák [Die Werckmeisterschen Harmonien] (2000) (H/D/F/I, R: Béla Tarr) A londoni férfi [The Man from London] (2007) (H/F/D, R: Béla Tarr) A torinói ló [Das Turiner Pferd] (2011) (H/F/D/CH/USA, R: Béla Tarr)

Rentner, Roma, Resignierte Slowakische Dörfer im Film M EIKE VAN H OORN

E IN LÄNDLICHES K INO ? Folgt man den Zahlen der Vereinten Nationen, so gehört die Slowakei zu den Ländern mit der geringsten Urbanisierungsrate in Europa – nur gut die Hälfte der Bevölkerung (54,7%) lebt in Städten, während es im europäischen Durchschnitt fast 73% sind (UN 2012).1 Ob das automatisch bedeutet, dass in der Slowakei das traditionelle Dorf noch intakt ist, darf gewiss bezweifelt werden. Wer jedoch einen Film über slowakische Dörfer drehen möchte, scheint keinen Mangel an Möglichkeiten zu haben, und offenbar wurden und werden diese auch genutzt: Bereits im Sozialismus galt das slowakische Kino als eines, das traditionell ländlichen Themen und der Volkskultur zugewandt ist, wobei diese Vorliebe oft zu pauschal als Unterstützung des sozialistischen Regimes oder als Eskapismus gedeutet wurde (vgl. Hames 2009: 206). Auch Jahre nach dem Ende des Sozialismus wird das slowakische Kino noch als »ländlich« wahrgenommen (Hallensleben 2002). Seit der Unabhängigkeit der Slowakei ist der slowakische Film freilich finanziell und personell schlecht aufgestellt. Nach Hames (2009: 224) ist Šulík der einzige Regisseur, der seit 1989 für bedeutende Entwicklungen im nationalen Kino gesorgt hat.2 Jüngere Regisseure beklagen den Zustand der Filmindustrie und die

1

Die Zahlen beruhen auf den statistischen Erhebungen der Staaten, die jeweils selbst definieren, was unter urban zu verstehen ist.

2

Dass Šulík als herausragender Vertreter gilt, mag man auch daraus ersehen, dass von 20 Filmen, die die Slowakei seit 1993 ins Rennen um den Oscar für den besten ausländischen Film geschickt hat, allein sechs von Šulík stammen.

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mangelhafte Filmförderung. In der Konsequenz gibt es kaum rein slowakische Produktionen. Anhand ausgewählter Filme aus den letzten Jahren soll hier nun untersucht werden, wie sich das slowakische Dorf im heutigen Kino präsentiert. Zunächst geht es um die Auswahl der Schauplätze und ihre Inszenierung: Welche Dörfer begegnen dem Zuschauer, wo befinden sie sich, und wie präsentieren die Filme die Orte und ihre Bewohner? Vergleichend werden auch demographische Daten über die Slowakei angeführt. Eine Sonderrolle kommt zwei Filmen zu, die sich mit den Lebensbedingungen der Roma befassen. Hier geht es nicht nur um das Leben innerhalb der Ortschaft, sondern auch um das Verhältnis zwischen Roma und NichtRoma, das in den Filmen thematisiert wird. Eine weitere Frage ist schließlich, inwieweit die Filme den Gegensatz von Stadt und Land bzw. Zentrum und Peripherie behandeln. In diesem Zusammenhang ist zu zeigen, dass die noch relativ junge Mitgliedschaft der Slowakei in der Europäischen Union eine wichtige Rolle spielt, die auch für die Frage nach der Zukunftsperspektive der Dörfer entscheidend ist. Aufgrund der Vielzahl von Beispielen, die stillschweigend übersetzt werden, wird zugunsten der besseren Lesbarkeit auf die Angabe von Filmlaufzeiten verzichtet.

1. F ILMAUSWAHL Für die Untersuchung wurden sechs zum Teil mehrfach ausgezeichnete Filme aus den Jahren 2007 bis 2011 ausgewählt, zwei Spielfilme und vier Dokumentarfilme. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Filme: • • • • • •

Erika Hníková: NESVADBOV (Dokumentarfilm CZ/SK 2010) Stanislaw Mucha: ZIGEUNER (Dokumentarfilm D 2007) Martin Repka: RÜCKKEHR DER STÖRCHE (Spielfilm SK/D/CZ 2007) Marko Škop: OSADNÉ (Dokumentarfilm SK 2009) Martin Šulík: CIGÁN (Spielfilm CZ/SK 2011) Jaroslav Vojtek: HRANICA (Dokumentarfilm SK 2009)

Realität oder Fiktion? Der Vorstellung, der Dokumentarfilm bilde die Realität ab, der Spielfilm erfinde dagegen eine fiktive Welt, wurde in der Vergangenheit bereits widersprochen und das Problematische der zahllosen Definitionsversuche aufgezeigt (vgl. beispielhaft Sextro 2009: 16-44). Schaut man in die Filmkritiken zu den hier ausgewählten Dokumentarfilmen, so wird jedoch immer wieder kritisiert, dass dieser oder jener Film

R ENTNER , R OMA, R ESIGNIERTE

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die Realität verfälsche, statt sie, wie es sich in der Vorstellung der Kritiker offenbar gehören würde, getreu abzubilden (vgl. z.B. Ferenčuhová 2011; Solms 2010). Die ausgewählten Dokumentarfilme entziehen sich jedoch der eindeutigen Zuordnung zu einem Genre schon deshalb, weil sie teilweise Spielszenen enthalten und/oder im Zentrum des Films eine Story steht, die erzählt wird.3 Vor allem aber trifft die so einfache wie wichtige Tatsache, dass Bilder als eigens hergestellte nie einfach nur etwas abbilden, sondern immer schon die Perspektive eines Bildsubjekts auf sein Bildobjekt enthalten, auch auf Dokumentarfilme zu: »Bilder nötigen ihren Betrachtern einen ganz bestimmten Blick auf das Dargestellte auf, bringen sie, indem sie sie in eine bestimmte Wahrnehmungsposition versetzen, in eine je besondere optisch-räumliche Beziehung zum Dargestellten, der sie sich, anders als bei der Wahrnehmung realer Dinge, nicht entziehen können. […] Bilder betrachten heißt die Welt mit den Augen eines anderen sehen.« (Lohmeier 1996: 25f., Hervorhebung im Original.)

Die folgende Untersuchung geht daher davon aus, dass auch Dokumentarfilme eine je eigene Sicht auf die Welt transportieren und dass es für die Fragestellung, wie slowakische Dörfer im Film gesehen werden, legitim ist, beide Genres nebeneinander zu behandeln. Die Auswahl beschränkt sich auf Filme mit Schauplatz in der Ostslowakei, die traditionell als besonders ländlich und abgeschieden gilt.

2. D IE D ÖRFER 2.1 In der Sackgasse am Ende der Welt In RÜCKKEHR DER STÖRCHE besucht Vanda, die 30-jährige Protagonistin aus Frankfurt, ihre Großmutter Magda in der Ostslowakei. Magda ist im Alter in ihr Heimatdorf Runina zurückgekehrt, aus dem sie als Karpatendeutsche nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben worden war. Vor der Abreise spricht Vanda mit ihrer Mutter über die Reisepläne, sie selbst findet es »peinlich«, dass sie die Großmutter bisher noch nicht besucht hat. Ihre Mutter ist jedoch ganz anderer Ansicht: »Was ist denn daran peinlich? Weißt du, was peinlich ist? Dass eine alte Frau ihre Familie verlässt, um irgendwo ans Ende der Welt zu ziehen, das finde ich peinlich.« Das

3

OSADNÉ wird in der DVD-Fassung mit dem Fantasiewort »Document-Toury-Movie« bezeichnet; und im Abspann von HRANICA steht neben den realen Dorfbewohnern der Name eines Schauspielers zu lesen: Pál Bocsárszky als Vince Tóth; auch dies wirft die Frage auf, wie viel hier noch Dokument, wie viel schon Fiktion ist (vgl. Hučko 2010).

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slowakische Dorf Runina wird also »am Ende der Welt« verortet, noch bevor der Zuschauer es gesehen hat. Es ist auffallend, dass – von den Filmen ZIGEUNER und CIGÁN abgesehen – alle Film-Dörfer im äußersten Osten des Landes liegen (in Abbildung 24 durch schwarze Punkte markiert). Drei dieser Dörfer befinden sich zudem in einem Talschluss (Zemplínske Hámre in NESVADBOV, Runina in RÜCKKEHR DER STÖRCHE, Osadné im gleichnamigen Film), sie sind also Sackgassendörfer; in zwei Fällen liegt kurz hinter dem Dorf die Staatsgrenze. HRANICA (Die Grenze) porträtiert die Dörfer Veľké Slemence (Slowakei) und Mali Selmenci (Ukraine), die ursprünglich ein Dorf waren, im Jahr 1946 aber über Nacht durch die neue Staatsgrenze geteilt wurden. Auch hier gibt es also keinen Durchgangsverkehr, erst im Jahr 2005 wird nach fast 60 Jahren Teilung ein Grenzübergang für Fußgänger und Radfahrer eröffnet. Abbildung 24: Lage der Film-Dörfer in der Slowakei

Public domain

Schaut man sich die demographischen Daten über die Ostslowakei an, so stellt man fest, dass sich alle vier Dörfer in Regionen befinden, deren Geburtenraten z.T. deutlich unter dem ostslowakischen Durchschnitt liegen, die Sterberaten dagegen ebenso deutlich über dem Durchschnitt (vgl. Štatistický úrad SR 2012). Demnach liegen die Film-Dörfer in von Überalterung und Entvölkerung bedrohten Landstrichen jenseits typischer Schlafdörfer.4

4

Die Überalterung abgelegener ostslowakischer Dörfer ist keine Erscheinung der Nachwendezeit, sondern eine Folge der veränderten Produktionsbedingungen im Sozialismus. Die Einwohnerzahlen der größeren ostslowakischen Städte haben sich zwischen 1950 und 1990 mehr als verdreifacht, die Film-Dörfer sind also keine ehemaligen LPG-Dörfer, sondern liegen in Regionen, die bereits früher von der Abwanderung betroffen waren.

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In ZIGEUNER werden insgesamt 14 Roma-Siedlungen vorgestellt, die westlich von Prešov/Košice liegen (schraffierter Bereich in Abbildung 24). Das namenlose Dorf in CIGÁN (zu Deutsch: Zigeuner) wird nicht konkret verortet, die Bilder und Dialoge lassen aber vermuten, dass es ebenfalls in dieser Region liegt. Die Siedlungen sind dabei keine Dörfer im üblichen Sinne, da Kirche und Zentrum fehlen, sondern Barackensiedlungen an ein oder zwei nicht oder nur teilweise asphaltierten Straßen, die meist als Stichwege von einer Landstraße abzweigen. Insofern und mehr noch im übertragenen Sinne kann man auch diese Orte als Sackgassen bezeichnen. Mit der Randlage der Dörfer geht ihre schlechte Anbindung einher, die in mehreren Filmen direkt oder indirekt thematisiert wird. Das Motiv des einzigen Menschen, der in ein solch abgelegenes Dorf reisen möchte, taucht in RÜCKKEHR DER STÖRCHE und in OSADNÉ auf: In beiden Fällen bleibt nur ein einziger Fahrgast im Linienbus übrig. Nach Runina, so will es der Film, fährt der Bus schon gar nicht mehr, Vanda muss an der Landstraße aussteigen und wird hochsymbolisch vom Dorfbewohner Miro in seinem Fahrzeug, einem Leichenwagen, mit ins Dorf genommen. Vergleichbar ist in CIGÁN mehrfach und in langen Einstellungen eine Bushaltestelle aus Wellblech an einer verlassenen Kreuzung mitten in der Landschaft zu sehen – offenbar die nächstgelegene Haltestelle für die Bewohner der Roma-Siedlung. Auch in NESVADBOV sieht der Zuschauer in dem ansonsten oft ausgestorben wirkenden Dorf wiederholt Menschen an der Bushaltestelle warten. Verstärkt wird der Eindruck von Abgeschiedenheit in RÜCKKEHR DER STÖRCHE und HRANICA durch einige wenig glaubhafte oder völlig falsche Entfernungsangaben. Die Isolation der Dörfer äußert sich aber nicht nur in der mangelhaften Verkehrsverbindung, sondern auch in der Inszenierung der Versuche, mit der Außenwelt in Kontakt zu bleiben: Vanda hat in Runina keinen Handy-Empfang und wird von Viktor, der Jugendliebe ihrer Großmutter, mit einem Pferdefuhrwerk zur Telefonzelle kutschiert. In NESVADBOV sieht man ein Haus, das beinah ebenso viele Sattelitenschüsseln wie Fenster hat, innerhalb des Dorfes werden die Einwohner dagegen regelmäßig vom Bürgermeister über den Dorffunk informiert und zu richtigem Verhalten ermahnt. CIGÁN enthält eine Sequenz, in der in gleich sieben aufeinander folgenden Einstellungen mit den notdürftig geflickten Hütten jeweils mindestens eine, mehrfach zwei oder sogar drei Sattelitenschüsseln im Bild sind. In einer anderen Szene sieht man auf einem kleinen Platz zwischen den Hütten fünf Männer mit Handys telefonieren – dies sei der einzige Ort, an dem sie ein Signal hätten, erklärt der Protagonist Adam den Besuchern aus Bratislava. In ZIGEUNER wird gezeigt, wie die Bewohner der Siedlung Letanovce mit Autobatterien Radio und Fernseher betreiben, und in Betlanovce beschweren sich die Bewohner, dass sie nur zwei TV-Kanäle empfangen können; der Computer sei nicht am Internet, sondern nur eine Attrappe, wird erklärt. In HRANICA schließlich begegnet uns das Be-

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dürfnis nach Teilnahme an einer Welt jenseits des Dorfes in einer historischen Situation, als nämlich in Bratislava der EU-Beitritt der Slowakei gefeiert wird und die Bewohner von Veľké Slemence das Ereignis in der Dorfkneipe an einem kleinen, alten, in der Bildqualität nicht mehr ganz einwandfreien Fernseher verfolgen. Es entsteht so der Gesamteindruck eines etwas rückständigen Landes, das offenbar zu einem wesentlichen Teil aus Grenzen besteht, und dessen Bewohner vom »Rest« der Welt nur sporadisch etwas mitbekommen. 2.2 Im Land der Minderheiten Die ausgewählten Filme präsentieren die Slowakei darüber hinaus als ein mehrsprachiges Land: In NESVADBOV und ZIGEUNER wird Slowakisch gesprochen, in RÜCKKEHR DER STÖRCHE zwar ebenfalls, bedingt durch die deutsche Protagonistin und ihre karpatendeutsche Großmutter aber auch viel Deutsch. Der Dokumentarfilm OSADNÉ spielt im gleichnamigen Dorf an der polnischen Grenze in einer Region, die überwiegend von Angehörigen der ruthenischen Minderheit bewohnt ist, um die es im Film unter anderem auch geht. In OSADNÉ wird daher meist Ruthenisch gesprochen, eine dem Ukrainischen verwandte, erst 1995 kodifizierte Sprache. Martin Šulíks Spielfilm CIGÁN ist größtenteils auf Romanes; Vojteks Dokumentarfilm HRANICA schließlich erzählt die Geschichte eines Dorfes der ungarischen Minderheit, man spricht dort demnach überwiegend Ungarisch. In den sechs Filmen werden also fünf Sprachen in größerem Umfang benutzt.5 Auch hier bietet sich ein Blick in die Statistiken an: Bei einer Fläche von knapp 50.000 km2, damit etwas größer als Niedersachsen, zählt die Slowakei insgesamt ca. 5,4 Millionen Einwohner. Von den nationalen Minderheiten ist laut Volkszählung 2011 die der slowakischen Ungarn die größte mit einem Anteil von etwa 8,5% an der Gesamtbevölkerung, gefolgt von 2% Roma und 0,6% Ruthenen. Die aussterbende karpatendeutsche Minderheit bringt es auf 0,1% (Štatistický úrad SR 2013).6 Was die Roma betrifft, wird jedoch allgemein davon ausgegangen, dass tatsächlich weit mehr in der Slowakei leben; Premierminister Fico nennt in einem Interview die Zahl 500.000 (Fico 2013), das wären fast 10% der Gesamtbevölkerung.7 Wie viele

5

Hinzu kommen je nach Handlung bzw. Herkunft der Regisseure einige tschechische, polnische und englische Sätze.

6

Zur Erhebung der Nationalität im Unterschied zur Staatsangehörigkeit in der Volkszählung vgl. unten das Kapitel über Roma.

7

Die Angaben schwanken recht stark. Im Reiseführer von André Micklitza (22010: 17) ist von 400.000, im Abspann von Muchas Film ZIGEUNER unter Berufung auf ungenannt bleibende offizielle Angaben von 600.000 Roma die Rede.

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der slowakischen Roma Romanes sprechen, ist nicht bekannt; Mappes-Niediek (2012: 148) beruft sich auf Schätzungen, nach denen es höchstens die Hälfte ist. Die in den Filmen auftretenden Minderheiten sehen sich selbst auch als solche und führen tatsächliche oder empfundene Benachteiligungen z.T. auf diesen Minderheitenstatus zurück. In besonderem Maße gilt dies für die Filme CIGÁN und ZIGEUNER, aber auch in OSADNÉ wird gleich zu Beginn per Schrifteinblendung erklärt, dass die meisten Bewohner des Dorfes Ruthenen seien und dass es sich dabei um eine schwindende Minderheit handle. Die Unterstützung des selbst nicht in Osadné lebenden ruthenischen Aktivisten Fedor Vico wird daher dankbar angenommen. Gemeinsam mit ihm fahren der Bürgermeister und der Priester des Dorfes nach Brüssel, um die Belange Osadnés mit EU-Abgeordneten zu besprechen. In HRANICA befürchtet ein Bewohner, dass sich im Grunde doch weder die Slowakei noch die Ukraine für ein ungarisches Dorf interessiere, dass aber, wenn es sich um Ruthenen und Slowaken handeln würde, die Grenze sicher schon längst geöffnet worden wäre. Tatsächlich ist es ein wenig überraschend, wie stark die Minderheiten und ihre Sprachen in Filmen über slowakische Dörfer vertreten sind, zumindest entspricht dies nicht der Bedeutung, die ihnen im slowakischen (Medien-)Alltag gemeinhin beigemessen wird. Der Eindruck von Weltabgeschiedenheit wird so ergänzt durch die Information, dass »am Ende der Welt« Menschen leben, die eine andere Sprache sprechen, weil sie diversen nationalen Minderheiten angehören und die teilweise aufgrund der Zugehörigkeit zu einer solchen Minderheit diskriminiert werden. 2.3 Schönheit und Verfall Mögen die Orte auch abgeschieden sein, so mangelt es zumindest der einen Hälfte von ihnen, den Filmen zufolge, nicht an Schönheit. Gleich das erste Bild in OSADNÉ zeigt das Dorf und seine Umgebung in vorteilhafter Herbstsonne und auch im weiteren Verlauf des Filmes wird nicht an Einstellungen gespart, die sich der Schönheit und Ruhe dieses Ortes widmen. Von den Protagonisten des Films selbst ist zu hören, wie schön es bei ihnen sei, dass nur leider die Menschen fehlten. In HRANICA ist zwar die gewaltsame Teilung des Dorfes durch die Grenze das Entscheidende, doch diese Grenze trennt nicht nur Familienangehörige und Freunde, sondern verschandelt auch die Landschaft. Dennoch ist auch hier zu sehen, wie schön grün, ruhig und friedlich es sich trotz bescheidener Verhältnisse in Veľké Slemence lebt. Dass in Veľké Slemence kein Reichtum herrscht, wird besonders an dem Gebäude sichtbar, vor dessen heruntergekommener Fassade die Feier zum EU-Beitritt stattfindet. Die bröckelnde Wand ist auffallend lange zu sehen, sie bildet den Hintergrund für die tanzenden Paare fortgeschrittenen Alters.

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Der Film RÜCKKEHR DER STÖRCHE schließlich zeigt zwar die Rückständigkeit und den allmählichen Verfall des Dorfes (das Geburtshaus der Großmutter existiert z.B. nur noch als unbewohnbare Ruine), versteht es aber, beidem auch nostalgische Seiten abzugewinnen. Mag außen wie innen an den Häusern auch die Farbe abblättern: Das Leben in Runina ist ärmlich, aber auch romantisch. Der Großstädterin Vanda gefällt es ganz offensichtlich, nackt im Garten zu duschen, im Waldsee zu schwimmen und mit dem rustikalen Dorfbewohner Miro anzubändeln, der in verschiedenen Szenen des Films halbbekleidet schwere körperliche Arbeiten ausübt. Der Film tendiert in einigen Szenen sogar zur Idylle, z.B. wenn Vanda mit ihrer Großmutter im sonnendurchfluteten Garten Obst zum Einmachen vorbereitet, während Viktor im Hintergrund mit einer Sense die Wiese mäht; die Idylle wird aber gleich durchbrochen vom plötzlichen Auftauchen einer Flüchtlingsfamilie. Anders verhält es sich mit NESVADBOV. In diesem Film geht es um den Bürgermeister von Zemplínske Hámre, einen Offizier im Ruhestand. Dieser versucht, das Aussterben des Dorfes dadurch zu verhindern, dass er die unverheirateten Bewohner in den Dreißigern miteinander verkuppelt – selbstverständlich erfolglos. Während eine Standpauke des Dorfvorstands über Lautsprecher ins ganze Dorf übertragen wird, schaut die Kamera sich in drei langen und überwiegend statischen Einstellungen genauer am Schauplatz um. Dieser wirkt wenig einladend, und daran ändert sich im ganzen ersten Teil des Films nichts. Häuser und Straße sind zwar in gutem Zustand, doch es scheint, als ob niemand sich richtig gern in diesem Dorf aufhalte. Erreicht wird dieser Eindruck nicht nur durch das graue Winterwetter, sondern auch durch die menschenleere Straße, die statischen und eng begrenzten Einstellungen und nicht zuletzt durch unästhetische Innenräume, die immer wieder nachdrücklich ins Bild gesetzt werden: geschmacklos-überladen die privaten, lieblos-karg die öffentlichen Räume. Das sonnige Sommerwetter im zweiten Teil des Films reicht nicht aus, um diesen Eindruck des Dorfes wieder zu tilgen, umso weniger, als dieser zweite Teil sich ausführlich der Darstellung der Verkupplungsparty widmet, die im übergroßen und ungemütlichen Mehrzwecksaal stattfindet. Das Zemplínske Hámre des Films ist nicht verfallen, aber auch nicht schön. Stanislaw Mucha schließlich verbindet in ZIGEUNER seine Stationen in den verschiedenen Roma-Slums durch Landschaftsaufnahmen, die zwar die Elendssiedlungen selbst nicht schöner machen, sie aber immerhin in eine freundliche und stets sonnige landschaftliche Umgebung einbetten. Ein Übriges tun die vielen Bilder lachender Kinder in diesem Film. Nicht so in CIGÁN: Hier ist das Wetter fast immer schlecht, Armut und Verfall kennzeichnen die Siedlung, deren vielfach geflickte Dächer die Kamera wieder und wieder in den Blick nimmt. Zu lachen gibt es hier kaum einmal etwas, der Protagonist Adam blickt meistens tieftraurig.

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2.4 Stadt und Land Der Vergleich des Dorfes mit der Stadt fällt, wo er überhaupt gezogen wird, zu deren Ungunsten aus. Wo das Dorf bereits trist ist (CIGÁN, NESVADBOV), ist die Stadt nicht besser (in NESVADBOV z.B. ist die Stadt die Wartehalle im Bahnhof und die Wurstfabrik, in der eine der Protagonistinnen arbeitet, sonst nichts). In ZIGEUNER ist von allen vorgestellten Roma-Ghettos das einzige städtische, das Košicer Viertel Lunik IX, das mit Abstand schlimmste. In den anderen Filmen ist die Stadt lediglich der Ort, an den man geht, wenn man etwas zu erledigen hat oder die Umstände einen dazu zwingen. So sind in HRANICA die einzigen Bilder von der Stadt schmucklose Häuserfronten und Rebeka Gilányiovás Zimmer im Altenheim, in dem sie nach dem Tod ihres Mannes lebt. Beide Einstellungen leben stark von der geringen Aufnahmedistanz, es haftet ihnen etwas Beengtes, Eingesperrtes an. In OSADNÉ kommen die Protagonisten auf dem Weg zum Flughafen durch eine Industriestadt, deren rauchende Schornsteine in Kontrast zum grünen Osadné mit seiner zuvor erwähnten sauberen Luft stehen. Der stärkste Stadt-Land-Kontrast findet sich in OSADNÉ jedoch während des Besuches in Brüssel. Die drei Herren aus der Provinz wirken etwas fehl am Platz. Doch am Ende resümiert der Priester den Ausflug in die EU-Metropole ganz abgeklärt: »Eine Menge Glas und Stahl, und das ist alles.« Das gilt ähnlich auch für RÜCKKEHR DER STÖRCHE, wo der Film wenig Zweifel daran lässt, dass die Reise der Protagonistin zu sich selbst in der slowakischen Natur viel besser funktioniert, als sie es zwischen dem Beton, Stahl und Glas der Frankfurter Hochhäuser gekonnt hätte. Und auch anderes funktioniert in den Städten nicht so gut, wie man denken könnte: Als Vandas Freund David in der Slowakei am Bahnhof ankommt, gibt es dort weder Busse noch Taxen. Und in der Provinzstadt nahe Runina gibt es zwar Zuckerwatte und ein Kettenkarussell, aber auch Skinheads, das Gefängnis und die korrupten Behörden.

3. D IE D ORFBEWOHNER Die in den ausgewählten Filmen auftretenden Personen lassen sich bis auf wenige Ausnahmen drei Gruppen zuordnen: In den Ortschaften leben Rentner, Resignierte und Roma – wobei das Attribut ›resigniert‹ freilich nicht selten auch auf Vertreter der anderen beiden Gruppen zutrifft.

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3.1 Rentner Sowohl in Osadné als auch im Grenzdorf Veľké Slemence scheint es kaum noch Bewohner diesseits des Rentenalters zu geben, immer wieder sind auch extrem alte und gebrechliche Menschen im Bild. In HRANICA bringt das Thema zwar ein gesteigertes Interesse an denjenigen Bewohnern mit sich, die das Dorf noch vor der Teilung kannten und die dementsprechend alt sind, dies erklärt jedoch nicht hinreichend den Mangel an jüngeren Leuten in den Bildern vom Dorf. Das gilt umso mehr, als die Überalterung nur die slowakische Seite des Dorfes betrifft, während im ukrainischen Mali Selmenci deutlich mehr jüngere Bewohner und Kinder zu sehen sind. In einer der wenigen Szenen, wo in Veľké Slemence mehrere Kinder auftreten, halten diese sich etwas abseits des Festes zum EU-Beitritt und werden von der Kamera auch so behandelt: als Randerscheinung. Dagegen gehört zu den dargestellten Zumutungen der gewaltsamen Teilung des Dorfes, dass die Menschen auf der slowakischen Seite den früheren Friedhof nicht mehr erreichen, die Gräber von Angehörigen nicht besuchen, nicht zu Begräbnissen gehen können usw. In RÜCKKEHR DER STÖRCHE gibt es mit Miro und seiner Frau Gita zwar jüngere Dorfbewohner, diese sind aber selten, und Kinder sind nur ganz vereinzelt zu sehen. Schon als Vanda an der Kreuzung nach Runina ankommt, sitzen an der Bushaltestelle zwei alte Frauen, die mit ihren Kopftüchern und Holzkörben wie aus einer anderen Welt erscheinen. In der schwach besuchten Kirche befindet sich nur ein Mann, der noch nicht im Rentenalter ist, und als derselbe Mann noch einmal als Waldarbeiter auftritt, sitzt in seiner Nähe ein kleines Mädchen wie eine deplatzierte Dekoration. Wie um den Kontrast auf die Spitze zu treiben, wechselt die Szene hinüber zum Friedhof, der ein wiederkehrender Schauplatz des Films ist. In einer anderen Szene antwortet Vandas Großmutter auf die Frage der Enkelin, ob sie hier glücklich sei: »Hier bin ich geboren. Hier bin ich aufgewachsen. Und hier will ich sterben.« In OSADNÉ sieht man gleich zu Beginn eine vom etwa siebzigjährigen Bürgermeister geleitete Wahlversammlung, an der nur ein einziger jüngerer Mann teilnimmt. Die Kamera interessiert sich aber mehr für die älteren Menschen und fängt in Großaufnahme einige ihrer Gesichter ein. Die zweite wichtige Person Osadnés, der noch junge orthodoxe Priester, weiht auf seiner Runde durch das Dorf die Häuser – und trifft dort nur alte Menschen an. »Wir weihen die Häuser«, sagt er, »aber es sind so wenig Menschen hier. Das Dorf stirbt aus, was können wir tun?« Über den Bürgermeister erfährt man gleich darauf aus einem Gespräch, dass er seit 36 Jahren im Amt ist. »Wir haben drei Präsidenten in unserer Kneipe in Osadné«, so ein Gast, »Präsidenten kommen und gehen, aber Sie sind immer noch im Amt.« Diese Worte werden durch Bilder von drei teilweise schon etwas fleckigen Porträts an der Wand begleitet, die die Kamera einzeln zeigt: General Ludvík Svo-

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boda, nach dem Prager Frühling Präsident bis 1975; sein Nachfolger Gustáv Husák, der einzige Slowake im Amt des Staatspräsidenten der ČSSR, und schließlich Václav Havel. Dass der Bürgermeister von Osadné diese drei Präsidenten im Amt überlebt hat und dass deren Porträts einträchtig nebeneinander in der Dorfkneipe hängen, bedeutet gleichzeitig auch, dass man es dort mit den politischen Anschauungen nicht allzu eng sieht. Dem jungen Priester ist die politische Orientierung des Bürgermeisters allerdings nicht ganz geheuer. Doch auch Religion und sozialistische Vergangenheit lassen sich in Osadné vereinbaren: In der Wohnung einer sehr alten Dorfbewohnerin, die der Priester besucht, hängt ein Kruzifix gleich neben einer Urkunde aus sozialistischen Zeiten.8 Um das Lenin-Zitat darauf für den Zuschauer lesbar einzufangen, wird eine Detailaufnahme bemüht: »Wir werden zu einem Sieg der kommunistischen Arbeit kommen!« Dass es in sozialistischen Zeiten in Osadné besser war, wird zwar nicht gesagt, aber die aktuelle Situation der Arbeitsmigration wird von den Dorfbewohnern als Problem erkannt und beschrieben. Doch man werde diese Situation nicht lösen, ist zu hören, weil es momentan keine Lösung gebe.9 Aus der eingeblendeten Schrift zu Beginn des dritten Teils erfährt man schließlich, dass Osadné 196 Einwohner zähle, und dass der Priester in den letzten fünf Jahren 50 Menschen beerdigt, aber nur zwei Kinder getauft habe. Auffallend viele der alten Menschen aus den Filmen scheinen keine Angehörigen zu haben, jedenfalls keine, über die gesprochen würde oder die am Wochenende zu Besuch kämen. Daraus kann man schließen, dass die jüngeren Generationen bereits seit geraumer Zeit das Dorf endgültig verlassen haben und dass sie nicht vorhaben zurückzukehren. 3.2 Resignierte In HRANICA sorgt allein Tibor Tóth dafür, dass der Altersdurchschnitt der Hauptfiguren nicht bei über 70 Jahren liegt. Er mag etwa Ende 30 sein. Über seine familiären Verhältnisse wird man nicht näher informiert, aber aus der Art, wie er über die Unverheirateten des Dorfes spricht, kann man schließen, dass er selbst Familie hat.

8

Die folgende Halbtotale, in der die Urkunde an anderer Stelle zu sehen ist, spricht dafür, dass sie für die erste Einstellung absichtlich neben das Kruzifix gehängt wurde.

9

Eine deutliche Parteinahme für das frühere Regime findet sich dagegen in ZIGEUNER beim Bürgermeister von Jarovnice. Seiner Ansicht nach hätte das frühere System länger bestehen sollen, damit alle (gemeint sind die Roma) Disziplin und Ordnung lernen. Er spricht sich auch dafür aus, die Zahl der Geburten wie »früher« durch Sterilisation der Frauen zu stoppen.

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Sicher ist es nicht, und dem Eindruck eines überalterten Dorfes wäre es auch eher abträglich, wenn man sie sähe. Zu den Gründen des Alleinlebens vermutet Tibor: »Ich glaube, sie haben keine Motivation, die Tatsache, dass sie nicht fähig sind, für ihre Familie zu sorgen, trägt auch dazu bei. Sie leben praktisch von Tag zu Tag, können ihren Platz in der Welt nicht finden. Es ist sehr schwer, eine stabile Existenz zu finden, besonders in diesem Dorf.« (HRANICA 2009)

Kurz darauf erfährt der Zuschauer, dass ein unverheirateter Jugendfreund von Tibor auf Abwege geraten ist und wegen Schmuggels von Elektrogeräten, aber auch von Menschen, verhaftet wurde. Die schwierige wirtschaftliche Lage im Dorf steht also in engem Zusammenhang mit der Heiratsunlust seiner Bewohner und mit deren Hang zu kriminellen Handlungen. In RÜCKKEHR DER STÖRCHE gibt es mit dem kinderlosen Paar Miro und Gita vergleichbare Charaktere. Sie ist frustriert, er verdient sich seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsarbeiten, vor allem aber damit, Menschen illegal in die EU zu schleusen. Laut Vandas Großmutter hat Miro einiges auf dem Kerbholz, und auch er selbst berichtet, dass er in Österreich im Gefängnis war. Was genau ihn nach Runina verschlagen hat, oder ob er von dort stammt, bleibt völlig unklar. Miro ist jedoch keine negative Figur, eher ein Mensch, der sich unter widrigen Bedingungen durchzuschlagen versucht. Die größte Zahl an Resignierten jüngeren Alters findet sich in NESVADBOV: Laut der Schrifteinblendung zu Beginn leben im Dorf ca. 70 Unverheiratete in den Dreißigern. Eine Art Belohnung fürs Kinderkriegen, die der Bürgermeister ausgesetzt hatte, habe in der Vergangenheit keine Wirkung gezeigt. Der Rest des Films konzentriert sich auf die Vorbereitung und Durchführung der vom Bürgermeister und seiner Assistentin organisierten Single-Party. Die Kamera begleitet den Bürgermeister auf einer Fahrt durch das Dorf, bei der er jeweils kommentiert, wo welcher Unverheiratete lebt und welcher davon zu viel trinkt. Das Dorf erscheint dadurch auch als ein Ort sozialer Kontrolle, der ein Privatleben schwierig macht. Die drei Singles, die der Film näher porträtiert, wohnen alle noch bei ihren Eltern, Monika schläft, um Heizkosten zu sparen, sogar mit der Mutter im selben Zimmer. Diese freiwillige Aufgabe von Privatsphäre im gemeinsamen Zimmer, das resignierte Achselzucken, mit dem Monika sich von ihrer resoluten Mutter wie ein Schulmädchen vor laufender Kamera zurechtweisen lässt und schließlich die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich an ihrem tristen Arbeitsplatz, einer Wurstfabrik, bewegt, charakterisieren die junge Frau als eine, die sich mit ihrem Schicksal abgefunden hat. Sie ist sehr religiös und, was die Heiratsfrage angeht, davon überzeugt: »Was geschehen soll, geschieht.« Während Jančo, ein weiterer Single, sich in erster Linie für Autos interessiert und offensichtlich nicht unbedingt heiraten möchte, ist Ďoďo, der dritte, der einzi-

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ge, der sich von der Single-Party wirklich etwas verspricht und auf die Frau fürs Leben hofft. Die Kamera ist bei ihm, wenn er seine neu ausgebaute Wohnung zeigt, in der auch Platz für ein Kinderzimmer wäre und wo die Dekoration vermuten lässt, dass seine Mutter mit Hand angelegt hat. Ďoďo geht gern aus, zum Beispiel in die allerdings fast leere Dorfdisco, in der überlaut Sex, Sex, Sex on the beach aus den Lautsprechern dröhnt. Passend dazu steht bei ihm zu Hause neben kitschigen Porzellanfiguren eine witzig gemeinte Holztafel mit dem Spruch »Zu viel Sex schadet den Augen« – ein Problem, das der Eigentümer, nach allem, was der Zuschauer von ihm zu sehen bekommt, eher nicht zu fürchten braucht.10 Ďoďo einmal ausgenommen, zeigt der Film nicht, was die Singles eigentlich selbst wollen. Entscheidend ist vielmehr, dass sie ihre Wünsche nicht artikulieren, dass sie aber von außen, vor allem durch den autoritären Bürgermeister, beobachtet und in Pläne einbezogen werden, die nicht ihre eigenen sind. Der Protest besteht einzig in der Verweigerung eines Großteils der Singles, denn die meisten der zu Beginn des Filmes erwähnten unverheirateten Dorfbewohner in den Dreißigern treten gar nicht erst auf. Einige davon werden nicht eingeladen, weil sie zu viel trinken und der Bürgermeister sich nicht vorstellen mag, dass ausgerechnet sie sich fortpflanzen. Warum aber nur so wenige, und besonders so wenige Frauen zu seiner Party kommen, kann er nicht verstehen. Sein Fazit nach der misslungenen Party ist, dass diese »blöden Kühe sich doch in Essig einlegen lassen sollen«. 3.3 Roma In eklatantem Kontrast zur Überalterung, Kinderlosigkeit und den ausgestorbenen Straßen der vier slowakischen Dörfer im äußersten Osten zeigen die Filme CIGÁN und ZIGEUNER überfüllte Wohnungen und Plätze und eine Vielzahl von Kindern. Auffallend ist zunächst einmal die nahezu komplementäre Trennung der beiden Welten in den Filmen. In NESVADBOV gibt es keine Roma, in OSADNÉ und HRANICA sieht man je einmal sehr kurz in kleinsten Nebenrollen einige Personen, die Roma sein könnten. Umgekehrt zeigen CIGÁN und ZIGEUNER fast ausschließlich die Roma-Siedlungen und nur sehr selten die Dörfer, an die sie angrenzen, auch wenn das unterschiedliche Leben der Roma und der so genannten »Weißen« ein ständiges Thema ist. Nur in einem Film hat beides zugleich einen Platz, das aussterbende Dorf wie die überfüllte Roma-Siedlung, in RÜCKKEHR DER STÖRCHE. Die Darstellung ist allerdings sehr klischeehaft: Karol, der Vandas deutschen Freund David in Erman-

10 Dass der Film dazu tendiert, seine Protagonisten in ein eher unvorteilhaftes Licht rücken, ist ihm von der Filmkritik bereits vorgeworfen worden (vgl. Ferenčuhová 2011).

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gelung öffentlicher Verkehrsmittel nach Runina bringt, ist schlitzohrig, aber freundlich. Durch eine Panne kommt es zum ungeplanten Besuch in einer Roma-Siedlung. Diese präsentiert sich als erfüllt von buntem und fröhlichem Leben. Für die unerwarteten Gäste wird spontan ein Fest mit Musik, Tanz und Schnaps organisiert, bei dem eine gutaussehende junge Frau mit Kreolen in den Ohren, wallendem schwarzen Haar und orientalisch anmutender Bekleidung – kurz, eine alle Klischees der ›schönen Zigeunerin‹ erfüllende Figur – David in den Bann zieht. Des Nachts erscheint dem betrunkenen David gar eine Wahrsagerin, die auf Romanes das weitere Geschehen zutreffend vorhersagt, was er freilich nicht versteht, und auch der Zuschauer nur dank der Untertitelung. Fast scheint es, als sei diese handlungslogisch irrelevante Figur nur dazu da, ein weiteres Klischee im Kopf der Zuschauer zu bedienen und das Bild des bunten Völkchens dadurch zu vervollständigen. Das Gegenteil eines bunten und heiteren ›Zigeunerlebens‹ begegnet in CIGÁN. Der etwa 16-jährige Adam muss nach dem gewaltsamen Tod seines Vaters mit seinen Brüdern, seiner Mutter und deren neuem Mann, dem ungeliebten Onkel, zusammen in der Hütte einer Roma-Siedlung leben. Er hat die neunjährige Grundschule abgeschlossen, versteht sich gut mit dem Pfarrer und ist offensichtlich begabt. Doch die Versuche, einem typischen Roma-Schicksal zu entgehen, scheitern an der Armut der Familie und mehr noch am tyrannischen Onkel. Die Figur des Adam verkörpert den Typus des Roma-Kindes, das sich gern der Mehrheitsgesellschaft anpassen würde, dem Elend, in das es hineingeboren wurde, jedoch trotz seiner Begabung nicht entkommen kann. Sein Onkel steht dagegen für den bösartigen Roma-Führer, der die »Weißen« hasst und ihre Lebensweise verachtet; der vorgibt, etwas für seine Leute zu tun, insgeheim aber auch sie verachtet, ihnen zu Wucherzinsen Geld leiht und die Kinder zu Diebstählen anstiftet. Für ihn ist klar, dass von »Weißen« keine Hilfe zu erwarten ist und dass sich das Leben der Roma mit dem ihren nicht vereinbaren lässt. Er fragt Adam, ob er wie ein »Weißer« sein wolle, und als Adam verneint, fordert sein Onkel ihn auf, sich wie ein Zigeuner zu benehmen. Adam fragt ihn: »Und was tun Zigeuner? Stehlen? Frauen verkaufen?« In Adams Umgebung tun Roma genau das, und es gibt offenbar niemanden in der Siedlung, der etwas anderes tut. Auch Adams Mutter sagt ihm, dass er nicht zu arbeiten brauche, wenn er beim Onkel mitmache. Und Adams Vater, dessen Geist ihm an insgesamt vier Stellen des Films erscheint, erzählt, wie er sich erfolglos bemühte, ein anständiges Leben zu führen, und doch ständig im Gefängnis landete. Sein Fazit lautet: »Zigeuner können hier nur dann wie Menschen leben, wenn sie aufhören, Zigeuner zu sein.« Rassistische Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft kommt im Film zwar vor, ist aber vordergründig nicht das größte Problem. Was Adams Situation so schwierig macht, ist vor allem das Selbstverständnis seiner Familienmitglieder und der übrigen Roma in der Siedlung. Hier kommt zum Tragen, was Bogdal (2011: 400) das »Wir-Gefühl der Verachteten« nennt:

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»Wer wie sie ethnische Identität auch in modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften nur innerhalb der untersten Schichten bewahren kann und den eigenen Lebensstil für seine Volkseigenschaft hält und deshalb fürchten muss, sie bei jedem sozialen Aufstieg zu verlieren, […] befindet sich in einer nahezu ausweglosen Situation.« (Ebd.)

Folgt man Stanislaw Mucha auf seiner Reise durch die verschiedenen RomaSiedlungen, so drängt sich allerdings der Eindruck auf, dass es mit dem Wir-Gefühl der Roma als verachteter Gruppe womöglich nicht weit her ist. In ZIGEUNER gehört es zum Strukturprinzip des Films, dass in den besuchten Orten über Bewohner anderer Siedlungen meist wenig schmeichelhaft gesprochen wird. Die Ausgrenzung wird dabei sehr unterschiedlich wahrgenommen – manch einer sieht in anderen Roma in erster Linie eine unliebsame Konkurrenz um finanzielle Zuwendungen und beeilt sich, deutlich zu machen, wie viel mehr er selbst es verdienen würde. In der »Siedlung, die auf keiner Karte steht« beschwert sich eine junge Frau: »In anderen Siedlungen, wo die Zigeuner nur Diebe, Schläger und Vergewaltiger sind, werden denen schicke Häuser geschenkt. Aber wir, die wir nicht stehlen und nie etwas Böses tun, wir existieren in dieser Siedlung praktisch nicht.« Auch in Krompachy erklärt eine Frau: »Wir möchten genauso wie die anderen Zigeuner leben.« Auf die anschließende Frage, wie denn das Zusammenleben mit den »Weißen« funktioniere, gibt sie verständnislos zurück: »Hier leben keine Weißen. Nur Zigeuner.« Vergleiche mit dem Lebensstandard der »Weißen« kommen im Film sehr viel seltener vor, eher schon ist das unterschiedliche Ansehen ein Thema. Ein Mann in Betlanovce betont, sie seien auch Slowaken und gehörten wie alle anderen zum slowakischen Staat, und in der »Siedlung, die auf keiner Karte steht« wird gefragt: »Sind wir etwa Wilde? Wir sind Menschen wie alle anderen.« Ergänzend zur eingangs erwähnten Differenz zwischen offizieller und geschätzter Zahl von Roma sei an dieser Stelle ergänzt, dass in der Slowakei zwischen den Kategorien Staatsangehörigkeit (štátna príslušnosť) und Nationalität (národnosť) unterschieden wird, von denen nur die erste eindeutig und im Zweifelsfall im Pass nachzuschauen ist. Die Kategorie Nationalität fragt dagegen nach einer ethnischen Zugehörigkeit, die ausdrücklich der eigenen Entscheidung überlassen bleibt.11 Zur Auswahl stehen neben der slowakischen unter anderem die ungarische, ruthenische, rómska (Roma) und auch die jüdische Nationalität.

11 In den Hinweisen zum Ausfüllen des Formulars für die Volkszählung wird zu Nationalität erklärt: »Unter Nationalität versteht man die Zugehörigkeit zu einer nationalen oder ethnischen Gruppe. Markieren Sie nach eigener Entscheidung.« [Übersetzung M.v.H.] (Im slowakischen Original: »Národnosťou sa rozumie príslušnosť k národu alebo etnickej skupine. Vyznačte podľa vlastného rozhodnutia.«) (Štatistický úrad SR 2013)

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Roma mögen viele gute Gründe dafür haben, sich bei der Volkszählung nicht als Roma zu bezeichnen. Mappes-Niediek (2012: 151) nennt dies eine »historisch gut begründete Scheu« vor »Erfassungen aller Art«, gibt jedoch auch eine weitere Erklärung zu bedenken, nämlich die, dass es den Gefragten womöglich keineswegs selbstverständlich ist, zur Volksgruppe der Roma zu gehören: »Dahinter lauert aber eine zweite, weit brisantere Frage: Was macht einen Menschen zum Roma, wenn er keiner sein will? In modernen Staaten, auch in Osteuropa, gilt es als unzulässig, jemandem eine Identität anzuheften, die er gar nicht haben will. Ob jemand zu einer

›Nation‹ im osteuropäischen Sinne gehört oder nicht, lässt sich nicht objektiv feststellen; so etwas haben die Nazis versucht, als sie mit Schädelmessungen die ›Arier‹ von ›Nichtariern‹ unterscheiden wollten. Nationalität ist in Osteuropa keine Augenfarbe, sondern ein subjektives Kriterium.« (Ebd.)

Während in OSADNÉ darüber geklagt wird, dass manche Ruthenen sich nicht mehr als solche bekennen wollten, funktioniert Nationalität als subjektives Kriterium in den Filmen CIGÁN und ZIGEUNER nicht: In ZIGEUNER bespricht eine Lehrerin in der nur von Roma-Kindern besuchten Grundschule mit den Schülern, was »Zigeuner« üblicherweise stehlen. Im selben Film findet eine gut ausgebildete junge Frau keinen Job und wird überall gleich abgewiesen – es spricht vieles dafür, dass es an ihrem Aussehen liegt. Und der Bürgermeister des Ortes, aus dem die junge Frau kommt, erklärt sich die »verquere Mentalität« und die »eigene, seltsame Weltanschauung« der Roma so: »Sie sind schließlich aus Bangladesch hierhergekommen und führen manchmal ein Leben wie in Indien.« In CIGÁN sinniert ein Junge darüber, dass es besser wäre, in England zu leben, weil man dort nicht für einen Zigeuner, sondern für einen Pakistani gehalten werde. Von der romantisierenden Darstellung in RÜCKKEHR DER STÖRCHE abgesehen ist das Gesamtbild fatal, es ist das einer zweigeteilten Gesellschaft mit wenig Überschneidungspunkten. Besonders absurd erscheint der Kontrast zwischen den entvölkerten Dörfern in Grenznähe auf der einen und den überbevölkerten Ghettos auf der anderen Seite. Arbeitslosigkeit und Armut ist freilich an allen Orten ein Thema.

4. E INE Z UKUNFT

IN

E UROPA?

In auffallend vielen der Filme spielt die Europäische Union eine entscheidende Rolle. In ZIGEUNER äußern sich viele der Bewohner zu EU-Projekten, die sie meist als gescheitert ansehen, sofern sie nicht ohnehin überzeugt sind, dass das für sie gedachte Geld in den Taschen von »Weißen« verschwunden ist. Doch auch mittels der Kamera wird deutlich gemacht, dass die EU ihre Hände im Spiel hat: Im Dorf

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Markušovce, geteilt in die gepflegte Hälfte der Nicht-Roma und die zwar teilsanierte, aber dennoch heruntergekommene Hälfte der Roma, wird ein Schild gefilmt, auf dem zu lesen steht: »Das Dorf Markušovce wurde von der EU mitfinanziert.« In HRANICA und RÜCKKEHR DER STÖRCHE erklärt sich der Bezug zur EU ganz einfach aus der Lage der Dörfer an der EU-Außengrenze. Doch während man in Runina den Menschenschmuggel als lukratives Geschäft entdeckt hat und so auf seine eigene, illegale Art von der EU profitiert, erscheint das geteilte Dorf in HRANICA eher als Spielball von weit entfernten Mächten, die sich für die Belange der Dorfbewohner nicht interessieren. Im Dorf versteht man umgekehrt nicht, was auf politischer Ebene passiert und welche Konsequenzen es hat. So erhoffen sich die Einwohner von Veľké Slemence vom EU-Beitritt die Öffnung der Grenze im Dorf – ohne sich vorzustellen, dass diese Grenze als neue EU-Außengrenze in Zukunft von slowakischer Seite aus deutlich verstärkt werden wird.12 Nach Jahrzehnten des Hasses auf die von sowjetischer Seite geschlossene Grenze stellt man mit Verwunderung fest, dass es plötzlich »einen Zaun von unserer Seite« gibt. Der Verstärkung der Grenze sowie dem Bau des Grenzübergangs, der am 23. Dezember 2005 schließlich eröffnet wird, fallen Teile der Gärten zum Opfer; und auch ein Kreuz, das von einer der Protagonistinnen zum Gedenken an ihren Vater aufgestellt wurde, muss einer Toilettenanlage weichen. Von der EU hatte man sich eindeutig mehr erwartet, wie ein Bewohner von Veľké Slemence resigniert feststellt: Es sei doch eigentlich um die Wiedervereinigung des Dorfes gegangen, darum gehe es nun aber gar nicht mehr, stattdessen werde das einst friedliche Dorf nun von Leuten überschwemmt, die in der Ukraine billig einkaufen wollen. Die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die sich hier andeuten, werden von den Dorfbewohnern keineswegs positiv gesehen. Auch auf ukrainischer Seite erklärt Vince Tóth, er werde sein Haus verkaufen und dem Rummel entfliehen. Die Zukunftsperspektive eines Einkaufsziels für Touristen richtet in der Wahrnehmung der Bewohner das Dorf zugrunde. Auch in OSADNÉ setzt man zunächst große Hoffnungen in die EU, aber auch hier läuft es schließlich darauf hinaus, dass diese Hoffnungen sich nicht erfüllen. Durch die über das erste Bild eingeblendete Schrift: »I. Osadné. European Union, Slovak Republic« wird von Beginn an klargestellt, dass es sich im Folgenden um ein Thema handelt, das die EU etwas angeht. Dieser Zusammenhang zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Film. Man sieht den Bürgermeister in der Dorfkneipe unter einer EU-Fahne sitzen oder am Rathaus mit einem Besen die vom Wind zerzauste EU-Fahne richten. Die Eröffnung des mit EU-Geldern angelegten

12 Nicht ohne Komik ist das Rätseln der Dorfbewohner beider Seiten darüber, was die EU bloß mit der Slowakei als Mitgliedsland vorhabe. Vermutet wird, dass die Flüchtlingslager für die illegal Eingewanderten künftig auf dem Gebiet der Slowakei stehen sollen.

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Wanderweges ist der Anlass, einen slowakischen EU-Abgeordneten nach Osadné einzuladen, der seinerseits die Vertreter Osadnés nach Brüssel einlädt. Mit dem Besuch in Brüssel erreicht die Inszenierung des Gegensatzes von Zentrum und Peripherie im Film ihren Höhepunkt. Dass die Menschen vom Rand der EU sehr wohl am großen Ganzen teilnehmen, verdeutlicht die Reaktion der drei Besucher auf das Brüsseler Atomium: Die enorme Größe des Bauwerks wird perspektivisch durch starke Untersichten deutlich gemacht und die zunächst stumme Betrachtung jedes Einzelnen in Großaufnahme eingefangen, bevor man aus größerer Distanz alle drei vor dem Atomium stehen sieht. Ginge es nun darum, die Dorfbewohner als begriffsstutzig und klein vor einem Symbol Europas darzustellen, so hätte der Regisseur es bei diesen Einstellungen belassen können. Stattdessen bemerkt Fedor Vico, dass er sich dieses Bauwerk gut auf einer freien Fläche vorstellen könne, es hätte dann auch ganz andere Dimensionen. Der Bürgermeister und der Priester stimmen zu und sind sich einig, dass ein solcher Platz zum Beispiel eine schöne Wiese in Osadné sein könnte. Bei dieser augenzwinkernden und optimistischen Verbindung von Zentrum und Peripherie bleibt es jedoch nicht. Musikalisch sehr laut begleitet von FREUDE SCHÖNER GÖTTERFUNKEN erscheint das EU-Parlament als riesiger Komplex aus architektonisch ambitionierten Treppenhäusern, in denen sich die Besucher aus Osadné fast verlieren. Die Schwierigkeit, als Fremder in diesem Glaspalast dort anzukommen, wo man hinwill, zeigt sich z.B. in einer Szene, in der die drei sich eine Rolltreppe hinaufkämpfen, die abwärts fährt. Schließlich sieht man sie mit Kopfhörern in einer Reihe sitzen und gemeinsam mit vielen anderen Besuchern des Parlaments einer Rede lauschen. Von der Rede selbst ist nichts zu hören, da die gesamte Sequenz von FREUDE SCHÖNER GÖTTERFUNKEN übertönt wird. Der nun folgende langsame Kameraschwenk zur Rednerbühne enthüllt jedoch nicht nur, wie extrem weit diese von den drei slowakischen Besuchern oben auf der Tribüne entfernt ist, sondern auch den nahezu menschenleeren Plenarsaal. So wird augenfällig, wie weit die EU von Osadné entfernt ist, wie wenig man in Brüssel an dem Schicksal eines kleinen Dorfes nahe der EUAußengrenze interessiert ist, und wie schwer es demnach für die drei Besucher sein wird, Unterstützung zu bekommen. Einem EU-Kommissar, dem die Gäste aus der Ostslowakei einen Besuch abstatten, scheint es denn auch, als ob diese nicht ganz begriffen hätten, worum es eigentlich geht: »Wenn die Leute Europa lediglich als etwas Fremdes, Entferntes, Wirtschaftliches wahrnehmen, hat es keine spirituelle, kulturelle und geistige Dimension.« Vor dem Hintergrund der Inszenierung des Besuchs im Parlament wirkt dieser Satz wie ein Hohn, und so verwundert es nicht, dass die slowakischen Gäste nach ihrer Rückkehr den Eindruck äußern, die Offiziellen in Brüssel redeten zu viel, ohne wirklich auf den Punkt zu kommen.

R ENTNER , R OMA, R ESIGNIERTE

5. W AS

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BLEIBT

Das slowakische Dorf im Film erweist sich mithin als ein Ort am Rande des von der EU vertretenen europäischen Selbstverständnisses – es erscheint als die Peripherie der Peripherie. Zwar macht die landschaftliche Schönheit die Orte prinzipiell lebenswerter als die Stadt, aus wirtschaftlichen Gründen sind sie aber dem Untergang geweiht. Die Bewohner der Dörfer sind übriggebliebene Rentner, mehr oder weniger ausgegrenzte Angehörige von ethnischen Minderheiten oder andere ihrem Schicksal ausgelieferte Menschen. Wenn sie Ideen haben, wie sie sich aus der Sackgasse befreien könnten, in der sie sich befinden, so scheitern diese, teils an der resignativen Grundhaltung ihrer Mitmenschen, teils am Desinteresse der Welt, insbesondere der Europäischen Union. Die Roma-Siedlungen werden weiter verelenden, das abgelegene ostslowakische Dorf über kurz oder lang aussterben. Eine Zukunft wird für dieses Dorf nicht gesehen. – Jedenfalls nicht in dieser Welt und in diesen Filmen. Doch der Bürgermeister von Zemplínske Hámre in NESVADBOV hat eine andere Idee: Vielleicht wird man, wenn auf der Erde die Lebensbedingungen nicht mehr gegeben sind, mit den »genetisch einwandfreien« Menschen auf den Mars auswandern, und er würde dort Bürgermeister eines Dorfes, in dem alle diese Menschen sich vermehren, um den Mars zu besiedeln.

L ITERATUR Bogdal, Klaus-Michael (2011): Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Berlin: Suhrkamp. Ferenčuhová, Mária (2011): Biela mapa Nesvadbova. Recenze: Nesvadbov (r. Erika Hníková, 2010), http://25fps.cz/2011/biela-mapa-nesvadbova/ (30.10.2013). Fico, Robert (2013) im Interview mit dem österreichischen Kurier vom 14.01.2013. Hallensleben, Silvia (2002): Kurzmeldungen, in: Der Tagesspiegel vom 5.9.2002, http://www.tagesspiegel.de/kultur/tagestipps/kurzmeldungen/369914.html (31.10.2013). Hames, Peter (2009): Czech and Slovak Cinema. Theme and Tradition, Edinburgh: University Press. Hučko, Tomáš (2010): Hranica. Symptómy »veľkých« dejín v životoch »malých« ľudí. Na značnej ploche filmu, http://dokofilm.sk/filmy/hranica (31.10.2013). Lohmeier, Anke-Marie (1996): Hermeneutische Theorie des Films, Tübingen: Niemeyer. Mappes-Niediek, Norbert (2012): Arme Roma, böse Zigeuner. Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt, Berlin: Christoph Links. Micklitza, André (2010): Slowakei, Erlangen: Michael Müller.

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Sextro, Maren (2009): Mockumentaries und die Dekonstruktion des klassischen Dokumentarfilms, Berlin: Universitätsverlag der TU. Solms, Wilhelm (2010): »Versessen auf Hundeesser. ›Zigeuner‹. Ein Dokumentarfilm von Stanislaw Mucha«, in: Antiziganismuskritik 2/2010, S. 10-12. http://www.antiziganismus.de/resources/2010_2_Antiziganismuskritik.pdf (30.10.2013). Štatistický úrad Slovenskej republiky (2012): Sčítanie obyvateľov, domov a bytov 2011, http://portal.statistics.sk/showdoc.do?docid=50048 (31.10.2013). United Nations (2012): Department of Economic and Social Affairs, Population Division. World Urbanization Prospects: The 2011 Revision, CD-ROM Edition.

F ILME Cigán (2011) (CZ/SK, R: Martin Šulík) Hranica (2009) (SK, R: Jaroslav Vojtek) Nesvadbov (2010) (CZ/SK, R: Erika Hníková) Rückkehr der Störche (2007) (SK/D/CZ, R: Martin Repka) Osadné (2009) (SK, R: Marko Škop) Zigeuner (2007) (D, R: Stanislaw Mucha)

Imaginationen des Hinterlands Filmische Inszenierungen ruraler Lebenswelten im zeitgenössischen brasilianischen Kino P ETER G RÜTTNER

»Urban space in the cinema has been endlessly represented and theorized […]« schreiben Fowler und Helfield (2006: 1) in ihrem Sammelband zum Ruralen im Kino und führen fort: »However, the journey offered [here] takes its traveller away from the bright lights and hectic shifts of the big city and toward a less illuminated, slower, more natural scene.« (Ebd.) Auch ich möchte den geneigten Leser einladen, mit mir im Rahmen dieses Textes in andere Gefilde des brasilianischen Films als die (möglicherweise bereits vertrauten) Großstadtfilmlandschaften Rio de Janeiros oder São Paulos1 zu reisen. Dazu werden im Folgenden ein knapper Überblick über die räumliche Gliederung Brasiliens gegeben, einige Überlegungen zum Begriff des Ruralen angestellt und schließlich die Bedeutungen des Dörflichen im (brasilianischen) Film anhand dreier Filme, die 2012 auf dem Rio Film Festival2 zur Erstaufführung kamen, herausgearbeitet.

Z WISCHEN S TADT

UND L AND : E IN Ü BERBLICK ZUR RÄUMLICHEN G LIEDERUNG B RASILIENS Auf mehr als 8,5 Mio. Quadratkilometern erstreckt sich Brasilien als das fünftgrößte Land der Erde mit großen Disparitäten auf seinem Territorium. Die Bevölkerung lebt zum größten Teil in Städten an der Küste und in den südlicheren Bundesstaa-

1

Bei Namen und Orten folge ich der brasilianischen Schreibweise.

2

Das Festival do Rio ist ein jährlich stattfindendes Filmfestival in Rio de Janeiro.

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ten. Knapp ein Viertel der 201 Millionen Brasilianer wohnt im Bundesstaat São Paulo.3 Urbane Großräume mit mehr als 2 Mio. Einwohnern sind keine Seltenheit. Sechs solcher Großräume4 existierten bereits um 2000, vier von ihnen liegen im östlichen Küstengürtel. Urbanisten gehen von einem weiteren Wachstum aus, das sich ebenfalls in diesen Küstenregionen konzentrieren wird. Wer die Zahlen und Bilder brasilianischer Großstädte sieht, vergisst gern, dass Brasilien mit durchschnittlich 20 Einwohnern je Quadratkilometer als ein ausgesprochen dünn besiedeltes Land gelten kann.5 Dass man heute das Vorhandensein von einerseits riesigen, beinahe entvölkerten ruralen Räumen und andererseits stark bevölkerten urbanen Räumen beobachten kann, hat auch historische Ursachen. Während der Kolonialzeit6 wurde das Land unter der portugiesischen Krone in 12 große, erbliche Kapitanien geteilt. Diese waren politisch nahezu selbstständig und traten auch in der Folge immer wieder als politische Akteure in Erscheinung. Im kolonialen System wurden Sklaven von den Küsten Afrikas nach Brasilien gebracht, damit diese dort beim Zuckerrohranbau eingesetzt werden konnten. Der Rohstoff- und Warenverkehr wurde durch die Kolonialstädte an der Küste abgewickelt, wo auch wegen des direkten Seewegs nach Portugal die eingewanderten Europäer lebten.7 Zwar haben die früheren Kolonialstädte in den letzten beiden Jahrhunderten ihre Bedeutung verloren, aber die Funktion des (vornehmlich) südlichen Küstengürtels als wirtschaftliches Zentrum ist weiterhin unangefochten. 1888 wurde die Sklaverei in Brasilien verboten, an den Landbesitzverhältnissen änderte sich jedoch nichts Grundsätzliches. Noch heute teilen sich über 90 Prozent der Bauern 22 Prozent der verfügbaren Agrarfläche, mindestens fünf Millionen Familien gelten als landlos.8 Ab den 1920er Jahren setzten die Verstädterungsprozesse auch in Lateinamerika ein und führten zu einem Anwachsen der Städte, das bis heute anhält und durch zwei Faktoren begünstigt wird: Ein hohes Bevölkerungswachstum und die immer weniger benötigten

3

Mit etwa 43,5 Mio. Einwohnern wohnen in diesem Bundesstaat mehr Menschen als im Nachbarland Argentinien (Zahlen aus IBGE 2013).

4

Die Großräume sind São Paulo, Rio de Janeiro, Salvador, Brasília, Fortaleza, Belo Horizonte, Manaus (in absteigender Aufzählung).

5 6

Zum Vergleich: In Deutschland sind es im Durchschnitt über 200 Einwohner je km². Nach seiner Entdeckung durch Pedro Álvares Cabral im Jahr 1500 war das Land vom 16. Jahrhundert bis zur Erklärung seiner Unabhängigkeit 1822 portugiesische Kolonie.

7

Eine Ausnahme bildet Manaus, das am Amazonas im Landesinneren liegt, somit aber auch mit dem Schiff erreicht werden kann.

8

Insbesondere für ärmere Bevölkerungsschichten ist der Besitz und die Möglichkeit der Bewirtschaftung des eigenen Grund und Bodens eine Voraussetzung für das Überleben.

I MAGINATIONEN

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Landarbeiter, die auf der Suche nach Arbeit und Auskommen vom Land in die Städte strömen (vgl. Acioli 2007: 75ff.). Als eines der Ergebnisse dieses Zustroms kann mit Sieverts die Herausbildung der »Zwischenstadt« benannt werden: »[E]in Siedlungspunkt, an dem sie [die Bewohner, P.G.] einerseits Zugang zu den Segnungen der Stadt haben, andererseits noch eine bescheidene halbstädtische Landwirtschaft betreiben können« (Sieverts 2001: 14). Wie diese zwischenstädtischen Räume aussehen können, zeigen uns die Inszenierungen des brasilianischen (und auch lateinamerikanischen) Kinos während der 1950er bis in die 1970er Jahre. Über was für einen Raum sprechen wir aber, wenn wir meinen, ein Dorf in einem brasilianischen Film abgebildet zu sehen? Folgen wir der Argumentation Resinas (2012), dann haben wir es dabei mit etwas Gestrigem, also Vergangenem, zu tun. Denn heute habe der Begriff des »Dörflichen« in den Zusammenhängen des brasilianischen Siedlungsgeschehens seine Bedeutung verloren (siehe auch die »Zwischenstadt« Sieverts). Was nunmehr vorliege, seien im Grunde den Städten vor- oder nachgelagerte Zonen, weshalb im Titel dieses Beitrags auch der Begriff des Hinterlandes9 Erwähnung findet. Resina schreibt dazu: »there is little doubt that the mid 20th century’s meaning of ›rural‹ no longer denotes an objective reality« und »the rural has become inextricably intertwined with the city in many ways« (Resina 2012: 15). Rurale Lebens- und Siedlungsräume müssen sich daher im Blick auf Brasilien mit den Maßstäben des Urbanen messen lassen. Viele der bei Beetz (2008) genannten Merkmale der Peripherien10 verweisen zunächst auf einen Mangel oder ein Nichtgenügen der ruralen Bereiche, wenn sie mit den dazu in Opposition stehenden Vorstellungen und Funktionen des eigentlichen Zentrums in Vergleich gebracht werden. Das Dorf ist demnach eine der vielen Ausprägungen peripherer Räume. Als mögliche Kennzeichen dieser peripheren Räume – im Vergleich mit dem Zentrum – lassen sich u.a. folgende benennen: eine agrarische oder subsistenzwirtschaftliche Lebensweise, eine kulturelle Randlage an den Grenzen (aber nicht außerhalb der Grenzen) des Systems, ein Fehlen von Dynamik und eine Provinzialität hinsichtlich der kulturellen und intellektuellen Artefakte im Vergleich mit dem Zentrum. Diese Merkmale sind zum Teil auch subjektiver Natur, denn den Vorwurf fehlender Dynamik kann nur machen, wer mit urbanen kulturellen Codes auf die ruralen Zonen blickt und aus diesem Grund auch meint, nicht viel an Bewegung zu erkennen. Für das Beispiel 9

Ein politischer Begriff, der Regionen bezeichnet, die abseits der Küste im Landesinneren liegen.

10 Die Unterteilung von Räumen in Zentrum und Peripherie ist ein Versuch, regionale Unterschiede im Wirtschafts- oder Lebensniveau historisch zu erklären. Es wird also ein (Interaktions-) Zusammenhang zwischen verschiedenen Regionen vorausgesetzt (vgl. Komlosy 2011).

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Brasiliens sind die nicht-städtischen Zonen allerdings auch noch in einer anderen Hinsicht von besonderer Bedeutung. Denn sie gelten vielfach als Zonen einer Wiederentdeckung des »Brasilianischen«. Im Verlauf der anhaltenden Verstädterung kam es zur »crise das identidades« in den Städten und einer Wiederentdeckung der Werte und Kulturen im nicht-städtischen Bereich (vgl. Claval 2008: 37). Wie sich diese (kultur-)politische Prägung des Raums auch auf den Film auswirkt, soll nun erläutert werden.

P RODUKTION VON R AUM

UND DESSEN

B EDEUTUNG IM F ILM

»[R]ural cinema with its empathic focus upon traditional folkways […] connected to life on the land, may seem retrogressive and thus not worthy of the same critical and historical focus […]. There is very little written directly«, so Fowler und Helfield, » about the use of land or the rural in the cinema despite the fact that it so frequently forms a backdrop to both fiction and documentary work« (Fowler/Helfield 2006: 2). Dass das Rurale offenbar vorrangig der Erzeugung eines gewünschten Lokalkolorits dient, weist dabei bereits auf ein grundsätzliches Problem der Analysen von Filmräumen hin. Welche Bedeutungen der dargestellte Raum trägt, hängt noch von vielen weiteren Faktoren ab. »[Film is not] a neutral place of entertainment or an objective documentation or mirror of the real […] but an ideologically charged cultural creation whereby meanings of place and society are made, legitimized, contested and obscured« (Hopkins 1994: 51). Eine umfassende Analyse der ruralen und dörflichen Räume im brasilianischen Film11 vermag ich also im Rahmen dieses Artikels nicht zu leisten. Schon allein deshalb nicht, weil mein Blick der eines weißen, städtischen, europäischen, akademisch betrachtenden, in kulturwissenschaftlicher Perspektive agierenden Beobachters ist und sich damit radikal vom Blick eines indigenen, bspw. aus Itaquitinga12 stammenden, brasilianischen Wanderarbeiters unterscheidet, der gerade zusammen mit 20 anderen Arbeitern in seinem Quartier einen Film schauen soll, über den man ihm gesagt hat, er hätte viel mit seinem eigenen Leben zu tun. Folglich müssen die Instrumente zur Betrachtung von Räumen im Film sich auf die Beschreibung der Bilder und deren Produktion konzentrieren, ohne dabei allgemeingültige Wirkungen herausarbeiten zu wollen. In seinem Artikel A MAPPING

11 Zur Geschichte des brasilianischen Kinos bis 1980 siehe Schumann (1988), zum Film seit 1990 Ballerini (2012). 12 Eine vorrangig durch den landwirtschaftlichen Anbau geprägte Gemeinde im Bundesstaat Pernambuco.

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OF CINEMATIC

PLACES entwirft Hopkins (1994) eine Herangehensweise, die die sozialen, spatialen und politischen Geographien im und um den Film näher beschreibbar machen soll. Bilder aus Filmen sind dieser Auffassung nach immer Zeichen, denen wir als Menschen, die über 90 Prozent ihrer Informationen visuell wahrnehmen, in unterschiedlichem Maße Glauben zu schenken gewillt sind. Die Bedeutung von Filmräumen speist sich jedoch nicht allein aus dem, was zu sehen ist, sondern viel eher aus dem Produktionsprozess dessen, was zu sehen ist. Damit verbunden ist dasjenige, was Hopkins »magic of the silver-screen« nennt: »[where] spectators render cultural creations that embody human creativity separate from their human creators« (ebd.: 59). An jener Leerstelle, jenem verschlossenen Ort der Produktion von Bildern, geben Regisseure mit ihrer eigenen persönlichen und ideologischen Haltung bzgl. der Einstellungen, Perspektiven, Darsteller und des Tons den Bildern bereits erste Bedeutungen mit auf den Weg, die wiederum vom Publikum mit jeweils eigener individueller, medialer, sozialer und politischer Vorbildung dekodiert werden. Die Regisseure Campolina, Murat und Nunes der nachfolgend diskutierten Filme stammen alle aus der oberen brasilianischen Mittelschicht, sind weiß und erhielten ihre Ausbildung in Rio, São Paulo und Belo Horizonte.13 Über das Publikum ihrer Filme kann man nur anhand von Statistiken sprechen: Mit größter Wahrscheinlichkeit lebt es im brasilianischen Süden oder Südosten (zusammen sind dies etwa 110 Mio. Einwohner, jedoch nur etwa 15 Prozent des Gesamtterritoriums), auf dem sich auch 70 Prozent der Kinos befinden. Damit ist das Publikum dieser Filme höchstvermutlich ebenfalls weiß14, denn diese Bundesstaaten sind mehrheitlich von Brasilianern mit heller Hautfarbe bewohnt (siehe Dos Santos 2009). Das ohnehin sehr kleine Publikum der Filme15 dürfte diese damit aller Wahrscheinlichkeit nach in Rio oder São Paulo – also in einer der Metropolen – gesehen haben, da nur hier noch Strukturen bestehen, die das Vorführen solcher kleiner Produktionen ermöglichen.16 13 Die Biografien der Filmschaffenden lassen sich bspw. auf der Website www.filmeb.com (14.03.2014) finden. 14 Den Angaben der brasilianischen Statistikbehörde IGBE nach haben die südöstlichen Bundesstaaten etwa ein zweimal so großes BIP pro Kopf wie die nordöstlichen oder nordwestlichen Regionen (siehe IBGE 2009). Dabei korreliert eine helle Hautfarbe mit einem statistisch höheren Einkommen. 15 8500 Zuschauer beim Film von Murat, 5100 im Film von Campolina und 2100 Zuschauer in Nunes’ Werk. Die Zahlen stammen aus den jährlichen ANCINE-Berichten unter www.ancine.gov.br (14.03.2014). 16 Im Rahmen verschiedener politischer Initiativen, neuer Gesetze zum Film und neuer technischer Entwicklungen hat sich ein grundlegender Wandel im brasilianischen Kino-

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Dass Kinofilme nicht nur finanzintensive Unternehmungen sind (vgl. Monaco 2009), sondern auch politische und nationale Projekte darstellen und sich damit auch die aus den Cultural Studies17 stammenden Fragen nach ihrem jeweiligen Produktions- und Rezeptionskontext gefallen lassen müssen, möchte ich kurz am brasilianischen Kino zwischen 1950 und 1970, dem »Cinema Novo«, darstellen.

D ORF

UND

S TADT

IM UND NACH DEM

»C INEMA N OVO «

Während der 1950er bis 70er Jahre entstand in Brasilien eine Filmkultur unter dem Namen »Cinema Novo«18, also ein »neues Kino«, dessen Regisseure sich mit dem Manifest der EZTETYKA DA FOME (Ästhetik des Hungers) einer spezifisch brasilianischen Darstellungsweise im Film verschrieben hatten. Aus der Überlegung heraus, dass die Stadt vorrangig ein Ort der entwickelten Welt und der Konsumkultur sei, bevorzugten diese Filmemacher19 rurale Schauplätze für ihre Werke, mit Hilfe derer sie versuchten, eine authentische Darstellung der brasilianischen Kultur zu leisten. Mit fast schon dokumentarischem Realismus inszenieren die »Cinemanovistas« in Filmen wie beispielsweise BARRAVENTO und VIDAS SECAS rurale Lebenswelten, deren Bewohner häufig von Laiendarstellern gespielt wurden. Auf diese Weise entwarfen sie ein Brasilienbild, das dem zu dieser Zeit vorherrschenden völlig entgegen lief: »Cinema Novo transformed Brazilian cinema from an industry whose themes, genres, and production system were largely imitations of Hollywood models to a national cinema that artfully and more authentically represented the people and the national situation of Brazil.« (Goldman 2006: 151) Während die zum Großteil mit nordamerikanischem Kapital betriebene Filmindustrie junge Frauen in Bikinis zu Sambaklängen und vor Kunstpalmen tanzen ließ, zeigten die

markt vollzogen. Die durchschnittliche Kinogröße liegt bei mehr als vier Sälen, die Vorführungen erfolgen zunehmend von digitalem Material. Damit graben die Komplexe der großen Kinoketten den kleinen, ein bis zwei Vorführsäle betreibenden, Kinos die Besucher ab (Zahlen eigene Erhebung, eine Diskussion der Kinogesetze findet sich in Ikeda 2012). 17 Damit verbunden ist das Konzept der Kulturanalyse als eine Form der Gesellschaftsanalyse, die die Verbindung zwischen Kultur, Macht und Identität untersucht (siehe Marchart 2008). 18 Ästhetisch und thematisch lehnt es sich damit an den Neo-Realismus des italienischen Films der 1940er und 50er Jahre, sowie die französische Nouvelle Vague-Filmbewegung der 1950er und 60er an. 19 Unter ihnen Glauber Rocha, Nelson Pereira dos Santos und Rui Guerra.

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am italienischen Neorealismus orientierten Filme zu Beginn der »Cinema Novo«Bewegung großes Interesse für die Bewohner des wenig besiedelten Nordostens und die Randgebiete der großen Städte. Auf zahlreichen europäischen (unter anderem auch in Cannes, Venedig und Berlin) und nordamerikanischen Festivals gewannen diese Preise; im eigenen Land jedoch blieb ihnen der große Erfolg verwehrt: Gegen die den Markt beherrschenden einfachen Musikkomödien konnten sich die inhaltlich und ästhetisch anspruchsvollen Filme nicht durchsetzen. Allerdings gelang dieser ersten Phase des Cinema Novos etwas anderes. Die Filme etablierten ein vorrangig rurales Kinobild Brasiliens, in dessen Zentrum das Lumpenproletariat bzw. die Lebensverhältnisse der ländlichen Unterschichten standen (vgl. Johnson/Stam 1995: 38ff.). Denkt man an die Vorstellungswelten des brasilianischen Films der Gegenwart, kommen einem »hauptsächlich musikgetränkte, farbenkräftige Bilder« (Ott 2003) in den Sinn, die sich fast ausschließlich auf großstädtische Milieus beziehen. 1981 erschien von Hector Babenco der Film PIXOTE: A LEI DO MAIS FRACO, der (noch in der Tradition des »Cinema Novos«) quasi-dokumentarisch das Leben eines Straßenjungen in São Paulo zeigte und auf den großen Filmfestivals viel Beachtung erhielt. Auch das 1985 ebenfalls von Babenco inszenierte Drama O BEIJO DA MULHER ARANHA, in dem die Geschichte mehrerer Gefängnisinsassen erzählt wird, ist in seiner Bildersprache grundsätzlich urban. 1998 erschien der international reich prämierte Film CENTRAL DO BRASIL aus der Hand Walter Salles’, der von einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen einem Jungen und einer pensionierten Lehrerin, die an Rios größtem Bahnhof jobbt, erzählt – also ebenfalls ein Film mit reichlich Stadtbildern. 2002 erschien dann der wohl für die letzten Jahre stilbildende Film von Fernando Meirelles und Kátia Lund: CIDADE DE DEUS ist die bildstarke Erzählung aus einer von Rios Favelas über Jugendliche in einer scheinbar ausweglosen Schleife der Gewalt. Eine nochmalige Steigerung erfuhr die Darstellung manifester urbaner Gewalt in der inzwischen in zwei Teilen vorliegenden Kinofilmreihe TROPA DE ELITE von José Padilha im Jahr 2007 und 2010, in dem die Kamera schon fast im Stile eines Ego-Shooters den Krieg zwischen Spezialeinsatzkräften und bestimmten Fraktionen der Favela-Bewohner inszeniert. Kurz: Was international an Filmbildern aus Brasilien in den letzten Jahren zu sehen war, kam aus dem Kontext der Megacities in Rio oder São Paulo. Auf dem Rio Film Festival 2012 hatten jedoch drei Filme Premiere, deren Geschichten sich im ruralen Milieu verorten lassen.

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D AS D ORF

ALS EIN

T HEMA IN V ARIATIONEN

Die drei Filme, die nun etwas genauer betrachtet werden sollen, sind GIRIMUNHO, HISTÓRIAS QUE SÓ EXISTEM QUANDO LEMBRADAS und SUDOESTE. Allen drei Filmen ist zunächst das Setting der Handlung gemeinsam: Ihre Geschichten sind abseits der großen Agglomerationen verortet. Bemerkenswert ist dabei, dass alle drei Filme die Frage nach dem Raum ebenso deutlich wie die Frage nach der Zeit verhandeln. Denn in ihrem Zentrum steht das Vergehen von Lebenszeit, für deren Verbildlichung die drei Filmschaffenden immer die Motive von Geburt und Sterben wählten. In GIRIMUNHO, was sich am ehesten als »Wirbel« übersetzen lässt, wird die Kulisse des tatsächlich existierenden Dorfes São Romão20 zum Handlungsort, an dem sich Profanes und scheinbar Magisches vermischen. Erzählt wird aus dem Leben der 81jährigen Bastu, die vor kurzem ihren Mann verlor und nun, wäre da nicht die Familie, auf sich allein gestellt sein würde. Doch ihre Enkelkinder und eine alte Freundin helfen, dass auch für sie das Leben nach diesem Verlust weitergeht. Die Enkelin verzichtet auf eine Ausbildung in der nächstgrößeren Stadt, die Freundin erhöht die Frequenz der gemeinsamen Tanzabende am Dorfplatz. Der Film endet, als Bastu in den das Dorf durchfließenden Fluss steigt und so ihr Leben zu beenden scheint. Die Schauspieler dieses Films sind – im Unterschied zu den beiden anderen – Laien; Campolina traf sie vor Ort um sie für ihren Film zu gewinnen. Júlia Murats Film HISTÓRIAS QUE SÓ EXISTEM QUANDO LEMBRADAS, dessen Titel mit »Geschichten existieren nur, wenn sich jemand ihrer erinnert« übersetzt werden könnte, spielt im fiktiven Dörfchen Jotuomba, angeblich gelegen im Landesinneren zwischen Rio und São Paulo, im Tal des Paraíba. Alle Abläufe der Handlung sind geprägt von einer starken Regelmäßigkeit: Jeden Morgen steht Madalena vor Sonnenaufgang in der Küche bei Kerzenlicht und backt Brötchen, die sie dann zum Laden des alten, ein wenig kauzigen António tragen und unter seinem Protest ins Verkaufsregal einräumen wird. Danach werden die beiden Alten Kaffee trinken, über das Wetter sinnieren und am Abend wird Madalena an den übrigen Dorfbewohnern, die im Abendlicht noch ein wenig spielen und palavern, vorbei zu ihrem Haus gehen und kurz darauf das Licht löschen. Auch als eines Abends die ungleich jüngere Rita vor dem Haus sitzt und um einen Platz für die Nacht bittet, ändert sich im Leben des Dorfes zunächst nichts Grundsätzliches: Rita dokumentiert mit ihren Fotokameras das Leben der Dorfbewohner und hilft beim Backen. Zum Ende des Filmes geht diese für die Dorfgemeinschaft wichtige Funktion von Madalena auf Rita über.

20 Die Gemeinde befindet sich in Norden des Bundesstaates Minas Gerais.

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Auch im als »Südwest« zu übersetzenden Film SUDOESTE von Eduardo Nunes wird mit dem Bild der Zirkularität des dörflichen Lebens gearbeitet. Vor der Kulisse einer kleinen Siedlung irgendwo im Hinterland des Küstengürtels hat der Zuschauer Anteil am Leben einer Frau namens Clarice, das an einem Tag von der Geburt bis zum Sterben reicht. Ganz wie in Campolinas GIRIMUNHO lebt der Film von der Darstellung des Alltags der Figuren, in den sich hier und da etwas Magie mischt: So werden in großen, weiten Einstellungen die Arbeiten der Landbevölkerung gefilmt (Salzgewinnung und Fischverarbeitung), die aber immer wieder durch das Auftauchen einer schamanengleichen Person unterbrochen werden. Die Figuren ihrer Filme lassen Murat und Nunes jeweils durch bekannte Schauspieler des brasilianischen Films spielen.

I NHALTLICHE

UND ÄSTHETISCHE

B ESONDERHEITEN

Welche Bedeutung das Dorf als filmischer Ort für diese Narrationen hat, möchte ich im Folgenden beschreiben. In ihrem Artikel IMAGENS DO MAR – VISÕES DO PARAÍSO NO CINEMA BRASILEIRO DE ONTEM E HOJE attestiert Nagib (2002) dem Meer und dem Sertão, jener Dornensteppe des Hinterlandes, ähnliche visuelle und mythische Qualitäten: Verweisen sie doch auf einen Moment der Hoffnung und Stabilität, auf die Utopie eines paradiesischen Brasiliens (Nagib 2002: 148ff.). Diese lassen sich auch in den drei Filmen von Nunes, Campolina und Murat finden. Auffällig ist die Abgeschiedenheit aller drei Filmlandschaften. Ein jeder Film baut (s)einen Mikrokosmos auf, der mit der großstädtischen, rationalisierten und schnellen Lebenswelt nichts zu tun hat. Als erste inhaltliche Komponente lässt sich filmübergreifend die Nutzung und Ästhetisierung alter Bauwerke beobachten. Es sind die kleinen, flachen Häuschen mit ihren getünchten Innenwänden und den verzogenen Türschwellen, über die – und hier findet sich ein weiteres gemeinsames Merkmal – die gealterten Protagonisten der Filme uns entgegentreten. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, da die Protagonisten der Filme allesamt betagte Personen sind und der Film so glaubhaft machen kann, dass zwischen der inszenierten Epoche und der der Rezeption ein gewaltiger Abstand besteht. Der Film von Campolina trägt dazu den Untertitel »Die Zeit vergeht nicht. Wer vergeht, sind wir« und zeichnet mit Hilfe seiner Bilder und Handlungsabläufe ein von Stabilität und Kontinuität geprägtes generationenübergreifendes Zusammenleben, das sich keinen kapitalistischmodernen Anforderungen unterwirft. Anstatt die eigene berufliche Ausbildung fortzuführen, entscheidet sich die Enkelin in GIRIMUNHO dazu, die Großmutter zu pflegen. Ganz ähnlich in Murats HISTÓRIAS, wo sich der Zuschauer durch ein Dorf Gealterter bewegt, deren Leben von täglichen Routinen so ausgefüllt ist, dass, wie eine der Figuren behauptet, sie irgendwann sogar zu sterben vergessen hätten. Und auch

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in SUDOESTE von Nunes gibt es deutlich mehr alte als junge Figuren, um den Eindruck der zeitlichen Entrücktheit weiter zu stützen. Ein weiteres formales Merkmal sind die Narrationen selbst. Diese sind gekennzeichnet von einer Zirkularität, die in kreisförmigen Bahnen das Wiederkehren des Lebens darstellt und damit nach etwas fragt, das offenbar mit dem Vergehen bzw. Nichtvergehen von Zeit zu tun hat. In Nunes SUDOESTE beschreibt die Handlung einen Bogen, der von der Geburt zum Sterben reicht; GIRIMUNHO handelt eher vom Vergehen der Lebenszeit, am Ende steht das Bild des Flusses, der Wiederkehr und Kontinuität anzeigt. Und in HISTÓRIAS scheint es eher um den Erhalt der Gemeinschaft21 als Ganzes durch die Einzelperson zu gehen, wie die Übertragung der Tätigkeit des Backens von der betagten Madalena auf die junge Rita zeigt. Auch unter Gesichtspunkten der Ästhetik sind sich die drei Filme sehr ähnlich. Insbesondere bei Murats HISTÓRIAS und Campolinas GIRIMUNHO fällt auf, wie dicht beide in ihrer Machart beieinander liegen. So weisen die Kamerafahrten, die Einstellungen sowie die Schnitte allesamt große Ähnlichkeiten auf. Beide sind betont langsam, oft mit einem quasi-fotografischen Blick auf Figuren und Szenerie; Totalen und Nahaufnahmen wechseln einander ab. Sie inszenieren ausnahmslos schöne Dörfer, und zwar ganz im Gegensatz zu den von Armut und Gewalt geprägten Bildern des »Cinema Novo«. Es scheint fast so, als inszenierten sie mit den vielen Einstellungen, in denen wir Vegetation, Plätze, Fassaden, Räume und Gesichter sehen, einen Eindruck des Überflusses. Alles scheint gezeichnet von der Zeit: Die krummen Bäume und Ranken, die alte Architektur, die Falten auf den Gesichtern. Auch Musik bildet ein zentrales filmisches Element, weniger zur Untermalung des Geschehens dienend, dafür aber als Bestandteil der Erzählung im Rahmen von abendlichen Festen. Ansonsten ist die Tonspur von Umgebungsgeräuschen bestimmt. Diese sind auch für den Film SUDOESTE von Nunes, selbst ein ehemaliger Sounddesigner, bestimmend. Es handele sich hierbei, schreibt Ferdinand (2010), auch eher um einem Soundtrack, für den der Regisseur die passenden Bilder zu wählen hatte. Lag eine Überlegung der Ästhetik der anderen beiden Filme HISTÓRIAS und GIRIMUNHO auf der möglichst akkuraten Darstellung von Details des dörflichen Settings, so lässt das gewählte Cinemascope-Format22 von SUDOESTE die Darstellung

21 Im Sinne Tönnies eher als eine Gemeinschaft des Ortes und der Freundschaft, denn das soziale Beziehungsgefüge entstammt hier doch maßgeblich dem Zusammenleben im dörflichen Verbund (siehe vgl. Tönnies 2005: 7ff.). 22 Der Film wird dabei auf spezielle Art aufgezeichnet und abgespielt, wodurch Bilder mit einem Seitenverhältnis von 1 : 2,35 bzw. 1 : 2,55 erzeugt werden können. Die meisten Kinofilme sind in einem Verhältnis bis 1 : 1,85 und damit deutlich schmaler.

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(und damit auch das Erkennen) von Details gar nicht erst zu, sondern bietet ausschließlich ungewohnte panoramaartige Totalen in harschem Schwarz-weiß.

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Wie kommen sich nun ein mehrheitliches urbanes Publikum und die filmisch dargestellte Ruralität näher? In einem Interview verwies der Filmkritiker Xavier (2000) auf verschiedene Möglichkeiten. Den an sich räumlich entrückten ruralen Filmlandschaften würden Elemente aus der Lebenswelt des vorgestellten Publikums zur Seite gestellt. Dadurch entstünde – bei den von Xavier besprochenen Filmen anhand von Parfumflakons, Whiskyflaschen und die neueste städtische Damenmode – die Verknüpfung zwischen dem Niemandsland des Sertão und dem Erfahrungsumfeld der Zuschauer. Auch die Filmschaffenden der drei vorliegenden Werke fügen, in verschiedener Häufigkeit, technische und kulturelle Artefakte aus der Lebenswelt ihres überwiegend als urban vorgestellten Publikums ein. Am offensichtlichsten passiert dies in Murats Film. Hier bringt Rita verschiedene technische Geräte aus dem heutigen Alltag mit: einen Mp3-Player mit Kopfhörern, zu dessen Musik sie zur Verwunderung der Dörfler tanzt,23 ein ganzes Set an verschiedenen Kameras, darunter digitale und analoge Geräte. Dadurch erscheint das Dorf Jotuomba plötzlich als weniger unbestimmt und abgekoppelt von der Lebenswelt des Publikums, denn das Publikum und die Akteure im Film teilen offensichtlich Kulturpraktiken (wie bspw. das Fotografieren oder Musikhören) über Artefakte.24 Ganz ähnlich kombiniert auch Campolina in GIRIMUNHO gebräuchliche Gegenstände mit ihrer magischen Filmhandlung. So ist in Bastus Haus ein Ergometer aufgestellt, auf dem sie singend strampelt, und auf den Straßen sehen wir Autos der Gegenwart neben Menschen, die auf Eseln reiten. Einzig Nunes scheint eine abgekoppelte Welt verbildlichen zu wollen, denn er vermeidet Bezüge auf moderne Artefakte weitestgehend.25

23 In einem Ambiente, wo Musik noch vom Plattenspieler kommt, führt das äußerst individuelle Hören mit Knopf im Ohr, wodurch die Musik nur noch für den Nutzer selbst wahrzunehmen ist, zu erstaunten Gesichtern. 24 Hier folge ich der Sichtweise von Hörning und Reuter, wonach Materialität (technische Artefakte, bspw. MP3-Player, Ergometer) kulturelle Bedeutungen schafft, verkörpert und mit der immateriellen Ebene verknüpft (Hörning/Reuter 2004: 9ff.). 25 In diesem Kontext ist auch der 2012 erschienene Film XINGU von Cao Hamburger interessant. Er wählt einen geschichtlichen Zugang, aus dessen Perspektive er von der Besiedlung des Landesinneren erzählt und das Verhältnis zwischen den autochthonen Tupi

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Mit diesen beiden Strategien – einerseits der indirekten Annäherung an die Lebenswelt des Zuschauers, andererseits der Absage an das Teilen bestimmter moderner Lebensformen und Kulturtechniken –, werden die Filme aus unterschiedlichen Gründen für das vorgestellte Publikum interessant. Zunächst als Eskapismus, der mit den genannten Artefakten das Publikum einlädt, sich von einer möglichen, an der Realität orientierten Inszenierung unterhalten bzw. ansprechen zu lassen. Aber auch die deutlich ins Magische verschobene Inszenierung bleibt für das vorgestellte städtische Publikum attraktiv, denn mit ihr lassen sich irreale, mythische Parabeln erzählen, die zeitlose Gültigkeit anstreben und zugleich die Phantasie anregen.

D AS D ORF IM BRASILIANISCHEN F ILM – N UR EINE K INOPERIPHERIE ? Anhand der drei ausgewählten Filme hoffe ich Folgendes gezeigt zu haben: Zunächst, dass eine Filmanalyse den Film als Produkt begreifen sollte (und zwar im doppelten Sinne, einmal als Ware bzw. Kulturprodukt und einmal als Endprodukt von Regisseur und Filmstab) und dass seine Beschreibung bzw. Analyse immer aus einer bestimmten Perspektive erfolgt, die auch schon durch eine Disposition des Analysierenden gegenüber seinem Inhalt geformt ist. Ferner war mir wichtig, danach zu fragen, wer entsprechende Filmbilder erschafft und in welcher Weise sie zirkulieren. Das alles beantwortet aber noch nicht eine ganz grundsätzliche Frage, die eigentlich auch am Anfang meiner Ausführungen hätte stehen können: Sind die filmischen Dörfer ebenso periphere Erscheinungen wie die Dörfer im echten Brasilien? Alle drei Filme haben außergewöhnlich viele Preise auf den internationalen Filmfestivals erhalten und rücken damit als Artefakte ins Zentrum des internationalen Filmbetriebes. Nachdem die schnellen, grellen Filme mit den Darstellungen von Megacities mit Tätern, Opfern und Ordnungskräften, Rentnern, Gewinnern, Verlierern, Reisenden, Neuankömmlingen und Alteingesessenen sich weltweit immer ähnlicher werden,26 entdecken andere Filmschaffende offensichtlich nun wieder das

und deren (von wirtschaftlichen Interessen getriebenen) »Entdeckern« thematisiert. Mit Blick auf die historischen Umstände spielen die Artefakte und Kulturtechniken (Flugzeuge, Ausrüstung, Medizin) erwartungsgemäß eine größere Rolle, denn sie verbinden auf eine deutlich materielle Weise die als Randgebiete Brasiliens dargestellten Zonen mit den damaligen Zentren des Landes. 26 Auch an den brasilianischen Megacities lassen sich die Qualitäten beobachten, die Mirrlees in seiner Untersuchung zu kulturellem Imperialismus und Globalisierung durch nordamerikanische Film- und Medienerzeugnisse herausstellt. Hierzu zählt die positive

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»Hinterland« außerhalb der globalisierten Metropolen. Der brasilianische Kinomarkt mag auf den ersten Blick von globalen Unterhaltungserzeugnissen nach Hollywood-Codes beherrscht erscheinen. In einer zweiten Reihe, also hinter den finanzintensiven Produktionen der globalen Unterhaltungsproduzenten, verschiebt sich die Grenze aber offenbar zunehmend: Städte beschreiben Sassen und Roost am Ende des 20. Jahrhunderts noch »as sites of consumption [of media]« (Sassen/Roost 1999: 147), doch gewinnt angesichts der großen Entwicklung auf dem BreitbandMarkt27 offensichtlich auch der nicht-städtische Raum als Ort des Medienkonsums, vor allem aber auch als Ort medial vermittelter Weltentwürfe und sozialer Inszenierung, zukünftig an Bedeutung. Die ausgewählten und analysierten Beispiele zeigen, dass Filmschaffende inzwischen wieder verstärkt das »Hinterland«, die außerstädtischen Zonen und das Dörfliche als Vorbilder und Schauplätze ihrer bedeutungstragenden Inszenierungen nutzen. Hier finden sie Landschaften, Orte und Figuren, mit denen sie strukturierte, geordnete und durch Verlässlichkeit geprägte soziale Filmräume ebenso inszenieren können, wie biographisch getragene Erfahrungen und Zeitverhältnisse. Qualitäten, die den meisten Stadträumen Brasiliens fehlen. Dass das Konzept des Dorfs im Film (wenn auch hinter umgekehrtem Vorzeichen) ebenso im Mainstream funktionieren kann, zeigte 2005 der Film 2 FILHOS DE FRANCISCO, einer der erfolgreichsten Filme der jüngeren Kinogeschichte Brasiliens. Hier treffen Landflucht,28 geglückte Selbstverwirklichung, Musik und Ruhm auf die Aspirationen eines Millionenpublikums, das sich den Filmfiguren aufgrund der eigenen Biographie verbunden fühlt. Das Dorf ist also längst auch im Bildvorrat des Mainstreams angekommen, wenn auch nur als Ort, von dem man schnellstmöglich wegziehen möchte.

Darstellung der Konsumkultur, die Untergliederung der Städte in sichere und unsichere Bereiche mit entsprechend stereotypen Bewohnern, deren Handeln maßgeblich durch Konkurrenz und den affirmativen Einsatz von (Waffen-)Gewalt gekennzeichnet ist (vgl. Mirrlees 2013: 241ff.). 27 In den Jahren 2011 und 2012 gab es Wachstumsraten von 60% im Bereich der Breitbandanschlüsse (Ende 2012 86 Mio. Breitbandanschlüsse). Auch wenn die Angaben des Verbandes für Telekommunikation mit Vorsicht zu genießen sind, geben die Zahlen eine Vorstellung von den Möglichkeiten für den Absatz digitaler Medien. Zahlen unter: www.brasilnews.de/breitbandverbindungen-verzeichnen-deutlichen-zuwachs-13223 (14.02.2014). 28 Also die auf die Stadt gerichtete Migrationsbewegung von Individuen, die in Brasilien ab den 1960er Jahren massiv die Städte an der Ostküste anwachsen ließ und deren Auswirkungen sich im heutigen Stadtbild noch niederschlagen.

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F ILME 2 Filhos de Francisco (2005) (BRA, R.: B. Silveira) Barravento (1962) (BRA, R: G. Rocha) Central do Brasil (1998) (BRA/F, R.: W. Salles) Cidade de Deus (2002) (BRA/F, R.: F. Meirelles und K. Lund) Girimunho (2011) (BRA/E/D, R.: C. Campolina, H. Marins Jr.) Histórias que só existem quando lembradas (2011) (BRA/ARG/F, R.: J. Murat) O Beijo da Mulher Aranha (1985) (BRA/US, R.: H. Babenco) Pixote: A Lei do Mais Fraco (1981) (BRA, R.: H. Babenco) Sudoeste (2012) (BRA, R.: E. Nunes) Tropa de Elite I (2007) (BRA, R.: J. Padilha)

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Tropa de Elite II (2010) (BRA, R.: J. Padilha) Vidas Secas (1963) (BRA, R.: N. P. dos Santos) Xingu (2012) (BRA, R.: C. Hamburger)

Die Wahrheit des Dorfes Zu Michael Hanekes Das weiße Band A NSGAR M OHNKERN

I. H ÖHLEN Oft fällt der nach der Wahrheit Fragende auf den Stand jener zurück, die schon in Platons Höhlen hausen. Wie diese sitzt er, so bemerkt Platon im siebten Buch seiner POLITEIA, »in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat« (Platon 1974: 514a). Nichts anderes als ein »wunderliches Bild« (ebd.) sehen die Bewohner dieser Höhle, erzeugt von den »Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberliegende Wand der Höhle wirft.« (Ebd.) Das so entstehende Spiel von Negativeffekten, das sich aus den Gegenständen bildet, die den Schein des Feuers in seiner Projektion gegen die Wand der Höhle unterbrechen, ohne sich selbst jedoch dem Auge in Unmittelbarkeit klar und unzweideutig darzustellen, bleibt dem Wahrnehmungs- und Erkenntnisapparat der Höhlenbewohner in seinem Wesen grundsätzlich verschlossen. Gefangen mit dem Blick der Eingehöhlten ist indes auch die Möglichkeit, den Blick auf jenes viel zitierte »Wahre« (to alethes) frei zu setzen, dessen Ergründung bei Platon Mobilisierung, d.h. das Verlassen der Höhle notwendig macht. Nicht an das Licht nämlich ist der Blick der Eingehöhlten geheftet, sondern an die Schatten des Treibens, dessen sowohl Ursprung als auch Sinn ihnen verschlossen bleiben, so sich die in der Schattenwelt ahnungslos Eingehöhlten nicht von ihrem Ort zu entfernen wissen. »Auf keine Weise also«, so folgert Platon, »können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke.« (Ebd.: 515c) Moderne Schauplätze solcherlei Spiels »vorübergehender Schatten« (ebd.: 515b) sind zweifelsfrei die höhlenartigen Lichtspielsäle, die das Kino hervorbrachte. Hier tragen sich, gleich ob stumm oder mit Ton, ob schwarz-weiß oder in Farbe, ob in 2D oder 3D, die Schattenspiele eines Genres zu, das wie wohl kein anderes die Szenen jenes Gleichnisses rekonfiguriert, das bei Platon zum Inbegriff der Be-

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stimmung dessen geworden ist, was sich als »Wahres« wissen, sehen und erkennen lässt: des Films. Dabei sind die Parallelen zwischen der Welt der kinematischen Lichtspiele und dem platonischen Gleichnis zur Verhandlung dessen, was das Wahre ist, schlagend. Denn: Höhle, Dunkel, Licht und Schatten, das sind die Elemente, aus denen nicht das Höhlengleichnis allein, sondern eben auch der Film und vor allem die Erfahrung dessen gemacht sind, der sich dem Spiel der Schatten in der Dunkelheit eines »kinematographischen Kokons«, wie Roland Barthes den Kinosaal einst nannte (Barthes 2006: 377), stellt. Einer, der sich in der jüngeren Geschichte des modernen Kinos dieser Schattenspiele mit größter Präzision anzunehmen weiß, ist ohne Zweifel Michael Haneke. Wie wenige andere Filmschaffende der letzten Jahrzehnte hat der Österreicher das Leben derer cineastisch in Szene zu setzen gewusst, die in modernen Höhlen und abgeschlossenen Räumen, Häusern und Wohnungen abseits von Quellen direkten Lichts leben. Bekannt geworden sind Filme wie CACHÉ, FUNNY GAMES (in zweifacher Ausführung) oder gerade sein letzter und mit Ausnahme eines einzigen, anfänglichen Shots in den zumeist dunklen und nur selten vom Licht des Tages gefluteten Innenräumen einer Pariser Wohnung spielender Film AMOUR. Was Hanekes Filme allesamt eint, ist die Erfahrung von Enge, Beklemmung, Dunkel und nicht selten von einer im Stillen alles durchwirkenden Gewalt, in die sich nicht allein die fragwürdigen Helden der Filme verwickelt sehen, sondern mit ihnen zumal – qua Immersion – die Zuschauer in den Kinosälen selbst.1 Wie AMOUR als ein Film über das Vergessen dokumentiert, arbeiten sie sich nicht nur an der Situation des buchstäblichen Eingehöhltseins ihrer vermeintlichen Helden ab, sondern ebenso an der Bestimmung einer Grenze zwischen Wissen und Nicht-(mehr-)Wissen und darin wohl auch, zumindest latent, an der alten platonischen Frage nach der Grenze dessen, was – »unter das menschliche Elend versetzt« (Platon 1974: 517d) – als wahr zu gelten habe. Denn: »An die Lüge gewöhnt und in ihr luxuriös eingerichtet, verlassen die Aufgestörten den Kinosaal.« (Haneke/Assheuer 2010: 151)2 Die Latenz der Erfahrung des Menschen in der Höhle findet sich auch bei Hanekes schwarz-weiß Produktion DAS WEISSE BAND aus dem Jahr 2009 ins Werk gesetzt. Hier erfährt das Modell der platonischen Höhle indessen eine räumliche

1

Dazu Elfriede Jelinek: »Michael Haneke zeigt nicht einfach nur die Verbindung und Fesselungen der Personen, […] er zeigt sie als Gefesselte, die gefesselt auch noch sind, wenn er sie unter die Scheinwerfer schleift, und so wird Film für diese an sich und aneinander Gebundenen zum Tageslicht, an das sie kommen, denn nichts ist so fein gesponnen.« (Jelinek 2012: VI)

2

Dass der Sachverhalt, dass »jede behauptete Wahrheit […] relativ« sei, cineastischer »Leitgedanke« sei, hat Haneke selbst noch kürzlich bestätigt. (Haneke 2013: 319)

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Expansion, wird dabei allerdings zu keinem Moment strukturell gesprengt. Der Film zeigt die in ihr lebenden und handelnden Akteure in einem ländlichen protestantischen Nordostdeutschland am Vorabend des ersten Weltkriegs und trotz aller vermeintlichen Bukolik und eines das Friedliche der Landschaft in wenigen Momenten einfangenden Bildes ist jene für Haneke stilbildende Geschlossenheit des Raumes auch hier am Werk. Die Höhle hat derweil die Gestalt eines sozialen Geflechts angenommen: Sie ist ein Dorf und trägt den fiktiven – und ob der Vermischung von Buchenwald und Eichmann durchaus vieldeutig-beklemmenden – Namen »Eichwald«. Eingeführt wird der Zuschauer in die Welt dieses »Eichwald« vom Standpunkt eines (wie so viele im Film) namenlos bleibenden Lehrers, dessen erzählende und kommentierende Stimme aus dem Off das Bild begleitet. Die am Anfang aus der vollkommenen Finsternis des schwarzen Bildes sich hebende Aufblende, in der sich unmittelbar das alte platonische Spiel von Dunkel und Licht, von Schwärze und Weiße dem Zuschauer ins Auge drängt, kommentiert diese Stimme wie folgt: »Ich weiß nicht, ob die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, in allen Details der Wahrheit entspricht. Vieles darin weiß ich nur vom Hörensagen und manches weiß ich auch heute nach so vielen Jahren nicht zu enträtseln, und auf unzählige Fragen gibt es keine Antwort. Aber dennoch glaube ich, dass ich die seltsamen Ereignisse, die sich in unserem Dorf zugetragen haben, erzählen muss, weil sie möglicherweise auf manche Vorgänge in diesem Land ein erhellendes Licht werfen können.«

Die geduldig langsame Lichtwerdung der Aufblende fällt zusammen mit dem gleichsam schöpferischen Moment der Erhellung einer Welt, die sich als abgeschlossen erfährt und deren Gefüge durch »ein kaum sichtbares, zwischen den Bäumen gespanntes Drahtseil« von seiner anderen, irgendwie äußeren Welt abgegrenzt wird, aus der der Arzt des Dorfes nach einem »Ausritt« in die Stadt zurückkehrt. Indem sich aus dem Schwarz der Leinwand die lichter werdenden Konturen eines von Ferne herbeireitenden Mannes hervordrängen, fährt die Stimme des Lehrers also fort: »Begonnen hat alles, wenn ich mich recht entsinne, mit dem Reitunfall des Arztes. Nach seiner Dressurstunde im herrschaftlichen Reitstall war er auf seinem Ausritt erst zu seinem Hause geritten, um nach eventuell eingetroffenen Patienten zu sehen. Beim Betreten des Grundstückes stolperte das Pferd über ein kaum sichtbares, zwischen den Bäumen gespanntes Drahtseil. Die Tochter des Arztes hatte den Unfall vom Fenster des Hauses aus beobachtet und konnte die Nachbarin verständigen, die wiederum im Gutshof Nachricht gab, sodass der unter schrecklichen Schmerzen Leidende schließlich ins Krankenhaus der mehr als 30 Kilometer entfernten Kreisstadt gebracht werden konnte.«

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Wer Zeuge solchen Arrangements wird, ahnt bereits: Es handelt sich um einen Anschlag auf den, der, sei er auch Teil der dörflichen Höhlenordnung selbst, von der Begegnung mit einer »Welt da draußen« (Blumenberg 1989: 32), einer Welt außerhalb der Gesetze der Höhle, zurückkehrt. Als gelte es demnach im Dienste »selbsterhaltender Aufmerksamkeit« (Blumenberg 1989: 27) und qua eines Konditionierungssystems von »Ehre, Lob und Belohnungen für den [… ], der das Verüberziehende am schärfsten sah und sich am besten behielt« (Platon 1974: 516c) die Höhle vor der Gefahr eines von außen Kommenden zu bewachen und mit aller aufzubringender Kraft zu verteidigen, wird zuletzt auch der unwillentlich verstrickte Zuschauer mit der ihm vorgegebenen Blickrichtung der Kamera hinaus auf das exterritoriale Feld in den Akt dieser Verteidigung hineingerissen. Gleich einem aufmerksamen Wächter starrt er aus seiner eigenen Höhlenstellung heraus gebannt einer »Öffnung« entgegen, »die leicht zu beobachten oder gar zu verschließen ist und von der alles Fremde kommen muß.« (Blumenberg 1989: 27) So hat also schließlich dem Eindringling – sichtbar im Augenblick seines jähen Sturzes im Moment seiner heiklen Heimkunft – Gewalt von jener Art entgegenzuschlagen, wie sie bereits bei Platon dem aus der Welt des Lichts Zurückgekehrten drohte: »Und wenn er wieder in der Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte mit denen, die immer dort gefangen gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert, ehe er sie wieder dazu einrichtet, und das möchte keine kleine Zeit seines Aufenthalts dauern, würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen und es lohne nicht, daß man versuche hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen?« (Platon 1974: 516e-517a)

So nämlich wie es denen ergeht, die vermeintlich »mit verdorbenen Augen von oben zurückkommen«, so fällt auch der Sturz des Arztes zusammen mit dem Eintritt in die Welt von Verdunklung und Gewalt gleichermaßen, in der sich in der Folge jene »seltsamen Ereignisse« zutragen werden, die diejenigen peinigen, die von Außen kommen oder deren »verdorbenen Augen« sich die Dinge, zumal gemessen am Wahrheitsgehalt, womöglich anders darstellen als es bei den Eingehöhlten der Fall ist. Es scheint wohl darum nur konsequent, dass im Film gerade jene zum Opfer von Gewalt werden, deren Erfahrung ›anders‹, weil an einem von den Bewohnern des Dorfes grundsätzlich verschiedenen Blick genährt, ist: nämlich der in Italien gewesene Sigi, Sohn des Barons, sowie schließlich der qua Geburt außenseitige, behinderte Sohn der Hebamme, Karli. Aufgerufen ist hier aber nicht alleine die für das Kino so zentrale Frage nach Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, die der Sturz über das dem Blick des Arztes verborgene Drahtseil aufruft. Drängender, weil gleichsam noch anfänglicher, fällt die

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Lektüre der Szene vielmehr auf ein Problem zurück, das die Stimme noch aus dem vorschöpferischen Dunkel der Leinwand dem Zuschauer aus dem Off entgegenwirft. »Hanekes Neigung, dem Wort größeres Vertrauen als dem Bild zu schenken« (Naqvi 2010: 142) wird gleichsam in der ins Dunkel der Kinohöhle geworfenen Frage verdichtet, »ob die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, in allen Details der Wahrheit entspricht«. Es geht also um nichts weniger als die Wahrheit selbst. Zudem ist eine alte Redeweise zitiert: »der Wahrheit entspricht«. Lange nämlich hatte sich diese Wahrheit – von Aristoteles über Thomas von Aquin bis zu Kant und vielleicht noch Nietzsche – an dem Wesen der Entsprechung überhaupt zu messen: »veritas est adaequatio rei et intellectus.« (Thomas von Aquin 1986: 14) Sie weise sich, wie Kant in der KRITIK DER REINEN VERNUNFT über die »Form der Wahrheit« (Kant 1983: B 84) bemerkt, eigens an der Idee einer adaequatio als der »Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstande« (Kant 1983: B 83) aus und grenze sich von ihrem Gegenteil, dem Falschen bzw. der Lüge, dadurch ab, dass diese Übereinstimmung als gültige Entsprechung beider Teile gelingt. Was nun bei Haneke folgt, nämlich die filmische Einsenkung in die Angelegenheiten des Dorfes sowie in seine Geschichte von Gewalt und Misshandlung, lässt sich also, nimmt man den Film beim Wort, nicht trennen von der Frage nicht nur nach der Wahrheit allein, sondern überdies auch nach dem Status einer wahren Erkenntnis und der im Zweifel über das cineastische Prinzip der Sichtbarkeit gewährten Ausweisung an einem Gegenstand. Ist die Frage nach der Wahrheit indessen einmal aufgerufen, so lässt sie den Film nicht mehr los und stellt ihn buchstäblich in den Schatten, und zwar einen solchen, der im Zweifel dem einer Höhle entspricht.

II. G EMEINSCHAFT

UND

G ESELLSCHAFT

Die Abgeschlossenheit des Dorfes »Eichwald« ist ihrem Gefüge nach vermeintlich die einer sozialen Ordnung des 19. Jahrhunderts. An- und eingeschlossen sind die Bewohner eines ländlichen Systems, in dem das Amt des die Rechtsgemeinschaft repräsentierenden Barons zusammengefallen ist mit der Position des ländlichen Gutsbesitzers, der sein Land zu bewirtschaften hat nach den Gesetzen einer in ihren Anfängen bereits ausdifferenzierten, wenn nicht gar unternehmerischen Ordnung. Erschüttert wird dieses seinem Schein nach selbstreproduzierende und mit sich im Frieden stehende System von ihrem Ursprung nach schwer zu ergründenden Gewalttaten, die mutmaßlich die Kinder dieses Dorfes als Angehörige einer Generation derer begehen, aus denen später einmal – das weiß allein der Zuschauer, nicht allerdings die Figuren – ein Eichmann und Buchenwald gleichermaßen hervorgehen

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werden und an deren Taten bereits ein Stück von jenem Amalgam aus Banalität und Brutalität hervorschimmert, das Hannah Arendt so nachdrücklich ausgewiesen hat.3 Die alte Ordnung des 19. Jahrhunderts droht in diesem Reigen der Gewalt ihr Fundament zu verlieren, doch scheint sie bemüht, das sie umwitternde Unbehagen, das ihr Verhältnis zu der neuen Gewalt, von der der Zuschauer gemeinsam mit dem Lehrer vermuten darf, dass es sich um eine kindliche handelt, abzuweisen. Sie tut dies indes – und dafür sind die seine Kinder züchtigenden, doch hinter geschlossenen Türen unsichtbar bleibenden Stockschläge des Pfarrers das wohl anschaulichste Exempel – ihrerseits mit Gewalt. So ergibt sich ein durchaus komplexes Gewaltsystem, in dem der kindliche Sadismus, der hinter den »seltsamen Ereignissen« zu ahnen ist, zugleich aufs Innerste an eine prekär gewordene Ordnung von Herrschaft, Glauben und Moral gebunden zu sein scheint, der die Gewalttaten der Jungen in dem Maße entwachsen wie sich die eigenen Gesetze dieser überkommenen Ordnung förmlich gegen sich selbst zu wenden drohen. Denn so sehr Gewalt wesentlich dem Apparat eignet, der das Dorf »Eichwald« als soziales System nicht nur gegen seine Umwelt abgrenzt, sondern zugleich seine innere Stabilität verbürgt, so sehr ist diese Gewalt auch – gerade in ihrem Exzess und in Kinderhände geraten – Grundlage der Zersetzung dieses Apparats im Licht einer historischen Situation, in der sich soziale Systeme seit dem 19. Jahrhundert rapide transformieren. Die endgültige Erledigung dieser Ordnung – es ist der Vorabend des Ersten Weltkrieges – dämmert zweifelsohne herauf. Das aufkommende Wissen einer sich in ihrer Gründungsphase befindenden Soziologie hatte unter dem nicht mehr zu verwischenden Eindruck der Ausformung dieser Transformationsphase eine Sprache herausgebildet, in der sich diese als zunehmende gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Abstrahierung sozialer Beziehungen lesbar machte. Zumal mit Hinblick auf DAS WEISSE BAND rückt dabei rasch einer jener Gründungsakte moderner Soziologie in den Vordergrund, der in den 1870er Jahren durch Ferdinand Tönnies mit der Benennung der Opposition zweier grundsätzlicher, vermeintlich einander ausschließender sozialer Größen vorgenommen wurde: GEMEINSCHAFT UND GESELLSCHAFT. Im Licht des rasanten Anschwellens von Großstädten modernen Schlages im Verlaufe des 19. Jahrhunderts

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Vgl. Arendt (2006). Dass dem Film hingegen kein Geschichtsmodell mit der simplizistischen Ausweisung einer Kontinuität zwischen »Eichwald« und »Eichmann« vorliegt, hat Haneke selbst aus gutem Grund immer wieder betont: »Und in diesem Film ist es auch wichtig, daß man zu der möglichen Schuld der Kinder Abstand gewinnt, die als Erwachsene nicht alle zu Folterknechten in den Konzentrationslagern geworden sein können. Die verschiedenen Charaktere sind auch unterschiedlich gezeichnet und weit davon entfernt, alle negativ zu sein.« (Haneke/Cieutat/Rouyer 2013: 319)

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hatte sich bei Tönnies das Bedürfnis formuliert, den Abstraktionsgehalt, der mit einer konzeptionell erst noch zu bewältigenden Verstädterung einherging, angemessen zu begreifen und ihm eben den Namen zu verleihen, der zuvor wohl vor allem bei dem sowohl unter Hegels als auch unter englischem Einfluss stehenden Marx eine Sonderstellung in der Beschreibung modernen Lebens und Arbeitens einnahm: »Gesellschaft«. In Gefahr nämlich geriet mit der Neuordnung sozialen Lebens ein System des Gemeinschaftlichen, über das es bei Tönnies heißt: »Nachbarschaft ist der allgemeine Charakter des Zusammenlebens im Dorfe, wo die Nähe der Wohnstätten, die gemeinsame Feldmark oder auch bloße Begrenzung der Äcker, zahlreiche Berührungen der Menschen, Gewöhnung aneinander und vertraute Kenntnis von einander verursacht; gemeinsame Arbeit, Ordnung, Verwaltung notwendig macht […].« (Tönnies 1963: 15, Hervorhebungen im Original)

Die Evidenz des Gesellschaftlichen, das die Ordnung solcher Nachbarschaftlichkeit zu zerbrechen droht, schwebt auch im WEISSEN BAND über dem Dorf »Eichwald« wie eine drohende Geste gegenüber der alten Welt abschließbarer sozialer Verhältnisse. Denn auch der Film ist diesbezüglich explizit: Nicht Gesellschaft nämlich, sondern Gemeinschaft sei buchstäblich in Gefahr. Erregt von den »seltsamen Ereignissen«, die das Dorf erschüttern, wendet sich schließlich der Baron in Sorge um das Gleichgewicht des sozialen Gefüges mit einer Ansprache an die an ihrem symbolischen Ort, der Kirche, versammelte Dorfgemeinde. In einem Versuch, das Unbehagen an den Ereignissen einzufangen, heißt es: »Ich will euch etwas in Erinnerung rufen, was die meisten von euch schon wieder vergessen haben. Vor nun schon fast zwei Monaten hat der Doktor einen Reitunfall gehabt und ist seitdem nicht wieder aus dem Krankenhaus zurückgekehrt. Dieser Unfall wurde verursacht durch ein in seinem Garten gespanntes Seil, einzig zu dem Zweck angebracht, ihn zu Fall zu bringen. Und auch da hat niemand etwas gewusst, gesehen, gehört. Wir alle wissen, dass diejenigen, die für die schweren Verletzungen meines Sohnes wie für die des Doktors verantwortlich sind, hier unter uns, in diesem Raum, sitzen. Ich werde es nicht dulden, dass Verbrechen dieser Art ungesühnt bleiben, und ich wünsche euch nicht, dass einem eurer Kinder Ähnliches widerfährt. Deswegen appelliere ich an euch alle: Helft mir, den oder die Schuldigen zu finden. Wenn es uns nicht gelingt, die Wahrheit herauszufinden, ist der innere Frieden dieser Gemeinschaft verloren.«

Die Filmsprache nimmt nun im Stillen diskret vorweg, was der »Gemeinschaft« unter der Bedingung eines Anschwellens des Gesellschaftlichen droht. Noch in der Kirche nämlich zerbricht das Bild der Gruppe als einheitliches Ganzes und wird durch eine mitunter an die Filmsprache Eisensteins gemahnende Serie von sechs

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aufeinander folgenden Close-Ups (siehe Abbildung 25) in seine je singulären Elemente zerlegt, in der die einzelnen, je individualisierten Bestandteile der Gemeinschaft buchstäblich ein Gesicht erlangen, das sie aus dem funktionalen Gesamtgefüge einer unbeweglichen sozialen Ordnung förmlich herausgesprengt, vereinzelt und latent im Sinne von Gesellschaft mobilisierbar macht.4 Abbildung 25: Individualisierung der Dorfgemeinschaft

Wega-Filmproduktion/X Filme Creative Pool/Les Films du Losange/ Lucky Red

Solcher Vereinzelung angemessen, tritt nun die Kamera aus der Kirche heraus und fängt im Sinne einer Zerbröselung alter Selbstverständlichkeiten die Mitglieder der Dorfgemeinschaft – »leise, aber beunruhigt miteinander redend« (Haneke 2009: 81), wie es im Drehbuch heißt – ein, indem sie diese dem Zuschauer in Einzelgrup-

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Eine weitere Quelle solcher gesichtsverleihenden Individualisierung im Sinne einer Emanzipierung des Einzelnen aus dem funktionalen Apparat einer Gemeinschaft sind zweifelsohne die den Film durchgängig durchwirkenden Referenzen an das Werk des Fotografen August Sander: »Die Fotos von August Sander waren für mich ein Ideal, das ich erreichen wollte. Sie sind von einer Brillanz und außerordentlichen Schärfe, die im Kino vor der Einführung der digitalen Technik nicht möglich war. In der Nachbearbeitung haben wir deshalb sehr sorgfältig alle Gesichter bearbeitet, auch in der Totalen, um die Zeichnung noch schärfer zu bekommen.« (Haneke/Cieutat/Rouyer 2013: 312f.)

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pen und ausströmenden Individuen als den Agenten allgemeiner Zerstreuung zeigt (siehe Abbildung 26). Abbildung 26: Vor der Kirche

Wega-Filmproduktion/X Filme Creative Pool/Les Films du Losange/Lucky Red

Derweil kommentiert die Stimme des Lehrers aus dem Off: »Die Ansprache des Gutsherrn machte den Leuten Angst. Der Baron war nicht eben beliebt bei den Leuten, wurde aber als gesellschaftliche Autorität und Brotherr nahezu des ganzen Dorfes durchwegs geachtet. Seine Drohung vom Verlust des Gemeindefriedens konnte nichts Gutes bedeuten. Gleichzeitig nährte die Rätselhaftigkeit der offenbar kriminellen Taten das seit alters her eingefleischte bäuerliche Misstrauen.«

Nun scheint das Explizite überdeutlich und seine Abwendung unabsehbar: Steht die »Drohung vom Verlust des Gemeindefriedens« im Raum, so deutet dies in einem der grundsätzlichen Erschütterung der sozialen Ordnung sowie der Selbstverständlichkeit dessen entgegen, was auf der Gewissheit sozialer Beziehung nicht nur der im Kontext religiöser Praxis zusammenkommenden »Gemeinde«, sondern überdies der Gemeinschaft überhaupt beruht. Doch diejenige Kraft, die sich im Namen solchen »Gemeindefriedens« gegen das Aufziehen solcher Erschütterung stemmt, trägt nun schon ausgerechnet die Spuren dessen, was an diesem Frieden eigens nagt. Verstrickt nämlich findet sich das höchste weltlich-bindende Element des Systems, nämlich der Baron, in der Ordnung jener gefährlichen Gesellschaft wieder, wird er doch, den dialektischen Widersprüchen und Unlösbarkeiten der Situation angemessen, selbst benannt als eben nicht mehr gemeinschaftliche, sondern »gesellschaftli-

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che Autorität […] des ganzen Dorfes« (Hervorhebung A.M.). Ironie an der Ansprache des Barons ist also, dass gerade diese Autorität im Versuch einer Rettung der Gemeinschaft bloß noch auf dasjenige zurückzugreifen vermag, was ihn als Brotherren Eichwalds doch auch immer wieder zur bindende Stelle in jenem auf Vereinzelung und Abstraktion von sozialen Beziehungen drängenden »System der Bedürfnisse« macht, das, in Hegels Sprache, das wesentliche Moment der »bürgerlichen Gesellschaft« (Hegel 1970: 346) und eben nicht mehr einer gemeinschaftlichen Ordnung darstellt. Kurz: Es ist also schon im Kern des Dorfsystems das Element des Gesellschaftlichen am Werk, derweil es gerade am kritischen Zeitpunkt anachronistisch wie fatalistisch zugleich an jenen »inneren Frieden dieser Gemeinschaft« als dem Garanten der Stabilität und Geschlossenheit »Eichwalds« appelliert. Was also vordergründig im Kontext des Dorfes diesen Frieden zu bewahren hofft, ist ihm doch wesentlich zugleich Ursache seines plötzlich durchsichtig werdenden Zerbrechens. Es wird damit lesbar, warum die Beunruhigung, die Hanekes Anmerkung im Drehbuch so nachdrücklich hervorhebt, Ausdruck einer unhaltbaren, weil zutiefst widersprüchlich gewordenen sozialen Ordnung darstellt. Verhält sich ein solches beunruhigtes System aber zu sich selbst, so geschieht dies gerade in der Weise, wie es bei Kierkegaard für den zu sich verhaltenden Geist der Fall ist: »Sie tut dies als Angst.« (Kierkegaard 1992: 53) Denn es ist ein Ausdruck der »Angst« jener Ordnung mit dem Namen »Eichwald«, sich gegen ihre Zerbröselung von innen heraus zu stemmen, dies aber gerade unter Mithilfe solcher Instrumente zu tun, die zugleich ihrem Verfall – ganz gleich ob wissentlichen oder unwissentlich – Vorschub leisten: der Instrumente nämlich des Gesellschaftlichen. Denn Gesellschaft als eine, wie Tönnies bemerkte, »Menge von natürlichen und künstlichen Individuen, deren Willen und Gebiete in zahlreichen Verbindungen zueinander und in zahlreichen Verbindungen miteinander stehen, und doch voneinander unabhängig und ohne gegenseitige innere Einwirkungen bleiben« (Tönnies 1963: 52), weist über die Abgeschlossenheit des Körpers der Gemeinschaft hinaus, in welcher noch die Direktheit, d.h. die schon zitierte Nachbarschaftlichkeit der Verbindungen ihren Ort hatte. Gesellschaft sprengt solche Nachbarschaftlichkeit, indem sie das jeweilige Individuum als das Element von Vereinzelung, in ein abstraktes, auf dem Prinzip der Abständigkeit seiner Teile beruhendes Relationalgefüge einflicht, in dem, so Georg Simmel an einem späteren Zeitpunkt der Soziologie, »für den modernen Menschen Objekte, Personen und Vorgänge, die hundert oder tausend Meilen von ihm entfernt sind, vitale Bedeutung besitzen« (Simmel 1989: 49). Das Dorf also schwindet gleichsam von innen heraus. Und in dem Rahmen, in dem es sich diesem Schwund zu widersetzen sucht, weiß seine höchste Stelle, der Baron, in der Verzweiflung eines geahnten und ungeheuerlichen Umbruchs an nichts anderes zu appellieren als den Grund dieses Schwundes selbst. Dieser Schwund also ist symptomatischer Natur.

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III. W AHRHEITEN Noch einmal ist indessen auf die Frage nach der Wahrheit zurückzukommen. Zuletzt nämlich ist die Krise des Gemeinschaftlichen im Dorf »Eichwald« auch innigst mit einer Krise des Anschauens und des Wissens verbandelt. So merkt doch der Baron zu den »seltsamen Ereignissen«, die sich im Dorf ereignen, an: »da hat niemand etwas gewusst, gesehen, gehört.« – Nicht zu wissen, nicht zu sehen und zu hören: das alles markiert implizit die Grenzen dessen, was sich den Instrumenten einer für wahr zu geltenden Erkenntnis verfügbar machen lässt. Konsequent hält dabei Haneke, darin dem Stil seiner früheren Filme treu bleibend, die Vorgänge, die das Gefüge des Dorfes erschüttern, vor den Blicken der Zuschauer verborgen.5 Nirgends nämlich werden diese, – darin selbst ganz zu Dorf- und Höhlen-Bewohner geworden – je zu irgendeinem Zeitpunkt Zeugen auch nur eines einzigen der Verbrechen, die an der Zersetzung des »inneren Friedens der Gemeinschaft« mitwirken. So sehr dabei Zeugenschaft eine vorenthaltene bleibt, so sehr wird Gewalt bloß sichtbar in ihren nachzeitigen Effekten, ihren Symptomen. Platonisch gesprochen liegen sie also bloß in den Schatten vor, die eine Gewalt wirft, deren Ursprung trotz aller naheliegenden Vermutungen bis zum Ende doch immer ein unbekannter bleibt. Gerade nämlich in der Nicht-Sichtbarkeit der Gewalt – darin konsequent die Art zu Ende spielend, die der Pfarrer seinen Kindern in Form von Stockschlägen hinter geschlossener Tür zukommen lässt – bleibt das System »Eichwald« dem Zuschauer in der Weise verborgen, wie das Außen diesem Dorf seinerseits unsichtbar bleibt. Denn dieses System ist das geworden, was nicht Gemeinschaften, hingegen

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Zu der Behauptung vieler Zuschauer, »daß die Kinder die Schuldigen sind«, führt Haneke selbst mit Insistenz auf den ästhetischen Rest von Unerklärbarkeit aus: »Das ist ihre Interpretation. Aber es gibt Dinge im Film, die man dadurch nicht erklären kann. Der tödliche Sturz der Bäuerin kann ein Unfall sein, genauso der Brand der Scheune. Aber das kann auch die Rache der Kinder des Verwalters sein, die den Brand durch das Fenster ihres Zimmers beobachten. Die drei Kinder des Pfarrers dagegen scheint der Brand zu überraschen… Die widersprüchliche Darstellung der Fakten zieht verschiedene Hypothesen der Interpretation nach sich. Filme neigen oft dazu, alles zu erklären. Ich finde das langweilig.« (Haneke/Cieutat/Rouyer 2013: 327f.) Neuerdings ist mit Bezug auf Hanekes DAS WEISSE BAND die Frage nach Überwachung als dem gegenstrebenden Element des Verbergens diskutiert worden. Wichtige Anregungen dazu, wie zur Entstehung dieses Aufsatzes überhaupt, verdanke ich meinen Diskussionen mit Martin Blumenthal-Barby, mit dessen Arbeit ich freundlicherweise bereits vor Drucklegung bekannt werden durfte (vgl. Blumenthal-Barby 2014).

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zwingend Gesellschaften zuteil wird: Sie finden sich unversehens wieder im Zustand »neuer Unübersichtlichkeit« (Habermas 1985). Unübersichtlich aber ist zumal auch die Ordnung des Wissens. Denn mit dem Fall der Sichtbarkeit fällt auch die Möglichkeit, jenem Kriterium einer Erkenntnis genüge zu tun, die sich eines Gegenstands – im Zweifel als eines sichtbaren – versichern muss, so sie den gewöhnlichen Ansprüchen auf einen Wahrheitsgehalt hinreichend Genüge leisten möchte. Ein Entsprechen nämlich von Urteil und Sachverhalt oder (mit Kant) von Begriff und Erfahrung bleibt aus. Denn mit welchem »Gegenstand« wüsste sich eine »Erkenntnis« in »Übereinstimmung« zu bringen, wenn nicht bezogen auf einen solchen, der – gewendet in Heideggers Sprache – durch Sichtbarkeit in den Zustand der »Unverborgenheit« (Heidegger 2004: 230) zu bringen wäre? Die Ansprache des Barons indes hatte den friedlichen Fortbestand der Gemeinschaft explizit gekoppelt an das Auffinden einer Wahrheit, die unter den Bedingungen der von Haneke erstellten Versuchsanordnung unmöglich scheint. Schließlich hieß es ja in der drohenden Ansprache des Barons: »Wenn es uns nicht gelingt, die Wahrheit herauszufinden, ist der innere Frieden dieser Gemeinschaft verloren.« Ist damit der Bestand friedlicher Gemeinschaft wesentlich wie schicksalhaft zugleich der Frage nach der Möglichkeit solcher Wahrheit gleichsam ausgeliefert, so zerbricht mit der jähen Unmöglichkeit eines Auffindens solcher Wahrheit, zumal im Sinne einer Entsprechung von Gegenstand und Erkenntnis, auch die Gewissheit einer Gemeinschaft, die doch solch eine Gewissheit als gleichsam erste und unverbrüchlichste Grundlage benötigte, sofern sie ihren Fortbestand zu sichern beabsichtigt. Das nämlich ist, was die Frage nach der Wahrheit zumindest gemäß der Anordnung des Films auch für die Frage nach der Gemeinschaft als der sozialen Ordnung des Dorfes zu einer so entscheidenden macht. Das Dorf nährt sich an einer Wahrheit der Entsprechung, in der das Sichtbare zugleich das Erkannte ist.6 Und es wird daraus ersichtlich und nachvollziehbar, warum jenes Unbehagen, von dem Hanekes Film so grundlegend durchtränkt scheint, eines ist, das auch dem Dorf in seinem Inneren eignet, in welchem die Verbrechen unsichtbar bleiben und darin die

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Ließe sich also mit Haneke behaupten, dass die Erosion der Fundierung des gemeinschaftlichen Systems wesentlich mit der Erosion eines Wahrheitsbegriffs zusammenhängt, wie sie Heidegger bei seiner Analyse von Platons Höhlengleichnis aufdeckte, so gilt es wohl eingedenk dieser Analogie nachzuprüfen, ob nicht auch Heidegger selbst nachhaltig einen konkreten geschichtlichen, nämlich gesellschaftlichen Ort formuliert, sofern er den platonischen Begriff der aletheia seinen Bestandteilen nach zerlegt und ihn als Paradigma einer Wahrheit der Entsprechung bezeichnet und zugleich verwirft. Diese Erörterung aber gilt es anderer Stelle durchzuführen.

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Koordinaten eines Wahren, auf das es zuvor doch immerhin zu verweisen glauben durfte, zumindest verstellen, wenn nicht gar zerbrechen. Diese für die Ausweisung einer Gemeinschaft offenbar kritische Frage nach der Wahrheit kehrt im Film aber noch einmal an einer weiteren Stelle entschieden zurück. Nachdem die Baronin von ihrer Reise aus Italien zurückgekehrt ist, gesteht sie ihrem Mann von einer Affäre mit einem italienischen Banker.7 Der sich anschließende Disput zwischen Baronin und Baron endet folgendermaßen: BARON: »Hast du mit ihm geschlafen?« BARONIN: »Du begreifst überhaupt nichts.« BARON: »Hast du mit ihm geschlafen?« BARONIN: »Nein. Ich habe nicht mit ihm geschlafen.« BARON: »Du lügst, nicht wahr?«

»Du lügst, nicht wahr?« – Was so nebensächlich, so geringfügig, so lapidar im Licht von Beiläufigkeit erscheint, fördert doch einen tiefen und schwerwiegenden logischen Offenbarungseid dessen zu Tage, der sich wie der Baron dem Ethos von Wahrheit verschrieben hat und das Herausfinden solcher – auf Entsprechung fundierten – Wahrheit in einem schwerwiegenden Schritt an den Erhalt der Gemeinschaft gekoppelt hatte. Dabei erscheint das System Wahrheit-Gemeinschaft-Dorf, wie es an der Figur des Barons haftet, zerbrechlich gerade in dem Augenblick, da es sich vor die Unmöglichkeit gestellt sieht, sich selbst nicht nur zu einem generell Außerdörflichen, sondern überdies zu seinem spezifisch ausdifferenzierten und wie wenige Sphären den Charakter des Gesellschaftlichen repräsentierenden Bankwesen zu verhalten, mit welchem die Baronin in Kontakt geraten war. Denn kommt nicht in der Frage des Barons eine Frage nach der Wahrheit von gerade jenem Typ zur Sprache, die in ihrer Kürze wie logischen Buchstäblichkeit den Rand dessen überschreitet, was sich entscheiden ließe in einem System von Wahrem und Nicht7

Mit der Erwähnung des Bankiers bricht zuletzt also auch eine Geldwirtschaft modernen Schlages und das ihr anhängende Prinzip einer relationalen »Vergesellschaftung« in die Welt »Eichwalds« ein. Dazu Georg Simmel: »Es werden also die Wechselwirkungen unter den primären Elementen selbst, die die soziale Einheit erzeugen, dadurch ersetzt, daß jedes dieser Elemente für sich zu dem darüber und dazwischen geschobenen Organe in Beziehung tritt. In diese Kategorie substanzgewordener Sozialfunktionen gehört das Geld. Die Funktion des Tausches, eine unmittelbare Wechselwirkung unter Individuen, ist mit ihm zu einem für sich bestehenden Gebilde geworden. Der Austausch der Arbeitsprodukte oder des sonst aus irgend einer Quelle her Besessenen ist offenbar eine der reinsten und primitivsten Formen menschlicher Vergesellschaftung […].« (Simmel 1989: 209)

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Wahrem allein? Wäre nämlich die Aussage »du lügst« eine wahre, so wäre die Frage, nach der es keine wahre wäre (»nicht wahr?«), nicht nachzuschieben. Stellt es hingegen eine Lüge dar, dass die Baronin lügt, so spräche sie ihrerseits die Wahrheit – und das Wort des Barons wäre gelogen. Die in Eifersucht gestellte Frage nach dem Banker wird also zum unüberwindbaren Gradmesser eines Systems, in dem sich über ein Wahres, gemäß der Koordinaten der Entsprechung von Urteil und unmittelbar auf Anschauung beruhendem Gegenstand, verfügen ließe. Denn gleich ob wissentlich oder unwissentlich: Einer von beiden lügt, und es ist doch für niemanden der Fragenden, also weder für den Baron noch für den Zuschauer unter den gegeben Axiomen und Definitionen zu entscheiden, wer der Lügende ist. Die Baronin, im Stillen der Ordnung »Eichwald« bereits entronnen, vermeidet indes die Rede von der Wahrheit und bemerkt stattdessen bloß aus der Stellung derjenigen heraus, die sich geschickt dem systemischen Verlangen nach einem gemeinschaftlich Wahren zu entziehen vermag: »Du begreifst überhaupt nichts.« Ist darin am Ende nicht bei aller vermeintlichen Beiläufigkeit das Urteil gesprochen über das System des Barons, das des Dorfes, das eines Wahrheitsbegriffs auch, an den viel mehr als die Frage nach Wahrheit und Lüge, nämlich zuletzt vor allem die Frage nach dem »inneren Frieden der Gemeinschaft« oder gar die nach dem Frieden einer Welt geschlossener, vermeintlich durchsichtiger Systeme, der Dörfer und Gemeinschaften überhaupt, hängt? So scheint es nur konsequent, wenn wir diesen Frieden zerbrechen sehen. Denn was folgt, scheint folgerichtig und thematisch: Der Knecht klopft an, der Zuschauer wird – darin gleichsam selbst das Zerbrechen der dörflichen Ordnung im Stillen nachvollziehend – mit der Baronin alleine gelassen und auf das Wiedereintreten des Barons folgt dessen nüchterne, wie konsequent das Wahrheitsdilemma zu Ende spielende Bemerkung, in der sich das Schicksal nicht nur von »Eichwald«, nicht nur des Barons und der aristokratischen Klasse der Gutsbesitzenden, nicht nur eines überlebten und unzuverlässig gewordenen Systems von Wahrheit, sondern zuletzt das Schicksal einer Welt überhaupt ausweist, in der sich ahnend die Katastrophen des europäischen 20. Jahrhundert überhaupt bespiegeln: »Sie haben den österreichischen Thronfolger erschossen in Sarajevo.« Eng verwoben erscheinen also das Zusammenbrechen des Wahrheitsgebots, wie es nach Haneke einer Welt der Gemeinschaften zustößt, mit dem Anlass für den Ersten Weltkrieg, nach dem Europa nie mehr das alte sein konnte. Und was das alte Europa im Ganzen noch erwartet, geschieht in Hanekes Film im Kleinen: »Eichwald« wird abgewickelt – und mit diesem die Intimität von Gemeinschaft von Wahrheit. Im Dorf identifiziert der Lehrer – wohl bemerkt durch indirekten Schluss und nicht durch Zeugenschaft – die Kinder als Urheber der Gewalt, wenngleich das System »Eichwald« den Lehrer seiner Pflichten entbindet, weil es solcherlei »Unverborgenheit« nicht zu dulden vermag. Das Dorf, innigst wie verzweifelt gebunden

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an diesen Begriff einer Wahrheit, bleibt sich in seinem Nachleben hingegen selbst überlassen. Aus dem Off erklingt wie ein Abgesang auf dieses: »In den darauf folgenden Wochen begann es in der Gerüchteküche des Dorfes zu brodeln. Man behauptete, der Arzt sei der Vater von Karli gewesen. Er und die Hebamme hätten das Kind abzutreiben versucht, um die Schande ihrer Beziehung nicht öffentlich werden zu lassen, und das habe zur bleibenden Behinderung des Kindes geführt. Man verstieg sich sogar zu der Behauptung, der Tod der Frau des Arztes sei nicht mit rechten Dingen zugegangen und man wäre nicht verwundert, wenn die beiden sie auf dem Gewissen hätten. Plötzlich schien es sogar möglich, dass Arzt und Hebamme als mögliche Mörder nun auch als Urheber aller anderen Verbrechen in Frage kamen. Man vermutete, der Arzt habe seinen Kindern und sich die öffentliche Aufdeckung seiner Schuld ersparen wollen und habe sich deswegen mit ihnen abgesetzt.«

»Gerüchteküche«, »man behauptete«, »plötzlich schien es sogar möglich«: Das Dorf entblößt sich als eine Welt lügenverdächtigen Geredes, in welchem von zuverlässiger Entsprechung auch noch das letzte Element preisgegeben wurde. Das Abdienen »invariant vorgefundener Wahrheiten« (Luhmann 1983: VIII), wie sie die alten Systeme vermeintlich zusammenhielten, wird dabei von der Kraft des Bildes unterstützt. So wird eindringlich lesbar, warum Haneke sich für eine Sprache von schwarz-weiß entschied. Plötzlich nämlich weist sogar die Sichtbarkeit des Kirchturms, Zentrum von Dorf, Gemeinschaft und Wahrheit gleichermaßen, eigentümliche Formen von Unzuverlässigkeit auf. Steht er hier noch lichtern im Mantel der Weiße (man denke an den Titel, DAS WEISSE BAND, selbst), erscheint er dort – nun bedeckt vom Schatten der Wolken, die sich vor die Sonne schieben – zunächst im Dunkel, bevor er in der Ferne gleichsam schwindet (siehe Abbildung 27). Abbildung 27: Der Kirchturm

Wega-Filmproduktion/X Filme Creative Pool/Les Films du Losange/Lucky Red

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Dieser Eingriff ist einer in die Grundlagen des Filmschaffens selbst, einer nämlich in die Frage dessen, was ein Bild, was ein Negativ und Positiv, ja eine Belichtung selbst ist. Darin wird nicht nur ein nach moralischen Gesichtspunkten Weißes und Reines invertiert, sondern obendrein erweist sich im Zuge einer möglichen »Umkehr der Farbsymbolik« (Naqvi 2010: 142) eine jede Symbolsprache, an die sich zuletzt auch ein emphatischer Wahrheitsbegriff noch zu klammern hoffte, als überaus porös. Wie nämlich die Frage des Barons nach dem Wahrheitsgehalt der Aussage seiner Gattin unentscheidbar war, so bleibt als Zweifel zurück, was zuvor noch als Garant einer Wahrheit zu gelten in Anspruch genommen wurde. Der Analogie von Gemeinschaft/Wahrheit/Entsprechung versus Gesellschaft/relatives Wissen/ Nicht-Entsprechung Folge leistend, wird abschließend lesbar, was zuvor im Verborgenen schon war: Der Gemeinschaft »Eichwald« ist immanent, was sie als Latentes zuvor noch zu verdrängen hoffen durfte: ihr gesellschaftliches Element. Noch einmal indes werden zum Ende die Mitglieder in geschlossene Räume zurücktreten. Noch einmal wird der Zuschauer in das Innere der Kirche, in das – platonisch gesprochen – Innere der Höhle geführt, doch blickt nun die Kamera entschieden und unbeweglich ins Angesicht einer Gruppe von Menschen, die Gemeinschaft schon nicht mehr ist. Als »militanter Akt« (Haneke/Cieutat/Royer 2013: 329) von Abwehr und Verzweiflung erklingt darin die Luthersche Hymne EINE FESTE BURG IST UNSER GOTT…, doch derweil die wie so oft bei Haneke nur mit größter Behutsamkeit bemühte Musik dem Zuschauer entgegentönt, ahnt dieser nicht mehr, sondern weiß: Auch diese dörflichen Wahrheiten gelten nicht mehr.

L ITERATUR Arendt, Hannah (2006): Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil, New York: Penguin. Barthes, Roland (2006): Beim Verlassen des Kinos, in: Ders., Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 376-380. Blumenberg, Hans (1989): Höhlenausgänge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Blumenthal-Barby, Martin (2014): »The Surveillant Gaze: Michael Haneke’s ›The White Ribbon‹«, in: October (im Druck). Habermas, Jürgen (1985): Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Haneke, Michael (2009): Das weiße Band. Ein deutsche Kindergeschichte. Das Drehbuch, Berlin: Berlin Verlag. Haneke, Michael (2010): Nahaufnahme Michael Haneke. Gespräche mit Thomas Assheuer, Berlin/Köln: Alexander Verlag. Haneke, Michael (2013): Haneke über Haneke: Gespräche mit Michel Cieutat und Philippe Rouyer, Berlin/Köln: Alexander Verlag.

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Heidegger, Martin (2004): Platons Lehre von der Wahrheit, in: Ders., Wegmarken, Frankfurt a.M.: Klostermann, S. 203-238. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, in: Ders., Werke in 20 Bänden, Bd. VII, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Jelinek, Elfriede (2010): »Bis einem ein Licht aufgeht. Zum Filmemacher Michael Haneke«, in: Naqvi, Trügerische Vertrautheit, S. V-IX. Kant, Immanuel (1983): Kritik der reinen Vernunft, in: Werke in zehn Bänden, Bd. III, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Kierkegaard, Søren (1992): Der Begriff Angst, Stuttgart: Reclam. Luhmann, Niklas (1983): Legitimation durch Verfahren, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Naqvi, Fatima (2010): Trügerische Vertrautheit. Filme von Michael Haneke, Wien: Synema. Platon (1974): Der Staat, in: Werke in acht Bänden, Griechisch und Deutsch, Bd. IV, hg. von Gunther Eigler, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Simmel, Georg (1989): Philosophie des Geldes, in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. VI, hg. von Othein Rammstedt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Thomas von Aquin (1986): Von der Wahrheit. De veritate (Quaestio I), LateinDeutsch, hg. von Alfred Zimmermann, Hamburg: Meiner. Tönnies, Ferdinand (1963): Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

F ILME Amour (2012) (F, D, AUT, R: Michael Haneke) Caché (2005) (F, D, AUT, I, R: Michael Haneke) Das weiße Band. Eine deutsche Kindergeschichte (2009) (D, R: Michael Haneke) Funny Games (2007) (USA, GB, F, AUT, R: Michael Haneke) Funny Games (1997) (AUT, R: Michael Haneke)

Autorinnen und Autoren

Baum, Detlef, geboren in Hechingen/Hohenzollern, Studium der Sozialwissenschaften in Göttingen und Saarbrücken, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in Projekten der Obdachlosenforschung an der Universität Trier, Promotion 1977, Wissenschaftlicher Assistent an der TU Berlin, Institut für Soziologie; Habilitation 1886, Geschäftsführer einer Jugendhilfeorganisation (1983-1990), Lehrtätigkeit an der Universität Mainz und der Kath. Hochschule Mainz, Professor für Soziologie an der Hochschule für Öffentliche Verwaltung Köln (1990-1992), Professor für Soziologie an der Hochschule Koblenz (1992-2012). Seit 2012 Leiter eines Projektes zum Aufbau eines Forschungsteams für Stadt- und Regionalforschung an der Universität Ostrava/Tschechien, Fakultät für Soziale Studien. Baumann, Christoph, geboren in Fürth, Studium der Geographie, Theater- und Medienwissenschaften, Geschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaften in Erlangen, Lehrtätigkeit in Erlangen und Lissabon, aktuelles Promotionsprojekt zur Alltäglichen Ländlichkeit am Lehrstuhl für Kulturgeographie Erlangen Bredenbeck, Martin, Studium der Philosophie, Mittelalterlichen und Neueren Geschichte, Klassischen Archäologie und Kunstgeschichte in Bonn; 2011 Dissertation in Kunstgeschichte mit der Arbeit DIE ZUKUNFT VON SAKRALBAUTEN IM RHEINLAND; Lehraufträge für Kunstgeschichte in Bonn und für Architekturgeschichte an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden; seit 2011 wissenschaftlicher Referent beim Bund Heimat und Umwelt in Deutschland. Forschungsschwerpunkte: Architektur, Städtebau und Baukultur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Sakralbau der Moderne, Denkmalpflege, Gartenkunst. Canaris, Johanna, Studium der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft, germanistischen Linguistik und Politologie an der Universität Konstanz. Promotion 2010 an der Universität Paderborn mit der Arbeit MYTHOS TRAGÖDIE. ZUR GESCHICHTE UND AKTUALITÄT EINER THEATRALEN WIRKUNGSWEISE. Seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn.

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Čeh Steger, Jožica, Univ. Professorin für slowenische Literatur in der Abteilung für slawische Sprachen und Literaturen der Universität Maribor, Slowenien. Studium der Slawistik und Germanistik in Maribor, Postdiplomstudium der Literaturwissenschaft in Ljubljana. Dissertation zum Thema METAFORIKA V CANKARJEVI KRATKI PROZI (dt. Die Metaphorik in Cankars Kurzprosa, 2000). Forschungsschwerpunkte: die Literatur des Slowenischen, Metapher und Ökokritik. Gansel, Carsten, seit 1995 Professor für Neuere deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik am Institut für Germanistik der Justus-LiebigUniversität Gießen; Gastprofessuren an den Universitäten Calgary (Kanada), Zielona Góra (Polen) und Havanna (Cuba); Mitglied des P.E.N-Zentrums Deutschland und Vorsitzender der Jury zur Verleihung des Uwe-Johnson-Literaturpreises sowie des Uwe-Johnson-Förderpreises; Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur des 19.-21. Jahrhunderts, System- und Modernisierungstheorie, kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung, Medien- und Filmanalyse. Neueste Veröffentlichungen u.a.: TELLING STORIES. LITERATURE AND EVOLUTION (2012, mit Dirk Vanderbeke), ES GEHT UM ERWIN STRITTMATTER ODER VOM STREIT UM DIE ERINNERUNG (2012, mit Matthias Braun), ENTWICKLUNGEN IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN GEGENWARTSLITERATUR NACH 1989 (2013, mit Elisabeth Herrmann), DAS ›PRINZIP STÖRUNG‹ IN DEN GEISTES- UND KULTURWISSENSCHAFTEN (2013, mit Norman Ächtler). Grüttner, Peter, M.A., studierte Interkulturelle Europa- und Amerikastudien mit den Schwerpunkten Großbritannien und Lateinamerika an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Seit 2012 ist er Stipendiat der Landesgraduiertenförderung Sachsen-Anhalt, forscht zum Thema der Raumkonzeption im brasilianischen Gegenwartskino und lehrt im Bereich der Lateinamerikanistik sowie der Cultural Studies. Er ist betraut mit dem Satz der Reihe GILCAL und lehrt an Schulen informationstechnische Grundbildung. 2013 erfolgte ein Forschungsaufenthalt in Brasilien als Stipendiat des DAAD an der Universidade Federal de Santa Catarina (UFSC) in Florianópolis. Hüchtker, Dietlind, Studium der Geschichts- und Politikwissenschaften in Berlin. Promotion 1996. Seit 2003 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig. Habilitation 2012, Venia Legendi für Neuere und Neueste Geschichte. Zur Zeit Leiterin der Projekte »Ländliche Gesellschaften« und »Utopische Gemeinschaften« am GWZO. Neueste Buchpublikationen: POLITIK ALS PERFORMANCE. GESCHICHTE, FORTSCHRITT UND GESELLSCHAFTSGESTALTUNG IN GALIZIEN UM 1900, Frankfurt/New York: Campus 2014; Dietlind Hüchtker/Yvonne Kleinmann/Martina Thomsen (Hg.): REDEN UND SCHWEIGEN ÜBER RELIGIÖSE DIFFERENZ. TOLERIEREN IN EPOCHEN ÜBERGREIFENDER PERSPEKTIVE, Göttingen: Wallstein 2013.

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Kasper, Norman, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, 2011 Promotion mit einer Arbeit zum frühen Ludwig Tieck. Forschungsschwerpunkte: Ästhetische Theorie in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Visualität und Medialität in Aufklärung und Romantik, Literatur- und Kunstgeschichtsschreibung im Vergleich, Literatur und Vorgeschichte. Knittel, Anton Philipp, Dr. phil., stv. Pressesprecher der Stadt Heilbronn. Studium der katholischen Theologie und der Germanistik in Tübingen und Wien. 1985-1995 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum der Universität Tübingen, 1996-1998 Persönlicher Referent des Rektors der Universität Konstanz, 1998-2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kleist-Archiv Sembdner der Stadt Heilbronn. Publikationen: ERZÄHLTE BILDER DER GEWALT. DIE STELLUNG DER ›ÄSTHETIK DES WIDERSTANDS‹ IM PROSAWERK VON PETER WEISS (1996); ZWISCHEN IDYLLE UND TABU. DIE AUTOBIOGRAPHIEN VON CARL GUSTAV CARUS, WILHELM VON KÜGELGEN UND LUDWIG RICHTER (2003). Mithrsg. einer zweibändigen Edition der Briefe, Tagebücher und Reiseschriften Wilhelm von Kügelgens, (1994, 1995; 2. Aufl. 1996), Mithrsg. mehrerer Publikationen zu Heinrich von Kleist, zuletzt zus. mit Inka Kording HEINRICH VON KLEIST. NEUE WEGE DER FORSCHUNG. Darmstadt 2003, 2. Aufl. 2009; zahlreiche Beiträge zur Literatur des 17. bis 21. Jahrhunderts. Kopf, Martina, geboren in Bad Homburg, Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie in Mainz und Dijon, 2010-2011 Stipendium für einen Forschungsaufenthalt in Chile und Peru, seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Arbeit an einer Dissertation zum literarischen Alpinismus und Andinismus in der Schweiz und Peru. Krause, Stephan, geboren in Berlin, Studium der Germanistik, Romanistik (Französisch) und Hungarologie in Berlin, Lehrtätigkeit an den Universitäten in Budapest, Pécs und Szczecin, Promotion 2008 mit einer Arbeit zur Literatur Franz Fühmanns, seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig. Langner, Sigrun, Studium der Landschaftsarchitektur/Landschaftsplanung in Dresden und Berlin, wissenschaftliche Assistenz am Institut für Landschaftsarchitektur und Umweltplanung der Technischen Universität Berlin (2004/05) und am Institut für Freiraumentwicklung der Leibniz Universität Hannover (2005-2012),

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Promotion 2012, seit 2003 Partnerin im Büro für Architektur, Landschaftsarchitektur und Städtebau Station C23 in Leipzig, seit 2013 Juniorprofessorin für Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung an der Bauhaus-Universität Weimar, Mitglied im Lehr- und Forschungsnetzwerk Studio Urbane Landschaften. Langthaler, Ernst, Leiter des Instituts für Geschichte des ländlichen Raumes in St. Pölten und Privatdozent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Studium der Geschichte (Schwerpunkt Wirtschafts- und Sozialgeschichte) an der Universität Wien (Promotion 2000, Habilitation 2010). Gastprofessor an den Universitäten Innsbruck (2010) und Wien (2010-2012). Geschäftsführender Herausgeber des JAHRBUCHS FÜR GESCHICHTE DES LÄNDLICHEN RAUMES. Arbeitsschwerpunkte: Agrar- und Ernährungsgeschichte, ländliche Gesellschaftsund Umweltgeschichte, Lokal- und Regionalgeschichte, Gedächtnis- und Historiographiegeschichte, sozial- und kulturwissenschaftliche Methodologie. Marszałek, Magdalena, Professorin für Slavische Literatur- und Kulturwissenschaft (Schwerpunkt Polonistik) an der Universität Potsdam. Studium der Polnischen Philologie und Theaterwissenschaft in Krakau sowie der Slavistik, Kunstgeschichte, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft in Bochum. 2002 Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2006-2011 Juniorprofessorin für Polnische Literatur am Institut für Slawistik der HU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Polnische Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, polnisch-jüdische Kulturgeschichte, autobiographisches Schreiben, Zeugenschaft und Literatur, memoriale und postmemoriale Ästhetiken in der Literatur und Kunst, Geographie und Literatur (Topographie und Gedächtnis, Geopoetiken). Mohnkern, Ansgar, M.A.-Studium Germanistik und Philosophie in Bonn, 2011 Ph.D. in Deutscher Literatur an der Yale University mit einer Arbeit zu Goethe (überarbeitet erschienen als METAPHER, WIEDERHOLUNG, FORM. ZU GOETHES UNBEGRIFFLICHKEITEN, Bielefeld: Aisthesis 2012), seit 2012 Assistant Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität von Amsterdam. Nell, Werner, geboren in St. Goar am Rhein, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Adjunct Associate Professor an der Queen’s University in Kingston (Ontario), Kanada; Vorstand des Instituts für sozialpädagogische Forschung Mainz (ism). Forschungsgebiete: Literatur in transnationalen Prozessen, europäisch-überseeische Literaturbeziehungen, vergleichende Regionalitätsstudien, Literatur und Gesellschaft. Neuere Publikationen: ATLAS DER FIKTIVEN ORTE (2012); ZWISCHENWELTEN. DAS RHEINLAND UM 1800 (2012, mit V. Gallé).

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Richter, Angela, Slawistin, seit 1994 tätig als Universitätsprofessorin für Südslawistik (Schwerpunkt Literaturwissenschaft) an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg. Ihr aktuellstes Buch ist die mit Tatjana Petzer herausgegebene Studie »ISOCHIMENEN«. KULTUR UND RAUM IM WERK VON ISIDORA SEKULIĆ (2012); sie ist Beiträgerin des Bandes JUGOSLAWIEN IN DEN 1960ER JAHREN. AUF DEM WEG ZU EINEM (A)NORMALEN STAAT? (2013; Hg. H. Grandits, H. Sundhaussen). 2011 gab sie die Prosa-Anthologie DER ENGEL UND DER ROTE HUND heraus; 2013 erschien der gemeinsam mit Jana Mayer-Kristić aus dem Serbischen übersetzte Roman DAS BUCH VOM BAMBUS von V. Bajac. Sauer-Kretschmer, Simone, geboren am Niederrhein, Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft sowie Philosophie in Bochum, Lehraufträge am dortigen Lehrstuhl für Komparatistik und an der Universität Innsbruck, Promotionsprojekt zu ›Literarische Bordelle als Grenzräume‹. Seit 2014 wissenschaftliche Koordinatorin für den Forschungsschwerpunkt »Bildkulturen und Textkulturen« der Fakultät für Philologie in Bochum. Seifener, Christoph, geboren in Siegen. Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Siegen. Promotion 2003 an der Universität Kassel mit einer Arbeit zu den Autobiographien exilierter Schauspieler. Lehrtätigkeiten u.a. an der Universität Nizza, Frankreich, und der Seoul National Unviversity, Südkorea. Seit 2012 Assistant Professor an der Korea University, Seoul, Südkorea. Seiler, Sascha, geb. 1972, ist Akademischer Rat am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Allgemeine Forschungsschwerpunkte im Bereich der Popmusikforschung, der Nord- und Südamerikanischen Literatur, der literarischen Postmoderne und der Intermedialität. Detaillierte Schwerpunkte beinhalten die Narrative Ästhetik von zeitgenössischen TV-Serien, 9/11 als kulturelle Zäsur, Raum und Identität, Ästhetik des Verschwindens. Seit über 10 Jahren auch Arbeit als Musikjournalist für verschiedene Fachmagazine. Neueste Buchveröffentlichungen: HIDDEN TRACKS – DAS VERBORGENE, VERSCHWUNDENE UND VERGESSENE IN DER POPMUSIK (Hg. mit Thorsten Schüller) (2012); VON ZÄSUREN UND EREIGNISSEN (Hg. mit Thorsten Schüller), 2010; 9/11 ALS KULTURELLE ZÄSUR. REPRÄSENTATIONEN DES 11. SEPTEMBER 2001 IN KULTURELLEN DISKURSEN, LITERATUR UND VISUELLEN MEDIEN (mit Sandra Poppe und Thorsten Schüller), 2009; WAS BISHER GESCHAH. SERIELLES ERZÄHLEN IM ZEITGENÖSSISCHEN AMERIKANISCHEN FERNSEHEN (Hg.), 2008. Tuschling, Jeanine, geboren in Marburg/Lahn. Studium der Kulturwissenschaft und der Germanistik in Bremen und Paris. Promotion 2011 an der University of

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Warwick (Großbritannien) mit einer Arbeit zur Reflexion von Autorschaft und Medien im Werk von Elfriede Jelinek. 2010 Visiting Scholar im German Department der University of California, Berkeley. Postdoktorandenstipedium der Universität London, Lehrtätigkeit an den Universitäten Warwick und Aston. Seit Oktober 2012 wissenschaftliche Volontärin im höheren Bibliotheksdienst an der Herzogin Anna Amalia Bibliothek/Klassik Stiftung Weimar. Twellmann, Marcus, geboren in Bielefeld, Studium der Literaturwissenschaft in Bielefeld, Paris, New York und Frankfurt/Oder. Promotion 2003. Wissenschaftliche Assistenz am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Bonn. Habilitation 2009, Venia Legendi für Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Zurzeit wissenschaftlicher Koordinator der Forschungsstelle »Kulturtheorie und Theorie des politischen Imaginären«, Universität Konstanz. Qualifikationsschriften: DAS DRAMA DER SOUVERÄNITÄT. HUGO VON HOFMANNSTHAL UND CARL SCHMITT, München: Wilhelm Fink 2004; ›UEBER DIE EIDE‹. ZUCHT UND KRITIK IM PREUßEN DER AUFKLÄRUNG, Konstanz: Konstanz University Press 2010. van Hoorn, Meike, geboren in Essen, Studium der Germanistik, Romanistik (Französisch) und Deutsch als Fremdsprache (DaF) in Saarbrücken. Lehraufträge im Bereich Medienwissenschaft an der Universität des Saarlandes, Lehrtätigkeit im Bereich DaF u.a. an den Universitäten Saarbrücken und Kaiserslautern. Seit 2011 DAAD-Lektorin am Germanistischen Institut der Universität Prešov, Slowakei. Weiland, Marc, geboren in Lutherstadt Eisleben. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Landesforschungsschwerpunkt »Aufklärung – Religion – Wissen« der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg; Studium der Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft und Philosophie in Halle, Veszprém und Kingston. Forschungsschwerpunkte in den Bereichen der philosophischen und literarischen Anthropologie, Literatur des 20. Jhs. und der Gegenwart; Promotionsprojekt zum Thema: Mensch und Erzählung – Helmuth Plessner, Paul Ricœur und die Literatur der (Post-)Moderne.

Abbildungen

Coverabbildung: Simone Henninger, Halle/Saale unter Verwendung einer Fotografie von irgendlink.de Abbildung 01: Diskursraum der deutschsprachigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Dorfforschung im 20. Jahrhundert, © Ernst Langthaler | Seite 63 Abbildung 02: Diskursraum des Dorfgedächtnisses einer niederösterreichischen Landgemeinde im Jahr 2000, © Ernst Langthaler | Seite 70 Abbildung 03: Wohnpräferenzen in Deutschland, © Allianz Deutschland AG | Seite 90 Abbildung 04: Typisierung von Regionen, © Bundesinstitut für Bau, Stadt- und Raumforschung, Bonn | Seite 97 Abbildung 05: Landschaftsintarsien und Ränder als gliedernde Elemente der zukünftigen Siedlungsentwicklung, © yellowz | Seite 148 Abbildung 06: Entwicklungsmöglichkeit Landschaftsintarsie: AgroPark, © yellowz | Seite 149 Abbildung 07: Landschaftszug in Dessau in Verbindung mit dem Dessau-Wörlitzer Gartenreich, © Station C23 | Seite 150 Abbildung 08: Aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure in der Bewirtschaftung und Pflege entsteht das Bild der »kultivierten Weite«, © Station C23 | Seite 151 Abbildung 09: Experimentierfelder und BMX-Strecke auf einem ehemaligen Kohlenhandelgelände, © medial mirage | Seite 152 Abbildung 10a: das historische Dorf im Tal, © Stefan Blaufelder | Seite 159 Abbildung 10b: die dorfähnliche Neubausiedlung auf dem Berg, © Stefan Blaufelder | Seite 159 Abbildung 11: Wertheim Village, © Stadt Wertheim | Seite 162 Abbildung 12: Eine neue Altstadt, © DomRömer GmbH, Frankfurt/M. | Seite 165 Abbildung 13: Bechstedt in Thüringen, © Burkhardt Kolbmüller | Seite 172 Abbildung 14: Photovoltaikfreiflächenanlagen in Straßkirchen, © Inge Gotzmann | Seite 173 Abbildung 15: Fotografie von Arno Schmidt, © Arno Schmidt Stiftung | Seite 273 Abbildung 16: Fotografie von Arno Schmidt, © Arno Schmidt Stiftung | Seite 273

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Abbildung 17: Fotografie von Arno Schmidt, © Arno Schmidt Stiftung | Seite 274 Abbildung 18: Fotografie von Arno Schmidt, © Arno Schmidt Stiftung | Seite 274 Abbildung 19: Abseits 9, © Claudio Hils | Seite 290 Abbildung 20: Abseits 14, © Claudio Hils | Seite 290 Abbildung 21: Dorfplan aus Vea Kaiser, BLASMUSIKPOP ODER WIE DIE WISSENSCHAFT IN DIE BERGE KAM, © Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln | Seite 393 Abbildung 22: ungarisches Durchschnittsdorf, © HVG kiadó | Seite 440 Abbildung 23: Filmstills aus SATANSTANGO, © Von Vietinghoff Filmproduktion GmbH | Seite 464 Abbildung 24: Lage der Film-Dörfer in der Slowakei, puplic domain | Seite 484 Abbildung 25: Filmstills aus DAS WEISSE BAND, © Wega-Filmproduktion / X Filme Creative Pool / Les Films du Losange / Lucky Red | Seite 524 Abbildung 26: Filmstill aus DAS WEISSE BAND, © Wega-Filmproduktion / X Filme Creative Pool / Les Films du Losange / Lucky Red | Seite 525 Abbildung 27: Filmstills aus DAS WEISSE BAND, © Wega-Filmproduktion / X Filme Creative Pool / Les Films du Losange / Lucky Red | Seite 531